Halten wir an unserer Kultur fest!
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Halten wir an unserer Kultur fest!
Fotos: Jens Nagels Das Tibetische Zentrum e.V. Hamburg Das Meditationshaus Semkye Ling Das Tibetische Zentrum vermittelt in Studiengängen, Seminaren und Meditationskursen den Buddhismus in authentischer Weise. Es steht unter der Schirmherrschaft S.H. des Dalai Lama. Entscheidende Impulse gab Geshe Thubten Ngawang, ein großer tibetischer Meister, der auf Wunsch des Dalai Lama 1979 nach Deutschland kam und bis zu seinem Tod im Januar 2003 der Geistliche Leiter war. Heute setzen ein tibetischer Geshe und westliche Buddhismus-Lehrer die Arbeit fort. Das Meditationshaus des Tibetischen Zentrums liegt in Lünzen nahe Schneverdingen. Der schöne Landsitz eignet sich ideal zur Geistesschulung. Anfänger und Fortgeschrittene können an Gruppenklausuren und Seminaren unter qualifizierter Anleitung teilnehmen. Die Unterbringung erfolgt vorwiegend in Mehrbettzimmern; die Verpflegung ist vegetarisch. Das Haus in Hamburg-Rahlstedt hat in seinem Garten einen Tempel, in den man sich zur stillen Meditation zurückziehen kann. Der St•pa im Garten, Symbol für den erwachten Buddha, wurde 1987 errichtet. Mitgliedern steht eine Bibliothek mit rund 3000 Titeln und mehreren hundert Audio- und Videokassetten zu den Themen Tibet und Buddhismus zur Verfügung. Der Buchladen „Tsongkang” verkauft buddhistische Bücher, Kassetten und Devotionalien. Öffnungszeiten: Di., Mi., Fr., Sa. (bei Veranstaltungen) 15 bis 19 Uhr, und meist während der Veranstaltungspausen. Telefon: 040 - 644 98 28. Anmeldung: Sie können sich schriftlich, telefonisch, per Fax oder E-Mail für die Seminare anmelden. Wir schicken Ihnen dann per Post eine Anmeldebestätigung und Informationen zu. Sobald die Anzahlung auf unserem Konto eingegangen ist, reservieren wir Ihnen verbindlich einen Seminarplatz: Tibetisches Zentrum e.V. Lünzen, Kreissparkasse Soltau, Kto: 588 269, BLZ 258 516 60. An- und Abreise: Die Anreise ist jeweils am 1. Seminartag ab 17 Uhr. Die Seminare enden mit dem Mittagessen am Abschlusstag. Meditationshütte: Für Einzelklausuren gibt es eine Hütte mit Bett, Kochnische und Sitz- bzw. Schreibgelegenheit. Sanitäre Anlagen nur im Haupthaus. Für nähere Informationen wenden Sie sich bitte an das Büro von Semkye Ling. Sprechzeiten des Hamburger Zentrums: Di.- Fr. 15 bis 18 Uhr Telefon: 040 - 644 35 85. Sprechzeiten Semkye Ling: Montag und Freitag 14 bis 16 Uhr Telefon: 05 193 - 52 511 Sie können eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter hinterlassen. Tibetisches Zentrum e.V. Hamburg Hermann-Balk-Straße 106 22147 Hamburg ( U-Bahn Berne, U1 ) Buddhistisches Meditationshaus Semkye Ling Lünzener Straße 4 29640 Schneverdingen Postbank Hamburg, BLZ: 200 100 20, Kto-Nr.: 460 900 201 Kreissparkasse Soltau, BLZ 258 516 60, Kto-Nr.: 588 269 Tel: 040-644 35 85, Fax: 040-644 35 15 tz@tibet.de, www.tibet.de Tel.: 05193-525 11, Fax: 05193-527 10 sl@tibet.de, www.tibet.de 2 Tibet und Buddhismus 1/07 Editorial Liebe Leserinnen und Leser, Fitness, Wellness und Schönheitschirurgie stehen derzeit hoch im Kurs. Fast hat es den Anschein, dass die Sorge um den Körper proportional mit dem Stress zunimmt, dem wir heutzutage ausgesetzt sind. Je mehr Stress wir erleben und je weniger wir „bei uns” sind, um so größer ist die Tendenz, sich angestrengt um das körperliche Wohl zu sorgen. Doch sind wir dadurch glücklicher? Für den Buddha sind Körper und Geist gleichermaßen mit Leiden behaftet. Sie bilden die Grundlage für die schlimmsten menschlichen Leiden: Altern, Krankheit und Tod. Da wir momentan aber nur diesen mit Makeln befleckten Körper und Geist zur Verfügung haben, ist es gut, sich um beide zu kümmern. Ein gesunder Körper bildet die Voraussetzung für die geistige Entwicklung und Meditationspraxis. Die Geistesschulung wirkt sich positiv auf das körperliche Wohlbefinden aus und ist das Mittel, um stabiles, dauerhaftes Glück zu erreichen. Dass Heilung mehr beinhaltet als das Kurieren vorübergehender Krankheit schildert Lama Zopa Rinpoche in seinem Text: Eine umfassende Heilung, wie er sie als buddhistischer Meister versteht, muss aus dem Geist kommen. Der tibetische Meister weist insbesondere auf die heilende Kraft der Meditation über Liebe und Mitgefühl hin. In der tibetischen Medizin werden Körper und Geist als Einheit verstanden. Wenn der Arzt die körperlichen Elemente durch verschiedene Methoden von der Moxibustion bis hin zur Ernährung wieder ins Gleichgewicht bringt, wirkt sich das notwendigerweise auch auf den Geist aus. Die Wirkung ist jedoch nur von kurzer Dauer, wenn der Patient seinen gewohnheitsmäßigen schädlichen Einstellungen nicht per Geistesschulung entgegen wirkt. Lesen Sie mehr in dem Beitrag von Dr. Asshauer über die geistige Dimension in der tibetischen Medizin. Die Frage nach dem Bewusstsein und seinen mentalen Prozessen ist ins Zentrum der neurowissenschaftlichen Forschung gerückt. Hirnforscher sind dem Glück auf der Spur und erforschen den Zusammenhang von Meditation und Gesundheit. In den USA gibt es mittlerweile „AntiStress-Kliniken”, die teilweise buddhistische Methoden der Achtsamkeit und Geistesschulung einbeziehen und damit große Erfolge in der Bekämpfung von Zivilisationskrankheiten erzielen. Diego Hangartner fasst in seinem Beitrag über die Hirnforschung die neuesten Ergebnisse zusammen. Die Ausstellung tibetischer Kunstobjekte in der Villa Hügel in Essen hat Wirbel ausgelöst. Das Interesse an Tibet und seiner Kultur scheint im Westen immer noch ungebrochen zu sein, das belegen die hohen Besucherzahlen. Tibetfreunde sind jedoch enttäuscht, dass die Ausstellungsmacher jeglichen Hinweis auf die Zerstörung der tibetischen Kultur durch die chinesische Besatzungsmacht bewusst ablehnen. Kann man aber religiöse und kulturelle Objekte aus einem besetzten Land ausstellen, in dem die Religion selbst unterdrückt wird, ohne diese Unterdrückung zu thematisieren? Lesen Sie dazu den Offenen Brief von Franz Binder, Buchautor und Mitglied der Tibet Initiative Deutschland, an die Villa Hügel. Es wäre schön, wenn sich die Organisatoren in Berlin die Worte zu Herzen nähmen, denn vom 23. Februar bis 28. Mai 2007 soll die Ausstellung im Berliner Museum für Ostasiatische Kunst zu sehen sein. Eine spannende Lektüre wünscht Ihnen Tibet und Buddhismus 1/07 3 Impressum Tibet und Buddhismus ist die Zeitschrift des Tibetischen Zentrums e.V. Der Bezugspreis ist für Mitglieder des Tibetischen Zentrums durch ihre Beiträge abgedeckt. Herausgeber: Tibetisches Zentrum e.V. Hermann–Balk–Straße 106 22147 Hamburg . Germany Lama Zopa erläutert, wie Krankheit aus dem Geist entsteht und wie umfassende Heilung mit den Mitteln des Geistes bewirkt werden kann. Mitgefühl ist der Schlüssel dazu. Seite 10 (040) 644 35 85 (040) 644 98 28 (040) 644 35 15 tz@tibet.de http://www.tibet.de Nagels Telefon: Telefon Buchladen: Telefax: E-Mail: Internet: Heilung kommt aus dem Geist Postbank Hamburg Konto-Nr.: 460 900 201 BLZ 200 100 20 Anzeigen: Lothar Wendler Telefon: (02866) 188555 E-Mail: LWendler@t–online.de Redaktionsteam: Birgit Stratmann (verantwortlich), Monika Deimann-Clemens, Oliver Petersen, Christine Rackuff, Carola Roloff Verantwortlich für die Veröffentlichung des Programms: Katja Tiefel Gestaltung, Satz, Reproarbeiten: Jörg Hoffmann, Olga Poljakowa. Bei dieser Ausgabe haben weiter mitgeholfen: Michael Herm, Anja Oeck, Birgit Prader, Wolfgang Teubner Druck: L & L Druckservice, Rahlstedter Bahnhofstr. 58, 22149 Hamburg. Gedruckt auf 100% Altpapier (Innenteil) und Ikonofix chlorfrei (Umschlag). Fotos und Abbildungen: Siehe Bildunterschriften. Titelfoto: Christof Spitz. Mit freundlicher Unterstützung von Tibetan Lama Art, Hamburg. © Alle Rechte vorbehalten. Das Urheberrecht an allen Beiträgen liegt beim Tibetischen Zentrum oder den Autoren. Die Autoren sind für ihre Beiträge selbst verantwortlich. Die Texte geben nicht unbedingt die Meinung des Herausgebers wieder. Für unverlangt eingesandte Manuskripte können wir leider keine Gewähr übernehmen. 4 Tibet und Buddhismus 1/07 Körper und Geist in Einklang bringen Körperarbeit kann helfen, den Geist zu beruhigen und für die Meditation vorzubereiten. Christine Rackuff stellt Kum Nye, Yoga und Qi Gong vor. Seite 20 Rackuff Jahres-Abo (inkl. Porto): 22,00 Euro Einzelheft (zuzügl. Porto): 5,50 Euro Das Abonnement (Bestellformular in der Heftmitte) verlängert sich um ein Jahr, wenn es nicht spätestens sechs Wochen vor Jahresablauf gekündigt wird. ISSN: 0938-3506 Hirnforschung: Wie der Geist den Körper beeinflusst Das Gehirn kann durch Meditation verändert werden, Achtsamkeitspraxis fördert die Gesundheit. Diego Hangartner stellt die neuesten Ergebnisse im Bereich der Hirnforschung vor. Seite 24 Inhalt 6 Im Hier und Jetzt verweilen Geshe Pema Samten 8 Liebe kann junge Menschen verändern Interview mit Sangye Nyenpa Rinpoche 10 Heilung kommt aus dem Geist Lama Zopa Rinpoche 14 Meditation über den Medizin-Buddha Soenam Choekyi 16 Die geistige Dimension in der tibetischen Medizin Egbert Asshauer 20 Körper und Geist in Einklang bringen Christine Rackuff 24 Hirnforschung: Wie der Geist den Körper beeinflusst Diego Hangartner 29 Serie: Die buddhistischen Traditionen Tibets Teil 3: Die Sakya-Tradition 34 Standpunkt: Tibet-Ausstellung in Essen Franz Binder 35 Künstlerische Freiheit versus Respekt vor den Religionen Zwei Stellungnahmen 36 „Halten wir an unserer Kultur fest!” Woeser 39 „Wir brauchen die Hilfe der Welt” Interview mit Tenzin Tsundue 41 Aktuelles 43 Buchbesprechungen 46 Veranstaltungsprogramm „Halten wir an unserer Kultur fest!” Hangartner Lehmann Die tibetische Schriftstellerin Woeser, die in Peking lebt, beschreibt die schwierige Lage in ihrer Heimat. Doch sie fordert die Tibeter auf, unbedingt an ihrer wertvollen Kultur festzuhalten. Seite 36 Tibet und Buddhismus 1/07 5 Unterweisung Im Hier und Jetzt verweilen Für die Meditation und die spirituelle Entwicklung insgesamt ist es wichtig, in der Gegenwart zu bleiben und nicht in Vergangenheit und Zukunft abzuschweifen. Geshe Pema Samten gibt Ratschläge für das achtsame Verweilen im Moment. von Geshe Pema Samten enn wir uns in der Meditation einspitzig auf ein Meditationsobjekt richten, geschieht es hin und wieder, dass sich unser Geist aus Gewohnheit mit Erlebnissen aus der Vergangenheit beschäftigt. Dies ist für die Meditation genauso hinderlich, wie Vermutungen über die Zukunft anzustellen. Wir müssen unseren Geist ganz konzentriert auf dem Objekt ruhen lassen. Das achtsame Verweilen im gegenwärtigen Moment sollten wir vor allem in der Meditation, aber auch bei unseren alltäglichen Handlungen üben. Der 1. Pantschen Lama, Lobsang Tschökyi Gyaltsen, gibt in seinen Erklärungen über Mahåmudrå folgenden Ratschlag: „Folge nicht den Spuren der Vergangenheit, hole die Zukunft nicht heran, auch im Jetzt völlig unbewegt lasse den Geist ausgeglichen in diesem Zustand verweilen.” Wenn wir über etwas nachdenken oder eine analytische Meditation ausführen, mag es dagegen angebracht sein, über Vergangenes nachzudenken, das heißt, eigene Denk- und Verhaltensmuster zu überprüfen, und Vorsätze für die Zukunft zu fassen. Wir üben dann gezielt neue Denkweisen ein, um heilsame Gewohnheiten zu schaffen. 6 Tibet und Buddhismus 1/07 Jens Nagels W Unterweisung unheilsame Handlungen zu Leiden führen, können wir entspannt bleiben. Wir wissen nicht, was wir in der Vergangenheit, etwa in früheren Leben, ge- Geshe Pema Samten in seiner tan haben. Klar ist: Heimat Tibet. Wir werden nur die Wirkungen solcher Handlungen erleben, die wir selbst angesammelt haben. Entweder wir bereinigen schlechte Taten oder wir erleben die Auswirkungen. Indem wir es erleben, braucht sich dieses Karma auf. Handeln wir ab jetzt bewusst nach dem Gesetz des Karma, können wir zuversichtlich sein. Wenn wir versuchen, gut zu handeln, andere nicht zu schädigen und ihnen vielleicht sogar zu nutzen, dann wird auch unsere Zukunft entsprechend gut sein, und wir werden Glück erleben. Es gibt dann keinen Grund, sich Sorgen zu machen. Wer immerzu über seine Zukunft nachdenkt, nimmt sich selbst zu wichtig. Denken wir dagegen mehr an andere und entwickeln echte Anteilnahme ihnen gegenüber, dann entstehen in uns Liebe und Mitgefühl. Wir können dabei den Erleuchtungsgeist üben, das Streben nach Buddhaschaft zum Wohle der Wesen. Eine solche Ausrichtung auf die Zukunft ist heilsam. Die Art und Weise, wie wir über die Zukunft nachdenken – selbstzentriert oder altruistisch – entscheidet darüber, wie es uns geht. Üben wir echte Anteilnahme am Wohlergehen anderer und gestalten die Zukunft für andere so, dass es ihnen gut geht, ist das ein sehr heilsames Handeln. Wenn wir immer nur an Arbeit und Geld denken, dann ist das ichbezogen und eine negative Haltung, die sehr viel Leiden schafft. Wenn wir aber unsere Arbeit mit dem Gedanken verbinden, wie wir damit anderen nützen können, dann werden wir feststellen, dass sich die gleiche Arbeit anders anfühlt. Wenn wir ein Studium mit der Motivation machen, danach jemand zu sein und etwas darzustellen, werden wir viele Probleme haben. Wenn wir den Studienabschluss mit einem Nutzen für andere verbinden und von diesem „ich, ich, ich” wegkommen, wird der Geist offener und freudiger. Winkler Für unser Leben und unsere spirituelle Praxis bringt es keinen Nutzen, wenn wir ständig über negative Erlebnisse unserer Kindheit nachdenken. Wenn wir altes Leiden in dieser unangemessenen Art immer wieder aufleben lassen, schaffen wir uns immer wieder neues Leiden. Wenn wir aber die Vergangenheit Vergangenheit sein lassen, gewinnen wir die innere Freiheit, auf konstruktive Weise über das nachzudenken, was wir erlebt haben. Wir können uns etwa darüber freuen, dass wir jetzt in der glücklichen Lage sind, von widrigen Umständen der Vergangenheit frei zu sein. Wir selbst entscheiden darüber, wie wir die vergangenen Erlebnisse betrachten. Tun wir es in einer positiven, förderlichen Art und Weise, geht es uns gut dabei. Lassen wir das Leid wieder aufleben, ist das nicht förderlich. Wir müssen erkennen, dass wir es in der Hand haben, den Geist unter unsere Kontrolle bringen. In gleicher Weise können wir auch die Menschen betrachten. Wenn wir an einen Schädiger denken und negative Erlebnisse, werden wir wieder leiden. Wir ärgern uns und werden unausgeglichen. Auf die Person hat das wenig Auswirkung, auf uns aber eine große. Besser ist, wir nehmen dieses Erlebnis als Beispiel für uns und fassen den Vorsatz, selbst nicht so zu handeln, sondern uns in Geduld zu üben. Das wäre dann eine positive Verarbeitung der Vergangenheit. Wenn wir diese Vorteile erkennen und Gewissheit daraus entsteht, wird es uns besser gehen. In der analytischen Meditation können wir auch die Zukunft auf positive oder negative Art und Weise heranholen. Wenn wir viele Ängste haben und ständig denken „was wäre wenn”, dann erleben wir jetzt schon das Leiden durch unsere Vorstellung. In Tibet gibt es ein schönes Beispiel zur Illustration. Eine Ameise hatte immerzu Angst, dass der Himmel auf sie fallen könnte. Deshalb sagt man in Tibet, man soll nicht wie die Ameise denken. Unser Greifen nach dem Ich ist die Ursache für unsere Befürchtungen. Je stärker das Greifen, desto größer die Angst. All diese Befürchtungen sind Konzepte. Weil wir unwissend und voller falscher Konzepte sind, sehen wir die Dinge nicht klar. Weil wir die Dinge nicht klar sehen, haben wir Befürchtungen. All diese Konzepte sind Projektionen unseres eignen verblendeten Geistes, der nicht im Einklang mit der Wirklichkeit ist. Wenn wir völlig überzeugt vom Gesetz des Karma sind, also davon, dass heilsame Handlungen zu Glück und Aus dem Tibetischen übersetzt von Frank Dick Tibet und Buddhismus 1/07 7 Interview Photocase Liebe kann junge Menschen verändern Wie kann man jungen Menschen spirituelle Werte vermitteln und sie auf das Leben vorbereiten? Sangye Nyenpa Rinpoche spricht im folgenden Interview über die Probleme von Jugendlichen, über „no future” und die Kraft der Liebe und des Altruismus. Interview mit Sangye Nyenpa Rinpoche von Andrea Liebers Frage: Viele Teenager zwischen 14 und 16 machen eine Identitätskrise durch. Wie kann man herausbekommen, was der richtige Weg für einen ist? Rinpoche: Das ist wirklich schwer in diesem Alter! Ich selbst zum Beispiel hatte mit 15/16 nicht viel mehr im Sinn, als mit Freunden herumzuhängen und Spiele zu machen. Ich habe mir keine Gedanken darüber gemacht, wer ich bin. Frage: Wirklich? Das kann ich mir kaum vorstellen. Rinpoche: Doch, es war so, wie ich sage. In diesem Alter ist man noch ein bisschen ein Kind. Aus sich selbst heraus kann man meiner Meinung nach noch nicht Verantwortung übernehmen. Wenn man sich überlegt, warum man auf der Welt ist, welche Aufgabe man hat, dann hat das viel mit Planen zu tun. Ich muss mir Gedanken machen, was ich dieses Jahr mache, was im nächsten Jahr und danach. Vor allem muss ich wissen, welche Ziele ich erreichen möchte. Frage: Heutzutage scheinen viele Jugendliche frustriert zu sein, weil sie keine Perspektive sehen. Es gibt wenig Ausbildungsplätze, das Gefühl drohender Arbeitslosigkeit ist ständig präsent. Einige flüchten sich in Alkohol, Drogen und Kriminalität, der Begriff „no future” macht wieder die Runde. Rinpoche: Selbst wenn man „no future” sagt, heißt das nicht, dass man keine Zukunft hat. Jeder Mensch hat eine Zukunft. Das Gefühl von „no future” kann auch etwas Positives haben, wenn es dazu führt, dass weniger Erwartungen und Wünsche da sind und man mehr im Moment lebt. Das Problem ist in meinen Augen eher die Furcht der Erwachsenen, die Jugendlichen könnten aus diesem Gefühl 8 Tibet und Buddhismus 1/07 von „no future” heraus auf die schiefe Bahn geraten. Ich sehe den Zusammenhang zwischen „no future” und Kriminalität nicht. Man muss sich nur umsehen, wie viele angeblich ehrenwerte und gebildete Geschäftsleute es gibt, die Straftaten begehen. Frage: Außerdem gibt es gerade unter Jugendlichen einige, die idealistisch sind, die sich für die Umwelt, den Frieden oder Gerechtigkeit engagieren und an innerem Wachstum interessiert sind. Doch irgendwann lässt das nach. Woher kommt das? Rinpoche: Ich kann gut verstehen, dass das passiert. Niemand ist perfekt. Obwohl man etwas Gutes tun will, fehlt einem doch die innere Kraft dazu und das reine Herz. Buddhistisch gesprochen ist es ein Mangel an Altruismus. Weil diese innere Qualität nicht ausreichend vorhanden ist, steht nicht genügend Energie zur Verfügung, das Gute auch umzusetzen. Es sind die Gewohnheiten, die uns dazu bringen, sinnlose Dinge für wichtig zu halten. Frage: Nicht zu vergessen sind materielle Interessen und Ziele. Rinpoche: Richtig. Macht, Geld, Ansehen und Ruhm üben eine starke Anziehungskraft auf alle aus, egal ob sie religiös oder weltlich orientiert sind. Egal, wie sehr man behauptet, anderen helfen zu wollen, egal ob man Mitglied einer Hilfsorganisation ist, kaum jemand ist davon frei. Begierde ist das vorherrschende Gefühl im Menschenbereich, es gehört zu unserem Menschsein dazu. Man kann diese störenden Gefühle, diese Verschleierungen nicht einfach wegblasen, wir leben in und mit diesen Verdunklungen. Frage: Wie könnte man versuchen, den Jugendlichen den Zugang zu Spiritualität zu erleichtern? Rinpoche: Ehrlich gesagt, so wirklich wichtig ist Spiritualität auch nicht. Liebe ist viel wichtiger. Spiritualität ist nur ein Wort, viel wichtiger ist Liebe, denn sie kann man erleben und fühlen. Liebe entsteht zuerst in einer Beziehung zwischen zwei Menschen, das ist der erste Schritt. Diese Liebe gilt es weiterzuentwickeln, denn so lange sie nur auf diese zwei Personen begrenzt bleibt, entstehen leicht Probleme. Wenn die Liebe so eng bleibt, ist sie nicht wirklich offen, sondern auf etwas Bestimmtes aus. Diese Liebe wäre damit verbunden, dass man etwas vom anderen haben möchte. Wenn einer die Fähigkeit zu wirklich offener Liebe hat, verändert dieser Mensch die Welt ganz automatisch. Ich glaube nicht daran, dass man durch Anweisungen und Gebote die Menschen verändern kann. Der Staat kann keine guten Taten verordnen. Zu verstehen, dass es unser Potenzial ist, zu dieser großen, offenen Liebe fähig zu sein, ist das Einzige, was eine wirkliche Veränderung herbeiführen kann. Wir dürfen nicht glauben, dass der Mensch dazu gemacht ist, zu bomben, zu morden, zu stehlen und zu kämpfen. Wir können unsere positiven Qualitäten, die von Natur aus in uns sind, entfalten. Das hat nichts damit zu tun, welche Gebete wir sprechen, was für eine Ausbildung wir haben oder welche Weltanschauung wir gut finden. Frage: Sie glauben also an eine Art Geburtsrecht des Gutseins. Rinpoche: Ja, und deshalb bin ich traurig, weil nur so wenige die Kraft dieses Gutseins nutzen und entwickeln. Kaum einer sieht sie, kaum einer kümmert sich um sie. Die nutzlosen Dinge sind leider attraktiver. Man täuscht sich die ganze Zeit selbst, weil man den Unterschied zwischen dem, was nützlich, und dem, was ohne jeden Wert ist, nicht erkennt. So bleibt man gefangen und unfrei. Frage: Man könnte bei der Erziehung ansetzen. Kinder sind ja noch sehr offen, man könnte sie so erziehen, dass sie in Kontakt mit diesem Wissen um das Wertvolle bleiben. Rinpoche: Ja, aber Erziehung ist oft einfach nur schlecht. Kinder können dazu erzogen werden, Waffen zu benutzen, zu morden, Kriege zu führen. Erziehung muss nicht unbedingt zum Guten führen. Wenn Erziehung helfen würde herauszufinden, was wirklich nützlich ist, dann wäre es eine gute Erziehung. Wenn Erziehung dazu führt, dass man vermeidet, anderen Schmerzen und Leid zuzufügen, das wäre die richtige Richtung. Wenn sie uns vermitteln könnte, wie wir aus der Tiefe unseres Herzens heraus reagieren und spontan das Hilfreiche, Heilsame tun können, das wäre wunderbar. Frage: So weit sind wir aber noch nicht. Wir bekommen eher beigebracht, dass wir uns anstrengen sollen, auch etwas vom Kuchen abzubekommen. Fotos: Liebers Interview Für Sangye Nyenpa Rinpoche (43) kann Liebe das Tor zur Spiritualität sein. Rinpoche: Sie meinen, es sieht in den Augen der Leute verrückt aus, wenn man Hilfe, Zuneigung, Interesse anbietet? Frage: Irgendwie schon. Rinpoche: Dann bin ich anscheinend ganz alleine mit meiner Einstellung. Frage: Wie kann man sich selbst motivieren, ein liebevoller Mensch zu werden? Rinpoche: Zunächst muss uns klar sein, dass es harte Arbeit ist. Unsere innere Kraft ist normalerweise begrenzt. Wir müssen wieder und wieder versuchen, unser Bestes zu geben, obwohl die Hindernisse enorm sind. Wenn wir uns aber aufrichtig bemühen, an unsere Grenzen zu gehen und sie immer wieder ein kleines bisschen weiter auszudehnen, das kann helfen. Frage: Und wie motiviert man sich, wenn es wirklich schwierig wird? Rinpoche: Sich einfach nicht darum kümmern, was andere über dich denken und sagen. Wenn sie dich für verrückt erklären, nur weil du versuchst, ein liebender, ehrlicher, freundlicher Mensch zu sein, ignoriere sie einfach. Wenn du wirklich für andere da sein willst, dann tu es. Sangye Nyenpa Rinpoche, 1963 in Paro Tagtsanga/Buthan geboren, studierte von klein auf unter der Anleitung S.H. dem Karmapa, S.H. Dilgo Khyentse Rinpoche und anderer großer Meister. Er schloss seine Ausbildung am Nalanda-Institut in Rumtek mit dem Titel eines Acharya ab. Er gilt sowohl in Philosophie wie auch in tantrischen Ritualen als einer der gelehrtesten Rinpoches der Karma Kagyü-Linie. Tibet und Buddhismus 1/07 9 Nagels Mitgefühl heilt am besten, der Buddha hat es zur Vollendung gebracht. Titel Heilung kommt aus dem Geist „Der Geist geht allem voran”, sagte der Buddha. Lama Zopa Rinpoche greift diese Grundidee des Buddhismus auf und erläutert, wie Krankheit aus dem Geist entsteht und umfassende Heilung durch Meditation und Geistestraining möglich ist. von Lama Zopa Rinpoche eilung entsteht im Grunde in unserem Geist und nicht in unserem Körper. Daher kommt es darauf an, die Natur des Geistes zu verstehen. Seine wahre Natur ist rein in dem Sinne, dass sie nicht eins ist mit seinen Mängeln und Verblendungen. Auch sind alle Mängel des Geistes wie Selbstsucht, Unwissenheit, Zorn, Anhaftung, Schuldgefühle und andere verstörende Empfindungen vergänglich. Und da die Ursachen des Leidens vergänglich sind, ist auch das Leiden nicht von Dauer. Der Geist ist zudem leer von wahrer Existenz; er existiert nicht aus sich selbst heraus. Durch diese Eigenschaft des Geistes, seine Buddha-Natur, besitzen wir das Potenzial, uns vollständig von allen Leiden - also auch von Krankheiten - und dessen Ursachen zu befreien und all das Glück zu erreichen, das wir uns wünschen, also auch das unvergleichliche Glück der Erleuchtung. Wir haben eine unglaubliche Freiheit, unseren Geist zu entwickeln. Geist und Körper sind zwei unterschiedliche Phänomene. Der Geist ist eine Instanz, die klar ist und Objekte wahrnimmt. Wie die Dinge von einem Spiegel reflektiert werden, so erscheinen sie auch klar im Geist, der fähig ist, sie zu erkennen. Während der Körper stofflicher Natur ist, ist der Geist immateriell, ohne Farbe und Form. Während der Körper nach dem Tod zerfällt, wandert der Geist von Leben zu Leben. Das Wissen um die Natur des Geistes ist wichtiger, aber auch komplexer als das Wissen um die Natur der äußeren Erscheinungen. Begreifen wir die Natur des Geistes nicht, so ist es uns unmöglich, die gewöhnliche und absolute Natur anderer Erscheinungen richtig zu verstehen. Selbst aus weltlicher Sicht ist es nur durch ein Verständnis des Geistes möglich, genau zu definieren und H zu begreifen, wie die äußeren Erscheinungen existieren. Unseren Geist kennen zu lernen, ist also die praktische Lösung für unsere Probleme. Nur wenn wir die Wurzel aller Probleme identifizieren, ist es uns möglich, ihnen Einhalt zu gebieten. Außerdem müssen wir das ganze Ausmaß der Probleme erkennen, denn wenn wir sie nur teilweise sehen, ist unsere Vorstellung der Befreiung von ihnen ebenfalls begrenzt. Krankheit wurzelt im Geist Es ist von entscheidender Bedeutung. Wir können zwar auf Medikamente oder andere äußere Mittel zurückgreifen, um eine Krankheit zu heilen, doch diese wird wiederkommen, wenn wir nicht auch unseren Geist heilen. Die Gefahr bleibt bestehen, dass wir die Ursache der Krankheit immer wieder neu erschaffen, indem wir die Handlungen wiederholen, die uns physisch krank gemacht haben. Krankheiten mithilfe äußerer Mittel zu heilen, ist nicht die beste Lösung, weil die Ursache von Krankheiten nicht außerhalb von uns liegt. Zwar können Faktoren wie Bakterien, Viren und Geister als äußere Bedingungen für das Entstehen einer Erkrankung fungieren, doch die eigentliche Wurzel liegt nicht im Außen. Im Westen werden solche äußeren Faktoren meist für ihre Ursache gehalten. Doch liegt die Ursache einer Erkrankung im Geist – man könnte auch sagen: sie ist der Geist. Krankheiten werden von Eigenliebe, Unwissenheit, Zorn, Anhaftung und anderen Verblendungen verursacht und von den negativen Handlungen, die von diesen nega- Tibet und Buddhismus 1/07 11 Titel Greenpeace tiven Gedanken ausgelöst werden. Negative Gedanken und Handlungen hinterlassen Eindrücke in unserem Geist, die sich dann in Form von Krankheiten oder anderen Problemen manifestieren. Dieselben Eindrücke führen auch dazu, dass Verblendungen und negative Handlungen erneut entstehen. Natürlich hat ein physisches Symptom eine physische Ursache; doch diese physische Ursache entsteht wiederum wegen einer inneren Ursache, die im Geist zu finden ist. Solange wir die innere Ursache einer Erkrankung ignorieren, haben wir kein echtes Heilmittel dafür. Bevor wir eine Erkrankung heilen können, müssen wir uns also mit ihrer Entwicklung beschäftigen und erkennen, dass ihre Ursache im Geist liegt. Sobald wir das begriffen haben, werden wir automatisch zu der Erkenntnis gelangen, dass auch die Heilung der Erkrankung aus dem Geist kommen muss. men, die ausgiebig in der Sonne liegen. Da das nicht zutrifft, können wir schließen, dass das Sonnenlicht nicht die Hauptursache dieser Krankheit ist. Ungeschützt der Sonne ausgesetzt zu sein, ist eine äußere Bedingung für Hautkrebs, nicht seine Hauptursache. Die Hauptursache für Hautkrebs ist der Geist. Menschen, in denen keine innere Ursache für Hautkrebs vorhanden ist, können sonnnenbaden, ohne sich Krebs zuzuziehen. Mitgefühl heilt am besten Wir müssen die innere Medizin einnehmen, um die Ursache einer Erkrankung zu heilen. Diese innere Medizin heißt Meditation. Meditieren bedeutet, unseren eigenen Geist und unsere positive Haltung einzusetzen. Meditation ist der Schlüssel zur Heilung, weil sie die einzige Möglichkeit darstellt, den Ursachen des Leidens Einhalt zu gebieten und die Ursachen des Glücks hervorzubringen. Womöglich können Medikamente oder eine einfache Visualisierung eine bestimmte Krankheit heilen, aber um den Geist zu heilen, reichen solche Methoden nicht aus. Bei der Meditation setzen wir unsere positive Haltung als innere Medizin ein, um den Geist zu heilen und dadurch die Ursachen aller Probleme zu beseitigen. Damit dieser Heilungsprozess gelingt, müssen wir die guten Eigenschaften des Geistes entwickeln. Meditation heilt nicht nur Hautkrebs wird normalerweise mit Sonneneinstrahlung in Verbindung gebracht. Da Krankheiten, sie bringt dem Geist auch groaber nicht jeder Hautkrebs bekommt, der sich länger der Sonne aussetzt, müssen ßen Frieden, denn das ist das Wesen positiver die tieferen Ursachen im Geist liegen. Gedanken; sie machen ruhig und entspannt. Was die Heilung betrifft, sind die besten positiven Was ich beschrieben habe, stimmt nicht nur mit den Gedanken, die wir entwickeln können, liebende Güte buddhistischen Lehren überein, sondern auch mit unserer und Mitgefühl. Liebende Güte ist der Wunsch, dass andeeigenen Lebenserfahrung. Und auch die westliche Wisre Glück und die Ursachen von Glück erleben mögen. senschaft hat demonstriert, dass die Gesundheit eines Mitgefühl ist der Wunsch, dass andere frei von Leid und Menschen sehr viel damit zu tun hat, mit welcher den Ursachen von Leid sein mögen. Großes Mitgefühl Einstellung er an sein Leben herangeht. Zum Beispiel hat besteht darin, die Verantwortung auf uns zu nehmen, Fritjof Capra für sein Buch „Das neue Denken” mit namandere vom Leiden und dessen Ursachen zu befreien. haften Ärzten und Psychologen über die Ursachen von Mitgefühl heilt am allerbesten. Die kraftvollste Heilung Krebserkrankungen gesprochen. Aufgrund ihrer Forschunentsteht, indem wir Mitgefühl für alle anderen fühlenden gen waren sie zu dem Schluss gekommen, dass Krebs Wesen entwickeln, ungeachtet ihrer Hautfarbe, Nationadurch die negative Haltung des Kranken entsteht. lität, Religion und Beziehung zu uns. Wir müssen MitProbleme sind Geschöpfe des Geistes. Haben wir im gefühl für alle Lebewesen empfinden, denn jedes dieser Geist die Ursache für ein Problem und reinigen uns nicht Wesen wünscht sich Glück und will nicht leiden. Wir solldavon, wird sich das Problem mit Sicherheit daraus maniten sogar nicht nur Mitgefühl entwickeln, sondern großes festieren. Sobald die innere Ursache eines Problems exiMitgefühl, indem wir die Verantwortung auf uns nehmen, stiert, kommen äußere Bedingungen hinzu, weil diese von das zu tun. Das bewirkt eine tiefe und kraftvolle Heilung. der inneren Ursache erschaffen werden. Äußere Faktoren Liebevolle und mitfühlende Gedanken sind von ihrem werden zu den Bedingungen eines Problems, weil in Wesen her friedvoll und gesund und damit ganz anders unserem Geist eine innere Ursache existiert. als Unwissenheit, Zorn, Anhaftung, Stolz und Eifersucht. Denken wir zum Beispiel an Hautkrebs. Allgemein Obgleich ein mitfühlender Mensch echte Anteilnahme wird angenommen, Hautkrebs werde durch zu langes verspürt und es unerträglich findet, dass andere Wesen Sonnenbaden verursacht. Wäre Sonnenlicht aber die leiden, ist das Wesen seines Geistes im Grunde friedvoll. Hauptursache von Hautkrebs, würden ihn alle bekom12 Tibet und Buddhismus 1/07 Titel Endgültige Heilung Unser Mitgefühl zu stärken, hilft uns auch dabei, Weisheit zu entwickeln, besonders die Weisheit, welche die Leerheit erkennt und damit die grundlegende Natur des Ich, des Geistes und aller anderen Phänomene. Diese Weisheit löst allmählich die Wolken der Verblendungen auf, die den Geist im Moment verdüstern, bis dieser so rein wird wie ein klarer blauer Himmel, den Sonnenlicht durchströmt. So reinigt diese Weisheit den Geist ganz direkt. Sie befreit ihn von Unwissenheit, Zorn, Anhaftung und allen anderen Verblendungen, von den Keimen dieser Verblendungen und selbst von den Eindrücken, die sie hinterlassen haben. Sind Mitgefühl und Weisheit voll entwickelt, wird der Geist vollkommen frei von groben und subtilen Schleiern. Damit ist er allwissend. Ein allwissender Geist ist in der Lage, direkt die gesamte Realität zu sehen; er kann die geistige Entwicklung aller fühlenden Wesen erkennen und die passenden Methoden, die sie von ihren Problemen befreien und ihnen Glück bringen können. Im Augenblick ist unser Wissen jedoch sehr begrenzt. Es liegt an unseren Geistesschleiern, dass die Kraft unseres Körpers, unserer Rede und unseres Geistes so begrenzt ist. Befreien wir jedoch unser geistiges Kontinuum von allen groben und subtilen Schleiern, hat unsere Kraft keine Grenzen mehr. Nicht nur ist unser Geist dann in der Lage, direkt die Wirklichkeit zu sehen, er kann auch alles durchdringen. Ist unser Geist vollständig erleuchtet, also frei von allen groben und subtilen Schleiern, dann sind wir auch vollständig frei von den groben Aspekten von Geist und Körper. Nichts begrenzt uns mehr; das ist die endgültige Heilung. Da alle groben und subtilen Schleier beseitigt sind, durchdringt der allwissende Geist des Buddha alles auf natürliche Weise. Reift die positive Prägung eines Lebewesens heran, kann der Buddha sich sofort in einer Form manifestieren, die dem Entwicklungszustand dieses Wesens entspricht. Dann kann er dazu beitragen, dieses Wesen von einem Glück zum anderen zu führen bis zum unvergleichlichen Glück der vollständigen Erleuchtung. Das ist die Bedeutung vollkommener Kraft. Wissen und Kraft allein genügen jedoch nicht, das Mitgefühl kommt hinzu. Selbst wenn jemand sehr viel weiß, bedeutet das nicht unbedingt, dass er sein Wissen benutzt, um anderen zu helfen. Jemand mit Mitgefühl hingegen wird euch immer helfen, wenn ihr ihn um Hilfe bittet. Es ist das Mitgefühl, das uns dabei hilft, unsere Weisheit und unsere Kraft zu vervollkommnen. Das Mitgefühl drängt uns, unseren Geist zum Wohle anderer zu entwickeln. Sind unser Mitgefühl, unser Wissen und unsere Kraft vollkommen, so können wir anderen wirklich helfen. Diese Umwandlung des Geistes ist die höchste Heilung. Doch ganz gleich, was ich sage, die eigentliche Heilung muss aus euch heraus, aus eurem eigenen Geist kommen. Sie entsteht durch Meditation, durch positive Gedanken, also im Grunde durch eure eigene Weisheit und euer eigenes Mitgefühl. Durch die Meditation über Leerheit und über liebende Güte und Mitgefühl braucht ihr schließlich keine Heilung mehr. Durch diese höchste Heilung werdet ihr nie wieder Krankheit erleben müssen. Aus dem Englischen übersetzt von Bernhard Kleinschmidt. Der Text stammt aus dem Buch von Lama Zopa Rinpoche „Mitgefühl: Heilkraft für Geist und Körper”, München 2001. Mit freundlicher Genehmigung des Diamant Verlags. Lama Zopa Rinpoche, 1946 in Thami, Nepal, geboren, erhielt seine Ausbildung in Klöstern Nepals und Tibets. Er führt das Werk seines wichtigsten Lehres, Lama Yeshe, weiter und ist seit 1984 spiritueller Direktor der „Foundation for the Preservation of the Mahayana Tradition” (FPMT) mit einem Netzwerk von Zentren in der ganzen Welt. Lama Zopa gründete u.a. die Klöster Kopan und Lawudo, wo er regelmäßig unterrichtet. Diamant Verlag Ein übelwollender Geist hingegen ist nicht ruhig; er ist wie ein scharfer Stachel im Herzen. Anhaftung verursacht ihre eigene Art von Schmerzen; wir empfinden ein enges, drückendes und sehr schmerzhaftes Gefühl, wenn wir uns vom Objekt unserer Sehnsucht trennen müssen. Außerdem verdüstert Anhaftung den Geist und lässt eine Mauer zwischen uns und der Realität entstehen. So können wir weder die Realität des Leidens dieses Wesens erkennen noch von Herzen Mitgefühl für es empfinden. Heilen wir unseren Geist mit großem Mitgefühl, werden wir in der Lage sein, all unsere eigenen Probleme und die anderer zu lösen. Das positive Denken des Mitgefühls hilft uns nicht nur dabei, von Krankheiten zu genesen, es bringt uns auch Frieden, Glück und Zufriedenheit. Tibet und Buddhismus 1/07 13 Meditation C. Spitz Die Praxis des Medizinbuddha von Maria-Viktoria Derenbach (Soenam Choekyi) Die Praxis des Medizin-Buddha kann Heilung unterstützen. ie Meditation über den Medizinbuddha wird im tibetischen Buddhismus praktiziert, um den Heilungsprozess im Fall von Krankheit zu unterstützen und die Heilmaßnahmen zu verstärken. Dabei kann der Kranke sich selbst an den Medizinbuddha wenden oder ein anderer, ein Arzt oder Freund, meditiert für den Kranken. Welche Gottheit eine heilende Wirkung auf den Bedürftigen hat, hängt von vielen Faktoren ab, vor allem vom Karma und den Veranlagungen der Person. Hat der Betroffene ein besonderes Vertrauen in den Medizinbuddha, sollte er eine Einweihung in diese Gottheit erhalten, einschließlich der Übertragung des Mantras und der Erlaubnis zur Praxis. Das Wichtigste ist die Disziplinierung des Geistes. Wir müssen den Geist vor störenden und unheilsamen Gedanken schützen. Die wirkungsvollste Heilmethode besteht darin, den Geist in den Zustand von Liebe, Mitgefühl und Weisheit zu versetzen. Die Meditation über Gottheiten kann zwar dazu beitragen, dass wir Segen empfangen, doch die Hauptpraxis besteht darin, im täglichen Leben den Geist zu bändigen. Denn wenn wir unheilsam handeln, kann uns niemand mehr helfen. Auf der Basis eines disziplinierten Geistes hat die Medizinbuddha-Praxis einen großen Nutzen, besonders in dieser schwierigen Zeit. Sie trägt dazu bei, die Krankheiten zu heilen, an denen wir jetzt leiden, und uns vor zukünftigen Krankheiten zu schützen. Ihre große Kraft geht auf die Zeit zurück, als der Buddha noch ein Bodhisattva war. Er legte damals das Versprechen ab, alle heilsamen Gebete der Wesen des degenerierten Zeitalters, in dem die Lehren des Buddha Œåkyamuni im Niedergang begriffen sind, zur Reife zu bringen. Die Kraft entsteht also zum einen aufgrund der Wunschgebete und des großen Mitgefühls des Medizinbuddhas und auch aufgrund der Praxis des Vertrauens auf der Seite des Übenden. Die Praxis der Meditation über den Medizinbuddha liegt der buddhistischen Sichtweise zugrunde, dass alles Leiden letztlich aus dem Geist entsteht. Wenn wir den Geist durch die Meditation in einen heilsamen, ausgeglicheneren Zustand versetzen, wirken wir diesen Kräften entgegen. Auch wenn wir nicht von unserer Krankheit geheilt werden, spüren wir eine große Erleichterung und können die Situation besser meistern. D 14 Tibet und Buddhismus 1/07 Die Meditation Wir begeben uns an einen stillen Ort, säubern den Raum und richten einen kleinen Altar her. Auf dem Altar sollte sich ein Bild des Medizinbuddha befinden, vor dem Opfergaben in schöner Anordnung aufgebaut sind. Da diese Meditation auf der Grundlage der buddhistischen Zuflucht geübt wird, erzeugen wir zu Beginn die Zufluchtnahme. Dann bringen wir, so gut wir können, den Erleuchtungsgeist hervor, etwa durch folgenden Gedanken: Der Sinn meines Lebens besteht darin, den Lebewesen Glück zu bringen und sie von ihren Problemen und den geistigen Ursachen ihrer Probleme zu befreien. Besonders brauchen sie das unvergleichliche Glück der Erleuchtung. Damit ich ihnen auf diesem Weg helfen kann, müssen mein Geist und mein Körper vollkommen, rein und gesund sein. Um zum Wohle der Lebewesen zu wirken, werde ich daher diese heilende Meditation ausführen. Ob wir selbst krank sind oder für eine bestimmte Person beten, die uns nahe steht, wir schließen gedanklich alle Lebewesen in unsere Meditation mit ein. Denn nicht nur wir selbst sind krank oder eine uns nahe stehende Person, sondern alle Wesen leiden an der chronischen Krankheit der Geistesplagen. Gier, Hass, Stolz, Neid usw. stürzen die Wesen immer wieder ins Elend hinein. Meditation und sein Körper transparent und lichthaft wird. Wenn wir können, dehnen wir diese Visualisation auf andere Kranke aus, immer weiter, bis alle Wesen eingeschlossen sind. Wir können auch die Medikamente einbeziehen und legen sie in eine saubere Schale vor uns. Darüber visualisieren wir eine Mondscheibe mit einem blauem O∏ in der Mitte, das im Uhrzeigersinn umgeben ist von den Silben des Medizinbuddha-Mantras. Nektar und Licht strömen während unserer Rezitation aus den Silben und verschmelzen mit der Medizin. Anschließend lösen sich die Silben und die Mondscheibe in die Medizin auf, so dass diese jetzt ihre volle therapeutische Wirksamkeit entfalten kann. Am Ende der Meditation widmen wir die heilsamen Kräfte positiven Zielen. Als Buddhist wünschen wir uns, selbst den Zustand des Medizinbuddha schnell zu verwirklichen, um allen Wesen helfen zu können. Wir erzeugen den Wunsch, dass wir immer und in allen Leben mit der besten Medizin gegen alle Leiden verbunden sein werden: dem Dharma, insbesondere der höchsten Weisheit. Das Gebet an den Medizinbuddha, den Meister der Heilkunst, wurde von Geshe Thubten Ngawang (19322003) zusammengestellt und ist in deutscher Übersetzung im Tibetischen Zentrum erhältlich. Das aus Sand gestreute Man.d.ala des Medizin-Buddha. Nagels Nachdem wir den Erleuchtungsgeist erzeugt haben, stellen wir uns den Medizinbuddha vor uns im Raum vor. Er sitzt in der Vajra-Haltung, trägt Mönchsgewänder und besitzt alle Zeichen und Eigenschaften eines Vollendeten. Er ist von leuchtend blauer Körperfarbe. In der linken Hand hält er symbolisch eine mit Heilkräutern gefüllte Bettelschale, in der rechten Hand eine MyrobalanPflanze, welche die Kraft hat, die Störungen aller drei Säfte zu heilen. Der Meister der Heilkunst, auch König des Lapislazulilichts genannt, besitzt die beste Medizin: den Dharma. Wir stellen uns vor, dass er wirklich anwesend ist. Er ist durchdrungen von Mitgefühl und wird aktiv, sobald es das Karma des Wesens zulässt. Um uns auf die Meditation einzustimmen, können wir nun das „Gebet der Sieben Zweige” rezitieren. Mit der Einladung, Verneigung, dem Darbringen von Opfergaben, der Bereinigung negativer Handlungen, des Erfreuens am Heilsamen und der Darbringung eines Ma¶∂alas schaffen wir positive Kräfte, die unsere Meditation unterstützen. Nun folgt die eigentliche Meditation. Wir rezitieren das Mantra: adhyathå oµ vaiæajye vaiæajye mahåvaiæajye vaiæajye råjå samudgate svåhå. Während wir das Mantra sprechen, stellen wir uns vor, dass reinigendes Licht aus dem Herzen des dunkelblauen Medizinbuddha auf uns trifft, uns umhüllt, in unseren Scheitel eintritt und seine heilende Wirkung entfaltet. Krankheiten und Schäden sowie deren Ursachen werden restlos beseitigt. Unser Körper ist vollständig von Licht erfüllt und wird rein wie ein Kristall. Wenn wir für eine andere Person beten, stellen wir uns diese unterhalb des Buddha vor uns im Raum vor. Wir visualisieren, dass sich die reinigenden, heilenden Lichtstrahlen in alle Richtungen ausbreiten, um den Kranken zu heilen und die Ursachen seines Leidens hinwegzufegen. Wir entwickeln die Überzeugung, dass der Betroffene ganz geheilt Tibet und Buddhismus 1/07 15 Die geistige Dimension in der tibetischen Medizin Dr. Egbert Asshauer, bewandert in westlicher und tibetischer Medizin, schildert im folgenden Beitrag, welche Rolle der Geist aus Sicht der Bauer/Agentur Focus traditionellen Medizin für die Heilung von Krankheiten spielt. Dr. Choedrak (2001 verstorben) war 24 Jahre Leibarzt S.H. des Dalai Lama. Er verkörpert wie kaum ein anderer die Synthese von medizinischen Fertigkeiten und Mitgefühl. Text von Egbert Asshauer Fotos von Manuel Bauer uf die Frage, was uns krank macht, gibt es viele Antworten: eine genetische Disposition, äußere Faktoren wie Klima, Infektionen und Umweltgifte, soziale Umstände wie Familie und Arbeit, psychische und physische Traumen, Fehlernährung und andere. Die tibetische Medizin fügt dem eine geistige Dimension hinzu, die uns nicht unbekannt war, aber seit der Aufklärung eher in Vergessenheit geraten ist: eine Verunreinigung des Geistes, die uns die Wahrheit über unsere Bestimmung verhüllt, nämlich unsere Buddha-Natur zu entwickeln. Stattdessen lassen wir uns von Habgier, Neid und Hass leiten, die unseren Geist vergiften und uns blind machen. So taumeln wir, von verführerischen Lichtern geblendet, durch das Leben und jagen falschen Zielen nach: vor allem materiellem Gewinn und sozialem Ansehen. Das wäre nicht weiter schlimm, wenn es nicht aus Egoismus A 16 Tibet und Buddhismus 1/07 geschähe, ohne unsere Nächsten zu berücksichtigen. Irgendwann aber kommt der Einschnitt, die Frage nach dem Sinn dieses Lebens. Der Körper streikt, wir werden krank. Wir gehen zum Arzt. Er greift zum Ultraschallgerät, endoskopiert, röndgt – aber die Seele, der Geist, wo sind sie? Da sie nicht sichtbar sind, werden sie in der Praxis der westlichen Medizin nicht weiter beachtet. Tibetische Ärzte sind anders geschult. Bis weit in das vergangene Jahrhundert hinein waren die meisten von ihnen Mönche. Zu ihrem Wissen gehörte, dass in uns etwas Immaterielles ohne Anfang und ohne Ende ist: Sie nennen es Bewusstseinskontinuum oder Geist; im Westen sprechen wir von einem geistig-seelischen Bereich. Tibetische Ärzte wissen um die geistige Dimension von Krankheit. Aber dieses Wissen ist kein ausdrücklicher Bauer/Agentur Focus Bestandteil der Medizintheorie: Die tibetischen Allergien und anderen Störungen, denen ein psychosoMedizintexte nehmen keinen Bezug auf den Buddhismus. matischer Hintergrund gemeinsam ist, mit anderen Es gibt aber eine esoterische Seite der alten tibetischen Worten: bei Krankheiten, deren Wurzeln primär im geiMedizinlehre, die in den medizinischen Texten nicht stig-seelischen Bereich liegen. Bei Infektionskrankheiten, zusammenhängend nachzulesen ist. Sie ist verstreut und genetischen- , Herz-Kreislauf-, neurologischen- und andeman muss lange suchen, um die Teile zusammenzusetren primär körperlichen Krankheiten ist die Wirkung der zen. Dieses geheime Wissen droht aus dem Gedächtnis tibetischen Medizin aus verschiedenen Gründen nicht der zeitgenössischen Arztgeneration zu verschwinden. vorhersagbar. Ein wichtiger Aspekt des Heilens ist die Motivation des Die enge Verbindung zwischen Körper und Geist ist im Arztes. Sein Handeln soll von Liebe und Mitgefühl System der tibetischen Medizin begründet. 1995 fragte bestimmt werden – ich selbst habe in diesem Punkt von ich den Dalai Lama in einem Interview: „Kann man mit den alten tibetischen Ärzten viel gelernt. Wir sollten nicht tibetischer Medizin auch geistige Krankheiten behanaußer Acht lassen, dass auch die westlichen Ärzte oft deln?” „Aber natürlich,” antwortete das tibetische Oberhochmotiviert sind, aber sie haben es schwerer, davon haupt, „den Geist selbst kann man nicht berühren, er hat auch zu leben. Die tibetischen Ärzte heute wollen verdiekeine Form. Er ist wie eine sehr feine Energie, die nur mit nen wie wir und das haben, was wir haben. Das Charisma Übungen des Geistes, also mit Meditation zugänglich ist. eine Arztes ist höchst individuell. Den Effekt des Geistes auf das Nervensystem, auf den Die alten tibetischen Ärzte im Exil und der Dalai Lama haben früher die tibetische Medizin als „buddhistisch” bezeichnet. In den letzten Jahren jedoch hat sich der Schwerpunkt verschoben, und das ist sicher auch eine Folge der Kontakte mit westlicher Medizin. So räumen ältere tibetische Ärzte ein, dass das Interesse der jungen Mediziner – wie generell der jüngeren Tibeter – am Buddhismus nachlässt. Der Dalai Lama selbst äußerte sich bereits auf dem 1. Internationalen Kongress für tibetische Medizin 1998 in Washington sehr konkret. Die tibetische Medizin, so das tibetische Oberhaupt, sei Ob die Herstellung von Pillen oder die Anwendung von Goldener Nadel und Moxibustion - Therapien eine autonome wis- in der tibetischen Medizin werden nicht selten mit Mantrarezitation und Wunschgebeten verbunden. senchaftliche DisziKörper kann man erkennen. Wir nennen das „innere plin, deren heilende Kraft aus ihr selbst komme und nicht Luft”, eine Energie, die den Körper zum Funktionieren von religiösen Ritualen, Gebeten und Mantras. Er denke, bringt. Die kann man mit der tibetischen Medizin erreidass die Ansicht, die tibetische Medizin sei untrennbar chen. Wenn diese Energie, die alle Bewegungen lenkt, von religiöser Überzeugung und Praxis, falsch sei. Er hat aus dem Gleichgewicht geraten ist, dann hat das auch diesen Standpunkt 2006 noch einmal bekräftigt eine Rückwirkung auf den Geist: das holistische tibetische (Tibetische Heilmittel bei chronischen Erkrankungen. System wirkt auch auf die geistigen Funktionen.” Forsch. Komplementärmedizin 2006; 13 (suppl. 1),VI). Was immer auch der tibetische Arzt therapeutisch unternimmt, er behandelt immer Geist und Körper gleichDer tibetische Arzt behandelt Körper zeitig. Wie lässt sich die Verbindung erklären? Die fünf und Geist Elemente, also Feuer, Wasser, Erde, Luft und Raum, sind nach der tibetischen Medizinlehre die Basis der drei Säfte, Wind, Galle und Schleim, deren harmonisches Wirken im Die tibetischen Ärzte haben bei bestimmten chronischen Körper unsere Gesundheit garantiert. Die Elemente geben Erkrankungen ihrer westlichen Patienten gute Erfolge: Bei den Säften ihre Energie, stehen aber auch in Verbindung Magen- und Darmproblemen, Asthma, Hautkrankheiten, mit den destruktiven Emotionen des Geistes, welche die Tibet und Buddhismus 1/07 17 Bauer/Agentur Focus Tibetische Medizin Tibetische Medizin 18 Tibet und Buddhismus 1/07 sprach oder sang Mantras und übertrug mit seinem Atem deren Schwingungsenergie auf Medikamente oder auf den Körper des Kranken. Dahinter steht die Vorstellung, dass es einen feinstofflichen Körper gibt, eine Art unsichtbaren Doppelkörper, in dem die lebenserhaltende Energie zirkuliert. Blockaden in diesem Energiesystem führen zu vielerlei Symptomen. Der Arzt versucht, sie mit Techniken wie der Moxibustion oder mit der Goldenen Nadel zu lösen: Versagt die Therapie des Arztes, mögen sich Arzt und Patient darauf einigen, dass es sich um eine karmisch bedingte und damit eigentlich unheilbare Krankheit handelt oder der „austherapierte” Kranke geht zu einem heilkundigen Lama, weil vielleicht böse Geister die Krankheit verursacht haben könnten. Bauer/Agentur Focus Säfte in Unordnung bringen und Krankheiten bewirken. Die Ärzte arbeiten auf der Ebene der Säfte. Gelingt es, diese zu harmonisieren, hat das auch einen beruhigenden Einfluss auf den Geist. Das wird jedoch oft nur einen zeitweiligen Effekt haben. Der Patient selbst ist gefordert, an sei„Was immer auch ner Heilung mitzuwirken, dazu der tibetische Arzt gehört vor allem die Arbeit mit therapeutisch dem eigenen Geist. Denn aus buddhistischer Sicht schleppen unternimmt, wir seit endlos langer Zeit Präer behandelt immer gungen des Geistes mit uns, die Geist und Körper durch gewohnheitsmäßiges Hangleichzeitig.” deln entstehen, das heißt: durch vom Verstand nicht kontrolliertes Tun, das von den so genannten Geistesgiften (Gier, Hass und Verblendung) beherrscht wird. Positives, heilsames Denken und Handeln bringen uns Gesundheit und Glück, negatives Denken und Handeln bringt Unglück und Krankheit. Für diese Einsichten sind inzwischen auch im Westen viele Menschen offen, in der medizinischen Wissenschaft werden sie allerdings kaum berücksichtigt. Ärzte, die einen spirituellen Ansatz verfolgen, gelten immer noch als etwas seltsam. Was kann nun der Einzelne tun? Tibetische Lamas haben mir immer wieder gesagt: „Auch in diesem Leben wird man nicht weiterkommen, wenn man seinen Geist nicht schult. Das ganze Geheimnis besteht darin, Liebe und Mitgefühl zu entwickeln”. Nur mit Mitgefühl kann man die Macht liebgewordener, leidbringender Gewohnheiten durchbrechen und durch positive Prägungen ersetzen. Das ist geistige Heilung im wahren Sinne des Wortes. Eine gute Hilfe dabei ist die Meditation des Tonglen, des Gebens und Nehmens: Mit der Einatmung stellt man sich vor, die Leiden einer bestimmten Person mit Mitgefühl auf sich zu nehmen, mit der Ausatmung visualisiert man, dass sich die eigenen Besitztümer und Verdienste in Hilfen für diese Person verwandeln. Solche Praktiken sind kein Teil der tibetischen Medizin, sie werden nicht vom Arzt verordnet. Die tibetischen Kranken gehen jedoch nicht nur zum Arzt, sondern auch zum Lama ihres Vertrauens, um Unterstützung zu erfahren. Gebete und Mantras wurden früher auch von tibetischen Ärzten angewendet, um die Wirkung ihrer Therapie, besonders mit der Goldenen Nadel und der Moxibustion, zu verstärken. Der Arzt verwandelte sich dabei in seiner Vorstellung in den Medizinbuddha und Tibetische Ärztinnen des Men-Tse-Khang, Tibetisches Institut für Medizin und Astrologie, in Dharamsala beim Morgengebet. Tantrisches Heilen Psychologisch betrachtet sind Geister negative Kräfte in unserem Inneren, die vom Bewusstsein nicht zugelassen und deshalb nach außen projiziert werden. Sie sind, buddhistisch gesprochen, Ausdruck einer Vergiftung des Geistes. Tibeter glauben auch an die Existenz äußerer Wesen, die sich wegen ihres schlechten Karmas nicht reinkarnieren konnten und nun unglücklich umherirren und auf Böses sinnen. Allerdings, auch das betonen tibetische Lamas, wenn der Patient sich nicht ändert und nicht bewusst versucht, seine eigenen destruktiven Verhaltensweisen in heilsame zu verwandeln, werden die Geister – in Gestalt von Ängsten Tibetische Medizin Tipps zum Lesen Egbert Asshauer. Tibets sanfte Medizin. Heilkunst vom Dach der Welt. Oesch Verlag 2003 Egbert Asshauer. Tantrisches Heilen und tibetische Medizin. Geistiges Heilen der tibetischen Lamas und Ärzte. Aquamarin Verlag 2005 Tenzin Choedrak, Ganzheitlich leben und heilen, hrsg. von Dr. Egbert Asshauer, Herder spektrum, 4/1999 Yeshi Donden. Tibetisches Heilwissen. Gesundheit durch Harmonie. Herder Verlag 2002 N. Qusar und J.C.Sergent: Tibetische Medizin und Ernährung. Knaur Verlag, München,2/2001 Weitere Titel von Egbert Asshauer: Tulkus – Das Geheimnis der lebenden Buddhas. Erweiterte Neuauflage Aquamarin Verlag 2004 Geister und Dämonen, so sagen die tantrischen Heiler, greifen direkt die Elemente des Körpers an, die degenerieren, ihre Energie verlieren und damit vor allem psychische, selten auch körperliche Probleme auslösen. Wenn alle Methoden der somatischen Medizin versagen, dann ist das ein Hinweis darauf, dass Geister die Heilung blockieren. Tantrisches Heilen ist anders als eine Behandlung in der normalen tibetischen Medizin. Ein Tantriker spricht Mantras über einem Glas mit Wasser und gibt es dem Kranken zu trinken. Ein anderer macht Rituale, spricht besondere Gebete oder zelebriert eine Feuerpuja, wenn es sich um einen sehr schwierigen Fall handelt. Ein dritter gibt dem Kranken ein Amulett und segnet ihn. Andere Tantriker stellen in Zeremonien gesegnete Kräuterpillen her. Heute im Exil sind tantrische Heiler zwar selten geworden, aber von hohen Lamas wird erwartet, dass sie auch heilende Kräfte haben. Im Westen ist die tantrische Medizin kaum bekannt, sie gilt hier als magisch, denn was genau ihre heilende Kraft ausmacht – dafür gibt es keine Erklärung. Was passiert da wirklich? „Wir gewöhnlichen Mönche wissen es nicht, wir können es nur erahnen”, meinte ein Lama, wir können nur sagen: Es ist der Segen der Gottheit – des Buddha, der Tara oder einer anderen Gottheit – der da durch den Heiler wirkt”. Tulkus – die Großen Meister Tibets. Aquamarin Verlag, Grafing 2003 Dr. Egbert Asshauer war 40 Jahre Arzt, davon 30 Jahre als Internist in eigener Praxis in Hamburg tätig. Heute arbeitet er als Schriftsteller. Seit 1984 steht er in regelmäßigem Kontakt mit tibetischen Ärzten und Klöstern und hat Artikel und Bücher über tibetische Medizin veröffentlicht. Er war einer der ersten Ärzte in Europa, die sich mit der traditionellen Heilkunde Tibets beschäftigt haben, als diese hierzulande als eigenständiges Heilsystem noch völlig unbekannt war. Privat oder was auch immer den Patienten besessen hat – irgendwann zurückkehren. Das gilt übrigens auch für Gemeinschaften: Leben sie in Zorn und Hader miteinander, erzürnt das bestimmte Geister und sie bringen Unheil über die Menschen. Wir bewegen uns hier nicht mehr im Rahmen der traditionellen Medizin, sondern der tantrischen Medizin, welche von Lamas ausgeübt wird, die in tantrischen Praktiken bewandert sind, sehr selten auch von heilkundigen Laien der Nyingma-Tradition, die in einer langen Familientradition tantrischen Heilens stehen. Im alten Tibet waren in abgelegenen Gegenden tantrische Heiler die einzigen, die den Menschen helfen konnten. Sie wussten, dass der Mensch in die Natur als Ganzes eingebunden ist. An dieser Natur haben in Tibet aber auch zahllose Wesenheiten Teil, die unsichtbar sind: Geister und Dämonen, solche die gezähmt worden sind und nun als Schützer der Lehre im Dienst der Religion stehen, und andere, die den Menschen Übles tun. Tibet und Buddhismus 1/07 19 RABOUAN/Hemispheres/laif Körper und Geist Indischer Yoga-Lehrer in Uttra Pradesh unterrichtet westlichen Schüler. Es geht um’s Ganze – Geist und Körper in Einklang bringen Körper und Geist bilden eine Einheit – das wird im stressgeplagten Westen heutzutage oft vergessen. Christine Rackuff berichtet, wie Körper-Übungen dabei unterstützen können, die Einheit wiederherzustellen. Yoga, Kum Nye und Qi Gong sind darüber hinaus eine gute Basis für die Meditationspraxis. 20 Tibet und Buddhismus 1/07 von Christine Rackuff ie es um unser Wohlbefinden steht, spüren wir erst, wenn es Kratzer bekommen hat oder wenn das leichte, lebensbejahende Gefühl körperlicher und geistiger Frische plötzlich feht. In der Ruhelosigkeit des westlichen Alltags versinkt das Gefühl innerer Balance leider oft. Körper und Geist werden häufig als getrennt empfunden, obwohl die psychosomatischen Zusammenhänge lange erforscht sind. Geistesfaktoren wie Angst, Depression, Stress, Selbstentwertung oder Kummer werden als Krankmacher gesehen. Körperfitness und Wellness stehen deshalb immer höher im Kurs. Zeichen der Vergänglichkeit werden wegtrainiert, rausoperiert, ausgeschwitzt, vertuscht. Nach buddhistischer Auffassung sind Körper und Geist leidbe- W Körper und Geist Körper und Geist unterscheiden Der amerikanische Buchautor Ken Wilber vertritt die These, dass Körper und Geist zunächst voneinander unterschieden werden müssten. Am Anfang sei es wichtig, den Geist von den vielen unkontrollierten, instinktiven Impulsen unabhängig zu machen. Der westliche Mensch habe dies jedoch überinterpretiert und ginge so weit, sich in seinem Körper überhaupt nicht mehr zu spüren. Kopf und Herz, so Wilber, hätten sich zu sehr voneinander entfernt. In seiner therapeutischen Arbeit kann Oliver Petersen, Buddhismuslehrer und Gestalttherapeut, diesen Prozess oft mit beiden Händen greifen: „Viele Menschen, die zu mir kommen, klagen über chronische Muskelverspannungen in zentralen Körperregionen. Sie haben den Kontakt zu sich selbst verloren, den Körper abgespalten, weil sie als Kind tiefe Verletzungen an Seele oder Körper erdulden mussten. Auf psychischer Ebene erlaubt man sich kaum noch Emotionen und Gefühle. Die Folge ist, dass wir unbewusst unser Energieniveau herunterfahren, um nicht mehr fühlen zu müssen, was schmerzhaft ist.” Bettina Rollwagen (49) hat 20 Jahre Berufserfahrung als Bewegungspädagogin. Sie liest aus der Körperhaltung ihrer schmerzgeplagten Klienten die innere geistige Haltung ab: „Unser Geist somatisiert sich in jedem Moment. Er drückt sich über den Körper aus.” So verrät ein schleppender Gang eine andere Geisteshaltung als ein leichter, federnder Schritt. Lange eingeübte Bewegungsmuster lassen sich jedoch nicht so plötzlich ändern, selbst wenn wir sie als schädliche Gewohnheiten erkennen. „Der Geist muss erst nachwachsen, damit Innen und Außen sich wiederfinden können”, meint Bettina Rollwagen. Zur Stärkung der Verbindung von Geist und Körper setzt der Buddhismus vor allem auf Achtsamkeit. Diese wird in Bezug auf den Körper und Geist geübt. Körperübungen selbst sind vom Buddha nicht überliefert, wohl aber die Atem-Meditation als Bindeglied zwischen Körper und Geist. Unter manchen traditionellen Buddhisten ist die Beschäftigung mit dem Körper sogar verpönt, weil sie als Ablenkung von spirituellen Zielen gesehen wird. Außerdem wird auf die große Gefahr aufmerksam gemacht, die Anhaftung an den befleckten, leidhaften Körper noch zu verstärken. Im tibetischen Buddhismus ist die Trennung von Körper und Geist weniger strikt. Die Vorbereitende Übung der Niederwerfungen beispielsweise oder die körperbetonte Kunst des Debattierens sind in diesem Zusammenhang zu sehen. Im buddhistischen Tantra, etwa in den Sechs Yogas von Naropa, sind bestimmte Yoga-Übungen Teil der Praxis. Wie können wir den Körper pflegen und fit halten, ohne anzuhaften? Welchen Nutzen haben Körperübungen für die Meditation, die im Buddhismus ein unverzichtbares Glied auf dem Weg zur Erleuchtung betrachtet wird? Wir stellen im Folgenden einige Körperübungen vor, die im Westen populär sind. Kum Nye – jeden Millimeter genießen In der Nyingma-Schule des tibetischen Buddhismus wurde dieses System körperlicher Achtsamkeitsübungen entwickelt. Die drei Lebensenergien auf physischer, psychischer und emotionaler Ebene werden verbunden. Ku (tib.) heißt Körper und Nye (tib.) Massage. Ziel ist es, mit Die Herzöffnungs übung ein Wundermittel gegen Stress Olga Poljakowa haftet. Sie unterliegen dem Leiden der Veränderung, und dieses vollzieht sich außerhalb unserer Kontrolle; wir haben darüber keine Freiheit. Vor allem der Körper ist die Grundlage für die schlimmsten menschlichen Leiden: Altern, Krankheit und Tod. Andererseits betonen buddhistische Meister, wie wir uns den Körper zunutze machen können. Denn er ist ein vorzügliches Instrument zur Entwicklung des Geistes. Gerade der menschliche Körper wird als hervorragende Grundlage angesehen, um einen spirituellen Pfad zu beschreiten und sogar die Erleuchtung zu erlangen. Daher, so der Rat, solle man sich gut um den Körper kümmern, ohne jedoch an ihm zu haften. Denn in absehbarer Zeit werden wir ihn wieder verlieren. Die Beine befinden sich in entspannter Grundstellung, die Arme hängen neben dem Körper und heben sich ganz langsam – so langsam wie man es eben noch aushalten kann – seitlich nach oben, bis die Handrücken sich über dem Kopf berühren. Dann bewegen wir die Arme ebenso langsam wieder in die Ausgangshaltung. Wir öffnen unser Herz. Es entsteht viel Raum und innere Bewusstheit. Körper und Geist Hatha-Yoga – stabil und leicht sein Im Westen gilt Yoga seit Jahrzehnten als wertvolle Methode, Stress in Körper und Geist abzubauen. Besonders das Hatha-Yoga hat weite Bevölkerungskreise 22 Tibet und Buddhismus 1/07 erreicht. Einige Krankenkassen unterstützen es als präventive Maßnahme mit einer Kostenbeteiligung. „Yoga fordert keine Leistung, wie wir sie im Alltag gewohnt sind”, betont Dr. Kerstin Petersen (47), DiplomPädagogin und Yoga-Lehrerin (BDY). Sie fand durch den Übung „Stabil wie ein Baum” Olga Poljakowa dieser für unsere westliche Vorstellung ungewohnten Form von Körpermassage ein ausgewogenes Leben zu führen. Bärbel Behar-Kremer (54), Körper- und Psychotherapeutin am Therapeutischen Institut Berlin, praktiziert und unterrichtet seit 15 Jahren Kum Nye. „Das Wichtigste und zugleich Schwerste für uns Westler ist, sich auf die Langsamkeit der Bewegung einzulassen. Das sind wir im Alltag nicht gewohnt. Im Kum Nye geht es nur um den Moment, um den winzigsten Augenblick. Das kann uns sogar erst einmal Angst machen.” Die Freude an der Langsamkeit stellt sich bei den meisten Übenden erst mit der Zeit ein. Unser Gehirn muss umlernen. Langsamkeit setzt der umtriebige, ständig beurteilende Geist oft mit Langeweile gleich. Der Körper jedoch genießt die Entspannung, es lösen sich Blockaden, und das bringt den Wind, der im Buddhismus als Träger des Bewusstseins gesehen wird, in den Energiekanälen zur Ruhe. Langsamkeit enthält die Kraft der Regeneration. Die Berliner Kum Nye-Therapeutin und Buddhistin verbindet Körperarbeit mit spiritueller Praxis. Kum Nye Übungen helfen, tiefer und entspannter zu meditieren. „In einem Text der Nyingma-Tradition heißt es, dass Verlangsamung die drei Geistesgifte Hass, Gier, Verblendung reduziert. Erlauben wir uns das nicht, bilden sich Energiestaus. Daraus entsteht die Trennung vom Ich und der Welt. Auch das ist ein Aspekt „Kopf und Herz des abhängigen Entstehens.” Kum Nye gilt als Intehaben sich weit vongrationssystem für Körper, einander entfernt.” Geist, Sinne und Umwelt. Zu Ken Wilber seinen Besonderheiten gehört die gleichzeitige Atmung durch Mund und Nase. Thartang Tulku, Meister des Nyingma-Zentrums Berkley, USA, und Kum Nye-Wegbereiter für den Westen, preist sie als‚ „einzigartigen Gesundbrunnen”, weil sie das Kehlchakra aktiviert. Auch die Herzöffnungs-Übung birgt diese heilende Kraft, indem sie erfrischt und zugleich beruhigt. Man kann sie überall machen, im Wald, im Zimmer, auch ohne Kissen oder Matte. Wir stehen ruhig auf einem Bein, das andere Bein legen wir mit der Fußsohle an die Innenseite des stehenden Beines. Wir heben die Arme über den Kopf und führen dort die Hände zusammen. Wichtig ist nicht das Aussehen, sondern die stabile Leichtigkeit in der Balance. Das ist effektive Achtsamkeitsübung für jeden Tag. Yoga zum Buddhismus und sieht direkte Querverbindungen. Hatha-Yoga hilft, sich des Körpers bewusst zu werden. Wie fühle ich meinen Körper, wie fühlt er sich an? Kerstin Petersen: „Weil wir im Westen so verkopft sind, ignorieren wir körperliche Symptome zu oft. Wir werden lieber erst einmal krank, bevor wir den Signalen des Körpers Aufmerksamkeit schenken. Yoga hilft uns, schon vorher zu spüren, wo etwas nicht stimmt.” Die erhöhte Selbstwahrnehmung ist eine der großen Chancen des Yoga. Man beginnt mit einfachen Übungen, z.B. ein Bein anzuheben und synchronisiert den Atemfluss damit. In diesem Moment sind die Objekte des Gewahrseins Körper, Bein, Atem. Wir entziehen dem diskursiven Denken die Aufmerksamkeit und beobachten ein selten gewordenes Phänomen in uns: Stille, Sein. Deutscher Tai-Chi-Bund Körper und Geist Die geistige Ebene zieht auch ein, wenn bestimmte Körperhaltungen sie einladen: Die „Haltung des Kindes” etwa lässt Geborgenheit fühlen, die „Haltung des Helden” bringt Kraft in unsere Wahrnehmung. Die „Haltung des Berges” nähert sich dem Lotussitz, den man auch zur Meditation einnimmt. Ihre tägliche buddhistische Praxis kann sich Kerstin Petersen ohne Körperachtsamkeit, die ihr der Yoga vermittelt, nicht mehr vorstellen. Körperübungen hält sie für essenziell wichtig, auch um Belehrungen lange und frisch anhören zu können, „ohne Übungen für geraden Rücken und stabile Wirbelsäule rebelliert der Körper nach kurzer Zeit.” Qi Gong – neu und immer wieder anders Die ursprünglich aus asiatischen Kampfsportarten entstandenen Übungssysteme arbeiten gezielt mit dem Qi oder Chi (Lebenskraft/Lebensenergie). Auf der Körperebene stärkt ein ungestörter Qi-Fluss die Immunabwehr und die Organe, auf mentaler Ebene klärt er den Geist, was auf den Körper zurückwirkt. Tai Chi ebenso wie Qi Gong fördern Entspannung auch durch die tiefe Bauchatmung. In Deutschland gibt es längst zahlreiche Tai Chi- bzw. Qi-Gong-Lehrer, die Kurse und Einzelunterricht anbieten. Qi Gong hat differenzierte Übungsarten: Es gibt Bewegtes, Stilles und Spontanes Qi Gong. Michael Schönauer (43), Physiotherapeut und Qi Gong-Lehrer in Hamburg, arbeitet mit den drei Aspekten des Qi Gong: Energie (Qi), Essenz (Jing), Geist (Shen). Bei jedem Übungsanfänger wird zuerst das blockierte Qi genährt und die gewohnte Brustkorbatmung zur Bauchatmung geführt. Atmen wir „zu weit oben”, ist der Geist unruhig, schnell und emotional. Die verlagerte Atmung wirkt ausgleichend auf das Herz-Kreislauf-System, senkt den Blutdruck und lehrt uns, das Qi im Körper zu lenken. „Viele Übungen des Stillen Qi Gong kann man sehr unauffällig im Tagesablauf unterbringen, in der U-Bahn, beim Einkaufen, wenn man irgendwo im Stau steht”, resümiert Michael Schönauer aus langjähriger Erfahrung. 1987 hat er mit Bewegtem Qi Gong (Kranich-Qi Gong) begonnen. „Ich bin ruhiger und ausgeglichener als früher.” Und nachdrücklich betont er: „Es klärt den Geist wirklich!” Seit zwei Jahren übt er zusätzlich Spontanes Qi Gong, eine fortgeschrittene Variante, bei der sich die Denkkonzepte auflösen, weil Körperbewegungen ungeplant, eben spontan, sein dürfen. Jede Bewegung ist neu. Übt er anschließend buddhistische Meditation, z.B. Lamrim, ist diese Praxis „weitaus tiefer, weil mein Geist viel sanfter ist. Das Rattern der Gedanken hat aufgehört.” Wie lange man täglich üben sollte, beantwortet er mit einem Lachen. „Ein Muss gibt es nicht im Qi Gong. Alles hängt vom eigenen Ziel ab. Will man eine Krankheit beseitigen, empfiehlt es sich, einige Stunden am Tag zu investieren. Sonst sind auch eine halbe Stunde oder ein paar Minuten ausreichend.” Eine vorbereitende Grundübung im Qi Gong heißt „Lächeln im Herzen entwickeln”. Sie ist so einfach, dass man sie stets und ständig praktizieren kann: „Im Herzen entsteht ein Lächeln, das sich auf dem Gesicht sanft ausbreitet und dann im gesamten Körper. Genau in dieser Reihenfolge. Man fängt nicht an zu grinsen, in der Hoffnung, dass das im Herzen ankommt. Es geht darum, von Herzen zu lächeln”, erklärt Michael Schönauer. Und lächelt. Der menschliche Körper wird als gute Grundlage angesehen, um sich spirituell zu entwickeln. Ob Kum Nye, Yoga oder Qi Gong – alle Übungen haben eins gemeinsam: Sie stellen die Verbindung zwischen Körper und Geist wieder her. Sie haben das Ziel, das verlorene Gefühl für Spannung und Entspannung wieder zu wecken. Unser Körper braucht diesen gesunden Rhythmus ebenso wie unser Geist. Wer unablässig auf Hochtouren läuft, verpasst die unentbehrliche Pause der Regeneration. Was dann passiert, nennt die westliche Psychosomatik „Burn out-Syndrom”. Bewusste Langsamkeit und Achtsamkeit heißen die Gegenmittel. Wenn wir den Körper achtsam pflegen, ohne an ihm festzuhalten oder ihn zu verherrlichen, kann er zu dem werden, was die buddhistischen Meister ein kostbares Gefäß nennen, mit dessen Hilfe unser gezähmter Geist zur Vollendung gelangt. Tibet und Buddhismus 1/07 23 Wissenschaft Hirnforschung: Wie der Geist den Körper beeinflusst Wissenschaftler und Buddhisten pflegen mittlerweile einen regen Austausch, insbesondere in den USA in den Bereichen Neurologie, Medizin und Physiologie. Diego Hangartner fasst den gegenwärtigen Forschungsstand zusammen. Neueste Experimente zeigen, dass das Gehirn durch Meditation verändert werden kann und kontemplative Übungen förderlich für D. Hangartner die Gesundheit sein können. Matthieu Ricard, Mönch und französischer Übersetzer S.H. des Dalai Lama, wird für die Meditation im Labor vorbereitet. Während der Versenkung werden seine Hirnströme gemessen. von Diego Hangartner n den letzten 25 Jahren haben sich westliche Wissenschaft und die östliche spirituelle Tradition angenähert. Die beiden unterschiedlichen Erkenntnisströme scheinen in einen größeren Strom zu münden, der angetrieben wird von der menschlichen Sehnsucht nach Erkenntnis und Glück: „Was bedeutet es, Mensch zu sein? Wie erreichen wir Gesundheit und Wohlergehen? Wer sind wir?” Der rege Austausch zwischen Wissenschaftlern und Buddhisten ist maßgeblich vom Dalai Lama und dem Mind&Life-Institut angeregt und gefördert worden. I 24 Tibet und Buddhismus 1/07 Wissenschaft Ein Ergebnis dieser Annäherung ist die Integration meditativer Übungen und Techniken, insbesondere das Achtsamkeitstraining in die Medizin. Achtsamkeitsübungen werden mit großem Erfolg zur Behandlung von Stress, Schmerz und chronischen Krankheiten als eine komplementäre Therapieform zu den klassischen, allopathischen Therapien angewendet. Ein weiteres wichtiges Resultat dieser Ost-West-Annäherung ist die vermehrte experimentelle Untersuchung im Bereich der Neurowissenschaften. Dabei geht es um die Frage, wie sich Meditation auf die physiologischen und neurologischen Muster auswirkt. Dazu werden sowohl Anfänger als auch fortgeschrittene Yogis im Labor untersucht. Die Forschungsarbeiten der letzten Jahre ermöglichen es, das Gehirn besser zu verstehen. Sie werfen aber auch kontroverse Themen auf: Wie weit beeinflusst das Gehirn das Bewusstsein bzw. steht das Bewusstsein unter der Kontrolle des Gehirns, wie es führende, materialistisch ausgerichtete Neurobiologen annehmen. Sind Bewusstsein und Gehirn unterschiedliche Entitäten oder sich ergänzende Phänomene? Führend in den Ost-West-Dialogen sind Seine Heiligkeit der Dalai Lama, B. Alan Wallace, Matthieu Ricard und Thupten Jinpa auf der buddhistischen Seite und Richard J. Davidson, Jon Kabat-Zinn, Fred Gage, Zindel V. Segal, Wolf Singer und viele mehr auf der wissenschaftlichen Seite. Zwei klinische Untersuchungen wurden erfolgreich abgeschlossen: eine Studie von 2004 untersuchte den Einfluss der Meditation auf die Entwicklung und Heilung von Psoriasis (Schuppenflechte), eine andere aus dem Jahr 2003 die emotionelle Verarbeitung von Stress in den kortikalen Bereichen im Hirn und deren Begleitwirkungen auf die immunologischen Funktionen. Richard Davidson, Direktor des Laboratoriums für Affektive Neurowissenschaft und des W.M. Keck-Labors für Funktionelle Hirn-Abbildungen, forscht seit mehreren Jahren im Bereich der Hirnaktivitäten und Emotionen. In den letzten Jahren ist vor allem in den USA vermehrt untersucht worden, wie Meditation bei der Behandlung von Stress, Schmerz und einem breiten Spektrum chronischer Krankheiten und Beschwerden eingesetzt werden kann. Bisher war es technisch nicht möglich, solche Prozesse im Gehirn zu untersuchen, ohne den Probanden zu schädigen oder direkt auf die Prozesse einzuwirken. Seit einigen Jahren hat sich die Technologie enorm weiterentwickelt. Mit Hilfe der funktionellen Magnetresonanztomographie (fMRI) und dem hochauflösenden Elektroenzephalogramm (EEG) kann jetzt erforscht werden, wo die Schnittstellen zwischen Geist, Gehirn und Körper liegen. Verschiedene Regionen innerhalb des Gehirns können sichtbar gemacht und ihre diversen Funktionen und Aktivitäten gezeigt werden. Große Anstrengungen sind gemacht worden, um die klinische Anwendung verschiedener meditativer Praktiken sowie die physiologische Wirkung der Meditation wissenschaftlich in Augenschein zu nehmen. Jens Nagels Meditation als Medizin Buddhistische Meditationstechniken können bei Stress und anderen westlichen Zivilisationskrankheiten helfen. Tibet und Buddhismus 1/07 25 Wissenschaft Ein Ergebnis der Untersuchung erfahrener tibetischer Mönche ist die vermehrte Gamma-Aktivität in ihren Gehirnen. In der Regel werden Gamma-Wellen über 30 Hertz selten beobachtet, denn sie begleiten kognitive Höchstleistungen, etwa Momente starker Konzentration. AlphaWellen mit etwa zehn Hertz beherrschen normalerweise den entspannten Wachzustand. Delta-Wellen charakterisieren die Phase des Tiefschlafs. Im Zustand der Meditation nehmen die GammaWellen zu, das Gehirn ist extrem wach. Eine von Wolfgang Singer vertretene Theorie besagt, dass eine erhöhte Gamma-SchwinProfessor Richard Davidson von der Universität Wisconsin Madison erklärt dem Dalai Lama, wie der gung auf eine größere Harmonie zwischen den verschieComputer Bilder des Gehirns aufzeichnet. denen Gehirnarealen deuten könnte. Bei Yogis, die mehr als 40.000 Stunden meditiert Eine seiner herausragenden Forschungsarbeiten, die er haben, wurde eine signifikant größere Gamma-Aktivität zusammen mit seinem Kollegen Antoine Lutz unternomgemessen. Doch daraus zu schließen, dass Meditation men hat, betrifft die neurowissenschaftlichen Untersuchungen von außergewöhnlichen mentalen Fähigkeiten, mehr Glück und bessere Gesundheit bringt, scheint zum unter anderem auch von tibetischen Yogis. Wichtigstes jetzigen Zeitpunkt verfrüht. Ergebnis der Testreihe: Positive Geisteszustände wie Mitgefühl verändern das Gehirn, erzeugen eine gute Grundstimmung und stabile angenehme Empfindungen und Anti-Stress-Programm Emotionen. Die Wirkweise erklärt Davidson so: Viele periphere biologische Systeme existieren in einem Netzwerk neuraEine der erfolgreichsten ler Verbindungen, welche den Einfluss des Gehirns auf und am weitesten erperiphere biologische Funktionen vermitteln. Meditation forschten Therapieformen, Achtsamkeitspraxis ist eine Form des mentalen Trainings, das willentliche welche auf Meditation kann zur Therapie bei Veränderungen der Muster neuraler Aktivitäten hervorbasiert, wurde von Jon Stress- und Zivilisabringt und dadurch periphere Wirkungen produziert. Kabat-Zinn mitentwickelt tionskrankheiten einBeispiele solcher Veränderungen im Gehirn unter dem und nennt sich Anti-StressEinfluss von Meditation sind vergrößerte oder vermehrt Programm (Mindfulness- gesetzt werden. aktive Bereiche wie der linke präfrontale Kortex, der based stress reduction, wichtig für das emotionale Gleichgewicht ist. Auch VerMBSR). Dieses Programm änderungen des Immunsystems und der Funktion von hat sich in den letzten 25 Hormonen durch Meditation gelten mittlerweile als gesiJahren auch außerhalb der chert. Über die Mechanismen dieser Veränderungen wird USA verbreitet und wird aber noch diskutiert. Entsprechend gibt es verschiedene mit großem Erfolg in der klassischen Medizin und Theorien, wie diese Beobachtungen zu größerer mentaler Psychiatrie angewendet. Mittlerweile gibt es sogar Antiund physischer Gesundheit führen könnten. stress-Kliniken. So liegen einige Forschungsergebnisse zu 26 Tibet und Buddhismus 1/07 Wissenschaft Patienten vor, die in solchen Kliniken bestimmte Meditaim hohen Alter erhalten bleibt. Früher herrschte die tionstechniken erlernt haben. Meinung vor, dass das Gehirn nach dem Abschluss des Heutzutage erkranken immer mehr Menschen an den Wachstums (im Alter von ca. 20) nicht mehr wächst, bzw. Krankheiten des westlichen Lebensstils, welche durch sich nur noch strukturell verändert. Stress verstärkt werden. Einer der verschiedenen Erklärt wurden Lernprozesse nach 20 Jahren mittels Forschungszweige, der sich mit den pathologischen und Anpassung der Leitfähigkeit von Informationsübermittlunspeziell im Westen vorgefundegen der Neuronen und der nen Auswirkungen von Stress Multiplikation der Nervenauseinandersetzt, ist die Mindverbindungen (sogenannte Im Zustand der Meditation fulness based cognitive therapy Synapsen). Gage konnte einnehmen die Gamma-Wellen zu, (MBCT). Diese Therapie zeigt deutig aufzeigen, dass das vielversprechende Wirkungen Gehirn bis ins hohe Alter das Gehirn ist extrem wach. bei der Behandlung von Deneue Nervenzellen produpressionen und Ängsten. ziert (sog. Neurogenese im Eines der großen Probleme Hippocampus). Diese neuen bei klinischen und chronischen Hirnzellen werden bei verDepressionen ist die hohe Rückfallquote. In den letzten mehrter Stimulierung produziert und in bereits existierenJahren hat Seven V. Zindal einige experimentelle Beweise de Strukturen integriert. erbracht, dass die MBCT-Therapie die Rückfallquote für Diese Erkenntnis ist insofern revolutionär, als es nun chronische Depressionen vermindert und dass Achtsamals gesichert gilt, dass nur ein aktives Gehirn sich immer keit oder Geistesgegenwärtigkeit die mentalen Prozesse weiter anpasst und plastisch bleibt, während eine reguliert. Abkapselung, Isolation und das Fehlen einer internen Dabei ist es wichtig, zusätzlich zu den MeditationsStimulierung durch Lernprozesse im Gehirn zu verminübungen auch die westlichen kognitiven Therapieformen derter Aktivität (Atrophie) und, über eine Rückkoppelung, zu integrieren, denn Meditation allein kann keine akute zu einem Fehlen von Freude führen. Wird das Gehirn Depression aufhellen. Auch soll sie nicht als ausschließliallerdings in einem frühen Stadium geschädigt, etwa che Therapie angewandt werden. Geschult werden bei durch einen Unfall, scheint es nicht mehr möglich zu sein, einer solchen Therapie die Fähigkeit, Auslöser einer Depression zu identifizieren bzw. nicht auf sie einzugehen. Diese integrative Therapie zweier sich ergänzender Systeme deutet auf eine über 50 prozentige Verminderung der Rückfallquote von chronisch depressiven Patienten, die bisher mit keinerlei Therapieformen erreicht wurde. Erst seit kurzem ist es möglich, die oben erwähnten Prozesse im Gehirn zu beobachten und die Anpassungen über längere Zeit zu verfolgen, ohne die Schädeldecke zu durchdringen. Erste Ergebnisse mit dieser neuen Technologie deuten auf eine Revolution innerhalb der Neurowissenschaften. Diese besteht in der Erkenntnis, dass sich das Gehirn verändert und den äußeren wie inneren Gegebenheiten anpasst. Diese Anpassung wird als Neuroplastizität bezeichnet. Führend im Bereich der Neuroplastizität ist der SalkInstitute-Professor Fred H.Gage. Eine seiner revolutionären Entdeckungen betrifft die Neurogenese, die bis in den Tod Jeff Miller Gehirn unter der Lupe Wissenschaftler können mittlerweile verschiedene Regionen im Gehirn sichtbar machen und diverse Aktivitäten zeigen. Neue Techniken erlauben es auch, das Gehirn während der Meditation zu untersuchen. Tibet und Buddhismus 1/07 27 Wissenschaft Spitz Jef f Miller Jeff Miller durch Meditation eine positive aus der „objektiven” DrittperVeränderung im Gehirn herbeisonen-Perspektive zu erforschen, zuführen. ohne die Erfahrungsebene des Das Gehirn ist ein Organ wie Betroffenen zu berücksichtigen, die Leber, das Herz oder die wie es die Wissenschaft gemeinNiere, nur viel flexibler; seine hin versucht. Die Erstperson muss Spezialisierung ist gerade die in der empirischen Forschung Anpassung an äußere Reize. über das Bewusstsein mit berückInwiefern aber mentale Reize die sichtigt werden. Anpassung und Veränderung des Die Frage nach den mentalen Gehirns bewirken, ist noch stritProzessen ist jetzt ins Zentrum der tig; die Forschungen sind noch in neurowissenschaftlichen Forschung vollem Gange. gerückt. Um echte Fortschritte in Fest steht, dass durch diese der Beantwortung dieser Fragen Reize auch die Verhaltensmuster zu machen ist es unabdingbar, die und die Art, wie Erfahrungen versubjektiven Beobachtungen und arbeitet werden, konditioniert Erfahrungen der Erstperson zu sind. Zudem gilt nun als gesiintegrieren – ein Tabu in der chert, dass Verhaltensmuster und materiell orientierten und auf Erfahrungen die Entwicklung des objektive Beschreibung fixierten Gehirns beeinflussen. Und hier Wenn Sensoren an der Kopfhaut angebracht wer- Wissenschaft. Die Untersuchung spielt die Meditation bzw. interne den, ist in Verbindung mit kernspintomographider Meditation, eine ausgeprägte Konditionierung des Verhaltens schen Verfahren eine Art Kartographie des GeForm der Gehirn-, Emotions- und und der Wahrnehmung eine ent- hirns möglich. Geistesschulung, zeigt die Grenscheidende Rolle. zen einer Drittperson-WeltanEs gibt noch andere wissenschaftliche Bereiche, in schauung auf und ist darum für die materialistisch oriendenen die Wirkung von Meditation erforscht wird, zum tierte Forschung ein geeignetes Objekt. Beispiel auf Schmerz und Empathie sowie Schmerz und Fotos auf den Seiten 26-28 von Jeff Miller mit freundlicher Aufmerksamkeit. Ist etwa die Aufmerksamkeit nicht auf Genehmigung der Universität Wisconsin Madison den Schmerz selbst gerichtet oder von etwas anderem völlig absorbiert (Flucht bei Gefahr), dann findet der Schmerz – obschon der gleiche Reiz besteht und die gleichen Hirnareale aktiviert sind – keinen Zugang zum Bewusstsein. Diese Tatsache wird noch nicht verstanden Diego Hangartner arbeiund zur Zeit noch intensiv erforscht. tete nach Abschluss des Meditation kann dennoch nicht das Allerweltsmittel Pharmaziestudiums mit sein. Möglich ist sogar eine gegenteilige Wirkung, denn dem Spezialgebiet Psychowenn eine Person einen akuten Schub von Depression pharmaka an der ETH in oder von Schmerz erlebt, nützt es nichts, ihr Anleitungen Zürich von 1986 bis 1990 zur Meditation zu geben. Die Forschungen deuten aber Jahre als Apotheker. Ab darauf hin, dass meditative Praxis darauf hinwirkt, dass 1992 lebte er zehn Jahre chronische Erfahrungen abgeschwächt werden. Falls die im indischen Dharamsala. meditative Erfahrung bereits stabil ist, kann eine regelmäDort studierte er mehrere Jahre am Institute of ßige Praxis eine akute Situation abschwächen und negaBuddhist Dialectics und arbeitete als Tibetischtive Erfahrungen verringern oder – im Idealfall – gar nicht Dolmetscher für buddhistische Meister. Er ist seit entstehen lassen. vielen Jahren mit dem Mind&Life-Institute und In den nächsten Jahren ist auf dem Feld der neurowismit neurowissenschaftlichen Forschungsprosenschaftlichen Forschung noch viel zu erwarten; es ist ein jekten verbunden. Zurzeit arbeitet er als Proideales Feld für die interdisziplinäre Forschung. Wenn jektleiter für den Dalai Lama-Besuch in dazu noch die philosophischen Betrachtungen in Bezug Hamburg 2007. auf kognitive Prozesse kommen, dann wird immer klarer, dass es nicht ausreicht, das Bewusstsein einzig und allein 28 Tibet und Buddhismus 1/07 S E R I E Serie Teil 3: Die Sakya-Schule Reimann Die vier buddhistischen Traditionen Tibets Das Kloster Sakya in Tibet entstand aus einer im Jahr 1073 gegründeten Einsiedelei und entwickelte sich zu einem bedeutenden Zentrum der Sakya-Tradition. Die Serie über die buddhistischen Traditionen Tibets soll dem besseren Verständnis der verschiedenen Übungswege dienen und die Harmonie unter den Traditionen fördern. Teil 3 beschäftigt sich mit der Sakya-Tradition. von Cyrus Stearns in großes Stück grauer Erde – tib. sa skya – erstreckt sich über die dürre Landschaft eines einzeln gelegenen Berges in Südtibet. Der Überlieferung nach sah der große indische Meister Atïœa (982-1055) dort in einer Vision sieben Dhiç-Silben auf der grauen Erde, er stieg von seinem Pferd ab und warf sich vor dem Berg nieder. Als man ihn nach dem Grund fragte, weissagte Atïœa, dass dereinst sieben Emanationen von Mañjughoæa, der Verkörperung der göttlichen Weisheit, an diesem Ort erscheinen würden. Etwa 30 Jahre später bestätigte der berühmte Khön Könchog Gyalpo E (1034-1102) die Erhabenheit dieses Ortes und errichtete dort 1073 eine kleine Einsiedelei, die in den folgenden Jahrhunderten zu einem großen Klosterkomplex heranwachsen sollte. Sowohl das Kloster als auch die Tradition, die in dieser grauen Berglandschaft entstanden, erhielten den Namen Sakya, „graue Erde”. Könchog Gyalpo entstammte der alten Khön-Familie, die bis zu jener Zeit der Nyingma-Tradition gefolgt war. Die auf ihn folgenden fünf Oberhäupter der Khön-Linie werden als die „Fünf Hierarchen” oder die „Frühen Patriarchen” von Sakya bezeichnet. Die Freiheit von den vier Anhaftungen Könchog Gyalpo baute die erste bescheidene Behausung in Sakya und lehrte dort einige Zeit, aber erst unter seinem Sohn, Sachen Kunga Nyingpo (1092-1158), dem ersten der Fünf Patriarchen, gelangte die Tradition zu echter Blüte. In seiner Kindheit wurde Sachen von seinem Vater unterrichtet und nach dessen Tod von dem berühmten Übersetzer Bari Lotsawa Rinchen Dragpa (1040-1111). Einer von Sachens Söhnen schrieb später: „Als der große Tibet und Buddhismus 1/07 29 Serie Meister von Sakya zwölf Jahre alt wurde, übte er sechs Monate lang die Praxis des Edlen Mañjuœrï. Einmal schaute er unmittelbar den orangefarbenen Mañjuœrï auf einem Juwelenthron inmitten eines großen Lichtes, ein Gefolge von zwei Bodhisattvas zu seiner Rechten und seiner Linken. Die Gottheit sprach: „Wenn du anhaftest an die- Diese von Mañjuœrï übermittelten Zeilen enthalten die Essenz des gesamten Mahåyåna-Buddhismus und bilden die Grundlage der Lehren, die als das „Aufgeben der Vier Anhaftungen” bekannt sind und seit neun Jahrhunderten die Hauptquelle für die Praxis der SakyaSchule darstellen. Die erste Zeile weist auf die Notwendigkeit hin, sich von der Anhaftung an dieses Leben zu lösen. Dies geschieht durch Meditieren über die Schwierigkeit, einen höchst begabten menschlichen Körper zu erhalten, über die Vergänglichkeit und den allzeit gegenwärtigen Tod sowie über die unfehlbare Verbindung zwischen Ursache und Wirkung aller Handlungen (Karma). Die zweite Zeile deutet auf die unbefriedigende Natur jeglicher Existenzform, wo auch immer im Universum hin, das eingeteilt wird in den Bereich der Begierde, in dem Menschen und Tiere leben, den Körperlichen und Körperlosen Bereich. Man meditiert über die Mängel all dieser Daseinsbereiche, auch der höheren Existenzformen [die mit bestimmten Konzentrationsstufen korrespondieren, Anm. der Redaktion]. Die dritte Zeile zeigt die Notwendigkeit der korrekten Motivation, was in der Mahåyåna-Tradition heißt, den Nutzen anderer vor den eigenen zu stellen. So sollte man die Erleuchtung nicht nur für sich selbst anstreben, sondern zum Sakya Pan.d.ita (1182-1251) war einer der bedeutendsten Nutzen aller lebenden Wesen. Sakya-Meister und u.a. berühmt für seine besonderen Diese Haltung wird durch Fähigkeiten in der Debatte. Meditation über liebevolle Freundlichkeit, Mitgefühl und ses Leben, bist du kein Anhänger des den Erleuchtungsgeist (bodhicitta) kultiDharma. Wenn du anhaftest an den viert. Kreislauf der Existenzen, übst du keine Die vierte Zeile besagt, dass die Entsagung. Wenn du anhaftest an dich wahre Natur der Wirklichkeit nicht erselbst, besitzt du nicht den Erleuch- kannt wurde, solange noch eine Art von tungsgeist. Wenn du am begrifflichen Anhaftung im Geist vorhanden ist. Hier Denken festhältst, hast du die Einsicht muss man sich klarmachen, dass alle nicht.” Erscheinungen nur im Geiste bestehen, 30 Tibet und Buddhismus 1/07 dass dieser wie eine Illusion ist und jeglicher inhärenten Existenz entbehrt. Nachdem er diese Kernlehren erhalten hatte, spezialisierte sich Sachen auf das Studium und die Praxis des Tantra, wobei er den Systemen von Hevajra, Cakrasaµvara und Mahåkåla besondere Wichtigkeit beimaß. Die mit Vajrayoginï, der Gefährtin von Cakrasaµvara, assoziierten Praktiken erlangten in der Geschichte der Sakya-Tradition größere Bedeutung als die Meditation über Cakrasaµvara selbst. Vor allem die Praxis von Vajrayoginï in Gestalt von Nåro Khecarï, der ™åkinï des Nåropå, fand weite Verbreitung. Das einzigartige und für die Sakya-Schule charakteristische System tantrischer Praxis jedoch sind die tiefgründigen Lehren des „Pfads und der Frucht”, Lamdre – ursprünglich eine mündliche Formulierung der wesentlichen spirituellen Wahrheiten aus dem Hevajra-Tantra und der zugehörigen Literatur. Die „Vajra-Verse” wurden 1141 von dem Gelehrten und Yogi Sachen Kunga Nyingpo erstmals schriftlich fixiert und mit Kommentaren versehen. Lamdre: Pfad und Frucht Sachen hörte zuerst über den „Pfad und die Frucht” von dem betagten Meister Setön Kunrig (1025–1122), dem bedeutendsten Dharma-Erben von Drogmi Lotsawa. Dieser starb jedoch, ehe Sachen die Lehren von ihm empfangen konnte. So begab er sich zum wichtigsten Schüler von Setön, dem exzentrischen Serie und gewährte ihm die „Vier Weihen” der Lamdre-Tradition. Dadurch erreichte Vir•pa schnell die sechste spirituelle Stufe auf dem Pfad zur Erleuchtung. Als er begann, tantrische Rituale mit Fleisch und Alkohol zu praktizieren, stieß man ihn aus dem Kloster aus; er wurde ein Wanderyogin und gab sich selbst den Namen Vir•pa, der „Ungestalte”. Gestützt auf die drei tantrischen Schriften, die als „Tantra-Trilogie des Hevajra” bekannt sind, fasste Vir•pa die mündlichen Unterweisungen von Vajra Nairåtmyå zu einer Reihe von prägnanten Versen zusammen, die als die VajraVerse bezeichnet werden. Diese außergewöhnlichen Lehren enthalten alles, was ein Praktizierender der tantrischen Meditation und des Yoga benötigt, um in nur einer einzigen Lebensspanne vollkommene Erleuchtung zu erlangen. Fünf Generationen lang wurde der „Pfad und die Frucht” in Indien durch eine einzige Übertragung gelehrt, d.h. von jedem Meister auf nur einen einzi- Bruno Baumann Yogi Shangtön Chöbar (1053–1135). Nach anfänglichem Weigern willigte dieser ein, Sachen den „Pfad und die Frucht” zu lehren, was Sachen daraufhin 18 Jahre lang tat. 1141 dann begann er selbst, diese Lehre weiterzugeben. Der „Pfad und die Frucht” bzw. der „Weg und sein Ergebnis” ist ein weitläufiges System tantrischer Theorie und Praxis, das zuerst dem indischen Mahåsiddha Vir•pa (ca. 7. Jahrhundert) von der Göttin Vajra Nairåtmyå, der Gefährtin von Hevajra, übertragen wurde. Vir•pa war ursprünglich Mönch und trug den Ordensnamen Œrï Dharmapåla. Er studierte an der großen buddhistischen Kloster-Universität Nålandå, deren Abt er später wurde. Viele Jahre lang genoss er hohes Ansehen als großer Gelehrter. Doch im Alter von etwa 70 Jahren kamen ihm Zweifel an seiner Praxis, weil er nach Jahrzehnten des Lehrens und der Meditation noch kein Zeichen von Erfolg erkennen konnte. In seiner Verzweiflung gab er die Medi- Kloster Bardain Jaran Miao in der Inneren Mongolei. Der tibetische Buddhismus verbreitete sich durch Sakya Pan.d.ita in der Mongolei. tation auf und warf seine Målå in die Fäkaliengrube. Die Nacht darauf träumte er von einer blauhäutigen Frau, Vajra Nairåtmyå, die ihm kundtat, dass er an der Schwelle zur spirituellen Erkenntnis stünde und sie die Gottheit sei, mit der er in besonderer Beziehung stehe. Sie wies ihn an, seine Målå zurückzuholen, zu reinigen und zu meditieren wie bisher. Bald darauf erschien ihm Vajra Nairåtmyå mit den fünfzehn Göttinnen ihres Ma¶∂alas gen Schüler: von Vir•pa an Kånça, weiter an ™amarupa und von dessen Schüler Avadh•tipa an Gayadhara (gest. 1103). Gayadhara reiste, wie sein Meister prophezeit hatte, 1041 nach Tibet und übertrug den „Pfad und die Frucht” dem großen Drogmi Lotsawa Œåkya Yeshe (993-1077), dem ersten Tibeter, der in diese esoterischen Lehren eingeweiht wurde. 1043 übersetzten Gayadhara und Drogmi in der „Übersetzungshöhle” von Mugulung eine Reihe wichtiger tantrischer Schriften, vor allem das Hevajra-Tantra und die zugehörigen Kommentare, das Vajrapañjara und das Sampu¤a. Drogmi prägte sich die VajraVerse des „Pfads und der Frucht” ein und übersetzte sie dann ins Tibetische. Auf diese Weise konnten seine Nach- „Der Pfad und Frucht" ist die Kernlehre der Sakya-Tradition. Sie enthält alles, was ein Praktizierender benötigt, um in einem Leben die vollkommene Erleuchtung zu erlangen.” folger sie die nächsten Jahrhunderte mündlich an ihre jeweiligen Schüler weitergeben. Sachen Kunga Nyingpo, der sowohl ein großer Yogin als auch ein vollendeter Gelehrter war, verbrachte viele Jahre zurückgezogen in Meditation und schrieb die ersten Kommentare zu den kryptischen Vajra-Versen von Vir•pa. Die Vajra-Verse des „Pfads und der Frucht”, die Jahrhunderte lang nur mündlich weitergegeben worden waren, wurden 1141 von Sachen Kunga Nyingpo zum ersten Mal schriftlich fixiert. Die zentralen Aussagen für diese Praxis werden auch heute noch mündlich übertragen, obwohl viele Texte im Laufe der Zeit niedergeschrieben wurden und eine bestimmte Art von Unterweisung auch größeren Gruppen von Praktizierenden gegeben wird. Sakya Pa¶∂ita hob im 13. Jahrhundert die essenzielle Bedeutung der mündlichen Weitergabe der Belehrungen hervor, als er sagte: „Praktizierende des „Pfades und der Frucht”, die sich nur auf das Buch verlassen, werden ihn nicht verstehen.” In den frühesten Stadien der Tradition waren die Vajra-Verse von Vir•pa gleichbedeutend mit dem „Pfad und der Frucht”. Die eigentliche Lehre Tibet und Buddhismus 1/07 31 Serie des „Pfads und der Frucht” ist heute jedoch im Wesentlichen die Auslegung dessen, was als die „Drei Erscheinungen” und die „Drei Kontinua” bekannt ist, zu denen eigene und ausführliche Lehrbücher verfasst wurden. Sachen Kunga Nyingpo stellte im ersten seiner elf Kommentare zu den VajraVersen fest: „Den Grund des Pfades bilden die Drei Erscheinungen, und alle Praktiken können durch die Drei Kontinua begriffen werden”. Die „Drei Erscheinungen” sind die unreinen Erscheinungen eines gewöhnlichen Lebewesens, die empirischen Erscheinungen eines Yogis und die reinen Erscheinungen eines Buddha. Die Phänomene besitzen keine wahre Existenz außerhalb des Geistes, sie erscheinen oder manifestieren sich daher den individuellen Lebewesen in Abhängigkeit von ihrem Geisteszustand. Bei einem gewöhnlichen Lebewesen, dessen unreiner Geist mit widersprüchlichen Emotionen und falschen Vorstellungen über die eigentliche Natur der Phänomene angefüllt ist, werden daher alle Manifestationen oder Erscheinungen als unrein wahrgenommen. Wenn eine gewisse Erfahrung in der Meditation den Geisteszustand eines Individuums verändert, dann spiegeln die Erscheinungen oder Manifestationen der Phänomene diese Verände- rungen des Geisteszustands wider. Bei einem erleuchteten Wesen, einem Buddha, sind alle Makel verschwunden, und alle Eigenschaften sind zur Vollkommenheit gereift, so dass die vollkommen reine Natur aller Phänomene direkt manifest wird. Die Lehre D.Bachert/Fotodesign Tibet und Buddhismus 1/07 Auf Sachen Kunga Nyingpo folgten zwei seiner Söhne, Lobpön Sönam Tsemo (1142-1182) und Jetsun Dragpa „Wenn du anhaftest an dieses Leben, bist du kein Anhänger des Dharma. Wenn du anhaftest an den Kreislauf der Existenzen, übst du keine Entsagung. Wenn du anhaftest an dich selbst, besitzt du nicht den Erleuchtungsgeist. Wenn du am begrifflichen Denken festhältst, hast du die Einsicht nicht.” (Freiheit von den Vier Anhaftungen) von den „Drei Erscheinungen” bildet die Grundlage für die Praxis, die in den „Drei Kontinua”, den zentralen tantrischen Praktiken des Hevajra, dargestellt wird. S.H. Sakya Trizin Ngawang Günga, der gegenwärtige „Thronhalter von Sakya”, wurde 1945 in Sakya, Tibet, geboren. Er ist das 41. Oberhaupt dieser Schule und stammt wie seine Vorgänger aus der KhönFamilie. Die Position des Sakya-Trizin vererbt sich traditionell in direkter leiblicher Erbfolge oder in Form der Onkel-NeffeSukzession. Sakya Trizin studierte bei Meistern wie Jamyang Khyentse Chökyi Lodrö, Chögay Trichen und Ngawang Lodrö Shanpen Nyingpo. 1959 floh er nach Indien und ließ sich in Dehra Dun/Uttar Pradesh nieder, wo er 1964 das neue Hauptkloster der Sakya-Schule gründete. Das europäische Zentrum dieser Tradition ist das Sakya Tsechen Ling-Kloster in Kuttolsheim/Frankreich. mdc 32 Sakya Pan.d.ita bringt den Buddhismus in die Mongolei Gyaltsen (1147-1216), der zweite und der dritte der fünf frühen Patriarchen des Sakya-Ordens. Sönam Tsemo wird sowohl im Mahåyåna als auch im Vajrayåna als großer Meister verehrt. Er reiste als junger Mann nach Zentraltibet und studierte mehrere Jahre lang scholastische Themen unter Lehrern wie Chawa Chökyi Senge (1109-1169), einem der größten Logiker der tibetischen Geschichte. Er studierte und praktizierte auch diverse tantrische Systeme unter Anleitung seines Vaters und anderer Meister. Sönam Tsemo übertrug diese Linie, einschließlich des „Pfads und der Frucht” auf seinen jüngeren Bruder Dragpa Gyaltsen. Als er diesem die Hevajra-Einweihung gab, manifestierte er das vollständige Ma¶∂ala des Hevajra, so dass eine unmittelbare Übertragung stattfand, wie sie ursprünglich von Nairåtmyå am Vir•pa übermittelt worden war. Auf Sönam Tsemo folgte sein Bruder Dragpa Gyaltsen. Kein anderer in der Sakya-Tradition kam ihm jemals gleich an Bedeutung und Einfluss auf tantrische Theorie und Praxis. Er empfing als Junge die wesentlichen tantrischen Überlieferungen von seinem Vater, Schülern seines Vaters und von anderen Lehrern, später auch von Serie Sönam Tsemo. Er verbrachte sein ganzes Leben mit Meditation, Studium und Lehre. Er soll die Fähigkeit besessen haben, unmittelbar Fragen an die tantrischen Gottheiten richten zu können, die durch ihre Antworten dann seine Zweifel zerstreuten. Tipps zum Lesen Lama Sherab Gyaltsen Amipa. Geistesschulung im tibetischen Buddhismus. Vorbereitende Übungen und Meditationen. Ansata-Verlag 1986. Cyrus Stearns (Übers.). Taking the Result As the Path. Core Teachings of the Sakya Lamdre Tradition. Somerville, MA: Wisdom Publications, 2006. Chogay Trichen. History of the Sakya Tradition, 1993 Dragpa Gyaltsens Schriften waren sehr umfangreich und von großer Wirkung. Er systematisierte die Lehren seines Vaters über den „Pfad und die Frucht”, schrieb Erläuterungen zu esoterischen Unterweisungen und verfasste eine große Zahl grundlegender Werke über die verschiedenen tantrischen Traditionen, die ihm übertragen worden waren. Damit legte er den Grund für das, was später als die SakyaMethode für tantrisches Studium und tantrische Praxis bezeichnet werden sollte. Der vierte Frühe Patriarch der Sakya-Schule war Dragpa Gyaltsens Neffe, der unvergleichliche Sakya Pa¶∂ita Kunga Gyaltsen (1182-1251). Seine zwei Hauptlehrer waren sein Onkel Drapgpa Gyaltsen und der berühmte Œåkya Œrïbhadra (1140-1225), ein herausragender buddhistischer Meister aus Kaschmir, der 1204 nach Tibet kam. Von diesen beiden und vielen anderen Meistern empfing Sakya Pa¶∂ita eine ungeheure Vielfalt an buddhistischem Wissen. Bis zum Alter von 62 Jahren lebte er in Tibet, vertieft in Studium, Lehre und Meditation, ein Meister aller tantrischen Praktiken. Neben vielen weiteren einflussreichen Werken verfasste er die eminent wichtige Lehr-Abhandlung „Unterscheidung der drei Gelübde”, nachdem er zu Mañjuœrï gebetet und dieser ihm im Traum den Auftrag dazu gegeben hatte. Etwa 1244 wurde Sakya Pa¶∂ita zum Hof des Mongolenfürsten Göden Khan geladen, der erfahren hatte, dass er der weiseste buddhistische Meister in Tibet war. So reiste er, begleitet von seinen jungen Neffen Phagpa Lodrö Gyaltsen (1235-1280) und Chagna Dorje (123967), nach Liangzhou, wo er von 1247 bis zu seinem Tod 1251 am Hofe des Khan buddhistische Unterweisungen gab. Dort vollendete er auch zum Ende seines Lebens eine seiner berühmtesten Abhandlungen, „Die reine Absicht des Weisen”, eine vollständige Auslegung des Mahåyåna-Pfades. Nach dem Tod seines Onkels wurde Chögyal Phagpa Lodro Gyaltsen (123580) zum fünften der Frühen Patriarchen von Sakya. 1253 wurden er und sein Bruder von Göden Khan zu einem mächtigeren Fürsten geschickt, zu Khubilai Khan (1215-1294), der später der erste Kaiser der Yüan-Dynastie in China wurde. Nach einigen schwierigen Jahren gelang es Phagpa, Khubilai durch sein großes Wissen und seine magischen Fähigkeiten zu beeindrucken. Der Khan ersuchte ihn 1258 um die vollständige Einweihung in das HevajraTantra, womit die Verbreitung des Vajrayåna-Buddhismus in der Mongolei ihren Anfang nahm. Als Dank für die Hevajra-Initiation soll Khubilai Khan Phagpa die drei Regionen Tibets zum Geschenk gemacht haben. 1261 verlieh Khubilai ihm den Titel eines Reichspräzeptors (chin. guo-shi) und machte Phagpa damit zum Oberhaupt des gesamten buddhistischen Klerus in seinem Herrschaftsgebiet. 1429 gründete Ngorchen Kunga Sangpo (1382-1456) in Ngor das Kloster Ewaµ Choeden und begründete damit die erste Zweiglinie der Sakya-Schule. Ngorchen war für seine perfekte monastische Disziplin bekannt, entsprechend strenge Mönchsregeln führte er im Kloster Ngor ein. Auf Ngorchen folgte Müchen Könchög Gyaltsen (13881469) als Abt von Ngor, dessen Lehren dazu beitrugen, dieses Kloster zu einem großen Zentrum der Gelehrsamkeit und Meditation zu machen. Die Ngor-Tradition gewann großen Einfluss in Mustang und in den östlichen Gebieten von Kham, dank der Schirmherrschaft der königlichen Familie von Dege, wo im 18. Jahrhundert von der dortigen Druckerei, der größten in ganz Tibet, die erste vollständige Ausgabe der gesammelten Werke der fünf Frühen Patriarchen der Sakya-Schule, sowie der von Ngorchen mit Unterstützung des Königshauses herausgegeben wurde. Ein weiterer Zweig der Sakya-Schule ist die Tsarpa-Tradition, die nach dem großen Yogin Tsarchen Losal Gyatso (1502-1566) benannt wurde, der von einer großen Zahl von Meistern aus allen tibetischen Schulrichtungen Unterweisungen erhielt. Für die TsarpaTradition bezeichnend ist die Betonung dessen, was später „Verkündung an die Schüler” genannt wurde – im Unterschied zur „Verkündung an die Gemeinde”. Aus dem Englischen übersetzt von Adelheid Dönges. Cyrus Stearns begann seine Buddhismus-Studien 1973 bei Dezhung Rinpoche (19061987). Er promovierte an der University of Washington und lebte danach fast zehn Jahre in Nepal, Indien und Südostasien. Zu seinen zahlreichen Werken gehören u.a. The Buddha from Dolpo, Hermit of Go, Cliffs und Luminous Lives. Stearns lebt heute auf Whidbey Island/ Washington. Tibet und Buddhismus 1/07 33 Standpunkt Tibet-Ausstellung in Essen: Das Unrecht ausgeblendet von Franz Binder Vom 19. August bis 26. November 2006 war in der Villa Hügel in Essen die Ausstellung „Tibet – Klöster öffnen ihre Schatzkammern” zu sehen. Sie zeigte religiöse Kunstwerke aus tibetischen Klöstern. Die Ausstellungsmacher vermieden jeglichen Hinweis auf die dramatische Lage und die Unterdrückung der Religion in Tibet. Wir veröffentlichen im Folgenden einen Offenen Brief von Franz Binder, Buchautor und Archiv TZ Mitglied der Tibet Initiative, an die Villa Hügel. Zerstörte Buddhastatuen in Tibet. eit vielen Jahren beschäftige ich mich intensiv mit Tibet und dem tibetischen Kulturkreis und habe zu diesem Thema mehrere Bücher veröffentlicht. Mit großem Interesse nahm ich daher den Katalog der TibetAusstellung in der Villa Hügel zur Hand. Welch prächtiges Werk, welch wunderbare Exponate und viel versprechende Artikel. Aber was für ein Schock, als ich auf die Zeittafel im Anhang stieß und bemerkte, dass sie im Jahr 1940 endet! Beim Hineinlesen in die Texte musste ich feststellen, dass auch dort kein Wort über das Tibet nach diesem Jahr 1940 verloren wird. Kein Wort darüber, dass die herrlichen Exponate, die in der Villa Hügel präsentiert werden, nur ein geringer, mehr oder weniger zufällig erhalten gebliebener Rest sind jener unermesslichen Kunstschätze Tibets, die für immer vernichtet wurden. Kein Wort über verbrannte Bibliotheken, tausende zerstörte Klöster und Tempel, über ca.1,2 Millionen getötete Tibeter, über Zehntausende von Flüchtlingen, über die gezielte Auslöschung einer spirituellen Hochkultur durch die chinesischen Besatzer, eine Auslöschung, die bis zum heutigen Tag auf vielfache Weise fortschreitet – der Dalai Lama spricht von „kulturellem Genozid”. Auch innerhalb der Ausstellung wird mit keinem Wort, keiner Tafel, keinem Hinweis auf diese Tatsachen eingegangen. Kann es wirklich sein, dass eine so renommierte Ausstellung dies alles verschweigt? Ist das nicht vergleichbar S 34 Tibet und Buddhismus 1/07 mit einer Ausstellung über jüdische Kunst, bei der die Zeittafel nur bis zur Weimarer Republik reicht, um Nationalsozialismus und Holocaust auszublenden? In diesem fiktiven, aber gar nicht so abwegigen Fall ginge ein Aufschrei durch Deutschland. Das Argument, es gehe ja „nur um Kunst”, greift hier nicht, denn die Kunst Tibets ist nicht zu trennen von dem Sturm der Vernichtung, der über sie hereinbrach und nur mehr Bruchstücke übrig ließ. Dies in einer solchen Ausstellung einfach auszublenden, ist ein zynischer Umgang mit dem grausamen Schicksal des tibetischen Volkes. Ich habe in meiner Biographie des 14. Dalai Lama, die vergangenes Jahr erschienen ist, den Satz geschrieben: „Der Genozid auf dem Dach der Welt und die Vernichtung der tibetischen Kultur gehört zu den schlimmsten Verbrechen, die das 20. Jahrhundert gesehen hat.” Kann man das wirklich einfach totschweigen in einer Ausstellung über Tibet? Es ist mir klar, dass die chinesischen Leihgeber darauf bestehen, dass diese Aspekte der tibetischen Geschichte ausgeblendet werden. Seit Jahren versucht China, Tibet als buddhistisches Disneyland zu vermarkten, in dem alles in bester Ordnung ist. Aber darf sich ein renommiertes deutsches Museum für solche unsäglichen Reinwaschungsversuche und das Verschweigen historischer Fakten hergeben? Ich finde nein. Gerade ein deutsches Museum darf das nicht. Der Preis des Schweigens über schwerstes Unrecht ist auch für eine noch so schöne Ausstellung ein zu hoher Preis. Ich habe auf meinen Reisen jene „andere Seite” Tibets mit eigenen Augen gesehen, die Ruinen von Tempeln, geköpfte und zerschlagene Statuen, habe alte Mönche weinen sehen beim Anblick historischer Fotos ihrer noch unzerstörten Klöster und Bildwerke, musste Fassung bewahren, als Mönche mir heimlich ihre Folternarben zeigten. Die Kunst Tibets, die in der Villa Hügel präsentiert wird, ist unauslöschlich mit diesem Leid verbunden. Dass darüber kein Wort verloren wird, macht mich fassungslos. Kontroverse Künstlerische Freiheit versus Respekt vor der Religion: Zwei Standpunkte Im September 2006 wurde die NeuenfelsInszenierung der Mozart-Oper Idomeneo an der Deutschen Oper in Berlin abgesetzt, angeblich aufgrund von Gewaltandrohungen aus muslimischen Kreisen. In der Schlussszene der Oper werden die abgeschlagenen blutigen Köpfe von Poseidon, Mohammed, Christus und Buddha gezeigt. Lesen Sie dazu im Folgenden zwei Stellungnahmen. Anja Oeck: Kunst muss Tabus thematisieren Frauke Wöhnert: Die Freiheit der Kunst hat Grenzen Um zu beurteilen, ob eine Inszenierung, wie die von Neuenfels, adäquat ist, kann man nicht verletzte Gefühle zum Kriterium nehmen. Viele Themen erhitzen die Gemüter von Opernbesuchern: Sex, Tod und Gewalt. Darf man sie deswegen nicht darstellen? Diese existenziellen Themen gehören, wie auch religiöse Bilder, auf die Bühne. Denn in vielen Werken, die in Zeiten entstanden, als Menschen noch mehr Bezug zur Religion hatten, stehen religiöse Themen im Vordergrund. Sie können bei einer Inszenierung nicht einfach weggelassen werden. Wie man sie aber behandeln soll, darüber gibt es viele Debatten. Möglicherweise finden religiöse Themen in Zeiten, in denen man vornehmlich mit extremen Auswüchsen von Religion konfrontiert wird, auf der Bühne einen Ort der Auseinandersetzung. Das erreicht man aber nur mit deutlichen Bildern, damit darüber debattiert statt geschwiegen wird. Die Auseinandersetzung um die Berliner Idomeneo-Inszenierung macht das erneut deutlich. Wäre Poseidon brav und konventionell als „Deus ex machina” aufgetaucht, der alles zum Guten wendet, hätte es niemand verstanden, und diese Debatte wäre nicht ausgelöst worden. Tabu-Themen gehören essenziell in Kunstwerke. Ansonsten hätten wir es mit Kunsthandwerk oder Kitsch zu tun. Kunst aber soll Menschen anregen, über essenzielle Themen zu reflektieren und zu diskutieren, auch religiöse. Kunst ist nicht Bespaßung oder traute Vorgauklung netter Gefühle. Glücklicherweise gibt es heute Regisseure wie Neuenfels oder Konwitschny, die dieser Tendenz Einhalt gebieten und dafür hoch gelobt werden. Zu Recht. Hier wird ein Werk Mozarts missbraucht, um alle Religionen verächtlich zu machen. Ich war empört, als ich die Beschreibung dieser Szene hörte, und fühle mich als Buddhistin in meinen religiösen Gefühlen verletzt. Buddhastatuen und - abbildungen sind für mich das Symbol des Höchsten und Erhabensten, das es gibt. Ich finde, dass die Unverletzlichkeit der Gefühle – auch der religiösen – von Menschen höher einzustufen ist als die künstlerische Freiheit. Abgesetzt wurde die Oper nicht aus Respekt vor den Religionen, sondern aus Angst vor Gewalt, mit der Muslime gedroht hatten – aus Feigheit also. Ich halte es für sehr bedenklich, wenn nur die Gehör finden, die mit Gewalt drohen. Unser Wunsch nach Respekt wird meist mit einem mokanten Lächeln als religiöse Spinnerei abgetan. Respekt und die Achtung religiöser Gefühle müssen heutzutage offensichtlich erzwungen werden. Wie es scheint, hat die Gesellschaft kein Bewusstsein mehr für den hohen Stellenwert religiöser Lehre und Praxis. Dass die Stifter der Weltreligionen, Buddha, Christus und Mohammed, unwidersprochen mit einem mythologischen, „menschengemachten Gott” wie Poseidon auf die gleiche Stufe gestellt werden, wird in den Medien, in der Öffentlichkeit, unreflektiert akzeptiert. Kultur und Kunst, die auch in Europa Jahrhunderte lang sakral geprägt waren, dürfen nicht dazu missbraucht werden, um unter dem Deckmantel von „Meinungsfreiheit” und „Freiheit der Kunst” Religion zu verunglimpfen und religiöse Gefühle zu verletzen. Hier liegt ihre Grenze. Tibet und Buddhismus 1/07 35 Tibetpolitik Tibet wurde 1949/50 von der Volksrepublik China völkerrechtswidrig besetzt und 1951 annektiert. Der verzweifelte Widerstand des tibetischen Volkes gegen die Besatzer fand am 10. März 1959 in einem Aufstand in Lhasa seinen tragischen Höhepunkt. Der Dalai Lama floh nach Indien ins Exil. Für das tibetische Volk begann der Kampf ums Überleben. Seit Anfang der 80er Jahre macht Chinas bewusste Politik Steve Lehmann des Bevölkerungstransfers von Chinesen nach Tibet die Tibeter immer mehr zur Minderheit im eigenen Land. Die tibetische Schriftstellerin Woeser hat diese Problematik in Die Tibeter werden in ihrem Land marginalisiert. ihren Büchern aufgegriffen. Den folgenden Aufruf an die Tibeter verfasste sie zum 10. März 2005, dem 46. Jahrestag des Tibetischen Nationalaufstands. „Halten wir an unserer Kultur fest!” von der tibetischen Schriftstellerin Woeser ibet wird sich selbst allmählich immer unähnlicher, was Touristen aus dem Ausland enttäuscht. Es gibt sogar schon eine Redensart: „Lhasa – Klon von Chengdu.” Ich habe einmal auf einer Strecke von etwa hundert Metern zwischen meinem Wohnhaus im neuen Stadtviertel Shol hinter dem Potala und der nächsten Straßenecke 35 Han-Chinesen und nur fünf Tibeter gezählt. Die zunehmende Zahl von Migranten ist ganz offensichtlich ein entscheidender Faktor für die Veränderungen in Tibet. Werden wir Tibeter dieser starken Migrationswelle standhalten können? Die Antwort auf diese Frage muss zweifellos pessimistisch ausfallen. Wir leben zwar in unserem Land, aber wir sind nicht mehr Herr in diesem Land. In einem halben Jahrhundert unter der Herrschaft einer Übermacht hat Tibet ein großes Ungleichgewicht der Kräfte erlebt, das sich nicht nur auf den Gebieten von Wirtschaft und Militär bemerkbar macht, sondern schon allein an der Bevölkerungszahl. Denn wie können sechs Millionen Tibeter mit einer han-chinesischen Bevölkerung mithalten, welche die unsrige um mehr als das 200-fache übertrifft? Gewaltsamen Widerstand zu üben wäre deshalb nicht anders, als mit Eiern auf Felsen zu werfen und T 36 Tibet und Buddhismus 1/07 hätte nur weiteres Leid und vergebliches Heldentum zur Folge, ohne dass es an der Situation etwas ändern würde. Doch es gibt keine Übermacht, gegen die nicht Widerstand geübt werden könnte. Und diese Kraft zum Widerstand gibt es auch in unserer traditionellen Kultur. Auf einem Wandgemälde in einem Kloster in Amdo sah ich, wie Soldaten der Gerechtigkeit in voller Rüstung gegen Feinde kämpften, aber das, womit sie aus ihren Waffen schossen, waren keine Gewehrkugeln, sondern Sträuße bunter Blumen. Was symbolisieren diese Blumen? Dass dies die traditionelle Kultur Tibets ist, eine Kultur durchdrungen von Mitgefühl und Weisheit. Als in weit zurückliegenden Zeiten die eisernen Hufe der mongolischen Reitertruppen weite Teile der Welt niedertrampelten, wurde China – ein so großes Land – geschlagen, was das gesamte Zeitalter veränderte. Wie konnte es da geschehen, dass die Tibeter, statt geschlagen und ausgerottet zu werden, zu religiösen Lehrern der Mongolen wurden und ihnen bis auf den heutigen Tag brüderlich verbunden geblieben sind? Wenn unsere traditionelle Kultur die Mongolen zu zähmen vermochte, warum sollten dann heute nicht die Chinesen gezähmt werden können? Tibetpolitik Weltweite Begeisterung für die tibetische Kultur Tibet ist schon seit langem ein international heftig umstrittenes Thema. Unter der Führung des Dalai Lama haben die Tibeter, die ihr Land verlassen mussten, die tibetische Zivilisation in die Welt hineingetragen. Ein „Tibet-Rausch” oder eine „Begeisterung für die tibetische Kultur” hat um sich gegriffen und ist sogar, dank dem Zutun der Exiltibeter, zur Modeerscheinung geworden. Das wiederum wirkte zurück auf die chinesische Elite, indem es sie mit Tibet verband. In dem unaufhörlichen Strom von Immigranten nach Tibet sind einige besonders hervorzuheben, deren Interesse an Tibet durch ihr Interesse an der tibetischen Kultur geweckt wurde. In Tibet habe ich mit vielen solchen Chinesen Freundschaft geschlossen. Einer meiner Freunde beschrieb seine Gefühle nach der ersten Begegnung mit der tibetischen Kultur: „Es traf mich wie ein Donnerschlag, und danach Stille… Das war die natürliche Reaktion darauf, dass alles, was ich bis dahin kannte, durch die Begegnung mit einer anderen Zivilisation plötzlich umgestürzt wurde.” Ein anderer Freund, der während eines heftigen Sturms am Mount Everest zufällig das Gelächter von Tibetern vernahm, das aus einem Zelt drang, sagte: „Wenn von der Menschheit nur noch ein Stamm und eine Zivilisation übrig bleibt, dann müssen das die Tibeter sein und ihre alte Kultur, in der Natur und Mensch eins sind.” Wenn die Kultur eines Volkes eine fundamentale Wesensart besitzt, eine Wesensart, die nur ihm eigen ist und keinem anderen, die seinem Fortbestehen dient und nicht seinem Niedergang, und die auf Realität gründet und nicht auf Illusion, dann liegt darin seine Stärke. Kann diese Stärke von anderen gebührend respektiert werden? Kann diese Stärke mächtig genug sein, um uns zu beschützen und sogar die Übermacht infrage zu stellen? Das ist ein Problem, das jeden Einzelnen einer ethnischen Gruppe angeht. Halten wir an den Traditionen unserer Kultur fest! Finden wir uns nicht ab mit der selbstherrlichen Politik des totalitären Regimes, und folgen wir auch nicht den materialistischen Trends der modernen Welt! Denn die Kombination von beidem ist so mächtig, dass sie die Seele des ethnischen Tibet zerstören kann. Bewahren wir unsere traditionelle Kultur – nicht aus einer ignoranten oder konservativen Haltung heraus, sondern als bewusste Wahl der Kultur. Vor allem die tibetische Führungsschicht und die tibetischen Intellektuellen, die Akademiker, die Mönche und die Beamten sollten die Initiative ergreifen und unserem Volk erklären, dass die Annahme „milder Gaben” von der herrschenden Macht nicht unbedingt gut sein muss und das Verfolgen materialistischer Ziele nicht zwingend zum Glück führt, sondern dass wir stattdessen unseren eigenen Weg gehen sollten. Bleiben wir den Traditionen unserer Kultur treu, die unser tägliches Leben ebenso betreffen wie die Aspekte unseres spirituellen Lebens. Wir tragen traditionelle tibetische Kleidung, die der nomadischen Kultur entstammt. Auch wenn es nicht praktisch ist, in solchen Kleidern zu arbeiten, bestehen wir darauf, sie im Büro zu tragen. Wir benutzen die tibetische Sprache, welche die Erinnerung der tibetischen Geschichte bewahrt, auch wenn das die Kommunikation mit 200 Millionen Chinesen nicht gerade erleichtert – trotzdem beste- Woeser fordert die Tibeter auf, „nicht hen wir darauf, Tibetisch wie Han-Chinesen zu werden”, sondern zu sprechen. ihre einzigartige Kultur zu bewahren. Wir wohnen weiterhin in unseren Häusern im Bruno Baumann Bei den Han-Chinesen ist schon seit alters her eine Grundlage des buddhistischen Glaubens vorhanden, auch wenn dieser Glaube nicht so tief verwurzelt ist wie in Tibet, es kommen hier bestimmte Faktoren von Aberglauben, Ruhm und Reichtum mit ins Spiel. Aber der Buddhismus war über Jahrhunderte vorherrschend gewesen, was sich auf die Nachkommen maßgebend ausgewirkt hat. Daher kann unsere traditionelle Kultur in all ihren Erscheinungsformen – dem systematischen und umfassenden buddhistischen Erbe, den reichhaltigen und farbenfrohen Ritualen, der tiefen und profunden philosophischen Grundlage sowie ihrem unglaublich kunstvollen Ausdruck – viele Han-Chinesen zu Bewunderung und Glauben inspirieren. Tatsächlich sieht man in Lhasa oft, wie hanchinesische Migranten beten und in Klöstern ihre Opfergaben darbringen, während die Elite der Han-Chinesen allmählich ein Bedürfnis nach dieser Art Religiosität entwickelt. Tibet und Buddhismus 1/07 37 Tibetpolitik tibetischen Stil, wir begehen tibetische Feiertage, wir hängen Thangkas auf und zünden Butterlampen an, und wir laden Buddhas, Bodhisattvas und Lamas in bordeuax-farbenen Gewändern in unsere Häuser ein. Und sind wir auch zu ohnmächtig, um den Bau der Eisenbahn, Bergwerke und andere von der chinesischen Regierung durchgeführten „Entwicklungsmaßnahmen” abzuwehren, so können wir es zumindest unterlassen, Hotels, Restaurants und Geschäfte in chinesischem Stil zu bauen oder einheimische Kunden und ausländische Touristen zu Glücksspiel, Karaoke und chinesischen und tibetischen Prostituierten zu locken. „Wir sollten uns nicht vom Geld verführen lassen” Wir sollten uns nicht dazu verführen lassen, schnelles Geld zu machen. Wenn die Han-Chinesen kommen wollen, dann bitteschön im Einklang mit den tibetischen Sitten. Sie sollen achten, was wir achten, ehren, was wir ehren, sich an das halten, woran wir uns halten. Auf diese Weise würden sie achten und anerkennen, was Tibet ausmacht, und nicht rücksichtslos und ohne Skrupel handeln. Wenn es also etwas gibt, das wir schaffen müssen, dann sollte das eine starke Atmosphäre tibetischer Kultur sein. Es ist tatsächlich eine kulturelle Wahl, die wir zu treffen haben. Darüber hinaus haben wir keine weiteren Optionen, denn wir stehen, was unsere tatsächliche Stärke betrifft, auf der schwächeren Seite. So ist die Realität. Es hätte für uns auch andere Möglichkeiten geben können, wenn wir aufgeschlossener gewesen wären für fremde Strömungen, bereit gewesen wären, Neues zu akzeptieren und unterschiedliche Lebensweisen in unserem Heimatland zu pflegen. Da wir uns aber auf der schwächeren Seite befinden und durch den Schaden, den man uns angetan hat, nicht allzu vieles überlebt hat, müssen wir an allem in unserer Kultur und Tradition festhalten. Wie geringfügig diese Dinge auch sein mögen, wir müssen alles dafür tun, dass sie nicht von den mächtigen Wellen hinweggespült werden. Eigentlich sollten wir von Zuversicht erfüllt sein, denn unsere kulturelle Tradition leuchtet weiter – trotz so vieler harter Schläge und heftiger Kämpfe. Einer meiner chinesischen Freunde drückte es so aus: „Die Medizin, welche die Krankheiten der Welt heilen kann, ist immer noch in Tibet verborgen.” Und diese Medizin, das ist unsere Kultur und unsere Tradition. Wenn wir selbst sie nicht zu schätzen wissen, wie sollten sie dann das kranke Tibet kurieren können? Wenn wir selbst sie aufgeben und uns den stän38 Tibet und Buddhismus 1/07 dig wechselnden Umständen anzupassen suchen und Ruhm, Reichtum und Macht nachjagen, dann wird ganz Tibet voll von „Klonen” des chinesischen Kernlands sein. Dann werden wir Fremde sein in unserem eigenen Land. Und was uns Tibeter angeht, so sollten wir nicht einfach wie Han-Chinesen werden oder wie irgendein anderes Volk. Zwar wird die Welt heute infolge der Globalisierung zu einem globalen Dorf, aber wenn wir in diesem Dorf einen Platz haben wollen, wenn Tibet bestehen soll, wenn wir unsere eigenen Interessen und Rechte vertreten, unsere Meinung äußern und das Charisma unserer Kultur zeigen wollen, dann haben wir nur eine Wahl: Wir müssen an unserer Tradition festhalten. Und das ist jedem Tibeter möglich, auch unter den gegebenen Umständen. Beklagen wir nicht das Umfeld, scheuen wir nicht die Verantwortung, und fange ein jeder von uns bei sich selbst an, darauf Wert zu legen. Das ist die Hoffnung, die wir für die Zukunft haben können. Aus dem Englischen übersetzt von Bernd Bentlin. Die tibetische Schriftstellerin Woeser wurde 1966 in Lhasa geboren. Sie wuchs in Kham auf und besuchte die Universität in Chengdu, wo sie ihren Abschluss in Chinesischer Literatur machte. Nach einer erfolgreichen Karriere fiel Woeser 2004 in Ungnade: Die chinesischen Behörden verboten ihr Buch Tibet Journal, in dem sie von der ungebrochenen Verehrung der Tibeter für den 14. Dalai Lama spricht und, so der Vorwurf, „den Glauben an die Religion” propagiere. Woeser verlor ihren Arbeitsplatz bei der Tibetischen Kulturvereinigung in Lhasa, wurde aus dem Schriftstellerverband ausgeschlossen und lebt seitdem als freie Autorin mit ihrem Mann, Wang Lixiong, einem chinesischen Schriftsteller, in Peking. Woeser, die überwiegend in Chinesisch schreibt, verfasste zehn Bücher, darunter zuletzt zwei Bücher über die Kulturrevolution in Tibet, Forbidden Memory: Tibet During the Cultural Revolution, und Tibet Remembered. Die Mehrzahl davon ist in China verboten, ebenso ihre Webblogs, die Anfang August aus dem Internet entfernt wurden.