Ein Mann sieht Rot - SPOX EURO 2016 Special

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Ein Mann sieht Rot - SPOX EURO 2016 Special
18-2015 I www.spox.com
Neymar da Silva Santos Junior
Ein Mann sieht Rot
GÜNDOGAN
CALCIO STORICO
BORIS
Kommando zurück
Sieht sch.... aus,
kann aber klappen.
Rauhes Spektakel
Ein Experte erklärt
500 Jahre Tradition.
Haudrauf-Jubiläum
Beckers erster Wimbledonsieg wird 30.
SPOX eMAG
Neymar
Bei der Copa gingen die Gäule mit
ihm durch. Die
Folge: Rot, Sperre, Turnier-Aus.
Der Vorfall zeigt:
Neymar zu sein,
ist nicht nur nicht
leicht, sondern
unmöglich.
01
Gündogan
Eigentlich sollte er den BVB
verlassen - und das möglichst in diesem Sommer.
Doch Ilkay Gündogan fand
keinen neuen Klub. Jetzt
kommt die Kehrtwende und
alles macht sich lustig über
das vermeintliche Schmierentheater. Doch wieso
eigentlich?
02
Calcio Storico
03
Jedes Jahr am 24. Juni ist Florenz fest in
der Hand des Calcio Storico. Das Spiel,
das entfernt an Fußball und Rugby erinnert, ist tief in der florentinischen
Folklore verwurzelt. Gewissermaßen
als Zeremonienmeister ist Filippo Giovannelli für das rauhe Spektakel verantwortlich. Im Interview erläutert
der Historiker Ursprung, Entwicklung,
Gefahren und Risiken.
04
Becker
30 Jahre ist es her, dass
ein 17-jähriger Leimener
Wimbledon eroberte.
05
US Open
In Chambers Bay geht‘s zu wie
in Barcelona `99. Dustin Johnson ergeht es wie den Bayern.
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Neymar und das Aus bei der Copa America
Verrückte Welt
von David Kreisl
Ein Ausraster auf dem Platz sowie eine Attacke auf den Schiedsrichter
in den Katakomben nach dem Spiel gegen Kolumbien kosten Brasiliens
Nationalheiligtum Neymar die Copa America. Es ist nicht erst der jüngste Eklat um den Superstar, der zeigt: Neymar zu sein ist nicht nur nicht
einfach - es ist unmöglich.
Weit oben auf Neymars Facebook-Seite springt einem der kleine Werbe-Clip entgegen. Eine brasilianische Kleinfamilie ist da zu sehen, Mutter, Vater, Kind. Der dunkelgraue Kombi vor der schicken Stadtwohnung geparkt, vorfreudig auf dem Weg zum Familienausflug. Doch
der Autoschlüssel dreht sich vergebens im Zündschloss, irgendetwas
ist hier kaputt. Doch keine Panik! Für solche Fälle sind ja zum Glück
Neymar und seine fachkundigen Kumpels von „Heliar Baterias“ da.
Die tauschen so eine kaputte Autobatterie einfach aus. 24-StundenNotservice, versteht sich. Am Ende gibt‘s sogar noch ein Selfie mit dem
Superstar. Laune, Auto und Ausflug sind gerettet.
Man muss nicht viel weiter scrollen, bis Neymars Trikot in der Timeline auftaucht. Geformt von einem kroatischen Künstler aus Red-BullDosen. Das trifft sich besonders gut, wenn man den Brausehersteller
ohnehin seinen Werbepartner nennen darf. Auch auf dem Cover des
neuesten Pro Evolution Soccer ist der 23-Jährge zu sehen, wie er virtuell mit Stolz verkündet. Guarana Antarctica trinkt Neymar sowieso seit
jeher mit großer Begeisterung und wenn man sich schnell genug bei
Pokerstars mit dem Passwort „NEYMARJR11“ anmeldet, dann gibt es
sogar ein Meet and Greet zu gewinnen. Bald wird Neymar 53 Millionen Fans auf Facebook haben. Seinen Followern hat der 23-Jährige in
den letzten neun Posts fünfmal Werbung vorgesetzt. Mit ihm als Testemonial. Ein skurriles Schauspiel, das zeigt, dass Vater Neymar senior
keine Sprüche klopft, wenn er seinen Sohn nicht als Fußballer oder
Popstar betitelt, sondern als Firma. Zumindest in den sozialen Medien
wurde es in den vergangenen Tagen ruhig um Neymar da Silva Santos
Junior. Keine neuen Werbe-Clips, keine der zahlreichen gottesfürchtigen Einzeiler mehr, keine Bilder von Toren und Trophäen. Dafür türmten sich in der echten Welt die Schlagzeilen über ihn. Ausgerechnet
er. Das Idol, der Triple-Sieger, derjenige, der seit Jahren die Hoffnung
von 200 Millionen fußballverrückten Brasilianern auf seinen schmalen Schultern trägt, hatte sich einen derartigen Aussetzer erlaubt. Ein
Frustschuss in den Rücken von Kolumbiens Pablo Armero und einen
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angedeuteten Kopfstoß gegen Jeison Murillo
noch auf dem Feld, ein Griff in den Nacken und
die Worte „Du willst auf meine Kosten berühmt
werden, du Hurensohn“ gegen den Schiedsrichter Enrique Osses nach Ende des Spiels im Bauch
des Estadio Monumental David Arellano. Von einem „Akt der Agression“ und einer glimpflichen
Strafe sprach Alberto Lozada vom CONMEBOLDisziplinarkomitee, das Neymar für vier Spiele
aus dem Verkehr zog: Das vorzeitige Copa-Aus
für den Kapitän der Selecao. Begonnen haben
soll alles aber schon früher am Abend, mit Juan
Zuniga. Jener Spieler, der Neymar bei Brasiliens
Heim-WM mit einem ungestümen Foul den dritten Lendenwirbel brach. Es folgten Anfeindungen, Morddrohungen - eine Hexenjagd schaurigen Ausmaßes gegen den Kolumbianer.
Allerdings sahen 73.429 Zuschauer wenige Monate später, wie sich Neymar und Zuniga bei einem
Freundschaftsspiel in Miami mit einer herzlichen
Umarmung aussöhnten. Der Brasilianer trieb sogar seine Späße mit dem vermeintlichen Peiniger
und nominierte Zuniga für die Ice Bucket Challenge. Und jetzt? „Ruf mich nachher an, um dich
zu entschuldigen, du Hurensohn“, soll Neymar
seinem Gegenüber vor wenigen Tagen mehrfach
an den Kopf geworfen haben. Es sind Momente wie dieser, die zeigen, wie unmenschlich groß
der Druck ist, dem sich der 23-Jährige aus Mogi
das Cruzes ausgesetzt sieht. Neymar ist die Blaupause des Idols für eifernde Hinterhof-Kicker auf
der ganzen Welt, eine Figur, die man sich für die
Generation Playstation nicht besser ausdenken
hätte können. Doch ist Neymar auch ein junger
Mensch, der sich einer Welt ausgesetzt sieht, die
auf ihre Weise extremer nicht sein könnte. Polarisierend, wertend, jeden Schritt observierend.
Jederzeit kurz davor, zu explodieren.
Randnotizen oder kleine Zwischenfälle? Die gibt
es bei Neymar nicht. Als letzter schillernder Star
der brasilianischen Nationalmannschaft ist der
Angreifer längst ein nationales Heiligtum. Und
trägt damit nicht nur eine fußballerische Bürde,
die größer nicht sein könnte. Immer der unbekümmerte, zu Späßen aufgelegte Neymar zu
sein, das ist unmöglich. Richtig oder falsch gibt es
nicht, wenn es um Neymar geht. Es gibt nur beides, in den extremsten Formen. Anbetung und
Ablehung, Verehrung und Hass. Als Neymar bei
der WM vor dem zweiten Gruppenspiel gegen
Mexiko während der Hymne in Tränen ausbrach,
spalteten sich die Fußball-Fans in zwei Lager. In
die einen, die ergriffen waren von der Identifikation und Leidenschaft des jungen Brasilianers.
Und in die, die ihm gute schauspielerische Künste und Effekthascherei unterstellten. Auch bei
seinem aktuellen Verein Barcelona ist das nicht
anders. Als Neymar im Saisonendspurt gegen
Sevilla in der 73. Minute für Xavi ausgewechselt
wurde, reichte eine abfällige Geste mit der Hand,
um die Gazetten Land auf, Land ab verrücktspielen zu lassen. Neymar kennt den versammelten
medialen Irrsinn um seine Person. Doch ist der
Copa-Skandal nicht der erste Vorfall in der jüngeren Geschichte, der dem Wunderkind plötzlich
Wind aus dem eigenen Lager entgegen wehen
lässt. „Ich bin echt angepisst, wenn Schiedsrichter nicht richtig pfeifen“, schimpfte der Brasilianer selbst nach dem verhängnisvollen Spiel gegen Kolumbien. Das ganze Theater käme doch
nur heraus, wenn man einen schwachen Referee
einsetze. „Dann endet ein Spiel mit einer Rauferei!“ Mitstreiter und Befürworter waren selbstredend schnell gefunden. Das mit der langen
Sperre sei doch alles nicht normal, polterte der
brasilianische Verband. Sogar Vereinskamerad Lionel Messi vom Erzrivalen Argentinien „hätte es
gerne gesehen, dass er bis zum Ende des Turniers
dabei ist“. Und für Dani Alves war die Sache ohnehin sonnenklar: „Schuld sind die Schiedsrichter. Sie wissen, dass Neymar Persönlichkeit hat.“
Eine aufbrausende Persönlichkeit mag eine Erklärung sein. Eine überdurchschnittlich harte
Spielweise mit vielen Fouls gegen den Brasilianer eine andere. Doch sind es keine Rechtfertigungen für ein derart „aggressives“ Verhalten,
wie es Brasilien-Legende Ronaldo bei einer kleinen Schimpftirade im TV nannte: „Er akzeptiert
nicht, was geschieht. Das ist etwas, das unter
keinen Umständen toleriert werden darf. Wenn
man das brasilianische Trikot trägt, darf man sich
nicht so verhalten.“ Auch die rügenden Worte
des sonst nicht als Lautsprecher bekannten Xavi
im Rahmen der Triple-Parade des FC Barcelona
passen in das momentane Bild des Superstars. „Er
sollte ernsthaft darüber nachdenken, wie er sich
zu verhalten hat“, sagte der Spanier über den
feierwütigen Neymar. „Vielleicht werden solche
Dinge in Brasilien akzeptiert, aber in Spanien ist
das eine haarige Angelegenheit. Es ist ok, drei
oder vier Bier zu trinken, aber die Busparade ist
für die Fans, um ihnen zu danken und du kannst
nicht einfach in deiner eigenen Welt sein.“
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Die Spitze des skurrilen Treibens - und der letzte
Beweis dafür, in welcher wahnsinnigen Welt sich
Neymar bewegt - bildete ein Interview im Heraldo, in der die Mutter von Kolumbiens Carlos Bacca Neymar Prügel mit ihren High Heels androhte.
„Wäre ich im Stadion gewesen!“
Doch so geht es für Neymar - der sich mit den pathetischen Worten, er würde „sterben“, wenn er
weiter mit der Mannschaft trainieren, aber nicht
spielen dürfte, endgültig von der Mannschaft
und der Copa verabschiedet hat - unversehrt
weiter. Für den, nach Tennis-Schönheit Eugenie
Bouchard, vermarktbarsten Athleten der Welt,
wie das Magazin SportsPro in seinem jährlichen
Ranking festlegte. 2012 und 2013 stand er sogar
an der Spitze dieser Liste - dank Werbedeals und
Partnerschaften mit Nike, Red Bull, Beats, Castrol,
Panasonic oder Volkswagen. Und Tenys Pe Baruel,
dem offiziellen Fußdeo des Superstars. Eine komplette Liste ist das nicht, natürlich. Dem Draht zu
seinen Anhängern schadet das alles aber nicht.
Die Unterstützung für den Brasilianer ist ungebrochen - in der Heimat und beim FC Barcelona.
Neymar ist eben perfekt inszeniert. Er dokumentiert sein Fußballer-Leben bis ins Detail, gibt so
viele private Einblicke, wie nötig sind, um seine
Follower und Fans bei Laune zu halten. Auch der
Rattenschwanz, den sein Transfer vom FC Santos
nach sich zog, der die Katalanen ins Chaos stürzte
und bedeutende Köpfe rollen ließ, werden ihm
nicht als Hypothek ausgelegt. Schließlich kann
Neymar nichts für die dunklen Machenschaften
hinter seiner Person, sagen dann die Fans. Er soll
spielen, tricksen, Tore machen, deswegen ist er
in Katalonien, deswegen schauen ihm die Leute
gerne zu. So gerne sogar, dass Neymar im August
angeblich ein neues Arbeitspapier unterschreiben soll. Bis 2020, mit zwölf Millionen Euro Netto-Gehalt und einer festgeschriebenen AblöseSumme von 250 Millionen Euro. So macht sich
der Brasilianer im Schatten des nichtsportlichen
Wahnsinns, der den 23-Jährigen umweht, drauf
und dran, in die oberste Riege der Fußballer aufzusteigen.
Unter dem Strich ist Neymar ja auch nicht dazu
da, den Familienurlaub mit einer neuen Autobatterie zu retten, zu pokern oder Modell zu stehen.
Sondern, um Fußball zu spielen. Und - das geht
bei der perfekten Marke Neymar gerne unter:
Das kann er so gut wie wenig andere.
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Kehrtwende im Fall Gündogan
Echte Chance
von David Kreisl
Ilkay Gündogan weigerte sich, seinen Vertrag bei Borussia Dortmund zu verlängern, der Klub pochte auf einen Verkauf. Dass nun
beide Seiten zurückrudern, mag im ersten Moment wie ein fadenscheiniges Schmierentheater anmuten. Doch tun sich für Gündogan
und den BVB große Chancen auf.
Was dieser Ilkay Gündogan doch für ein Raffzahn ist, oder? Aber da
hat er sich ganz schön verzockt, der Gute, mit seinen Gehaltsforderungen. So lange verletzt, und dann denkt der, er könne sich einfach einen Spitzenklub aussuchen und dann so mir nichts dir nichts
hingehen. Und jetzt will sein Berater das Ganze retten mit irgendwelchen Ausreden. Und auch der BVB! Peinlich ist das ja schon. Kündigen die beleidigt an, den Gündogan auf jeden Fall zu verkaufen,
weil ablösefrei niemand mehr abgegeben wird. Und jetzt? Kriegen
sie ihn nicht los und müssen ihn behalten. Oder sogar verlängern
mit einem, der am liebsten weg wäre. Also echte Liebe sieht anders
aus... So denken viele. Auf dem Bolzplatz, am Stammtisch, in den
sozialen Netzwerken.
Fußball-Deutschland hat sich festgelegt. Ein Imageschaden für
Spieler und Klub sei die plötzliche Kehrtwende im Fall Gündogan,
der aller Voraussicht nach und allen Beteuerungen zum Trotz wohl
auch kommende Saison bei Borussia Dortmund spielen wird. Doch
es bleiben Fragen. Was die nahende Zweckehe für beide Seiten
wirklich bedeutet, zum Beispiel? Oder: Wie viel Schuld hat der in
Ungnade gefallene Gündogan tatsächlich an der Posse? Am Anfang
war da nämlich der BVB, der - freilich mit gutem Recht - auf seine
Planungssicherheit drängte und eine Entscheidung von Gündogan
forderte. Einen zweiten Fall Lewandowski sollte es nicht mehr geben, Leistungsträger sollen bitteschön Geld in die Kassen spülen,
wenn sie den Verein verlassen. Also hieß es: Gündogan bleibt langfristig, oder Gündogan muss weg. Verlängerung oder nix, sozusagen. Onkel Ilhan sagte jetzt der Süddeutschen Zeitung, dass es nie
ernsthafte Verhandlungen mit dem BVB gegeben habe. Frühzeitig
und fair, so Gündogan selbst, habe man die Borussia darüber in
Kenntnis gesetzt, nicht über 2016 hinaus zu verlängern. Und die
Schwarzgelben? Die waren not amused und taten ihr übriges, in
dem sie Ende April eine lieblose Pressemitteilung versendeten.
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„Zusammenarbeit zwischen Borussia Dortmund und Ilkay Gündogan endet spätestens
2016“, stand da als Überschrift. Weiter: „Fußball-Bundesligist Borussia Dortmund und Mittelfeldspieler Ilkay Gündogan werden nicht
über den 30. Juni 2016 hinaus zusammenarbeiten.“ Absatz. „Gündogan hat sich entschieden, seinen bis zu diesem Zeitpunkt gültigen
Vertrag beim achtmaligen Deutschen Meister
nicht zu verlängern.“ Punkt. Aus.
Keine nett gemeinten Wünsche für den zukünftigen Weg des Mittelfeldspielers. Kein Wort
des Dankes für vier Jahre BVB. Oder dafür, dass
er den Klub als Führungsspieler zur Krönung
des rasanten Aufstiegs unter Jürgen Klopp
2013 bis ins Champions-League-Finale geführt
hatte. Mit Auftritten, die nicht weniger waren
als Weltklasse. Damals, vor zwei Jahren, ja, da
hätten sie Gündogan alle mit Kusshand genommen. Alle, die ihn auch jetzt haben wollten: Die Bayern, Barcelona und Manchester
United. Auch Real Madrid. Und wie sie alle heißen. An potenziellen Interessenten soll es nach
wie vor nicht mangeln. Nur an den ernsthaften Absichten selbiger. Einen Gündogan kann
man holen, aber für diesen Preis? Von einer
ordentlichen zweistelligen Millionensumme ist
immer wieder die Rede, wenn es um den Nationalspieler geht. Irgendwo zwischen 20 und 30
Millionen soll die sich wohl einpendeln, wenn
es nach dem Gusto der BVB-Verantwortlichen
geht - die Gündogan damit augenscheinlich
unüberwindbare Steine in den Weg gelegt haben. Dieses Preisschild schreckt ab. Als zu groß
empfindet man in den Fußballhochburgen von
München bis Barcelona die Unsicherheit, die
ein Transfer mit sich bringen würde. Gündogan hat ein Jahr Restvertrag, war 14 Monate
verletzt. Er bangte zwischenzeitlich um seine
Karriere und hinterließ auch beim in der vergangenen Saison kollektiv kränkelnden BVB
keine Nachweise, auch nur annähernd seine
alte Stärke wiedergefunden zu haben. So viele
Millionen? Nicht für so viel Risiko.
Auch das Kandidatenfeld für den nächsten Karriereschritt erleichtert Gündogans Lage nicht
wirklich. In München will man ihn nicht mehr,
Barcelona darf keine Transfers tätigen und
Real ist schon länger vom Radar verschwunden. Bleiben eine Hand voll Vereine aus der
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das Image nicht komplett ruiniert werden, sollte sich kein Abnehmer mehr finden. Und danach sieht es momentan tatsächlich aus. Doch
ist mehr dran an diesen Aussagen, als man mit
der gesamten Posse im Hinterkopf zunächst
denken mag. Und die Situation, so skurril und
unglücklich sie anmutet, birgt auch Chancen.
Große sogar, für beide Seiten. Zumindest, wenn
Ilhan sagt, dass einiges dafür sprechen würde,
„dass Ilkay es in einem gewohnten, angenehmen Umfeld leichter fällt, wieder auf sein altes Niveau zu kommen“, ist das nur logisch
und nachvollziehbar. Neue Stärke unter einem
neuen Coach - das klingt realistischer, als ein
Konkurrenzkampf mit Ivan Rakitic und Sergio
Busquets. Zumindest in der aktuellen Verfassung. Und auch der BVB gewinnt. Nämlich einen Mittelfeldspieler mit Weltklasse-Anlagen,
der die Zentrale um Gonzalo Castro, Nuri Sahin, Sven Bender und Oli Kirch qualitativ nicht
nur bereichert, sondern in Top-Form die unangefochtene Spitze bildet. Zumal die Westfalen
den Poker um ihr Objekt der Begierde für die
Zentrale, Johannes Geis, ausgerechnet gegen
Schalke 04 verloren haben.
Premier League. Wenigstens ein bisschen heiß
war maximal vielleicht der Flirt mit Manchester
United. Das war‘s. Ein fast aussichtsloser Markt,
auf dem sich Gündogan verzockt hat. Nun ist
das im Fußball-Geschäft an der Tagesordnung.
Doch sind es Vorgänge, die im Regelfall im
Hintergrund ablaufen. Im stillen Kämmerchen
und den geschützten Büros, ohne, dass jemals
ein Fan oder Journalist davon Wind bekommt.
Gündogan durfte seinen Marktwert in einem
ellenlangen Theater dagegen in aller Öffentlichkeit ausloten. In einer denkbar ungünstigen Situation, nach langer Verletzung, in einer
Form-Krise. So wurde er schnell zum Buhmann.
Zum Raffzahn, der die Bayern vergraulte, weil
er zehn Millionen Gehalt forderte. „Wir haben
mit Bayern München mit keiner Silbe über Geld
gesprochen“, beteuert der Onkel.
Glaubt man der SZ, steht mittlerweile sogar
eine Verlängerung über zwei Jahre im Raum.
Denn: „Es war immer klar, dass Dortmund eine
Ablösesumme zusteht. Auch als Zeichen der
Dankbarkeit dem BVB gegenüber“, so Onkel
Ilhan. Das könnte die Situation für den wechselwilligen Gündogan mit einer noch höheren
Ablöse zwar in Zukunft verkomplizieren.
Doch wird das weder die BVB-Verantwortlichen, noch die Fans oder einen potenziellen
Abnehmer stören, sollte Gündogan in seinem
Wohnzimmer wieder zu dem werden, was er
vor zwei Jahren war: Einer der besten Mittelfeldspieler der Welt.
Deshalb sei „ Dortmund ganz klar wieder eine
Option“, wenn es nach Ilhan geht. Und nach
Ilkay, der im Asien-Urlaub weilend so von Thomas Tuchels Ideen angetan sein soll, dass er
„sich jetzt Gedanken macht“. Viel Heuchelei
mag man im ersten Moment in den Aussagen
erkennen können. Das Gesicht soll gewahrt,
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Calcio Storico Fiorentino
„Gebrochene Knochen
gehören dazu“
Jedes Jahr am 24. Juni ist Florenz fest in der Hand des Calcio
Storico. Das Spiel, das entfernt an Fußball und Rugby erinnert, ist
tief in der florentinischen Folklore verwurzelt. Gewissermaßen
als Zeremonienmeister ist Filippo Giovannelli für das rauhe Spektakel verantwortlich. Der Historiker und Autor kennt sich wie
kaum ein anderer mit der Geschichte der toskanischen Metropole
aus. Im Interview mit Andreas Inama spricht Giovannelli über den
kulturellen Ursprung, die Entwicklung, Gefahren und Risiken des
Calcio Storico.
SPOX: Herr Giovannelli, Sie gelten als der Experte schlechthin
für den Calcio Storico Fiorentino. Wie sind Sie zu diesem Sport
gekommen?
Filippo Giovannelli: Ich lebe in dieser Stadt und bin schon seit
jeher ein Liebhaber der florentinischen Folklore. Besonders der
Calcio Fiorentino hat es mir angetan, aber weniger der sportliche Aspekt, sondern das Historische dahinter. Überhaupt kann
man nicht von einem Sport sprechen. Es ist eine Volkstradition.
SPOX: Beschreiben Sie uns bitte das Spiel.
Giovannelli: Es wird auf einem Sandplatz gespielt. Heute ist das
Feld exakt 70 Meter lang und 35 Meter breit. Es treten zwei
Mannschaften gegeneinander an, die jeweils aus 27 „Calcianti“
bestehen. Das Ziel des Spiels ist es, den Ball an das andere Ende
des Feldes zu befördern und dort im Tor unterzubringen. Diese
Regeln wurden von Giovanni de‘ Bardi im Jahr 1580 festgelegt.
SPOX: Hat sich das Spiel seitdem geändert oder hat es seine ursprüngliche Form beibehalten?
Giovannelli: Das Spiel selbst hat sehr wenige Regeln und das ist
auch so geblieben. Der Ball muss einfach auf die andere Seite.
Dabei sind alle Mittel erlaubt. Es wird gerungen, geboxt, gestoßen - alles, nur um den Gegner aufzuhalten. Es gibt zwar
Schiedsrichter und die Mannschaftskapitäne, die für Ordnung
sorgen, jedoch kommen die fast nur zum Einsatz, wenn es zu
Raufereien kommt, die über das Sportliche hinausgehen.
SPOX: Und das ist seit fast einem halben Jahrtausend so?
Giovannelli: Geändert hat sich nur die Organisation. Heute findet
jedes Jahr ein Turnier statt, an dem Mannschaften aus den vier
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historischen Vierteln von Florenz teilnehmen. Es werden zwei Halbfinals und schließlich ein Finale ausgetragen. Der Sieger erhält
als Preis ein Chianina-Kalb. Früher hat sich
die Mannschaft das Kalb untereinander aufgeteilt, heute hat es nur noch symbolischen
Wert. In Anlehnung an den 17. Februar 1530
wird heute in der Kleidung aus dem 16. Jahrhundert gespielt.
SPOX: Gibt es unterschiedliche Taktiken und
Strategien, die die Mannschaften anwenden
oder wird einfach drauf los gerannt?
Giovannelli: Jede Mannschaft hat einen oder
zwei Trainer, die sehr erfahren im Bereich des
Calcio Storico sind. Seit 1930 hat man sich
durchaus Taktiken zurechtgelegt. Außerdem
gibt es auch Positionen wie beim Fußball: Es
gibt die „Datori Indietro“, die man mit Torhütern vergleichen kann, die „Sconciatori“,
so eine Art Mittelfeldspieler, und die „Datori
Innanzi“, die Angreifer.
SPOX: Sind die Mannschaften wie Vereine
organisiert oder werden da jedes Jahr neue
Teams zusammengewürfelt?
Giovannelli: Die Mannschaften repräsentieren die vier historischen Viertel von Florenz:
Die Blauen kommen aus dem Viertel Santa Croce, die Weißen aus Santo Spirito, die
Grünen aus San Giovanni und die Roten aus
Santa Maria Novella. Die Mannschaften sind
wie sportliche Vereinigungen organisiert. Es
wird das ganze Jahr trainiert und schließlich
werden die Spieler ausgewählt, die die Spiele austragen. Es gibt eigene Trainingszentren und -plätze, auf denen der Wettkampf
vorbereitet wird.
SPOX: Die Einwohner der Viertel nehmen leidenschaftlich teil. Gibt es Fangruppierungen
wie etwa im Fußball?
Giovannelli: Natürlich, viele Menschen kommen jedes Jahr zur Piazza Santa Croce, um
die Calcianti anzufeuern. Es ist zwar zum
Teil auch eine Touristenattraktion, aber das
Gros der Fans sind Florentiner, Menschen aus
den Vierteln und Familienmitglieder, die ihre
Mannschaft anfeuern.
SPOX: In Spanien gibt es die Stierkämpfe,
die ob ihrer Zurschaustellung von Gewalt be-
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sonders in der Kritik stehen. Nun ist Gewalt
auch im Calcio Storico ein Charakteristikum.
Gibt es Gegner, die das Spiel verbieten lassen
möchten?
Giovannelli: Es gibt einen bedeutenden Unterschied zwischen Volkstraditionen und
Festen, bei denen Tiere beteiligt sind und zu
Schaden kommen, und einem Sport wie diesen. Es sind Menschen, die daran teilnehmen
- Männer, die wissen, welcher Gefahr sie sich
aussetzen. Sie sind sich der Risiken bewusst
und niemand zwingt sie mitzumachen. Tiere
können sich das nicht aussuchen. Außerdem
ist diese Tradition so fest verwurzelt und alt,
dass es noch nie Kritik gab. Es gibt durchaus
häufig schlimmere Verletzungen, aber die
Teilnehmer kennen die potentiellen Konsequenzen schon vorher.
Knochenbrüchen. Aber auch das passiert eher
selten. Auch in einem normalen Fußballspiel
kann es zu Unfällen mit Verletzungsfolge
kommen.
SPOX: Gibt es eine medizinische Notfallversorgung?
Giovannelli: Am Spielfeldrand stehen Ärzte
und Sanitäter, die auf das Spielfeld kommen,
falls es zu Zwischenfällen kommt. Tödliche
Verletzungen gab es noch nie, wir sprechen
hier höchstens von Bewusstseinsverlust oder
SPOX: Sie sprechen das Jahr 1530 an. Das
Spiel wurde eingeführt, als Florenz belagert
wurde. Wie kam man dazu, eine solche Veranstaltung in so prekärer Lage ins Leben zu
rufen?
Giovannelli: Eigentlich gab es den Calcio Fiorentino schon länger, es wurden schon vor
SPOX: Knochenbrüche und Bewusstseinsverlust. Das klingt nach einem echten Männersport. Gibt es auch einen Calcio Storico für
Frauen oder haben Frauen schon an der Veranstaltung teilgenommen?
Giovannelli: 1530 - das Jahr, an das die Veranstaltung erinnern soll - haben nur Männer
teilgenommen. Daher verlangt es die Tradition, dass nur Männer auf dem Platz stehen.
Außerdem wird das Spiel sehr hart geführt
und Frauen könnten sich dabei nur schwer
durchsetzen. Deswegen nehmen auch keine
am Spiel teil.
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SPOX eMAG
diesem berühmten 17. Februar 1530 Spiele
organisiert. Jener Tag dient nur als Vorlage
für den heutigen Event. Im Jahr 1490 war
zum Beispiel der Arno (Fluss durch Florenz,
Anm. d. Red.) zugefroren und so organisierte man Partien auf dem Eis. Es wurde auch
zu besonderen Anlässen gespielt, wenn Botschafter von anderen Städten nach Florenz
reisten oder während des Karnevals.
SPOX: Was hat es dann mit der Partie aus
dem Jahr 1530 auf sich?
Giovannelli: Wie schon erwähnt wurde Florenz belagert. Kaiser Karl V. hatte 1529 im
Auftrag von Papst Clemens VII. die Stadt belagert, um seinen Verwandten, der Familie
De Medici, die Macht über Florenz zurückzugeben. Florenz hatte diese vertrieben und
war mittlerweile eine Republik. Aus Trotz organisierte man im Februar in der Stadt dieses Spiel, um den Belagerern zu zeigen, dass
sie den Einwohnern von Florenz gleichgültig
sind. Aber der Stadt ging es zu diesem Zeitpunkt schon schlecht, die Menschen litten
Hunger und im Laufe des Sommers wurde
Florenz erobert. Die De Medici wurden wieder als Machthaber installiert.
SPOX: War es ein Spiel des Adels oder spielte
auch das „gewöhnliche“ Volk?
Giovannelli: Durchaus spielte der Adel, aber
auch Männer anderer sozialer Schichten organisierten Spiele. Es war ein Spiel des Volkes, das zu besonderen Anlässen organisiert
wurde.
SPOX: Also kam es auch vor, dass Adelige gegen Menschen spielten, mit denen sie sonst
ob der sozialen Unterschiede nie in Kontakt
kamen?
Giovannelli: Absolut. Da kam auch die Eigendynamik des Sports am besten zum Ausdruck:
Ein Herr konnte nicht einfach den Ball von
seinen Untergebenen verlangen und musste
das ein oder andere Mal einiges einstecken.
Außerdem war es besonders zur Zeit der Republik zwischen 1527 und 1530 so, dass die
Adeligen sich nicht in so extremem Maße
vom städtischen Leben abgesondert hatten.
Sie nahmen nur eine andere Rolle als der
Rest ein. Auf dem Feld gab es dann gar kei-
ne Unterschiede mehr. Der Adel hatte keine
Privilegien auf dem Platz.
SPOX: Im 18. Jahrhundert fand dann das letzte offizielle Spiel statt, anschließend wurde
das Spiel für fast 200 Jahre nicht mehr gespielt. Wieso?
Giovannelli: Die letzte traditionelle Partie
fand 1749 in Livorno statt. Die Familie De
Medici starb aus und die Macht über Florenz
ging an Franz Stefan I. von Lothringen, den
Ehemann von Maria Theresia. Die Tradition
verflüchtigte sich, man spielte nicht mehr.
Es gab dann einzelne Events, wie 1898 oder
1902. Endgültig wieder aufgenommen wurde die Tradition im Jahr 1930. Damals gab es
in der Toskana eine Bewegung, die alte Traditionen wieder aufleben ließ, wahrscheinlich auch unter dem direkten Einfluss des Faschismus.
SPOX: Welchen Wert hat diese Tradition für
die Stadt heute? Konzentriert sich das Interesse nur auf Florenz oder ist es ein über die
Grenzen der Stadt beliebter Event?
Giovannelli: Eigentlich konzentriert sich das
Ganze nur auf Florenz. Diese Tradition ist
tief in der florentinischen Gesellschaft verwurzelt und die Menschen aus den vier Vierteln hängen sehr an ihren Mannschaften.
Die Teilnehmer, ob Spieler, Musiker oder
das Rundherum, arbeiten das ganze Jahr
auf dieses Spektakel hin. Die Familien der
Teilnehmer binden sich mit ein und die Einwohner der Viertel feiern ein richtiges Fest.
International sind eigentlich nur unsere Choreografien bekannt. Fast 530 Personen nehmen ausschließlich an der Parade teil, die
an Militärparaden aus dem 16. Jahrhundert
erinnern soll. Mit diesen Paraden haben wir
schon die ganze Welt bereist, wir waren auf
jedem Kontinent. Das Spiel selbst ist nur selten außerhalb der Grenzen von Florenz ausgetragen worden.
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Par-10 zur US Open
Wie Camp Nou`99!
von Florian Regelmann
Jordan Spieth gewinnt nach dem Masters auch die US Open in Chambers Bay und ist auf dem Weg zum Grand Slam. Dustin Johnson ergeht es dagegen wie den Bayern 1999. Das Par-10 schreibt einen
Brief an Tiger Woods und beschäftigt sich mit existenziellen Fragen:
Broccoli oder Blumenkohl? Und: Hör mal, wer da hämmert und der
schwindelige Superman!
10. Hör mal, wer da hämmert
„From Houston, Texas. Cole Hammer!“ COLE HAMMER. Schon vor
der Woche war längst klar: Wer den coolsten Namen im Sport hat,
der kommt logischwerweise automatisch ins Par-10. Wenn Du dann
noch ein 15-jähriger Milchbubi und damit der drittjüngste Spieler in
der Geschichte der US Open bist und wenn Du dann in Runde eins
eben als 15-jähriger Milchbubi noch drei Schläge besser scorst als
Tiger Woods, dann erst recht. Dass Hammer nach seiner 77 an Tag
eins in Runde zwei zerlegt wurde (84), spielt überhaupt keine Rolle. Hammer erlebte die Woche seines Lebens, die sogar noch eine
Proberunde mit seinem Idol Jordan Spieth beinhaltete. Da hatte
Spieth tatsächlich mal jemanden gefunden, der so jung ist, dass er
zu ihm aufschauen kann - schon geil. Neben Hammer sollen aber
auch einige andere Young Guns erwähnt werden, die vor einer großen Zukunft stehen könnten. Insgesamt sechs Amateure schafften
den Cut. Brian Campbell spielte zwei Runden in den 60ern und landete in den Top 30. Ollie Schniederjans (schon wieder so ein lässiger
Name) schrieb an 4 Tagen 17 Birdies auf die Scorekarte. Und: Er
ist bei der Frage „Haust Du den Ball so weit wie Dustin Johnson?“
einer der ganz wenigen Menschen, die tatsächlich die Hand heben
dürfen.
9. Deutschland/Österreich: zero points!
Was soll man zu Martin Kaymer, Marcel Siem, Stephan Jäger und
Bernd Wiesberger nach dieser US Open großartig sagen? Alle verpassten den Cut und Aufregendes war jetzt auch nicht gerade dabei.
Es war sogar so langweilig, dass Siem an zwei Tagen völlig untypisch
nur Pars, Birdies und Bogeys spielte. Wiesberger machte sich dagegen mit drei Katastrophen-Löchern alles zunichte. Jäger war ohnehin einfach froh, mal bei einem Major dabei zu sein. Und Kaymer?
18-2015 I 18
Der setzte seine enttäuschende Saison weiter
fort. Den Anspruch, den man an einen zweifachen Major-Sieger hat, dass er zumindest meistens bei den großen Events irgendwo vorne
dabei ist, kann er im Moment leider nicht erfüllen. Er ist aber erstens gefühlt nicht weit davon
entfernt, dass es bald wieder klick macht. Und
zweitens ist er Martin Kaymer. Wenn er in den
nächsten Wochen plötzlich anfangen würde,
wieder (große) Turniere zu gewinnen, würde
das auch niemanden überraschen. Hoffen wir,
dass es so kommt!
8. Broccoli vs. Blumenkohl
Die Browns von Chambers Bay. Sie werden in
die Geschichte eingehen. Dass sich Spieler bei
einer US Open über den Platz aufregen, gehört
dazu und soll so sein. Aber was wir in dieser
Woche gesehen und gehört haben, war nicht
mehr feierlich und schaukelte sich zu Hass hoch.
Henrik Stenson verglich die Grüns mit Broccoli, Rory McIlroy konterte mit Blumenkohl. Geht
es nach Ernie Els, weilen einige der Grüns auch
gar nicht mehr unter uns (seinen Berechnungen nach sind vier Grüns tot). Justin Rose bezeichnete das Putten darauf als Outdoor-Bingo, Sergio Garcia meinte, dass die NBA Finals
ja auch nicht auf einen Korb ohne Backboard
gespielt werden (hat er per se mal Recht...).
Als am Samstag nicht weit entfernt ein Feuer
in einem Warenhaus ausbrach, wünschten sich
wohl einige Spieler, dass der Platz gerade abgefackelt wird. Billy Horschel und Ian Poulter
(„eine Schande“) gehörten am Ende zu den
schärfsten Kritikern der USGA und ließen ihrem Ärger freien Lauf. Aber was fangen wir
jetzt mit der ganzen Diskussion an? Waren die
Grüns einer US Open würdig? Nein, waren sie
definitiv nicht. Aber sie waren für alle gleich
und wenn wir uns am Ende das Leaderboard
ansehen, dann waren am Ende auch die Besten
vorne. Das dürfen wir nicht vergessen.
toppst. Ich mach‘ das auch, aber ich darf das,
Du nicht! Du bist einer der größten Sportler aller Zeiten, aber inzwischen hat jeder nur noch
Mitleid mit Dir. Selbst bei der Weltfrauenkonferenz wird Dir wahrscheinlich nichts Schlimmes
mehr gewünscht. Es ist, als wäre Lionel Messi
seit Jahren ohne Tor und könnte keinen Ball
mehr stoppen. Als würde Usain Bolt von Marc
Blume geschlagen. Als würde Roger Federer in
der ersten Runde von Wimbledon 1:6, 0:6, 1:6
ausscheiden und keinen Ball mehr übers Netz
spielen. Es ist echt traurig. Deshalb: Entweder
Du bekommst das jetzt wieder auf die Reihe
(ich hab ja keine Ahnung, wie Du vor zwei Jahren 5 Turniere gewonnen hast), oder Du musst
es bitte lassen. Danke. You da man. Dein Par10.
7. Tiger, mach‘ was, bitte!
Lieber Tiger, you da man. Kannst Du bitte dringend was machen, damit Du dieses Golfen wieder kannst? Ich weiß nicht, ob es Dir schon aufgefallen ist, aber so wird das nix. Wenn ich den
Fernseher einschalte, sehe ich deine Schläger in
hohem Bogen hinter Dir durch die Luft fliegen.
Ich sehe, wie Du ein Holz 5 in den Pot Bunker
6. Tigers Jagd nach Nummer 15
Müssen wir wirklich darüber reden, ob Tiger
nochmal ein Major gewinnt? Ob er Jack Nicklaus noch einholt? Vielleicht hätte er jetzt
schon über 20 Majors gewonnen, wenn er seit
2000 seinen Schwung einfach so gelassen hätte, wer weiß es. Aktuell ist die ganze Diskussion, wann er wieder gewinnt, auf jeden Fall
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reine Zeitverschwendung. Ein paar Fakten: Tiger ist in der Weltrangliste auf Platz 205 (!) zurückgefallen. Wären Tigers letzte 4 Runden ein
Turnier, hätte er es in 31 über Par gespielt. 8574-80-76. Zwischen 1996 und 2014 hat Woods
1242 Runden Golf gespielt, davon war eine in
den 80ern (seine berühmte 81 2002 im Regenchaos von Muirfield). In 16 Runden in diesem
Jahr hat Woods schon drei Runden in den 80ern
auf dem Konto. Es gibt zwar immer noch ein
Zipfelchen Hoffnung, das einen denken lässt:
Hey, Tiger ist 39, nicht 59. Er hat es bis jetzt nach
jeder Schwungumstellung noch hinbekommen
und wieder gewonnen. Er wird zurückommen.
Und man stelle sich vor, was das dann für ein
Comeback wäre...
Aber der Glaube schwindet und schwindet. Ein
weiterer Major-Sieg für Tiger reiht sich bald bei
den Sachen ein, die einfach nicht passieren werden. Major-Siege für Lee Westwood oder Sergio
Garcia, ein US-Open-Sieg für Phil Mickelson,
solche Sachen. St. Andrews wird jetzt nochmal
spannend zu sehen sein, wenn selbst auf einem
seiner Lieblingsplätze nicht mal ein bisschen was
geht für Tiger, wird‘s immer düsterer.
5. Rory vs. Jordan 0-2
„Ich habe den Ball bei einem Major noch nie
so gut getroffen wie diese Woche.“ Wenn man
bedenkt, dass McIlroy zwei seiner vier Majors
mit acht Schlägen Vorsprung gewann, ist seine
Aussage nach Chambers Bay bemerkenswert.
Und sie sagt natürlich aus, wo aktuell McIlroys
Probleme liegen: beim Putten. McIlroy lochte
in Chambers Bay über weite Strecken so gut
wie gar nichts. Am Finaltag schien er kurzzeitig auf dem Weg, Historisches zu schaffen und
mit der ersten 62 in der Major-Geschichte doch
noch in den Kampf um den Sieg eingreifen zu
können, aber wie in der gesamten Woche patzte McIlroy auf den Löchern 14 bis 18 (6 über).
Wie beim Masters schob sich McIlroy dank einer
hervorragenden Schlussrunde noch in die Top
10, so sieht es am Ende vom Ergebnis irgendwie annehmbar aus, aber für die Nummer eins
der Welt ist das selbstredend zu wenig. McIlroy
sieht sich als besten Spieler auf dem Planeten,
das ist er eigentlich auch, aber 2015 steht seine Bilanz gegen Spieth jetzt bei 0-2. Insgesamt
führt McIlroy im neuen Super-Matchup auch
nur noch 4-2. Rory muss diesen Sommer zurückschlagen, so viel steht fest.
18-2015 I 20
4. Der heimliche US-Open-Sieger
77-66-66-67. Louis Oosthuizen fehlte zwar trotz
6 Birdies an den letzten 7 Löchern am Ende ein
Schlag auf ein Playoff, aber der Südafrikaner ist
auch so ganz klar ein Mann des Turniers. Wenn
der Arme an den ersten beiden Tagen nicht mit
Tiger Woods und Rickie Fowler hätte zusammenspielen müssen... Oosthuizen lag nach 20
gespielten Löchern seiner US-Open-Woche bei
9 über Par, da hätte er in Gedanken schon wie
Tiger und Rickie im Flieger sitzen und es einfach laufen lassen können. Oosthuizen spielte aber stattdessen die nächsten 52 Löcher in
13 unter Par! Mit seinen beiden 66er-Runden
stellte er sogar einen neuen US-Open-Rekord
für die beiden mittleren Tage auf. Und jetzt?
Jetzt kehrt im Juli die Open Championship
nach St. Andrews zurück. Zum letzten Mal war
man dort 2010, als ein gewisser Louis Oosthuizen mit 7 Schlägen Vorsprung das Feld vernichtete und seinen bislang einzigen Major-Sieg
einfuhr. Watch out for Louis!
3. Der schwindelige Superman
Jason Day: „Die Vertigo (lat. „Umdrehung“,
„Schwindel“, von vertere „wenden“) ist der
medizinische Fachausdruck für Schwindel. Unter Schwindel im medizinischen Sinne versteht
man das Empfinden eines Drehgefühls oder
Schwankens oder das Gefühl der drohenden
Bewusstlosigkeit.“ (Quelle: wikipedia) Empfinden eines Drehgefühls oder Schwankens? Drohende Bewusstlosigkeit? Klingt ja gerade zum
Golf spielen eher suboptimal.
Es war die Horror-Szene der Woche, als Jason
Day an der 9, seinem letzten Loch von Tag 2,
plötzlich zusammenbrach und auf dem Fairway lag. Day musste im vergangenen Jahr
schon einmal ein Turnier mit Schwindel abbrechen, vor einigen Wochen passierte es ihm
bei der Byron Nelson Championship erneut.
Alle Tests (Schlafstudien, Blutuntersuchungen)
brachten kein Ergebnis, jetzt kam es in Chambers Bay zum großen Day-Drama. Der Aussie
spielte nicht nur seine zweite Runde irgendwie
fertig, der Kerl spielte einen Tag später eine
völlig außerirdische 68. Obwohl Day aussah
wie der Tod, obwohl er kaum auf den Boden
schauen konnte, am Abschlag teilweise zitterte und schlicht und ergreifend zombiemäßig
über den Platz wackelte. Es erinnerte an Tiger
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Woods‘ US-Open-Sieg mit gebrochenem Bein
2008, oder an Michael Jordans berühmtes FluGame in den NBA Finals 1997, es war definitiv nicht von dieser Welt. Absolut jeder hätte
Day, der sowieso zu den nettesten Menschen
der Szene gehört, den filmreifen Triumph am
Sonntag gegönnt. Aber es sollte nicht sein, der
Tank war dann doch leer, nach einer 74 reichte
es nur für Rang 9. Aber allein, dass er das Turnier zu Ende spielte und in den Top 10 beendete, ist Wahnsinn. Und Day wird eines Tages ein
Major gewinnen, hundertprozentig.
2. Golf ist so f%%%% grausam
So wie es sicher ist, dass Day seine Karriere nicht
ohne Major-Sieg beendet, so sicher ist es auch
bei Dustin Johnson. Mein Gott, es war doch alles angerichtet für seinen großen Moment. DJ
hatte an der 18 nach einem göttlichen zweiten Schlag einen Eagle-Putt aus 4 Metern zum
US-Open-Sieg, links vorbei. Bitter, aber okay,
er hatte ja noch einen Birdie-Putt aus 1,20 Meter zum Playoff. Aber er lochte auch den nicht,
wieder links. Der ultimative Schocker. Sein erster Dreiputt aus der Entfernung im gesamten
Jahr. Wenn man denkt, man hat alles gesehen... Es war wie für die Bayern 1999 im Camp
Nou. Eagle-Putt nix = 1:1 Sheringham. BirdiePutt nix = 1:2 Solskjaer. Mal wieder stellen wir
fest: Nichts ist so unfassbar und so unfassbar
grausam wie Golf. Wenn wir uns in DJs Kopf
setzen, könnten wir auch sagen: Das ist doch
alles so zum Kotzen, ich spiele nie wieder Golf.
Johnson war verständlicherweise so fertig mit
der Welt, dass er seine Medaille für Platz zwei
nicht mehr abholen wollte. Zuschauen, wie
Spieth die Trophy küsst? Nah, muss nicht sein.
Aber wie Johnson mit der erneuten Niederlage
umging, war groß. „Ich halte meinen kleinen
Sohn Tatum im Arm, er ist meine Trophäe“, sagte Johnson am Vatertag in den USA. Am Montag wird DJ 31 Jahre alt. Er könnte ohne Probleme jetzt schon vier Majors gewonnen haben,
stattdessen steht er immer noch bei null. 2010
schoss er sich bei der US Open mit einer 82
am Finaltag raus, bei der PGA Championship
im gleichen Jahr öffnete seine 2-Stroke-Penalty die Tür für Martin Kaymer. Auch 2011 bei
der Open Championship war Johnson bis zur
14 der Finalrunde im Titelkampf dabei. Bis auf
das Masters hat er jedes Major fast gewonnen.
Aber fast ist halt so uneträglich. Aber wer so
Golf spielt wie DJ, wer den Ball so weit drischt
und dabei zu 80 Prozent das Fairway trifft wie
in Chambers Bay, der muss bald eines gewinnen, das geht gar nicht anders. Eigentlich.
1. Jordan-Slam 2015?
Jüngster US-Open-Champ seit Bobby Jones
1923. Check. Jüngster mit zwei Major-Titeln
auf dem Konto seit Gene Sarazen 1922. Check.
Der Erste seit Bobby Jones 1926, der mit einem Birdie am 72. Loch die US Open gewinnt.
Check. Und der sechste Spieler in der Historie,
der nach dem Masters im selben Jahr auch die
US Open gewinnt. Check. Vor ihm war das zuletzt Arnold Palmer (1960), Jack Nicklaus (1972)
und Tiger Woods (2002) gelungen. Keiner von
ihnen triumphierte im Anschluss auch bei der
Open Championship. Kann es Spieth schaffen?
Hat er vielleicht sogar den Grand Slam in sich?
Die vernünftige Antwort lautet: nein.
Ein Grand Slam ist im Tennis schon unmöglich, obwohl da die Anzahl an Siegkandidaten
pro Major viel geringer ist. Einen Grand Slam
im Golf zu schaffen, ist normalerweise außerhalb jeder Vorstellungskraft. Aber: Wenn es einer drauf hat, dann dieser Jordan Spieth. Dieser Spieth kann nicht nur gewinnen, wenn er
wie in Augusta in überragender Form ist und
niemand gegen ihn eine Chance hatte. Dieser
Spieth kann auch gewinnen, wenn er gar nicht
mal so gut spielt, sich von Bunker zu Bunker
und Düne zu Düne hangelt und an der 17 am
Finaltag sogar einen 3-Schläge-Vorsprung wegschmeißt. Klar, Johnson hat ihm geholfen, aber
Spieth hat etwas, das man nicht lernen kann.
Er ist kein Bomber, er ist sicher nicht der beste
Eisenspieler und er puttet ja echt die langen
Dinger viel besser als die kurzen. Seine größte
Qualität ist sein Kopf. Die Wahrscheinlichkeit
mag minimal sein, aber das Par-10 würde auf
keinen Fall gegen einen Jordan-Slam wetten
wollen.
18-2015 I 22
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Boris Beckers Wimbledon-Sieg 1985
Und er haut drauf
von Stefan Petri
Mit 17 Jahren gewinnt Boris Becker am 7. Juli 1985 sensationell Wimbledon und wird zum Idol einer ganzen Generation. Dabei stand der
noch unbekannte Deutsche im Laufe des Turniers gleich mehrfach vor
dem Aus. Ein Rückblick auf zwei Wochen, die die Tenniswelt verändern sollten.
Fast wäre es sein 103. Ass im Turnier geworden, doch Curren bekommt noch den Rahmen an den Ball. Keine Chance! Game, Set and
Match nach drei Stunden und 17 Minuten! Becker reißt die Arme
hoch, ein Schrei, einfach nur pure Freude. Genau sieben Sekunden
bleiben beide Arme hochgereckt, zu Fäusten geballt, während der
Applaus auf ihn niederprasselt. Er blickt in den Himmel, er schaut in
seine Box, dann auf den Boden, bevor es zum Handshake ans Netz
geht. Wimbledon-Sieger. Mit 17. Ein Junge, der sich die Haare selbst
schneidet und von seiner Mutter Zahnpasta nach England geschickt
bekommt, ist plötzlich ganz oben. Schwiegermutters Liebling. Popstar. Sportler des Jahres. Werbemillionär.
Wie konnte es soweit kommen?
„An diesem Tag waren Kräfte mit im Spiel, die darüber hinausgingen: Ein Instinkt, der mich im entscheidenden Moment das Richtige
tun lässt. Ein Herz, das eine Niederlage nicht zulässt, obgleich ich
nicht immer gewinnen kann. Und eine Seele, die unerschütterlich ist,
auch wenn der Körper manchmal schwach ist.“ (Boris Becker in: Augenblick, verweile doch...)
„Als ich Boris zum ersten Mal sah, spielte er Tennis.“ So erinnert sich
Trainer/Vertrauter/Mädchen für alles Günther Bosch in seinem Buch
Boris an die erste Begegnung mit dem damals neunjährigen Jungen.
„Er spielte ein seltsames Tennis, er gebrauchte seine Beine nicht. Dafür warf er sich wie ein Torwart den Bällen entgegen und brüllte vor
Wut, wenn er sie nicht bekam.“ Der zweite deutsche Bundestrainer
erkennt etwas Besonderes: „Wenn ich heute an den tollpatschigen
Jungen zurückdenke, dann sehe ich seine Augen. Er guckte anders
als die übrigen Kinder. Jedem ankommenden Ball sah er so konzentriert entgegen, dass ich dachte: So etwas ist bei einem Kind doch
nicht möglich. Wie kann ein Kind den Ball so konzentriert ansehen?“
Leichtes Übergewicht? Formlose, undefinierte Beine? Egal. Sechs
18-2015 I 24
Jahre später, Boris ist fast 15, wird Bosch sein
Trainer. „Den Boris wollen Sie? Mit dem halten
sie es keine zwei Tage aus“, warnt der Verbandstrainer. Von Blau-Weiß Leimen um die Welt.
Es dauert fast zwei Jahre, bis sich das Gespann
aneinander gewöhnt hat, dann klicken sie, der
Trainer mit dem rumänischen Wurzeln und der
emotionale, aber unheimlich ehrgeizige Rotschopf. Zusammen mit Manager Ion Tiriac, dem
legendären, bauernschlauen Geschäftsmann,
entsteht ein Erfolgstrio sondergleichen.
Becker wird Profi, erreicht in seinem ersten
Grand Slam bei den Australian Open, damals
noch auf Rasen, direkt das Viertelfinale. Heute
wäre das bereits eine Sensation, damals noch
kein großer Aufreger - Down Under ist schließlich nicht Wimbledon. Auf dem Heiligen Rasen
tritt er im gleichen Jahr ebenfalls an, schafft
die Qualifikation, reißt sich in der dritten Runde gegen Bill Scanlon dann bitter die Bänder im
Knöchel. Auf einem Bein hüpft er zum Handshake ans Netz, bevor es auf einer Trage in die
Kabine geht.“Bumm-Bumm-Boris“? Noch nicht.
Doch die Anlagen sind schon da beim mittlerweile 1,90 Meter großen Teenager. Babyface ja,
aber gleichzeitig breite Schultern und stämmige Oberschenkel, mit denen er seinen Kanonenaufschlag befeuert: Diese runde, so mühelose
Bewegung, die das moderne Puma-Racket - viele Profis spielen noch mit Holzrahmen - hoch in
die Luft bringt und den Ball anschließend mit
weit über 200 Stundenkilometern über das Netz
schießen lässt. Dazu eine weit ausholende, eine
Schleuder gleichende Vorhand, mit der er seine
Goliaths erlegt. Und die einhändige Rückhand,
die kaum einer so durchziehen kann, Slice natürlich auch.
„Mitte der 70er war ich ganz vernarrt in Björn
Borg, als er Wimbledon dominierte. Ich wollte
da eines Tages unbedingt gewinnen“, sagt Becker später. Dass es schon 1985 soweit ist, wird er
später bereuen. Es ist die vielleicht größte Sensation der Tennis-Geschichte, völlig unerwartet,
aber trotzdem mit leisen, fast unhörbaren Vorzeichen. Schließlich gewinnt der Deutsche schon
im Januar 1985 das Turnier in Birmingham, und
dann auch das Vorbereitungsturnier in Queen‘s.
Das kann etwas heißen (die Sieger der sechs
Jahre zuvor hießen John McEnroe und Jimmy
Connors), muss aber nicht - in der Vergangenheit haben dort ja auch schon Scott Draper und
Sam Querrey gewonnen. An einen Wimbledonsieg der ungesetzten Nummer 20 der Welt
glaubt trotzdem niemand. Außer vielleicht Ion
Tiriac, mit Dollarzeichen in den Augen. Ein paar
Tage frei, ein paar Tage Training, danach geht‘s
hinein in das größte und wichtigste Turnier der
Welt. Erste Runde gegen den Amerikaner Hank
Pfister. Der gewinnt auch Satz eins, geht danach
jedoch in vier glatt raus. „Ich hab gedacht, dieser
junge Kerl verliert die nächste Runde sowieso“,
verrät er der Bild. Tut er aber nicht. Stattdessen
muss der nächste Amerikaner dran glauben. 6:0,
6:1, 6:3 gegen Matt Anger. Der spätere Tennistrainer Anger: „Ich hatte ein mulmiges Gefühl
und wusste, der Junge kann das Turnier gewinnen.“
Also schon das strahlende Licht der Weltöffentlichkeit auf dem 17-jährigen Leimener? Nein,
noch nicht. Nach seinem Drittrundenspiel gegen den Schweden Joakim Nyström flackert
es allerdings schon ein wenig. 3:6, 7:6 steht es
am Samstag, plötzlich kommt der Regen und
mit ihm eine Pause von zwei Tagen. Becker hat
leichtes Fieber, ist angeschlagen. „Nyström ist
die Nummer Acht in der Welt, es ist keine Schade, als Ungesetzter gegen einen Gesetzten zu
verlieren“, sagt ihm Tiriac. Aber Becker verliert
nicht. Er muss in der Fortsetzung des Matches
in den fünften Durchgang, hat drei Matchbälle gegen sich, bei Aufschlag Nyström. Doch in
diesem Moment kommen die größten Stärken
des Deutschen zum Tragen. Mut, unbedingter
Siegeswille, Härte gegen sich selbst. Die Fähigkeit, tief in sich zu graben und dieses Extraprozent, diese letzte Schippe draufzulegen. Becker
beschreibt die Situation später in seiner ersten
Autobiographie Augenblick, verweile doch...:
„Ich spiele jeden Return volles Risiko. Tiriac
brüllt Bosch in die Ohren: ‚Der ist wahnsinnig!
Wie kann er so spielen? Dieses Risiko!‘“ Zweimal schlägt Nyström zum Matchgewinn auf,
zweimal breakt Becker. Schließlich vier Asse. 9:7
im fünften Satz. „Es war das beste Rasenspiel
meiner Karriere. Und es hat trotzdem nicht gereicht“, muss Nyström anerkennen. Mit 84 Kilogramm geht Becker ins Match. Danach wiegt er
noch 81.
Nur einen Tag später wartet der an 16 gesetzte
Tim Mayotte. Nach seiner Energieleistung gegen Nyström geht Becker mit Fieber und Schüttelfrost ins Bett, wird Bosch schreiben. Aber
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der Jugendliche hat die wunderbare Fähigkeit,
sich gesund zu schlafen, unheimlich schnell zu
regenerieren. Nur deshalb steht er erneut ein
Fünfsatzmatch durch - das beinahe vorzeitig
beendet gewesen wäre. Mayotte geht mit 2:1
Sätzen in Führung, gespielt wird auf einem Nebenplatz. 6:5 im vierten Satz. „Dichtes Gedränge. Lärm. Plötzlich knicke ich um. Mein Knöchel
schmerzt“, erzählt Becker. „Ich gehe aufs Netz
zu, will die Hand ausstrecken.“ Die Erinnerung
an die Verletzung von 1984 ist noch zu frisch.
Doch dann ist plötzlich die Hölle los.
„Bosch, tu was! Sag was! Er soll drei Minuten
Auszeit nehmen!“ kreischt Tiriac, und Bosch
brüllt: „Es ist nichts. Nimm deine Auszeit. Du
spielst weiter!“ Drei Minuten stehen Becker zu,
aber der Arzt schafft es in der Zeit nicht durch
die Anlage bis auf den Platz. Die Behandlungszeit ist abgelaufen, „Time“ kommt es vom
Schiedsrichterstuhl. Den rumänischen Paten
hält es längst nicht mehr auf der Tribüne. „Tiriac war alles scheißegal, er ist einfach auf den
Platz marschiert“, erinnert sich Mayottes Bruder
John in der New York Times. „Tim hat protestiert, aber es war ein Netter-Junge-aus-New-
England-Protest.“ Becker protestiert ebenfalls
- und bekommt Recht vom Oberschiedsrichter.
Also darf er sich den Knöchel noch tapen lassen,
kurz durchschnaufen. Während sein Gegner
völlig von der Rolle ist. Sieg im Tiebreak, 6:2 im
Fünften. Viertelfinale.
So langsam glaubt nicht nur Tiriac an Schicksal,
sondern auch Bosch und Becker. Und Deutschland findet sich mehr und mehr vor dem Fernseher zusammen. Rund um die Uhr wird der
lädierte Knöchel behandelt, am nächsten Nachmittag ist Henri Leconte („Er war einfach zu gut
für mich.“) in vier Sätzen chancenlos. Halbfinale
gegen Anders Järryd, die Fünf der Welt. Diesmal kriegt Becker wenig auf die Reihe. Kein Gefühl, die Schläge kommen nicht. Dafür kommt
ihm ein Gewitter zu Hilfe. Um es mit den Worten des Protagonisten zu sagen: „Wenn das Gewitter am Freitag nicht zur Spielunterbrechung
geführt hätte, wäre ich von Järryd vom Platz
gefegt worden. Einen Tag danach war er so
nervös, da hätte meine Großmutter gegen ihn
gewonnen. Nur ein Zufall?“ Zwei lockere Sätze
am Samstag, dann ist klar: Becker ist der jüngste Finalist überhaupt, der erste Ungesetzte im
Endspiel.
18-2015 I 26
Sein Gegner wird Kevin Curren sein, Weltranglistenachter. Curren hat Edberg, McEnroe und
Connors aus dem Weg geräumt, teilweise sogar
gedemütigt, jeweils in drei Sätzen. Einer der
besten Aufschläger der Welt. Und Becker? „Ich
habe von der Herzogin von Kent geträumt. Sie
hat mir zum Sieg gratuliert.“
7. Juli 1985. Wimbledon-Finale der Herren. Elf
Millionen Deutsche fiebern vor dem Fernseher
mit, als Becker den Court betritt. 17 Jahr, rotblondes Haar. Hochgezogene Socken, kurze Hosen, Ellesse-Tennishemd, darüber der klassische
Becker-Pullunder, den er im Laufe des Matches
ablegen wird. Eine Handvoll Puma-Schläger dabei, mit denen er an diesem Nachmittag 21 Asse
servieren wird. Eine Kette von seiner Mutter um
den Hals, an der er ab und zu knabbert. Hinter
ihm kommt Curren. 27 Jahre alt, groß, drahtig,
Nummer Acht der Welt, Favorit. Auch in seiner
Heimat Südafrika bangt man vor den Bildschirmen. „Wenn Becker gegen Curren antritt, wird
der Youngster aus Westdeutschland gegen einen Mann kämpfen, der mythische Ausmaße
angenommen hat, er lässt es Asse und Service
Winner regnen, als schleudere Zeus Blitze aus
dem Olymp hinab“, tönte die amerikanische
Zeitung The Day. Curren nimmt den noch aufsteigenden Ball beim Service extrem früh, spielt
giftige Winkel, ist kaum zu lesen. Einmal hatten er und Becker schon miteinander trainiert,
im März 1985. Gesprochen wurde in den 90 Minuten kaum. „Als ich auf den Platz ging, war
es sehr heiß. Die Bälle werden schnell fliegen,
dachte ich. Becker habe ich kaum angesehen.
Mir fiel nur einmal mehr auf, wie groß und muskulös er ist“, sagt Curren später der Welt. Becker
legt es seinerseits darauf an, gesehen zu werden. Er setzt auf psychologische Kriegsführung
- und sei es nur, um sich selbst zu pushen.
„Man sieht hier, ich überhole Curren beim Gang
auf den Platz, das war mir wichtig, da schon
Entschlossenheit zu zeigen, vor meinem Gegner
den Platz zu betreten“, erklärt er, als er sich das
Finale 2010 zusammen mit Benjamin von Stuckrad-Barre noch einmal anschaut. „Kevin Curren
hat die Wahl gewonnen, und ich habe mir noch
gedacht, warum wählt denn der damals weltbeste Aufschlagspieler Rückschlag - was für‘n
Schwächling!“
Um 14:09 Uhr geht es los. Becker spielt seine
Spielchen, geht beim Seitenwechsel demonstrativ auf Konfrontationskurs, unterbricht beim
Aufschlag des Gegners. Etikette? Da wird gejammert und gemosert, nicht so publikumswirksam wie ein McEnroe, aber eben doch hörbar.
Da fliegt er auch schon mal mit seinem patentierten Becker-Hecht in den Dreck und trägt den
Staub des ausgetretenen Centre Courts wie ein
Ehrenabzeichen. „Ich bin ins Match gegangen
und dachte: Er ist 17. Wenn ich mein Spiel spiele, dann wird er sich selbst zerstören. In diesem
Alter wird er den Druck spüren und sein Level
nicht für vier Stunden halten können.“ Curren
ist sich seiner Sache sicher. Schließlich hatte Becker in der Trainingsstunde mindestens so viele
dämliche Fehler ausgepackt wie gute Schläge.
Dazu kommt es aber nicht. „Angst spüre ich
keine“, so Becker. „Ich fühle mich eher wie ein
Rennpferd in der Startmaschine.“ Der Aufschlag
kommt, wie „Raketen der Wehrmacht“ (danke,
englische Presse!). 6:3 geht der erste Satz an
Becker. Nicht mehr weit bis zur persönlichen
Mondlandung.
Doch die 13.118 Zuschauer - in Boschs Buch sind
es 14.433 - auf den Sitzen müssen noch ein paar
Stunden ausharren - kampflos gibt sich sein
Gegner nicht geschlagen. 4:2 führt Becker schon
im Tiebreak des zweiten Durchgangs, dann legt
Curren fünf Punkte in Folge auf. Rückhand-Return cross auf die Linie, bei Satzball die glatte
Rückhand als Passierball die Kreide runter. Alles
wieder offen. Zu diesem Zeitpunkt ist sich Curren sicher: Ich habe ihn! Becker kämpft in Satz
drei mit seinem Spiel. Er schreit, schmeißt den
Schläger, beleidigt sich selbst als „Dummkopf“
und „Vollidiot“. Auf der Tribüne raucht Tiriac
Kette. Drei Schachteln Zigaretten werden es am
Ende sein. Doch Curren kann die sich ihm bietende Chance nicht nutzen. „Auf dem Weg ins
Finale habe ich furchtlos gespielt, so wie Becker
gegen mich. Aber im Finale spielte ich mit ein
bisschen Furcht - damit meine ich defensiver als
sonst“, lamentiert er rückblickend.
Bei Break vor für ihn im dritten Satz ist er am
Netz nicht zwingend genug, verschlägt einen
Smash. Becker kommt zurück: Starker Return,
danach die Rückhandpeitsche! 4:4! Da kommt
es wieder, das Tippeln, die Becker-Faust, die
„Becker-Säge“. Er vergibt Satzbälle gegen Currens Aufschlag, der mittlerweile nach Fehlern
auch lautstark vor sich hinflucht. Wirft sich gar
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an der Grundlinie nach den Volleys seines Gegenspielers. Es hilft nichts. Tiebreak. Die komplette rechte hintere Seite des Shirts von Becker
ist braun von Schmutz, er ist eins mit dem Centre Court. Und so spielt er auch. Brutale Aufschläge, enorme Laufleistung in der Defensive.
Und plötzlich wirkt Curren unbeholfen am Netz,
macht leichte Fehler. Sechs Satzbälle Becker. Er
vergibt gleich drei, schließlich die Vorhand vor
die Füße des heranrückenden Curren. 7:6! „Ja!“
schreit der sonst so zurückhaltende Kommentator Gerd Szepanski ins Mikrofon. „Was hat der
Junge doch für Nerven!“
Und diese Nerven hat Curren nicht. Seine stärkste Waffe, sein Aufschlag, verlässt ihn. Zu nur
48 Prozent kommt das Service beim ersten Versuch, dazu acht Doppelfehler und 21 Fehler am
Netz. „Curren konnte keinen Druck machen“,
weiß DTB-Teamchef Niki Pilic. Beckers Aufschlag
steht über das gesamte Match bei 61 Prozent. Er
verzeichnet mehr Passierschläge, mehr Smashes,
mehr Return-Winner. Frühes Break zum 1:0 im
vierten Satz - das Match ist entschieden.
sich der spätere Sieger. Nur beim Stand von 5:4,
40:15 wird es noch einmal spannend. Doppelfehler! Nerven! Die Herzogin von Kent schlägt
die Hände vors Gesicht, liebe Güte, Mutter Elvira packt den Fotoapparat noch einmal weg. Boris: „Ich habe einfach nur gebetet: Gott, gib mir
den ersten Aufschlag.“ Also noch einmal konzentrieren. Ball und Schläger vor dem Körper
angelegt, ein langer Blick über das Netz zum
Gegner, die Zunge spielt leicht um die Lippen,
unbewusst. Die wippende, schaukelartige Bewegung kommt erst später dazu. Dann der runde Ballwurf mit der linken Hand, die goldene
Uhr am Handgelenk blitzend. Oben ist der weiße Ball - gelb werden die Filzkugeln erst 1986
- der Oberkörper überstreckt, Brust raus, es hat
etwas Majestätisches.
Und dann der Moment, der ihn unsterblich
machte. „Ich haue einfach drauf.“
„Ich konnte jetzt in der Schlussphase seine
stärkste Waffe, den Aufschlag, lesen“, erinnert
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Impressum Perform Media Deutschland GmbH
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