Literaturbericht 2/2012 - TIERethik - Zeitschrift zur Mensch

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Literaturbericht 2/2012 - TIERethik - Zeitschrift zur Mensch
LITERATURBERICHT
TIERethik
4. Jahrgang 2012/2
Heft 5, S. 126-156
Die Mensch-Tier-Beziehung unter ethischem Aspekt
Literaturbericht 2/2012
Petra Mayr, Dieter Birnbacher, Silke Bitz, Andreas Brenner, Claus Günzler, Alina Omerbasic, Klaus Petrus, Cecilia Muratori, Christian Schönwetter, Clemens Wischermann
Inhalt
Vorbemerkung ........................................................................................................... 127
1. Allgemeines zum Tierschutz ........................................................................... 128
1.1 Florianne Koechlin und Denise Battaglia: Mozart und die List der
Hirse. Natur neu denken ............................................................................ 128
1.2 Marian Stamp Dawkins: Why Animals Matter: Animal Consciousness, Animal Welfare, and Animal Well-Being ........................................ 131
1.3 Hal Herzog: Wir streicheln und wir essen sie. Unser paradoxes Verhältnis zu Tieren ......................................................................................... 135
2. Philosophische Ethik ................................................................................ 137
2.1 Sue Donaldson und Will Kymlicka: Zoopolis. A Political Theory of
Animal Rights ............................................................................................ 137
2.2 Evangelos D. Protopapadakis (Hrsg.): Animal Ethics. Past and Present Perspectives ........................................................................................ 140
3. Tiere und Gesellschaft ............................................................................. 144
3.1 Kay Peggs: Animals and Sociology ........................................................... 144
3.2 Siobhan O’Sullivan: Animals, Equality and Democracy ........................... 146
4. Theologische Ethik ................................................................................... 149
4.1 Anton Rotzetter: Streicheln, mästen, töten. Warum wir mit Tieren
anders umgehen müssen ............................................................................ 149
5. Rechtsfragen und Rechtsentwicklung .................................................... 152
5.1 Kimberly K. Smith: Governing Animals. Animal Welfare and the
Liberal State ............................................................................................... 152
Literatur .......................................................................................................... 155
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Literaturbericht
Die Mensch-Tier-Beziehung unter ethischem Aspekt |
Vorbemerkung
Tierversuche haben in der Reihe der vielfältigen Tiernutzung offenbar
einen Sonderstatus. Im Gegensatz zu anderen Formen der Verwendung
von Tieren werden sie von sehr vielen Menschen aus ethischen Gründen
abgelehnt. Das mag daran liegen, dass an ihnen die Verdinglichung von
Tieren zum Objekt in offensichtlicher Weise praktiziert wird, vor allem
aber daran, dass Tieren gezielt – wenn auch im Dienste der Wissenschaft – Leiden und Schmerzen zugefügt werden. Ausgehend von Tierversuchen lässt sich die Ambivalenz unseres Umgangs mit Tieren besonders gut verdeutlichen, was sich an der Verwendung derselben Tierart in
allen Bereichen der Tiernutzung widerspiegelt. Ein Kaninchen kann sowohl als Versuchstier als auch zu Nahrungszwecken oder als Heimtier
gehalten werden. Ähnliches gilt auch für andere Tierarten. Eben jenes
eklatant ambivalente Verhältnis zu Tieren in unserer Gesellschaft ist in
der Literatur zur Mensch-Tier-Beziehung zu einem Dauerthema geworden.
Die australische Politikwissenschaftlerin Siobhan O’Sullivan kategorisiert in ihrem Buch Animals, Equality and Democracy jene Widersprüche als solche externer und interner Natur. Externe Widersprüche kennzeichnen dabei das Phänomen, dass in der Tierethik als Speziesismus
bezeichnet wird, also die Tatsache, dass Menschen Tieren einen schlechteren moralischen Status gewähren als sich selbst, während unter internen
Widersprüchen jene zu verstehen sind, wie sie oben benannt wurden, dass
nämlich die gleiche Tierart eklatant unterschiedlich behandelt wird. Diese
Ungleichheit gelte es zu beseitigen.
Auch die Soziologin Kay Peggs thematisiert die Ungleichheit. Sie legt
dabei aber einen anderen interessanten Schwerpunkt. In Animals and
Sociology stützt sie sich auf die ihrem Fach zugrunde liegenden Kategorien von Ungleichheit, wie sie bei Menschen benannt werden, so etwa auf
die Ungleichheit im Hinblick auf Geschlecht oder Klasse. Das hat zur
Konsequenz, dass bei der Gegenüberstellung der Kategorien Mensch und
Tier die Kategorie Mensch nicht mehr – wie bislang in tierethischen Ansätzen weitestgehend üblich – als homogene Gruppe betrachtet wird.
Damit zerfällt die postulierte Gleichheit von Menschen an ihrer faktischen Ungleichheit bzw. Ungleichbehandlung. Peggs zufolge unterliegen
sowohl Menschen als auch Tiere den gleichen Ausbeutungsmechanismen, die etwa wirtschaftlicher Natur sein können.
Einen Ansatz, der die Staatsbürgerschaft für Tiere rechtfertigt, findet
sich in Zoopolis. A Political Theory of Animal Rights. Sue Donaldson und
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| Petra Mayr et al.
Will Kymlicka, der sich vor allem als politischer Philosoph einen Namen
gemacht hat, analysieren die Strukturen unseres Umgangs mit Tieren und
kommen zu einem für die Tierethik einschneidenden Ergebnis. Gerade
domestizierten Tieren, die in ganz besonderer Weise zu unserer Verwendung verfügbar gemacht wurden, schulden wir die Bürgerschaft, weil sie
die Fähigkeit besitzen, ein subjektives Wohl zu haben und dieses mitzuteilen, und weil sie darüber hinaus fähig seien zu kooperieren. Donaldsons und Kymlickas Ansatz ist schon im Hinblick auf die Forderung nach
Staatsbürgerschaft für domestizierte Tiere weitreichend. Mit einer Staatsbürgerschaft für domestizierte Tiere verbieten sich für menschliche
Staatsbürger – das liegt auf der Hand – das Töten und der Fleischverzehr
von Tieren. Noch bemerkenswerter erscheinen allerdings die für die
„neuen Staatsbürger“ entstehenden Pflichten. Menschen seien nun dazu
angehalten, domestizierten Tieren, soweit dies möglich sei, vegetarische
Ernährungsalternativen anzubieten.
Zoopolis. A Political Theory of Animal Rights untersucht weder Interessen noch Fähigkeiten von Tieren, sondern vielmehr die verschiedenen
Beziehungen, in denen die Gesellschaft zu Tieren steht. Aus eben jenen
vielfältigen Beziehungen resultieren den Autoren zufolge unterschiedliche Verantwortlichkeiten und Verpflichtungen, die die Ambivalenzen im
Umgang mit Tieren weitestgehend ausräumen könnten.
1. Allgemeines zum Tierschutz
1.1 Florianne Koechlin und Denise Battaglia:
Mozart und die List der Hirse. Natur neu denken
233 S., Basel: Lenos, 2012, 23,90 EUR
Dass Tiere soziale Wesen sind, wird, so sollte man
meinen, niemand im Ernst bestreiten. Wie wenig
ernst diese Aussage über die Tiere aber eigentlich
genommen wird, zeigt ein Projekt am „Forschungsinstitut für biologischen Landbau“ (FiBL).
Das FiBL in Frick, in der Nähe von Basel, ist ein
mittlerweile international renommiertes Institut,
das Alternativen zur etablierten Landwirtschaft
erforscht. Koechlin und Battaglia haben für die Recherchen zu ihrem
Buch weite Reisen unternommen, aber auch kurze, wie eben die zum
FiBL nach Frick. Hier trafen sie Anet Spengler Neff. In ihrer Dissertation
wies Spengler Neff nach, dass das physiologische und psychische Wohl| 128 | TIERethik, 4. Jg. 5(2012/2)
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befinden von Kälbern von den Kontakten mit Menschen beeinflusst wird.
Wenn für die Kälber die erste und intensivste Begegnung mit dem Menschen während der Stanzung der Ohrmarke erfolgt, dann prägt sich diese
schockhafte Erfahrung den Tieren ein. In Großställen aufgewachsene
Kühe, die keine positiven Erfahrungen mit Menschen machen können,
reagieren entsprechend aggressiv auf den Menschen. Für Spengler Neff
ist die markante Zunahme von Fällen, in denen arglose Wanderer von
weidenden Kühen angegriffen werden, auf dieses Manko an positiven
Mensch-Tier-Begegnungen zurückzuführen.
Spengler Neff und ihre Kollegin Johanna Probst wollten es daher genau wissen und untersuchten die Wirkung von Streicheleinheiten auf das
Wohlbefinden der Tiere. Sie orientierten sich dabei an der von der kanadischen Verhaltensforscherin Linda Tellington-Jones entwickelten
„Tellington-TTouch“-Methode. Tellington-Jones erprobte ab den siebziger Jahren an Pferden systematische Streichelbehandlungen. Diese gezielten Behandlungen wandten Spengler und Probst nun während einiger
Wochen auch bei neugeborenen Kälbern an. Der Erfolg dieser Streicheleinheiten überzeugte: Gestreichelte Tiere erwiesen sich als eindeutig
weniger nervös und sogar dem Menschen gegenüber zutraulich. Selbst
auf dem Schlachthof fielen die gestreichelten Tiere durch ihre größere
Ruhe auf, und bei Bluttests fand man bei den gestreichelten Tieren weniger vom stressanzeigenden Cortisol.
Wissenschaftliche Untersuchungen dieser Art brauchen die WodaabeNomaden im Niger nicht. Die Biologin Florianne Koechlin und die Wissenschaftsjournalistin Denise Battaglia konnten sich selbst von dem innigen Verhältnis der Nomaden zu den Bororo-Zebus überzeugen. Die
Wodaabe leben in enger Gemeinschaft mit ihren Tieren, sie reden viel
mit den Zebus und teilen sogar das Essen mit ihnen: Die Wodaabe essen
die gleiche Hirse wie ihre prächtigen Tiere, nicht selten sogar aus derselben Schüssel. Die Bororo-Zebus, die ihr Leben auf diese Art mit den
Menschen teilen, sind so zahm, dass sogar sechsjährige Kinder als Hirten
arbeiten und die großen Tiere mit ihren mächtigen Hörnern mühelos beaufsichtigen können. Wie eng die Beziehung zu ihren Zebus ist, zeigt sich
auch darin, dass die Wodaabe den Stammbaum ihrer Tiere über viele
Generationen im Bewusstsein haben. Das liegt nicht zuletzt daran, dass
sich mit jedem Zebu die Erinnerung an ein Kind verbindet: Zur Geburt
erhält das Neugeborene ein weibliches Bororo-Zebu mit dem dann eine
neue Herde aufgebaut wird.
Beschreibungen wie diese ziehen sich durch das Buch von
Koechlin/Battaglia und zeigen, dass es genug Gründe gibt, „Natur neu
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| Petra Mayr et al.
(zu) denken“, wie es im Untertitel heißt. Die Biologin Koechlin, die sich
vor Jahren in ihren Büchern Pflanzenpalaver und Zellgeflüster mit der
Biokommunikation und Biosemiotik beschäftigt und die Pflanze als ein
sehr waches und aktives Beziehungswesen zu sehen gelehrt hat, geht mit
ihrem neuen Buch noch einen Schritt weiter und zeigt auf, dass man die
Natur nur wirklich verstehen kann, wenn man sie in ihrer Gesamtheit
betrachtet. Koechlin zieht hier mit ihrer begnadeten Co-Autorin Battaglia
die Lehre aus Jacob von Uexkülls Umweltlehre: Natürliche Phänomene
sind vollständig nur in ihrer Wechselwirkung mit anderen. Das zum Teil
abgedroschene Wort von der Ganzheitlichkeit macht hier Sinn: Nur wenn
wir die Wechselwirkungen von allem mit allem betrachten, werden die
Ursachen unserer Probleme sichtbar. So hat man etwa am bereits erwähnten „Forschungsinstitut für biologischen Landbau“ (FiBL) nachgewiesen,
dass natürlich gedüngte Böden als Kohlenstoffspeicher wirken, indem sie
CO2 binden. Zusätzlich lockern die Regenwürmer, die in großer Zahl in
solchen Böden vorkommen, durch ihre Tunnelbildung die Böden auf und
leisten so einen Beitrag zur Bodenfruchtbarkeit.
Ganzheitlich betrachtet erweist sich dann auch das Argument, Kühe
trügen mit ihren natürlichen Gasen zum Klimawandel bei, als falsch.
FiBL-Direktor Urs Niggli rechnet vor, dass eine markant höhere Klimabelastung durch die intensive Viehwirtschaft und die dabei anfallende
Gülle entsteht: Auf die Böden ausgebracht kann Gülle zur Freisetzung
von Lachgas führen, das 300 mal klimaschädlicher ist als CO2.
Zur Neubetrachtung etablierter Sichtweisen fordert auch der von
Koechlin/Battaglia besuchte Gorilla-Forscher Jörg Hess heraus. Hess
hatte während eines achtmonatigen Aufenthalts bei einer Familie von
Berggorillas in Ruanda die Kommunikation von Gorillas erforscht. Während sich die Gorillas im Vergleich zum Menschen als bescheiden in der
Lautbildung erweisen, beobachtete Hess, wie reich sie demgegenüber an
anderen Kommunikationsformen sind: Neben der Mimik setzen die Gorillas Düfte, Gestik, Körperhaltungen, Bewegungen und Aktionen zu
Kommunikationszwecken ein. Gemessen daran bezeichnet Hess den
Menschen als einen „Sinnesrudimentler“.
Das wohl spannendste an den vielen Naturbeobachtungen, die in diesem Buch geschildert werden und die unseren Blick auf die Natur verändern, ist wohl, dass das neue Weltbild sich fast von alleine ergibt. Wenn
man einmal sieht, wie alles mit allem zusammenwirkt, erkennt man, dass
das bisherige Denken, das stark von Hierarchien geprägt ist, geradezu
widernatürlich ist. Statt der unzähligen Abgrenzungen, mit denen wir das
Phänomen der Natur uns verständlich zu machen versuchen, erkennt man,
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dass das Denken in Verbindungen der Natur viel angemessener ist.
Koechlin/Battaglia bringen diese Erkenntnis, die sie unter anderem auch
in der riesigen ägyptischen Biolandwirtschaft Sekem erfuhren, die in der
Wüste angelegt wurde, wie folgt auf den Punkt: „So wie ein Wald oberirdisch aus einzelnen Bäumen besteht, bildet er unterirdisch eine riesige,
dicht vernetzte Lebensgemeinschaft.“
Andreas Brenner
1.2 Marian Stamp Dawkins: Why Animals
Matter: Animal Consciousness, Animal
Welfare, and Animal Well-Being
209 S., Oxford: Oxford University Press, 2012,
23,99 EUR
Das neue Buch der Verhaltensbiologin Marian
Stamp Dawkins gibt dem Leser den Eindruck, dass
eine der einflussreichsten Debatten in der Geschichte der Philosophie noch nicht zu Ende ist:
nämlich die Debatte über die Fähigkeit der Tiere
zum bewussten Wahrnehmen. Sind sich die Tiere
ihrer Wahrnehmungen bewusst, oder ist ihr Verhalten dem Funktionieren
einer Maschine ähnlich? Das Ziel von Why Animals Matter ist es zu zeigen, dass das Problem des Bewusstseins keine Rolle im ethischen Umgang mit den Tieren spielen soll. Der Grund dafür sei, dass das Entziffern
der Entstehung des Bewusstseins die Grenzen der heutigen Wissenschaft
übersteige, so dass es nicht möglich sei, das Rätsel zu lösen, das schon
Descartes’ Zeitgenossen für problematisch hielten: Sollten wir agnostisch
bezüglich des Bewusstseins der Tiere bleiben? Es ist bekannt, dass Descartes’ Position schwerwiegende ethische Folgerungen hatte: In der Tat
begleitete der Cartesianismus die Entwicklung der Vivisektion im 18.
Jahrhundert als ihre philosophische Begründung.
Stamp Dawkins meint dagegen, dass das Problem der Anerkennung
des bewussten Handelns bei Tieren beiseitegelassen werden kann, ohne
dabei auf eine tierethische Perspektive zu verzichten. Im Gegensatz dazu
würde man dadurch die Zentralität eines anderen Arguments erkennen,
nämlich dass das „Welfare“ der Tiere Hand in Hand mit dem strikt eigennützigen Interesse der Menschheit (z.B. dem Interesse an gesunden
tierischen Speisen) gehe. Natürlich ist es in diesem Kontext von zentraler
Bedeutung zu verstehen, was das Wort „Welfare“ bedeutet und in welchem Sinn die Menschen auf das „Welfare“ der Tiere achten sollen. Nach
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Stamp Dawkins seien dabei die einzigen beiden leitenden Prinzipien, dass
die Tiere gesund gehalten werden sollen und dass sie bekommen sollen,
was sie wollen, nach dem im Buch (und selbst auf Stamp Dawkins’ Website: http://users.ox.ac.uk/~snikwad/index.html; Zugriffsdatum: 4. September 2012) wiederholten Motto: „Good welfare is achieved when animals are healthy and have what they want“.
Aber was wollen die Tiere eigentlich? Stamp Dawkins plädiert dafür,
dass die Neigungen und Präferenzen jeder Spezies (z.B. in Bezug auf die
Nahrung) ‚wissenschaftlich‘ untersucht und bestimmt werden sollen um
zu verhindern, dass man sich im Umgang mit den Tieren lediglich auf
‚anthropomorphe‘ Konzeptionen stützt, die sie virulent in ihrem Buch
angreift (die Antwort von Marc Bekoff auf diesen Vorwurf ist hier
exemplarisch dargestellt: www.huffingtonpost.com/marc-bekoff/animalconsciousness_b_1519000.html; Zugriffsdatum: 4. September 2012).
Die Grundannahme scheint dabei zu sein, dass die ‚Wissenschaft‘
(und insbesondere die von Wissenschaftlern entworfenen Experimente)
den Menschen einen ‚objektiven‘ Blick auf das innere Leben der Tiere,
d.h. auf ihre Präferenzen, Neigungen, speziesgebundene Gewohnheiten
und Charakteristika, ermögliche – und das scheint m.E. weit zu ‚optimistisch‘ zu sein: Letztendlich spiegeln sich immer die mentale Welt und die
spezifische Art von Intelligenz, die Menschen besitzen, in der Konstruktion der Experimente und der Erwartung an die Ergebnisse (exemplarisch
dafür sind die Beispiele, die Stamp Dawkins selbst im Kapitel ‚What
Animals Want‘ schildert).
Darüber hinaus scheint es vom ethischen Standpunkt unzureichend,
das Leben der Tiere und das ethische Handeln auf nur diese beiden Prinzipien – gesundes Leben und spezifische Präferenzen – zu reduzieren.
Hinter dieser Annahme könnte sich nämlich die Vorstellung verbergen,
dass das Wohlbefinden, in diesem engen Sinn verstanden, das ganze Leben der Tiere ausmache: Es gäbe sozusagen nichts anderes im Leben
eines Tieres als das. Wenn man zur selben Zeit behaupten will, dass die
Wissenschaft die Geheimnisse der ‚animal consciousness‘ nicht durchdringen kann, ist dieser extreme ‚Reduktionismus‘ nicht haltbar.
In der Tat, wie Stamp Dawkins selbst bemerkt, könnten diese Prinzipien auch für den Umgang mit Pflanzen geltend gemacht werden, und
deshalb verwendet sie häufig im Buch Beispiele, die undifferenziert auf
Pflanzen und Tiere appliziert werden können (exemplarisch auf Seite
125: „The skilled caretaker, whether of cows or tomatoes, will be able to
spot the early warning and step in before any damage is done“). Hier ist
die Tendenz bemerkbar, von einem tierethischen zu einem generellen
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umweltethischen Fokus überzugehen. Die einzige klare Grenze, die
Stamp Dawkins zieht, ist diejenige zwischen Lebendigem und Nichtlebendigem.
Obwohl die Autorin den Leser auf die Unterscheidung zwischen bewusster und unbewusster Wahrnehmung aufmerksam macht, tendiert sie
letztendlich dazu, Bewusstsein und Wahrnehmung zu identifizieren, indem nicht nur das Bewusstsein, sondern auch die Wahrnehmung aus ihren Überlegungen ausgeschlossen werden. Die Folgerung ihrer Behauptung, dass man nicht versuchen soll, das Rätsel des Bewusstseins als Basis für ethisches Handeln zu verwenden, ist nämlich, dass weder die Zuschreibung des Bewusstseins noch die Fähigkeit der Wahrnehmung eine
sichere Basis für die Begründung einer Tierethik anbieten – Pflanzen und
Tiere enden damit auf der gleichen Ebene. Es gäbe als Folge keine sicheren Kriterien, um zwischen Pflanzen und Tieren oder zwischen verschiedenen Tierarten aus ethischer Perspektive zu unterscheiden. Der Mensch
sollte einfach darauf achten, gesunde Tiere (oder Pflanzen) zu züchten,
deren spezifische Lebeweise (wenn diese tatsächlich festzulegen möglich
sei) nicht zu stark beeinträchtigt wird: Dieses Verhalten würde letztendlich die größten Vorteile für die Menschen bringen und – so lautet die
These der Autorin – auch für die Tiere.
Das kann mit dem Motto zusammengefasst werden „happy chickens
are safer chickens“ (120) – es ist also offensichtlich, dass Stamp Dawkins
keinen Widerspruch darin sieht, von der Gesundheit der Tiere auch in
Bezug auf Zoos und Schlachthäuser zu sprechen, also Orten, wo der freien Entwicklung der Tiere strikte Grenzen gesetzt werden oder die sogar
den Tod der Tiere als Zweck haben. Die Tiere sollen ‚happy‘ und gesund
bleiben, bis wir entscheiden, dass wir sie essen wollen. Stamp Dawkins’
Überlegungen zum Tod (129) könnten darauf hinweisen, dass der Tod der
Tiere in den Schlachthäusern kein ethisches Problem für sie darstellt,
soweit Tiere ohne Quälerei getötet werden und sie bis zur Schlachtung
ein gesundes Leben führen konnten: „As far as animals are concerned,
‚good welfare‘ is not generally taken to mean avoiding death […]. It is
about what happens to them before they die. It is the journey, not the
destination, that counts“. Eine praktische Anwendung dieses Kriteriums
könnten die von Temple Grandin entworfenen Maschinen sein, um Tiere
zu schlachten (sie nennt diese Prozedur „humane slaughter“; vgl.
http://www.grandin.com/humane/rec.slaughter.html. Stamp Dawkins bezieht sich in ihrem Buch direkt auf Grandin, 178). Es ist darüber hinaus
daran zu zweifeln, ob z.B. die Quadratmeter ‚wissenschaftlich‘ bestimmt
werden können, die jedem Tier (z.B. in einem Zoo) zur Verfügung geLiteraturbericht
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stellt werden sollten, um sein Leben gesund zu führen (oder, besser gesagt, damit die Tiere überleben?). Hinter solchen wissenschaftlichen
Messungen könnte sich nämlich zwar keine anthropomorphe, aber wohl
eine gefährliche anthropozentrische Konzeption verbergen: die Annahme,
dass der Mensch mit seiner Wissenschaft belegen kann, wie das Leben
jedes Tieres zu bestimmen sei, damit sich die größten Vorteile für den
Menschen ergeben. Um von objektiven Vorteilen ‚für die Tiere‘ in diesem Rahmen zu sprechen, scheint zumindest eine tiefgründigere Argumentation nötig, die über die Applikation der erwähnten zwei Prinzipien
hinausgeht.
Wie schon Marc Bekoff bemerkt hat, könnte die Grundidee von
Stamp Dawkins, nach der die ethische Behandlung von Tieren unabhängig von der Zuschreibung des Bewusstseins zu machen sei, interessante
Perspektiven öffnen (vgl. im schon erwähnten Online-Artikel: „There is
something to the argument that we can have animal welfare without
consciousness […], but there is ample evidence that many other animals
are conscious and care about what happens to them […]“). Die Anwendung im Sinne von Stamp Dawkins’ ‚zwei Prinzipien‘ scheint aber eine
nicht begründete Limitierung des Lebens der Tiere auf das Wohlbefindens (in diesem engen Verständnis des Wortes) zu verbergen: Ist diese
Reduktion letztendlich die Folge des Beiseitelassens des „BewusstseinsProblems“? Wenn Tiere nur vom Blickwinkel des menschlichen Interesses aus betrachtet werden, bleibt die Annahme unbegründet (und unwahrscheinlich), dass die Tiere davon profitieren werden.
Der Leser könnte sich auch fragen, warum die Tatsache, dass die Anerkennung des Bewusstseins keine Rolle aus ethischer Perspektive spielen soll, keine Konsequenzen für den Umgang des Menschen mit anderen
Menschen haben soll. Wie die Autorin selbst sagt, kann man sich eigentlich nur des eigenen bewussten Zustandes und nie dessen eines anderen
Lebewesens sicher sein: Der ‚Sitz‘ des Bewusstseins sei nämlich wissenschaftlich unauffindbar, bei Menschen wie bei Tieren. Stamp Dawkins
erklärt aber, dass die Analogie logisch erlaubt sei, nach der ich annehmen
kann, dass mein Gehirn so wie das Gehirn aller anderen Menschen funktioniere. Man könne also schließen, dass die (meisten?) Exemplare der
Gattung ‚Mensch‘ über bewusstes Denken verfügen, während man im
Fall von anderen Tieren nicht zu diesem sicheren Schluss kommen dürfe.
Aber warum sollte man eine solche Analogie nicht ziehen dürfen, die sich
auf (größere oder kleinere) Gemeinsamkeiten zwischen den Menschen
und anderen Tierarten stützten könnte? Wenn man die Möglichkeit dieses
Gedankens ausschließt, bleibt nur eine Art der Beziehung mit Tieren: Sie
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können nur noch als Erzeuger von Gütern gesehen werden, die der
Mensch (aus)nutzt.
Cecilia Muratori
1.3 Hal Herzog: Wir streicheln und wir essen
sie. Unser paradoxes Verhältnis zu Tieren
320 S., München: Carl Hanser Verlag, 2012,
19,90 EUR
Das paradoxe Verhältnis von Menschen zu Tieren
wird dem Leser plastisch vor Augen geführt.
Kaum ein Leser dürfte sich in einer der geschilderten Situationen nicht wieder finden. Die Wahrnehmung
von
Fleisch
überschreibt
der
Anthrozoologe Hal Herzog in einem eigenen Kapitel mit „Lecker, gefährlich, eklig und tot“. Wie konträr die Ansichten
zu Fleisch sein können, verdeutlicht er mit zwei Zitaten. So äußerte J.M.
Coetzee: „Sie fragen mich, warum ich kein Fleisch esse. Ich dagegen bin
erstaunt, dass Sie den Leichnam eines toten Tiers in den Mund nehmen,
erstaunt, dass Sie es nicht eklig finden, einen zerhackten Körper zu kauen
und den Saft aus toten Wunden zu schlucken.“ Dagegen symbolisiert
Homer Simpson, eine der Hauptfiguren der Fernsehserie „Die Simpsons“,
den Inbegriff des Stereotyps, das die allem Anschein nach nicht reflektierte und sicherlich bequemere Ansicht der breiten Masse widerspiegelt:
„Alle normalen Menschen lieben Fleisch. Mit Salat macht man sich keine
Freunde.“ (191)
Mit viel Sachverstand und eigenen Erfahrungswerten führt uns der
Autor Hal Herzog, Mitbegründer der Anthrozoologie und Professor für
Psychologie an der Western Carolina Universität, in die Abgründe unseres Missverhältnisses zu Tieren. Auf der einen Seite empfinden viele
Menschen Hahnenkämpfe als Tierquälerei; auf der anderen Seite wird an
das grausame Schicksal, das das Huhn durchlebt hat, bevor es tot auf dem
Teller liegt und verspeist wird, kein emotionaler Gedanke verschwendet.
Den Ausführungen des Autors zufolge übt die Kultur den wichtigsten
Einfluss darauf aus, ob wir ein Nahrungsmittel köstlich oder abstoßend
finden. Das Tabu des Fleisches dieser Tiere basiert jedoch weniger auf
tierschützerischen Aspekten als auf einem Vorteilsdenken des Menschen.
So nimmt man an, dass Schweinefleisch für Muslime verboten ist, um sie
vor Trichinen zu schützen. Die Verehrung der Kühe bei den Hindus in
Indien könnte entsprechend darin begründet liegen, dass erkannt wurde,
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dass die Kühe beim Pflügen der Felder mehr Nutzen erbringen als als
Fleischlieferant.
1966 wurde in den USA der Animal Welfare Act (ein Tierschutzgesetz) verabschiedet. Nach Aussage des Autors sind die juristischen Winkelzüge dieses Gesetzes ein typisches Beispiel für die komplizierte Haltung des Menschen zu anderen Gattungen. Weiter wird ausgeführt, wie
seltsam die an sich klare Frage: „Was ist ein Tier?“, gesetzlich geregelt
wird. So heißt es in diesem Tierschutzgesetz „Mit dem Begriff Tier werden lebende oder tote Hunde bezeichnet, Katzen, nicht menschliche Primaten, Meerschweinchen, Hamster, Kaninchen […], die zu Forschungsoder Lehrzwecken, für Tests, Experimente, Demonstrationszwecke oder
als Haustier verwendet werden […] Die Bezeichnung schließt folgende
Arten aus: Vögel, Ratten […] und Mäuse […], die für die Verwendung in
der Forschung gezüchtet wurden“ (243f.). Der Autor merkt an, dass es
aufschlussreich sei, wie das Tierschutzgesetz Tiere, die die meisten Menschen nicht mögen, im Vergleich zu unserem besten Freund, dem Hund,
behandelt. Tote Hunde genießen demnach sogar mehr Schutz als lebendige Mäuse.
Herzog geht der Frage nach, inwieweit sich Frauen und Männer tatsächlich in ihrer Neigung zur Tierliebe unterscheiden. Einerseits bestätigt
sich das Klischee, dass Frauen in Teilen emotionaler bezüglich Tieren
sind, darin, dass nach der Erfahrung des Autors alle aktiv an Hahnenkämpfen beteiligten Personen, die er kennenlernte, Männer und eine große Mehrheit der Tierschutzaktivisten Frauen waren. Bei näherer Betrachtung kam er jedoch zu dem Schluss, dass die Unterschiede zwischen den
Geschlechtern in der Tierliebe geringer sind, als allgemein angenommen
wird. Zur Verdeutlichung nennt er verschiedene Studien, denen zufolge
in den Vereinigten Staaten etwa gleich viele Männer wie Frauen ein
Haustier haben und die Neigung, diesen an Feiertagen Geschenke zu
machen, vergleichbar ist. Einer Untersuchung von Anthrozoologen zufolge, die anhand eines standardisierten Fragebogens den Geschlechterunterschied wissenschaftlich erörtert haben, liegen Frauen in Sachen Tierliebe zwar etwas vorn, jedoch nur unerheblich.
Auf dem Bucheinband heißt es über das Werk: „Ein Parforceritt durch
das ethische Minenfeld der Mensch-Tier-Beziehungen. Nach der Lektüre
dieses Buches denken Sie nicht nur anders über Tiere, sondern auch über
sich selbst.“ Dabei straft der Autor nicht mit Vorwürfen oder mahnenden
Worten; vielmehr ist es ihm gelungen, dazu anzuspornen, über banal
erscheinende Alltagsbegebenheiten nachzudenken, die unseren – wie sich
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Die Mensch-Tier-Beziehung unter ethischem Aspekt |
zeigt – oft gedankenlosen Umgang mit Tieren angehen, ja, sogar eine
unterhaltsame Lesereise zu gestalten.
Die Kombination des Offenlegens tiefgründiger Missverhältnisse von
uns Menschen, das Lebensrecht der Tiere betreffend, mit einer ordentlichen Portion Humor erleichtert die Reflektion über das eigne Tun: eine
insgesamt empfehlenswerte Lektüre, vor allem für die Menschen, denen
bislang das menschliche Paradoxon in der Tier-Mensch-Beziehung nicht
bewusst war. Jeder kann sich leicht in die geschilderten Beispiele hineinversetzen und seine eigene Einstellung zu Tieren überdenken und im
Optimalfall im Alltag berücksichtigen. Aber auch diejenigen, die bereits
eine Lebenseinstellung haben, bei der Tiere nicht in die Gruppen „lebensbzw. liebenswert“ oder „Gebrauchsgegenstand bzw. Genussmittel“ kategorisiert werden, finden reichlich Wissenswertes. Die zahlreichen Quellenangaben bieten die Möglichkeit, je nach eigenen Interessen bestimmte
Fragen weiter zu vertiefen.
Silke Bitz
2. Philosophische Ethik
2.1 Sue Donaldson und Will Kymlicka:
Zoopolis. A Political Theory of Animal Rights
329 S., New York: Oxford University Press, 2011,
24,00 EUR
Inspiriert durch Jennifer Wolchs Idee der
„Zoopolis“ weisen die Autoren Sue Donaldson und
Will Kymlicka den Weg zu einer neuen, politischen Tierrechtstheorie. Die geteilte Annahme mit
bisherigen Tierrechtspositionen besteht darin, dass
Tiere als „vulnerable selves“ zu betrachten sind,
die ein subjektives Erleben ihres Lebens in der Welt haben. Ihre Individualität gilt es anzuerkennen und durch unantastbare negative Rechte zu
schützen. Demnach haben sie das Recht, nicht gequält, besessen, versklavt, eingesperrt oder getötet zu werden. Aber allein bei Forderungen
nach Verboten von Zoohaltung, kommerzialisiertem Tierhandel und
Tierexperimenten, den Hauptanliegen gegenwärtiger Tierrechtler, könne
es nicht bleiben.
Die üblicherweise geforderten universellen Rechte seien durch differenzierte, relationale Rechte zu ergänzen. Denn die Grundrechte von
Tieren zu akzeptieren, heiße nicht, dass man alle Formen der Interaktion
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zwischen Mensch und Tier stoppen müsse, geschweige denn könne. Bisherige Tierrechtstheoretiker haben es versäumt, unsere positiven Pflichten gegenüber Tieren anzuerkennen, welche sich aus der jeweiligen Art
der Beziehung ergeben, so die Autoren. Natürlich bestehe der erste
Schritt darin, jegliche Ausbeutung von Tieren zu stoppen; aber nun müssten wir uns fragen, wie nicht ausbeuterische Beziehungen zwischen
Mensch und Tier aussehen könnten. Sehr bedacht erläutern die Autoren,
wie Begriffe der politischen Theorie dabei helfen können, die unterschiedlichen Beziehungsformen, welche verschiedene Rechte und Pflichten implizieren, zu erfassen: Während domestizierte Tiere als Staatsbürger einer Mensch-Tier-Gesellschaft zu verstehen sind, leben Wildtiere in
ihren eigenen souveränen Gemeinschaften. „Liminal animals“ hingegen
leben als „denizens“ unter uns, ohne als vollwertige Bürger anerkannt zu
werden.
Sehr dezidiert räumen sie mit Klischees und Missverständnissen auf,
die den Begriff der Staatsbürgerschaft betreffen, und zeigen, dass zumindest domestizierte Tiere die erforderlichen Fähigkeiten besitzen, um als
eigenständige Akteure und Bürger aufgefasst werden zu können. Domestizierte Tiere seien in der Lage, ein subjektives Wohl zu haben und es
mitzuteilen, sich aktiv in eine Gemeinschaft einzubringen und zu kooperieren. Darüber hinaus haben wir sie in unsere Gesellschaft gebracht,
abhängig gemacht und ihnen somit andere Lebensformen entzogen.
Demnach schulden wir ihnen nicht weniger als die volle Mitgliedschaft in
unserer Gesellschaft. Die Bürgerschaft erweise sich als angemessenes
konzeptuelles Rahmenwerk, um über relationale Rechte domestizierter
Tiere nachzudenken. Diese umfasste dabei drei Kernelemente: Residenz,
die Aufnahme in das souveräne Volk, dessen Interessen bei der Ermittlung des Allgemeinwohls zu berücksichtigen seien, und „agency“, d.h.
die Möglichkeit, die Regeln des Zusammenlebens mitzugestalten. Aus
dieser Mitgliedschaft ergeben sich weitere Rechte, wie das Recht auf
Bewegungsfreiheit und Zutritt zu öffentlichen Plätzen. Demnach dürften
wir sie nicht einsperren, und Verbotszonen seien abzuschaffen. Wir haben die Pflicht, ihnen sichere Räume und Wege einzurichten und sie vor
Fressfeinden, Unwetter, Krankheiten und Unfällen zu schützen. Darüber
hinaus sei die Nutzung tierischer Produkte auf das Maß zu beschränken,
das die betreffenden Tiere selbst vorgeben, beispielsweise auf wenige
Eier oder etwas Wolle. So hätten auch sie die Möglichkeit, ihren Beitrag
zum Wohl der Allgemeinheit zu leisten, aber eben nur so weit, wie sie
können. Zumindest in westlichen Gesellschaften stelle der Verzicht auf
die kommerzielle Nutzung tierischer Produkte kein Problem dar, da ge| 138 | TIERethik, 4. Jg. 5(2012/2)
Literaturbericht
Die Mensch-Tier-Beziehung unter ethischem Aspekt |
nügend Alternativen vorhanden seien. Die Autoren kommen zu dem erstaunlichen Schluss, dass man letztlich auch domestizierten Tieren Ernährungsalternativen schmackhaft machen müsse, denn ihr Bürgerschaftsstatus fordere, dass auch sie auf den Verzehr von Fleisch verzichten. Dies
sei wiederum nur bei Katzen problematisch, da sie die einzigen Karnivoren unter unseren domestizierten Tieren seien. Das sind nur einige der
weitreichenden Veränderungen, die mit der Zuschreibung der Bürgerschaft in einer gemischten Mensch-Tier-Gesellschaft einhergehen. Der
Bürgerschafts-Ansatz habe den Vorzug, dass er die fundamentale Gleichheit aller Mitglieder der Gesellschafft betone und zeige, dass die Antwort
auf die bisherige Situation nicht in der Reduktion von Fürsorge liegen
könne – ganz im Gegenteil.
Wildtiere hingegen seien unabhängig vom Menschen, und in der Regel suchen sie auch nicht seine Nähe. Dennoch bleiben auch sie von den
Auswirkungen menschlichen Handelns nicht unberührt (Umweltveränderungen, Ausweitung von Acker- und Wohnflächen, Autobahnen, Flugund Schiffsrouten). Aufgrund dieses Einflusses erweise sich das von traditionellen Tierrechtlern proklamierte „let them be“ für den Umgang mit
Wildtieren als ungeeignet. Durch den Souveränitäts-Ansatz würde ihnen
das Recht zugesprochen, als autonome Gemeinschaft ein spezifisches
Territorium zu bewohnen. Darüber hinaus verbiete die Anerkennung des
Souveräns die Zerstörung ihres Lebensraumes und verpflichte uns dazu,
angemessene Vorsichtsmaßnahmen zu erarbeiten, um Schädigungen zu
reduzieren (Verlagerung von Reiserouten etc.). Die Souveränität wilder
Tiere zu respektieren, heiße, ihre Autonomie zu wahren und Raum zu
bieten, in dem ihre Gemeinschaften wachsen und florieren können.
Gleichzeitig grenze dies unsere Pflichten im Sinne von positiven Interventionen und Hilfeleistungen gegenüber Wildtieren ein. Es gebe durchaus akzeptable Formen der Intervention, die ihre Souveränität nicht verletzen, aber diese beschränken sich auf Hilfeleistungen für verletzte Tiere
oder die Fütterung einzelner Individuen. In der Praxis sei noch viel zu
klären, beispielsweise wie eine faire (Um-)Verteilung des Territoriums
aussehen könne (dies erweist sich selbst im Fall menschlicher souveräner
Gemeinschaften als Herausforderung) oder wie die Risiken bei überlappenden Territorien zu verteilen seien. Dennoch gebe es keinen Grund,
Wildtiere nicht als souveräne Gemeinschaften aufzufassen und ihr Interesse an der Aufrechterhaltung ihres sozialen Gefüges und Territoriums
nicht vor menschlichen Übergriffen zu schützen.
Die bisherige Dichotomie zwischen domestizierten und Wildtieren
ignoriere sogenannte „liminal animals“, also Wildtiere wie Mäuse,
Literaturbericht
TIERethik, 4. Jg. 5(2012/2) | 139 |
| Petra Mayr et al.
Waschbären, Tauben und Eichhörnchen, die sich an ein Leben in
menschlicher Umgebung angepasst haben und davon profitieren. Im Hinblick auf Nahrung, Unterschlupf und Schutz seien auch sie in verschieden
starker Weise vom Menschen abhängig und durch sein Handeln verletzbar. Da jedoch kein kooperatives, kommunikatives und vertrauensvolles
Verhältnis zwischen ihnen und Menschen bestehe, könnten sie nicht wie
domestizierte Tiere als Bürger aufgefasst werden. Durch dieses lockere
Verhältnis komme ihnen ein gewisser Hybridstatus zu, der mit entsprechend weniger Rechten und Verpflichtungen einhergehe. „Denizenship“
erfasse dieses Verhältnis in angemessener Weise: Wir haben nicht das
Recht, sie zu sozialisieren oder zu regieren, und sie haben keinen Anspruch auf die Vorzüge der Bürgerschaft. Wir müssen akzeptieren, dass
sie unter uns leben, und dürfen sie nicht einfach ausschließen oder töten.
Dennoch könnten wir ihre Einwanderung in die Städte durch humane
Mittel beschränken, beispielsweise durch Zäune oder aber indem man
ihnen, etwas außerhalb, attraktivere Lebensräume schafft.
Die hier ausgearbeitete Vision eines gerechten Zusammenlebens von
Mensch und Tier fordert gerade dem Menschen viel ab, und dennoch
könnte sich die „Zoopolis“, trotz tiefgreifender Veränderungen, letztlich
als Bereicherung für beide Seiten erweisen. Sue Donaldson und Will
Kymlicka haben mit diesem sehr gehaltvollen Buch jedenfalls einen bemerkenswerten Beitrag zur Tierethik geleistet und das überraschenderweise aus der sonst eher menschenfixierten politischen Philosophie.
Alina Omerbasic
2.2 Evangelos D. Protopapadakis (Hrsg.):
Animal Ethics. Past and Present Perspectives
295 S., Berlin: Logos Verlag, 2012, 29,00 EUR
Der Band ist ungewöhnlich nicht nur dadurch, dass
er zeigt, wie lebhaft inzwischen auch in Griechenland, dem Standort des diesjährigen Weltkongresses der Philosophie, tierethische Themen diskutiert
werden. Er ist ungewöhnlich auch durch die Vielfalt der Themen (jeweils zur Hälfte historisch und
gegenwartsbezogen), der Textsorten (von der systematischen Abhandlung [Warwick Fox] bis zum stilistisch geschliffenen
Essay [Roger Scruton]), allerdings leider auch der intellektuellen Qualität: Manche der historischen Darstellungen gelangen kaum über die Niveau von Seminarreferaten hinaus; andere ergehen sich in ermüdenden
kulturkritischen Rundumschlägen (Steven Best), während andere Beiträ| 140 | TIERethik, 4. Jg. 5(2012/2)
Literaturbericht
Die Mensch-Tier-Beziehung unter ethischem Aspekt |
ge konzise und anregende Argumentationen vortragen. Zu nennen sind
hier insbesondere die akribische Analyse der Äußerungen Kants zum
moralisch gebotenen Umgang mit Tieren von Filimon Peonidis (mit einer
relativen Rehabilitation Kants gegen den pauschalen Vorwurf des
Speziesmus) oder auch der Beitrag des Herausgebers zur (negativ beantworteten) Frage, ob und wie weit Tieren moralische Rechte zuerkannt
werden können und sollen. Thematisch lassen sich die meisten Beiträge
um die tierethischen Positionen von Peter Singer und Tom Regan herum
anordnen, die beide jeweils mit repräsentativen Texten vertreten sind.
Das Spektrum umfasst Begründungen für Vegetarismus und Veganismus
(Gary L. Francione, Gary Steiner), Gründe, diese Gründe zu relativieren
(Warwick Fox, Evangelos D. Protopapadakis), das Ausmaß, in dem (einige) Tiere in die moralische Gemeinschaft des Menschen aufgenommen
werden sollten, aber auch innovative Grenzgänge, wie den Beitrag von
Mark J. Rowlands, dem „Philosophen mit dem Wolf“, der die Frage diskutiert, wie weit Tieren Tugendbegriffe zugeschrieben werden können
(hier wegen ihrer Nähe zur Tugendtheorie Aristoteles’ unter den historisch orientierten Beiträgen eingeordnet). Leider verweist Rowlands den
Leser zur Begründung seiner zentralen These, dass Tiere sehr wohl moralische Tugenden (und entsprechend moralische Untugenden oder Laster)
in einem nicht nur metaphorischen Sinn zugeschrieben werden können,
auf eine andere Veröffentlichung, so dass der Leser mehr oder weniger
raten muss, aus welchen Gründen er die aristotelische Forderung für
überzogen hält, moralische Tugend setze nicht nur konsistente Verhaltens- und Motivationsmuster voraus, sondern auch die Fähigkeit, die fraglichen Motivationen bewusst zu steuern. Diese Fähigkeit ist ihrerseits
nicht ohne Selbstbewusstsein und eine bestimmte – auf den Menschen
beschränkte – Form von innerer Freiheit zu denken, mit der die Betätigung von Präferenzen aufgrund höher stufiger Präferenzen reguliert werden kann. Allerdings ist nicht auszuschließen, dass Rowlands hierbei
nicht zuletzt von den Bedeutungsunterschieden zwischen dem englischen
„moral“ und dem deutschen „moralisch“ profitiert: „Moral“ erscheint
sehr viel weniger an Reflexionsfähigkeit gebunden als „moralisch“.
Auffällig an diesem Band ist nicht nur die enorme Diversität der tierethischen Positionen, sondern auch die Diversität der Auffassungen darüber, welche deskriptiven Sachverhalte für diese Positionen jeweils relevant sind. Während Vertreter radikaler tierrechtlicher Positionen wie
Francione ausdrücklich bestreiten, dass sich dadurch, dass Tieren zwar
Bewusstsein, aber kein Selbstbewusstsein zugesprochen wird, irgendetwas an ihrem Lebenswunsch im Sinne einer Präferenz für das WeiterleLiteraturbericht
TIERethik, 4. Jg. 5(2012/2) | 141 |
| Petra Mayr et al.
ben ändert („conscious beings have an interest in not having
consciousness end“, 260), entwickelt Warwick Fox in seinem sorgfältig
argumentierenden Beitrag Gründe, hier differenzierter zu urteilen. Fox
unterscheidet zwischen zwei Arten von Schädigungen, die bewusstseinsfähige Wesen durch Tod, Verletzung oder Krankheit erleiden können:
Beeinträchtigungen ihres Wohlbefindens („pain and suffering“) und Verlust psychischer Fähigkeiten, wie der Fähigkeit zu einem zeitlich punktuellen oder zu einem zeitlich integrativen autobiografischen Selbstbewusstsein („temporally isolated sense of self-awareness“ bzw. „enduring
temporally structured sense of self-awareness“, 201). Nicht nur dadurch
können wir andere Wesen schädigen, dass wir ihnen eine Minderung
ihres Wohlbefindens zufügen („affective harm“), sondern auch durch die
Zerstörung oder Minderung ihrer Selbstbewusstseinsfähigkeit („autobiographical capacity harm“, sofern die Zerstörung oder Minderung das
zeitlich integrative Selbstbewusstsein betrifft). Da die letztere Form von
Schädigung allerdings nur bei Wesen möglich ist, die über die entsprechenden Fähigkeiten verfügen, kann bei Tieren, die in der Regel nicht
darüber verfügen, die (schmerzlose) Tötung nicht als Schädigung zählen
und deshalb auch nicht unter das Schädigungsverbot fallen. Wenn die
Tötung von Tieren moralisch unzulässig ist, dann allenfalls aus indirekten
Gründen wie der Wohlbefindensminderung bei Tieren im sozialen Umfeld des getöteten Tiers, etwa bei Menschenaffen, Meeressäugern und
Elefanten (216). Von besonderem Interesse ist dabei die Argumentation,
mit der Fox zu zeigen versucht, dass die Verfügung über ein autobiografisches Selbstbewusstsein an die Sprachfähigkeit als notwendige (aber
nicht hinreichende) Bedingung gekoppelt sei, so dass damit ein empirisches Kriterium für die für sich genommen unbeobachtbare
Selbstbewussteinsfähigkeit verfügbar werde. Anders als die entsprechende Argumentation von Jonathan Bennett in seinem Buch Rationality aus
den 1960er-Jahren argumentiert Fox nicht begrifflich, sondern empirisch,
indem er zwei (sehr kleine) Gruppen von Menschen in Augenschein
nimmt: Menschen, die entweder taub geboren sind oder in früher Kindheit ertaubt sind und erst relativ spät (in Bezug auf die normale Sprachentwicklung) die Zeichensprache gelernt haben, und Menschen, die eine
normale Sprachentwicklung durchlaufen haben, dann aber durch einen
Schlaganfall ihre Sprachfähigkeit verloren und später so viel davon wiedergewonnen haben, dass sie über die Phase ohne Sprachfähigkeit Auskunft geben können.
Das Ergebnis der Durchmusterung der Berichte von und über diese
Menschen zeigt nach Fox, dass der Verlust der Sprachfähigkeit nicht nur
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Literaturbericht
Die Mensch-Tier-Beziehung unter ethischem Aspekt |
die Äußerungsfähigkeit, sondern auch die Denkfähigkeit einschränkt und
dabei vor allem das Selbstbewusstsein und die Fähigkeit, Vergangenes
und Zukünftiges in einen zeitlichen Zusammenhang mit dem Gegenwartserleben zu bringen. Durch den Ausfall der Fähigkeit zu einer symbolischen Bezugnahme mithilfe sprachlicher Zeichen auf nicht unmittelbar zugängliche Teile des eigenen Erlebnisstroms und zeitlich entfernte
Wahrnehmungsobjekte seien das Selbstbewusstsein und die Reflexionsfähigkeit weitgehend auf die Bewusstmachung des jeweiligen Gegenwartserlebens eingeschränkt. Fox meint, diesen Zusammenhang auf Tiere
extrapolieren zu können: Soweit Tiere nicht über Sprachfähigkeit verfügen, bedeute die Tötung für sie nicht die Zerstörung einer für sie ansonsten verfügbaren Fähigkeit und damit nicht die Zufügung eines ethisch
substanziellen Schadens.
Als die den vielen Beiträgen dieses Bandes gemeinsame Botschaft
kann man vielleicht diese festhalten: Zu den wichtigsten Beiträgen, die
die Philosophie in der Tierethik leisten kann, zählen die Kritik an pauschalierendem Denken und die Anmahnung von Differenzierung. Wie
sich der biologische Artbegriff weit von der Vorstellung der biologischen
Spezies als „natural kind“ wegbewegt hat (siehe den Beitrag von Stephen
Clark zur „Ethik der Taxonomie“ in diesem Band, der u.a. zeigt, dass
bereits Aristoteles diese Vorstellung relativiert), ist Differenzierung auch
bei der Zuordnung von ontologischen und normativen Einstufungen von
Tieren unterschiedlicher Entwicklungshöhe angesagt. Descartes’ dogmatische Zweiteilung der Welt, die ihn dazu brachte, allen Wesen, die nicht
denken können, gleich auch die Empfindungsfähigkeit abzusprechen, darf
in dieser Hinsicht als krasses Negativbeispiel gelten.
Dieter Birnbacher
Literaturbericht
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| Petra Mayr et al.
3. Tiere und Gesellschaft
3.1 Kay Peggs: Animals and Sociology
177 S., Hampshire: The Palgrave Macmillan Animal Ethics Series, 2012, 81,99 EUR
Die deutschsprachige Soziologie tut sich außerordentlich schwer mit dem Mitdenken von Tieren in
sozialen Welten. Soziologie ist immer noch die
Erforschung von Strukturen und Interaktionen der
menschlichen Gesellschaft. Nun ist dies auch in der
englischsprachigen Soziologie in der Regel nicht
anders; auch dort ist die Soziologie in aller Regel
auf den Menschen beschränkt. Wo sie soziale Differenzierungen thematisiert, geschieht dies vor allem im Blick auf die
Abwertung bestimmter Gruppen von Menschen, während die Abwertung
von Tieren als quasi naturgegeben akzeptiert wird. Dennoch gibt es in
den letzten Jahren in der englischsprachigen Soziologie eine rasch wachsende, bei uns kaum bekannte Anzahl von Ansätzen theoretischer wie
methodischer Art, denen es um die Einbeziehung von „other animals“ in
die soziale Welt geht. Eine ausgezeichnete Einführung in dieses noch
unabgeklärte neue Forschungsterrain vermittelt die britische Soziologin
Kay Peggs in ihrem Buch Animals and Sociology.
Animals, um mit der auf diesem Feld immer immens wichtigen Terminologie zu beginnen, sind bei Peggs Menschen und Tiere oder „human“ und „nonhuman animals“. Das ist in den Human-Animal-Studies
gängiger Sprachgebrauch. Peggs zieht dennoch für Tiere den Begriff
„other animals“ vor. Sie begründet dies damit, dass „nonhuman“ seinen
Bezugspunkt eindeutig weiterhin beim Menschen nehme und damit die
Tiere von vornherein in eine hierarchische Unterordnung geraten. Dies
sei bei „other animals“ weniger der Fall, doch eine letztlich zufriedenstellende Terminologie sei auch das nicht. Die sprachlich bereits mitgeführten Definitionen und ihre Grenzziehungen bleiben schwierig. Erinnert sei
an Jacques Derridas Versuch einer Neuschöpfung aus „animaux“ und
„mot“ in „animot“. In der englischen Terminologie ist das Dauerproblem
die Einbeziehung welcher Lebewesen unter welche Begriffe, wobei eine
Entsprechung zum deutschen „Lebewesen“ (etwa „creature“) nicht diskutiert wird, damit natürlich auch Fragen pflanzlichen Lebens konsequent
ausgeblendet bleiben.
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Literaturbericht
Die Mensch-Tier-Beziehung unter ethischem Aspekt |
Peggs Einführung und Überblick entfalten sich in der Sprache klar
und sehr gut lesbar, in der Sache systematisch aufgebaut und immer
nachvollziehbar. Die Grundidee des Buches folgt keiner schlichten inhaltlichen Zusammenstellung von Forschungsfeldern, sondern entwickelt
einen systematisch-kategorialen Zugang zu den Mensch-TierBeziehungen aus soziologischer Sicht. Deshalb führt Peggs zu Beginn
jedes Hauptkapitels den Leser immer grundsätzlich in die jeweilige soziologische Kategorie ein (z.B. soziale Ungleichheit, Kriminalität, Raum
etc.), um dann in mehreren Suchbewegungen zu fragen, wieso bislang in
diesem Feld „other animals“ fehlen, was das in soziologischer Perspektive bedeutet, was es für Ansätze zur Überwindung dieser Ausblendung
gibt und wie weit diese bislang in theoretischer und methodischer Hinsicht tragen. Um nur ein Beispiel zu geben, so sei auf Konzepte des symbolischen Interaktionismus verwiesen: Peggs leistet eine knappe Einführung in die Begründung der menschlichen Sprachgebundenheit seiner
Grundannahmen, diskutiert die von einigen Soziologen vertretene Überwindung der Sprachgrenze in Richtung non-verbaler Kommunikation und
stellt die sich daraus ergebenden methodischen Szenarien für die empirische soziologische Forschung vor.
Animals and Sociology ist kein emotionaler Aufruf, sondern eine
nüchterne Bestandsaufnahme der aktuellen Situation in den entwickelten
Industriestaaten (mögliche globale Unterschiede in Zeit und Raum werden allenfalls am Rande berücksichtigt). Diese Nüchternheit der soziologischen Perspektive ist vor allem auf einen durchgängigen Kunstgriff der
Autorin zurückzuführen: Sie bricht systematisch die auch in den HumanAnimal-Studies noch weitgehend übliche Homogenisierung der „human
animals“ zu den Menschen auf. Für soziale Analysen ist die Ebene der
sozialen Ungleichheit zentral: Sie umfasst üblicherweise nur Menschen,
diese aber in ihrem ungleichen Wert unter Kategorien wie „class“, „race“,
„gender“ u.a. Wenn man die Untersuchung sozialer Ungleichheit nun um
„other animals“ erweitert, dann, so fordert Peggs, muss man die Kategorien um „speciesism unequalities“ erweitern. Damit wird zweierlei erreicht: Erstens kommen auch andere Lebewesen als Menschen („other
animals“, „non-human animals“) in die soziale Welt hinein. Zweitens
wird die scheinbare Homogenität der Menschen aufgebrochen –
„devalued“ sind nämlich nicht nur Tiere, sondern auch viele Gruppen
unter den Menschen. Für alle gelten vergleichbare Mechanismen der
Abwertung und Unterdrückung aus wirtschaftlicher Ausbeutung, politischer Beherrschung oder ideologischer Manipulation.
Literaturbericht
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| Petra Mayr et al.
Animal and Sociology ist weit mehr als eine Zusammenfassung des
Forschungsstandes, sondern vertritt selbst eine klare Idee, dass nämlich
der Soziologie die „other animals“, die nichtmenschlichen Lebewesen
fehlen. Peggs erläutert die Gründe, die zu diesem fehlenden Blick geführt
haben, sowie die Konsequenzen und bleibt bei eindeutigem eigenem
Standpunkt immer sachlich und unpolemisch. Was erstaunt, ist das weitgehende Fehlen der aktuellen Diskussion um Agency, Subjektivität und
Selbst. Zu „Animal Selves“ gibt es gerade einmal eine Seite, aber die
streift das eigentliche Problem nur. Während dem Einfluss des symbolischen Interaktionismus auf Mensch-Tier-Ansätze berechtigter Raum eingeräumt wird, kommen die Konsequenzen der empirischen Studien, nämlich die Etablierung eines tierischen Selbst, praktisch nicht vor. Dagegen
argumentieren etwa Alger, Irvine oder Sanders, manche Tiere seien nicht
nur zu symbolischer Interaktion mit Menschen fähig, sondern auch zur
Entwicklung eines „Core-Self“ in Analogie zu Phänomenen der menschlichen Selbst-Bildung. Leider klärt uns die Autorin über die Gründe ihrer
Selbst-Beschränkung, die einen gravierenden Tabubruch in der Subjektdefinition diskutieren könnten, nicht auf.
Clemens Wischermann
3.2 Siobhan O’Sullivan: Animals, Equality and
Democracy
213 S., Hampshire: Palgrave Macmillan, 2011,
74,99 EUR
Unser Umgang mit Tieren, so Siobhan O’Sullivan,
werde von wenigstens zwei Ungereimtheiten geprägt. Die eine betrifft das Verhältnis zwischen uns
Menschen und anderen Tieren. Dieser externe Widerspruch („external inconsistency“) kommt etwa
dann zum Ausdruck, wenn wir gleichermaßen
empfindungsfähige Wesen nur deshalb anders behandeln, weil einige von ihnen der Spezies homo sapiens angehören, die
anderen dagegen bloß Tiere sind. Es sei diese Art von Ungereimtheit –
üblicherweise auch „Speziesismus“ genannt –, mit der sich die Tierethik
in den letzten Jahrzehnten besonders auseinandergesetzt hat. Allerdings
mit bescheidenem Erfolg, wie O’Sullivan meint. Für sie ist die Vorstellung, dass sich der Mensch grundsätzlich von allen übrigen Tieren unterscheidet und daher moralisch mehr zählt als sie, derart tief in uns verankert, dass sich auf absehbare Zeit bezüglich des externen Widerspruchs
nichts Grundsätzliches ändern wird.
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Literaturbericht
Die Mensch-Tier-Beziehung unter ethischem Aspekt |
Die zweite Ungereimtheit bezeichnet O’Sullivan als internen Widerspruch („internal inconsistency“). Er betrifft die ungleiche Art und Weise,
wie wir mit nichtmenschlichen Tieren umgehen. Auch das ist im Grunde
ein längst bekanntes Phänomen: Während wir einige von ihnen hätscheln
und vermenschlichen, sperren wir andere ihr Leben lang ein, mästen und
schlachten sie. Dabei betrifft diese Ungereimtheit nicht bloß unterschiedliche Tierarten, die wir den (von Menschenhand gezimmerten) Kategorien „Haustiere“ und „Nutztiere“ zuordnen, wie etwa Hunde und Schweine. Vielmehr trifft sie auch unseren Umgang mit Tieren derselben Art,
die in entsprechend unterschiedliche Rubriken fallen, wie zum Beispiel
Hunde, die je nach dem als „Haustiere“ gehalten werden oder als „Labortiere“.
Es ist dieser zweite Typus von internem Widerspruch, den O’Sullivan
vor allem im Visier hat. Dabei geht es ihr in einem ersten Schritt um eine
möglichst umfassende Liste von Kategorien, denen wir Tiere gemeinhin
zuordnen (Kapitel 2). Das Spektrum reicht von „Wildtieren“ über „Versuchstiere“ und „Masttiere“ bis hin zu „Haustieren“. Wie O’Sullivan zu
Recht hervorhebt, stehen hinter diesen Kategorien jeweils unterschiedliche Verwendungszwecke, die wir an Tiere herantragen. Von Bedeutung
sind dabei offenbar der ökonomische sowie der soziale Nutzen, den wir
uns von Tieren versprechen. Darin jedenfalls sieht O’Sullivan den zentralen Unterschied zwischen „(landwirtschaftlichen) Nutztieren“ und „Haustieren“ – ein Unterschied, der sich nicht zuletzt darin niederschlägt, dass
wir erstere primär als Objekte betrachten und damit als mehr oder weniger anonyme Masse, die im Zuge der Industrialisierung für uns immer
unsichtbarer wurde.
Nach Ansicht von O’Sullivan gibt es nun zwischen dem Grad der
Sichtbarkeit von Tieren und ihrer Stellung vor dem Gesetz einen klaren
Zusammenhang (Kapitel 3): Während (die meisten) „Haustiere“ in unserer Gesellschaft auch medial in einer Art Rampenlicht stehen und juridisch einen vergleichsweise guten Status haben, sind Tiere, die ihr Leben
hinter verschlossenen Türen in Zuchtanlagen oder Versuchslabors verbringen müssen, gesetzlich kaum oder nur unzureichend geschützt, wie
die Autorin anhand zahlreicher Beispiele darlegt (Kapitel 4). Dabei ist sie
sich bewusst, dass diese Unterscheidung Ausnahmen zulässt (so etwa
Tiere, die für Wettkämpfe gebraucht werden). Das ändert allerdings
nichts an O’Sullivans These, dass gerade dieser Zusammenhang zwischen
Unsichtbarkeit und mangelndem Tierschutz Ausdruck des von ihr monierten internen Widerspruchs ist, der – wie oben angedeutet – darin bestehen kann, dass wir Hunde, die als „Haustiere“ Teil unserer Familie
Literaturbericht
TIERethik, 4. Jg. 5(2012/2) | 147 |
| Petra Mayr et al.
sind, grundlegend anders behandeln als Hunde, an denen unsere Kosmetika getestet werden.
Für O’Sullivan ist diese Art von Ungereimtheit nicht bloß in moralischer, sondern auch in demokratiepolitischer Hinsicht äußerst prekär
(Kapitel 5). Denn gerade in liberalen Gesellschaften, die sich als Demokratien verstehen, stellt das Prinzip der gleichen Berücksichtigung
(„equal consideration“) eine Grundlage fairen Zusammenlebens dar. Interne Widersprüche wie der eben genannte unterminieren jedoch dieses
Gleichheitsprinzip auf dermaßen eklatante Weise, dass BefürworterInnen
der Demokratie nachgerade aufgerufen sind, sich grundlegend mit diesen
Ungereimtheiten zu befassen. Gemäß O’Sullivan sollte diese Auseinandersetzung dazu führen, dass der Umgang, den wir typischerweise mit
„Haustieren“ pflegen, zum Standard für alle Tiere wird, denen gegenüber
der Mensch Nutzungsansprüche erhebt.
O’Sullivans Buch besticht durch die Fallstudien, mit denen sie die unterschiedlichen Grade der Sichtbarkeit von Tieren in unserer Gesellschaft
belegt. Nicht minder aufschlussreich ist ihre Analyse insbesondere der
amerikanischen und australischen Tierschutzgesetze, die tatsächlich einen
Zusammenhang zwischen Unsichtbarkeit und mangelndem Schutz tierlicher Interessen nahelegen. (Ähnliches ließe sich wohl auch für die Tierschutzgesetze in Deutschland, Österreich und der Schweiz zeigen.)
Weniger überzeugend ist indes O’Sullivans Erklärungsanspruch bezüglich der unterschiedlichen Typen von Ungereimtheiten. So bleibt unklar, weshalb die Kategorisierung von Hunden etwa in „Haustiere“ und
„Versuchstiere“ leichter aufzuweichen ist als jene von Hunden in „Haustiere“ und Schweinen in „Nutztiere“, wie O’Sullivan das anzunehmen
scheint. Hier wie dort sind es institutionalisierte und damit auch gesellschaftlich akzeptierte Verwendungszwecke, die irgendwelche Tiere zu
erfüllen haben und die insbesondere auch die emotionale Nähe festlegen,
die wir gegenüber Tieren haben (dürfen).
Gerade bei „Haustieren“ scheint viel dafür zu sprechen, dass es die
persönliche Beziehung ist, die überhaupt erst eine moralische Verpflichtung konstituiert; um welche Art von Tier es sich dabei handelt, ist sekundär bzw. wiederum kulturell bedingt. Auch wäre zu fragen, wie scharf
der Unterschied zwischen externem und internem Widerspruch in unserem Umgang mit Tieren tatsächlich ist. Sofern die interne Ungereimtheit
maßgeblich darauf beruht, dass Tiere unterschiedlichen Rubriken zugeordnet werden, steht dahinter auch die Vorstellung des Menschen, dass es
Sinn und Zweck der Tiere ist, für ihn da zu sein. Diese Idee wiederum
gründet in einer Haltung, die sich über lange Zeit hinweg zu einer
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Die Mensch-Tier-Beziehung unter ethischem Aspekt |
speziesistischen Ideologie verdichtet hat und die nicht zuletzt auch in
dem von O’Sullivan so genannten externen Widerspruch zum Ausdruck
kommt. Falls dem aber so ist, gibt es – anders, als O’Sullivan suggeriert –
nur wenig Anlass zur Hoffnung, dass sich der interne Widerspruch aufheben lässt, ohne zugleich auch am externen Widerspruch zu rütteln.
Klaus Petrus
4. Theologische Ethik
4.1 Anton Rotzetter: Streicheln, mästen, töten.
Warum wir mit Tieren anders umgehen müssen
197 S., Freiburg, Basel, Wien: Verlag Herder,
2012, 14,99 EUR
Bücher, die maßgebliche Fragen der Tierethik in
einfacher Weise an das Alltagsbewusstsein herantragen wollen, haben seit einigen Jahren Konjunktur, und im Regelfall zielt ihre didaktische Absicht
auf einen Einstellungswandel durch Aufklärung ab.
Auch Anton Rotzetter verfährt so, tut dies in klarem Bekenntnis zum biblischen Schöpfungsgedanken und leitet daraus für sich den Vegetarismus als Lebensform ab. Prima
facie klingt das dogmatisch, ist es aber nicht, denn im Anschluss an den
Moraltheologen Franz Böckle geht Rotzetter von dem Grundsatz aus,
dass es „im Bereich der Ethik keine unfehlbaren Entscheidungen des
kirchlichen Lehramts geben könne“ und auch “die theologische Argumentation ebenso sachlich wie überzeugend sein“ müsse (76f.). An diesem Anspruch orientiert sich das Buch in dialogisch offener, kompromissfähiger Weise, wertet die Vertreter kontroverser Positionen nirgendwo ab und bemüht sich auch in der Behutsamkeit der Sprache um ein
unaufdringliches Plädoyer für die christliche Dimension des Tierschutzes.
Es verwundert nicht, dass Rotzetter sich als Kapuziner-Mönch und
Mitbegründer des Instituts für theologische Zoologie an der KapuzinerHochschule in Münster schon im Vorwort auf Franz von Assisi als seinen
Kronzeugen für den Respekt vor der Subjekthaftigkeit des Tieres beruft;
doch zunächst einmal stehen nicht solche grundlegenden Orientierungen
im Vordergrund, sondern repräsentative Beispiele für das moralische
Versagen im Umgang mit Tieren, und die werden in eine Reihe kleiner
Geschichten aus der eigenen Erfahrung des Autors verpackt.
Literaturbericht
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| Petra Mayr et al.
Dieser narrative Ansatz wendet sich erklärtermaßen an den interessierten Laien, nicht an den Wissenschaftler, den der Autor auf seine einschlägigen akademischen Arbeiten verweist. Unter didaktischem Vorzeichen leuchtet diese elementarisierende Verfahrensweise ein, denn kleine,
prägnante Geschichten haben den Vorzug, den nachdenklichen Leser in
vertrauter Alltagssprache vom konkreten Fall zu dessen ethischem Kern
hinzuführen. Allerdings gilt es dabei auch das Risiko zu meiden, um der
didaktischen Intention willen die Komplexität der Sachverhalte in unzulässiger Weise zu verkürzen. Diese Gratwanderung gelingt dem in der
Ich-Form abgefassten Buch nicht immer, wohl aber im ersten von vier
Kapiteln, das unter dem Thema „Wie wir mit Tieren umgehen“ einen von
konkreten Situationen ausgehenden Überblick über ethisches Fehlverhalten gegenüber Tieren bietet.
Hier kommen die zentralen Fragen nach Tierversuch, Tierhaltung,
Tiertransport, Schlachten, Schächten und Fleischkonsum ebenso zur
Sprache wie der ökonomische Missbrauch ökologischer Argumente, so
etwa bei neuerlichen Versuchen, das Verfüttern des verbotenen Tiermehls
wieder zuzulassen, um den Anbau von Ersatzprodukten wie Soja einzustellen und so den tropischen Regenwald mitsamt der dortigen Bevölkerung zu schonen. Rotzetter deckt die Scheinheiligkeit solcher Argumente
ruhig und klar auf, plädiert für „eine Rückkehr zu regionalen und naturnahen Produktionsabläufen“ (28) und postuliert folgerichtig eine drastische Absenkung des Fleischkonsums als allein tragfähige ethische Lösung. Ergänzt werden die einzelnen Themen jeweils durch instruktive
Statistiken, aufbereitet von Annette Maria Forster, und so entsteht ein
Kapitel, das den Leser mit klaren Fakten und intensiven Fragen in den
Bann tierethischer Argumente hineinzieht.
Leider vermag der Autor den Spannungsbogen, den er im Eingangskapitel aufbaut, in den drei nachfolgenden, weitaus knapperen Kapiteln
nicht aufrechtzuerhalten, und dies hat seinen Grund erkennbar darin, dass
sich der Erzählstil nicht bewährt, wo es um begriffliche Klarheit und
systematische Linien geht. Der Versuch, im 2. Kapitel „einige Aspekte
einer modernen Tierethik“ darzulegen (75), liest sich zwar flüssig und
erläutert auch etablierte Termini wie den „ökologischen Fußabdruck“
oder das „virtuelle Wasser“, entbehrt aber einer deutlichen Unterscheidung divergierender tierethischer Ansätze, so zum Beispiel in der Frage
nach dem Tier als Rechtsträger. Analog dazu werden auch unterschiedliche Positionen der Denkgeschichte (Aristoteles, Descartes, Kant, Bentham u.a.) in wenig markanter Weise vorgestellt, und ein Biozentriker
wie Albert Schweitzer findet nur knappe Erwähnung (98, 122), obschon
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Die Mensch-Tier-Beziehung unter ethischem Aspekt |
Rotzetter immer wieder auf die „Ehrfurcht vor dem Leben“ rekurriert und
daher den argumentativen Hintergrund dieser plakativen Formel hätte
verdeutlichen müssen. Hier wirkt manches oberflächlich und aneinandergereiht, das heißt, was eine moderne Tierethik ausmacht, wird nicht sachbezogen dargestellt, sondern erzählerisch an die eigene Erfahrung geknüpft.
Auch die politische Frage nach einer lebens- und tierfreundlichen Gesellschaft (Kap. 3) zerrinnt in dieser Weise zu einer Addition von Informationen über Tierschutzorganisationen, über kirchliche Gruppen, regionale Initiativen und nicht zuletzt über den christlichen Beitrag zur Geschichte des Tierschutzes, wobei all dies mit dem Nachdruck von Texten
unterfüttert wird, die der Autor für frühere Anlässe verfasst hat. Das alles
ist nicht unwichtig, doch es fehlen die klaren gedanklichen Linien und
vor allem konkrete Vorschläge für die Förderung des postulierten Mentalitätswandels. Wer in Elternhaus, Schule oder Jugendarbeit von der Thematik gefesselt ist, erhält nicht die Hilfe, die ein Buch bieten sollte, das
sich mit didaktischem Anspruch an eine breite Öffentlichkeit wendet.
Nicht zuletzt wird das täglich virulente Problem von schneller Forschung
und langsamer Ethik ausgeblendet, die Frage also, wie die Ethik auf Forschungsresultate antworten soll, auf die sie nicht vorbereitet ist, und hier
hätte dem Autor eine sorgfältige Aufarbeitung ethischer Prinzipien sicherlich helfen können.
Einen von mehreren möglichen Ansätzen dazu bietet das vierte und
letzte Kapitel unter dem Thema „Gott liebt die Tiere“. Hier zeigt Rotzetter exegetisch überzeugend auf, dass „die totale Verkommerzialisierung
des Lebens dem Grundanliegen der Bibel“ widerspricht (163) und in die
„spirituelle Depression“ führt (178). Demgegenüber schreibt er dem biblischen Schöpfungstext eine befreiende, das Dilemma der
konsumistischen Industriegesellschaft überwindende Kraft zu, verweist
nachdrücklich auf das Leitmotiv der Mitgeschöpflichkeit, auf die Zusammengehörigkeit und „geschwisterliche Verbundenheit aller Kreaturen“ (176) und fordert von den Kirchen überall dort eine maßgebliche
Rolle, wo es um Menschen- und Tierrechte geht. Dieses Plädoyer für
Empathie, Mitgefühl und Mitleiden erwächst bei Rotzetter aus Franz von
Assisis Vision einer lebensfreundlichen und gewaltlosen Welt, und da er
diese Vision in einem konzilianten, niemals polemischen Stil zu praktischen Postulaten verarbeitet, wird selbige auch ein Atheist - in Distanz zu
den biblischen Sinnfundamenten - in einen vernünftigen Diskurs einbeziehen können.
Literaturbericht
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Lesenswert ist dieses Buch also, weil es sich in vielen interessanten
Detailfragen dem Alltagsdenken verpflichtet weiß und nach Antworten
sucht, die diesem einleuchten. Außerdem bietet es ein reichhaltiges
Spektrum an instruktiven Informationen, fördert damit das Wissen, das
dem Werten vorausgehen sollte, und vermag so, das persönliche Nachdenken anzuregen. Seine Schwäche liegt darin, dass die Neigung zum
Narrativen und wohl auch zur Selbstbezüglichkeit die begriffliche Klarheit überlagert, die gedankliche Struktur behindert und so gelegentlich
den Eindruck eines eklektizistischen Potpourris hervorruft. Wer persönlich angesprochen werden will, ist hier gut aufgehoben; wer strukturierte
Zusammenhänge sucht, eher nicht.
Claus Günzler
5. Rechtsfragen und Rechtsentwicklung
5.1 Kimberly K. Smith: Governing Animals.
Animal Welfare and the Liberal State
207 S., Oxford, New York: Oxford University
Press, 2012, 30,99 EUR
Wie viel Tierschutz verträgt der Staat? Oder anders gefragt: Inwieweit dürfen ethisch legitime
Tierschutzziele im liberalen Rechtsstaat auch
zwangsweise durch Gesetze durchgesetzt werden?
Diese Fragen beleuchtet die Rechtshistorikerin
Kimberly Smith aus der Sicht der liberalen Staatsphilosophie. Ausgangspunkt ist der rechtsstaatliche Grundsatz, dass der
Staat Freiheitsrechte einzelner Bürger nur einschränken darf, soweit dies
aus Gründen anderer Bürgerrechte oder zum Schutz überragender Gemeinwohlbelange geboten ist. Wie aber ist der Schutz der Tiere mit dieser Lehre vereinbar? Wenngleich westliche Verfassungen im Kern auf
menschliche Interessen zugeschnitten sind, wurden von der Verantwortung für zukünftige Generationen bis hin zum ethischen Selbstzweck der
Tiere verschiedene Wege gefunden, um Tiere zu schützen. Heute haben
in allen westlichen Staaten Regeln zum Schutz der Tiere Eingang in die
Gesetze gefunden, die die Grenzen zulässiger Haltung regeln.
Die Frage nach der theoretischen Begründung versucht Smith mit einer modifizierten Vertragstheorie („social contract theory“) deskriptiv zu
beantworten. Da die strengen Vertreter dieser Theorie (allen voran John
Rawls) auf die freie Entscheidung vernünftiger und mündiger Bürger
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Literaturbericht
Die Mensch-Tier-Beziehung unter ethischem Aspekt |
abstellen, um die Rechtsordnung im Staat zu rechtfertigen, scheint es
zunächst widersprüchlich, auch Tiere als eigenständige Vertragspartner
zu betrachten. Es bedürfe aber, so Smith, einer Erweiterung des Sozialvertragsbegriffes, um auch Lebewesen zu erfassen, die ihre Stimme nicht
bei entsprechenden Verhandlungen abgeben können. Da im Rahmen dieser Theorie ohnehin nur eine fiktive Aushandlung demokratischer Kraftverhältnisse im Staat nachgezeichnet werden könne, sei es möglich und
sogar geboten, hierbei auch nicht rechtsfähige Personen und Tiere mit
ihren Interessen und Grundbedürfnissen zu berücksichtigen. So spielen
Tiere als Wirtschaftsgüter ebenso wie als Sozialpartner eine wichtige
Rolle im Spiel gesellschaftlicher Interessen. Daher seien, so die Autorin,
jedenfalls vom Menschen gehaltene Tiere, also Heim- und Nutztiere,
sowie zu Tierversuchen verwendete Tiere als soziale Akteure zu berücksichtigen. Durch diese Betrachtung seien auch leicht die faktisch vorhandenen Unterschiede im Schutzniveau zwischen den Kategorien gehaltener
Tiere und Wildtiere zu erklären.
Darüber hinaus fordert die Autorin eine tiefgehende Reform der bestehenden Mensch-Tier-Beziehung: Dies umfasst zum einen das Tier als
Eigentumsgegenstand. Dabei trennen westliche Rechtssysteme streng
zwischen Personen und Sachen. Dabei kommen nur menschliche Personen als Träger subjektiver Rechte in Frage, nicht aber Tiere. Die Autorin
zeigt, dass es unsere besondere Beziehung zu Tieren gebietet, diese Aufteilung zu überdenken und Tiere als Sonderkategorie aufzufassen (vgl.
erste Ansätze in § 90a BGB: „Tiere sind keine Sachen“). Derzeit werden
Tiere mangels hinreichender Sonderregelungen weithin noch als Sachen
behandelt, auch wenn vermehrt Aspekte des Tierwohls diskutiert werden,
etwa die Zusprache eines Umgangsrechtes mit Haustieren bei Ehescheidungen (Umgangsrecht). Nach Ansicht der Autorin sollten hier mehr die
Pflichten des Halters gegenüber dem Tier betont werden und das Tier als
eine Art Sondereigentum qualifiziert werden, für das der Halter wie ein
rechtlicher Betreuer einzustehen hat. Im deutschen Recht findet sich ein
vergleichbarer Ansatz eines durch Tierschutzpflichten eingeschränkten
Eigentumsrechtes, der allerdings weiter ausgebaut werden muss.
Darüber hinaus ist die Stellung von Tieren in Rechtsstreitigkeiten zu
stärken, die derzeit ja sprichwörtlich „nicht klagen“ können. Hier wäre
eine Form der Repräsentation einzuführen. Smith leitet hier ein eigentumsähnliches Recht eines Tieres an sich selbst aus dem Common Law
her („equitable self ownership“), wonach das Tier etwa Begünstigter
eines Sondervermögens sein kann. Aus deutschsprachiger Sicht scheint
aber eher ein Ausbau bzw. Transfer bereits existierender Institute richLiteraturbericht
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tungsweisend, etwa die Ausstattung staatlich benannter Tierschutzbeauftragter mit einer Prozessstandschaft in bestimmten Verfahrenszweigen
(vgl. als Modelle auch die Tierschutzobmänner in Österreich oder den
ehemaligen Tieranwalt Zürichs). Alternativ könnte auch eine allgemeine
Verbandsklage für Tierschutzorganisationen zu einer besseren Durchsetzung von Tierschutzinteressen führen.
Ihren Höhepunkt erreicht die Arbeit, wo sie Lösungsansätze zu konkreten gesellschaftlichen Problemen anbietet: Anhand des Beispiels von
Hundekämpfen und Tieropfern im religiösen Kontext wird dargelegt,
dass härtere Strafen alleine erfahrungsgemäß nicht zu größerem Tierwohl
führen. Wenn die Akzeptanz der Tiere als fühlende Wesen ausbleibe,
werde es vielmehr weiterhin zu einem Aufrechnen von Tierwohl gegen
menschliche Interessen kommen. Vorzugswürdig seien Modelle, die
scheinbar gegenläufige Interessen gleichermaßen stärken und zu einer
allgemeinen Verbesserung der Mensch-Tier-Beziehung führen. Dies wird
eher durch Bildungsprogramme und andere Förderung erreicht als durch
Zwang. Als Beispiel nennt sie Bildungsprogramme und die Verknüpfung
mit sozialen Problemen, z.B. bei paralleler Tier- und Kindesmisshandlung in prekären Verhältnissen. Der Staat solle sich mehr auf die fördernden Aspekte beziehen, um den Tierschutz praktisch zu stärken. Es erscheint überzeugend, dass die Stellung des Tieres in der Breite gestärkt
werden könnte, wenn der Staat auch hierfür aktiv werben würde, z.B.
durch Verbraucherschutzempfehlungen, oder Tierschutzaspekte auch mit
der Sozialarbeit verknüpfte, wie etwa bei der Problematik des „Animal
Hoarding“. In Deutschland ist zumindest theoretisch mit der Aufnahme
des Staatsziels Tierschutz im Grundgesetz ein Schritt in die Richtung
gelungen, das Tierwohl als bedeutenden Gemeinwohlbelang in den Fokus
zu bringen.
Kritisch anzumerken ist der kulturell geprägte Standpunkt der Autorin. Der Ansatz, nur dem Menschen nützliche bzw. angenehme Tiere als
Teil des Sozialkontraktes zu betrachten, ist aus ethischer Sicht fragwürdig. Letztlich führt er zu einer anthropozentrischen Aufteilung in drei
Klassen: nützliche Tiere, Wildtiere und so genannte Schädlinge. Während
Wildtiere als „Freiwild“ neutral zu behandeln sind, in den Grenzen des
Artenschutzes aber der Jagd unterliegen, würden als gesellschaftsschädlich eingestufte Tierarten gänzlich aus dem Tierschutz herausfallen. Hier
klingt die nationalsozialistische Verurteilung von „Volksschädlingen“ als
unerwünschte Lebewesen mit. So wie heute eine unveräußerliche Würde
für alle Menschen anerkannt ist, müssen alle fühlenden Lebewesen einen
Mindestschutz vor unnötigem Leid genießen, der selbstverständlich auch
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Literaturbericht
Die Mensch-Tier-Beziehung unter ethischem Aspekt |
vom Staat geschützt und verteidigt werden muss. Es handelt sich also
nicht nur um eine reine „Moralobligation“, wie Smith es an dieser Stelle
darstellt. Hier hätte man sich den Blick über die rein deskriptive Staatslehre hinaus gewünscht und ein klares Statement, dass die Ethik es
grundsätzlich verbietet, Mitgeschöpfe außerhalb dieses Leidensschutzes
zu stellen.
Abgesehen davon sind die Ansätze zur besseren Integration des Tierschutzes im liberalen Staat weitgehend instruktiv. Der hohe ethische
Standard im Rechtsstaat gebietet es danach, Tieren einen erhöhten
Schutzstatus zu verleihen, der sich nicht in jedem Falle menschlichen
Interessen zu beugen hat. Sicherlich eher an ein Fachpublikum gerichtet,
verleiht die Arbeit Tierschutzfragen wissenschaftlichen Rang, beleuchtet
aber zugleich auch Fragen, die im alltäglichen Leben für jedermann von
großer Bedeutung sind. Insbesondere hinsichtlich der Förderung von
integrativen Ansätzen liefert die Arbeit neue Ideen. Ein großes Verdienst
ist es zudem, dass die Autorin ernsthaft versucht, auf dem Wege einer
wissenschaftlichen Arbeit ein von mehr gegenseitigem Verständnis geprägtes Verhältnis von Mensch und Tier zu kreieren.
Christian Schönwetter
Literatur
Donaldson, Sue und Kymlicka, Will (2011). Zoopolis. A Political Theory of Animal
Rights. New York: Oxford University Press, 329 p., ISBN-13: 978-0199599660,
24,00 EUR
Herzog, Hal (2012). Wir streicheln und wir essen sie. Unser paradoxes Verhältnis zu
Tieren. München: Carl Hanser Verlag, 320 S., 19,90 EUR
Koechlin, Florianne und Battaglia, Denise (2012). Mozart und die List der Hirse. Natur
neu denken. Basel: Lenos, 233 S., ISBN-13: 978-3857874246, 23,90 EUR
O’Sullivan, Siobhan (2011). Animals, Equality and Democracy. Hampshire: Palgrave
Macmillan, 213 p., ISBN-13: 978-0230243873, 74,99 EUR
Peggs, Kay (2012). Animals and Sociology. Hampshire: The Palgrave Macmillan Animal
Ethics Series, 177 p., ISBN-13: 978-0230292581, 81,99 EUR
Protopapadakis, Evangelos D. (Hrsg.) (2012). Animal Ethics. Past and Present Perspectives. Berlin: Logos Verlag, 295 p., ISBN-13: 978-3832529994, 29,00 EUR
Rotzetter, Anton (2012). Streicheln, mästen, töten. Warum wir mit Tieren anders umgehen müssen. Freiburg, Basel, Wien: Verlag Herder, 197 S., 14,99 EUR
Smith, Kimberly K. (2012). Governing Animals. Animal Welfare and the Liberal State.
Oxford, New York: Oxford University Press, 207 p., ISBN-13: 978-0199895755,
30,99 EUR
Stamp Dawkins, Marian (2012). Why Animals Matter: Animal Consciousness, Animal
Welfare, and Animal Well-Being. Oxford: Oxford University Press, 209 p., ISBN-13:
978-0199747511, 23,99 EUR
Literaturbericht
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Korrespondenzadresse
Dr. phil. Petra Mayr
Deisterstraße 25 B
31848 Bad Münder am Deister
E-Mail: mayr@tierethik.net
www.TIERethik.net
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