Love is a stranger

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Love is a stranger
Love is a stranger
„Wir wollen mehr Demographie wagen.“
- Willy Brandt
von Michael Helming (30.11.2006, 10:22 Uhr)
Strumpfsocken. Beide tragen sie nichts als Strumpfsocken, während im Hintergrund ein
der GEZ unbekanntes Fernsehgerät seine seichte Abendschmelze aus
öffentlich-rechtlichem Bildungsauftrag und gelispelter Moderation ins Halbdunkel des
Raumes ergießt. Die Sendung ist keinesfalls von Belang - oh nein, in diesem Moment ist
nichts auf der Welt von Belang - und der Ton dröhnt allein deshalb in übermäßiger
Lautstärke aus dem Apparat, um so wenigstens notdürftig die pornophonen Geräusche
aus den Tiefen der Matratzengruft zu kaschieren. Anthropologisch betrachtet ist das
Stöhnen eines der ältesten Zeichen überhaupt. Wir interpretieren jene unwillkürlichen
(aber stimmhaften) Luftentweichungen entweder als Ausdruck des Leidens oder als
Ausdruck der Lust, immer aber als Zeichen für Kontrollverlust, der ja wiederum ein
Gütesiegel für qualitativ hochwertigen Sex sein soll. Die Wände der Wohnung sind
dünn wie Latex und danket dem Bauherrn, dass allein Schallwellen sie durchdringen
und nicht auch neugierige Blicke.
Wir erinnern uns: zu Beginn des dritten nachchristlichen Jahrtausends starb die so
genannte Spaßgesellschaft in ihren Stiefeln. Alles, was den Menschen einst wirklich
Freude bereitete, ist seitdem entweder langweilig, moralisch bedenklich, kein Teil der
Schnittmenge „Konsumschrägstrichmediengesellschaft“ oder einfach der
Gesundheit nicht dienlich. Auch der klassische Geschlechtsverkehr hat Imageprobleme,
mal wegen Aids, mal wegen diverser Sexualstraftäter und dann wieder wegen dem
wohlstandsbedingten Bevölkerungsrückgang. Die Situation ist - wie das Leben
heutzutage allgemein - höchst paradox. Die Tatsache, dass es überhaupt noch Menschen
gibt, dass wir also noch so etwas wie Geschichte schreiben dürfen, verdanken wir jenen
Bürgern in Strumpfsocken, die tief in ihrem Inneren Tiere geblieben sind.
Homo sapiens, von Natur aus minderbemittelt und den meisten anderen Lebewesen
hoffnungslos unterlegen, verdankt sein Überleben und seinen Chefposten im Tierreich
vor allem einem hypertrophen Gehirn, will sagen, einer übergroßen Phantasie, die ihm
einfach in allen Bereichen des Lebens hilfreich ist. Um das zu verdeutlichen, ergeht an
den Leser in diesem Augenblick - während SIE ihr Becken kreisen lässt - die
Aufforderung, sich eine Schlange im Abfluss vorzustellen. Kein anderes Säugetier kennt
eine vergleichbare Anzahl von Kosenamen, geilen Metaphern, Paarungspositionen und
Lustpraktiken. Ist es den Trieben dienlich oder zumindest nicht hinderlich,
Strumpfsocken zu tragen, dann bleiben die Dinger an. Der Mensch denkt eben, wenn er
denn denkt, meist pragmatisch und just in diesem Moment übrigens rammt SIE ihre
Fingernägel in seine angespannte Rückenmuskulatur. Über Gedanken und
Wunschbilder, die in dem hier brodelnden Sekret- und Hormoncocktail entstehen
mögen, können Leser und Autor nur wage Vermutungen anstellen. Die Idee einer
emotionalen Ursuppe drängt sich auf und das führt uns natürlich zum Schweiß. Für
gewöhnlich ist Schweiß eine geächtete Flüssigkeit, doch beim Geschlechtsverkehr ist sie
geradezu erwünscht. Wo alle Teile der Maschine gut geschmiert sein sollen und die
Kolben permanent unter Dampf stehen, da würde nicht einmal der Gestank von
ranzigem Katzenfett stören. Dreht euch unaufhaltsam, ihr heiligen Räder! Der Sieg ist
nah!
Da aus den weiter oben genannten Gründen längst nicht mehr unter allen deutschen
Dächern so fleißig gearbeitet wird wie hier, zumindest nicht in der Weise, wie es für die
Erhaltung der Art erforderlich scheint, knattert nun auch hierzulande erneut die gute,
altbekannte Propagandamaschine. Zur besten Sendezeit erklärt da eine
Bundesfamilienministerin - selbst Mutter von sieben Kindern - dass sie mit dem neuen
Elterngeld mehr als doppelt so viel verdienen würde wie im Parlament, wenn sie sich
doch nur entscheiden könnte, ab 2007 noch zehn weitere Male abzukalben. Aber
irgendwo sind halt überall Grenzen. Das muss selbst die fruchtbare Ursula, der
Muttermund der Nation, zugeben. Auch die prallsten Brüste können nicht unendlich
viele Mutterkreuze tragen. Tagtäglich jedoch dringen neue Pro-Sex-Schlagzeilen ein, ins
geeinte Deutschland (und auch in andere europäische Länder, die unter einer ähnlich
zurückhaltenden, demographischen Entwicklung stöhnen). Da wird verkündet, dass
Menschen mit Kindern viel glücklicher sind und länger leben, als kinderlose. Eine
Studie behauptet, dass Tageslicht angeblich die Lust auf Sex steigert und man könne,
dürfe und müsse deshalb ja nun eigentlich rund um die Uhr pimpern. Interessant auch
die Nachricht, dass besonders weibliche Wesen mit wechselnden Sexualpartnern eine
höhere Lebenserwartung haben sollen, als monogame. Letztere Erkenntnis wurde
allerdings durch Beobachtungen an Beutelratten gewonnen, aber wen stört das. Die
körperliche Liebe ist uns Menschen so fremd geworden, da dürfen wir uns auch den
Nager zum Vorbild nehmen.
Eine weitere Meldung besagt notabene, dass Sex in Strumpfsocken besonders
ausdauernd sein soll und der Leser sei hiermit angeregt, diese Aussage entweder für
wahr zu halten oder ihren Wahrheitsgehalt möglichst zeitnah einer empirischen Prüfung
zu unterziehen. SIE hat derweil reichlich Hautpartikel von seinem Rücken unter ihren
Fingernägeln gesammelt, ER produziert eifrigst Grunzlaute und das Programm auf der
Mattscheibe ist inzwischen beim Spielfilm angekommen. In „Die
Liebessklavin“ erwischt eine Sozialpädagogin im Klimakterium ihren Mann
beim Seitensprung mit seiner Sekretärin. Geschockt, fährt sie sich und ihre zwei
pubertierenden Kinder mit einer Edelkarosse in den Graben. Sie überlebt nur durch
einen glücklichen Zufall und schwerverletzt. Ein Arzt, eine Krankenschwester, eine
Psychologin und ihr Mann, die sich im Krankenhaus um sie bemühen, nehmen sexuelle
Beziehungen zueinander auf und am Ende befreit eine Schwangerschaft die
Krankenschwester von einem unverarbeiteten Trauma. Ein dilettantischer Softporno,
den der Sender gegen Ende der Siebzigerjahre einkaufte, als der damalige Intendant
regelmäßig zu ausufernden Männerbesäufnissen auf dem Schloss eines französischen
Fernsehproduzenten weilte. Voilà l´affaire.
Jetzt liegt ER auf dem Rücken, SIE hat sich sozusagen nach oben gearbeitet und
praktiziert eine Bewegung, die in der einschlägigen Ehehygieneliteratur als
Aphroditenwippe bezeichnet wird. An dieser Stelle könnten wir einen alten
Göttermythos nach dem anderen bemühen, ohne müde zu werden. Die Götter haben halt
Spaß daran, Menschen zu verführen - mag das auch zu Verwicklungen und wahrhaft
tragischen Heldensagen führen. Sollte man da nicht jedem Monotheismus misstrauen?
Was soll man von Göttern halten, die nicht vögeln?
Noch bevor ER und SIE - natürlich gleichzeitig - die Glocken bimmeln hören können,
hören sie zu mindest eine Glocke, nämlich die an der Wohnungstür. Zunächst bestrebt,
diese Störung zu ignorieren, fahren sie in ihrer Tätigkeit fort, doch das Klingeln braust
schnell zum akustisch tosenden Sturm auf, so dass SIE schließlich aus dem Sattel steigt
und ihre Blöße mit Textilien zu bedecken sucht, während ER nackt, unbefangen und
semierigiert zur Tür trottet. Von irgendwoher dringt leise ein Best-of-Album der
Eurythmics durchs hymenhafte Mauerwerk.
Draußen im Flur steht ein Pulk Nachbarn. Offensichtlich besteht im Kreis der
Hausgemeinschaft dringender Diskussionsbedarf, die Geräuschkulisse innerhalb der
Wohnanlage betreffend, und der sowohl kontrovers wie auch dezidiert geführte Diskurs
spannt sich thematisch vom Lautstärkepegel bis hin zur Art der Laute. Es wird auf die
Hausordnung verwiesen, mit der Polizei gedroht und eine Mutter von drei
schulpflichtigen Kindern mahnt empört, doch bitte auch - gerade mit Bezug auf Sitte
und Anstand - an den Nachwuchs zu denken.
An dieser Stelle scheint ER nun - immer noch nichts als Strumpfsocken am Leib - seine
Blutzirkulation wieder weitgehend von der Beckenregion in den Kopf verlagert zu
haben. Vielleicht nicht ganz wahrheitsgetreu, dafür jedoch äußerst schlagfertig,
versichert ER den verdutzten Nachbarn, in den vergangenen Stunden an nichts anderes
gedacht zu haben, als an Nachwuchs. Dann schließt ER sachte die Tür, stellt die Klingel
auf stumm und kehrt zurück an den Ort, an dem SIE auf ihn wartet. Zum Sendeschluss
schließlich dröhnt die Nationalhymne aus dem Fernseher und nicht nur im Dom zu
Speyer erklingen die Glocken.
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