Am Anfang war das Chaos

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THEMA Miniklassik
Anfang und Ende
Am Anfang war das Chaos
Schüler und Schülerinnen malen zu Joseph Haydns Schöpfung
Frigga Schnelle
Musik in der Grundschule 4/2008
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KLASSE 3-6
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Drittklässler malen ihre Eindrücke beim Hören von
Joseph Haydns Musik und erläutern sie anschließend.
Klassische Musik gehört nicht gerade zu der
von Grundschülern favorisierten Musikgattung.
Anlässe, wie die diesjährige Fußballeuropameisterschaft, auf der sehr oft die Deutsche Nationalhymne mit der Musik Joseph Haydns zu hören
war, haben viele Musiklehrer genutzt und die
Geschichte des Deutschlandliedes und damit
auch das Leben des Komponisten Joseph Haydn
zum Unterrichtsthema gemacht (Lebensdaten
und Bilder zu Joseph Haydn sind in der Musik in
der Grundschule 4/2007 zu finden).
Ein weiteres Musikstück oder die erste Begegnung
mit der Musik Joseph Haydns können die Schüler
mit dem Malen zu einem Musikausschnitt aus
dem Oratorium Die Schöpfung erfahren.
Wer darüber hinaus das Thema „Joseph Haydn
und seine Musik“ noch vertiefen möchte, kann
auf den Beitrag „Haydns Abschiedssinfonie“
in der Musik in der Grundschule 2/2004 zurückgreifen.
Das Chaos
„Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde: die Erde aber war wüst und wirr. Finsternis lag über
der Urflut …“. So beginnt das Buch Genesis über
die Erschaffung der Erde. Dieser Bibeltext bildet
die Grundlage für Joseph Haydns Oratorium Die
Schöpfung. In seinen letzten Lebensjahren
schrieb Haydn überwiegend sakrale Werke.
Während der Aufenthalte in London hatte Haydn
die großen Oratorien Georg Friedrich Händels wie
den Messias kennen gelernt, die ihn so beeindruckten, dass er sich vornahm, selbst etwas
Derartiges zu komponieren. Zwischen seinem 65.
und 70. Lebensjahr schrieb er die Oratorien Die
Schöpfung und Die Jahreszeiten. Am 29. April
1798 dirigierte Haydn sein Werk im Palais
Schwarzenberg in Wien. Eine zweite Aufführung
fand am nächsten Tag statt.
Der erste Teil des Werkes schildert das Entstehen
von Himmel, Erde, Donner, Blitz, Wolken und
Sterne. Der zweite widmet sich der Erschaffung
der Tiere und des Menschen. Im dritten Teil wird
vom Paradies und von Adam und Eva berichtet.
Der programmatische Titel „Das Chaos“ zur Einleitung der Schöpfungsgeschichte passt beim ersten
Hören so gar nicht zur Musik
23. Chaos in
der Sprache der Schüler bedeutet Unordnung,
Durcheinander wie im unaufgeräumten Kinderzimmer. Für Kinderohren klingt die Musik Haydns
kein bisschen chaotisch/durcheinander. Fremd
schon eher, denn klassische Musik ist nicht gerade die von Schülern häufig gehörte Musik. Es ist
für Kinder auch schlecht nachvollziehbar, dass
Haydn bei seiner Komposition einen anderen
Chaosbegriff zu Grunde gelegt hat. In der Theogonie des griechischen Dichters Hesiod (ca. 700 v.
Chr.) ist das Chaos der Urzustand der Welt:
„Wahrlich, zuerst entstand das Chaos und später
die Erde …“. Das Chaos besitzt in diesem Mythos
Ähnlichkeit mit dem Nichts und der Leere. So
heißt „Chaos“ auch eine tiefe Bergschlucht auf
der Peloponnes, denn etymologisch hängt das
Wort mit dem griechischen xaivw (= klaffen,
gähnen) zusammen (aus Wikipedia, der freien
Internetenzyklopädie zum Chaosbegriff). „Haydns
Musik ist ein komponiertes Nichts“, resümiert
Clemens Kühn in seiner Abhandlung über Haydns
„Chaos“ im Unterricht (siehe Clemens Kühn in:
Diskussion Musikpädagogik 38 [2008], S. 9).
Bevor die Malphase begann, wurden folgende
Durchführungsanweisungen erteilt:
Jeder Schüler soll für sich malen oder
zeichnen.
Die Malutensilien Papier, Tuschkasten, Pinsel
und Tuschbecher liegen oder stehen einsatzbereit vor jedem Kind.
Der Hörauftrag wird klar formuliert: Hört
euch die Musik genau an! Achtet darauf,
welche Bilder ihr beim Hören der Musik
habt! Malt ein passendes Bild!
Während des Musikvortrags nehmen die
Kinder Hörhaltung ein – die Arme und der
Kopf liegen auf dem Tisch, die Augen sind
geschlossen und Hände und Füße haben
„Sendepause“. Es wird nicht geredet.
Nach dem Hören beginnen die Schüler sofort
mit dem Malen und Zeichnen, dabei ist die
Musik die ganze Zeit über zu hören.
Das erste Mal Hören fand in einer sehr angenehmen ruhigen Atmosphäre statt. Die Kinder konnten sich sofort auf die Musik einlassen und hörten konzentriert zu. Nach etwa fünf Minuten, als
die ersten Schüler unruhig wurden, blendete die
Lehrerin das Musikstück langsam aus und die
Malphase begann. Bei der Arbeit durfte nicht ge-
Das Chaos malen
Das Malen zu Musik hat in den letzten Jahren einen festen Platz im Musikunterricht der Grundschule gefunden. Es gibt nur wenige Kinder, die
nicht gerne malen oder zeichnen. Beim Musik
Hören entstehen oft Bilder im Kopf. Diese, ohne
vorherige Diskussion und Gedankenaustausch,
aufs Papier zu bringen, bedeutet, den Musikeindruck unbeeinflusst wiederzugeben. Decken sich
die Bilder der Kinder mit den musikalischen Bildern von Haydn? Eine interessante Frage.
Die folgende Unterrichtssequenz wurde in einer
dritten Klasse mit 27 SchülerInnen durchgeführt.
Die Kinder kennen das Malen zur Musik, haben
aber im Unterricht noch nie etwas von Joseph
Haydn gehört.
Hörbeispiel 23
auf der CD:
23 Joseph Haydn:
Die Schöpfung –
„Das Chaos“ (Ausschnitt)
Arbeitsblatt
Aufgabe 1
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redet werden. Die Musik lief die ganze Zeit über
wie bei einer Warteschleife – diesmal das ganze
Musikstück. Einem Schüler fiel das sogar auf und
er fragte, ob das Musikstück nicht beim ersten
Mal kürzer war.
Einige Schüler waren bereits nach zwanzig Minuten fertig, der Großteil beendete die Arbeit kurz
vor Stundenschluss. Die schnellen Kinder erhielten mit dem Arbeitsblatt die Möglichkeit zur
schriftlichen Reflexion.
Die vielfältigen Ergebnisse zeigen, welche unterschiedlichen Bilder die Musik bei den Kindern
hervorgerufen hat.
Vier Kinder malten gegenstandslose Bilder
wie Punkte, Striche oder Ähnliches.
Acht Kinder zeichneten Gegenstände wie
Häuser, Tiere und Menschen.
Sieben Kinder malten Planeten und Himmelsgestirne, was sicher daran lag, dass die
Klasse im Sachunterricht gerade das Thema
Planeten behandelte.
Ein Kind zeichnete ein Filmgeschehen und
kommentierte es durch Sätze.
Einem Kind fiel gar nichts ein – es gab ein
leeres Blatt ab.
Das gemalte Bild erklären
In der nächsten Musikstunde wurden die Bilder
nebeneinander gelegt und von allen Kindern betrachtet, während die Musik noch einmal erklang.
Einige Erläuterungen zu den Bildern:
„Ich habe ganz viele Bilder gesehen. Da
habe ich gedacht, das ist Musik zu ganz
vielen Filmen. Aber dann wusste ich, das ist
die Musik zur unendlichen Geschichte.“
„Der Anfang ist so laut. Das ist bestimmt der
Urknall. Dann wird es ruhiger.“
„Mir ist nichts eingefallen. Ich habe einfach
nur eine gelbe große Sonne gemalt.“
„In meinem Kopf war eine Insel, eine
Schatztruhe, eine Palme und eine Blume.
Die habe ich gemalt.“
„Viele Planeten im Weltall. Das habe ich
gemalt.“
„Das Laute am Anfang sind die roten und
schwarzen Striche. Das Meer und das Boot
kommt danach.“
Alle Bilder und Äußerungen wurden als richtig
und gleichberechtigt stehen gelassen. Trotzdem
kam es bei den Schülern mit den Weltallbildern
zu einem Siegergefühl, als sie den Musiktitel und
die Intention Haydns erfuhren. Alle waren sehr
daran interessiert, etwas über den Komponisten
zu erfahren.
Fazit
Die Drittklässler haben sich sehr gut auf die unbekannte Musik einlassen können. Sie hatten
alle Freude am Malen und arbeiteten ruhig und
konzentriert an ihrem Bild. Das Thema „Planeten“ wurde kurz vorher im Sachunterricht behandelt und war sicher in einigen Schülerköpfen
noch so präsent, dass die Bilder beim Hören der
Musik in diese Richtung gelenkt wurden, denn es
ist schon erstaunlich, wie viele Kinder Weltallbilder malten. Die Schüler sind es gewohnt, dass
fächerübergreifend ein Themenkreis bearbeitet
wird. In diesem Fall war es aber bloßer Zufall.
Die Kinder wollten natürlich wissen, welche Bilder der Komponist im Kopf hatte und waren keineswegs erstaunt, als sie erfuhren, dass der Musiktitel „Das Chaos“ heißt und den Anfang der
Schöpfungsgeschichte schildert. Verwundert
waren sie eher darüber, dass die Melodie des
Deutschlandlieds von Joseph Haydn stammt. Für
die nächsten Stunden wurde die Geschichte der
deutschen Nationalhymne angekündigt.
Dieser Beitrag ist in ähnlicher Form in Diskussion
Musikpädagogik 38 (2008) erschienen.
Bild links: Verschiedene Schülerergebnisse
einer dritten Klasse
Musik in der Grundschule 4/2008
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Arbeitsblatt
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1) Malen zur Musik
Name: ____________________________________________________
Hier kannst du dein Bild noch einmal mit Buntstiften zeichnen.
Wenn dein Bild einen Namen hat, schreibe ihn hier auf.
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Das bedeutet das Bild:
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Wie hat dir die Musik gefallen? Begründe deine Meinung!
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Musik in der Grundschule 4/2008