Fahrlässigkeitsdelikte (KK 514-542) - strafrecht

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Fahrlässigkeitsdelikte (KK 514-542) - strafrecht
Vorlesung Strafrecht AT (WS 14/15)
Juristische Fakultät der Universität Freiburg
Institut für Kriminologie und Wirtschaftsstrafrecht
Prof. Dr. Roland Hefendehl & MitarbeiterInnen
§ 26: Fahrlässigkeitsdelikte
I.
Begriff und Erscheinungsformen der Fahrlässigkeit
Im Regelfall ist gem. § 15 StGB nur ein vorsätzlich begangenes Verhalten strafbar. Bestimmte
Rechtsgüter schützt das Strafrecht aber auch gegenüber einer fahrlässigen Verletzung bzw. Gefährdung durch besondere gesetzliche Anordnung der Fahrlässigkeitsstrafbarkeit (z.B. §§ 222, 229,
315c III Nr. 2 StGB; 316 II StGB). Bei der Fahrlässigkeitstat verwirklicht der Täter den gesetzlichen
Tatbestand ungewollt, weil er die im Verkehr erforderliche Sorgfalt pflichtwidrig außer Acht gelassen
hat (Wessels/Beulke/Satzger AT Rn. 656; Kindhäuser AT § 33 Rn. 5).
1.
Begriff der Fahrlässigkeit im Strafrecht
Der Begriff der Fahrlässigkeit ist im Zivilrecht durch einen obj. Sorgfaltspflichtverstoß und die obj.
Vorhersehbarkeit des Erfolgseintritts gekennzeichnet. Es ist allgemein anerkannt (vgl. Otto AT § 10
Rn. 4 ff.), dass der strafrechtliche Fahrlässigkeitsbegriff nicht mit dem Begriff im zivilrechtlichen Sinne gleichgesetzt werden kann. Denn beide Rechtsgebiete haben unterschiedliche Funktionen:
-
Im Zivilrecht geht es um den Ausgleich eines Schadens, der daraus entstanden ist, dass eine
Person nicht die Sicherheitsstandards eingehalten hat, die der Verkehr erwarten durfte.
-
Im Strafrecht geht es dagegen um die Frage, ob dem Täter sein Verhalten auch zum Vorwurf
gemacht werden kann. Konnte es der Täter nach seinen individuellen Kenntnissen und Fähigkeiten nicht erkennen oder vermeiden, dass sein Verhalten zur Tatbestandsverwirklichung
§ 26
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führt, ist ihm insoweit strafrechtlich kein Vorwurf für sein Verhalten zu machen. Nur bei Vorliegen der objektiven und der individuellen Komponente kann der Täter wegen eines Fahrlässigkeitsdelikts strafbar sein.
Bsp.: Der Fahrschüler F fährt während seiner ersten Fahrstunde den Passanten P an und verletzt
diesen. F hatte noch versucht zu bremsen, schaffte dies jedoch nicht mehr rechtzeitig, weil er – im
Umgang mit dem Auto noch unsicher – zunächst die Kupplung trat, bevor er in die Bremse ging.
-
Das Verhalten von F war obj. pflichtwidrig und daher im zivilrechtlichen Sinne fahrlässig.
Denn F war gem. § 1 II StVO verpflichtet, sein Verhalten so auszurichten, dass kein anderer
geschädigt wird.
-
Gleichwohl ist F nicht wegen § 229 StGB strafbar. Denn im Hinblick auf seine individuellen
Kenntnisse und Fähigkeiten war ihm die Vermeidung des Zusammenstoßes nicht rechtzeitig
möglich.
Über die obj. Komponente hinaus ist daher auch eine individuelle Komponente der Fahrlässigkeit
(im strafrechtlichen Sinne) zu fordern.
Vertreter der Lehre von der individuellen Vermeidbarkeit (Otto AT § 10 Rn. 14 ff.) gehen sogar soweit, dass allein schon die individuelle Fahrlässigkeitskomponente genügt.

Der Täter haftet nur, wenn er auch individuell in Ansehung seiner Kenntnisse und Fähigkeiten einen Sorgfaltspflichtverstoß begangen hat. Für die Strafbarkeit ist daher irrelevant, ob
dieser individuelle Sorgfaltspflichtverstoß auch obj. Sorgfaltspflichtmaßstäbe verletzt.

Kommt ohne die Ausnahme der h.M. aus, wonach überdurchschnittliche Kenntnisse und Fä§ 26
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higkeiten des Täters bei der obj. Sorgfaltspflichtverletzung zu berücksichtigen sind.
Θ
Nur aufgrund eines obj. Maßstabs kann bestimmt werden, in welchem Umfang sich der Täter
um die Erlangung bisher nicht vorhandener Kenntnisse bemühen muss.
Bsp. (nach Kindhäuser LPK § 15 Rn. 84): Ein Marder beschädigt den Bremsschlauch am Wagen
des Kfz-Mechanikers M. Infolge der defekten Bremsen kommt es zu einem Unfall, bei dem der Passant P verletzt wird. – Nach seinen individuellen Fähigkeiten hätte M den Schaden am Bremsschlauch entdecken können, wenn er nur den Wagen vor Fahrtbeginn gründlich untersucht hätte.
Ob eine solche Untersuchung aber zu erwarten ist, kann nur unter Rückgriff auf einen obj. Sorgfaltsmaßstab beantwortet werden.
2.
Die Unterscheidung zwischen bewusster und unbewusster Fahrlässigkeit
Nur auf Strafzumessungsebene bedeutsam ist die Unterscheidung zwischen bewusster und unbewusster Fahrlässigkeit.
-
Unbewusst fahrlässig handelt, wer die gebotene Sorgfalt außer Acht lässt und daher den
Tatbestand eines Strafgesetzes verwirklicht, ohne dies zu erkennen (Wessels/Beulke/Satzger AT Rn. 661).
-
Die Bestimmung des Begriffs der bewussten Fahrlässigkeit ist im Hinblick auf die Abgrenzung zum Eventualvorsatz umstritten (vgl. § 10 KK 149 ff.). Nach h.M. (RGSt 76, 115; BGHSt
36, 1; Fischer StGB § 15 Rn. 13) handelt bewusst fahrlässig, wer den Eintritt des tatbestandlichen Erfolgs zwar als möglich erkannt hat, aber (pflichtwidrig) ernsthaft auf dessen Ausblei§ 26
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ben vertraut.
3.
Fahrlässigkeit und Leichtfertigkeit
Bedeutung für die Frage der Strafbarkeit bereits dem Grunde nach hat dagegen die Unterscheidung
zwischen Fahrlässigkeit und Leichtfertigkeit. Einige Vorschriften (z.B. §§ 138 III, 251, 306c StGB)
verlangen ein leichtfertiges Verhalten des Täters. Leichtfertig handelt, wer die im Verkehr erforderliche Sorgfalt in ungewöhnlich hohem Maße verletzt (Wessels/Beulke/Satzger AT Rn. 662). „Leichtfertigkeitsdelikte“ stellen damit höhere Anforderungen an die Strafbarkeit als „normale“ Fahrlässigkeitsdelikte. Denn lassen letztere schon einfache und normale Fahrlässigkeit ausreichen, verlangen
„Leichtfertigkeitsdelikte“ einen groben Sorgfaltspflichtverstoß.
II. Der Tatbestand des fahrlässigen Begehungs-Erfolgsdelikts
1.
Der Aufbau des Fahrlässigkeitsdelikts
Zum Aufbau des Fahrlässigkeitsdelikts werden der ein- und der zweiteilige Fahrlässigkeitsbegriff
vertreten. Einigkeit besteht zwischen beiden Ansätzen darüber, dass die obj. Komponente der Fahrlässigkeit dem Tatbestand zuzuordnen ist. Unterschiedliche Auffassungen bestehen dagegen über
die systematische Einordnung der individuellen Fahrlässigkeitselemente.
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a) Zweiteiliger Fahrlässigkeitsbegriff
Nach h.M. (Wessels/Beulke/Satzger AT Rn. 658; Jescheck/Weigend AT S. 565) wird die individuelle Komponente der Fahrlässigkeit der Schuld zugeordnet. Einen subjektiven Tatbestand kennt die
h.M. beim Fahrlässigkeitsdelikt damit nicht. Es ergibt sich der folgende Aufbau des fahrlässigen
Begehungs-Erfolgsdelikts:
I.
Tatbestand
1.
Handlung – Erfolg – Kausalität
2.
Objektive Komponenten der Fahrlässigkeit
a) Objektiver Sorgfaltspflichtverstoß
b) Objektive Vorhersehbarkeit des Erfolgseintritts
3.
Objektive Zurechnung des Erfolgs
II.
Rechtswidrigkeit
III. Schuld
1.
Schuldfähigkeit
2.
Individuelle Komponenten der Fahrlässigkeit
a) Individueller Sorgfaltspflichtverstoß
b) Individuelle Vorhersehbarkeit des Erfolgseintritts
3.
Entschuldigungsgründe
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b) Einteiliger Fahrlässigkeitsbegriff
Eine Mindermeinung (Kindhäuser AT § 33 Rn. 49 ff.; ders. LPK § 15 Rn. 80 f.) bildet demgegenüber
auch bei Fahrlässigkeitsdelikten einen subj. Tatbestand, in dem sie die individuellen Elemente der
Fahrlässigkeit prüfen will.
I.
Objektiver Tatbestand
II.
Handlung – Erfolg – Kausalität
1.
Objektive Komponenten der Fahrlässigkeit
a) Objektiver Sorgfaltspflichtverstoß
b) Objektive Vorhersehbarkeit des Erfolgseintritts
2.
Objektive Zurechnung des Erfolgs
III.
Subjektiver Tatbestand
1.
Individueller Sorgfaltspflichtverstoß
2.
Individuelle Vorhersehbarkeit des Erfolgseintritts
IV.
Rechtswidrigkeit
V.
Schuld
1.
Schuldfähigkeit
2.
Entschuldigungsgründe
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c) Ergänzende Hinweise
Der zweiteilige Fahrlässigkeitsbegriff geht auf die kausale Handlungslehre zurück, welche die subj.
Tatseite ausschließlich der Schuld zuordnete. Heute hat sich jedoch die finale Handlungslehre
durchgesetzt und mit ihr verbunden die Erkenntnis, dass „die Voraussetzungen der Handlungsfähigkeit zum Tatbestand und nur die Voraussetzungen der Motivationsfähigkeit zur Schuld gehören“
(Kindhäuser AT § 33 Rn. 49). Betreffen sowohl Vorsatz als auch Fahrlässigkeit die Fähigkeit, sein
Handeln auf die Erfolgsvermeidung einzustellen, empfinden es Vertreter des einteiligen Fahrlässigkeitsbegriffs als widersprüchlich, den Vorsatz dem Tatbestand, die Fahrlässigkeit dagegen der
Schuld zuzuordnen.
Im Ergebnis kommen beide Auffassungen stets zu gleichen Ergebnissen (Ausnahme: Verhängung
einer Maßregel der Sicherung und Besserung). Im Gutachten kann kann sich daher für den einen
oder anderen Aufbau entscheiden, ohne diesen zu begründen.
2.
Objektive Komponenten der Fahrlässigkeit
Objektiv fahrlässig handelt, wer sich objektiv sorgfaltspflichtwidrig verhält und dadurch objektiv vorhersehbar einen Tatbestand verwirklicht (Lackner/Kühl § 15 Rn. 35; Wessels/Beulke/Satzger AT
Rn. 667).
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a) Objektiver Sorgfaltspflichtverstoß
Ein objektiver Sorgfaltspflichtverstoß liegt vor, wenn der Täter die im Verkehr erforderliche Sorgfalt
außer Acht lässt (Kindhäuser AT § 33 Rn. 16; Rengier AT § 52 Rn. 15). Welche Sorgfalt im Einzelfall geboten ist, lässt sich unter Heranziehung der folgenden Erwägungen ermitteln:
-
Ein Verhalten ist jedenfalls dann objektiv sorgfaltspflichtwidrig, wenn es gegen eine gesetzliche Norm verstößt (Wessels/Beulke/Satzger AT Rn. 672). Wer z.B. bei Dunkelheit ohne Licht
fährt, verstößt gegen § 17 StVO und verhält sich damit sorgfaltspflichtwidrig.
-
Zur Konkretisierung der gebotenen Sorgfalt können auch sonstige Bestimmungen, wie z.B.
betriebliche Unfallverhütungs- und Dienstvorschriften, herangezogen werden. Ihre Verletzung stellt zumindest ein Indiz für einen objektiven Sorgfaltspflichtverstoß dar (Gropp AT
§ 12 Rn. 25).
-
Schließlich ist maßgeblich, wie sich ein besonnener und gewissenhafter Mensch bei Betrachtung der Gefahrenlage ex ante in der konkreten Situation und der sozialen Rolle des Handelnden verhalten hätte (BGHSt 7, 307; 37, 184; Wessels/Beulke/Satzger AT Rn. 669).
Unterdurchschnittliche Kenntnisse und Fähigkeiten sind bei der Frage nach dem obj. Sorgfaltspflichtverstoß unbeachtlich. Zu beachten sind aber etwaige Sonderfähigkeiten und -kenntnisse des
Täters, die über den durchschnittlichen Anforderungen liegen (Roxin AT I § 24 Rn. 57 ff.; Gropp AT
§ 12 Rn. 34). Sorgfaltspflichtwidrig wäre es daher, wenn der Biologiestudent in seiner Tätigkeit als
Aushilfskellner die dem Gast servierten Pilze als Giftpilze hätte erkennen können (Bsp. nach Jakobs
AT 7/49).
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Begrenzt wird die Sorgfaltspflicht nach einhelliger Ansicht (Wessels/Beulke/Satzger AT Rn. 671 f.;
Gropp AT § 12 Rn. 36 ff.) durch den Vertrauensgrundsatz, den die Rspr. (BGHSt 7, 118; 12, 81)
insb. für den Straßenverkehr entwickelte. Danach darf man auf das verkehrsrichtige Verhalten Dritter vertrauen und muss sein Verhalten nicht auf alle möglichen Pflichtwidrigkeiten anderer einrichten. Allerdings gilt der Vertrauensgrundsatz nicht uneingeschränkt:
-
Nur wer sich selbst verkehrsgerecht verhält, kann sich auch auf den Vertrauensgrundsatz
berufen (BGHSt 17, 299, 302; Kindhäuser AT § 33 Rn. 33). Denn ein Täter darf sich nicht
dadurch von seinem eigenen Fehlverhalten freizeichnen, dass auch ein anderer sich pflichtwidrig verhalten hat. Dabei ist die Berufung auf den Vertrauensgrundsatz jedoch nur dann
ausgeschlossen, wenn sich das pflichtwidrige Verhalten des Täters auch auf das Schadensereignis ausgewirkt hat (BGH VRS 33, 368; Roxin AT I § 24 Rn. 24). Das wäre z.B. dann
nicht der Fall, wenn der Vorfahrtsberechtigte die Kreuzung mit 80 km/h statt der erlaubten 70
km/h passiert und der Unfall allein auf der Vorfahrtsmissachtung des Unfallgegners beruht.
-
Ferner gilt der Vertrauensgrundsatz nicht gegenüber Personen, die erkennbar nicht in der
Lage sind, ihr Verhalten verkehrsordnungsgemäß auszurichten (Gropp AT § 12 Rn. 39). So
muss man beispielsweise stets mit auf die Straße laufenden Kindern rechnen.
-
Schließlich ist die Berufung auf den Vertrauensgrundsatz auch in Situationen ausgeschlossen, in denen nach der Verkehrslage bestimmte Anzeichen dafür vorliegen, dass sich andere
nicht verkehrsgerecht verhalten (BGHSt 4, 182; Gropp AT § 12 Rn. 38). So muss z.B. ein
Autofahrer bei einem SC-Heimspiel vor dem Stadion damit rechnen, dass ein Pulk von Fans
die Straße überquert, ohne auf die rote Fußgängerampel zu achten.
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b) Objektive Vorhersehbarkeit
Objektiv vorhersehbar ist alles, was ein umsichtiger Mensch aus dem Verkehrskreis des Täters unter Berücksichtigung der konkreten Umstände aufgrund allgemeiner Lebenserfahrung in Rechnung
stellen würde (Wessels/Beulke/Satzger AT Rn. 667a; Gropp AT § 12 Rn. 45).
3.
Probleme objektiver Zurechnung bei Fahrlässigkeitsdelikten
Da der „Filter“ der bloßen Kausalität zwischen pflichtwidriger Handlung und Erfolg viel zu weit ist,
tritt auch bei Fahrlässigkeitsdelikten die Lehre von der objektiven Zurechnung ergänzend hinzu. Bei
den Fahrlässigkeitsdelikten kommt dieser Lehre sogar noch eine gesteigerte Bedeutung zu, da hier
eine Korrektur im subjektiven Tatbestand über die Figur der (un-)wesentlichen Abweichung im Kausalverlauf nicht möglich ist. Daher erkennt auch die Rspr. (BGHSt 37, 106, 115) die Lehre von der
objektiven Zurechnung bei Fahrlässigkeitsdelikten an, um zu der gebotenen Haftungsbegrenzung
zu gelangen.
Nach der – bereits bekannten – Grundformel der objektiven Zurechnung ist dem Täter ein Erfolg
dann objektiv zurechenbar, wenn er eine rechtlich
missbilligte Gefahr geschaffen hat, die sich im tatbestandsmäßigen Erfolg realisierte.
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Zwei Fallgruppen der objektiven Zurechnung sind auf die Fahrlässigkeit in ganz besonderer Weise
zugeschnitten:
-
der Pflichtwidrigkeitszusammenhang sowie
-
der Schutzzweck der verletzten Verhaltensnorm.
a) Der Pflichtwidrigkeitszusammenhang
Bei den Fahrlässigkeitsdelikten liegt die Schaffung einer rechtlich missbilligten Gefahr in der Verletzung einer Sorgfaltspflicht. So begründet beispielsweise nicht das Fahrradfahren als solches eine
rechtlich missbilligte Gefahr, sondern erst das Fahrradfahren im betrunkenen Zustand. Gerade diese Pflichtwidrigkeit muss sich dann konsequenterweise auch im Erfolg niedergeschlagen haben.
Damit ist die Beziehung zwischen Sorgfaltspflichtverstoß und dem Erfolg angesprochen (sog.
Pflichtwidrigkeitszusammenhang; vgl. dazu bereits § 9 KK 138 f. zur objektiven Zurechnung).
Bsp. (nach BGHSt 11, 1): A überholte mit seinem Lkw mit einer Geschwindigkeit von 25 km/h den
Radfahrer R. Der Seitenabstand betrug dabei 75 cm. Nach der StVO wäre ein Abstand von mindestens 1,5 m geboten gewesen. Während des Überholvorganges geriet R mit dem Kopf unter die
rechten Hinterreifen des Anhängers, wurde überrollt und war auf der Stelle tot. Eine später der Leiche des R entnommene Blutprobe ergab eine BAK von 2 ‰. Laut Sachverständigengutachten hätte
sich der Unfall daher wahrscheinlich genauso zugetragen, wenn A einen ausreichenden Sicherheitsabstand eingehalten hätte. R hatte wegen seines angetrunkenen Zustands den Lkw erst nicht
bemerkt, war dann plötzlich aufgeschreckt worden und hatte besonders heftig und unkontrolliert re§ 26
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agiert, wobei er das Fahrrad stark nach links zog.
Fraglich ist, wie derartige Fälle zu behandeln sind, in denen das Vorliegen des Pflichtwidrigkeitszusammenhangs zweifelhaft ist.
-
h.M. (BGHSt 11, 1, 7; 37, 106, 127; Wessels/Beulke/Satzger AT Rn. 676; Kindhäuser AT
§ 33 Rn. 38; Gropp AT § 12 Rn. 54; Otto AT § 10 Rn. 23 f.): Wäre der Erfolg bei rechtmäßigem Alternativverhalten des Täters mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ebenso
eingetreten, war der Erfolgseintritt objektiv unvermeidbar und der Erfolg kann dem Täter
nicht zugerechnet werden. Im Beispiel kann der Tod des R dem A daher nicht zugerechnet
werden, da in dubio pro reo davon ausgegangen werden muss, dass der angetrunkene R
auch bei Einhaltung des gebotenen Abstands unter die Räder des Lkws gelangt wäre.
-
Nach der sog. Risikoerhöhungslehre (Roxin AT I § 11 Rn. 89 ff.; Stratenwerth/Kuhlen § 8
Rn. 36) soll es für die Zurechenbarkeit genügen, dass das pflichtwidrige Verhalten des Täters das Risiko des Erfolgseintritts erhöht hat. Nach der Risikoerhöhungslehre ist die Zurechnung nur in zwei Konstellationen abzulehnen: (1) Wenn der Erfolg mit Sicherheit bei sorgfaltsgemäßem Verhalten eingetreten wäre, sei die Zurechnung zu verneinen, weil dann sicher sei, dass sich die Gefahrerhöhung nicht im konkreten Erfolg realisiert habe. Und (2)
wenn ferner Zweifel bestehen, ob sich das Risiko überhaupt erhöht hat, ist auch nach dieser
Lehre in dubio pro reo die Zurechnung zu verneinen. Im Radfahrer-Beispiel wäre der Tod
des R dem A daher zurechenbar, denn die Unterschreitung des gebotenen Abstands hat die
Wahrscheinlichkeit des Erfolgseintritts erhöht.

Steht fest, dass der Täter das erlaubte Risiko überschritten hat, besteht kein Grund mehr,
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ihn von den Folgen seines Verhaltens zu entlasten.
Θ
Die Risikoerhöhungslehre verkürzt den Grundsatz „in dubio pro reo“ zu Lasten des Täters, da er bereits bei nachgewiesener Risikoerhöhung haftbar gemacht wird.

Der in-dubio-Grundsatz gilt nur auf Tatsachenebene, nicht aber bezüglich der hier vorliegenden Rechtsfrage, welche Anforderungen an den Zusammenhang zu stellen sind.

Im Übrigen hat der in-dubio-Grundsatz hier auch kein Anwendungsgebiet, da man das
Risiko nicht in ein erlaubtes und ein verbotenes Quantum aufteilen kann. Wenn der Täter
das erlaubte Risiko überschreitet, schafft er ein schlechthin verbotenes Risiko. Dieses
insgesamt verbotene Risiko verwirklicht sich auch, wenn der Erfolg eintritt.
Θ
Die Risikoerhöhungslehre deutet Verletzungsdelikte contra legem in konkrete Gefährdungsdelikte um, da sie in der Sache schon den Nachweis der Gefährdung ausreichen
lässt.

Dieser Einwand verfängt nicht, weil die Zurechnung eines Erfolges zum objektiven Tatbestand immer nur durch eine vom Täter geschaffene Gefährdung vermittelt wird. Der Unterschied zwischen Verletzungs- und Gefährdungsdelikten liegt nur darin, dass die unerlaubte Gefahr bei Verletzungsdelikten sich in einem tatbestandlichen Verletzungserfolg
verwirklicht, während sich bei den Gefährdungsdelikten die Gefahr nur in einem Gefährdungserfolg realisiert.
Θ
Die Risikoerhöhungslehre verstößt gegen den Wortlaut der Fahrlässigkeitsdelikte, die regelmäßig verlangen, dass der Erfolg durch Fahrlässigkeit (vgl. §§ 222, 229 StGB) verur§ 26
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sacht wird. Davon kann nur die Rede sein, wo ohne ernsthaften Zweifel feststeht, dass
der Erfolg beim rechtmäßigen Alternativverhalten nicht eingetreten wäre.
Θ
Die Risikoerhöhungslehre überfordert den Rechtsanwender, da sie ihm keine Kriterien an
die Hand geben kann, wann ein Verhalten das Risiko der Verletzung messbar gesteigert
hat und wann nicht.
Von der Problematik des rechtmäßigen Alternativverhaltens bzw. des Pflichtwidrigkeitszusammenhangs sind folgende Fallgestaltungen zu trennen:
-
Bsp. (nach OLG Hamm NJW 1972, 1531): Der Fahrer eines mit Betonplatten beladenen
LKWs durchfuhr eine Kurve mit einer überhöhten Geschwindigkeit von 40 km/h, so dass eine
Betonplatte auf den Gehweg geschleudert wurde, wo sie den Passanten P erschlug. – Das
Fehlen des Pflichtwidrigkeitszusammenhangs kann hier nicht dadurch begründet werden,
dass auch andere LKW die Kurve mit 40 km/h durchfahren hätten, wobei nichts geschehen
sei. Denn diese Argumentation legt nur dar, dass der Erfolg auch bei pflichtwidrigem Verhalten ausbleiben kann, vermag aber weder die Pflichtwidrigkeit zu beseitigen noch den Umstand, dass der Erfolg bei pflichtgemäßem Verhalten (Schrittgeschwindigkeit) mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht eingetreten wäre.
-
Bsp. (nach BGHSt 30, 228): Infolge überhöhter Geschwindigkeit und Nebel fährt K mit seinem Citroën auf den von B ordnungsgemäß auf der rechten Fahrspur angehaltenen Lastzug
auf. Der Citroën stürzt um und bleibt auf der Überholspur liegen. K kann das Fahrzeug unverletzt verlassen. Auf der Überholspur nähert sich A mit seinem Ford ebenfalls zu schnell.
Er fährt auf den Citroën auf und schleudert ihn ca. 10 m nach vorn. K wird durch den Citroën
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verletzt. Unmittelbar danach prallt der Opel-Fahrer M auf den Ford auf. Zahlreiche weitere
Fahrer folgen. Wäre A mit den Sichtverhältnissen angepasster Geschwindigkeit gefahren,
hätte er rechtzeitig anhalten können. Dann aber wäre M auf den Ford und dieser auf den Citroën geprallt und hätte den K verletzt. – Auch hier kann sich A nur scheinbar auf das Fehlen
des Pflichtwidrigkeitszusammenhangs berufen, weil der Erfolg auch ohne sein verkehrswidriges Verhalten eingetreten wäre. Denn steht fest, dass sich die Pflichtwidrigkeit des A im Erfolg realisiert hat, kann dieser Zurechnungszusammenhang nicht nachträglich dadurch beseitigt werden, dass hypothetische, nicht verwirklichte Reserveursachen in den Blick genommen
werden. Insoweit gilt bei Fahrlässigkeitsdelikten nichts anderes als bei Vorsatzdelikten, wo
der Hinweis auf derartige Reserveursachen ebenfalls unbeachtlich ist.
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b) Schutzzweck der verletzten Norm
Besondere Beachtung verdient auch die Lehre vom Schutzzweck der Norm. Danach muss sich im
konkreten Erfolg gerade diejenige rechtlich missbilligte Gefahr verwirklicht haben, deren Eintritt
nach dem Schutzzweck der verletzten Sorgfaltsnorm vermieden werden sollte (Gropp AT § 12
Rn. 58 ff.; Rengier AT § 52 Rn. 37 ff.; vgl. dazu auch § 9 KK 137 zur objektiven Zurechnung).
-
Bsp. (nach RGSt 63, 392): A fährt in der Dunkelheit mit dem Rad hinter B her. Beide Radfahrer fahren ohne Licht. Der entgegenkommende Radfahrer C stößt mit B zusammen. – A fährt
in der Dunkelheit ohne Licht und verhält sich damit pflichtwidrig (vgl. § 17 I StVO). Gleichwohl ist er nicht wegen fahrlässiger Körperverletzung an B strafbar. Denn die Beleuchtungspflicht hat nicht den Sinn, andere Fahrzeuge zu beleuchten. Vielmehr soll nur das eigene
Fahrzeug in der Dunkelheit sichtbar gemacht werden.
-
Klassisch ist das Beispiel des Überfahrens einer roten Ampel, was dazu führt, dass zwei
Kreuzungen später bei verkehrsgerechtem Verhalten ein überraschenderweise auf die Fahrbahn tretender Passant erfasst wird. Der Unfall wäre nicht eingetreten, wenn der Fahrer ordnungsgemäß an der Ampel angehalten hätte, da er dann zu dem Zeitpunkt, zu dem der Passant auf die Fahrbahn tritt nicht am Platze gewesen wäre. Der Schutzzweck der Norm (vgl.
§ 37 II Nr. 1 StVO) besteht aber natürlich nicht darin, zu verhindern, dass eine Person zu einem bestimmten Zeitpunkt an einem bestimmten Ort ist.
Problematisch ist der Fall, der BGHSt 33, 61 zugrunde liegt: A befuhr eine bevorrechtigte Landstraße mit einer Geschwindigkeit von 140 km/h. An einer Kreuzung näherte sich von links das Fahrzeug
des B. B verringerte vor der Kreuzung zunächst seine Geschwindigkeit. Da er das herankommende
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Fahrzeug des A nicht sah, beschleunigte er an der Haltelinie und fuhr mit 55 km/h in die Kreuzung
hinein. Als A dies bemerkte, leitete er aus einer Entfernung von 35 m eine Vollbremsung ein. Beide
Fahrzeuge stießen auf der rechten Fahrbahnhälfte des A zusammen. B erlitt schwere Verletzungen.
Vor dem Zusammenstoß zeichnete der Wagen des A noch eine Bremsspur von 2 m auf. Hätte sich
A der Kreuzung mit der hier zulässigen Höchstgeschwindigkeit von 100 km/h genähert, hätte sein
Anhalteweg mindestens 77 m betragen. Er hätte dann aus einer Entfernung von 35 m, aus der er
die Missachtung seines Vorfahrtsrechts wahrnahm, ebenfalls nicht mehr zum Stehen kommen können. Er wäre aber 0,3 Sekunden später am Ort des Zusammenstoßes angelangt. In dieser Zeitspanne hätte B die Fahrspur des A gänzlich überquert gehabt, so dass es nicht zu einer Kollision
gekommen wäre.
-
Grundsätzlich ist anerkannt, dass die Geschwindigkeitsvorschriften der StVO nicht den
Zweck haben, die Anwesenheit einer Person an einem Ort zu einer bestimmten Zeit zu vermeiden (Gropp AT § 12 Rn. 59; Wessels/Beulke/Satzger AT Rn. 182).
-
Der BGH entschied in dem fraglichen Fall jedoch: Die Zurechnung „ist zu bejahen, wenn sich
der Unfall nicht ereignet hätte, wäre der Fahrzeugführer bei Eintritt der ‚kritischen Verkehrssituation’ nicht mit einer höheren als der zugelassenen Geschwindigkeit gefahren. Hierbei hat
der Tatrichter das Verhalten der anderen Verkehrsbeteiligten, z.B. Art und Ausmaß ihrer
Fortbewegung, in seine Erwägungen einzubeziehen. Damit verlässt er nicht den Normzweck
der allgemeinen Geschwindigkeitsbegrenzung auf Landstraßen. Dieser besteht auch darin,
anderen Verkehrsteilnehmern einen gefahrlosen Begegnungs- und Kreuzungsverkehr zu
ermöglichen. Es geht mithin nicht um das ungehinderte Fort- oder Weiterkommen dieser anderen Verkehrsteilnehmer, sondern um deren Schutz vor den Gefahren hoher Geschwin§ 26
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digkeiten. Die Gefahren verwirklichen sich, wenn der Kraftfahrzeugführer infolge überhöhter
Geschwindigkeit nicht mehr so bremsen kann, dass es ‚gerade noch einmal gut geht’. Daraus folgt, dass der Kraftfahrer auch dann strafrechtlich verantwortlich ist, wenn allein durch
die Beachtung der Geschwindigkeitsbegrenzung im Zeitpunkt des Eintritts der kritischen Situation der Unfall vermieden worden wäre. Dass das Ausbleiben des Zusammenstoßes dabei etwa nur auf die Fortbewegung des anderen Verkehrsteilnehmers zurückzuführen ist, ist
unerheblich.“
Θ
Mit dem Abstellen auf die „kritische Verkehrssituation“ vermeidet der BGH den nahe liegenden Einwand, dass der Fahrer auch bei sorgfältigem Fahren die Kreuzung 0,3 Sekunden früher hätte erreichen können, etwa, indem er Sekundenbruchteile früher seine
Fahrt angetreten hätte. Warum hier der Schutzzweck der Norm, eine bestimmte Geschwindigkeit einzuhalten, verletzt sein soll, bleibt indes unerfindlich. Natürlich soll durch
die Geschwindigkeitsbegrenzung ein gefahrloser Begegnungs- und Kreuzungsverkehr
gewährleistet werden, aber doch nur insoweit, dass man rechtzeitig Gefahrensituationen
erkennen kann.
Besondere Beachtung verdient auch BGHSt 21, 59: Zahnarzt Z zieht der stark fettsüchtigen 17jährigen F zwei Backenzähne unter Vollnarkose, auf die F bestanden hat. Z, der auch ausgebildeter
Anästhesist ist, nimmt die Narkose vor. Da F wegen eines Herzleidens die Narkose nicht verträgt,
stirbt sie an Herzversagen. Die F hatte dem Z zuvor mitgeteilt, dass sie „an ihrem Herzen etwas
hat“. Ein sorgfältiger Operateur hätte eine Vollnarkose bei dieser Lage der Dinge nicht ohne Untersuchung auf Narkoseverträglichkeit durchgeführt, die in einer Klinik hätte vorgenommen werden
müssen. Bei einer solchen Untersuchung wäre der Herzfehler jedoch nicht entdeckt worden. F wäre
§ 26
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daher mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit dennoch gestorben, allerdings wegen der
Untersuchung in der Klinik erst einige Tage später.
-
Auf den ersten Blick scheint es bereits am Pflichtwidrigkeitszusammenhang zu fehlen, da
man auch in der Klinik die Krankheit der F nicht festgestellt und Z sie nach der Untersuchung
sorgfaltsgemäß narkotisiert hätte und F auch mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit gestorben wäre. Bei sorgfaltsgemäßem Verhalten wäre F aber nicht am selben Tag operiert worden, da bis zur Untersuchung in der Klinik einige Tage verstrichen wären. Z hat
durch sein sorgfaltswidriges Verhalten also das Leben der F verkürzt. Dementsprechend besteht ein Pflichtwidrigkeitszusammenhang zwischen seiner Handlung und der Lebensverkürzung.
-
Für die Erfolgszurechnung ist aber zudem erforderlich, dass die Sorgfaltsnorm, die die Narkotisierung ohne vorherige Untersuchung in der Klinik untersagt, den Zweck hatte, einen Erfolg der eingetretenen Art zu vermeiden. Zwar soll die Sorgfaltsnorm den Tod der F vermeiden, es ist jedoch nicht ihr Zweck, den Tod lediglich um die Dauer der Untersuchung hinauszuschieben: Untersuchungen sind nicht deshalb vorgeschrieben, weil der Tod erst nach ihrer
Beendigung verursacht werden kann. Die Lebensverkürzung um wenige Tage fällt daher
nicht unter den Schutzzweck der Norm.
§ 26
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4.
Individuelle Komponenten der Fahrlässigkeit
Wurde im Rahmen des objektiven Fahrlässigkeitselements ein „verobjektivierter“ Sorgfaltsmaßstab
angelegt, so ist bei der individuellen Fahrlässigkeitskomponente zu untersuchen, ob auch der konkrete Täter nach seinen individuellen Kenntnissen und Fähigkeiten in der Lage war, die objektiv erwartete Sorgfalt aufzubringen. Die individuelle Fähigkeit zu pflichtgemäßem Verhalten ist zu bejahen, wenn der Täter aufgrund seiner Intelligenz und Bildung, seiner Geschicklichkeit und Befähigung, seiner Lebenserfahrung und seiner sozialen Stellung in der Lage gewesen ist, dem objektiven
Maßstab entsprechend die Gefahr der Erfolgsherbeiführung zu erkennen und durch sorgfaltsgemäßes Handeln zu vermeiden (BayObLG NJW 1998, 3580; 3580; Kindhäuser AT § 33 Rn. 46;
Sch/Sch/Sternberg-Lieben/Schuster § 15 Rn. 194).
Vgl. auch BGH NJW 2006, 1822: „[Für die Bejahung einer individuellen Vorhersehbarkeit] ist entscheidend, ob vom Täter in seiner konkreten Lage nach seinen persönlichen Kenntnissen und Fähigkeiten der Eintritt des Todes des Opfers - im Ergebnis und nicht in den Einzelheiten des dahin
führenden Kausalverlaufs – vorausgesehen werden konnte […] oder ob die tödliche Gefahr für das
Opfer so weit außerhalb der Lebenswahrscheinlichkeit lag, dass die qualifizierende Folge dem Täter deshalb nicht zuzurechnen ist […]. Diesen Maßstäben wird das angefochtene Urteil gerecht.
Das LG hat nachvollziehbar dargelegt, dass die Angekl. – und zwar nicht vorwerfbar - keine Kenntnis besaß, dass bereits geringe Mengen an Kochsalz bei einem Kleinkind lebensgefährliche Vergiftungserscheinungen hervorzurufen vermögen; denn das Wissen hierum sei wenig verbreitet und
gehöre keinesfalls zu jener medizinischen Sachkenntnis, welche sich fast jede Mutter über kurz oder lang aneigne. Auch wenn es sich nicht um den Fall einer „medizinischen Rarität” […] handelt,
lässt dabei auch der Gesamtzusammenhang der Urteilsgründe nicht besorgen, die Schwurgerichts§ 26
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kammer habe hinsichtlich der individuellen Vorhersehbarkeit des Todeseintritts zu hohe Anforderungen gestellt.“
III. Das fahrlässige Unterlassungsdelikt
Auch im Bereich der fahrlässigen unechten Unterlassungsdelikte muss den Täter eine Garantenstellung treffen. Es ergibt sich daher der folgende Aufbau (h.M. – zweiteiliger Fahrlässigkeitsbegriff):
I.
Objektiver Tatbestand
1. Nichtvornahme der gebotenen Handlung – Erfolg – (Quasi-)Kausalität
2. Garantenstellung des Täters
3. Objektive Komponente der Fahrlässigkeit
4. Objektive Zurechnung des Erfolgs
II.
Rechtswidrigkeit
III.
Schuld
1. Schuldfähigkeit
2. Individuelle Komponente der Fahrlässigkeit
3. Entschuldigungsgründe
§ 26
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IV. Exkurs: Vorsatz-Fahrlässigkeits-Kombinationen
Neben reinen Vorsatz- und reinen Fahrlässigkeitsdelikten sind dem StGB auch Mischtatbestände
nicht fremd, bei denen das Gesetz Vorsatz bezüglich einer bestimmten Tathandlung und mindestens Fahrlässigkeit hinsichtlich einer besonderen Tatfolge voraussetzt.
-
Bei den eigentlichen Vorsatz-Fahrlässigkeits-Kombinationen ist der Teil des Tatbestandes,
hinsichtlich dessen das Gesetz Vorsatz verlangt, nicht selbstständig strafbar. Beispiele sind
etwa §§ 308 V, 315c III Nr. 1 StGB.
-
Darüber hinaus existieren auch erfolgsqualifizierte Delikte, bei denen das Gesetz an die vorsätzliche Verwirklichung eines bereits als solchem strafbaren Grunddelikts anknüpft und die
Strafe für den Fall schärft, dass dadurch der Eintritt einer besonders schweren Folge der Tat
unmittelbar verursacht wird. Auch dabei handelt es sich um eine Vorsatz-FahrlässigkeitsKombination, da gem. § 18 StGB schon Fahrlässigkeit hinsichtlich der qualifizierenden Folge
genügt. Ein erfolgsqualifiziertes Delikt ist z.B. § 227 StGB (Tod des Verletzten als schwere
Folge einer vorsätzlichen Körperverletzung i.S.d. § 223 StGB).
Solche Vorsatz-Fahrlässigkeits-Kombinationen gelten gem. § 11 II StGB insgesamt als Vorsatzdelikte, so dass bei ihnen Teilnahme und Versuch denkbar sind.
Für die Fahrlässigkeitsprüfung ist bei Vorsatz-Fahrlässigkeits-Kombinationen zu beachten, dass der
objektive Sorgfaltspflichtverstoß regelmäßig bereits in der vorsätzlichen Tathandlung enthalten ist
(BGHSt 24, 213, 215; Wessels/Beulke/Satzger AT Rn. 693; Kindhäuser AT § 34 Rn. 11).
Eine besondere Problematik der erfolgsqualifizierten Delikte besteht in dem Erfordernis eines so
§ 26
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bezeichneten Unmittelbarkeitszusammenhangs zwischen Grunddelikt und der schweren Folge; in
der schweren Folge muss sich die tatbestandsspezifische Gefahr des Grunddelikts verwirklicht haben (vgl. dazu Kindhäuser AT § 34 Rn. 6 ff.). Bei diesem Erfordernis handelt es sich bei richtiger
Betrachtung um einen speziellen Fall der objektiven Zurechnung; Einzelheiten zum Unmittelbarkeitszusammenhang im BT.
-
Bei der Körperverletzung mit Todesfolge (§ 227 StGB) muss der Tod des Opfers somit auf
eine bereits unmittelbar in der Körperverletzung angelegte spezifische Todesgefahr zurückzuführen sein. Daran fehlt es etwa, wenn sich das Opfer über leichte Tätlichkeiten des Täters
derart aufregt, dass es infolge der Stresssituation ins Koma fällt und zwei Wochen später im
Krankenhaus an einer Lungenentzündung verstirbt (vgl. LG Kleve NStZ-RR 2003, 235).
-
In gleicher Weise muss bei § 306b I StGB die schwere Gesundheitsschädigung gerade Folge einer unmittelbar in einem Brand angelegten Gefahr sein, wie es z.B. auf eine Rauchvergiftung zutrifft.
Sorgfalt ist geboten, wenn es um den Versuch beim erfolgsqualifizierten Delikt geht. Hierbei sind
zwei Konstellationen zu unterscheiden:
5.
Erfolgsqualifizierter Versuch
Von einem erfolgsqualifizierten Versuch spricht man, wenn schon der Versuch des Grunddelikts die
qualifizierende schwere Folge herbeiführt.
Bsp.: A schlägt O mit einer Pistole nieder, um ungehindert dessen Wertsachen entwenden zu kön§ 26
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nen. Bei dem Schlag löst sich ein Schuss, der O tödlich trifft. Erschrocken flieht A ohne Beute.
Hier hat A die schwere Folge des § 251 StGB (Tod des O) bereits zu einem Zeitpunkt herbeigeführt,
in dem das Grunddelikt des Raubes (§ 249 StGB) noch im Versuchsstadium steckte. Es fragt sich,
ob A hier wegen versuchten schweren Raubs mit Todesfolge (§§ 249, 250 II Nr. 1, 251, 22 StGB)
bestraft werden kann.
Teilweise wird generell bestritten, dass der Täter hier wegen erfolgsqualifizierten Delikts bestraft
werden könne (MK/Hardtung § 18 Rn. 82).

Ein Versuch ohne Vorsatz steht im Widerspruch zu § 22 StGB.
Θ
Nach § 11 II StGB wird das erfolgsqualifizierte Delikt als Vorsatzdelikt behandelt.

Nach dem Wortlaut des § 11 II StGB gilt das nur für eine Tat, die (vollständig) „verwirklicht“
ist, und damit nicht für den bloßen Versuch.
Θ
§ 11 II StGB geht es darum klarzustellen, dass für ein erfolgsqualifiziertes Delikt die Regeln
des Vorsatzdelikts gelten; die Norm will keine Aussage über die Möglichkeit eines erfolgsqualifizierten Versuchs machen.
Weiterhin stellt sich die Frage, ob die tatbestandsspezifische Gefahr nur aus dem Erfolg des
Grunddelikts resultieren kann oder sie auch in der Ausführungshandlung des Grunddelikts begründet liegen kann. Denn würde man davon ausgehen, dass sich die tatbestandsspezifische Gefahr allein aus dem Erfolg des Grunddelikts ergeben kann, wäre ein erfolgsqualifizierter Versuch nicht
denkbar. Denn der Erfolg einer Tat setzt notwendig Vollendung der Tat voraus. Ob Handlung oder
Erfolg Anknüpfungspunkt der schweren Folge ist, muss mit Blick auf die ratio des jeweiligen Tatbe§ 26
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stands für jedes einzelne Delikt gesondert beurteilt werden:
-
Bei § 178 StGB ist der qualifizierende Erfolg mit der Tathandlung (z.B. Gewaltanwendung)
und nicht mit dem Eintritt des Vergewaltigungserfolgs verknüpft. Wegen §§ 178, 22 StGB
macht sich daher strafbar, wer sein Opfer vergewaltigen will, dies aber infolge der Gegenwehr des Opfers zwar nicht schafft, aber durch die Gewaltanwendung den Tod des Opfers
herbeiführt (vgl. RGSt 69, 322; Wessels/Beulke/Satzger AT Rn. 617).
-
Dagegen ist bei § 313 II StGB i.V.m. § 308 III StGB Anknüpfungspunkt der schweren Folge
der Erfolg des Grunddelikts. Sprengt der Plünderer P z.B. erfolglos ein Loch in einen Deich,
um später im überfluteten Gebiet plündern zu können, und stirbt O infolge der Explosion als
Ausführungshandlung zur Herbeiführung der Überschwemmung, so ist P nicht wegen §§ 313
II, 308 II, 22 StGB (sondern wegen § 308 I, III StGB) strafbar.
-
Denkbar ist auch, dass sowohl Handlung als auch Erfolg Anknüpfungspunkt der schweren
Folge sein könnten. Für § 239 IV StGB ergibt sich das klar aus dessen Wortlaut („durch die
Tat oder eine während der Tat begangene Handlung“).
Umstritten ist darüber hinaus, ob der Täter auch dann wegen erfolgsqualifizierten Versuchs bestraft
werden kann, wenn der Versuch des Grunddelikts nicht selbstständig strafbar ist. Nach dem sechsten Strafrechtsreformgesetz hat der Streit noch für § 221 III StGB – und theoretisch auch für
§ 238 StGB – Relevanz.
Bsp.: A will O im Wald aussetzen. Einen tödlichen Verlauf der Tat hat A nicht in seinen Vorsatz aufgenommen. In dem Moment, in dem A den O auf einer einsamen Stelle aus dem Wagen befördern
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möchte, erleidet O infolge der Stresssituation einen tödlichen Herzinfarkt.
Weil der Versuch der Aussetzung nicht strafbar ist, fragt es sich, ob der Täter dann wegen erfolgsqualifizierten Versuchs strafbar sein kann (ablehnend Gropp AT § 9 Rn. 49c; Sch/Sch/SternbergLieben/Schuster § 18 Rn. 9; a.A. Otto AT § 18 Rn. 88 f.).
6.
Θ
Ist der Versuch des Grunddelikts nicht strafbar, so „fehlt“ eine Komponente des erfolgsqualifizierten Delikts mit der Folge, dass der Täter auch nicht wegen erfolgsqualifizierten Versuchs strafbar sein kann.
Θ
Im Übrigen käme der schweren Folgen dabei keine strafschärfende Wirkung i.S.v. § 18 StGB
mehr zu; vielmehr würde der Eintritt der schweren Folge hier strafbegründend wirken.

§ 221 III StGB ist ein eigenständiges Delikt mit einer Mindeststrafe von drei Jahren. Dieses
Delikt hat somit Verbrechenscharakter (vgl. § 12 I StGB), so dass die Versuchsstrafbarkeit
insoweit aus § 23 I StGB folgt.
Versuch der Erfolgsqualifikation
Als Versuch der Erfolgsqualifikation bezeichnet man dagegen die Konstellation, in der der Täter bei
versuchtem oder vollendetem Grunddelikt die qualifizierende Folge in seinen Vorsatz aufgenommen
hat, er ihren Eintritt jedoch nicht bewirkt.
Bsp.: A schlägt O mit einer Pistole nieder, um ungehindert dessen Wertsachen entwenden zu können. A geht hierbei davon aus, dass O infolge der heftigen Schläge auf den Kopf zu Tode kommen
§ 26
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könnte. O wird in einer Notoperation gerettet.
Weil Erfolgsqualifikationen gem. § 11 II StGB als Vorsatzdelikte zu behandeln sind, ist der Versuch
einer Erfolgsqualifikation möglich. Zwar ist ein Umkehrschluss zu §§ 16, 18 StGB denkbar, der gegen eine Strafbarkeit des Versuchs der Erfolgsqualifikation spricht. Denn führt im Bereich der erfolgsqualifizierten Delikte der fehlende Vorsatz (§ 16 I 1 StGB) hinsichtlich der schweren Folge wegen des Ausreichens von Fahrlässigkeit (§ 18 StGB) nicht zur Straflosigkeit, so kann umgekehrt allein der bloße Vorsatz hinsichtlich der schweren Folge die Strafbarkeit auch nicht begründen. Es ist
jedoch nicht davon auszugehen, dass sich der Strafgesetzgeber dieses Umkehrschlusses bewusst
war und dadurch eine Regelung des Versuchs der Erfolgsqualifikation reflektiert treffen wollte.
Vielmehr deutet der Erlass der Regelung des § 11 II StGB darauf hin, dass die Bestrafung wegen
Versuchs der Erfolgsqualifikation ermöglicht werden sollte.
Daher ist A hier wegen vollendeten schweren Raubes (§§ 249, 250 II Nr. 1 StGB) in Tateinheit mit
versuchtem Raub mit Todesfolge (§§ 251, 22 StGB) und versuchtem Mord (§§ 211, 212) strafbar.
Im Rahmen des § 221 StGB kann hier – parallel zur Problematik beim erfolgsqualifizierten Versuch
– die Frage nach der Strafbarkeit des Versuchs der Erfolgsqualifikation auftreten, wenn der Versuch
des Grunddelikts nicht selbstständig strafbar ist. Dieses Problem stellt sich bei der versuchten Erfolgsqualifikation aber nur, wenn das Grunddelikt auch im Versuch stecken bleibt. (Wessels/Beulke/Satzger AT Rn. 617).
Bsp.: A will O im Wald aussetzen, damit er dort verdursten möge. A verbringt O an eine einsame
Stelle im Wald. O kennt diese Stelle im Wald jedoch, da er unweit von ihr eine Waldhütte besitzt. O
sucht diese auf und ruft von dort Hilfe herbei.
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7.
Abschließender Überblick
Grunddelikt
nur Versuchsstadium erreicht
Vollendung erreicht
qualifizierende Folge
Nur vom Täter in den Vor- Versuch der Erfolgsqualifikation
satz aufgenommen
Versuch der Erfolgsqualifikation
Tatsächlich eingetreten
vollendetes erfolgsqualifiziertes
Delikt
erfolgsqualifizierter Versuch
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Schlagwörter zur Wiederholung
I.
Welche Indizien sind für die Bestimmung des objektiven Sorgfaltspflichtverstoßes wichtig?
II.
In welchen Konstellationen gilt der Vertrauensgrundsatz nicht?
III.
Welche beiden Unterfallgruppen der objektiven Zurechnung spielen bei Fahrlässigkeitsdelikten eine bedeutsame Rolle?
IV.
In welchem Verhältnis müssen Grundtatbestand und schwere Folge beim erfolgsqualifizierten Delikt stehen?
§ 26
KK 542