Kartengestaltung besser verstehen – Eine kulturvergleichende
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Kartengestaltung besser verstehen – Eine kulturvergleichende
ANGEWANDTE KARTOGRAPHIE S. Angsüsser, L. Meng: Kartengestaltung besser verstehen Kartengestaltung besser verstehen – Eine kulturvergleichende Perspektive Understanding Map Design – A Cross-Cultural Comparison Stephan Angsüsser, Wuhan; Liqiu Meng, München 140 Dieser Beitrag beschäftigt sich mit einem Vergleich ausgewählter Aspekte der kartographischen Kulturen von Deutschland und China. Anhand von Unterschieden zwischen so genannten „Kartenicons“ werden verschiedene Präferenzen bei der Gestaltung von Kartenzeichen exemplarisch aufgezeigt. Diese betreffen die Art von Klassengrenzen, den Wert von Standardisierungen und die Beurteilung von Wechselwirkungen zwischen Kartenzeichen. Derartige Unterschiede lassen sich mit solchen zwischen den beiden Kulturen hypothetisch verknüpfen und infolgedessen als mögliche kartographische Kulturunterschiede auffassen. n Schlüsselbegriffe: Kartengestaltung, Kartenicons, Kulturvergleichende Kartographie, Regionale Kartographie, Deutschland, China This article compares selected aspects of German and Chinese cartographic symbol designs. Cultural preferences concerning class boundaries, standardization issues and sign interactions are documented and assessed. The article correlates the cartographic symbol findings with the respective cultural differences. n Keywords: Map Design, Map Icons, Cross-Cultural Cartography, Regional Cartography, Germany, China 1 Einführung Auf den folgenden Seiten wird versucht, anhand von einigen Ergebnissen einer im Vorjahr abgeschlossenen Dissertation (Angsüsser, 2011) das Potenzial und die Notwendigkeit kulturvergleichender Untersuchungen in der Kartographie aufzuzeigen. In der Arbeit, die für den Lehrstuhl für Kartographie der Technischen Universität München und unter der Betreuung durch Frau Prof. Liqiu Meng durchgeführt worden ist, wurde ein Vergleich ausgewählter Kartenzeichen aus deutschen und chinesischen Stadtplänen vorgenommen. Die Strukturierung dieses Vergleichs erfolgte auf kartosemiotischer Grundlage, die im vorliegenden Beitrag jedoch nicht näher erläutert werden kann (siehe Kapitel T3 und P2 der Dissertation). Die komparative Vorgangsweise führte zu einer Reihe von Unterschieden, deren hypothetische Verknüpfung mit Unterschieden zwischen den beiden Kulturen zu weiteren Untersuchungen anregen könnten. KN 3/2012 2 Die untersuchten Karten zeichen Bei den untersuchten Kartenzeichen handelt es sich um Kartenicons, worunter „alle nicht-verbalen, kleinen [...], sowie isolierten Zeichen (bzw. zusammengesetzten Zeichen), die Informationsentitäten mit kartographischem Bezug kommunizieren“ (Angsüsser, 2006:151) und im Kartenfeld vorkommen, verstanden werden. Der Grund für die Wahl dieses Begriffs liegt darin, dass es keinen etablierten Fachterminus in der Kartographie gibt, der den selben Bedeutungsumfang hat. Die größte semantische Nähe weisen die Begriffe Punktsignatur und Piktogramm auf. Ersterer schließt beispielsweise punkthafte Zeichen, die sich auf Flächen beziehen, aus, während letzterer nicht auf realitätsnähere Darstellungen (z.B. kleine Photos) angewendet werden kann (eine ausführlichere Begründung, warum dieser Begriff gewählt worden ist, findet sich in Kapitel T1 der Dissertation; siehe auch Angsüsser, 2005). Insgesamt wurden 540 Kartenicons aus 20 deutschen bzw. 476 aus 20 chinesischen Stadtplänen ausgewählt (für Beispiele siehe die Abbildungen in den Tabellen 1, 2 und 3). Dabei war es notwendig unterschiedliche Kriterien heranzuziehen, um eine möglichst aussagekräftige und dennoch handhabbare Auswahl zu bekommen (Näheres zur Auswahl findet sich am Beginn des Kapitels P2 der Dissertation). Für jedes Kartenicon wurden verschiedene Attribute (z.B. Farbe, Farbverlauf, Art der Figurenform, Abgrenzung zu benachbarten Zeichen, Größe) bestimmt, die die Grundlage für die weiteren Vergleiche bildeten. 3 Die untersuchten Kulturen Der Einfachheit halber wurden die beiden einbezogenen Länder als eigenständige und in sich homogene „nationale“ Kulturen betrachtet. Dies mag vor allem im Hinblick auf den chinesischen Vielvölkerstaat als zu grob erscheinen. Die 55 dort anerkannten Minderheiten bilden jedoch weniger als 10 % der Bevölkerung, während der Rest der Han-Ethnie zugerechnet werden kann (TAVuS, 2006). Um die beiden Kulturen charakterisieren zu können, wurden Ergebnisse aus der kulturvergleichenden Forschung herangezogen. Von besonderer Bedeutung sind hierbei so genannte Kulturvariablen (siehe unten). 4 Drei mögliche kartographische Kulturunterschiede Im Hauptteil dieses Beitrags werden drei mögliche kartographische Kulturunterschiede vorgestellt. Als mögliche kartographische Kulturunterschiede werden hier solche Unterschiede zwischen den untersuchten Kartenicons der beiden Länder bezeichnet, die sich aus Sicht der Verfasser mit Unterschieden in den Kulturvariablen hypothetisch verknüpfen lassen. 4.1 Die Ausgeprägtheit von Klassengrenzen Zu den markantesten Unterschieden zwischen den Kartenicon-Sets zählt die Häufigkeit der Verwendung von Farbverläufen. Während in der deutschen Auswahl kein einziges Exemplar doku- S. Angsüsser, L. Meng: Kartengestaltung besser verstehen mentiert werden konnte, fanden sich in der chinesischen insgesamt 38 (8 % aller Kartenicons). Die Beliebtheit dieses Gestaltungsmittels in China zeigt sich weiters darin, dass es in den ausgewählten Stadtplänen ebenso bei einer Reihe von anderen Kartenzeichen – für Seen, Parks, Grünflächen, Straßen und Flüsse – angetroffen werden kann, während es in Deutschland generell nur sehr sporadisch zur Anwendung gekommen ist. Ein genauerer Blick auf die 38 chinesischen Beispiele offenbart zwei Anwendungen von Farbverläufen (Tab. 1): einerseits als Hinweis auf die dritte Dimension und andererseits aus rein ästhetischen Gründen. Obwohl die zweite Gruppe nur weniger als ein Viertel der Fälle umfasst, zeigt sie den eigenständigen Wert von Farbverläufen unabhängig von einer rein unterstützenden Funktion als Tiefenhinweis. Um der Frage nach einem möglichen Kultureinfluss auf diesen Unterschied nachgehen zu können, gilt es zunächst, den Begriff „Kultur“ zu konkretisieren. Grundsätzlich manifestieren sich die Charakteristika einer Kultur auf drei Ebenen: In der Art, wie Menschen denken, wie sie handeln und welche Artefakte sie in welcher Weise hervorbringen (in Anlehnung an Bodley, 1994 nach Jervis, 2006:4). Karten – und somit ebenso alle in ihnen enthaltenen Zeichen – können der materiellen Kultur zugerechnet werden (vgl. Stams, 2002a). Das Aussehen von Kartenicons im Sinn von Artefakten einer Kultur kann somit als das Ergebnis von Handlungen, die wiederum die Folge einer bestimmten Art zu denken sind, aufgefasst werden. Darin zeigt sich die übergeordnete Bedeutung des Denkens für die Charakterisierung von Kulturen. Um die Art des Denkens verschiedener Kulturen beschreiben zu können, haben Peng und Nisbett 1999 das Gegensatzpaar „holistisches Denken“ („holistic thought“) versus „analytisches Denken“ („analytic thought“) eingeführt (nach Norenzayan et al., 2007:577). Zusammenfassend können diese beiden prototypischen Denkarten wie folgt beschrieben werden (in Anlehnung an Nisbett et al., 2001:293): Das holistische Denken wird geprägt durch eine verstärkte Einbindung des Kontexts bzw. allgemeiner ANGEWANDTE KARTOGRAPHIE Tab. 1: Die zwei Anwendungen von Farbverläufen bei den chinesischen Kartenicons (nach Angsüsser, 2011:123, Tab.P4.02; verändert) Anzahl Kartenicons mit Farbverlauf ... Beispiele Kartenicons Bedeutungen (vergrößert) absolut relativ [%] ... als Hinweis auf die 3. Dimension 29 76,3 Sehenswürdigkeit ... aus ästhetischen Gründen 9 23,7 Toilette Summe 38 100,0 Quellen Sehenswürdigkeit: Dandong Verkehrs- und Touristenplan, ca. 1:22000, Harbin Kartenverlag, 2006 Toilette: Chengdu Straßenplan, 1:30000, Chengdu Kartenverlag, 2007 von Beziehungen. Es neigt eher zu einer dialektischen Sichtweise, die eine stärkere Berücksichtigung von Veränderungen und Gegensätzen erlaubt, jedoch gleichzeitig versucht, dadurch auftretende Konflikte durch die Einbeziehung mehrerer Sichtweisen und die aktive Suche nach einem „Weg der Mitte“ aufzulösen. Das analytische Denken hingegen vernachlässigt den Kontext eher und konzentriert sich auf Objekte bzw. Sachverhalte, die es aus seiner Umgebung herauszulösen und mittels geeigneter Attribute zu beschreiben versucht. Darauf aufbauend erfolgt eine Zuordnung zu bestimmten Kategorien, die weiters die Anwendbarkeit bestimmter Regeln impliziert. Die Berücksichtigung von Gegensätzen innerhalb einer Klasse wird möglichst vermieden, da sie die Kategorisierung erschwert. Nisbett und seine Kollegen gehen davon aus, dass sich die beiden Denkarten in geradezu prototypischer Weise in den alten Kulturen Griechenlands (analytisch) bzw. Chinas (holistisch) herausgebildet haben (Nisbett et al., 2001:292ff; Nisbett, 2003:33ff). Darüber hinaus legen auch Ergebnisse verschiedener kulturvergleichender Studien (z.B. Marcus / Gould, 2000; Kühnen / Hannover / Roeder, 2001 nach Norenzayan et al., 2007:588) nahe, die deutsche Kultur als stärker analytisch und die chinesische als stärker holistisch einstufen zu können. Auch der oben vorgestellte Unterschied hinsichtlich des Einsatzes von Farbverläufen lässt sich mit der Art des Denkens in Zusammenhang bringen. Dies gilt insbesondere in jenen Fällen, in denen dieses Gestaltungsmittel offensichtlich aus ästhetischen Gründen gewählt worden ist. Hier wurde einerseits innerhalb einer Fläche ein farblicher Kontrast aufgebaut, der jedoch andererseits durch ein kontinu- ierliches Ineinanderüberführen der beiden Farben wieder abgeschwächt worden ist. Mit eine Rolle, warum auf deutscher Seite derartige Darstellungen eher unbeliebt zu sein scheinen, mag auch spielen, dass eine eindeutige Identifizierung der verwendeten Farben hier sehr schwer fällt bzw. gar nicht mehr möglich ist. Das analytische Denken bevorzugt klare Trennungen, da diese das Klassifizieren – und somit das Benennen – erleichtern. 4.2 Der Wert von Standardisierungen Bei mehreren untersuchten Attributen fiel die größere Vielfalt an verschiedenen Ausprägungen in China auf. So beträgt beispielsweise die insgesamt eingesetzte Zahl an unterschiedlichen Farben auf deutscher Seite 19, während es auf chinesischer Seite 40 sind1. Die stärkere Tendenz, zu variieren statt zu standardisieren, lässt sich besonders eindrucksvoll anhand der in den ausgewählten Stadtplänen vorhandenen Icons für U-BahnStationen (bzw. Stadtbahn-Stationen) nachvollziehen. Diese Zeichen eignen sich für einen diesbezüglichen Vergleich besonders gut, da sie grundsätzlich schon im Realraum vorkommen. In Tabelle 2 sind die betreffenden Kartenicons aus zwei Stuttgarter und drei Pekinger Stadtplänen mit entsprechenden Photos aus den beiden Städten gegenübergestellt worden. Sofort fallen die starke Übereinstimmung auf deutscher Seite (immer die gleichen Farben für die Figur bzw. den Hintergrund) und die starke Variation 1 Die Farben wurden nach ihrem Ton und ihrer Helligkeit (bzw. Sättigung) klassifiziert. Bei 13 Farbtönen wurde deshalb eine Unterscheidung in eine hellere, eine voll gesättigte und eine dunklere Variante vorgenommen. Zu diesen 39 Farben kamen noch Schwarz und Weiß hinzu, womit insgesamt 41 Farben möglich waren (d.h. auf chinesischer Seite war nur eine dieser Farbklassen – helles Türkis – nicht besetzt). KN 3/2012 141 142 ANGEWANDTE KARTOGRAPHIE S. Angsüsser, L. Meng: Kartengestaltung besser verstehen auf chinesischer Seite (nur beim rechten Beispiel wird Weiß wie im Realraum für die Figur verwendet) auf. Es ist weiters wichtig darauf hin zu weisen, dass in allen drei chinesischen Stadtplänen – jedoch bei anderen Kartenzeichen – eine passende blaue Farbe Verwendung fand. Warum wurde diese nicht auch bzw. bevorzugt beim U-Bahn-Zeichen eingesetzt, wo doch hier im Realraum bereits eine zumindest weitgehende Konvention gegeben ist? Ausgangspunkt für eine mögliche Erklärung kann auch hier der Unterschied zwischen analytischem und holistischem Denken sein. Es wurde bereits erwähnt, dass ersteres eher dazu neigt, Regeln zu formulieren, da es stärker von den laufenden Veränderungen im Realraum abstrahiert. Die ganzheitlichere Herangehensweise misst derartigen Regeln hingegen weniger Bedeutung zu, da das Beziehungsgeflecht, in das jegliches Phänomen – und damit auch Kartenzeichen – eingebunden ist, ständigen Veränderungen unterworfen ist. Im vorliegenden Fall sind diese zwar eher als gering anzunehmen, wenn sich aber auf der Basis einer bestimmten Art zu Denken eine entsprechende Disposition zu handeln herausgebildet hat, so kann diese durchaus ebenso im vorliegenden Fall die involvierten Entscheidungen beeinflusst haben. Eine Konsequenz könnte eine allgemeine Bevorzugung von Änderung, Abwechslung und in der Folge Vielfalt sein. Standardisierungen fördern die Herausbildung einer Konvention und führen dadurch zu einer Steigerung der Effizienz bei der Decodierung der Zeichen. Deren Bedeutungen sind bekannt und können entsprechend schneller abgerufen werden. Dies passt ebenfalls gut zu einem anderen Unterschied, der zwischen westlichen und östlichen Kulturen festgestellt worden ist (z.B. Syarief et al., 2003) und mittels der Variablen „Mitteilungsgeschwindigkeit“ („message speed“) beschrieben werden kann (Hall, 1966 nach Syarief et al., 2003). Dabei geht es um die Geschwindigkeit, mit der Menschen Nachrichten austauschen (ebd.). Es kann angenommen werden, dass sie in Deutschland höher ist als in China. Eine möglichst hohe Effizienz bei der Decodierung wäre demnach hier ein erstrebenswerteres Ziel als in China. Ein weiterer Aspekt, den Nisbett angesprochen hat, betrifft den Unterschied zwischen einer eher westlichen „Senderorientierung“ („transmitter orientation“) und einer eher östlichen „Empfängerorientierung“ („receiver orientation“) (2003 : 60f). Bei ersterer ist der Sender, bei zweiterer hingegen der Empfänger einer Nachricht mehr für das Gelingen der Kommunikation verantwortlich. Das Bestreben, Konventionen einzuführen und zu etablieren kann direkt nur von der Senderseite ausgehen. In Deutschland scheint das Interesse daran, dies auch tatsächlich umzusetzen, größer zu sein als in China. Anders formuliert: Eine Adaption der miteinander kommunizierenden Personen findet in beiden Ländern statt – in Deutschland jedoch vorrangig auf Senderseite und in China vorrangig Tab. 2: Beispiele für U-Bahn-Zeichen (bzw. Stadtbahn-Zeichen) in Stuttgart und Peking (in Anlehnung an Angsüsser, 2011:120, Tab.P4.01) Iconstandardisierung Kartenicons (vergrößert) Stuttgart Realraumicons Stuttgart links: Amtlicher Stadtplan Stuttgart, 1:15000, Stadtmessungsamt Stuttgart, 2007 Stuttgart rechts: Stadtplan Stuttgart und Umgebung, 1:20000, GeoMap Medienagentur, ca. 2005 Stuttgart Photo: Angsüsser (2007-02-16, verändert) Quellen Peking links: Peking Touristen- und Freizeitplan, ca. 1:67000, Kartenverlag der VR China, 2004 Peking mitte: Peking Verkehrs- und Touristenplan, ca. 1:68000, Kartenverlag der VR China, 2006 Peking rechts: Peking Verkehrsatlas, ca. 15000, Kommunikationsverlag der VR China, 2003 Peking Photo: Angsüsser (2004-03-26, verändert) KN 3/2012 Peking auf Empfängerseite. Dies dürfte zumindest mit ein Grund dafür sein, dass die Gestaltungsfreiräume bei den Kartenherstellern im Land der Mitte größer sind als hierzulande. Um der Hauptverantwortung für das Gelingen der Kommunikation dennoch gerecht werden zu können, müssen chinesische Zeichenempfänger daher alle vorhandenen Kontextinformationen und deren Beziehungen untereinander einbeziehen. Grundlegend dafür ist wiederum die holistische Art zu denken. Alle drei Erklärungsansätze lassen sich somit miteinander verbinden. 4.3 Die Beurteilung von Wechselwirkungen zwischen Kartenzeichen Als drittes Beispiel soll das Zusammenspiel zwischen verschiedenen Kartenzeichen angesprochen werden. Von den 540 deutschen Kartenicons weisen 299 (55 %) entweder einen Hintergrund oder eine Randlinie oder beides auf, während es von den 476 chinesischen nur 121 (25 %) sind (Tab. 3). Beide graphischen Ausdrucksformen dienen der Abgrenzung von anderen Kartenzeichen – einerseits von jenen in darunter liegenden Darstellungsebenen und andererseits von solchen in der gleichen Darstellungsebene. Erstere werden in der Folge zusammenfassend als „Kartenhintergrund“ bezeichnet. Dieser ist hier demnach von jenem zu unterscheiden, der Teil einzelner Kartenicons ist. Fehlt dieser „Iconhintergrund“, so ergibt sich eine stärkere Wechselwirkung zwischen der Iconfigur und dem Kartenhintergrund bzw. anderen benachbarten Zeichen. Auf deutscher Seite wird eher versucht, derartige Wechselwirkungen und gegenseitige Beeinflussungen zu unterbinden. Dafür spricht auch die mehr als vierfach höhere Anzahl an Icons mit sowohl Hintergrund als auch Randlinie in der deutschen Auswahl (Tab. 3). Die bisher angesprochenen Differenzen zwischen den beiden Kulturen bezüglich der Art zu denken, der Mitteilungsgeschwindigkeit und der Sender-/Empfängerorientierung lassen sich allesamt ebenso mit den hier dokumentierten Unterschieden in Zusammenhang bringen. Das analytische Herauslösen und Trennen sowie die schnellere Erfassbarkeit der Icons auf Empfängerseite sprechen für Eigenschaften der deutschen Kultur, S. Angsüsser, L. Meng: Kartengestaltung besser verstehen während gegenteilige Argumente für die chinesische Seite formuliert werden können. Zwei wichtige Kulturvariablen, die sich eigentlich mit den Beziehungen zwischen Individuum und Gemeinschaft beschäftigen, lassen sich in metaphorischem Sinn auch auf Kartenzeichen anwenden. So kann unter Individuum ein einzelnes Kartenzeichen und unter Gemeinschaft jene aller Kartenzeichen in einem Kartenfeld verstanden werden. Bei den beiden Kulturvariablen handelt es sich um „Individualismus-Kollektivismus“ im Sinn von Hofstede (1983) und „Kontextualismus“ im Sinn von Hall (1966 nach Matsumoto, 2004). Erstere beschreibt den Unterschied zwischen Gesellschaften in denen das nach Unabhängigkeit strebende Individuum stärker im Vordergrund steht, und solchen in denen die Einzelnen stärker von Ihrer Einbindung in soziale Netzwerke abhängig sind. Damit in Zusammenhang steht die zweite Variable, die im Fall geringer Ausprägung eine Gesellschaft beschreibt, die dem Individuum eine persistentere Persönlichkeit ermöglicht. In Kulturen hingegen, denen hoher Kontextualismus unterstellt werden kann, wird vom Einzelnen eine stärkere Variation seiner Persönlichkeit – abhängig vom Kontext verschiedener Beziehungsgeflechte, in die er eingebettet ist – erwartet (vgl. Nisbett, 2003 : 50ff). Zu den stärker kollektivistischen Kulturen mit hohem Kontextualismus zählt typischer Weise die chinesische, während Deutschland zu den stärker individualistischen Ländern mit niedrigerem Kontextualismus gerechnet werden kann. Übertragen auf die Frage der Beurteilung von Wechselwirkungen zwischen Kartenicons und anderen Kartenzeichen kann nun wie folgt argumentiert werden: Die deutsche Tendenz, die Kartenicons durch eine ausgeprägtere Abgrenzung von den umgebenden Kartenzeichen zu trennen, betont deren individuelle Erscheinung stärker und unterbindet weitgehend deren – mitunter als störend empfundene – Interaktion mit benachbarten Zeichen. Auf chinesischer Seite hingegen sollen die Icons weniger als isolierte Einzelzeichen, sondern mehr als Teil der Kartenzeichengemeinschaft erscheinen. Sie sind offener für Wechselwirkungen ANGEWANDTE KARTOGRAPHIE Tab. 3: Icons mit Hintergrund bzw. Randlinie 2 in der deutschen (DE) bzw. chinesischen (CN) Auswahl (nach Angsüsser, 2011:104, Tab.P3.13; verändert) Icons mit Hintergrund bzw. Randlinie Anzahl absolut relativ [%] DE CN DE CN nur Hintergrund 285 111 52,8 23,3 nur Randlinie 149 39 27,6 8,2 Hintergrund und/oder Randlinie 299 121 55,4 25,4 sowohl Hintergrund als auch Randlinie 135 29 25,0 6,1 Quellen Beispiele Kartenicons (vergrößert) nur Hintergrund: Topographischer Stadtplan Potsdam und Umgebung, 1:20000, Landesvermessung und Geobasisinformation Brandenburg, 2006 nur Randlinie: Fuzhou Straßenverkehrsplan, ca. 1:15000, Kommunikationsverlag der VR China, Verkehrspolizeiamt Fuzhou, Fuzhou Vermessungsamt, 2007 sowohl Hintergrund als auch Randlinie: Amtlicher Stadtplan Regensburg, 1:12500, Planungs- und Baureferat Regensburg, 2005 mit angrenzenden Zeichen – selbst wenn diese die Lesbarkeit erschweren sollten. Das letzteres vermutlich als weniger störend empfunden wird, kann wiederum mit der oben erwähnten „Empfängerorientierung“ in Zusammenhang gebracht werden. Diese erfordert eine größere Toleranz beim Decodieren von Kartenzeichen. Auf die Toleranz des chinesischen Denkens hat beispielsweise Mall (1995) eigens hingewiesen. Weitere Kulturvariablen, die sich mit den bisherigen Ausführungen verknüpfen lassen, ließen sich anführen. Resümierend kann festgehalten werden, dass sich die diversen Eigenschaften von Kulturen als Knoten eines Netzes auffassen lassen. Bezüglich der Art, Stärke und Richtung der Verbindungen zwischen diesen sind jedoch noch viele Fragen offen. Außerdem ist durchaus noch nicht geklärt, ob schon alle Knoten dieses Netzes bekannt sind bzw. wie viele – ausreichend unabhängig voneinander – angenommen werden können. Aus Sicht der kulturvergleichenden Kartographie von besonderem Interesse ist natürlich, welche Kultureigenschaften den größten Einfluss auf die Gestaltung von kartographischen Medien verschiedener Kulturen haben. 5 Anmerkungen zur Entwicklung und zum Potenzial kulturvergleichender Kartographie Die kulturvergleichende Kartographie ist keine neue Forschungsrichtung innerhalb der Kartographie. Schon 1993 hat Rundstrom als Herausgeber das Themenheft „Introducing Cultural 143 and Social Cartography“ der Zeitschrift „Cartographica“ vorgelegt (1993a). Wie er in dessen Einleitung ausführt, waren es anfangs nicht Kartographen, die sich mit den Beziehungen zwischen Karten und Kulturen beschäftigt haben, sondern Anthropologen, Kunsthistoriker, Historiker, Soziologen oder Literatur- und Sozialtheo retiker. Konsequenterweise waren es daher auch Kartographiehistoriker, die sich in den 80er-Jahren des vorigen Jahrhunderts als erstes innerhalb der Kartographie diesem Thema gewidmet haben (Rundstrom, 1993b). Obwohl diese Forschungsrichtung demnach bereits seit rund 30 Jahren besteht, konnte sie sich nicht als eigenständige Fachdisziplin innerhalb der Allgemeinen Kartographie etablieren. Sie wird primär im Rahmen der Regionalen Kartographie behandelt (vgl. Stams, 2002b). Ihre Nähe zur Kartographiegeschichte hat sie ebenfalls bis heute beibehalten (vgl. Stams, 2002a). Diese betont historische Ausrichtung mag mit ein Grund für die vergleichsweise geringe Aufmerksamkeit, die kulturvergleichenden Untersuchungen aktueller Aspekte der Kartographie bis gegen Ende des 20. Jahrhunderts gewidmet worden ist, sein. In den letzten Jahren scheint sich jedoch diesbezüglich ein Wandel zu vollziehen, der vor allem auf die folgenden drei 2 Sowohl beim Hintergrund als auch bei der Randlinie wurden auch teilweise ausgeführte Formen berücksichtigt. Dabei handelt es sich um solche, die die Figur nicht vollständig umschließen. Relativ zu allen Kartenicons mit Hintergrund bzw. Randlinie betrifft dies in der deutschen Auswahl etwa jedes zehnte und in der chinesischen fast jedes fünfte Icon. Auch dies unterstreicht die Einschätzung, dass derartige Abgrenzungen in China eine geringere Rolle spielen. KN 3/2012 144 ANGEWANDTE KARTOGRAPHIE S. Angsüsser, L. Meng: Kartengestaltung besser verstehen Faktoren zurückgeführt werden kann: 1. Fortschritte in der kulturvergleichenden Forschung anderer Fachrichtungen: In erster Linie ist hier die kulturvergleichende Psychologie anzuführen, die in zahlreichen – teilweise auch für die Kartographie relevanten – Untersuchungen Unterschiede zwischen verschiedenen Kulturen herausgearbeitet hat (siehe z.B. Norenzayan et al., 2007). 2. Aufwertung des Relativismus gegenüber dem Universalismus: Mit eine Folge des ersten Punktes ist eine immer stärkere Abkehr von einer fast ausschließlich universalistischen Sicht auch für die Kartographie grundlegender perzeptiver und kognitiver Aspekte. Beispielsweise haben Chua et al. (2005) durch Augenbewegungsmessungen festgestellt, dass amerikanische und chinesische Versuchspersonen Bilder unterschiedlich betrachten. 3. Anstieg des Interesses an Forschungen bezüglich des Faktors „Mensch“: Während die technischen Möglichkeiten ständig zunehmen, wird das Fehlen fundierter Kenntnisse über die mensch- lichen Einflussfaktoren bei deren erfolgreichen Implementierung immer stärker als Problem bewusst. Dabei spielt sowohl die Frage nach kulturellen Eigenheiten als auch jene nach der global vorhandenen Bandbreite bezüglich dieser Faktoren eine wichtige Rolle. Das Potenzial einer nicht nur auf historische Fragestellungen hin ausgerichteten kulturvergleichenden kartographischen Forschung besteht vor allem in einem Erkenntnisgewinn in Bezug auf ein besseres Verständnis der Gestaltung aktueller kartographischer Medien anderer Kulturen, wie auch der eigenen Kultur. Letzteres wird häufig übersehen, obwohl es ein zentrales Anliegen vergleichender Untersuchungen sein sollte. Nur so lässt sich klären, welche Gestaltungspräferenzen kulturspezifisch sind und worin sich die Gemeinsamkeiten manifestieren. 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