11. Prävention und Gesundheitsförderung 11.1 Definitionen
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11. Prävention und Gesundheitsförderung 11.1 Definitionen
Martin Hörning 11. Prävention und Gesundheitsförderung Mit den Begriffen Prävention und Gesundheitsförderung wird bisweilen ein wenig inflationär umgegangen. Oft werden sie synonym verwendet und häufig werden sie für die Bezeichnung sehr unterschiedlicher Maßnahmen und Aktivitäten gebraucht, ohne dass geklärt ist, was genau damit gemeint ist. Die ebenfalls verwendeten Begriffe Gesundheitsaufklärung, Gesundheitsbildung, Gesundheitsberatung und –coaching sowie Gesundheitserziehung tragen nicht gerade zur Begriffsentwirrung bei. Die folgende Beschreibung der Begrifflichkeiten orientiert sich an den Erläuterungen der BZgA (Stand Juni 2010). 11.1 Definitionen Lange Zeit haben eher akute Erkrankungen das Leben der Menschen bedroht. Mit den technischen und pharmakologischen Errungenschaften vor allem des letzten Jahrhunderts haben die meisten der früher lebensbedrohlichen Leiden ihren Schrecken verloren. Die durchschnittliche Lebenserwartung der Menschen ist deutlich gestiegen, sie beträgt bei der Geburt (Stand 2008) 77,6 Jahre bei Männern und 82,7 bei Frauen. Herz-Kreislauf- und Krebserkrankungen führen die Liste der häufigsten Todesursachen an. Diese wie auch andere weit verbreitete Erkrankungen sind zumindest zum Teil Lebensstil-bedingt. Aufgrund der gestiegenen Lebenserwartung und auch der langen Lebenserwartung haben die Beseitigung von krankheitsrelevanten Risikofaktoren und die Förderung von Gesundheit stark an Bedeutung gewonnen. Letztlich lassen sich zwei Wege unterscheiden, wie diese Ziele erreicht werden können. Der ältere der beiden Wege, die Prävention, hat sich aus der Sozialmedizin des 19. Jahrhunderts entwickelt. Die jüngere Gesundheitsprävention ist aus den Debatten der Weltgesundheitsorganisation in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhundert entstanden. Vereinfacht gesagt fokussiert die Prävention auf die Vermeidung von krankmachenden Faktoren. Die Gesundheitsförderung dagegen setzt bei den Faktoren an, die Gesundheit stärken. Beides hat letztlich die Gesundheit zum Ziel, allerdings ist der theoretische Hintergrund, auf dem diese erreicht werden soll, unterschiedlich. Im Arbeitsalltag dagegen lässt sich manchmal gar nicht genau sagen, ob eine Intervention eher zur Prävention oder zur Gesundheitsförderung zu rechnen ist. 11.1.1 Prävention Der Begriff Prävention umfasst Maßnahmen zur Verhütung: • von Krankheiten durch die Beseitigung von Krankheitsursachen, • von bereits bestehenden krankhaften Befunden oder Krankheiten und • der Verschlimmerung bestehender Krankheiten Üblich ist die Einteilung der Prävention nach verschiedenen Kriterien. Nach dem Zeitpunkt des Einsatzes kann Primär-, Sekundär- und Tertiärprävention voneinander unterschieden werden. Bei der Primärprävention wird versucht, eine Erkrankung zu verhüten, bevor überhaupt unnormale oder krankheitsbedingte Befunde auftreten. Klassische Beispiele dafür sind Schutzimpfungen, die Beseitigung von belastenden Arbeitsplatzfaktoren, Ausdauertraining zur Förderung der Herz-Kreislauf-Funktion oder Kurse zum Erlernen eines gesunden Essverhaltens. Bei der Sekundärprävention liegt schon ein unnormaler Befund vor. Dieser soll so früh wie möglich entdeckt werden, noch bevor sich das komplette Krankheitsbild mit entsprechenden Symptomen entwickelt. Die Krankheitsfrüherkennungsuntersuchungen gehören in diese Präventionsphase. In so genannten Vorsorgeuntersuchungen werden beispielsweise Krebsfrühformen zu erkennen versucht. Auch die Identifizierung und Meidung von Triggerfaktoren, die beim Asthma eine Bronchokonstriktion auslösen können, gehört zur Sekundärprävention. Und wenn versucht wird, das Konsumverhalten eines suchtgefährdeten Menschen positiv zu beeinflussen, dann gehört das auch in diesen Bereich. Die tertiäre Prävention lässt sich mit der Verhütung von Krankheitsverschlechterung übersetzen. Es liegt also bereits eine manifeste Erkrankung vor und es soll verhindert werden, dass sich die Krankheit verschlechtert, chronisch wird oder Rückfälle auftreten. Diese Definition überschneidet sich teilweise mit der der medizinischen Rehabilitation. Zur Tertiärprävention zählen beispielsweise stationäre Maßnahmen, um die HerzKreislauffunktion nach einem Herzinfarkt zu verbessern. In den letzten Jahren ist zunehmend deutlicher geworden, dass eine Einteilung nach dem Zeitpunkt der Prävention oft schwer trennscharf zu treffen ist. Daher setzen sich mehr und mehr die Begriffe „universelle“, „selektive“ und „indizierte Prävention“ durch. Diese Einteilung richtet sich nicht mehr nach dem Zeitpunkt, an dem die Maßnahmen ansetzen, sondern nach den Zielgruppen, die mit den Maßnahmen erreicht werden sollen. Die universelle Prävention richtet sich an die Gesamtheit einer bestimmten Bevölkerungsgruppe (zum Beispiel die Einwohner einer Stadt, die Mitarbeiter eines Betriebes oder auch die Bevölkerung eines Landes). Werden nur diejenigen Gruppen berücksichtigt, die ein Risiko haben, eine bestimmte Erkrankung zu entwickeln (zum Beispiel die Kinder suchtkranker oder psychisch kranker Eltern), handelt es sich um selektive Prävention. Und wenn Maßnahmen auf gefährdete Einzelpersonen ausgerichtet ist, dann zählt das zur indizierten Prävention. Auch nach den Ansatzpunkten lässt sich die Prävention in drei Bereiche gliedern: Zu der sogenannten „medizinischen“ Prävention werden im Wesentlichen Schutzimpfungen und Früherkennungsuntersuchungen gezählt, da medizinische Diagnostik oder Interventionen im Vordergrund der Maßnahmen stehen. Wird vor allem versucht, Risikoverhalten zu beeinflussen (beispielsweise Rauchen, Bewegungsmangel, Über- und Fehlernährung oder Drogengebrauch) oder gesundheitsrelevantes Verhalten zur fördern, zählt dies zur „Verhaltensprävention“. Einfach ist die Verhaltensänderung übrigens nicht. Es gibt eine Fülle von Gründen, warum Menschen häufig ein gesundheitlich bedenkliches Verhalten praktizieren, obwohl ihr Lebensplan in der Regel auf eine lange Lebenszeit hin angelegt ist. Positive (Lustgewinn) oder negative Verstärkung (Spannungsreduktion) verhindern oft ein rational beurteilt gesundes Verhalten. Die „Verhältnisprävention“ schließlich beinhaltet Maßnahmen und Strategien, die darauf zielen, gesellschaftliche Strukturen zu verändern, um Gesundheitsrisiken zu beeinflussen. Sie zielt, so hat es die Bundesregierung 1994 formuliert, „auf die Verringerung oder Beseitigung von Krankheits- und Unfallursachen in den allgemeinen Lebens-, Arbeits- und Umweltverhältnissen. Dazu zählen Aktivitäten in den Bereichen Gesundheits-, Sozial- und Umweltpolitik ebenso wie die betriebliche Gesundheitsförderung oder kommunale Aktivitäten im Bereich Gesundheit. Einig ist man sich darüber, dass idealerweise Maßnahmen der Verhaltens- und Verhältnisprävention kombiniert werden sollten. nach dem Zeitpunkt nach den Zielgruppen nach den Ansatzpunkten Einteilung der Prävention Primär-, Sekundär- und Tertiärprävention Universelle, selektive und indizierte Prävention Medizinische, Verhaltens- und Verhältnisprävention 11.1.2 Gesundheitsförderung Der Begriff der Gesundheitsförderung ist eng mit den Aktivitäten der Weltgesundheitsorganisation verbunden. Es ist ein Konzept, das im Gegensatz zur Prävention nicht bei den Krankheiten sondern bei der Gesundheit ansetzt. Das Ziel ist die Stärkung von gesundheitlichen Ressourcen und Potenzialen von Menschen. Das bedeutet, dass weniger nach Risikofaktoren und verursachenden Faktoren von Erkrankungen gesucht wird, sondern viel mehr danach, was Menschen gesund erhalten kann. Daher ist das Konzept der Gesundheitsförderung sehr eng verbunden mit dem Salutogenesemodell. Wie auch bei der Prävention kann sich die Gesundheitsförderung auf mehreren Ebenen abspielen. Zum einen wird versucht, die individuellen Lebensweisen zu verändern, zum anderen liegen auch die gesundheitsrelevanten Lebensbedingungen im Fokus der Gesundheitsförderung. Der Begriff ist eng verbunden mit der Konferenz der WHO in Alma Ata, bei der 1978 das Programm „Gesundheit für alle 2000“ beschlossen wurde (siehe auch WHO-Dokumente in der Literatur). Ziele und Prinzipien der Gesundheitsförderung wurden dann in den Folgekonferenzen in Ottawa 1986 und Jakarta 1997 konkretisiert. Die Ottawa Charter enthält drei grundsätzliche Handlungsstrategien und fünf vorrangige Handlungsfelder. Als Handlungsstrategien wurden beschrieben: • Advocate (Anwaltschaft für Gesundheit): durch Beeinflussung politischer, biologischer und sozialer Faktoren soll Gesundheit gefördert werden. • Enable (Befähigen und Ermöglichen): Kompetenz sollen gefördert werden, um Unterschiede des Gesundheitszustands zu verringern und größtmögliches Gesundheitspotential zu verwirklichen. • Mediate (Vermitteln und Vernetzen): alle Akteure innerhalb und außerhalb des Gesundheitswesens sollen kooperieren. Und als vorrangige Handlungsfelder wurden herausgestellt: • Entwicklung einer gesundheitsfördernden Gesamtpolitik – Gesundheit wird als Querschnittsthema verstanden, das alle politischen Bereiche, nicht nur die Gesundheits- und Sozialpolitik, betrifft. • Schaffung gesundheitsunterstützender Umwelten für die Gesundheit – ein deutlicher Bezug zur Ökologie und Umweltpolitik. • Stärkung gesundheitsbezogener Gemeinschaftsaktionen – Selbsthilfe, Nachbarschaftshilfe, Gemeinwesenarbeit und Partizipation sind hier zu verorten. • Entwicklung persönlicher Kompetenzen – hier geht es um Kompetenzbildung, Empowermentprozesse, die Entwicklung der eigenen Persönlichkeit und lebenslanges Lernen. • Neuorientierung der Gesundheitsdienste – die institutionelle Ebene, gefordert wird eine Neuorientierung und Vernetzung. Diese Handlungsfelder wurden später in Jakarta noch einmal bekräftigt. Dort wurde auch Gesundheitsförderung als Schlüsselqualifikation bezeichnet und als ein Prozess, der Menschen befähigen soll, mehr Kontrolle über ihre Gesundheit zu erlangen und sie zu verbessern. Herausgestellt wurde in dieser Deklaration auch die Bedeutung von Settings, d.h. Lebensbereiche, in denen Menschen den größten Teil ihrer Zeit verbringen. Diese bieten gute Ansätze für die Umsetzung der – möglichst in Kombination verwendeten – fünf Strategien. Die Strategien und Handlungsfelder machen deutlich, dass Gesundheitsförderung keine Sache allein medizinischer Fachleute ist. Um die Ziele zu erreichen, ist die Zusammenarbeit einer Reihe unterschiedlicher Professionen notwendig. Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter können ihren wichtigen Teil dazu beitragen und sind aufgrund ihrer Profession mit Blick auf soziale Netzwerke und Ressourcenorientierung per se gut für die Übernahme von Aufgaben im Bereich der Gesundheitsförderung geeignet. 11.1.3 Gesundheitsaufklärung Mit Hilfe der Gesundheitsaufklärung soll der Wissensstand der Bevölkerung im Kontext Krankheit und Gesundheit verbessert werden. Dies ist die Voraussetzung dafür, dass Menschen die Verantwortung für ihre eigene Gesundheit und die ihrer Mitmenschen übernehmen können. Ein Ziel ist daher auch, Menschen zu motivieren, aktiv für die Förderung von Gesundheit zu sorgen. In Deutschland gibt es eine Fülle von öffentlichen und privaten Institutionen, die im Sinne der Gesundheitsaufklärung tätig sind. Eine der bekanntesten Institutionen ist die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA). Diese Fachbebörde im Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Gesundheit (BMG) hat insbesondere folgende Aufgaben: • Erarbeitung von Grundsätzen und Richtlinien für Inhalte und Methoden der praktischen Gesundheitserziehung, • Aus- und Fortbildung der auf dem Gebiet der Gesundheitserziehung und -aufklärung tätigen Personen, • Koordinierung und Verstärkung der gesundheitlichen Aufklärung und Gesundheitserziehung im Bundesgebiet, • Zusammenarbeit mit dem Ausland. Aber auch Krankenkassen, niedergelassene Ärztinnen und Ärzte, Gesundheitsämter, Fachgesellschaften und Bildungseinrichtungen werden im Sinne der Gesundheitsaufklärung tätig. Häufig werden die Informationen über Massenmedien vermittelt. 11.1.4 Gesundheitsbildung Die Gesundheitsbildung wird als Teil der Erwachsenenbildung verstanden. Ein wichtiger Anbieter sind die Volkshochschulen. Dort hat sich das Thema Gesundheit zu dem am meisten nachgefragten Programmsegment entwickelt. Die wichtigsten Themenbereiche sind nach Aussage des Deutschen Volkshochschul-Verbandes Ernährung, Bewegung und Entspannung. Die Angebote werden zu mehr als 80 Prozent von Frauen wahrgenommen. Weitere Anbieter sind kirchliche Familienbildungsstätten, Bildungshäuser von Gewerkschaften und Verbänden etc. 11.1.5 Gesundheitserziehung Vom Sprachverständnis her wird Erziehung eher mit einer Belehrung und Anleitung von Kindern und Jugendlichen verknüpft. So lagen die Schwerpunkte der Gesundheitserziehung auch traditionell im Bereich der Verhaltensprävention, vor allem der Vermeidung von Risikoverhalten. Die WHO hat die Gesundheitserziehung umfassender definiert als Erziehungs- und Bildungsmaßnahmen, die Menschen dabei unterstützen, aktiv für die eigene Gesundheit zu sorgen. Mittlerweile ist dieser Gesundheitsförderungsansatz auch in den Lehrplänen bundesdeutscher Schulen enthalten. Auch für Kindergärten und Kindertagesstätten wurden entsprechende Module entwickelt. Das englische „health education“ geht ebenfalls über den engen Erziehungskontext hinaus und umfasst zusätzlich Aspekte der Gesundheitsbildung. In Deutschland scheint sich mittlerweile die Bedeutung des Begriffs der Gesundheitserziehung in diese Richtung gewandelt zu haben. Manche Autoren sehen die Gesundheitserziehung mittlerweile als einen Teilbereich der Gesundheitsförderung an. 11.1.6 Gesundheitsberatung und -coaching Die Beratung, auch die Gesundheitsberatung, ist nicht ganz eindeutig zu definieren. Im Allgemeinen werden als Grundlagen dieser speziellen Form der Kommunikation die Freiwilligkeit, die zeitliche Begrenzung und die Problemorientierung genannt. Vorausgesetzt wird, dass der zu Beratende ein gewisses Maß an Selbstständigkeit besitzt (anders als in der therapeutischen Beziehung, die sehr wohl durch ein deutliches Ungleichgewicht in der Beziehung geprägt sein kann). Nach Peter Sabo (BZgA online) erfolgt die Gesundheitsberatung zurzeit in fünf unterschiedlichen Feldern: • Ärztliche Gesundheitsberatung im einzelnen Arzt-Patienten-Kontakt oder in Gruppen in der Arztpraxis • Gesundheitsberatung in Krankenhäusern, Gesundheitsämtern, Einrichtungen der Rehabilitation, in Betrieben und Settings für Einzelne und in Gruppen z.B. durch die verschiedenen Fachleute aus dem Gesundheitswesen bzw. anderer Träger und Initiativen der Gesundheitserziehung und Gesundheitsförderung (Selbsthilfe) • Gesundheitsbezogene Institutions- und Politikberatung • Verbraucherinformation und Patientenberatung (Patientenschulung) • Beratung im Internet oder Online Als Gesundheitsberater können eine Reihe von Fachleuten, nicht nur Ärzte und Ärztinnen, tätig werden. In zunehmendem Maße eröffnen sich hier auch Angehörigen sozialer Berufe Tätigkeitsfelder. Immer häufiger wird auch der Begriff des Gesundheitscoachings verwendet, der sich im Alltagsgebrauch in großen Teilen mit der Gesundheitsberatung überschneidet. Coaching wird allerdings häufiger verwendet, um nicht nur einen Beratungsprozess bei definierter Problemlage zu beschreiben, sondern um eine Begleitung bei der individuellen oder der Organisations-Weiterentwicklung zu beschreiben. Oft geschieht dieser Beratungsprozess auf der Grundlage eines systemischen Ansatzes. 11.2 Status quo von Gesundheitsförderung und Prävention Schon seit Jahren wird immer wieder darüber diskutiert, Prävention/Gesundheitsförderung per Gesetz zu unterstützen. 2005 wurde eines solches Präventionsgesetz entworfen. Das Ziel war damals, die Gesundheitsförderung/Prävention als vierte Säule neben der Akutbehandlung, der Pflege und der Rehabilitation im Gesundheitssystem zu verankern. Als Träger der Maßnahmen und Leistungen für Prävention waren die gesetzlichen Kranken-, Pflege-, Unfall- und Rentenversicherungen im Gespräch. Politische Mehrheiten fanden sich jedoch dafür nicht, so dass die Pläne erst einmal aufgegeben wurden. Und auch zurzeit (Mitte 2010) bestehen keine Hinweise darauf, dass ein solches Gesetz in den nächsten Jahren realisiert werden sollte. Stattdessen wird an einer Bündelung der Präventionsaktivitäten und einer Forschungsförderung in diesem Bereich gedacht. 11.3 Salutogenese Aaron Antonovsky hat in den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts ein Gesundheitskonzept entwickelt, das die Krankheits- und Risikoorientierung der Prävention in Frage gestellt hat. Für ihn war nicht ausschlaggebend, was Menschen krank macht, sondern was Menschen – obwohl sie ständig Belastungen und Risiken ausgesetzt sind – gesund erhält. In Abgrenzung zur Pathogenese (der medizinische Begriff für die Beschreibung Entstehen und Entwicklung einer Erkrankung) entstand der Name Salutogenese (hergeleitet von salus, lt., Gesundheit, Wohlbefinden). Gesundheit und Krankheit sind nach diesem Modell zwei Seiten eines Kontinuums, zwischen denen der einzelne Mensch ständig die Position wechselt, je nachdem, ob die salutogenetischen oder pathogenetischen Prozesse überwiegen. Für den ständigen Standortwechsel sind die Risiken und Belastungen sowie die personalen und sozialen Schutzfaktoren verantwortlich. Ein wichtiger Bestandteil des Salutogenesekonzeptes sind die generalisierten Widerstandsressourcen. Dazu zählen beispielsweise ein gut funktionierendes Immunsystem, gute materielle Versorgung, Wissen um Gesundheit, gesundheitsfördernde Verhaltensweisen, ein gutes soziales Netz etc. Sind genügend dieser Ressourcen vorhanden, kann sich das so genannte Kohärenzgefühl (der „sence of coherence“) entwickeln. Nach Antonovsky ist das eine Lebensorientierung, die das Leben als zusammenhängend und sinnvoll wahrnimmt. Dieses Kohärenzgefühl ist gegeben, wenn jemand das Gefühl hat: • die Welt ist verstehbar • sie ist durch den Einsatz eigener Ressourcen beeinflussbar • sie ist sinnvoll, d.h. dass Veränderungsprozesse als letztlich sinnvoller Bestandteil der Welt erlebt werden. Ein Mensch, der ständig durch Veränderungen und Belastungen überrascht wird, sich diesen ausgeliefert fühlt und keinen Sinn in ihrem Auftreten finden kann, der hat keine Chancen, ein nennenswertes Kohärenzgefühl zu entwickeln. Anzumerken ist, dass das Salutogenesekonzept heutzutage zwar sehr bekannt, aber letztlich empirisch noch nicht endgültig bestätigt und wegen unzureichender Operationalisierung der Kernbegriffe auch methodisch nicht gut untermauert ist. 11.4 Settingansatz Der Erfolg klassischer Programme zur Gesundheitserziehung und -bildung, bei denen versucht wurde, mittels Information und Appellen die Gesundheit von Einzelpersonen zu fördern, war eher begrenzt. Die Erfahrung hat gezeigt, dass es sinnvoller ist, einzelne Menschen oder Gruppen zu informieren, zu unterstützen und dazu zu bewegen, ein gesünderes Leben zu führen, wenn systematisch dort angesetzt wird, wo die Menschen leben, arbeiten und ihre Freizeit verbringen. Ein solches soziales System wird auch als Setting bezeichnet. Für die Entwicklung der Gesundheitsförderung war es ein wichtiger Schritt, die Settings zu berücksichtigen. Für die WHO wurde dieser Ansatz sogar zu einer Schlüsselstrategie, die unter anderem auch in den Zielen von „Gesundheit 21 – Gesundheit für alle im 21. Jahrhunderts“ des Europabüros der WHO noch einmal bekräftigt wurde. Eine Reihe von Programmen, die von der WHO initiiert wurden, orientiert sich an den Settings, so zum Beispiel das Gesunde-Städte-Programm. Mögliche Setting für gesundheitsfördernde Intervention können sein: Schule, Betrieb, Gemeinde und Familie, In der Sozialen Arbeit wird statt des „Settingansatzes“ der in weiten Bereichen deckungsgleiche Begriff der „Sozialraumorientierung“ verwandt. 11.5 Empowerment „Befähigen und Ermöglichen“ – das ist eine der drei Handlungsstrategien, die von der WHO für die Gesundheitsförderung gefordert werden. Nach dem Verständnis der Weltgesundheitsorganisation entsteht Gesundheit unter anderem dadurch, dass man für sich selbst und für andere sorgt, dass man in der Lage ist, selber Entscheidungen zu fällen und eine Kontrolle über die eigenen Lebensumstände auszuüben. Mit dieser Aussage ist letztlich Empowerment gefordert – der Prozess, bei dem Menschen sich ermutigt fühlen, ihre eigenen Angelegenheiten in die Hand zu nehmen, die eigenen Kompetenzen zu entdecken, die eigenen Kräfte einzusetzen und den Wert selbst erarbeiteter Lösungen zu schätzen. Der Begriff Empowerment, wörtlich „Ermächtigung“, stammt aus den USA und wird heute in mehrerem Bedeutungen gebraucht, für: • den Prozess der „Selbst-Ermächtigung“ • die professionelle Unterstützung von Menschen mit dem Ziel, Autonomie und Selbstbestimmung zu stärken • den Zustand von Selbstbestimmung und -verantwortung Im Kontext Gesundheit ist Empowerment besonders wichtig bei chronischen Erkrankungen, die mit den Methoden der klassischen kurativen Medizin nicht vollständig zu behandeln sind. Die Bewältigung langfristiger Krankheitsverläufe, der Umgang mit Symptomen, die Koordination und die Unterstützung der Behandlungen sowie die Verarbeitung der sozialen Folgen von Krankheit erfordern letztlich die Aktivität der Erkrankten. Das Empowerment-Konzept hat in der Sozialen Arbeit zum Teil zu einem Perspektivenwechsel geführt. Die Grundhaltung, dass Klienten Menschen mit Defiziten sind, die der Hilfe von Experten bedürfen, wurde abgelöst durch die Erkenntnis, dass viele angebliche Defizite das Ergebnis sozialer Strukturen und mangelnder Ressourcen sind. 11.6 Gesundheit und soziale Ungleichheit Es gibt eine Fülle von Untersuchungen, die darauf hinweisen, dass das Risiko, an bestimmten Leiden zu erkranken und früher zu sterben, vom sozialen Status abhängt und in den niedrigen Statusgruppen am höchsten ist. Schlaganfall, Diabetes mellitus, bestimmte Krebsformen und koronare Herzerkrankungen sind Beispiele für solche schichtabhängigen Krankheiten. Als ein Grund für diesen Zusammenhang wird vermutet, dass diese Leiden unter anderem durch Faktoren verursacht werden, die vom individuellen Gesundheitsverhalten beeinflusst werden. Und dieses wiederum weist eine Status-Abhängigkeit auf. Dies konnte auch in einem eher reichen Land wie Deutschland für die Risikofaktoren Rauchen, Bewegungsmangel und Übergewicht nachgewiesen werden. Auch die Selbsteinschätzung des eigenen Gesundheitszustandes, die psychische Gesundheit, der Lebensstil und die Lebenserwartung sind schichtabhängig. Es gibt nur wenige Ausnahmen von diesem Zusammenhang, zum Beispiel kommen bei Angehörigen höherer Statusgruppen Allergien häufiger vor. Soziale Ungleichheit wird üblicherweise in zwei Kategorien eingeteilt: • Vertikale Ungleichheit bezeichnet die Faktoren, die in einer Bevölkerung ungleich verteilt sind und die es ermöglichen, eine Einteilung nach sozialer Schicht zu treffen. Im Kontext Gesundheit werden in Studien vor allem die Kategorien berufliche Bildung, beruflicher Status und Einkommen verwendet. • Horizontale Ungleichheit entstehet durch die Faktoren, die quer durch alle Schichten ungleich verteilt sind, zum Beispiel Alter, Nationalität, Geschlecht, Familienstand. Ein wichtiger Begriff in der Diskussion der sozialen Ungleichheit ist die Armut. Es gibt unterschiedliche Arten, Armut zu definieren. In der EU wird als armutsgefährdet definiert, wer weniger als 60 Prozent des Mittelwertes aller bedarfsgewichteten Nettoeinkommen verdient. Bei einem Ein-Personen-Haushalt lag diese Grenze 2008 bei 781 Euro/Monat, bei einer vierköpfigen Familie je nach Alter der Kinder zwischen 1.640,10 und 1.952,50 Euro je Monat. Armutsgefährdet ist demnach jeder achte Deutsche. Diese Definition wird allerdings oft missverstanden, da als „arm“ erst der bezeichnet wird, der weniger als 40 Prozent verdient. Hartz IV-Empfänger können also je nach Haushaltsgruppe durchaus unter die Armutsgefährdungsgrenze rutschen, liegen aber über der Armutsgrenze. Nach den Ergebnissen des Sozio-ökonomischen Panels (SOEP) lebten im Jahr 2008 in Deutschland rund 14 Prozent der Bevölkerung in Haushalten mit einem Einkommen unterhalb der Armutsrisikoschwelle. Das Armutsrisiko ist ungleich verteilt, besonders hoch ist es für Jugendliche und junge Erwachsene (2008 lebten knapp ein Viertel der Erwachsenen im Alter von 19 bis 25 Jahren in Haushalten mit einem verfügbaren Einkommen unterhalb der Armutsschwelle.) und Alleinerziehende (mehr als 40 Prozent der Personen in Haushalten von Alleinerziehenden mit minderjährigen Kindern galten 2008 als einkommensarm). Mit multivariaten Regressionsanalysen ist es möglich, die Bedeutung der Einflussfaktoren auf das Armutsrisiko zu quantifizieren. Als wichtigste Korrelate des Armutsrisikos lassen sich so benennen (Quelle SOEP, Berechnungen des DIW Berlin, nach Grabla und Frick 2008): Single bis 25 Jahre und Alleinerziehend. Weitere Risikofaktoren für Armut sind das Leben als Paar mit Kindern jünger als 17, Erwerbslosigkeit, Migrationshintergrund (außerhalb EU-15), Leben in Ostdeutschland sowie ein schlechter Gesundheitsstatus. Die Armut wird sehr häufig mit gesundheitlicher Ungleichheit in Verbindung gebracht. Das Fehlen materieller Ressourcen allein kann aber den statistischen Zusammenhang nicht erklären. Weitere Gründe für die soziale Ungleichheit der Gesundheit sind Unterschiede in den gesundheitlichen Belastungen (Arbeitsplatz, Wohnort…), Unterschiede in den gesundheitlichen Ressourcen (soziales Netzwerk, Wissen über Gesundheit…) sowie Unterschiede in der gesundheitlichen Versorgung (Arz-Patient-Kommunikation, Arztwahl, Therapieangebote etc.) GRAFIK zu 11.6. In dieser Grafik ist vereinfacht dargestellt, wie soziale Ungleichheit zur Ungleichheit der Gesundheit führen kann. Vor allem auf drei Ebenen wirken sich Unterschiede im sozialen Status aus : externe Faktoren, die entweder als Belastung oder Ressource wirken können, das individuelle Gesundheits- und Krankheitsverhalten mitsamt dem Lebensstil und die Möglichkeiten der Versorgung im System Gesundheit. Diese Ebenen stehen natürlich auch in Wechselwirkungen miteinander und bestimmen schließlich, wie gesund jemand ist. Die Diskussion „soziale Ungleichheit“ und Gesundheit wird häufig isoliert mit dem Blick allein auf die vertikale Ungleichheit geführt. Dieses Vorgehen ist aber simplifizierend und berücksichtigt nicht, dass innerhalb einer sozialen Schicht eine Fülle von unterschiedlichen gesundheitsrelevanten Lebensstilen vorliegen kann. Gerade bei der Entwicklung von Interventionen im Bereich Prävention und Gesundheitsförderung ist es wichtig, auch die horizontale Ungleichheit zu berücksichtigen. Durch die Kombination beider Merkmalsgruppen lassen sich die Bevölkerungsgruppen definieren, die besonders gefährdet sind und die über ähnliche Lebenseinstellungen und –stile verfügen. Die Verringerung der Ungleichheit der Gesundheitschancen ist nicht nur eine Aufgabe der Gesundheitspolitik, sondern betrifft auch andere politische Bereiche wie die Arbeits-, Sozial-, Familien- und Wirtschaftspolitik. In einigen europäischen Ländern wurden bereits politische Programme zu Beseitigung der gesundheitlichen Ungleichheit implementiert, in Deutschland besteht noch Nachholbedarf. Aus den anderen Ländern ist bekannt, dass es sinnvoll ist, die Personen, deren Gesundheitschancen erhöht werden sollen, frühzeitig in die Planung von Maßnahmen einzubeziehen (Partizipation). Außerdem ist es sinnvoll, nach dem Setting- Ansatz vorzugehen, die Menschen also dort abzuholen, wo sie ihren Alltag verbringen (siehe auch Lampert und Mielck 2008). Der Zusammenhang zwischen niedrigem sozialen Status und Gesundheit kann aber nicht nur aus der Sicht von „Armut macht krank“ betrachtet werden. Umgekehrt kann eine längerfristige starke gesundheitliche Beeinträchtigung auch dazu führen, dass jemand auf der sozialen Stufenleiter ein paar Schritte hinab machen muss. Und eine chronische beeinträchtigende Erkrankung kann natürlich dazu führen, dass Ausbildungschancen nicht wahrgenommen werden können und sich die Einkommenschancen deutlich verschlechtern. „Krankheit macht arm“ ist also im Einzelfall ebenso zutreffend. Literatur: Allhoff, P. et al. (Hrsg.): Krankheitsverhütung und Früherkennung: Handbuch der Prävention, 2. Auflage, Berlin: Springer, 1997. Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZGA) (Hrsg.): Online-Version der Leitbegriffe der Gesundheitsförderung. Stand Juni 2010; abrufbar unter http://www.leitbegriffe.bzga.de/ Grabka, M.M. und Frick, J.R.: Weiterhin hohes Armutsrisiko in Deutschland: Kinder und junge Erwachsene sind besonders betroffen. Wochenberichte des DIW, Berlin 2010. Lampert, T. und Mielck, A.: Gesundheit und soziale Ungleichheit - Eine Herausforderung für Forschung und Politik. G+G Wissenschaft, Jg. 8, Heft 2 (April): 7–16 Naidoo, J. und J. Wills: Lehrbuch der Gesundheitsförderung. Hrsg. Von der BZgA. Verlag für Gesundheitsförderung, 2003. Robert Koch Institut (Hrsg.): Beiträge zur Gesundheitsberichterstattung des Bundes Armut, soziale Ungleichheit und Gesundheit. Expertise des Robert Koch-Instituts zum 2. Armutsund Reichtumsbericht der Bundesregierung. Robert Koch Institut, Berlin 2005. WHO Europa (Hrsg.): Gesundheit21: Eine Einführung zum Rahmenkonzept „Gesundheit für alle“ für die Europäische Region der WHO; (Europäische Schriftenreihe „Gesundheit für alle“ ; Nr. 5), 1998 WHO-Dokumente (pdf, englisch): Alma Ater: http://www.who.int/hpr/NPH/docs/declaration_almaata.pdf Ottawa Charta: http://www.who.int/hpr/NPH/docs/ottawa_charter_hp.pdf Jakarta Deklaration: http://www.who.int/hpr/NPH/docs/jakarta_declaration_en.pdf