11. Prävention und Gesundheitsförderung 11.1 Definitionen

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11. Prävention und Gesundheitsförderung 11.1 Definitionen
Martin Hörning
11. Prävention und Gesundheitsförderung
Mit den Begriffen Prävention und Gesundheitsförderung wird bisweilen ein wenig inflationär
umgegangen. Oft werden sie synonym verwendet und häufig werden sie für die Bezeichnung
sehr unterschiedlicher Maßnahmen und Aktivitäten gebraucht, ohne dass geklärt ist, was
genau damit gemeint ist. Die ebenfalls verwendeten Begriffe Gesundheitsaufklärung,
Gesundheitsbildung, Gesundheitsberatung und –coaching sowie Gesundheitserziehung tragen
nicht gerade zur Begriffsentwirrung bei. Die folgende Beschreibung der Begrifflichkeiten
orientiert sich an den Erläuterungen der BZgA (Stand Juni 2010).
11.1 Definitionen
Lange Zeit haben eher akute Erkrankungen das Leben der Menschen bedroht. Mit den
technischen und pharmakologischen Errungenschaften vor allem des letzten Jahrhunderts
haben die meisten der früher lebensbedrohlichen Leiden ihren Schrecken verloren. Die
durchschnittliche Lebenserwartung der Menschen ist deutlich gestiegen, sie beträgt bei der
Geburt (Stand 2008) 77,6 Jahre bei Männern und 82,7 bei Frauen. Herz-Kreislauf- und
Krebserkrankungen führen die Liste der häufigsten Todesursachen an. Diese wie auch andere
weit verbreitete Erkrankungen sind zumindest zum Teil Lebensstil-bedingt. Aufgrund der
gestiegenen Lebenserwartung und auch der langen Lebenserwartung haben die Beseitigung
von krankheitsrelevanten Risikofaktoren und die Förderung von Gesundheit stark an
Bedeutung gewonnen. Letztlich lassen sich zwei Wege unterscheiden, wie diese Ziele erreicht
werden können.
Der ältere der beiden Wege, die Prävention, hat sich aus der Sozialmedizin des 19.
Jahrhunderts entwickelt. Die jüngere Gesundheitsprävention ist aus den Debatten der
Weltgesundheitsorganisation in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhundert entstanden.
Vereinfacht gesagt fokussiert die Prävention auf die Vermeidung von krankmachenden
Faktoren. Die Gesundheitsförderung dagegen setzt bei den Faktoren an, die Gesundheit
stärken. Beides hat letztlich die Gesundheit zum Ziel, allerdings ist der theoretische
Hintergrund, auf dem diese erreicht werden soll, unterschiedlich. Im Arbeitsalltag dagegen
lässt sich manchmal gar nicht genau sagen, ob eine Intervention eher zur Prävention oder zur
Gesundheitsförderung zu rechnen ist.
11.1.1 Prävention
Der Begriff Prävention umfasst Maßnahmen zur Verhütung:
• von Krankheiten durch die Beseitigung von Krankheitsursachen,
• von bereits bestehenden krankhaften Befunden oder Krankheiten und
• der Verschlimmerung bestehender Krankheiten
Üblich ist die Einteilung der Prävention nach verschiedenen Kriterien. Nach dem Zeitpunkt
des Einsatzes kann Primär-, Sekundär- und Tertiärprävention voneinander unterschieden
werden. Bei der Primärprävention wird versucht, eine Erkrankung zu verhüten, bevor
überhaupt unnormale oder krankheitsbedingte Befunde auftreten. Klassische Beispiele dafür
sind Schutzimpfungen, die Beseitigung von belastenden Arbeitsplatzfaktoren,
Ausdauertraining zur Förderung der Herz-Kreislauf-Funktion oder Kurse zum Erlernen eines
gesunden Essverhaltens.
Bei der Sekundärprävention liegt schon ein unnormaler Befund vor. Dieser soll so früh wie
möglich entdeckt werden, noch bevor sich das komplette Krankheitsbild mit entsprechenden
Symptomen entwickelt. Die Krankheitsfrüherkennungsuntersuchungen gehören in diese
Präventionsphase. In so genannten Vorsorgeuntersuchungen werden beispielsweise
Krebsfrühformen zu erkennen versucht. Auch die Identifizierung und Meidung von
Triggerfaktoren, die beim Asthma eine Bronchokonstriktion auslösen können, gehört zur
Sekundärprävention. Und wenn versucht wird, das Konsumverhalten eines suchtgefährdeten
Menschen positiv zu beeinflussen, dann gehört das auch in diesen Bereich.
Die tertiäre Prävention lässt sich mit der Verhütung von Krankheitsverschlechterung
übersetzen. Es liegt also bereits eine manifeste Erkrankung vor und es soll verhindert werden,
dass sich die Krankheit verschlechtert, chronisch wird oder Rückfälle auftreten. Diese
Definition überschneidet sich teilweise mit der der medizinischen Rehabilitation. Zur
Tertiärprävention zählen beispielsweise stationäre Maßnahmen, um die HerzKreislauffunktion nach einem Herzinfarkt zu verbessern.
In den letzten Jahren ist zunehmend deutlicher geworden, dass eine Einteilung nach dem
Zeitpunkt der Prävention oft schwer trennscharf zu treffen ist. Daher setzen sich mehr und
mehr die Begriffe „universelle“, „selektive“ und „indizierte Prävention“ durch. Diese
Einteilung richtet sich nicht mehr nach dem Zeitpunkt, an dem die Maßnahmen ansetzen,
sondern nach den Zielgruppen, die mit den Maßnahmen erreicht werden sollen.
Die universelle Prävention richtet sich an die Gesamtheit einer bestimmten
Bevölkerungsgruppe (zum Beispiel die Einwohner einer Stadt, die Mitarbeiter eines Betriebes
oder auch die Bevölkerung eines Landes). Werden nur diejenigen Gruppen berücksichtigt, die
ein Risiko haben, eine bestimmte Erkrankung zu entwickeln (zum Beispiel die Kinder
suchtkranker oder psychisch kranker Eltern), handelt es sich um selektive Prävention. Und
wenn Maßnahmen auf gefährdete Einzelpersonen ausgerichtet ist, dann zählt das zur
indizierten Prävention.
Auch nach den Ansatzpunkten lässt sich die Prävention in drei Bereiche gliedern: Zu der
sogenannten „medizinischen“ Prävention werden im Wesentlichen Schutzimpfungen und
Früherkennungsuntersuchungen gezählt, da medizinische Diagnostik oder Interventionen im
Vordergrund der Maßnahmen stehen.
Wird vor allem versucht, Risikoverhalten zu beeinflussen (beispielsweise Rauchen,
Bewegungsmangel, Über- und Fehlernährung oder Drogengebrauch) oder
gesundheitsrelevantes Verhalten zur fördern, zählt dies zur „Verhaltensprävention“. Einfach
ist die Verhaltensänderung übrigens nicht. Es gibt eine Fülle von Gründen, warum Menschen
häufig ein gesundheitlich bedenkliches Verhalten praktizieren, obwohl ihr Lebensplan in der
Regel auf eine lange Lebenszeit hin angelegt ist. Positive (Lustgewinn) oder negative
Verstärkung (Spannungsreduktion) verhindern oft ein rational beurteilt gesundes Verhalten.
Die „Verhältnisprävention“ schließlich beinhaltet Maßnahmen und Strategien, die darauf
zielen, gesellschaftliche Strukturen zu verändern, um Gesundheitsrisiken zu beeinflussen. Sie
zielt, so hat es die Bundesregierung 1994 formuliert, „auf die Verringerung oder Beseitigung
von Krankheits- und Unfallursachen in den allgemeinen Lebens-, Arbeits- und
Umweltverhältnissen. Dazu zählen Aktivitäten in den Bereichen Gesundheits-, Sozial- und
Umweltpolitik ebenso wie die betriebliche Gesundheitsförderung oder kommunale
Aktivitäten im Bereich Gesundheit. Einig ist man sich darüber, dass idealerweise Maßnahmen
der Verhaltens- und Verhältnisprävention kombiniert werden sollten.
nach dem Zeitpunkt
nach den Zielgruppen
nach den Ansatzpunkten
Einteilung der Prävention
Primär-, Sekundär- und Tertiärprävention
Universelle, selektive und indizierte Prävention
Medizinische, Verhaltens- und Verhältnisprävention
11.1.2 Gesundheitsförderung
Der Begriff der Gesundheitsförderung ist eng mit den Aktivitäten der
Weltgesundheitsorganisation verbunden. Es ist ein Konzept, das im Gegensatz zur Prävention
nicht bei den Krankheiten sondern bei der Gesundheit ansetzt. Das Ziel ist die Stärkung von
gesundheitlichen Ressourcen und Potenzialen von Menschen. Das bedeutet, dass weniger
nach Risikofaktoren und verursachenden Faktoren von Erkrankungen gesucht wird, sondern
viel mehr danach, was Menschen gesund erhalten kann. Daher ist das Konzept der
Gesundheitsförderung sehr eng verbunden mit dem Salutogenesemodell.
Wie auch bei der Prävention kann sich die Gesundheitsförderung auf mehreren Ebenen
abspielen. Zum einen wird versucht, die individuellen Lebensweisen zu verändern, zum
anderen liegen auch die gesundheitsrelevanten Lebensbedingungen im Fokus der
Gesundheitsförderung.
Der Begriff ist eng verbunden mit der Konferenz der WHO in Alma Ata, bei der 1978 das
Programm „Gesundheit für alle 2000“ beschlossen wurde (siehe auch WHO-Dokumente in
der Literatur). Ziele und Prinzipien der Gesundheitsförderung wurden dann in den
Folgekonferenzen in Ottawa 1986 und Jakarta 1997 konkretisiert. Die Ottawa Charter enthält
drei grundsätzliche Handlungsstrategien und fünf vorrangige Handlungsfelder.
Als Handlungsstrategien wurden beschrieben:
• Advocate (Anwaltschaft für Gesundheit): durch Beeinflussung politischer,
biologischer und sozialer Faktoren soll Gesundheit gefördert werden.
• Enable (Befähigen und Ermöglichen): Kompetenz sollen gefördert werden, um
Unterschiede des Gesundheitszustands zu verringern und größtmögliches
Gesundheitspotential zu verwirklichen.
• Mediate (Vermitteln und Vernetzen): alle Akteure innerhalb und außerhalb des
Gesundheitswesens sollen kooperieren.
Und als vorrangige Handlungsfelder wurden herausgestellt:
• Entwicklung einer gesundheitsfördernden Gesamtpolitik – Gesundheit wird als
Querschnittsthema verstanden, das alle politischen Bereiche, nicht nur die
Gesundheits- und Sozialpolitik, betrifft.
• Schaffung gesundheitsunterstützender Umwelten für die Gesundheit – ein deutlicher
Bezug zur Ökologie und Umweltpolitik.
• Stärkung gesundheitsbezogener Gemeinschaftsaktionen – Selbsthilfe,
Nachbarschaftshilfe, Gemeinwesenarbeit und Partizipation sind hier zu verorten.
• Entwicklung persönlicher Kompetenzen – hier geht es um Kompetenzbildung,
Empowermentprozesse, die Entwicklung der eigenen Persönlichkeit und lebenslanges
Lernen.
• Neuorientierung der Gesundheitsdienste – die institutionelle Ebene, gefordert wird
eine Neuorientierung und Vernetzung.
Diese Handlungsfelder wurden später in Jakarta noch einmal bekräftigt. Dort wurde auch
Gesundheitsförderung als Schlüsselqualifikation bezeichnet und als ein Prozess, der
Menschen befähigen soll, mehr Kontrolle über ihre Gesundheit zu erlangen und sie zu
verbessern.
Herausgestellt wurde in dieser Deklaration auch die Bedeutung von Settings, d.h.
Lebensbereiche, in denen Menschen den größten Teil ihrer Zeit verbringen. Diese bieten gute
Ansätze für die Umsetzung der – möglichst in Kombination verwendeten – fünf Strategien.
Die Strategien und Handlungsfelder machen deutlich, dass Gesundheitsförderung keine Sache
allein medizinischer Fachleute ist. Um die Ziele zu erreichen, ist die Zusammenarbeit einer
Reihe unterschiedlicher Professionen notwendig. Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter
können ihren wichtigen Teil dazu beitragen und sind aufgrund ihrer Profession mit Blick auf
soziale Netzwerke und Ressourcenorientierung per se gut für die Übernahme von Aufgaben
im Bereich der Gesundheitsförderung geeignet.
11.1.3 Gesundheitsaufklärung
Mit Hilfe der Gesundheitsaufklärung soll der Wissensstand der Bevölkerung im Kontext
Krankheit und Gesundheit verbessert werden. Dies ist die Voraussetzung dafür, dass
Menschen die Verantwortung für ihre eigene Gesundheit und die ihrer Mitmenschen
übernehmen können. Ein Ziel ist daher auch, Menschen zu motivieren, aktiv für die
Förderung von Gesundheit zu sorgen.
In Deutschland gibt es eine Fülle von öffentlichen und privaten Institutionen, die im Sinne der
Gesundheitsaufklärung tätig sind. Eine der bekanntesten Institutionen ist die Bundeszentrale
für gesundheitliche Aufklärung (BZgA). Diese Fachbebörde im Geschäftsbereich des
Bundesministeriums für Gesundheit (BMG) hat insbesondere folgende Aufgaben:
• Erarbeitung von Grundsätzen und Richtlinien für Inhalte und Methoden der
praktischen Gesundheitserziehung,
• Aus- und Fortbildung der auf dem Gebiet der Gesundheitserziehung und -aufklärung
tätigen Personen,
• Koordinierung und Verstärkung der gesundheitlichen Aufklärung und
Gesundheitserziehung im Bundesgebiet,
• Zusammenarbeit mit dem Ausland.
Aber auch Krankenkassen, niedergelassene Ärztinnen und Ärzte, Gesundheitsämter,
Fachgesellschaften und Bildungseinrichtungen werden im Sinne der Gesundheitsaufklärung
tätig.
Häufig werden die Informationen über Massenmedien vermittelt.
11.1.4 Gesundheitsbildung
Die Gesundheitsbildung wird als Teil der Erwachsenenbildung verstanden. Ein wichtiger
Anbieter sind die Volkshochschulen. Dort hat sich das Thema Gesundheit zu dem am meisten
nachgefragten Programmsegment entwickelt. Die wichtigsten Themenbereiche sind nach
Aussage des Deutschen Volkshochschul-Verbandes Ernährung, Bewegung und Entspannung.
Die Angebote werden zu mehr als 80 Prozent von Frauen wahrgenommen.
Weitere Anbieter sind kirchliche Familienbildungsstätten, Bildungshäuser von
Gewerkschaften und Verbänden etc.
11.1.5 Gesundheitserziehung
Vom Sprachverständnis her wird Erziehung eher mit einer Belehrung und Anleitung von
Kindern und Jugendlichen verknüpft. So lagen die Schwerpunkte der Gesundheitserziehung
auch traditionell im Bereich der Verhaltensprävention, vor allem der Vermeidung von
Risikoverhalten.
Die WHO hat die Gesundheitserziehung umfassender definiert als Erziehungs- und
Bildungsmaßnahmen, die Menschen dabei unterstützen, aktiv für die eigene Gesundheit zu
sorgen. Mittlerweile ist dieser Gesundheitsförderungsansatz auch in den Lehrplänen
bundesdeutscher Schulen enthalten. Auch für Kindergärten und Kindertagesstätten wurden
entsprechende Module entwickelt.
Das englische „health education“ geht ebenfalls über den engen Erziehungskontext hinaus
und umfasst zusätzlich Aspekte der Gesundheitsbildung. In Deutschland scheint sich
mittlerweile die Bedeutung des Begriffs der Gesundheitserziehung in diese Richtung
gewandelt zu haben. Manche Autoren sehen die Gesundheitserziehung mittlerweile als einen
Teilbereich der Gesundheitsförderung an.
11.1.6 Gesundheitsberatung und -coaching
Die Beratung, auch die Gesundheitsberatung, ist nicht ganz eindeutig zu definieren. Im
Allgemeinen werden als Grundlagen dieser speziellen Form der Kommunikation die
Freiwilligkeit, die zeitliche Begrenzung und die Problemorientierung genannt.
Vorausgesetzt wird, dass der zu Beratende ein gewisses Maß an Selbstständigkeit besitzt
(anders als in der therapeutischen Beziehung, die sehr wohl durch ein deutliches
Ungleichgewicht in der Beziehung geprägt sein kann).
Nach Peter Sabo (BZgA online) erfolgt die Gesundheitsberatung zurzeit in fünf
unterschiedlichen Feldern:
• Ärztliche Gesundheitsberatung im einzelnen Arzt-Patienten-Kontakt oder in Gruppen
in der Arztpraxis
• Gesundheitsberatung in Krankenhäusern, Gesundheitsämtern, Einrichtungen der
Rehabilitation, in Betrieben und Settings für Einzelne und in Gruppen z.B. durch die
verschiedenen Fachleute aus dem Gesundheitswesen bzw. anderer Träger und
Initiativen der Gesundheitserziehung und Gesundheitsförderung (Selbsthilfe)
• Gesundheitsbezogene Institutions- und Politikberatung
• Verbraucherinformation und Patientenberatung (Patientenschulung)
• Beratung im Internet oder Online
Als Gesundheitsberater können eine Reihe von Fachleuten, nicht nur Ärzte und Ärztinnen,
tätig werden. In zunehmendem Maße eröffnen sich hier auch Angehörigen sozialer Berufe
Tätigkeitsfelder.
Immer häufiger wird auch der Begriff des Gesundheitscoachings verwendet, der sich im
Alltagsgebrauch in großen Teilen mit der Gesundheitsberatung überschneidet. Coaching wird
allerdings häufiger verwendet, um nicht nur einen Beratungsprozess bei definierter
Problemlage zu beschreiben, sondern um eine Begleitung bei der individuellen oder der
Organisations-Weiterentwicklung zu beschreiben. Oft geschieht dieser Beratungsprozess auf
der Grundlage eines systemischen Ansatzes.
11.2 Status quo von Gesundheitsförderung und Prävention
Schon seit Jahren wird immer wieder darüber diskutiert, Prävention/Gesundheitsförderung per
Gesetz zu unterstützen. 2005 wurde eines solches Präventionsgesetz entworfen. Das Ziel war
damals, die Gesundheitsförderung/Prävention als vierte Säule neben der Akutbehandlung, der
Pflege und der Rehabilitation im Gesundheitssystem zu verankern.
Als Träger der Maßnahmen und Leistungen für Prävention waren die gesetzlichen Kranken-,
Pflege-, Unfall- und Rentenversicherungen im Gespräch. Politische Mehrheiten fanden sich
jedoch dafür nicht, so dass die Pläne erst einmal aufgegeben wurden. Und auch zurzeit (Mitte
2010) bestehen keine Hinweise darauf, dass ein solches Gesetz in den nächsten Jahren
realisiert werden sollte. Stattdessen wird an einer Bündelung der Präventionsaktivitäten und
einer Forschungsförderung in diesem Bereich gedacht.
11.3 Salutogenese
Aaron Antonovsky hat in den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts ein Gesundheitskonzept
entwickelt, das die Krankheits- und Risikoorientierung der Prävention in Frage gestellt hat.
Für ihn war nicht ausschlaggebend, was Menschen krank macht, sondern was Menschen –
obwohl sie ständig Belastungen und Risiken ausgesetzt sind – gesund erhält. In Abgrenzung
zur Pathogenese (der medizinische Begriff für die Beschreibung Entstehen und Entwicklung
einer Erkrankung) entstand der Name Salutogenese (hergeleitet von salus, lt., Gesundheit,
Wohlbefinden). Gesundheit und Krankheit sind nach diesem Modell zwei Seiten eines
Kontinuums, zwischen denen der einzelne Mensch ständig die Position wechselt, je nachdem,
ob die salutogenetischen oder pathogenetischen Prozesse überwiegen. Für den ständigen
Standortwechsel sind die Risiken und Belastungen sowie die personalen und sozialen
Schutzfaktoren verantwortlich.
Ein wichtiger Bestandteil des Salutogenesekonzeptes sind die generalisierten
Widerstandsressourcen. Dazu zählen beispielsweise ein gut funktionierendes Immunsystem,
gute materielle Versorgung, Wissen um Gesundheit, gesundheitsfördernde Verhaltensweisen,
ein gutes soziales Netz etc. Sind genügend dieser Ressourcen vorhanden, kann sich das so
genannte Kohärenzgefühl (der „sence of coherence“) entwickeln. Nach Antonovsky ist das
eine Lebensorientierung, die das Leben als zusammenhängend und sinnvoll wahrnimmt.
Dieses Kohärenzgefühl ist gegeben, wenn jemand das Gefühl hat:
• die Welt ist verstehbar
• sie ist durch den Einsatz eigener Ressourcen beeinflussbar
• sie ist sinnvoll, d.h. dass Veränderungsprozesse als letztlich sinnvoller Bestandteil der
Welt erlebt werden.
Ein Mensch, der ständig durch Veränderungen und Belastungen überrascht wird, sich diesen
ausgeliefert fühlt und keinen Sinn in ihrem Auftreten finden kann, der hat keine Chancen, ein
nennenswertes Kohärenzgefühl zu entwickeln.
Anzumerken ist, dass das Salutogenesekonzept heutzutage zwar sehr bekannt, aber letztlich
empirisch noch nicht endgültig bestätigt und wegen unzureichender Operationalisierung der
Kernbegriffe auch methodisch nicht gut untermauert ist.
11.4 Settingansatz
Der Erfolg klassischer Programme zur Gesundheitserziehung und -bildung, bei denen
versucht wurde, mittels Information und Appellen die Gesundheit von Einzelpersonen zu
fördern, war eher begrenzt. Die Erfahrung hat gezeigt, dass es sinnvoller ist, einzelne
Menschen oder Gruppen zu informieren, zu unterstützen und dazu zu bewegen, ein
gesünderes Leben zu führen, wenn systematisch dort angesetzt wird, wo die Menschen leben,
arbeiten und ihre Freizeit verbringen. Ein solches soziales System wird auch als Setting
bezeichnet.
Für die Entwicklung der Gesundheitsförderung war es ein wichtiger Schritt, die Settings zu
berücksichtigen. Für die WHO wurde dieser Ansatz sogar zu einer Schlüsselstrategie, die
unter anderem auch in den Zielen von „Gesundheit 21 – Gesundheit für alle im 21.
Jahrhunderts“ des Europabüros der WHO noch einmal bekräftigt wurde. Eine Reihe von
Programmen, die von der WHO initiiert wurden, orientiert sich an den Settings, so zum
Beispiel das Gesunde-Städte-Programm.
Mögliche Setting für gesundheitsfördernde Intervention können sein: Schule, Betrieb,
Gemeinde und Familie,
In der Sozialen Arbeit wird statt des „Settingansatzes“ der in weiten Bereichen
deckungsgleiche Begriff der „Sozialraumorientierung“ verwandt.
11.5 Empowerment
„Befähigen und Ermöglichen“ – das ist eine der drei Handlungsstrategien, die von der WHO
für die Gesundheitsförderung gefordert werden. Nach dem Verständnis der
Weltgesundheitsorganisation entsteht Gesundheit unter anderem dadurch, dass man für sich
selbst und für andere sorgt, dass man in der Lage ist, selber Entscheidungen zu fällen und eine
Kontrolle über die eigenen Lebensumstände auszuüben. Mit dieser Aussage ist letztlich
Empowerment gefordert – der Prozess, bei dem Menschen sich ermutigt fühlen, ihre eigenen
Angelegenheiten in die Hand zu nehmen, die eigenen Kompetenzen zu entdecken, die eigenen
Kräfte einzusetzen und den Wert selbst erarbeiteter Lösungen zu schätzen.
Der Begriff Empowerment, wörtlich „Ermächtigung“, stammt aus den USA und wird heute in
mehrerem Bedeutungen gebraucht, für:
• den Prozess der „Selbst-Ermächtigung“
• die professionelle Unterstützung von Menschen mit dem Ziel, Autonomie und
Selbstbestimmung zu stärken
• den Zustand von Selbstbestimmung und -verantwortung
Im Kontext Gesundheit ist Empowerment besonders wichtig bei chronischen Erkrankungen,
die mit den Methoden der klassischen kurativen Medizin nicht vollständig zu behandeln sind.
Die Bewältigung langfristiger Krankheitsverläufe, der Umgang mit Symptomen, die
Koordination und die Unterstützung der Behandlungen sowie die Verarbeitung der sozialen
Folgen von Krankheit erfordern letztlich die Aktivität der Erkrankten.
Das Empowerment-Konzept hat in der Sozialen Arbeit zum Teil zu einem
Perspektivenwechsel geführt. Die Grundhaltung, dass Klienten Menschen mit Defiziten sind,
die der Hilfe von Experten bedürfen, wurde abgelöst durch die Erkenntnis, dass viele
angebliche Defizite das Ergebnis sozialer Strukturen und mangelnder Ressourcen sind.
11.6 Gesundheit und soziale Ungleichheit
Es gibt eine Fülle von Untersuchungen, die darauf hinweisen, dass das Risiko, an bestimmten
Leiden zu erkranken und früher zu sterben, vom sozialen Status abhängt und in den niedrigen
Statusgruppen am höchsten ist. Schlaganfall, Diabetes mellitus, bestimmte Krebsformen und
koronare Herzerkrankungen sind Beispiele für solche schichtabhängigen Krankheiten. Als ein
Grund für diesen Zusammenhang wird vermutet, dass diese Leiden unter anderem durch
Faktoren verursacht werden, die vom individuellen Gesundheitsverhalten beeinflusst werden.
Und dieses wiederum weist eine Status-Abhängigkeit auf. Dies konnte auch in einem eher
reichen Land wie Deutschland für die Risikofaktoren Rauchen, Bewegungsmangel und
Übergewicht nachgewiesen werden.
Auch die Selbsteinschätzung des eigenen Gesundheitszustandes, die psychische Gesundheit,
der Lebensstil und die Lebenserwartung sind schichtabhängig. Es gibt nur wenige Ausnahmen
von diesem Zusammenhang, zum Beispiel kommen bei Angehörigen höherer Statusgruppen
Allergien häufiger vor.
Soziale Ungleichheit wird üblicherweise in zwei Kategorien eingeteilt:
• Vertikale Ungleichheit bezeichnet die Faktoren, die in einer Bevölkerung ungleich
verteilt sind und die es ermöglichen, eine Einteilung nach sozialer Schicht zu treffen.
Im Kontext Gesundheit werden in Studien vor allem die Kategorien berufliche
Bildung, beruflicher Status und Einkommen verwendet.
• Horizontale Ungleichheit entstehet durch die Faktoren, die quer durch alle Schichten
ungleich verteilt sind, zum Beispiel Alter, Nationalität, Geschlecht, Familienstand.
Ein wichtiger Begriff in der Diskussion der sozialen Ungleichheit ist die Armut. Es gibt
unterschiedliche Arten, Armut zu definieren. In der EU wird als armutsgefährdet definiert,
wer weniger als 60 Prozent des Mittelwertes aller bedarfsgewichteten Nettoeinkommen
verdient. Bei einem Ein-Personen-Haushalt lag diese Grenze 2008 bei 781 Euro/Monat, bei
einer vierköpfigen Familie je nach Alter der Kinder zwischen 1.640,10 und 1.952,50 Euro je
Monat. Armutsgefährdet ist demnach jeder achte Deutsche.
Diese Definition wird allerdings oft missverstanden, da als „arm“ erst der bezeichnet wird, der
weniger als 40 Prozent verdient. Hartz IV-Empfänger können also je nach Haushaltsgruppe
durchaus unter die Armutsgefährdungsgrenze rutschen, liegen aber über der Armutsgrenze.
Nach den Ergebnissen des Sozio-ökonomischen Panels (SOEP) lebten im Jahr 2008 in
Deutschland rund 14 Prozent der Bevölkerung in Haushalten mit einem Einkommen unterhalb
der Armutsrisikoschwelle. Das Armutsrisiko ist ungleich verteilt, besonders hoch ist es für
Jugendliche und junge Erwachsene (2008 lebten knapp ein Viertel der Erwachsenen im Alter
von 19 bis 25 Jahren in Haushalten mit einem verfügbaren Einkommen unterhalb der
Armutsschwelle.) und Alleinerziehende (mehr als 40 Prozent der Personen in Haushalten von
Alleinerziehenden mit minderjährigen Kindern galten 2008 als einkommensarm).
Mit multivariaten Regressionsanalysen ist es möglich, die Bedeutung der Einflussfaktoren auf
das Armutsrisiko zu quantifizieren. Als wichtigste Korrelate des Armutsrisikos lassen sich so
benennen (Quelle SOEP, Berechnungen des DIW Berlin, nach Grabla und Frick 2008): Single
bis 25 Jahre und Alleinerziehend. Weitere Risikofaktoren für Armut sind das Leben als Paar
mit Kindern jünger als 17, Erwerbslosigkeit, Migrationshintergrund (außerhalb EU-15),
Leben in Ostdeutschland sowie ein schlechter Gesundheitsstatus.
Die Armut wird sehr häufig mit gesundheitlicher Ungleichheit in Verbindung gebracht. Das
Fehlen materieller Ressourcen allein kann aber den statistischen Zusammenhang nicht
erklären. Weitere Gründe für die soziale Ungleichheit der Gesundheit sind Unterschiede in
den gesundheitlichen Belastungen (Arbeitsplatz, Wohnort…), Unterschiede in den
gesundheitlichen Ressourcen (soziales Netzwerk, Wissen über Gesundheit…) sowie
Unterschiede in der gesundheitlichen Versorgung (Arz-Patient-Kommunikation, Arztwahl,
Therapieangebote etc.)
GRAFIK zu 11.6.
In dieser Grafik ist vereinfacht dargestellt, wie soziale Ungleichheit zur Ungleichheit der
Gesundheit führen kann. Vor allem auf drei Ebenen wirken sich Unterschiede im sozialen
Status aus : externe Faktoren, die entweder als Belastung oder Ressource wirken können, das
individuelle Gesundheits- und Krankheitsverhalten mitsamt dem Lebensstil und die
Möglichkeiten der Versorgung im System Gesundheit. Diese Ebenen stehen natürlich auch in
Wechselwirkungen miteinander und bestimmen schließlich, wie gesund jemand ist.
Die Diskussion „soziale Ungleichheit“ und Gesundheit wird häufig isoliert mit dem Blick
allein auf die vertikale Ungleichheit geführt. Dieses Vorgehen ist aber simplifizierend und
berücksichtigt nicht, dass innerhalb einer sozialen Schicht eine Fülle von unterschiedlichen
gesundheitsrelevanten Lebensstilen vorliegen kann. Gerade bei der Entwicklung von
Interventionen im Bereich Prävention und Gesundheitsförderung ist es wichtig, auch die
horizontale Ungleichheit zu berücksichtigen. Durch die Kombination beider
Merkmalsgruppen lassen sich die Bevölkerungsgruppen definieren, die besonders gefährdet
sind und die über ähnliche Lebenseinstellungen und –stile verfügen.
Die Verringerung der Ungleichheit der Gesundheitschancen ist nicht nur eine Aufgabe der
Gesundheitspolitik, sondern betrifft auch andere politische Bereiche wie die Arbeits-, Sozial-,
Familien- und Wirtschaftspolitik. In einigen europäischen Ländern wurden bereits politische
Programme zu Beseitigung der gesundheitlichen Ungleichheit implementiert, in Deutschland
besteht noch Nachholbedarf. Aus den anderen Ländern ist bekannt, dass es sinnvoll ist, die
Personen, deren Gesundheitschancen erhöht werden sollen, frühzeitig in die Planung von
Maßnahmen einzubeziehen (Partizipation). Außerdem ist es sinnvoll, nach dem Setting-
Ansatz vorzugehen, die Menschen also dort abzuholen, wo sie ihren Alltag verbringen (siehe
auch Lampert und Mielck 2008).
Der Zusammenhang zwischen niedrigem sozialen Status und Gesundheit kann aber nicht nur
aus der Sicht von „Armut macht krank“ betrachtet werden. Umgekehrt kann eine
längerfristige starke gesundheitliche Beeinträchtigung auch dazu führen, dass jemand auf der
sozialen Stufenleiter ein paar Schritte hinab machen muss. Und eine chronische
beeinträchtigende Erkrankung kann natürlich dazu führen, dass Ausbildungschancen nicht
wahrgenommen werden können und sich die Einkommenschancen deutlich verschlechtern.
„Krankheit macht arm“ ist also im Einzelfall ebenso zutreffend.
Literatur:
Allhoff, P. et al. (Hrsg.): Krankheitsverhütung und Früherkennung: Handbuch der
Prävention, 2. Auflage, Berlin: Springer, 1997.
Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZGA) (Hrsg.): Online-Version der
Leitbegriffe der Gesundheitsförderung. Stand Juni 2010; abrufbar unter
http://www.leitbegriffe.bzga.de/
Grabka, M.M. und Frick, J.R.: Weiterhin hohes Armutsrisiko in Deutschland: Kinder und
junge Erwachsene sind besonders betroffen. Wochenberichte des DIW, Berlin 2010.
Lampert, T. und Mielck, A.: Gesundheit und soziale Ungleichheit - Eine Herausforderung
für Forschung und Politik. G+G Wissenschaft, Jg. 8, Heft 2 (April): 7–16
Naidoo, J. und J. Wills: Lehrbuch der Gesundheitsförderung. Hrsg. Von der BZgA. Verlag
für Gesundheitsförderung, 2003.
Robert Koch Institut (Hrsg.): Beiträge zur Gesundheitsberichterstattung des Bundes Armut,
soziale Ungleichheit und Gesundheit. Expertise des Robert Koch-Instituts zum 2. Armutsund Reichtumsbericht der Bundesregierung. Robert Koch Institut, Berlin 2005.
WHO Europa (Hrsg.): Gesundheit21: Eine Einführung zum Rahmenkonzept
„Gesundheit für alle“ für die Europäische Region der WHO; (Europäische Schriftenreihe
„Gesundheit für alle“ ; Nr. 5), 1998
WHO-Dokumente (pdf, englisch):
Alma Ater: http://www.who.int/hpr/NPH/docs/declaration_almaata.pdf
Ottawa Charta: http://www.who.int/hpr/NPH/docs/ottawa_charter_hp.pdf
Jakarta Deklaration: http://www.who.int/hpr/NPH/docs/jakarta_declaration_en.pdf