Schadenspiegel 2/2011
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Schadenspiegel 2/2011
Topics Schadenspiegel Ausgabe 2/2011 World Trade Center Zehn Jahre danach Seite 6 Ageing Infrastructure Alte Trafos gefährden Stromnetze Mississippi-Flut 2011 Die Katastrophe bleibt aus Property Einbruch mit Fragezeichen Vorwort Liebe Leserinnen und Leser, die Anschläge auf das World Trade Center am 11. Spetember 2001 haben sich für immer in unser Gedächtnis gebrannt. Viele Menschen erinnern sich beispielsweise noch genau, wo sie sich aufgehalten haben, als sie die schreckliche Nachricht erreichte, und was sie zu iesem Zeitpunkt fühlten. Das Entsetzen über die Dimension der d Anschläge, das Mitleid mit Tausenden von Opfern und die Sorge über die politischen und wirtschaftlichen Auswirkungen haben eine Generation geprägt. Heute, gut zehn Jahre danach, ist Ground Zero eine große Baustelle. Der neue Gebäudekomplex, der derzeit auf dem Gelände der ehemaligen Twin-Towers errichtet wird, ist darum auch weit mehr als ein Wiederaufbau. Es ist vor allem ein Mahnmal gegen das Vergessen. Auch die Versicherungswirtschaft haben die Terroranschläge von damals hart getroffen. Zehn Jahre später ist die Regulierung der Schäden noch immer nicht vollständig abgeschlossen. Die aktuellen Schätzungen der versicherten Schäden belaufen sich auf rund 40 Milliarden Dollar. Nun gilt es Schlüsse zu ziehen aus dem bislang größten Schaden durch Terrorismus: Wie verlief die Schadenregulierung? Wie wurden die Opfer entschädigt? Und vor allem: Was kann die Assekuranz daraus für die Zukunft lernen? Unser Titelthema des neuen Schadenspiegel befasst sich mit diesen Fragen und gibt einen Einblick in die wichtigsten Lehren für die Assekuranz. Eine anregende und nutzbringende Lektüre wünscht Ihnen Ihr Schadenspiegel-Team schadenspiegel@munichre.com NOT IF, BUT HOW MUNICH RE Schadenspiegel 2/2011 1 WTC – zehn Jahre danach Die Anschläge vom 11. September 2001 auf die Zwillingstürme des World Trade Center in New York verursachten den bislang größten Schaden durch Terrorismus. Zehn Jahre danach gilt es, Schlüsse daraus zu ziehen: Wie verlief die Regulierung des Schadens? Welche Probleme ergaben sich bei der Entschädigung der Opfer? Was kann die Assekuranz daraus für die Zukunft lernen? 2 MUNICH RE Schadenspiegel 2/2011 6 Inhalt Weltweit werden Trafos immer älter und damit zum Risiko für die Stromversorgung. Terrorismus WTC – zehn Jahre danach Regulierung der Schäden und Entschädigung der Opfer. Serie: Ageing Infrastructure Trafos kommen in die Jahre Überalterte Transformatoren gefährden Stromnetze. Mississippi-Flut 2011 Gefahr gebannt Deiche und Entlastungsbauwerke verhindern große Schäden. ERdbeben Christchurch Die Grenzen sicheren Bauens Erfolgreiche Prävention erfordert mehr als hohe Baustandards. Schadenliteratur The Long Shadow of 9/11 14 Die Mississippi-Flut ging für die Versicherer glimpflich aus. Die gute Vorsorge hat sich ausgezahlt. 20 6 Property Einbruch mit Fragezeichen Diebstahl auf Bestellung oder Schlamperei? 36 14 20 30 Spread Ladder Swaps Klagewelle bleibt bisher aus Auswirkungen des BGH-Urteils auf die Versicherungsbranche. 38 Engineering Blitzschlag in Leuchtreklame Hochhausbrand verursacht großen Schaden. 44 Großschadenliste 48 Vorwort Unternehmensnachrichten Kolumne Impressum 1 4 47 50 35 MUNICH RE Schadenspiegel 2/2011 3 Nachrichten neue Studie zu 9/11 Naturgefahren Erneuerbare Energien Die Veröffentlichungsreihe „The Geneva Reports“ wird vom Inter national Center for Monetary and Banking Studies (ICMB) in Zu sammenarbeit mit dem Centre for Economic Policy Research (CEPR) herausgegeben. Themenschwerpunkte sind jeweils unterschiedliche Aspekte einer Reform des interna tionalen Finanz- und Wirtschafts systems. Die Verfasser der einzelnen Ausgaben sind international renommierte Volkswirtschaftler. Die Sonderpublikation „September 11 – Ten Years On“ befasst sich mit den langfristigen Auswirkungen der Anschläge vom 11. September auf das Risikomanagement und die Versicherungswelt. Die mexikanische Regierung schließt über den Fondo de Desastres Naturales (Fonden) eine Rückversicherung in Höhe von 4,5 Milliarden mexikanischen Pesos (ca. 0,4 Milliarden US-Dollar) ab. Munich Re ist Leader dieser neuen Deckung. Ziel ist, die öffentliche Infrastruktur gegen Naturkatastrophen abzusichern. Mexiko engagiert sich seit Jahren bei der Analyse solcher schweren Unglücke und der Konzeption effizienter Lösungen. Die Regierung plant, die Infrastruktur nach Naturkatastrophen schnell wieder aufzubauen und der betroffenen Bevölkerung zu helfen. In Traunreuth in Oberbayern (Deutschland) wird seit September der Bohrplatz für einen 60 Meter hohen Bohrturm für ein geothermisches Kraftwerk errichtet. Die Anlage soll bis zu fünf Megawatt elektrische und zwölf Megawatt thermische Energie für Fernwärme aus zwei 5.000 Meter tiefen Bohrungen fördern. Bei der Tiefengeothermie wird heißes Wasser aus bis zu fünf Kilometer tief liegenden Erdschichten an die Oberfläche gepumpt und zur Wärme- oder Stromgewinnung genutzt. Munich Re übernimmt das bei Erdwärmebohrungen erhebliche Fündigkeits risiko. Das bisher größte ErdwärmeKraftwerk in Deutschland mit einer Leistung von 38 Megawatt wurde 2003 in Unterhaching bei München errichtet – als Pilotprojekt bereits damals versichert durch Munich Re. The Geneva Reports Risk and Insurance Research Naturgefahren-Deckung für mexikanische Regierung Mehr Informationen unter: www.genevaassociation.org Geothermieprojekt Traunreuth Kurznachrichten Der Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft (GDV) erfasste für das Jahr 2009 Brandschäden im Wert von 2,341 Milliarden Euro. Das Institut für Brandschutz, VdS, vermittelt auf einer Tagung am 1. Dezember 2011 in Köln Basiswissen zum Thema Brandschutz. www.vds.de/brandschutzkompakt Munich Re investiert in Solarparks. Die MEAG, Ver mögensverwalter von Muniche Re und ERGO, hat eine 37-prozentige Beteiligung an einem Portfolio für Solar anlagen erworben, das 34 Photovoltaik-Anlagen in Spanien und acht in Italien mit einer Gesamtleistung von 168 Megawatt umfasst. 4 MUNICH RE Schadenspiegel 2/2011 Die neue Kundenseminarbroschüre „Knowledge in dialogue“ für das Jahr 2012 ist erschienen. Bitte wenden Sie sich bei Interesse an Ihren Client Manager. Erneuerbare Energien: Munich Re deckt weltweit geltende Leistungsgarantien des japanischen DünnschichtModulherstellers Solar Frontier als erste Deckung dieser Art in Japan. Der spanische König Juan Carlos hat für das ganze Land die Umsetzung von Europäischen Normen für Alarm anlagen verordnet. Ab sofort finden Sie das Online-Magazin von Munich Re „Topics Online“ mit Kommentier-Funktion. Diskutieren Sie mit uns! www.munichre.com/en/topicsonline Nachrichten – Erdbeben Japan Die Produktion wird wieder regionaler Christian Kille, Professor für Handelslogistik an der Fachhochschule Würzburg-Schweinfurt (FHWS), über die Auswirkung von Naturkatastrophen auf Produktion und Lieferketten am Beispiel des schweren Erdbebens in Japan. Schadenspiegel: Herr Professor Kille, hat das schwere Erdbeben Auswirkungen auf die weltweite Warenproduktion und die Lieferketten gehabt? Prof. Christian Kille: Die erste verständliche Nervosität nach den Ereignissen in Japan hat sich mit dem Blick auf die japanischen Exportzahlen inzwischen gelegt. Japan hat im Jahr 2010 in die USA Exporte von 120 Milliarden US-Dollar getätigt und nach Europa Güter im Wert von 65 Milliarden Euro exportiert. Für die USA sind dies sechs Prozent der gesamten Importe, für die Europäische Union zwei Prozent. Aus diesen Zahlen erkennt man, dass die Rolle Japans als Exportland in diese Regionen relativ gering ist. Der Zeitraum hängt natürlich von der jeweiligen Region ab. Innerhalb Europas dauert eine Lieferkette drei bis fünf Tage. Eine Lieferung von China per Schiff dauert fünf bis sieben Wochen, mit Luftfracht sind es nur drei Tage. Ein zusätzlicher Zeitfaktor kann auch eine Unterbrechung der Kette sein: Eine direkte Lieferung Schanghai–Hamburg beträgt fünf Wochen. Wird die Ware in Singapur umgeladen, kann es bis zu sieben Wochen dauern. len, dass die Lieferkette unterbrochen ist und es zu einem Produktionsausfall kommt. Eines darf man aber bei der Einschätzung des Unterbrechungsrisikos von Lieferketten nicht vergessen: Die Einkäufer der Hersteller beginnen unmittelbar nach dem Ausfall eines bestimmten Lieferanten, etwa aufgrund einer Naturkatastrophe, nach alternativen Lieferanten der erforderlichen Produkte oder Teile zu suchen. In diesem Fall spielt es für die Unternehmen keine Rolle, ob die Preise wegen der erhöhten Nachfrage steigen oder aufgrund der Verlagerung des Frachtwegs, beispielsweise von Seeauf Luftfracht. Dies wird in Kauf genommen. Die oberste Priorität der Unternehmen ist es, die Produktion nicht abbrechen zu lassen. Spätestens nach sieben Wochen gibt es also nach einem Ereignis wie in Japan Entwarnung für die Versicherungswirtschaft. Im Zuge der Globalisierung wurden die Lieferketten der Unternehmen stetig länger und immer verletzbarer. Wie geht das weiter? Ein bisschen mehr Zeit sollte eingerechnet werden, da die Lagerbestände abgebaut werden. Aber man kann nach sieben Wochen bereits – egal, in welchem Land die Lieferkette beginnt und wo sie endet – feststel- Es wird eine Trendumkehr geben: Die Produktion rückt wieder näher an den Verbrauchsmarkt. Die Produk tionsstätten werden also regionaler. Beispiel Europa: die Türkei, mit der bereits ein Handelsabkommen Ab wann kann man davon ausgehen, dass eine Lieferkette unterbrochen und ein Schaden eingetreten ist? Der Containerhafen in Tokio besteht, die Länder des Nahen Ostens oder der nordafrikanische Mittelmeerraum. In diesen Regionen kann man günstig produzieren und sie liegen für Europa näher als China oder Indien. Für die USA werden neben Mexiko auch die südamerikanischen Länder als Produktions stätten attraktiver. Die Unternehmen werden künftig zusätzlich daran arbeiten, die Produktionsstätten in Bezug auf die Zielmärkte stärker zu diversifizieren. Dabei werden teurere und aufwendiger zu produzierende Produkte regional näher am jeweiligen Verbrauchsmarkt hergestellt werden, während einfachere und billige Waren nach wie vor auch aus weit entfernten Gebieten importiert werden. Ein weiterer Faktor für die Stabilisierung der Lieferkette ist auch die Suche nach neuen Organisations- bzw. Transportwegen. So gibt es etwa Überlegungen, den Transportweg Schiene stärker Richtung Ostasien auszubauen, um die Abhängigkeit von Schiffs- bzw. Luftverkehr zu verringern. MUNICH RE Schadenspiegel 2/2011 5 Terror WTC – zehn Jahre danach Die Anschläge vom 11. September 2001 auf die Zwillingstürme des World Trade Center (WTC) in New York verursachten den bislang größten Schaden durch Terrorismus. Zehn Jahre danach gilt es, Schlüsse daraus zu ziehen: Wie verlief die Regu lierung des Schadens ? Welche Probleme ergaben sich bei der Entschädigung der Opfer? Was kann die Assekuranz daraus für die Zukunft lernen ? von Prof. Dr. Ina Ebert und Klaus Wenselowski Der Anschlag vom 11. September 2001 verursachte nach groben Schätzungen einen gesamtwirtschaftlichen Schaden von zwei Billionen US-Dollar. Die Auswirkungen des Anschlags waren weltweit spürbar, wenn auch nicht immer eindeutig auf diesen zurückzuführen: So brachte etwa die Sperrung der nationalen Flughäfen für insgesamt 48 Stunden nicht nur viele lokale Fluggesellschaften in große finan zielle Schwierigkeiten bis hin zur Insolvenz, sondern beeinträchtigte beispielsweise auch die internationale Tourismuswirtschaft. Mindestens ebenso komplex waren die Konsequenzen der fünftägigen Schließung der New Yorker Börse. Schwierig ist zudem die Abgrenzung der Folgen des Anschlags von denen der kurz zuvor geplatzten Dotcom-Blase und der beginnenden Wirtschaftskrise. Der versicherte Gesamtschaden des Anschlags wird heute auf rund 40 Milliarden US-Dollar geschätzt. Der Anteil des Sachschadens daran beträgt rund zehn Milliarden US-Dollar. Darin enthalten sind die Schäden am WTC-Komplex und an den umliegenden Gebäuden. Die Höhe der Schäden durch Betriebs ausfälle wird mit elf Milliarden US-Dollar sogar noch etwas höher beziffert. Nahezu alle Versicherungszweige waren von den Anschlägen betroffen – neben Sach-, Luftfahrt-, Transport- und Unfallversicherung auch Workers Compensation sowie Haftpflicht. Selbst kleinere Agro-Schäden wurden reguliert, etwa ein benachbarter Friedhof oder Grünflächen auf dem Gelände des World Trade Center. Das Four World Trade Center, auch 4 WTC genannt, im September 2011. Bis 2013 soll es fertiggestellt sein. MUNICH RE Schadenspiegel 2/2011 7 TERROR Am 11. September 2001 verhüllten Rauch- und Aschewolken das ganze Areal. Viele der den WTC-Komplex umgebenden Gebäude wurden durch die Trümmer der Flugzeuge und der anschließend einstürzenden Türme beschädigt. Besonders das Bankers-Trust-Gebäude erlangte auf diese Weise traurige Berühmtheit: Die Trümmer z erstörten die Fassade des 41-stöckigen Gebäudes aus dem Jahr 1974 und hinterließen eine Art Schlitz über mehr als 20 Stockwerke. Aber das Gebäude stürzte nicht ein. Nach längeren Auseinandersetzungen wurde entschieden, dass trotzdem ein Totalschaden vorliegt und das Gebäude abgerissen werden muss. Der Abriss begann jedoch erst Jahre später und endete im Februar 2011. Die ganze Zeit über war der Bau mit schwarzen Bauplanen umgeben, die ihm den Namen „black widow“ (schwarze Witwe) einbrachten. Die Asbestbeseitigung, ein Brand, Wechsel der mit dem Abriss beauftragten Firmen und die immer wieder auf dem Grundstück gefundenen Leichenteile trugen zu den Verzögerungen bei. Nun soll an dieser Stelle das Gebäude 5 WTC entstehen. Schäden an den Gebäuden Ein oder zwei Ereignisse Der ursprüngliche WTC-Komplex in Manhattan bestand aus insgesamt sieben Gebäuden, die in den 1970er-Jahren fertiggestellt wurden. Besonders markantes Wahrzeichen der Anlage waren die Zwillingstürme: WTC 1, der 417 Meter hohe Nordturm mit charakteristischer Antenne, und der 415 Meter hohe Südturm WTC 2. Sie waren bis 1974 die höchsten Gebäude der Welt. Außerdem gehörten zum Gesamtkomplex zwei Brücken, ein U-Bahnhof, ein Einkaufszentrum und diverse Tiefgaragen. Die Eigentümerin des WTC, die Port Authority, hatte im Juli 2001 die Zwillingstürme und WTC 4 an den US-Immobilienentwickler Larry Silverstein für 99 Jahre vermietet. Als noch langwieriger erwiesen sich die Rechtsstreitigkeiten über die Frage, ob der Einsturz der Zwillingstürme versicherungstechnisch als ein oder zwei Ereignisse zu bewerten sei, der Pächter Larry Silverstein also die Versicherungssumme ein- oder zweimal verlangen konnte. Hintergrund dieser Auseinandersetzungen war, dass die Laufzeit der Sachversicherung für das WTC zwar bereits am 11. September begonnen hatte, aber (mit einer Ausnahme) noch keine endgültigen Policen ausgestellt worden waren. Zudem lagen den Policen der verschiedenen be teiligten Versicherer unterschiedliche Ereignisdefi nitionen zugrunde. Zu dieser Frage ergingen zwei Gerichtsentscheidungen, die wegen der unterschiedlichen Ereignisdefinitionen für die einzelnen Ver sicherer zu abweichenden Ergebnissen führten: Teils wurde von einem, teils von zwei Ereignissen ausgegangen. Erst ein Vergleich im Jahr 2007 beendete diesen Konflikt. Damit werden alle ausstehenden Forderungen in Zusammenhang mit den zerstörten WTC-Gebäuden beglichen. Die von den Flugzeugen direkt getroffenen Türme WTC 1 und 2 brannten etwa 1,5 Stunden bzw. eine Stunde lang, bevor sie einstürzten. Dabei begruben sie WTC 3, ein 22-stöckiges Hotel, unter sich. WTC 7 wurde von den Trümmern des Nordturms getroffen und stürzte am Abend des 11. Septembers ein. WTC 4, 5 und 6 wurden von herabfallenden Trümmern so schwer beschädigt, dass sie abgerissen w erden mussten (siehe Grafik Seite 9). Grund für den Einsturz der Zwillingstürme war nach den Untersuchungsergebnissen des National Institute of Standards and Technology (NIST) nicht nur, dass die Flugzeuge die Stahlträger der Gebäude direkt zerstörten. Sie beschädigten auch die auf die Stahlträger aufgespritzte Feuerschutzbeschichtung, wodurch das Feuer an diesen Stellen auf den ungeschützten Stahl wirken konnte. Zudem war die Feuerschutzbeschichtung auf ein normales Feuer ausgelegt, nicht aber auf ein rund 1.000 Grad Celsius heißes Kerosinfeuer. Die noch nicht zerstörten Stahlträger verloren mit zunehmenden Temperaturen an Festigkeit und wurden durch den Druck der darüber liegenden Stockwerke geknickt. 8 MUNICH RE Schadenspiegel 2/2011 Aufräumarbeiten und Wiederaufbau Die Entsorgung der Trümmer des WTC-Komplexes aus dem Zentrum Manhattans stellte die Behörden vor neue logistische Herausforderungen. Hierfür wurde eine bereits stillgelegte Deponie auf Staten Island (Fresh Kills) wieder geöffnet. So mussten die Trümmer nur einen kurzen Weg über Land transportiert werden, bevor sie mit Lastkähnen zur Deponie verschifft wurden. Die Deponie war für die Öffentlich- TERROR Schäden an den Gebäuden Als die Zwillingstürme (WTC 1 und 2) einstürzten, rissen sie die Gebäude WTC 3 und 7 mit sich. Aber auch viele Gebäude, die mehrere Blocks von dem WTC-Komplex entfernt waren, wurden durch die Trümmer der einstürzenden Türme beschädigt. 1. World Trade Center 1 2. World Trade Center 2 3. Marriott Hotel 4. World Trade Center 4 5. World Trade Center 5 6. World Trade Center 6 7. World Trade Center 7 8. World Financial Center 3 9. World Financial Center 2 10.World Financial Center 1 1.World Financial Center 4 1 12.Winter Garden 13.North Bridge 14.South Bridge 15.St. Nicholas Greek Orthodox Church 16. 130 Liberty Street (Bankers Trust Building) 17.90 West Street 18. Trinity Church 19. 1 Liberty Plaza 20.East River Savings Bank 21.Millennium Hotel 22. Federal Building (90 Church Street) 23. 30 West Broadway 24. Verizon 25. 45 Park Place 26. City Hall Chambers Street st We 26 y St ree t 25 Broadway rra Mu Church Street e et St r Warren Street w Park Pl. Pa r k Ro 23 Barclay Street WTC 7 24 22 Vesey Street 11 8 12 WTC 6 WTC 5 WTC 1 WTC-Plaza 13 9 st We e et St r WTC WTC 2 WTC 4 3 Fulton Street 21 Dey Street 20 Cortland Street 19 14 Keine Schäden Mittelschwere Schäden Schwere Schäden Teilschäden 17 10 n Alba Broadway Liberty Street 15 e et y St r 16 18 Vollständiger Einsturz Quelle: Munich Re MUNICH RE Schadenspiegel 2/2011 9 Terror Baubeginn verzögerte sich lange aufgrund der Wirtschaftskrise, da mögliche Mieter in weniger teure und weniger hohe Gebäude abwanderten, sowie aufgrund verschiedener juristischer Streitigkeiten. Bereits fertiggestellt ist 7 WTC. Derzeit in Bau ist das höchste, jetzt One World Trade Center (1 WTC) genannte Gebäude, das bis 2013 errichtet sein soll. Die Entschädigungen der Verletzten und der Angehörigen waren großzügig bemessen Die ganz überwiegende Mehrheit der rund 17.000 Menschen, die sich zum Zeitpunkt des Anschlags in den Zwillingstürmen aufhielten, konnte rechtzeitig evakuiert werden. Dennoch gab es Tausende von Toten und Verletzten. Die politische Ausnahmesituation nach dem Anschlag vom 11. September veranlasste den US-Kongress alsbald dazu, den Victim Compensation Fund einzusetzen. Dieser Fund sollte die Opfer des Anschlags und ihre Angehörigen zügig entschädigen und gleichzeitig Klagen gegen die beteiligten Fluggesellschaften verhindern. Über die Höhe der jedem Opfer zustehenden Entschädigung entschied der vom US Attorney General eingesetzte Special Master des Funds, Kenneth Feinberg, nach einem aufwendigen Anhörungsverfahren. Das Gebäude 1 WTC im Bau, Juni 2011 keit gesperrt, da dort auch die Spuren gesichert wurden. Insgesamt 1,6 Millionen Tonnen Schutt wurden etwa ein Jahr lang abtransportiert. Danach wurde die Deponie endgültig geschlossen und renaturiert. Verantwortlich für den geplanten Wiederaufbau des Geländes in einer prosperierenden Gegend von Manhattan waren Larry Silverstein, die Port Authority, die eigens dafür gegründete Entwicklungsgesellschaft LMDC (Lower Manhattan Development Corporation), der Gouverneur und der Bürgermeister von New York. Die Ausschreibung gewann der Entwurf des Architekten Daniel Libeskind. Im Zentrum sollte der Freedom Tower stehen mit der an das Jahr der Unabhängigkeit erinnernden Höhe von 1.776 Fuß (541 Meter). Damit würde die ehemalige Höhe von WTC 1 nochmals übertroffen. Neben weiteren Hochhäusern, von denen mindestens eines die Höhe der früheren Zwillingstürme übersteigen sollte, war ein Museum, eine Gedenkstätte an der Stelle der ehemaligen Türme und eine U-Bahn-Station geplant. Außerdem war vorgesehen, das ursprüngliche WTC-Gelände um das Grundstück des ehemaligen Bankers-Trust-Gebäudes zu vergrößern. Zudem sollte eine unterbrochene OstWest-Verbindung wiederhergestellt werden. Die Realisierung des Entwurfs übertrug man einem lokalen Architekturbüro und lokalen Bauunternehmern. Diese setzten viele Aspekte des Ursprungskonzepts jedoch nicht um. Darüber hinaus mussten zusätzliche Sicherheitsvorgaben berücksichtigt werden. Nur die Höhe des höchsten Gebäudes blieb gleich. Der 10 MUNICH RE Schadenspiegel 2/2011 Da die Entschädigungen grundsätzlich sehr groß zügig bemessen waren, akzeptierten 97 Prozent der Berechtigten – die Angehörigen von 2.880 Toten sowie 2.680 Verletzte – die ihnen zugesprochenen Entschädigungen und verzichteten damit auf die Erhebung von Entschädigungklagen. Bei den wenigen Opfern, die sich gegen die Entschädigung durch den Fund entschieden, handelte es sich überwiegend um die Angehörigen von bei dem Anschlag getöteten Spitzenverdienern: Die nach dem Fund gewährte Entschädigung für entgangenes Einkommen legte in aller Regel maximal ein jährliches Einkommen von 231.000 US-Dollar zugrunde, das tatsächliche Einkommen einiger Getöteter lag aber deutlich darüber. Insgesamt zahlte der Fund über sieben Milliarden US-Dollar an Entschädigung aus: Die Angehörigen Terror Die teuersten Katastrophenschäden seit 1950 nach der Höhe des versicherten Schadens. Jahr 2005 62.200 2001 World Trade Center – Anschläge des 11. September 40.000 2011 30.000 2008 18.500 1992 17.000 15.300 1994 13.800 2004 Erdbeben/Tsunami, Japan Hurrikan Ike, USA/Karibik Hurrikan Andrew, USA Northridge-Erdbeben, USA Hurrikan Ivan, USA/Karibik 2005 12.500 Hurrikan Wilma, Mexiko/USA 2005 12.100 Hurrikan Rita, USA 10.000 2011 8.000 2004 0 Hurrikan Katrina, USA Erdbeben Neuseeland Hurrikan Charley, USA/Karibik 10.000 20.000 30.000 40.000 50.000 60.000 70.000 80.000 Versicherter Schaden in Millionen US-Dollar (in damaligen Werten) Quelle: Munich Re Anschläge des 11. September – Schätzung der versicherten Schäden1 Derzeitige Schätzung der versicherten Schäden: 40,02 Milliarden US-Dollar nach Werten von 2010 (in Milliarden US-Dollar nach Werten von 2010)2 3 % Leben, 1,2 Mrd. US$ Sach – WTC 4,4 Mrd. US$ 11 % 12 % Haftpflicht Sonstige, 4,9 US$ 11 % Luftfahrt-Haftpflicht, 4,3 US$ Sach – Sonstige 7,4 Mrd. US$ 19 % 3 % Veranstaltungsausfall, 1,2 US$ 2 % Flugzeugkasko, 0,6 US$ 6 % Arbeiterunfall, US$ 2,2 1 Schadensumme ohne die Schaden regulierung zwischen NYC und den Arbeitern von Ground Zero. 2 Aufgrund von Rundungen können sich bei der Addition der Segmentwerte gegenüber der Gesamt schadensumme geringfügige Abweichungen ergeben. Die US- Dollar-Werte 2010 wurden mit dem Inflationsrechner des amerikanischen Bureau of Labor Statistics (BLS) errechnet. Betriebsunterbrechung 13,5 Mrd. US$ 33 % Quelle: Insurance Information Institute MUNICH RE Schadenspiegel 2/2011 11 Terror erhielten durchschnittlich zwei Millionen US-Dollar pro Todesfall, wobei die Bandbreite von 250.000 bis 7,1 Millionen US-Dollar reichte. An Verletzte überwies der Fund im Durchschnitt 400.000 US-Dollar, die Spanne betrug hier 500 bis 8,6 Millionen US-Dollar. Die Entschädigung der Helfer zog sich hin Nicht immer waren die Gesundheitsschäden der Opfer des 11. September jedoch sofort erkennbar. Etwa 10.000 Menschen litten unter Verletzungen, Kreislaufund Atemwegserkrankungen oder sogar Krebs, weil sie schädlichen Substanzen wie Asbest oder Dioxin ausgesetzt waren. Betroffen waren vor allem Feuerwehrleute, Polizisten, Evakuierungshelfer, aber auch an den Aufräumarbeiten beteiligte Arbeiter. die Terroristen nie an Bord der Flugzeuge gelangen und somit auch keinen Sachschaden an den Gebäuden verursachen können. Nach jahrelangen Auseinandersetzungen und Mediationsversuchen einigten sich die Parteien schließlich auf eine Ausgleichszahlung von 1,2 Milliarden US-Dollar von den Fluggesellschaften und Sicherheitsdiensten beziehungsweise deren Haftpflichtversicherern an die Sachversicherer. Diesen Vergleich bestätigte am 8. April 2011 der United States Court of Appeals for the Second Circuit. Damit ist nach fast genau zehn Jahren auch dieses Kapitel in der Abwicklung der durch den Anschlag vom 11. September verursachten Schäden beendet. Die Entschädigung dieser Opfer zog sich über viele Jahre hin. Der Victim Compensation Fund berücksichtigte derartige Schäden nicht, sondern erfasste nur solche Verletzungen, die in unmittelbarem zeitlichem Zusammenhang („immediate aftermath“) mit dem Anschlag nachweisbar waren. Daher mussten die Helfer, deren Krankheiten sich erst später zeigten, gegen die Stadt New York oder ihre jeweiligen Arbeitgeber auf Entschädigung klagen. Ihre Ansprüche begründeten sie mit unzureichenden Schutzmaß nahmen während der Rettungs- und Aufräumarbeiten und unzulänglicher medizinischer Versorgung nach der Erkrankung. Erst 2010 gelang es, diese Streitigkeiten durch einen Vergleich über 712,5 Millionen USDollar beizulegen. Über 95 Prozent der geschädigten Helfer schlossen sich diesem Vergleich an, nur 520 lehnten ihn ab. Den Anteil der Anwaltskosten an der Vergleichssumme begrenzte man auf 25 Prozent. Die in dem Vergleich festgelegte Entschädigung finanzierte die WTC Captive Insurance Company, ein Fonds der Stadt New York, den die US Federal Emergency Management Agency (FEMA) mit Bundes mitteln in Höhe von einer Milliarde US-Dollar ausgestattet hatte. Der Ausgleich zwischen den betroffenen Versicherern Nachdem die Sachversicherer die Gebäudeschäden reguliert hatten, stellte sich die Frage, inwieweit ihnen zumindest für einen Teil dieser Zahlungen Regressansprüche zustehen. Forderungen erhoben sie deshalb vor allem gegen die beiden Fluggesellschaften, deren Flugzeuge von den Terroristen in die Zwillingstürme gelenkt wurden, und gegen die Sicherheitsdienste, welche die Passagiere vor dem Betreten der Flugzeuge kontrolliert hatten: Ohne deren Fahrlässigkeit, so die Sachversicherer, hätten 12 MUNICH RE Schadenspiegel 2/2011 Unsere ExperteN: Prof. Dr. Ina Ebert ist spezialisiert auf Haftungsrecht und Emerging Risks und arbeitet als Leading Expert für Haftung und Versicherungsrecht im Bereich Claims Management & Consulting für Global Clients/ North America. iebert@munichre.com Klaus Wenselowski ist als Leiter des Property-Schadenreferats im Bereich Claims Management & Consulting für Global Clients/ North America tätig. kwenselowski@munichre.com Terror Die Versicherer haben dazugelernt Auch zehn Jahre nach den Anschlägen ist die Regulierung des Schadens noch nicht vollständig abgeschlossen. Nicholas Roenneberg, Leiter des Bereichs Claims Manage ment & Consulting bei Munich Re, über die wichtigsten Lehren für die Assekuranz. Schadenspiegel: Herr Roenneberg, welche Besonderheiten gab es bei der Schadenregulierung nach dem Anschlag auf das World Trade Center ? Nicholas Roenneberg: Überraschend war für die Versicherungswirtschaft zunächst einmal, dass die Abwicklung des Schadens sich so lange hingezogen hat. Zehn Jahre danach ist die Regulierung immer noch nicht restlos abgeschlossen. Wenn man bedenkt, dass bei 9/11 die Versicherer vor allem mit Schäden im Property-Bereich belastet wurden, ist das sehr ungewöhnlich. Hintergrund sind die vielen Deckungsfragen, die vor Gericht ausgetragen wurden: über die Zahl der Ereignisse, die Deckung von Clean-upKosten, die Abgrenzung von Totalschaden und sanierungsfähigem Schaden. Das hat sehr viel Zeit gekostet. Wie wurde mit den Ansprüchen der Opfer und ihrer Angehörigen umgegangen ? Die zweite Überraschung ist die geringe Beteiligung der Versicherer an der Entschädigung der Opfer und ihrer Angehörigen: Man muss ja bedenken, es gab rund 3.000 Tote und Tausende von Verletzten. Trotzdem wurden die Haftpflichtversicherer nach dem Terroranschlag fast nur im Rahmen des Rückgriffs der Sachversicherer gegen die Aviation-Ver sicherer belastet. Die überwältigende Mehrheit der Personenschäden wurde durch den Victim Compensation Fund entschädigt (siehe auch Seite 10 bis 12). Nur ganz wenige Opfer haben nach dieser Katastrophe auf Entschädigung geklagt. Und das in den USA! Das ist ganz ungewöhnlich und nur mit der raschen Einrichtung des Funds und der Höhe der von ihm ausgezahlten Entschädigungen zu erklären. Lassen sich diese Erfahrungen auf andere Großschäden übertragen ? Zumindest was die Regulierung der Personenschäden angeht, sicher nicht. Die großzügige Ausstattung des Victim Compensation Fund war nur wegen der absoluten politischen Ausnahmesituation in den USA möglich. Gibt es etwas, was wir aus der Regulierung von 9/11 für die Zukunft lernen können ? Zum einen hat sich gezeigt, dass die Versicherungswirtschaft auf Terrorrisiken dieser Dimension einfach nicht vorbereitet war. Das World Trade Center wurde in erster Linie als Feuerrisiko gesehen. Eine Kombination aus Flugzeugeinschlägen mit anschließendem Feuer und Einsturz hatte niemand vorhergesehen. Hier haben die Versicherer in den vergangenen Jahren dazugelernt und ihre Risikomodelle deutlich nachgebessert. Die wichtigste Lehre scheint mir aber zu sein: Bei hochsummigen Risiken, wie dem World Trade Center, muss schnellstens eine Police ausgestellt werden. Viele Fragen, viele Streitigkeiten nach 9/11 ergaben sich weniger aus einem unklaren Wording, sondern schlichtweg aus der unzureichend dokumentierten Policensituation. Man denke allein an die Unklarheit darüber, ob es sich bei den Anschlägen auf die Zwillingstürme um ein oder zwei Ereignisse gehandelt hat. Solche Konflikte und die damit verbundenen Kosten sollten vermieden werden. Nicholas Roenneberg kennt das WTC noch aus der Zeit, als er Leiter der Casualty-Abteilung der damaligen US Branch von Munich Re war. MUNICH RE Schadenspiegel 2/2011 13 Serie: Ageing Infrastructure Trafos kommen in die Jahre Als ein Hauptbestandteil von Stromnetzen verdienen Transformatoren besondere Aufmerksamkeit. Die alarmierende Analyse des 20-Jahre-Trends von Hartford Steam Boiler zeigt: Viele der bei der Stromversorgung ein gesetzten Leistungstransformatoren sind alt und könnten in den nächsten Jahren für große Schäden sorgen. Transformator aus dem Jahr 1971 mit einer Leistung von rund 40.000 kVA. Dieser Trafotyp transformiert Stromspannung von 64.000 Volt auf 12.740 Volt. 14 MUNICH RE Schadenspiegel 2/2011 Ageing infrastructure von William H. Bartley Kategorien für den Ausfall von Transformatoren Strom ist mehr als bloß eine Handelsware. Er ist die Lebensader der Wirtschaft und ein Eckpfeiler unserer Lebensqualität. In dem Maße, wie sich die Welt mit intelligenten Stromnetzen ins digitale Zeitalter weiterentwickelt, steigt die Abhängigkeit von Strom und Elektrizität. Die Infrastruktur der Stromvertei lungsnetze und die Strategien und Verfahren von Energieversorgungsunternehmen in aller Welt müs sen mit der wachsenden Nachfrage Schritt halten. Da Gesetzgeber und Aufsichtsbehörden mehr Wettbe werb anstreben, liegt die Priorität der Versorgungs wirtschaft auf Wettbewerbsfähigkeit – und damit verbundenen Kostensenkungen – und nicht so sehr auf Zuverlässigkeit. Leitungsstörungen Spannungsstöße (oder Leitungsstörungen) sind die primäre Ursache für Ausfälle von Transformatoren. Hierzu zählen Schaltspannungsstöße, Spannungs spitzen, Leitungsfehler/Überschläge sowie andere Abweichungen bei Transport und Verteilung. Die Häufigkeit von Transformatorenausfällen dieser Kate gorie legt nahe, dass dem Überspannungsschutz bzw. der Angemessenheit der Spannungsbegrenzung und Kurzschlussfestigkeit mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden sollte. Seit Jahrzehnten gehören Transformatoren zu den fünf wichtigsten Objektklassen im Hinblick auf die von Hartford Steam Boiler (HSB) bezahlten Schäden. HSB hat zwischen 1991 und 2010 Hunderte von Transformatorenausfällen untersucht, einschließlich versicherter Schäden und Fälle, in denen kein Ver sicherungsschutz vorlag. Hunderte von Transforma torenschäden im Wert von vielen Hundert Millionen US-Dollar wurden bezahlt. Die Hauptursache für die in diesem Zeitraum gemel deten Transformatorenausfälle sind „Leitungsstö rungen“. Zu dieser Kategorie gehören Schaltspan nungsstöße, Spannungsspitzen, Leitungsfehler bzw. Überschläge und andere Versorgungsabweichungen, jedoch keine Blitzschläge. Abb. 1 zeigt die prozen tualen Anteile der verschiedenen Ausfallursachen. Die Tatsache, dass ein Transformator aufgrund einer beliebigen Kombination von elektrischen, mecha nischen oder thermischen Faktoren ausfallen kann, macht die Vorbeugung von Schäden zu einer Heraus forderung. Doch selbst rigorose Wartungsprogramme verhindern die oft sehr kostspieligen Ausfälle von Transformatoren nicht. Die komplexe Technik von Transformatoren macht es zudem schwer, ein typisches Ausfallszenario zu defi nieren. Dennoch: In vielen Fällen ist es die Isolierung des Transformators, die versagt. Die Folge ist Ausfall der Elektrik, bedingt durch Witterungsverhältnisse oder durch die Qualität der Verarbeitung bzw. durch Wartungs- und Betriebsfaktoren. Defekte Isolierung Die zweithäufigste Ausfallursache in den vergangenen zwanzig Jahren war die Verschlechterung der Isolie rung. In diese Kategorie fallen nur jene Ausfälle, bei denen keine Anzeichen einer Leitungsstörung vor liegen. Vier Faktoren sind verantwortlich für eine Verschlechterung der Isolierung: Pyrolyse (Wärme), Oxidation, Säure und Feuchtigkeit (ohne Feuchtig keit im Isolationsöl). Blitzschlag Im Vergleich zu früheren Studien gibt es deutlich weniger Blitzstoßspannungen. Ursache hierfür ist eine veränderte Einstufung der Kategorie: Sofern keine Bestätigung für einen Blitzeinschlag vorliegt, stuft HSB einen spannungsstoßbezogenen Ausfall als Leitungsstörung ein. Elektrische Anschlüsse In diese Kategorie fallen Ausfälle aufgrund mangel hafter Verarbeitung und Wartung elektrischer Anschlüsse, aber auch das falsche Festziehen (Dreh moment) von Schraubverbindungen. Überlastung Nur Ausfälle, bei denen eine tatsächliche Überlastung als Ursache nachgewiesen werden kann, zählen als Überlastung. Dies ist etwa der Fall, wenn ein Trans formator über längere Zeit einer Last ausgesetzt war, die über seiner auf dem Typenschild angegebenen Kapazität liegt. Ausfall aufgrund von Fremdkörpern Diese Schäden entstehen durch äußere Einflüsse wie Nagetiere, Äste, Autounfälle usw. Feuchtigkeit Ausfälle aufgrund von Überschwemmungen, undich ten Rohren oder Dächern, Wasser, das durch undichte Buchsen oder Armaturen in Tanks eingedrungen ist, sowie Ausfälle aufgrund des bestätigten Vorliegens von Feuchtigkeit im Isolationsöl. MUNICH RE Schadenspiegel 2/2011 15 Ageing infrastructure Abb. 1 Ursachen für Trafoausfälle Die allgemeine Klassifizierung von Ausfällen ist für unsere Schadenbearbeitungsverfahren in der Regel ausreichend. Um jedoch ein exaktes Ausfallszenario zu erstellen und wirksame Empfehlungen für dessen Verhinderung zu erarbeiten, ist eine ausführlichere Analyse des Ausfalls nötig. Abb. 1 zeigt die relative Anzahl der Ausfälle. Das Risiko eines Transformatorenausfalls umfasst neben der Häufigkeit der Ausfälle aber auch die Schwere des Ausfalls. Leitungsstörung – ohne Blitzschlag 28 % Sonstige 27 % Blitzschlag 13 % Defekte Isolierung 9 % Elektrische Anschlüsse Überlastung 6 % Ausfall aufgrund von Fremdkörpern 4 % Feuchtigkeit 4 % Leitungsstörung – möglicherweise Blitzschlag 3 % Beanspruchung, Ermüdung 2 % 4 % Anteile der Ausfallursachen, wobei Leitungs störungen klar an der Spitze stehen Quelle: HSB Dieser zusätzliche Faktor wird in Abb. 2 gezeigt. Die Kategorie der Leitungsstörungen kann die höchste Anzahl von Ausfällen aufweisen – aber dennoch han delt es sich möglicherweise um Schadenereignisse mit relativ geringem Schweregrad. Die Störursachen Isolationsflüssigkeit und Verschlechterung der Isolie rung hingegen stellen Schadenereignisse mit hoher Schwere, jedoch geringer Häufigkeit dar. Alte Transformatoren sind störanfälliger Das Alter an sich gilt nicht als Hauptursachenkate gorie bei HSB. Dennoch verringert sich mit dem stei genden Alter des Isoliersystems auch die mecha nische und die elektrische Widerstandsfähigkeit eines Transformators. Alte und neue Transformatoren unterliegen bestimmten Betriebsbeanspruchungen, bedingt durch die zunehmende Systemgröße und folglich höhere Belastungen. Die älteren Transforma toren verfügen jedoch nicht mehr über die physische Belastungsfähigkeit, um die hohen Radial- und Druckkräfte aufzunehmen, und fallen daher häufiger aus. Bei einem altersbedingten Transformatorenausfall wird die Papierisolierung des Leiters meist derart geschwächt, dass er einem Kurzschluss nicht mehr standhalten kann. Die Folge ist ein sogenannter Windungsschluss, also ein Defekt, bei dem die ansonsten durch Lackisolation voneinander getrenn ten Drahtwindungen einer Wicklung zueinander elek trischen Kontakt besitzen. In anderen Fällen führen wiederholt auftretende elek trische Störungen während des Betriebs zu einem Lösen der Wicklungspressung. Dies verringert die Widerstandsfähigkeit des Transformators gegen künftige Kurzschlüsse. Durch die Verringerung des Klemmdrucks können sich die Wicklungen bewegen, was zu abriebbedingtem Verschleiß des Papiers und zum Windungsschluss führt. Das Alter von Transformatoren zur Energieversor gung verdient weltweit besondere Aufmerksamkeit. Die ersten Wechselstromversorgungsnetze und Transformatoren gingen vor etwa 100 Jahren in Betrieb. Mit dem industriellen Wachstum nach dem 16 MUNICH RE Schadenspiegel 2/2011 Ageing infrastructure Durch Brand zerstörter Transformator aus dem Jahr 1980 Zweiten Weltkrieg erweiterten sich auch die grundle genden Infrastrukturindustrien und insbesondere die Energieversorgung. So wuchs etwa der Energiever brauch in den USA von 500 Milliarden Kilowattstun den im Jahr 1950 auf 3,5 Billionen Kilowattstunden im Jahr 2000. Inzwischen befinden sich die meisten der Transformatoren bereits am Ende ihres Lebens zyklus. Die US-Versorgungsunternehmen erreichten in den Jahren 1973 und 1974 einen Höhepunkt beim Bau neuer Unterstationen und Transformatoren. In diesem Zeitraum wurden neue Transformatorenkapazitäten von rund 185.000 MVA (Megavoltampere) hinzuge fügt. Die Kapazität solcher Transformatoren liegt zwi schen fünf und 1.000 MVA. Diese Transformatoren sind heute etwa 37 Jahre alt. Die Tatsache, dass der Neubau und der Ersatz von Transformatoren den tiefsten Stand seit Jahrzehnten erreicht hat, zeigt: Das Durchschnittsalter des gesamten Transformato renbestands in den USA steigt weiterhin. Abb. 2 Häufigkeit und Schwere von Transformatorenausfällen Durchschnittliche Schadenhöhe 0 5 10 15 20 25 30 35 40 Relative Schadenhäufigkeit (%) Isolationsflüssigkeit, Verunreinigung oder Verschlechterung Feuchtigkeit Ausfall aufgrund von Fremdkörpern Möglicherweise Blitzschlag Überlastung Lose Anschlüsse Defekte Isolierung Verschlechterung der Isolierung Blitzschlag Leitungsstörung, ohne Blitzschlag Leitungsstörungen sind die häufigste Schadenursache. Quelle: HSB MUNICH RE Schadenspiegel 2/2011 17 Ageing infrastructure Das Durchschnittsalter aller Transformatoren steigt weltweit. Die Zahl der Ausfälle erhöht sich voraussichtlich bis zum Jahr 2020 signifikant. In gleicher Weise begann der Energieversorger Natio nal Grid in Großbritannien 1952 damit, die Instal lation und die Veränderungen bei seinen 400-Kilo volt- und 275-Kilovolt-Leistungstransformatoren aufzuzeichnen. So wurde im Spitzenjahr 1966 in Großbritannien eine Gesamt-Transformatorenkapazi tät von 23.000 MVA installiert. Die Installations zahlen gingen nach 1966 bis zur Privatisierung der Energieversorgungsunternehmen im Jahr 1989 deut lich zurück. Mit der Privatisierung erforderte die verstärkte Marktaktivität wieder ein höheres Maß an Investitionen. Heute sind die meisten Transforma toren in Großbritannien über 36 Jahre alt. Komplexe Berechnung von Ausfallprognosen Der erste Schritt zur Ermittlung eines geeigneten Modells für die Verteilung von Transformatorenaus fällen besteht darin, eine Hazard-Funktion zu finden, die mit der bekannten Ausfallrate von Transforma toren übereinstimmt. Üblicherweise wird die Lebens dauer von Transformatoren in Form einer Badewan nenkurve dargestellt. Einer ersten kurzen Phase mit vielen Ausfällen folgt demnach eine längere, in der das Ausfallrisiko sehr gering ist, bevor es in der drit ten Phase erneut zu einem signifikanten Anstieg kommt. Unsere Daten von tatsächlich gemeldeten Schäden zeigen jedoch, dass dieses Modell die Wirk lichkeit nicht korrekt abbildet und keine signifikante Häufung von Schäden in der ersten Lebensphase auftritt. Abb. 3 Ausfallverteilung nach Baujahr Anzahl der Ausfälle in 1.000 MVA 50 45 40 35 30 25 20 15 10 5 0 1980 1986 1992 1998 2004 2010 2016 2022 2028 2034 18 MUNICH RE Schadenspiegel 2/2011 2046 2052 2058 2064 Jahr der erwarteten Ausfälle Quelle: HSB Das Diagramm zeigt die in den USA zu erwar tende Ausfallrate der noch funktionstüchtigen Transformatoren der Baujahre 1964 bis 1992 bis zum Zeitpunkt „t“. Die Zahl der ausfallen den Trafos wird in den kommenden Jahren 2040 noch weiter ansteigen. Auf dem Höhepunkt der Entwicklung um das Jahr 2020 wird mit Ausfällen über 40.000 MVA gerechnet. 40.000 MVA Leistung reichen aus, um vier Millionen Haushalte mit Strom zu versorgen. Ageing infrastructure In der Industrie werden heute meist die Hazard- Formel nach Perks und die „Iowa Survivor“-Kurven zur Modellierung der Lebensdauer von Betriebs anlagen verwendet. Hartford Steam Boiler verwendet die „Perks Hazard“-Funktion. Grundlage für die Parameter bildeten unsere langjährige Erfahrung mit Transformatorenausfällen und unsere subjektive technische Einschätzung. Unsere Hazard-Funktion (basierend auf der vereinfachten sogenannten Perks-Formel) lautet: α e μ ß t H (t) = 1 + α e μ ß t α μ ß Konstanten sind und wobei , , die Zeit in Jahren angibt. Fazit Die schwierigste Aufgabe für den Versorgungs ingenieur sind die Vorhersage der künftigen Zuverlässigkeit der Transformatorenflotte und der rechtzeitige Austausch des betreffenden Transformators. Die wachsende Nachfrage des Stromnetzes zu befriedigen und dabei gleichzeitig die Zuverlässigkeit des Systems mit dieser alternden Flotte aufrechtzuerhalten, wird erheb- liche Änderungen in der Art und Weise erfordern, wie Unternehmen zur Energieversorgung ihre Transformatoren betreiben und warten. t Die Korrelation zwischen Kalenderalter und Ver schlechterung der Isolierung unterliegt einer gewissen Unsicherheit, denn Transformatoren sind natür lich nicht alle gleich beschaffen. Auch berücksichtigt das einfache statistische Modell weder mögliche Unterschiede in der Herstellung noch die Bean spruchungshistorie. Vielmehr basiert es nur auf dem Kalenderalter des Transformators, ohne dass Mate rial- und Konstruktionsmängel berücksichtigt werden. Anhand dieses Modells und mit Populationsschät zungen für jedes Baujahr lassen sich dennoch künf tige Ausfälle für die gesamte Population der Trans formatoren recht gut vorhersagen. Dies geschieht, indem man die Ausfallrate mit der Population des Baujahrs multipliziert: Anzahl der Ausfälle (in Gigavoltampere) im Jahr „t“ = [Ausfallrate] x [noch überlebende Population] Die beträchtliche Zahl der vorhergesagten Ausfälle für alle zwischen 1964 und 1992 in den USA gebauten Leistungstransformatoren zeigt das Ausmaß der Schwierigkeiten, vor dem Energieversorgungsunter nehmen und die Versicherungswirtschaft stehen. Die höchste Zahl an Ausfällen wird für die Transfor matoren des Baujahrs 1974 erwartet. Addiert man die vorhergesagten Ausfälle für die Baujahre 1964 bis 1992 hinzu, wird die Größenordnung des Problems deutlich. Wir sehen einen signifikanten Anstieg an Ausfällen bis zum Jahr 2020. Unser Experte: William H. Bartley, P.E., ist Assistant Vice President und Principal Elec trical Engineer bei der zu Munich Re gehörenden The Hartford Steam Boiler Inspection and Insurance Co. william_bartley@hsb.com MUNICH RE Schadenspiegel 2/2011 19 Mississippi-Flut 2011 Gefahr gebannt Trotz einer gewaltigen Hochwasserwelle, die im Frühjahr den Mississippi hinabrollte, blieben die Schäden moderat. Die Anstrengungen der vergangenen acht Jahrzehnte beim Bau von Schutzanlagen haben sich bezahlt gemacht. von Dr.-Ing. Wolfgang Kron und Markus Steuer Nach einem schneereichen Winter und ungewöhnlich heftigen Niederschlägen Ende April 2011 begannen die Flüsse im Einzugsgebiet des Mississippi im Mai anzuschwellen. Angetrieben vom Wetterphänomen La Niña wurden innerhalb weniger Wochen vielerorts die durchschnittlichen Niederschläge eines ganzen Jahres überschritten. Das Ohio-Tal etwa musste das Dreifache der sonst üblichen Menge verkraften. Immer schneller stiegen die Pegel, auch entlang des Tennessee River, am Oberlauf des Mississippi und am Missouri. Viele Orte verzeichneten historische Höchstabflüsse und -wasserstände. Deiche brachen, Dämme und Rückhaltebecken liefen über. Am Unterlauf des Mississippi, der bei Cairo, Illinois, beginnt, baute sich eine so gewaltige Hochwasserwelle wie zuletzt vor 84 Jahren auf. 1927 waren Zehntausende Quadratkilometer Land zwischen Cairo und der Mündung am Golf von Mexiko überflutet worden. Es kam zu einer der größten Naturkatastrophen in der Geschichte der USA. Angesichts der statistischen Einordnung der 2011er-Abflüsse musste man erneut mit dem Schlimmsten rechnen. Das mögliche Ausmaß der Schäden bezifferte das U.S. Army Corps of Engineers (Mississippi Valley Division) auf bis zu 110 Milliarden US-Dollar. Nur – es blieb bei der Schätzung, die nationale Katastrophe blieb aus. Was machte den Unterschied ? Die Ableitung von Wassermassen entlastet den Mississippi. MUNICH RE Schadenspiegel 2/2011 21 Mississippi-flut 2011 Das Mississippi-Flusssystem Der obere Mississippi und zwei große Nebenflüsse – alle mit Fließzeiten in derselben Größenordnung – vereinigen sich innerhalb einer relativ kurzen Distanz (St. Louis–Cairo). Dadurch können die einzelnen Hochwasserwellen aufeinandertreffen und sich im Mississippi überlagern. Strömen normalerweise zwischen 6.000 und 20.000 m3/s in den Golf von Mexiko, zusammen mit durchschnittlich fünf t/s Sediment, also insgesamt 150 Millionen Tonnen pro Jahr, steigt der Abfluss bei Hochwasser auf mehr als das Dreifache. Am 18. Mai 2011 wurden beispielsweise bei Vicksburg 66.000 m3/s gemessen. Der Mississippi mit seinen Hauptzubringern Missouri, Arkansas, Red, Illinois und Ohio mit Tennessee entwässert praktisch den gesamten Mittelwesten der USA zwischen den Rocky Mountains im Westen und den Apalachen im Osten (siehe Abb. 1). 31 US-Staaten und zwei kanadische Provinzen (Winnipeg, Saskatchewan) liegen ganz oder teilweise in diesem Gebiet, das mit 3,2 Millionen Quadratkilometern rund 40 Prozent der Fläche der 48 zusammenhängenden USBundesstaaten ausmacht. Weltweit ist es nach dem Amazonas- und Kongo- das drittgrößte Flusseinzugsgebiet. Im Mississippi-Einzugsgebiet leben fast 70 Millionen Menschen. Das Flusssystem bildet die zentrale NordSüd-Verkehrsachse Nordamerikas. So verbindet der Mississippi über den Illinois River die großen Seen mit dem Golf von Mexiko und erschließt über seine Nebenflüsse große Teile des mittleren Westens auf dem Wasserweg. Der Port of South Louisiana zwischen New Orleans und Baton Rouge erstreckt sich über 86 Kilometer auf beiden Seiten des Flusses und stellt den größten Hafen der westlichen Hemisphäre dar: Über 4.000 Seeschiffe und 55.000 Binnenschiffe legten hier 2010 an und transportierten insgesamt 225 Millionen Tonnen Güter. Der Mississippi selbst ist nur 3.770 Kilometer lang. Eine deutlich größere Fließlänge von 6.262 Kilometern ergibt sich, wenn man von der Quelle des Red Rock River im Yellowstone Park über den Missouri und den Mississippi River misst. Das Gefälle des Stroms ist unterhalb der Einmündung des Missouri bei St. Louis bis zum Golf von Mexiko gering. Während auf den rund 300 Kilometern des Mittellaufs bis zur Einmündung des Ohio der Höhenunterschied immerhin noch 67 Meter beträgt, was einem Gefälle von 0,22 Promille bzw. 22 Zentimeter pro Kilometer entspricht, sinkt es danach auf der Reststrecke von 1.600 Kilometern auf nur noch sechs Zentimeter pro Kilometer. Dies ist der Grund, warum das Wasser von St. Louis rund 25 Tage unterwegs ist, bevor es bei New Orleans den Golf von Mexiko erreicht. x 1 as Tenn e pp ns ss i ka ss e e Mi ss i Ar i Abb. 1 Das Einzugsgebiet des Mississippi M iss iss Minneapolis ip pi Mis o oi hi in Memphis O Ill Cairo n Te ne ss e e 2 h Atc afa Red x St. Louis d ri sa s Re s s ou Arkan l aya Baton Rouge Der Mississippi mit seinen Hauptzuflüssen Quelle: Munich Re nach Satellitenbild ESRI, i-cubed, GeoEye 22 MUNICH RE Schadenspiegel 2/2011 New Orleans 3 1Birds Point-New Madrid-Deich 2Morganza-Hochwasserentlastung 3Bonnet Carré-Hochwasserentlastung Mississippi-flut 2011 Wegen seiner Bedeutung als Transportachse und aufgrund des umfangreichen Hochwasserschutzes verfügt der Mississippi wie kaum ein anderer Fluss über eine Vielzahl von ingenieurtechnischen Bauwerken: In den vergangenen 80 Jahren entstanden Hunderte Staudämme, Dutzende Schleusen und Tausende Kilometer Deiche. Diese Bauwerke sowie drei große Umleitungsstrecken bildeten die Grundlage für das erfolgreiche Hochwassermanagement 2011. Häufige Hochwasser, nur selten schwere Überschwemmungen Im riesigen Mississippi-Gebiet treten praktisch jedes Jahr extreme lokale oder regionale Hochwasser auf. Großräumige schwere Überflutungen sind dagegen seltener. In den vergangenen 100 Jahren kam es zu drei außergewöhnlichen Ereignissen. Die große Flut von 1926/1927 setzte nicht nur für viele Jahre gültige Rekordmarken bei Abflüssen und Wasserständen, sondern markierte auch den Beginn eines umfassenden Hochwassermanagements am Mississippi und seinen großen Nebenflüssen. Damals standen 67.000 Quadratkilometer, ungefähr die Größe Bay erns, unter Wasser, hauptsächlich in den Bundesstaaten Louisiana, Arkansas und Mississippi. Mindes tens 250 Menschen kamen ums Leben, 650.000 mussten ihre Häuser verlassen. Die Schäden wurden auf 230 Millionen US-Dollar beziffert, was in heutigen Werten (Verhältnis des Consumer Price Index 2011 zu 1927) etwa drei Milliarden US-Dollar entspricht. Diese Hochrechnung berücksichtigt nicht die Werte, die inzwischen in den Gebieten zusätzlich entstanden sind. Während der Frühjahrsflut von 1973 herrschte 77 Tage lang Hochwasser in St. Louis. Im Mittel- und Unterlauf des Mississippi floss die größte Wassermenge seit 1927 ab. Mit der Öffnung von zwei Entlas tungsbauwerken – Bonnet Carré und Morganza – gelang es, den Abfluss im Hauptgerinne zu reduzieren. 33 Menschen starben und mehr als eine Milliarde US-Dollar Schaden entstand, was in heutigen Werten gut dem Fünffachen entspricht. Im Zuge der Flut hätte der Mississippi fast seine Mündung verlagert, sodass er fortan über das AtchafalayaTal in den Golf von Mexiko geflossen wäre. Die „Große Flut von 1993“ spielte sich im Wesentlichen oberhalb der Einmündung des Ohio ab. Sie erstreckte sich auf das gesamte Einzugsgebiet des Missouri, des oberen Mississippi sowie des Illinois River und war damit die flächenmäßig größte Flut in der Geschichte der USA. Mit Schäden von 21 (heute rund 33) Milliarden US-Dollar war es in absoluten Werten auch das bisher teuerste Binnenhochwasserereignis in den USA. Der versicherte Schaden lag bei lediglich sechs Prozent. Ein Pegel vor einem Haus in den Fluten des steigenden Mississippi in St. Francisville, Louisiana Hochwasserschutz und -management am Mississippi Nach der Katastrophe von 1927, die etwa ein Drittel des US-Haushaltsbudgets kostete, wurden 1928 der Flood Control Act beschlossen und das Projekt „Mississippi River and Tributaries“ (MR & T) aus der Taufe gehoben. Die Verantwortlichen bewilligten 325 Mil lionen US-Dollar (Originalwerte), um Deiche, Dämme, Pumpstationen, Rückhaltesysteme und Umleitungen am Mississippi und an seinen Nebenflüssen zu errichten bzw. zu reparieren und zu verstärken. Das war mehr als die 292 Millionen US-Dollar, die insgesamt vor 1928 in wasserbauliche Maßnahmen entlang des unteren Mississippi geflossen waren. Dem U.S. Army Corps of Engineers (USACE) fiel die Aufgabe zu, die Maßnahmen umzusetzen. Es hat sich seither zu einer höchst angesehenen ingenieurwissenschaftlichen Einheit entwickelt, deren physikalische Wasserbaumodelle sowie deren mathematische hydrologisch-hydraulische Modelle zu den besten der Welt zählen. Daneben hat das Corps den Vorteil einer zentralen (landesweiten) und straffen Führungsstruktur, die sich insbesondere in Krisen situationen wie 2011 auszahlt. MUNICH RE Schadenspiegel 2/2011 23 Mississippi-flut 2011 Um den Großteil der Häuser vor Überflutung zu bewahren, wurden einige Regionen gezielt geflutet. Seit 1927 entstanden über eine Länge von 3.500 Kilometern Deiche, und das Wasser lässt sich nun in einer Vielzahl von Speichern zurückhalten. Allein die sechs großen Stauseen am Oberlauf des Missouri können 90 Milliarden Kubikmeter aufnehmen. Neben dem Hochwasserschutz standen bei den Bauten die Sicherstellung der Minimalwassertiefe für die Schifffahrt, Möglichkeiten zur Wasserkraftnutzung, Bewässerung und Freizeitaspekte im Mittelpunkt. Das MR & T-Projekt hat bislang 13,9 Milliarden US-Dollar (in originalen Werten) gekostet. Dem stehen verhinderte Schäden gegenüber, welche die Mississippi River Commission auf 480 Milliarden US-Dollar und damit das 34-Fache veranschlagt. Hinzu kommen die Vorteile aus der Wasserstraßennutzung, die mit jährlich fast drei Milliarden US-Dollar angesetzt werden. Seit 1940 erhöhte sich die im Mississippi transportierte Tonnage von 30 auf 500 Millionen Tonnen. Deiche und Rückhaltebauten verhindern jedes Jahr auch bei kleinen und mittleren Hochwasserereignissen Schäden. Abb. 2 zeigt beispielhaft, wie viele Schäden USACE-Schutzmaßnahmen landesweit in den Jahren 1998 bis 2008 verhindert haben. Richtig wertgeschätzt werden die Schutzbauten aber meist erst dann, wenn ein Großereignis wie das 2011 auftritt. Allein aus der Mississippi-Flut (ohne Missouri und all die anderen Hochwasser) ergeben sich für 2011 verhinderte Schäden von über 100 Milliarden US-Dollar. Um zu vermeiden, dass Deiche unkontrolliert an einer beliebigen Stelle brechen, sind Notentlastungen vorgesehen. Sie können aus seitlichen Abschlagswehren bestehen, aber auch durch die Sprengung eines Deichs erfolgen. Abb. 2 Tatsächlicher Schaden und Schaden, der durch Maßnahmen des USACE verhindert wurde 80 70 60 50 40 30 20 Tatsächliche Schäden 10 0 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 In Milliarden US-Dollar (nach Werten von 2009) 24 MUNICH RE Schadenspiegel 2/2011 2008 Quelle: USACE Summe aus tatsächlichen und verhinderten Schäden (2006 geschätzt) Mississippi-flut 2011 Am Mississippi sind drei Notentlastungen vorgesehen (siehe Abb. 1): 1.Der Flutkanal Birds Point-New Madrid, der gegenüber der Ohio-Mündung beginnt und über den bis zu 15.500 m3/s Wasser aus dem Mississippi außerhalb des Flusses zum Teil über landwirtschaftliche Flächen auf einer dafür vorgesehenen Flutrinne zwischen Deichen abgeführt werden können. Das Wasser fließt gut 100 Kilometer stromabwärts wieder in den Mississippi zurück, sobald der Wasserstand dort weit genug gefallen ist. 2.Die Morganza-Hochwasserentlastung: Neben einer dauernd wirkenden Abzweigung, der Old River Structure, gelegen, über die normalerweise 30 Prozent des Mississippi-Abflusses (maximal 17.500 m3/s) zum Atchafalaya River und von dort westlich der Mississippi-Mündung in den Golf fließen, können über die Morganza-Entlastung weitere 17.000 m3/s abgeleitet werden. Die Öffnung von Morganza hat erhebliche Konsequenzen für einige Siedlungen im Atchafalaya-Tal. 3.Die Bonnet-Carré-Hochwasserentlastung: Hier können 7.000 m3/s abgeschlagen werden, die auf kurzem Weg über praktisch ungenutztes Gelände zum Lake Pontchartrain fließen, sodass hier kaum Überflutungsschäden resultieren. Solche Entlastungsmaßnahmen kommen nur zum Einsatz, wenn andernfalls eine katastrophale Über flutung droht. Beim Öffnen wird bewusst in Kauf genommen, dass auch nicht direkt bedrohte Sachwerte den Fluten zum Opfer fallen. Die Überflutung von höherwertigen Gebieten wird aber verhindert. Insgesamt ergibt sich dadurch eine drastische Schadenreduktion. Morganza und Bonnet Carré zum Beispiel dienen zum Schutz von Baton Rouge und New Orleans. Flutverlauf 2011 Wie schon 1927 waren 2011 im Wesentlichen das Ohio-Gebiet und der Unterlauf des Mississippi betroffen. Nach heftigen Regenfällen (siehe Abb. 3), die in einigen Bundesstaaten neue April-Rekorde markierten, trafen die drei Hochwasserwellen aus dem Ohio, dem Tennessee und dem mittleren Mississippi bei Cairo nahezu zeitgleich aufeinander. Um Cairo vor einer Überflutung zu bewahren, entschlossen sich die Behörden dazu, am 2. Mai den rechtsseitigen Birds Point-New Madrid-Deich auf drei Kilometer Länge zu sprengen. 530 Quadratkilometer Land waren betroffen, 100 Häuser wurden unter Wasser gesetzt. Trotz dieser Entlastung blieben die Pegel flussabwärts nur geringfügig unter den früheren Rekordmarken. Von Arkansas City bis Red River Landing wurden dann wieder fast überall neue Höchstwerte gemessen (siehe Abb. 4). Abb. 3 Niederschläge im langjährigen Vergleich Rang innerhalb der Messreihe von 117 Jahren März bis Mai 2011 April 2011 1 = Rekordwert (nassester) 31–111 112–116 2–6 7–15 16–30 117 = Rekordwert (trockenster) In 16 der 22 Bundesstaaten, die über den Mississippi entwässert werden, fiel im April (und auch im Dreimonats-Zeitraum März bis Mai) ungewöhnlich viel Regen. In sechs Staaten kam es zu neuen Niederschlagsrekorden, weitere drei schafften es in die Top 5. Gebiet außerhalb des Mississippi-Einzugsgebiets Bemerkenswert ist, dass es in Texas zur gleichen Zeit ungewöhnlich trocken war. Der Grund dafür war die stark ausgeprägte La-Niña-Situation, die 2011 weltweit extreme Wetterereignisse hervorrief. Quelle: Munich Re nach National Climatic Data Center/NESDIS/ NOAA MUNICH RE Schadenspiegel 2/2011 25 Mississippi-flut 2011 Abb. 4 Höchstwasserstände an den Pegelstellen des unteren Mississippi relativ zu den alten Rekorden Die Zahlen in Klammern sind die jeweiligen Tage im Mai 2011, an denen der Höchstwasserstand aufgetreten ist. Birds Point (2): +175 cm New Madrid (6): –49 cm Caruthersville (7): +49 cm Oscerola (8): –104 cm neuer Rekord unter dem Rekord Memphis (10): –25 cm Helena (12): –110 cm Greenville (16): –36 cm Arkansas City (16): +90 cm Vicksburg (18): +28 cm Natchez (19): +119 cm Red River Landing (18): +33 cm Baton Rouge (19): –71 cm Reserve (17): –64 cm Donaldsonville (18): –106 cm New Orleans (19): –119 cm Quelle: National Weather Service Bei Vicksburg etwa strömten 66.000 m3/s den Mississippi hinab und damit mehr als 1927 (64.500 m3/s). Am 9. Mai öffneten die Behörden die Fluttore von Bonnet Carré und am 14. die Morganza Spillway, die zuvor lediglich 1973 zum Einsatz gekommen war. Es wurde entschieden, Morganza zu 21 Prozent zu öffnen. Der Abfluss im Mississippi stromabwärts konnte dadurch unter 42.000 m3/s gehalten werden. Das Risiko für Baton Rouge und New Orleans sowie für die zahlreichen Industrieanlagen entlang des Unterlaufs konnte so deutlich verringert werden. In diesen beiden Städten blieben die Scheitel unter den kriti schen Hochwassermarken und einen bzw. ein-einhalb Meter unter den Rekordmarken. Das Ziel, New Orleans vor einer erneuten verheerenden Überschwemmung zu bewahren, wurde erreicht. 2011 waren erstmals in der Geschichte alle drei Entlastungsmöglichkeiten gleichzeitig ausgeschöpft. Die Schäden wurden dadurch sehr effektiv minimiert. Abb. 5 zeigt deutlich, wie wirksam die Steuerungsmaßnahmen im Vergleich zu den unkontrollierten Ausuferungen im Jahr 1927 waren. Nur ein Bruchteil der damals überschwemmten Flächen, noch dazu dünn besiedelte, stand 2011 unter Wasser. 26 MUNICH RE Schadenspiegel 2/2011 Schäden 2011 Insgesamt werden die Kosten der 2011er-MississippiFlut auf 4,6 Milliarden US-Dollar geschätzt. Diese Summe ist in Anbetracht von Ausdehnung und Schwere des Hochwassers gering. Pauschal lässt sich sagen: Die Anstrengungen der vergangenen acht Jahrzehnte beim Bau von Schutz- und Steuerungsbauwerken haben sich bezahlt gemacht. Dennoch: Das Hochwasser hatte weitreichende Folgen. Landwirtschaft, Fischerei, Schifffahrt und Transportwirtschaft, Tourismusindustrie, Raffinerien sowie Industriebetriebe verzeichneten erhebliche Einbußen, und auch auf die Versicherer kamen hohe Schäden zu. Insgesamt wurden wohl rund 17.500 Quadratkilometer Land überflutet, ein Viertel davon wurde land wirtschaftlich genutzt. Der Zeitpunkt hätte nicht ungünstiger sein können, befanden sich doch viele Feldfrüchte und Nutzpflanzen am Anfang ihrer Vegetationsperiode. Allein entlang des Mississippi-Unterlaufs standen 1,4 Millionen Hektar (14.000 Quadrat kilometer) unter Wasser, im Bundesstaat Mississippi waren zehn Prozent der gesamten landwirtschaftlichen Fläche betroffen. Die Verluste der Agrarwirtschaft, des sicherlich am härtesten getroffenen Sektors, bewegen sich in einer Größenordnung von ca. einer Milliarde US-Dollar. Mississippi-flut 2011 Wegen der hohen Pegel am Mississippi musste die Schifffahrt eingestellt werden. Zudem standen etliche Straßen unter Wasser, unter anderem ein 37 Kilometer langer Abschnitt der Interstate 40 in Arkansas. Der dadurch erschwerte Transport von Waren, Rohstoffen und Industrieprodukten führte zu Preiserhöhungen, die in der Folge alle Sektoren betrafen. Ein großer Teil der Schäden entfiel auf Deiche und andere wasserbauliche Anlagen. Rund zwei Milliarden US-Dollar dürften nötig sein, um die Bauwerke zu reparieren und auf den neuesten Stand zu bringen. Zusätzliche Kosten entstanden bei der Bekämpfung des Hochwassers. Allein in Louisiana fielen dafür 80 Millionen US-Dollar an. Dagegen hielten sich die Sachschäden an allgemeiner Infrastruktur und Gebäuden in Grenzen. Meist waren nur kleinere Gebiete am Rand der Städte und Siedlungen entlang des Mississippi betroffen. Eine Ausnahme bildete Memphis, wo es zu Schäden in Höhe von 320 Millionen US-Dollar kam. 5.200 Be wohner mussten den Stadtteil Harbor Town verlassen. Nach vorläufigen Schätzungen (Stand Juni 2011) betragen die Schäden an insgesamt 35.000 betroffenen Häusern infolge der natürlichen Überflutung und durch die Flutungen über die Notentlastungen 1,7 Milliarden US-Dollar. Obwohl sich die Überflutung des Atchafalaya-Gebiets viel langsamer einstellte und auch die Wassertiefen geringer blieben als berechnet, wurden doch schätzungsweise 1.400 Wohngebäude und Geschäfte unter Wasser gesetzt. 300 Bewohner mussten ihr Haus verlassen. Ohne die gezielte Steuerung des Hochwassers wären nach Schätzungen des USACE Schäden in Höhe von vielen Milliarden USDollar angefallen, weil Städte wie New Orleans, Baton Rouge, Memphis oder Cairo den Fluten zum Opfer gefallen wären. New Orleans hätte möglicherweise eine schlimmere Katastrophe erlebt als beim Hurrikan Katrina 2005. Die meisten Eigentümer, deren Häuser durch die Entlastung in den Fluten versanken, zeigten Verständnis für die Maßnahme des USACE. Überflutetes Farmland in der Nähe von Yazoo City, Mississippi, Donnerstag, 19. Mai 2011 Memphis Abb. 5 Überflutete Gebiete 1927 und 2011 Die 1927 überflutete Fläche betrug rund 67.000 Quadratkilometer und war um ein Vielfaches größer als die beim Hochwasser 2011. Baton Rouge 1927 überflutete Fläche 2011 überflutete Fläche Quelle: Mississippi Valley Division, U.S. Army Corps of Engineers MUNICH RE Schadenspiegel 2/2011 27 Mississippi-flut 2011 Landwirtschaftliche Schäden können in den USA über eine Allgefahrendeckung abgesichert werden. Etwa vier Fünftel der Farmer machen davon Gebrauch. In der Summe aller Schäden werden somit wohl kaum mehr als fünf Milliarden US-Dollar zusammenkommen. Nicht berücksichtigt sind hierbei allerdings die Schäden aus einem zweiten Hochwasser im Juni, das im Wesentlichen das Missouri-Gebiet betraf. Ein beträchtlicher Teil der Schäden geht auf die Flutungen des USACE zurück. Gesetzlich besteht keine Verpflichtung der Regierung, dafür aufzukommen. Das USACE rät jedoch denjenigen Betroffenen, die nicht unter das NFIP fallen, das Corps formal entweder auf „Schadenersatz“ oder wegen „Enteignung“ zu verklagen. Man darf gespannt sein, wie die Betei ligten die Kostenübernahme gestalten. Das gilt auch für die Versicherer bei solchen Schäden, die aus den Notentlastungen resultieren. Es wäre unfair, das USACE wegen Herbeiführung der Schäden zu ver klagen, man sollte eher überlegen, ob diese Schäden nicht über einen Pool aller Versicherer geregelt werden könnten. Auf jeden Fall sollte die sich für die Versicherer aus dem Hochwassermanagement ergebende Schadenreduktion berücksichtigt werden. Versicherte Schäden Bei der „Great Flood of ’93“ musste die Versicherungswirtschaft Schäden in Höhe von einer Milliarde US-Dollar begleichen. Dazu kamen 270 Millionen USDollar aus dem National Flood Insurance Program (NFIP). Dieses Mal wird der Schaden niedriger liegen. Über das NFIP Versicherte erhalten eine Entschädigung, unabhängig davon, ob sie durch eine natürliche oder absichtlich herbeigeführte Überschwemmung geschädigt wurden. Die private Versicherungswirtschaft hat mit Sicherheit ebenfalls vom Hochwassermanagement profitiert. Sie wird jedoch Schadenersatz an einige Spielcasinos am Mississippi zahlen müssen, die – mit einer Ausnahme – keine Sach-, dafür aber erhebliche Betriebsunterbrechungsschäden erlitten haben. Ähnliches gilt für eine große Bahngesellschaft in Louisiana, die den Betrieb völlig einstellen musste. Die aktivierten Notentlastungen haben das Über flutungsrisiko für viele Industrieanlagen erheblich reduziert und den Versicherern damit hohe Schäden erspart. Profitiert haben beispielsweise acht Raffinerien bei Baton Rouge, die für zwölf Prozent der USTreibstoffproduktion stehen, sowie ein Atomkraftwerk. Entstandene und durch das Projekt Mississippi River and Tributary (MR & T) verhinderte Schäden (vorläufige grobe Schätzungen in Millionen US-Dollar, Stand September 2011) Sachschäden Tatsächliche Schäden 1.700 900 2.000 Potenzielle Schäden 102.400 8.200 – Verhindert durch 100.700 7.300 – ohne MR & T-Projekt MR & T-Projekt Agro Ohne das MR & T-Projekt hätte die enorme Wertezunahme in den überschwemmungsgefährdeten Gebieten gar nicht stattgefunden. Quelle: Mississippi Valley Division, U.S. Army Corps of Engineers 28 MUNICH RE Schadenspiegel 2/2011 Deichreparatur etc. Mississippi-flut 2011 Fazit Das Mississippi-Hochwasser von 2011 hatte alle hydrologischen Voraussetzungen, um eine große, zumindest sehr teure Katastrophe auszulösen. Selten hat ein extremes Hochwasserereignis so deutlich vor Augen geführt, wie sehr sich Vorsorge und adäquates Management auszahlen. Diese Erkenntnis hat sich auch in anderen Ländern durchgesetzt und mani festiert sich unter anderem in der Zusammenarbeit der Versicherungswirtschaft mit dem Staat (Österreich-HORA, Deutschland-ZÜRS, Schweiz, UK). Das Mississippi-Flutmanagementsystem lässt sich nicht ohne Weiteres auf andere Gebiete übertragen. Entscheidend sind die hydrologischen Bedingungen, Größe und Form des Flussgebiets, die morphologi schen Gegebenheiten sowie die Möglichkeiten der Zwischenspeicherung und Ableitung von Wasser. Außerdem beeinflusst die wirtschaftliche Leistungs fähigkeit eines Landes die Möglichkeiten, technische Hochwasser- und andere Vorsorgemaßnahmen zu ergreifen. Und schließlich hängen die Organisation des Katastrophenmanagements sowie das generelle Risikobewusstsein von Bildung und kulturellen Verhältnissen ab. Es sind also viele Faktoren, die verhindern, dass ein extremes Hochwasser zu einer großen Katastrophe wird – wie im Vorjahr etwa in Pakistan, China und Kolumbien. Mit entscheidend für ein erfolgreiches Flutmanagement ist eine straffe Ver‑ antwortungs-, Zuständigkeits- und Entscheidungsstruktur. Wichtig ist, die Bürger vom Sinn der Maßnahmen zu überzeugen. Vereinzelte Versuche, auf dem Klageweg die Sprengung des Deichs bei Cairo zu verhindern, scheiterten vor Gericht. Das erfolgreiche Flutmanagement am Mississippi darf aber auf keinen Fall zu der Überzeugung verleiten, Hochwasser seien grundsätzlich beherrschbar. Die Amerikaner hatten vergleichsweise ideale Voraussetzungen, um New Orleans zu schützen. Letztlich war auch Glück im Spiel, dass die Maßnahmen des USACE einschließlich der Notentlastungen die gewünschte Wirkung zeigten. Höchste Priorität sollte deshalb der Risikovermeidung eingeräumt werden. Schließlich darf man nicht vergessen, dass jede technische Maßnahme auf das Ökosystem wirkt, selten auf positive Weise. Wäre der Mississippi nicht durch Deiche in ein Korsett gezwängt, hätte er sich vermutlich schon längst eine neue Mündung gesucht. Trotz des erfolgreichen Umgangs mit dem Hochwasser 2011 bleibt der Mississippi wie auch jeder andere Fluss eine Gefahr. Schon Mark Twain wusste: “Der Mississippi lässt sich nicht zähmen, eindämmen oder in seine Schranken weisen. Es gibt keine Hindernisse, um seinen Weg zu versperren, die er nicht nieder reißen, umtanzen und verhöhnen würde.” Unsere Experten: Dr.-Ing. Wolfgang Kron ist als Head of Research, Hydrological Hazards in Geo Risks Research zuständig für alles, was mit dem Themenspektrum „Wasser als Naturgefahr“ zu tun hat. wkron@munichre.com Markus Steuer ist als Consultant in Geo Risks Research für Kommunikation, Dokumentation und Datenanalysen zuständig. msteuer@munichre.com MUNICH RE Schadenspiegel 2/2011 29 ERdbeben Die Grenzen sicheren Bauens Neuseeländische Baucodes zählen zu den fortschrittlichsten weltweit. Das Erdbeben, das am 22. Februar 2011 die Stadt Christchurch erschütterte, verursachte dennoch große Schäden. Auch zahlreiche Autos wurden unter den Trümmern der Häuser begraben. Das Erdbeben zerstörte vor allem alte Gebäude, die nicht den aktuellen Baucodes entsprechen. 30 MUNICH RE Schadenspiegel 2/2011 Erdbeben von Dr. Anselm Smolka und Alexander Allmann Am 22. Februar 2011 wurde die Stadt Christchurch auf der Südinsel Neuseelands zum zweiten Mal innerhalb von sechs Monaten von einem starken Erdbeben erschüttert. Die Magnitude war mit einem Wert von 6,3 um 0,8 Stufen geringer als bei einem vorangegangenen Beben am 4. September 2010. Dass es dennoch zu außerordentlich heftigen Bodenerschütterungen und Sekundäreffekten kam, hat mehrere Gründe: Zum einen lag der Bebenherd diesmal lediglich rund zehn Kilometer vom Stadtzentrum entfernt, im September 2010 waren es mehr als 40 Kilometer. Zum anderen befand sich das Hypozentrum nur fünf Kilometer unterhalb der Erdoberfläche. Die maximalen Beschleunigungswerte erreichten bis zu knapp 200 Prozent der Erdbeschleunigung in horizontaler und sogar über 200 Prozent in vertikaler Richtung. Zusätzlich zu den starken Bodenbewegungen kam es verbreitet zu Bodendeformationen und zu einer Bodenverflüssigung (Liquefaktion). Obwohl Experten um die Liquefaktionsgefahr in der Canterbury-Ebene wussten und diese bereits beim Darfield-Beben vom September 2010 auftrat, überraschten Ausmaß und Intensität dieses Phänomens. Im Gegensatz zum September-Beben, das keine Menschenleben forderte, waren diesmal 181 Todes opfer zu beklagen. Zwei Drittel befanden sich in zwei kollabierten Bürohäusern im zentralen Geschäfts viertel der Stadt. Einige Gebäude stürzten komplett ein, zahlreiche Häuser wurden stark beschädigt. Bei der staatlichen Erdbebenversicherung gingen 230.000 Ansprüche auf Schadenersatz ein. Hohe Standards für bebensicheres Bauen Die neuseeländischen Richtlinien für erdbebensiche res Bauen zählen zu den fortschrittlichsten weltweit. Sie sind vergleichbar mit denen Kaliforniens und Japans. Warum kam es dennoch zu so zahlreichen und schweren Schäden und was bedeutet das für die Versicherungswirtschaft? Im Einklang mit der internationalen Praxis verfolgen die neuseeländischen Richtlinien folgende Ziele: –Kleinere Erdbeben sollen ohne Schäden ablaufen. –Erdbeben mäßiger Stärke sollen allenfalls nicht tragende Bauwerkskomponenten in Mitleidenschaft ziehen. –Bei starken Beben können auch tragende Gebäudeteile beschädigt werden, ohne dass es jedoch zum Einsturz kommt. Das primäre Ziel von Erdbeben baucodes ist, durch die Stabilität von Gebäuden Menschenleben zu retten. Die neuesten Richtlinien berücksichti gen auch die materiellen Schäden – wie in Neuseeland geschehen. Es gilt also, die Standfestigkeit zu gewährleisten, auch wenn die Bemessungskräfte überschritten werden und das Gebäude einen konstruktiven Totalschaden davonträgt. Das ist der Fall, wenn eine Reparatur ökonomisch nicht vertretbar ist. Das entsprechende Konzept, bekannt unter dem Namen „performance based design“ (verhaltensbasiertes Design), haben unter anderem neuseeländische Erdbebeningenieure ab den 1960er-Jahren entwickelt. Es findet seit den 1980er-Jahren zunehmend in vielen Ländern Anwendung. Neuseeland hat bereits früh einen Erdbebenbaucode entwickelt und diesen laufend angepasst. Sein primäres Ziel – wie das der meisten aktuell gültigen Baucodes – ist es, über eine hohe Standfestigkeit von Gebäuden Menschenleben zu retten. Moderne Konstruktionen erreichen das, indem kritische Komponenten Erdbebenkräfte durch kontrollierte plastische Verformung absorbieren. Sachschäden werden dabei billigend in Kauf genommen. Nur wenige Richtlinien aus der jüngsten Vergangenheit sehen auch konstruktive Maßnahmen vor, um die materiellen Schäden zu reduzieren. In Neuseeland ist das der Fall. Beim Beben vom 22. Februar wurden die Bemessungsgrößen, die auf einem 500-jährlichen Ereignis beruhen, um bis zu Faktor 3 überschritten (siehe Abb. 1). Dies trifft auch für den langwelligen Teil des Bemessungsspektrums zu, der für ein Beben dieser Magnitude im unmittelbaren Epizentralgebiet ungewöhnlich stark ausgeprägt war. Üblicherweise treten bei moderaten Beben im Nahfeld hohe Schwingungsfrequenzen auf, die mit wachsender Entfernung schnell absorbiert werden. Im Gegensatz dazu können sich die langwelligen Anteile des Spektrums über große Entfernungen ausbreiten und selbst in einigen Hundert Kilometern Entfernung noch Schäden anrichten. Es waren diese langwelligen Bewegungen, die im Zusammenspiel mit konstruktiven Besonderheiten wie geometrischen Irregularitäten im Gebäudeaufriss mehrstöckige Gebäude im zentralen Geschäfts viertel von Christchurch beschädigten und in einigen Fällen sogar zum Einsturz brachten. MUNICH RE Schadenspiegel 2/2011 31 erdbeben Abb. 1 Frequenzspektrum des Bebens vom 22. Februar 2011 für das zentrale Geschäftsviertel Spektralbeschleunigung m/s2 1,6 Mittelwert von vier Aufzeichnungen der Bodenbewegung im zentralen Geschäftsviertel 1,4 1,2 Neuseeländ. Erdbeben-Baucode 1170:5 (2004) 2500-Jahreswert 1,0 Neuseeländ. Erdbeben-Baucode 1170:5 (2004), 500-Jahreswert 0,8 0,6 0,4 0,2 Quelle: Weng Y Kam, Umut Akguzel, Stefano Pampanin www.eqclearinghouse.org 0,0 0 0,5 1,0 1,5 2,0 2,5 Das Diagramm zeigt die spektrale Beschleunigung in Abhängigkeit von der Schwingungsperiode. Die im neuseeländischen Code vorgesehenden Werte (für 500 Jahre) wurden deutlich überschritten. Schwere Schäden haben auch die bereits erwähnten permanenten Bodenverformungen, insbesondere die Bodenverflüssigung, hervorgerufen. Man kann davon ausgehen, dass dieses Phänomen nicht ausreichend in den Baurichtlinien berücksichtigt wurde. Um derartige Schäden zu vermeiden, sind entsprechende Fundamente nötig, und man kann die geotechnischen Bodenqualitäten verbessern. Für die hohen Bodenbewegungen und die damit verbundene starke Bodendeformation kommt das Zusammenwirken mehrerer Phänomene in Betracht: –Da das Beben (wie schon im September 2010) eine mehrere Tausend Jahre alte Bruchzone reaktiviert hat, war der Spannungsabfall außergewöhnlich hoch. Das Beben war somit energiereicher als bei durchschnittlichen Ereignissen dieser Magnitude. –Die nach Süden geneigte Bruchfläche zielt direkt in Richtung des Stadtzentrums. Ausgehend von der Basis pflanzte sich der Bruch nach oben fort. Dadurch entstanden konstruktive Interferenzen zwischen den anfänglichen und den später gebildeten Erdbebenwellen. –Möglicherweise wurden die südwärts gerichteten Bebenwellen an der Grenzfläche zwischen weichen Sedimenten und dem harten Vulkangestein der Banks-Halbinsel reflektiert, sodass sie sich mit Wellenzügen in den Sedimenten der Canterbury-Ebene überlagerten. 32 MUNICH RE Schadenspiegel 2/2011 3,0 3,5 4,0 4,5 5,0 Periode (sek) –Die Schwingungen der weicheren, oberflächennahen Sedimentschichten koppelten sich von der Bewegung der tiefer gelegenen Schichten ab, sodass sie in einer gegenläufigen Bewegung auf einanderstießen. Dieser Effekt wird als „Trampolineffekt“ bezeichnet, aber nicht im Sinne einer resonanzartigen Aufschaukelung, sondern des genauen Gegenteils davon, nämlich einer asynchronen Bewegung von Trampolin und Springer. –Topografisch bedingt fokussierten sich die Schwingungen im hügeligen Gelände am südlichen Stadtrand auf den Hügelkämmen. Abgesehen von den wenigen Einstürzen großer neuerer Gebäude im zentralen Geschäftsviertel hat der Baucode aus ingenieurtechnischer Sicht sein Ziel erreicht. Die meisten Gebäudeschäden entstanden an älteren und historischen Bauwerken – ein typi sches Bild nach Erdbebenkatastrophen. Denn die Baurichtlinien betreffen nach ihrem Inkrafttreten naturgemäß nur Neubauten, die einen geringen Teil des Gebäudebestands ausmachen. Ältere Gebäude lassen sich zwar mit hohen Kosten nachrüsten, was aber in Christchurch – im Gegensatz etwa zur Hauptstadt Wellington – selten der Fall war. Baucodes sind nur eine Maßnahme unter vielen Häufig wird argumentiert, Rabatte für bebensicheres Bauen bei Erdbebentarifen würden Präventionsmaßnahmen fördern. Doch schon das Beben in Chile im erdbeben Februar 2010 und auch das Darfield-Beben im September 2010 haben gezeigt, dass diese im Prinzip sinnvolle Idee an praktische Grenzen stößt. Denn selbst wenn ein Gebäude den Erschütterungen standhält, können erhebliche Beschädigungen resultieren. Bei den drei Beben kam es deshalb zu versicherten Schäden in Höhe von mehreren Milliarden US-Dollar. Um Massenrisiken und große Einzelrisiken versicherbar zu halten, muss man daher auch nicht strukturellen Gebäudeschäden vorbeugen. In einigen Richtlinien jüngeren Datums, so auch in Neuseeland, sind entsprechende Vorgaben bereits verankert. Eine weitere Lehre aus dem Christchurch-Beben lautet, Folgeeffekten größere Beachtung zu schenken. In der Canterbury-Ebene trifft das auf das hohe Liquefaktionspotenzial zu. In anderen Gebieten mögen unterschiedliche Sondereffekte eine Rolle spielen. Zu denken ist dabei an Tsunamis (Japan 2011), Erdrutsche (China 2008) oder Feuer nach Erdbeben (Kalifornien 1906 und Japan 1923). Die katholische Kathedrale von Christchurch nach dem Erdbeben am 22. Februar 2011 Da Baurichtlinien ausschließlich auf das betreffende Einzelobjekt abzielen, bleiben mögliche Auswirkun gen auf umliegende Bauten außen vor. So war das gesamte Zentrum von Christchurch aufgrund der Einsturzgefahr großer Gebäude monatelang gesperrt – mit allen negativen Folgen für die dortigen Büros und Geschäfte. Zu wenig Beachtung findet derzeit auch noch die Frage nach dem gesellschaftlich akzeptablen Restrisiko. Es ist ökonomisch sinnvoll und legitim, dass einzelne, kleinere Gebäude großen Erdbebenlasten möglicherweise nicht standhalten. Anders liegt der Fall, wenn ein Ballungsraum wie Christchurch, immerhin die zweitgrößte Stadt Neuseelands, trotz aller Vorkehrungen derart massive Schäden davonträgt. Hier muss sich die Gesellschaft fragen, inwieweit sie bereit ist, eine monatelange Sperrung des Zentrums hinzunehmen, ganze Stadtviertel aufzugeben und bis zu zehn Jahre auf den kompletten Wiederaufbau zu warten. Ähnlich wie bei der Gefahr von Flussüberschwemmungen sollte man überlegen, ob Hochrisiko-Gebiete, beispielsweise tsunamigefährdete Küstenstreifen, nicht schon im Vorfeld von Bebauung freigehalten werden sollten. Seit dem zweiten großen Erdbeben vom 22. Februar 2011 ist das Grand-ChancellorGebäude in Christchurch einsturzgefährdet. MUNICH RE Schadenspiegel 2/2011 33 erdbeben Abschließend sei angemerkt, dass auch der beste Baucode nur so gut ist wie seine Umsetzung. Weder in Chile 2010 noch in Neuseeland 2010 und 2011 gab es hier Anlass zu Beanstandungen – von Einzelfällen abgesehen und im Gegensatz zu vielen anderen Erdbebenkatastrophen. Das „Grand Chancellor“Hotel, das Fernsehzentrum und das Pyne-GouldGebäude im Zentrum von Christchurch sind einige der wenigen Beispiele, wo diese Prinzipien offenkundig verletzt wurden. Allerdings handelt es sich hier auch nicht um moderne, nach den neuesten Baurichtlinien errichtete Gebäude. Prävention hat Priorität – auch für die Versicherung Was bedeuten die Erkenntnisse aus Christchurch für die Versicherungspraxis? Die Zahl von Schadenersatzansprüchen und der absolute Betrag der Schadenzahlungen bei allen großen Beben seit Februar 2010 – Chile, Neuseeland und Japan – weisen nach oben. Deshalb muss die Versicherungswirtschaft wirksame Mechanismen schaffen oder in Zusammenarbeit mit Behörden und Erdbebenexperten darauf hinwirken, die Schäden in Grenzen zu halten. Munich Re propagiert dazu seit den späten 1980er-Jahren das Prinzip der Risikopartnerschaft, in der jeder Partner einen Teil des Risikos und der Risikovorsorge zu tragen hat. Das fängt beim Versicherten an und zieht sich über den Erstversicherungsmarkt und die Rückversicherer bis hin zum Staat. Als einzelne Maß nahmen sind in diesem Zusammenhang zu nennen: –Schadenprävention hat Priorität. Erheblich mehr Anstrengungen sind notwendig, um nach den neuesten Richtlinien Gebäude nicht nur sicher zu bauen, sondern auch, um mögliche materielle Schäden zu reduzieren. Gefährdete Gebäude sollten entweder nachgerüstet oder abgerissen werden. Über die reine Erschütterungswirkung hinaus müssen auch Sekundäreffekte angemessen berücksichtigt werden. –Der Aufbau eines zuverlässigen Prüf- und Kontrollwesens ist wichtig, um die Einhaltung von Baurichtlinien zu gewährleisten und – auch für Versicherer – nachweisbar zu dokumentieren. –Prävention und Kontrolle bilden die Voraussetzung, um Prämienrabatte bei erdbebensicherer Bauweise zu gewähren. Sie schaffen einen wichtigen finan ziellen Anreiz, damit Gebäudeeigentümer Schutzmaßnahmen ergreifen. –Eine ähnliche Wirkung entfalten Selbstbehalte, insbesondere Franchisen. Sie sind außerdem ein geeignetes Instrument, um Kleinschäden und damit die Gesamtzahl der Massenschäden zu reduzieren. Sofern die Selbstbehalte dem Risiko angemessen sind und bei der Regulierung zur Anwendung kommen, sind Abschläge auf die Versicherungs prämien möglich. Bevorzugt sollten Selbstbehalte als fester Prozentsatz des versicherten Werts und ohne Limitierung ausgewiesen werden. Ein Selbstbehalt von beispielsweise einem Prozent bezogen auf den Schaden anstatt den versicherten Wert greift sicherlich zu kurz. –Notfallpläne der Erstversicherer sind unabdingbar, um Massenschäden effizient und rasch regulieren zu können. Dazu gehört, dass der Hauptsitz auch im Katastrophenfall funktionsfähig bleibt, dass temporäre Regulierungsbüros flexibel vor Ort eingerichtet werden und dass eine ausreichende Anzahl von qualifizierten Schadenregulierern verfügbar ist. Bestehen Erdbeben-Pools, ist besonderes Augenmerk auf die eventuelle Überlappung bzw. Abgrenzung von Pool- und privater Deckung zu richten. Nicht vergessen werden sollte die Möglichkeit, starke Nachbeben einzuplanen. Die Erdbeben der vergangenen 18 Monate haben die Funktionalität der Versicherungswirtschaft auch einem so extremen Fall wie dem zweiten Erdbeben von Christchurch bewiesen. Damit das so bleibt, sind jedoch verstärkte Anstrengungen zur Schadenbegrenzung nötig. Dazu müssen Ingenieure, Behörden und Versicherungen eng miteinander kooperieren. Unsere Experten: Dr. Anselm Smolka ist als Leitender Fachexperte zuständig für die Risikobewertung von Naturgefahren in der Abteilung CU1.5 „Risikomanagement von Kumulgefahren“. asmolka@munichre.com Alexander Allmann arbeitet als Senior Consultant für Erdbeben und andere Naturgefahren in der Abteilung CU1.5 „Risikomanagement von Kumulgefahren“. aallmann@munichre.com 34 MUNICH RE Schadenspiegel 2/2011 schadenliteratur RAND The Long Shadow of 9/11 von Christian Lahnstein Aus Anlass des zehnten Jahrestags der Anschläge auf das World Trade Center und auf das Pentagon häuften sich Unter suchungen und Dokumentationen zum Thema. Bemerkenswert bleibt eine neue Publikation von RAND, dem größten, politisch neutralen US Think Tank in Santa Monica. Die Autoren der 16 Kapitel sind RAND-Mitarbeiter, die über ihre akademische und interdisziplinäre Projekterfahrung hinaus auch unmittelbar in die diplomatische und militärische US-Praxis vor und nach 9/11 eingebunden waren. Sie versuchen, die Fragen zu beantworten, was falsch und was richtig gemacht, wo überreagiert wurde und wie sich die USA dadurch verändert haben. Bei aller Anerkennung von Fortschritten fielen auf vielen Gebieten die Antworten kritisch aus. Dies betraf nicht nur militärische und außenpolitische Aspekte, sondern auch die Sicherheitspolitik. Die Studie geht davon aus, dass der Zusammenhalt der amerikanischen Gesellschaft geschwächt ist und ihre inneren Widersprüche verschärft sind. Um diesen Zusammenhalt wieder zu stärken, sehen die Autoren der RAND-Studie zwei Notwendigkeiten, die auch die Versicherungswirtschaft betreffen: die bessere Koordinierung eines lückenhaften Heilwesens sowie ein Entschädigungskonzept für künftige Terrorismus opfer. Bei einem weiteren Anschlag würden nach Einschätzung der Autoren die staatliche Entschädigung weniger großzügig und das Engagement der Privatversicherung geringer sein. Auch würden sich vermutlich verstärkt Haftungsfragen stellen, wobei Sinn, Reichweite und Ausgestaltung der Haftungsregeln auch in diesen zehn Jahren keineswegs geklärt werden konnten. Brian Michael Jenkins und John Paul Godges: The Long Shadow of 9/11: America’s Response to Terrorism MUNICH RE Schadenspiegel 2/2011 35 Property Einbruch mit Fragezeichen Diebe dringen in ein auf den ersten Blick gut gesichertes Warenlager ein und entwenden in großem Stil Mobiltelefone und Unterhaltungselektronik. Versagten die Sicherungssysteme aus Nachlässigkeit oder handelt es sich um einen mit Insiderwissen geplanten Diebstahl auf Bestellung ? Eckhard Schäper In der Nacht vom 12. auf den 13. Februar 2011 brachen unbekannte Täter über das Dach in die Halle des Spe ditionslagers eines Warenhauskonzerns ein. Vermut lich mit einem Bolzenschneider ausgerüstet schnitten sie eine Öffnung in den zwei Meter hohen Gittermat tenzaun aus Flachstabkonstruktion und gelangten so auf das Gelände der Spedition. Danach verstellten sie die Überwachungskameras an der Gebäudeaußen wand, um im toten Winkel unbehelligt auf das Dach der neun Meter hohen Halle zu gelangen. Dort schraubten die Einbrecher mehrere Lichtkuppeln ab, um die beste Einstiegsmöglichkeit zu erkunden. Eine der Kuppeln befand sich über einem Hochregal, eine weitere direkt über dem Bereich der entwendeten Ware. Entdeckt wurde die Tat morgens gegen 6.30 Uhr von der Frühschicht. Zur Beute gehören 4.000 originalverpackte Mobil telefone, 3.000 mobile Navigationsgeräte, 500 MP3Player und 500 Digitalkameras. Die Polizei geht davon aus, dass mehrere Täter mit Insiderwissen zugange waren, die mit entsprechenden Hilfsmitteln auf das neun Meter hohe Dach gelangten. Abgesehen hatten sie es ausschließlich auf Mobiltelefone und Unterhaltungselektronik der neuesten Generation. Elektronische und mechanische Sicherungen ausgehebelt Um das Eindringen zu erschweren, war das ca. 20.000 Quadratmeter große Grundstück komplett umzäunt. Außerdem verfügte das Speditionslager nach Angaben des geschädigten Warenhauskonzerns über eine Einbruchmeldeanlage (EMA) und eine Videoüberwachung des Innen- und Außenbereichs, die mit einem externen Sicherheitsunternehmen ver bunden waren. Allerdings verstellten Paletten und Regale die Sicht auf bestimmte Areale des Geländes, sodass die Täter dort unbemerkt von den Bewegungs 36 MUNICH RE Schadenspiegel 2/2011 Lichtkuppeln sind bei Einbrechern beliebte Einstiegsmöglichkeiten in Gebäude und sollten deshalb immer gut gesichert sein. meldern agieren konnten. Auch die Videokameras an der Gebäudeaußenwand erwiesen sich letztlich als nutzlos. Sie ließen sich manipulieren, weil sie nicht mit einem sogenannten Verdrehschutz ausgerüstet waren. Dabei wird der von der Kamera erfasste Bereich als elektronisches Bild in der Videozentrale gespeichert. Weichen aktuelles und gespeichertes Bild voneinander ab, etwa durch Verdrehung der Kamera, wird Alarm ausgelöst. Verdacht auf Beteiligung von Insidern Für den Risikoingenieur bleiben zahlreiche Fragen offen: – Warum hat der externe Sicherheitsdienst den beschädigten Zaun nicht bemerkt? Waren im Siche rungskonzept keine regelmäßigen Streifengänge vorgesehen? Property – Ist ein sogenanntes Interventionsattest vorhanden? Derartige Zertifikate stellen Wach- und Sicherheits unternehmen aus, um die vereinbarten Interventi onsmaßnahmen für eine installierte EMA/ÜMA zu dokumentieren (siehe VdS 2529). Es kann einem Versicherer zur Risikobewertung dienen. –Waren die Sicherungsmaßnahmen mit dem Versicherer abgesprochen? –Wie konnten die Täter unbemerkt so viele Kartons mit Diebesgut über das Dach abtransportieren? Dafür waren mehrere Lkw oder Kleintransporter erforderlich. –Warum waren die Außenkameras nicht mit einem Verdrehschutz ausgestattet? – Hat ein Sachverständiger die Videoanlage und die Einbruchmeldeanlage nach der Installation abge nommen? Fand eine regelmäßige Überprüfung der Systeme statt (Wartungsvertrag)? Wenn ja, warum ist den Verantwortlichen entgangen, dass mehrere Bewegungsmelder durch Regale und Paletten ver stellt wurden? Ist das auf einen Wartungsfehler oder auf Sabotage zurückzuführen? Fazit Das Sicherungskonzept eines Warenlagers sollte regelmäßig von Sicherheitsexperten überprüft und entsprechend den gelagerten Werten angepasst werden. Sicherheitstechnische Anlagen wie Einbruchmelde anlagen oder Videoanlagen müssen regelmäßig von sachkundigen Personen gewartet und auf Funktion überprüft werden. Zu einer solchen Überprüfung gehört auch die Betrachtung der Örtlichkeiten. Haben sich Veränderungen ergeben, zum Beispiel Einschränkung oder Behinderung der Bewegungs melder durch abgestellte Paletten oder eingebaute Regale, dann sind entsprechende Maßnahmen zu ergreifen. –Warum waren die Lichtkuppeln nicht ausreichend gesichert? Die Fülle an offenen Fragen legt den Verdacht nahe, dass möglicherweise Insider am Einbruch beteiligt waren oder zumindest als Tippgeber fungiert haben. Nach dem Schaden können seitens der zuständigen Versicherung Auflagen zur Erhöhung der Sicherheit verlangt werden. So sind etwa eine Überprüfung und Anpassung des Sicherheitskonzepts erforderlich. Es steht dem Versicherungsnehmer natürlich frei, sich einen anderen Versicherer zu suchen, der keine kostenintensiven Änderungen des Sicherungskon zepts fordert. Auch erhöhen auf solche Fälle speziali sierte Detekteien die Chance, die gestohlenen Geräte wiederzuerhalten. Der Versicherer sollte prüfen, ob ein Regressverfahren gegen den Planer des Siche rungskonzepts und gegen die Wartungsfirma der Ein bruchmeldeanlage Aussicht auf Erfolg verspricht. Unser Experte: Eckhard Schäper ist Brandschutz ingenieur und Experte für Einbruch/ Diebstahl im Bereich Global Clients/ North America bei Munich Re. eschaeper@munichre.com MUNICH RE Schadenspiegel 2/2011 37 Spread Ladder Swaps Klagewelle bleibt bisher aus Am 22. März 2011 hat der Bundesgerichtshof ein aufsehenerregendes Urteil zu „Spread Ladder Swaps“ gesprochen. Die Auswirkungen auf die Banken- und Versicherungsbranche lassen sich derzeit noch nicht detailliert abschätzen. Bei der Anlageberatung ist die Bank verpflichtet, die Risikobereitschaft des Kunden zu erfragen. 38 MUNICH RE Schadenspiegel 2/2011 Spread ladder swaps von Dr. Henriette Heine Bank zu Schadenersatz verurteilt „Spread Ladder Swap“-Geschäfte, bei denen auf die unterschiedliche Entwicklung von kurz- und lang fristigen Zinsen gewettet wird, wurden besonders zwischen 2004 und 2006 häufig abgeschlossen. Die Kunden, zumeist mittelständische Unternehmen und Kommunen, haben damit oft hohe Verluste erlitten (siehe auch Kasten Seite 40). Am 22. März 2011 verurteilte der BGH die beklagte Bank zu Schadenersatz in Höhe von 540.000 Euro (Aktenzeichen XI ZR 33/10). Dabei ließen es die Richter offen, ob das „Spread Ladder Swap“-Geschäft – wie von der Klägerin vorgetragen – gegen das Transparenzgebot des § 307 Abs. 1 Satz 2 BGB verstieß, nach § 138 BGB sittenwidrig oder wegen arglistiger Täuschung (§ 123 BGB) anfechtbar war. Das Urteil geht vielmehr von einer fehlerhaften Anlageberatung aus. Folgende Aspekte stellt der BGH in seiner Urteilsbegründung heraus: Im Frühjahr dieses Jahres hatte nun der Bundesgerichtshof (BGH) in folgendem Fall zu urteilen: Eine Bank und ein mittelständisches Unternehmen schlossen im Februar 2005 einen „Spread Ladder Swap“Vertrag. Bei den vorangegangenen Beratungen war neben dem Geschäftsführer des Mittelständlers auch die Prokuristin, eine Diplom-Volkswirtin, dabei. Bank und Unternehmen einigten sich auf ein Vertragskonstrukt, nach dem die Bank aus einem Bezugsbetrag von zwei Millionen Euro für die Laufzeit von fünf Jahren halbjährlich Zahlungen in Höhe eines festen Zinssatzes von drei Prozent pro Jahr zu erbringen hatte. Der Kunde musste demgegenüber im ersten Jahr Zinszahlungen in Höhe von 1,5 Prozent pro Jahr leis ten; anschließend richteten sich seine Zahlungen nach einem variablen Zinssatz, der von der Entwicklung der Differenz zwischen kurz- und langfristigen Zinsen abhing. Eine einseitige Vertragsbeendigung ohne Vorliegen eines wichtigen Grunds war für beide Parteien erstmals nach drei Jahren gegen eine Ausgleichszahlung in Höhe des aktuellen Marktwerts möglich. Bei der Beratung wies die Bank darauf hin, dass das Verlustrisiko „theoretisch unbegrenzt“ sein könne. Der Klägerin wurde allerdings nicht mitgeteilt, dass der Vertrag zu Beginn einen von der Bank bewusst eingerechneten negativen Marktwert von rund 80.000 Euro aufwies (vier Prozent der Bezugssumme). Die Bank hatte ihre Risiken durch dieses Geschäft unmittelbar über Hedge-Geschäfte an Dritte abgegeben. Das mittelständische Unternehmen hatte schon zuvor mit einer anderen Bank zwei Swap-Geschäfte getätigt. Bereits im Herbst 2005 zeichneten sich Verluste für das Unternehmen ab, da die Zinsdifferenz, die für die Berechnung der Zahlungen relevant war, stetig abnahm. –Eine Bank muss bei der Anlageberatung die Risikobereitschaft des Kunden erfragen. Ausnahmen können lediglich langjährige Geschäftsbeziehungen oder das bisherige Anlageverhalten des Kunden sein. Berufliche Qualifikationen, wie hier bei der Diplom-Volkswirtin, lassen keine Rückschlüsse auf eventuelle Vorkenntnisse oder die Risikobereitschaft zu. –Ein „Spread Ladder Swap“-Geschäft ist ein hochkomplexer Vertrag. Die Bank muss daher sicherstellen, dass der Anleger in Bezug auf das Risiko des Geschäfts im Wesentlichen den gleichen Kenntnisund Wissensstand hat wie sie. –Bei einem „Spread Ladder Swap“-Geschäft muss die Bank den Kunden über den negativen Marktwert zu Beginn der Vertragslaufzeit aufklären. Nur so kann dem Interessenkonflikt der Bank entgegen gewirkt werden. –Eine Bank, die eigene Anlageprodukte vertreibt, muss grundsätzlich nicht darüber aufklären, dass sie einen Gewinn erzielen möchte. Ausnahmen bestehen jedoch, wenn besondere Umstände hin zukommen. Das war hier der Fall: Denn bei diesem „Spread Ladder Swap“-Geschäft gestaltete die Bank die Risikostruktur bewusst zulasten des Anlegers. Im Oktober 2006 focht die Firma den Vertrag mit der Bank wegen arglistiger Täuschung an. Das Geschäft wurde gegen Zahlung eines Ausgleichsbetrags in Höhe des aktuellen negativen Marktwerts von 566.850 Euro aufgelöst. Mit der Klage vor dem BGH machte das Unternehmen die wegen fehlerhafter Anlageberatung erlittenen Verluste geltend. Der Geschäftsführer des Unternehmens äußerte bei der mündlichen Verhandlung, die Vertragskonstruktion des „Spread Ladder Swaps“ nicht verstanden zu haben. MUNICH RE Schadenspiegel 2/2011 39 spread Ladder swaps Durch das BGH-Urteil geraten in erster Linie Policen der Betriebshaftpflicht- sowie D & O-Versicherung der Banken in den Fokus. Wichtig ist, dass jeder Einzelfall individuell bewertet werden muss. Swap-Geschäfte Swap-Geschäfte zählen zu den Derivaten, also zu den Finanzinstrumenten, deren Preise sich nach den Kursschwankungen beziehungsweise Preiserwartungen anderer Investments (zum Beispiel Aktien, Anleihen, Rohstoffen oder Zinssätzen) richten. Bei einem Swap werden schwer kalkulierbare Zins- oder Währungs risiken gegen fest vereinbarte Verpflichtungen getauscht. So kann etwa ein Kredit mit langer Laufzeit und hohem Zinssatz in Kredite mit kurzer Laufzeit und niedrigem Zins umgeändert werden. Bei Swap-Geschäften liegt immer ein konnexes Grundgeschäft – in der Regel ein Kreditgeschäft – vor. „Spread Ladder Swap“-Geschäfte Bei einem „Spread Ladder Swap“-Geschäft hingegen fehlt der Bezug zu einem Grundgeschäft. Bank und Kunde schließen zusätzlich eine Wette darauf ab, wie sich der Abstand zwischen kurz- und langfristigem Zinsniveau entwickelt. Zu Beginn einigen sich die Vertragspartner auf einen Nominalwert des Geschäfts. Die Bank zahlt einen festen Zins über die gesamte Laufzeit. Der Kunde hingegen zahlt einen nach einer bestimmten Formel der Bank berechneten Zins; nur im ersten Jahr gilt auch für ihn ein fest vereinbarter Zins. Die Zinsen der Folgejahre hängen davon ab, wie sich die Differenz zwischen lang- und kurzfristigem Zinssatz entwickelt. Nur wenn der langfristige Zinssatz dauerhaft höher liegt als der kurz fristige, haben die Kunden eine Gewinnchance. 40 MUNICH RE Schadenspiegel 2/2011 Bei einer flachen Zinskurve, das heißt, der langfristige Zinssatz entspricht dem kurzfristigen, oder einer inversen Zinskurve, der langfristige Zinssatz fällt unter den kurzfristigen, kommt es zu zum Teil erheblichen Verlusten bei den Bankkunden. Ein „Spread Ladder Swap“-Geschäft trägt spekulative Züge. Wie verbreitet sind „Spread Ladder Swap“Geschäfte? „Spread Ladder Swap“-Geschäfte wurden speziell in den Jahren 2004 bis 2006 von verschiedenen Großbanken vornehmlich an mittelständische Unternehmen sowie Kommunen und deren Eigenbetriebe verkauft. Verlässliche Angaben zur Anzahl der Verträge existieren nicht. Presseberichte gehen davon aus, dass rund 200 Kommunen und 500 Unternehmen solche Verträge abgeschlossen haben. In vielen Fällen erlitten die Anleger zum Teil massive Verluste: Allein für den kommunalen Sektor sollen sie sich auf bis zu einer Milliarde Euro summieren. Mittlerweile ist eine Vielzahl von Klagen gegen die beratenden Banken anhängig. Die Unterinstanzen haben jedoch die Mehrzahl der Klagen abgewiesen. Beim BGH sind noch weitere sieben Klagen an hängig. spread Ladder swaps „Spread Ladder Swap“-Geschäfte werden unattraktiver Unzweifelhaft wird das Urteil die Attraktivität von „Spread Ladder Swap“-Geschäften für die Banken mindern, da sie im Vertrieb zukünftig die vom BGH vorgegebenen Beratungsstandards beachten müssen. Ob das Urteil nun als Einfallstor für weitere Klagen dient – neben der hier beklagten Bank haben auch zahlreiche andere Institute diese Geschäfte vertrieben –, ist zurzeit noch schwer einzuschätzen. Zwar weisen einige Kanzleien auf ihren Homepages auf die gestiegenen Erfolgsaussichten für Klagen im Zusammenhang mit verlustreichen „Spread Ladder Swap“Geschäften hin. Auch wurden seit der Urteilsverkündung bereits einige Klagen anhängig gemacht; dabei handelt es sich aber in erster Linie um Kommunen, die zum Teil Verluste in Millionenhöhe erlitten haben. Auf der anderen Seite entscheiden sich geschädigte Kommunen wegen geringer Erfolgsaussichten auch bewusst gegen eine Klage. Dies ist nachvollziehbar, denn das BGH-Urteil betrifft einen Einzelfall, der gerade nicht als Präzedenzfall für alle derartigen Geschäfte dienen kann. Dennoch ist eine gewisse Signalwirkung zu erwarten, da besonders mittelständische Unternehmen und Kommunen eine nicht unerhebliche Anzahl solcher Geschäfte abgeschlossen haben. Letztlich wird bei jedem einzelnen geschädigten Unternehmen und jeder einzelnen geschädig ten Kommune zu prüfen sein, ob die Bank ihre Beratungspflicht verletzt hat und ob dadurch zusätzlich die Anlageentscheidung des Kunden beeinflusst wurde. Nicht jeder Verlust durch ein missglücktes Anlagegeschäft kann auf die Banken abgewälzt werden. Eine Klagewelle erscheint nach jetzigem Kenntnisstand daher unwahrscheinlich. Kein Serienschaden zu erwarten Durch das BGH-Urteil geraten in erster Linie Policen der Betriebshaftpflicht- sowie D & O-Versicherung der Banken in den Fokus. Wichtig ist, dass jeder Einzelfall individuell bewertet werden muss – insbesondere was die spezifischen Beratungsanforderungen gegenüber dem Kunden anbelangt. Bei der Vielzahl der abgeschlossen „Spread Ladder Swap“-Verträge drängt sich die Frage auf, ob ein Serienschaden vorliegt. Der BGH verfolgt bereits seit Jahren eine einheitliche Rechtsprechung. Demnach schuldet der Anlagevermittler „jedem einzelnen Anlageinteressenten eine auf seine persönlichen Verhältnisse zugeschnittene Beratung und dabei richtige und vollständige Informationen über die Umstände, die für den jeweiligen Anlageentschluss von besonderer Bedeutung sind. Jede Schlechterfüllung einzelner selbstständiger Beratungsverhältnisse begründet einen Verstoß, der Haftpflichtansprüche gegen den Versicherungsnehmer zur Folge haben kann, für die die Beklagte gem. § 1 AVB jeweils Deckungsschutz zugesagt hat, gleichviel ob die Pflichtverletzungen auf derselben Fehlvorstellung über den Beratungsumfang beruhen und Beteiligungen an demselben Anlageobjekt betreffen. Das lässt die einzelnen Verstöße nicht zu einem Dauerverstoß werden, für den trotz mehrerer Geschädigter Versicherungsschutz nur einmal bedingungsgemäß zu gewähren ist“ (BGH, Urteil vom 17.9.2003 – IV ZR 19/03). Diese Rechtsprechung lässt es unwahrscheinlich erscheinen, dass eine Vielzahl von fehlerhaften „Spread Ladder Swaps“ zu einem Serienschaden zusammen gefasst wird. Eine Betroffenheit von D & O-Policen kann nicht völlig ausgeschlossen werden, wenn es Anhaltspunkte dafür gibt, dass die Banken das Vertriebssystem für die „Spread Ladder Swaps“ bewusst unvorteilhaft für die Kunden konstruiert haben. Der BGH hat zumindest für den hier entschiedenen Einzelfall darauf hingewiesen, dass die „Risikostruktur bewusst zu Lasten des Kunden“ gestaltet war. Allerdings müssen sowohl im Bereich der Betriebshaftpflicht- als auch der D & O-Versicherung Risikoausschlüsse geprüft werden. Die zitierte Formulierung des BGH lässt an die Anwendbarkeit des Ausschlusses „Vorsatz/wissentliche Pflichtver letzung“ denken. Auch der Ausschluss „Investment banking“ könnte greifen. Die Rechtsprechung hat in den vergangenen Jahren die Anforderungen an die Beratungsqualität und den Umfang der Aufklärungspflichten für die Banken immer weiter präzisiert und verschärft. Unterläuft einem Anlageberater eine Beratungspflichtver letzung, so ist dies zunächst ein klassischer Fall der Betriebs-/Berufshaftpflichtversicherung. Dies gilt auch für eine fehlerhafte Beratung bei einem „Spread Ladder Swap“-Geschäft. MUNICH RE Schadenspiegel 2/2011 41 spread Ladder swaps Mögliche Auswirkungen des BGH-Urteils auf die Versicherungsbranche: Haftungssituation Banken – Beratungsfehler – Ggf. von Anbeginn planvolles Vorgehen der Banken – Fehlende Aufklärung: Jedes Geschäft beginnt für den Kunden mit einem Negativwert. – Fehlende Ausrichtung der Beratung an den Interessen des Anlegers; Interessenkonflikt Kommunen – Mögliche Rückabwicklung der Verträge – Aufgrund der Einschätzung der „Spread Ladder Swaps“ als eine Art spekulative Wette spricht wegen des gesetzlichen Spekulationsverbots viel für eine Nichtigkeit der Verträge von Anbeginn. Eine Rückabwicklung der Geschäfte wäre die Folge. Deckungssituation D&O Deckungssituation Betriebshaftpflicht – Möglicherweise D&O-Police betroffen – Betriebshaftpflichtpolice betroffen aufgrund des Beratungsfehlers – Aufgrund des planvollen Vorgehens der Bank steht hier eine wissentliche Pflichtverletzung im Raum – Möglicher Ausschluss: Investmentbanking – Eine Inanspruchnahme der D&O- bzw. Eigenschaden police erscheint sehr unwahrscheinlich. – Eigenschaden, daher keine Betroffenheit – Eine Inanspruchnahme der D&O-Police der Unternehmen erscheint sehr unwahr scheinlich. – Eigenschaden, daher keine Betroffenheit – In diesem Fall erscheint eine Inanspruch nahme der Kämmerer bzw. Geschäftsführer der kommunalen Eigenbetriebe sehr unwahrscheinlich, da mit der Rückabwicklung auch die Verluste ausge glichen würden. – Zusatzkosten wären Schadenersatz positionen gegenüber der Bank. Unternehmen – Da die Unternehmen keinem Speku lationsverbot wie die Kommunen unterliegen, läge keine Nichtigkeit der Verträge vor. – Ein Beratungsfehler durch die Bank bliebe jedoch bestehen, sodass das Urteil des BGH Signalwirkung für die Geltendmachung von Schadenersatz ansprüchen von erlittenen Verlusten im Rahmen von „Spread Laddder Swap“Geschäften entfalten könnte. 42 MUNICH RE Schadenspiegel 2/2011 spread Ladder swaps Eine Inanspruchnahme der Betriebshaftpflicht- bzw. D&O-Versicherung der Kommunen und Unternehmen erscheint eher unwahrscheinlich. Die Entscheidungsträger der Kommunen und Unternehmen sagten zwar oft aus, dass sie bei Abschluss des Vertrags nicht verstanden hatten, wie ein „Spread Ladder Swap“ funktioniert. Dies könnte ein möglicher Ansatzpunkt für eine Haftung sein. Zudem hat der BGH in seinem Urteil solche Geschäfte als „eine Art spekulative Wette“ bezeichnet. Dies könnte für die Kommunen problematisch sein, da sie einem gesetzlichen Spekulationsverbot unterliegen. Bislang ist aber noch kein Fall bekannt, in dem Kommunen gegen ihre Entscheidungsträger vorgegangen sind. Auch im hier entschiedenen Fall hatte der Geschäftsführer angegeben, das dem Vertrag zugrunde liegende Modell nicht verstanden zu haben. Der BGH sieht in diesem Verhalten allerdings kein Mitverschulden, was zumindest eine Anspruchskürzung zur Folge gehabt hätte. Vielmehr sei dieses Verhalten „gerade Ausdruck dieses besonderen Vertrauensverhältnisses, das den Anleger dazu bringt, sich in erster Linie an der Empfehlung seines Beraters zu orientieren, und ihn davon abhält, weitere Nachfragen zu stellen oder Nachforschungen anzustellen“. Fazit Das Urteil vom 22. März 2011 überrascht nicht, denn es fügt sich ein in die bisherige etablierte Linie der am Anlegerschutz orientierten Rechtsprechung des BGH. Bislang hat sich noch keine Klagewelle entwickelt, wie sie von den Vertretern der Beklagten im Prozess mit dem Hinweis auf eine drohende „zweite Finanzkrise“ vorhergesagt wurde. Lediglich vereinzelt haben Kommunen und Unternehmen explizit wegen des BGH-Urteils Klage gegen Banken erhoben. Für die Versicherungsbranche lassen sich bislang keine größeren Belastungen aus dem Geschäftsmodell der „Spread Ladder Swaps“ erkennen. Voraussichtlich wird sich dies auch künftig nicht grundlegend ändern. Unsere Expertin: Dr. Henriette Heine ist bei Munich Re als Schadenjuristin für Haftpflicht und D&O im Bereich Deutschland tätig. hheine@munichre.com MUNICH RE Schadenspiegel 2/2011 43 engineering Blitzschlag in Leuchtreklame Ein Hochhaus wird nach einem Brand zum Sanierungsfall. Verzögertes Schadenmanagement treibt die Kosten zusätzlich in die Höhe. von Tobias Gassner und Markus Braun Während eines schweren Sommergewitters im Juni 2009 schlug ein Blitz in eine an einer Hochhauswand angebrachte Werbetafel ein. Kurze Zeit später standen große Teile des 19-stöckigen Hochhauses in Flammen. 150 Feuerwehrleute und 37 Löschfahrzeuge brauchten Stunden, um das Feuer zu löschen. Unklar ist, ob der Blitzeinschlag direkt das Feuer in der Leuchtreklame verursachte oder ob er durch Über spannung einen Kurzschluss auslöste, der wiederum das Feuer entfachte. Die Werbetafel erschwerte die Löschung des Feuers obendrein – nur über zusätzlich angeforderte Drehleitern konnte der in 50 Meter Höhe liegende Brandherd bekämpft werden. Nach dieser halbstündigen Verzögerung hatte sich der Brand bereits weitgehend ungehindert ausgebreitet. Das Feuer fraß sich über die Außenverkleidung des Gebäudes auf die gesamte Höhe des Gebäudes in der Südwestecke. Obwohl der Brand weit oben im 14. Stock ausbrach, zog er nach unten weiter bis ins Erdgeschoss. Aufgrund starker Winde aus südwestlicher Richtung entzündeten sich zusätzlich auch die Paneele an der Nordostecke des Gebäudes, sodass das Hochhaus an zwei gegenüberliegenden Ecken über die gesamte Höhe in Flammen stand. Das Feuer drang auf vielen Stockwerken in das Gebäude ein, verursachte direkte und indirekte Feuer- und Hitzeschäden und hinterließ das komplette Hochhaus in unbenutzbarem Zustand. Das 72 Meter hohe und 19 Stockwerke umfassende Hochhaus wurde in der für derartige Gebäude typischen Stahlrahmenbauweise mit Betonzwischendecken ausgeführt. Die beim Bau unter anderem für die Außenverkleidung verwendeten Aluminuimpaneele bestanden aus einem etwa zwei bis drei Millimeter dicken Kunstoffkern und waren auf beiden Seiten von einer einen Millimeter starken Aluminiumdeckschicht umgeben. Diese Sandwichpaneele reichten an zwei gegenüberliegenden Ecken des Gebäu- 44 MUNICH RE Schadenspiegel 2/2011 Aus optischen Gründen wurde die Außenfassade des Hochhauses mit Glas und Aluminiumpaneelen verkleidet. EnginEEring Glasfassade Paneele 1 des über die gesamte Höhe. Der in der Mitte liegende Kunststoffkern hätte gemäß den Baubestimmungen schwer entflammbar sein müssen. Wandverkleidung entsprach nicht den Anforderungen Bemerkenswert an dem Schaden ist, dass die als schwer entflammbar deklarierten Paneele doch brennbar waren, sowie die hohe Geschwindigkeit, mit der sich das Feuer ausbreitete. Die brandtechnische Untersuchung offenbarte, dass die verwendeten Außenpaneele möglicherweise nicht der geforderten Baustoffklasse entsprachen. Der Plastikkern innerhalb der beiden Aluminiumdeckschichten brannte nach seiner Entzündung durch eine externe Quelle sogar noch selbstständig weiter, verflüssigte sich und tropfte herunter. Dies ist eine mögliche Erklärung dafür, wie sich das Feuer auch nach unten ausbreiten konnte. Das Gutachten stufte die verbauten Sandwichpaneele entsprechend der EU-Brandschutznorm in die Baustoffklasse E ein. Die ursprünglich vorgesehene Brandhemmung der Paneele war somit vermutlich nicht im spezifizierten Umfang gegeben. 1 1 3 Schnelles Handeln hätte den Schaden gemindert Diskussionen über den Umfang der Entschädigung zwischen dem Gebäudeeigentümer als Versicherungsnehmer und dem Versicherer verzögerten die Sanierung des leer stehenden Hochhauses um Monate. Das Gebäude wurde vernachlässigt, in allen Räumen siedelten sich Schimmel und Pilze an, die entfernt werden mussten. Zudem musste die leer stehende Immobilie sehr aufwendig ausgetrocknet sowie den ganzen Winter über geheizt werden, um Kondensation und erneuten Schimmelbefall zu vermeiden. Dass eine sofortige Brandsanierung hingegen die Schäden verringert hätte, zeigt das Beispiel eines Hochhausmieters. 2 1. Vertikale Brandausbreitung nach oben und unten durch brennend abtropfende Fassadenverkleidung. 2. Brandausbreitung über das Zwischengeschoss auf die gegenüberliegende Gebäudeseite. 3. Aufgrund der entflammbaren Fassadenverkleidung vertikale Brandausbreitung auf der Gebäudeecke, die dem ursprünglichen Brandherd gegenüberliegt. MUNICH RE Schadenspiegel 2/2011 45 engineering Unmittelbar nach dem Feuer beauftragte er ein auf Brandsanierung spezialisiertes Unternehmen damit, das Firmeneigentum, wie elektronisches Equipment und Geschäftsunterlagen, aus den Büroräumen zu entfernen und wiederherzustellen. Die schnelle Reaktion des Mieters wurde belohnt, da nahezu alle Daten wiederhergestellt werden konnten. Fazit Ein unwahrscheinlich erscheinendes Szenario und die Verkettung verschiedener Umstände führten zu einem großen Gebäudeschaden. Die besonderen Schwierigkeiten bei der Bekämpfung von Bränden bei Hochhäusern sind bekannt und wurden vielfach diskutiert (vgl. hierzu auch die „Schadenspiegel“Ausgaben 2/2006 und 2/2002). Ein besonderer Aspekt dieses Schadens ist die unvermutete Brandlast der verbauten Sandwichpaneele, durch die sich das Feuer weit ausbreiten konnte. Um dies zu vermeiden, sollte bei Großprojekten nicht nur auf die Auswahl entsprechend klassifizierter Baustoffe geachtet, sondern deren Verwendung stich probenartig überprüft werden. Ein bereits eingetretener Schaden kann durch das schnelle, aktive und vereinte Schadenmanagement von Versicherungsnehmer, Versicherer und Rück versicherer begrenzt werden. Mithilfe spezialisierter Unternehmen lassen sich Werte wiederherstellen, Ausfallzeiten verringern und Kosten reduzieren. Unverzügliche Schadenminderungsmaßnahmen liegen im gemeinsamen Interesse aller Beteiligten und sind in vielen Fällen auch im Versicherungs vertrag vereinbart. UnserE Experten: Tobias Gassner ist gelernter Speditionskaufmann und hat Maschinenbau und Betriebswirtschaftslehre studiert. Seit 2010 arbeitet er für Munich Re im Bereich Property Claims. tgassner@munichre.com Markus Braun ist Brandschutz ingenieur. Als Underwrtiter Property Fakultativ bei Munich Re ist er zuständig für den Bereich Süd-Ost Europa. mbraun@munichre.com 46 MUNICH RE Schadenspiegel 2/2011 KOLUMNE Volkswirtschaft durch die Risikobrille Solide, aber effizient! Dr. Michael Menhart, Head of Economic Research von Munich Re mmenhart@munichre.com Versicherer sammeln Milliarden an Prämien ein – und legen das Geld dann meist sehr konservativ an. Sollten sie nicht mehr Risiken eingehen, um höhere Renditen zu erzielen, die Versicherungsprämien der Kunden zu senken und die Wirtschaft durch Investitionen zu fördern? Ist das nicht ein ziemlich langweiliges Geschäftsmodell? Wir Versicherer erhalten von unseren Kunden Prämien, legen diese an und zahlen im Schadenfall. Bei der Kapitalanlage sind wir meist sehr konservativ. Aber gerade da spielt doch die Musik, könnte man argumentieren. Man muss ja nicht gleich zum Zocker werden. Dennoch: Würde nicht die gesamte Volkswirtschaft profitieren, wenn die Versicherer mehr in „produktives Kapital“ investieren, auch wenn sie damit ein wenig mehr Risiko eingehen? dies entspricht etwa 50 Prozent der Wirtschaftsleistung der EU-Länder. Versicherer haben daher eine volkswirtschaftliche, aber auch eine gesellschaftliche Verpflichtung, verantwortungsvoll mit ihren Kapital anlagen umzugehen. Was heißt dies in der Praxis? Die originäre volkswirtschaftliche Funktion der Versicherungsindustrie liegt in der Übernahme von Risiken. Ihr wesentlicher Wachstumsbeitrag besteht in der Absicherung von Vermögen und Einkommen, was risikoreiche unternehmerische Aktivitäten überhaupt erst ermöglicht. Zudem übernimmt die Assekuranz beispielsweise einen Teil der volkswirtschaftlichen Schäden bei Naturkatastrophen. In regelmäßigen Abständen und je nach Wirtschaftslage sieht sich die Versicherungsindustrie mit dieser Frage konfrontiert. Geht es an den Börsen für jeden deutlich sichtbar bergab, werden die Versicherungsunternehmen für ihre konservative Strategie gelobt. Anders ist es in Zeiten der Börsengewinne oder der Unsicherheit. Dann wird häufig gefragt: Welchen Beitrag zum Aufschwung leisten eigentlich die Versicherer? Um diese zentrale Funktion erfüllen zu können, muss sie auch ihr Geschäftsmodell auf die Passivseite der Bilanz ausrichten, die ihre Risiken widerspiegelt, also auf die Sicherung der Verbindlichkeiten gegenüber ihren Kunden. Die Kapitalanlagen müssen nach diesen Verpflichtungen ausgerichtet werden und sind ebenso wie die versicherungstechnische Seite mit Risikokapital zu hinterlegen. Eine risikofreudigere Anlagepolitik, etwa um höhere Renditen zu erzielen oder um – vermeintlich – das Wirtschaftswachstum anzukurbeln, ist ökonomisch nicht effizient: Zweifellos sind sie wichtige institutionelle Investoren, ihre Bedeutung hat in den vergangenen 15 Jahren eher noch zugenommen. Seit 1995 steigt das Anlagevolumen europäischer Versicherer um durchschnittlich mehr als sieben Prozent pro Jahr auf derzeit mehr als sechs Billionen Euro; Zum einen wäre es nicht im Interesse des Unternehmens selbst. Da Versicherer auf der Passivseite der Bilanz bereits erhebliche Risiken gemäß ihres Geschäftsmodells eingehen, würde zusätzliches Risiko auf der Aktivseite mehr Risikokapital erfordern – aus risikoökonomischer Sicht wäre also auch bei höherer Rendite nichts gewonnen. Zum anderen läge eine solche Strategie nicht im Sinne der Shareholder, denn mit einer riskanteren Anlagestrategie würde sich das Risikoprofil in Richtung eines höheren RenditeRisiko-Niveaus verschieben. Ein Aktionär investiert jedoch in der Regel nicht deswegen in Versicherungswerte, um (weitere) Kapitalmarktrisiken im Portfolio zu haben. Aber würden nicht die Kunden profitieren, etwa weil aufgrund höherer Renditen die Prämien gesenkt werden könnten? Nein. Und auch hier ist wieder die risikoökonomische Per spektive entscheidend, denn die höheren Kapitalerträge müsste sich der Versicherer mit zusätzlichem Risikokapital „erkaufen“. Die Versicherungsindustrie leistet also bereits einen elementaren Beitrag zum Wirtschaftswachstum, indem sie ihre originäre Funktion erfüllt, die Investitionen und damit Wachstum erst ermöglicht. Sich über die Absicherung ihrer Verbindlichkeiten hinaus bei der Kapitalanlage substanziell zu exponieren, ist volkswirtschaftlich nicht sinnvoll. Die Versicherer sollten sich auf ihre ori ginäre volkswirtschaftliche Funktion konzentrieren – zum Wohle aller. MUNICH RE Schadenspiegel 2/2011 47 Großschadenliste 2010–2011 Ölleck in Marshall, USA Flugzeugabsturz UPS, Dubai Erdbeben Christchurch, Neuseeland Von einer beschädigten Pipeline flossen am 26. Juli 2010 hunderttausend Liter Rohöl in einen Fluss im Süden von Michigan. Ein Flugzeug vom Typ B747-400 stürzte am 3. September 2010 kurze Zeit nach dem Start in einen Militärstützpunkt. Ein Erdbeben der Stärke 7,1 erschütterte am 4. September 2010 die Stadt Christchurch. Die Behörden erklärten den Ausnahme zustand. Es gab keine Todesfälle. Erdbeben Christchurch, Neuseeland Erdbeben Japan Capszising of Jupiter Flotel Die Stadt Christchurch wurde am 22. Februar 2011 von einem Erdbeben der Stärke 6,3 erschüttert. Große Teile der Stadt wurden verwüstet und Hunderte von Menschen verschüttet. Die Aufräumarbeiten für das verheerende Erdbeben in Japan am 11. März 2011 dauern voraussichtlich noch Jahre an. Die zur Beherbergung von Arbeitern genutzte Halbtaucher-Plattform sank am 12. April 2011 aufgrund von Wassereinbruch. Die Crew konnte evakuiert werden. 48 MUNICH RE Schadenspiegel 2/2011 grossschäden Explosion San Bruno PG&E, USA Feuer IKEA Netanya, Israel Am 10. Oktober 2010 explodierte eine Erdgas-Pipeline von PG&E und richtete erheblichen Sachschaden an. Darüber hinaus gab es zahlreiche Verletzte und mindestens acht Todesopfer. Ein Brand zerstörte am 5. Februar 2011 die Ikea-Filiale in Netanya, Israel. Das Feuer zerstörte das Gebäude sowie sämtliche Waren, die sich in dem Gebäude befanden. Telesat Canada – Telstar 14R Explosion auf Marinestützpunkt, Zypern Kurz nach dem Start am 20. Mai 2011 konnte einer der beiden Solargeneratoren des Telekommunikationssatelliten Telstar 14R nicht vollständig ausgeklappt werden. Infolge der nun fehlenden elektrischen Leistung sowie höheren Treibstoffbedarfs und somit kürzerer Lebenszeit kann nur noch die Hälfte des geplanten Sendebetriebs durchgeführt werden. Am 11. Juli 2011 explodierten auf einem Mari nestützpunkt im Süden Zyperns 98 Container voller beschlagnahmter Waffen, Schießpulver und TNT. Die Folge waren schwere Schäden an einem Kraftwerk und einer Entsalzungs anlage sowie kleinere Schäden an einem Zementwerk. Zusätzlich gab es Schäden an benachbarten Ortschaften, Gewerbebauten sowie Autos auf einer nahe gelegenen Autobahn. MUNICH RE Schadenspiegel 2/2011 49 © 2011 Münchener Rückversicherungs-Gesellschaft Königinstraße 107 80802 München Telefon: +49 89 38 91-0 Telefax: +49 89 39 90 56 www.munichre.com Verantwortlich für den Inhalt Claims Management & Consulting: Nicholas Roenneberg, Prof. Dr. Ina Ebert Geo Risks Research/Corporate Climate Centre: Prof. Dr. Peter Höppe Marine: Olaf Köberl Raumfahrt: Dr. Achim Enzian Schaden: Dr. Paolo Bussolera, Dr. Stefan Klein, Arno Studener, Dr. Eberhard Witthoff Redaktion Corinna Moormann, Group Communications (Anschrift wie oben) Telefon: +49 89 38 91-47 29 Telefax: +49 89 38 91-7 47 29 schadenspiegel@munichre.com Anmerkung der Redaktion In Veröffentlichungen von Munich Re verwenden wir in der Regel aus Gründen des Leseflusses die männliche Form von Personenbezeichnungen. Damit sind grundsätzlich – sofern inhaltlich zutreffend – Frauen und Männer gemeint. ISSN 0940-8878 Bildnachweis Titelbild: Silverstein Properties, Inc. S. 2: Silverstein Properties, Inc. 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Lazo S. 27: ddpimages/AP/Dave Martin S. 30, 33 oben: Munich Re/Alexander Allmann S. 33 unten: picture-alliance/dpa S. 35: RAND Corporation S. 36: Munich Re, Eckhard Schäper S. 38: PhotoAlto/Eric Audras S. 44: BELFOR CEE Holding GmbH S. 48 oben links: REUTERS/Rebecca Cook S. 48 unten links: picture-alliance/dpa S. 48 oben Mitte: picture-alliance/dpa S. 48 unten Mitte: picture-alliance/dpa/ Ralph Goldman S. 48 oben rechts: REUTERS/Simon Baker S. 48 unten rechts: REUTERS/ STRINGER Mexico S. 49 oben links: picture-alliance/dpa S. 49 unten links: Space Systems/Loral S. 49 oben rechts: ddp images/AP/ Maya Hasson S. 49 unten rechts: Munich Re/ Michael Gibbons Druck Druckerei Fritz Kriechbaumer Wettersteinstraße 12 82024 Taufkirchen/München Weitere Hefte sind gegen eine Schutzgebühr von 8 € erhältlich. 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