Big Data – eine riesige Herausforderung

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Big Data – eine riesige Herausforderung
TOPICS
Magazin
Zeitschrift für Versicherer
Fakten, Märkte, Positionen
Ausgabe 1/2015
Big Data – eine riesige
Herausforderung
Weltweit werden immer mehr Daten
generiert. Ihre Auswertung könnte viele
Geschäftsprozesse in der Assekuranz
verbessern. Doch wie lassen sich die
Chancen nutzen ? Seite 32
Marine
Wachstums­märkte
im Fokus
Markt Kanada
Die Aussichten: heiter
bis wolkig
Motormarkt
Großbritannien als
Trendsetter
Vorwort
Liebe Leserinnen und Leser,
Big Data, dieses Schlagwort ist in aller Munde. Doch was die Analyse
der immer umfangreicheren Daten für die Versicherer mittelfristig
­t atsächlich bedeutet, ist momentan schwer abzuschätzen. Daher
nähern wir uns bei Munich Re dem Thema schrittweise, um Chancen
und Risiken auszuloten. So haben wir im Herbst vergangenen Jahres
fünf Pilot­projekte ins Leben gerufen, mit denen wir anhand konkret
­definierter Zielsetzungen untersuchen wollen, wo und wie sich
Geschäftsprozesse, Risikomanagement und Underwriting tatsächlich
ver­bessern lassen. Ein Beispiel stellen wir ab Seite 34 vor.
Spricht man von Nordamerika, denken die meisten erst einmal an die
USA. Doch Kanada, flächenmäßig sogar das größere Land, hat viel
Potenzial. Dank seines Rohstoffreichtums ist es sehr wohlhabend und
hat auch die Finanzkrise am besten von allen G7-Staaten bewältigt.
Doch die boomenden Metropolen mit ihren Wertekonzentrationen
werden immer häufiger von wetterbedingten Naturkatastrophen
bedroht. Mehr dazu lesen Sie ab Seite 12 und auf Seite 46.
Last but not least stellen wir Ihnen in diesem Heft unsere neue Aufstellung im Marinegeschäft vor. John C. Wilkinson spricht in einem
Interview ab Seite 42 über die gemeinsamen Ziele seiner Einheit
sowie über die Herausforderungen, denen sich die Branche stellen
muss.
München, im Januar 2015
Torsten Jeworrek
Mitglied des Vorstands von Munich Re und
Vorsitzender des Rückversicherungsausschusses
NOT IF, BUT HOW
Munich Re Topics Magazin 1/2015
1
Marktporträt Kanada
Kanada, das zweitgrößte Land der Welt, ist ein beliebtes
Ziel von Einwanderern; sehr viele kommen aus Asien.
Inzwischen existiert in Vancouver die drittgrößte
chinesische Gemeinschaft außerhalb der Volksrepublik.
Doch der Wohlstand des Landes wird immer häufiger
durch ­heftige Unwetter, Stürme und Überschwem­
mungen bedroht, die auch die Bilanzen der kanadischen
Sachversicherer i­ n den vergangenen Jahren stark
durchgeschüttelt haben.
2
Munich Re Topics Magazin 1/2015
12
Inhalt
Niedrige Zinsen, steigende Schaden­
summen, enge Margen: Der britische
Kfz-­Versicherungsmarkt ist in einer
schwierigen Lage. Gleichzeitig ist der
geschäftliche Trend möglicherweise
richtungsweisend.
26
Enterprise risk management
Risikomanagement und Geschäftssteuerung ­
wachsen zusammen
Weltweit sind die Aufsichtssysteme im Umbruch.
Eine ganzheitliche Unternehmenssteuerung
wird dabei immer wichtiger.
marktporträt Kanada
Die Aussichten: heiter bis wolkig Dank seines Rohstoffreichtums gehört Kanada
zu den wohlhabendsten Ländern der Welt,
doch die zunehmende Wertekonzentration
birgt Risiken.
6
12
Keine Ruhe nach dem Sturm
Wetterbedingte Naturgefahren
machen den Versicherern zu schaffen.
16
Wir wollen stärkere Akzente setzen
Philipp Wassenberg, CEO in Kanada, über
die bevor­stehenden Herausforderungen.
20
Leben mit der neuen Normalität Die kanadischen Versicherer müssen sich mit
der neuen Exponierung auseinandersetzen.
22
Die Analyse ist bei Big Data der Knackpunkt: Nur wenn aus den vorhan­denen
Daten die richtigen Schlüsse gezogen
­werden, lassen sich auch die Geschäfts­
prozesse verbessern.
32
Motormarkt
Großbritannien als Trendsetter Von vielen Entwicklungen
können andere Märkte lernen.
big data
Eine riesige Herausforderung
Wie lassen sich die Chancen nutzen, die
die neuen technischen Möglichkeiten
versprechen?
26
32
Marine
In den Wachstumsmärkten können wir
42
am m­eisten bewegen John C. Wilkinson über die Besonderheiten
des Marine-Markts und die Ziele der neu gegründeten
Einheit Global Marine Partnership.
Vorwort1
Unternehmensnachrichten4
Rezension41
Kolumne46
Impressum48
Munich Re Topics Magazin 1/2015
3
UnternehmensNachrichten
Knowledge in dialogue
Client seminar programme
2015
Veranstaltung
Munich Re
Kundenseminare
Big Data and Business
­Analytics Conference
Preis für nachhaltiges
Wirtschaften verliehen
Knowledge in dialogue
2015
Big Data und Business Analytics
gewinnen immer mehr Bedeutung
für die Wertschöpfungskette von
Versicherungsunternehmen. Dies ­gilt
insbesondere für die Gesundheitsversicherung. Doch was versteckt
sich hinter diesen Schlag­worten?
Am 5. Dezember 2014 wurde
Munich Re im Rahmen des Deutschen Wirtschaftsforums in Frankfurt der „Deutsche Investorenpreis
für verantwortliches Wirt­schaften“
ver­liehen, den Vorstandsmitglied
Jörg Schneider (2. v. l.) entgegennahm.
Das neue Kundenseminar-­
Programm „Knowledge in dialogue
2015” ist da. Auch im kommenden
Jahr bieten wir unseren internatio­
nalen Kunden ein umfangreiches
Programm an Seminaren und Workshops. Zur Auswahl stehen Angebote
zu allen wichtigen Versicherungs­
sparten wie auch zu speziellen
­Themenbereichen, etwa „Financial
lines insurance“ oder „Enterprise risk
management“.
Die „Munich Health Big Data and
Business Analytics Conference“, ­
die am 19. und 20. März 2015 in
München stattfindet, möchte darauf
Antworten geben. Renommierte
Referenten werden hier ihr Fach­
wissen einbringen und mit den Teilnehmern über Praxisanwendungen
etwa beim Betrugsmanagement
oder beim Customer-RelationshipManagement diskutieren.
>>Bitte wenden Sie sich an Ihren
Client Manager, wenn Sie dabei
sein möchten.
Gut 160 deutsche Unternehmen
­ urden für diese Auszeichnung von
w
einer Jury quantitativ auf der
­Grundlage der DVFA/EFFAS ­„Key
Performance Indicators for Extra-/
Non-Financials“ und SustainalyticsKerndaten analysiert. Doch die Auswahl des Siegers beruht nicht allein
auf diesen Zahlen. Der Gewinner
muss auch den qualitativen Anforderungen des Environmental, Social &
Governance-Panels gerecht werden.
Und dieses ist zu dem Schluss
gekommen, dass Munich Re diesen
Ansprüchen in besonderer Weise
gerecht wird.
>> Bitte sprechen Sie Ihren Client­
­Manager an, wenn Sie an einem
­Seminar teilnehmen möchten.
Kurznachrichten
Unsere Ingenieure begleiten Großprojekte weltweit und
unterstützen Kunden mit ihrer technischen Expertise bei
der erfolgreichen Umsetzung und darüber hinaus. In
unserem neuen kostenlosen E-Mail-Engineering-News­
letter berichten wir über spannende Engineering-Projekte
aus aller Welt.
>> A
bonnieren Sie den Newsletter unter ­
www.munichre.com/de/engineering-news
Am 3. und 4. März 2015 veranstaltet Munich Re in Dubai
eine Claims Conference für Kunden aus Afrika und Asien.
Unter dem Titel „The clock is ticking“ werden die Themen
„Business Inter­ruption“ und „Delay in start up“ aus
verschiedenen Perspektiven beleuchtet und diskutiert.
4
Munich Re Topics Magazin 1/2015
Diszipliniertes wie kreatives Zyklusmanagement einerseits und Innovation andererseits: Das sind die beiden
Säulen unserer Strategie. Und um die Innovations­
fähigkeit zu stärken, geht Munich Re nun auch ganz neue
Wege: Im ersten Quartal schickt sie drei Inno-Scouts,
Tobias Farny, August Pröbstl und Bob Mozeika, für ein
Jahr nach Silicon Valley. Dort sollen sie beobachten, ausprobieren, lernen und unbekanntes Terrain erkunden.
Denn, so Torsten Jeworrek, „wir brauchen kreative und
intelligente Lösungen für die relevanten Risiken der
­digitalisierten Welt“.
UnternehmensNachrichten
Alles im Blick:
unsere Twitter-Timeline.
Blick hinter die Kulissen:
Live-Tweets von Veranstaltungen.
Statistiken, Hintergründe und
­Positionen zu aktuellen Themen.
Informationen zu ­Produkten und
Services.
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Twittern Sie mit uns !
Seit einigen Jahren sind wir auch in den Sozialen Medien aktiv. Ein ­Beispiel ist unser
Twitter-Account www.twitter.com/MunichRe. Hier finden Sie neueste Informa­tionen
zu Veranstaltungen, Kommentare zu aktuellen Ereignissen oder übergreifenden
Themen, die Assekuranz und Wirtschaft bewegen, oder auch Blicke hinter die Kulissen.
Folgen Sie uns, um auf dem Laufenden zu bleiben. Und tweeten Sie uns Ihre Fragen
zum Unternehmen, zu seinen Produkten oder Services. Wir freuen uns auf Ihre Nachricht! Für spezielle, ­vertiefte Rück­versicherungsthemen bieten wir sogar einen eigenen
­ ww.twitter.com/MunichRe_InFocus. Die Links zu unseren anderen SocialKanal w
Media-Kanälen finden Sie auf Seite 48 des Magazins. Klicken Sie einfach mal rein !
Munich Re Topics Magazin 1/2015
5
Enterprise Risk Management
Risikomanagement und Geschäftssteuerung
wachsen zusammen
Weltweit sind die Aufsichtssysteme im Umbruch. Topics sprach mit
Bernhard Kaufmann und Jürgen Dümont über die Heraus­forderungen
bei der unternehmensweiten Risikosteuerung und die Veränderungen
im Zuge von Solvency II.
Topics: Herr Kaufmann, seit einem
Jahr sind Sie für das konzernweite
Risikomanagement von Munich Re
verantwortlich. Gab es in den ver­
gangenen Monaten ein bestimmtes
Thema, das Sie besonders
be­schäftigt hat?
Bernhard Kaufmann: Tatsächlich
haben sich die Schwerpunkte im
Risikomanagement in den vergangenen Jahren nicht groß verändert.
Bereits sehr lange treiben uns die
Vorbereitungen auf das neue euro­
päische Solvenzsystem um. Unsere
wichtigste Aufgabe bestand darin,
ein internes Modell zu entwickeln,
mit dem wir künftig unseren Kapitalbedarf unter Solvency II ermitteln
wollen. Darüber hinaus mussten wir
ein breites Spektrum an Aufgaben
bewältigen, die alle damit im Zusammenhang ­stehen. Es reichte von
Governance-­Fragen bis hin zu spe­
ziellen Reportanforderungen der
Aufsichts­­­behörden. Der zweite
Schwerpunkt, der immer mehr an
Gewicht gewinnt, ist das Thema
Business Enabling: Wie lassen sich
die Erkenntnisse, die wir im Risikomanagement gewinnen, im operativen Geschäft umsetzen? Wie nutzen
wir das Knowhow am besten, um
unseren Kunden Produkte mit einem
besonderen Mehrwert anbieten zu
können?
6
Munich Re Topics Magazin 1/2015
Welche Ziele stehen bei Ihrer Arbeit
an oberster Stelle?
Kaufmann: Das Integrated Risk
Management von Munich Re in München verantwortet das gruppenweite
Risikomanagement. Ziel ist, versicherungstechnische Risiken, Risiken
auf der Aktivseite sowie operative
Risiken gesamthaft für das Unternehmen zu beobachten und zu
bewerten. Dadurch schaffen wir
Transparenz und ermöglichen es,
diese Risiken aktiv zu steuern. Wie
wichtig dieser Gesamtblick ist,
haben uns die Erfahrungen aus den
Jahren 2001/2002 gelehrt. Im damaligen Kapitalmarktumfeld trafen uns
Risiken auf der Aktivseite, die unser
Rating gefährdeten und dadurch
negativ auf das Kerngeschäft Rückversicherung auszustrahlen drohten.
­ ordergrund. Somit spielen etwa
V
operationelle Risiken eine große
Rolle. Bei Munich Re verstehen wir
das Risikomanagement als eine
Klammer zwischen Erst- und Rückversicherung. Weil wir uns mit
­Themen aus beiden Bereichen aus­
einandersetzen müssen, ist das
Knowhow aus beiden Geschäftsfeldern sehr wichtig. Aus erster Hand
mitzu­bekommen, welche Themen in
der Erstversicherung gerade relevant
sind, kommt uns aber auch zugute,
wenn wir Produkte für unsere Rückversicherungskunden entwickeln.
Jürgen Dümont: Auch bei der
Umstellung auf Solvency II treten
immer wieder Fragen auf, die uns
intern beschäftigen, von denen wir
aber zugleich wissen, dass sie auch
unsere Kunden betreffen. So lässt
sich gut eine B
­ rücke schlagen.
Sie bringen Erfahrungen aus der
Erst- und Rückversicherung mit.
Wie hilft Ihnen das bei Ihrer neuen
Aufgabe?
Wie stellen Sie sicher, dass Marktveränderungen oder Emerging Risks
nicht verschlafen werden?
Kaufmann: Bei einem Rückversicherer steht die Übernahme von Spitzen­­
risiken wie Naturkatastrophen,
Pandemierisiken und anderen Großrisiken primär von Versicherungs­
unternehmen im Mittelpunkt. Darauf
zielen auch die Steuerungsprozesse
ab. In der Erstversicherung stehen
hingegen Produkte für sehr breite
Kundengruppen, deren Vertrieb und
die entsprechenden Operations im
Kaufmann: Gerade als weltgrößter
Rückversicherer ist es wichtig, das
Thema Emerging Risks im Blick zu
behalten, mögliche Entwicklungen
vorwegzunehmen und zu analysieren. Um sicherzustellen, dass wir hier
stets auf dem Laufenden sind,
existiert im Risikomanagement eine
eigene Gruppe dafür. Damit sich das
nicht zu einer reinen Trockenübung
auswächst, haben wir eine enge
Enterprise Risk Management
Bernhard Kaufmann ist seit
Anfang 2013 Chief Risk Officer
von Munich Re.
Jürgen Dümont leitet die Einheit
Solvency Consulting.
­ erzahnung mit dem Knowhow der
V
Fachbereiche etabliert, etwa über
den Emerging Risk Think Tank. Hier
sind Kolleginnen und Kollegen aus
den anderen Fachbereichen, darunter Underwriter, Juristen, Geologen,
Mathematiker, Physiker und Mediziner, aktiv involviert. Der Vorteil dieses Gremiums ist, dass es Raum für
unkonventionelle Ansätze und vielfältige Perspektiven bietet. Durch die
enge Vernetzung mit unterschied­
lichen Bereichen bekommen wir ein
umfassendes Bild.
Was treibt Sie gerade um im
Think Tank?
Kaufmann: Ein gutes Dutzend Emerging Risks haben wir ständig auf
dem Monitor. Auf der makroökonomischen Seite sind das momentan
vor allem die geopolitischen Entwicklungen und die möglichen Rückwirkungen auf die Stabilität der
Eurozone. Andere Themen sind der
demografische Wandel, die Klimaveränderung, neue Technologien
oder IT-Risiken. Gerade im Bereich
Cyberrisiken erleben wir eine große
Dynamik. In vielen Firmen wächst
das Bewusstsein dafür, wie teuer sie
eine Panne mit sensiblen Kunden­
daten kommen kann, und die Verantwortlichen suchen nach Lösungen.
Innerhalb weniger Jahre hat sich hier
ein theoretisch als Gefahr erkanntes
Phänomen zu tatsächlichen ­Schadenereignissen ausgewachsen und
einige Versicherer bereits Geld
gekostet. Das ist ein gutes Beispiel
dafür, wie schnell Emerging Risks
sich entwickeln können.
Bei Munich Re gehört das integrierte
Risikomanagement zum Kern­
geschäft. Wie gut ist die Branche
hier insgesamt aufgestellt?
Kaufmann: Der Trend zu einer
umfassenden Analyse von Risiken ist
unverkennbar. In Deutschland beispielsweise hat das 1998 verabschiedete Gesetz zur Kontrolle und Transparenz im Unternehmensbereich die
Entwicklung in diese Richtung angeschoben. Damals war das Risiko­
management noch überwiegend als
Kontrollfunktion aufgesetzt. Im Rahmen der Diskussionen zu Solvency II
hat sich das weiterentwickelt hin zu
einem proaktiveren Rollenverständnis von Risikomanagement. Diesen
Wandel sind wir bei Munich Re kontinuierlich mitgegangen. Allerdings
sind nicht alle Unternehmen und
Märkte da ebenso weit.
Spielt dabei die Größe eines
Unternehmens eine Rolle?
Kaufmann: Ich würde eher sagen,
dass das primär mit der Unternehmenskultur zu tun hat. Wenn wie bei
uns der Vorstand das Risikomanagement als einen integralen Bestandteil
des Geschäftsmodells ansieht und
diese Ansicht im Konzern aktiv pro-
pagiert und gelebt wird, dann erhält
das Thema eine Unterstützung, die
woanders möglicherweise fehlt.
Inwieweit kann man andere
Unternehmen bei diesem Prozess
unterstützen?
Dümont: Der Impuls muss letztlich
vom Unternehmen selbst ausgehen.
Das heutige Risikomanagement bei
Munich Re hat seinen Ursprung in
der schwierigen Zeit kurz nach der
Jahrtausendwende. Viele Unter­
nehmen blieben – glücklicherweise –
von derartigen Erfahrungen verschont und nähern sich dem Thema
erst jetzt mit voller Kraft. Während
also bei uns schon seit geraumer Zeit
die Verzahnung von Geschäftssteuerung und Risikomanagement im Vordergrund steht, sind bei vielen unserer Kunden, gerade auf kleineren
Märkten, regulatorische Veränderungen wie Solvency II die treibende
Kraft. Den Kunden wird aber auch
mehr und mehr bewusst, dass Risikomanagement wertvolle Elemente
für die Geschäftssteuerung bietet.
Selbst in Märkten, in denen kein
regulatorischer Druck herrscht, denken zumindest die größeren Unternehmen v
­ erstärkt darüber nach, wie
sie durch Risikomanagement einen
Wettbewerbsvorteil erzielen können.
Munich Re Topics Magazin 1/2015
7
Enterprise Risk Management
Das Risikomanagement kann
wertvolle Impulse für das
operative Geschäft liefern.
Bernhard Kaufmann
Weltweit sind die regulatorischen
Aufsichtssysteme in Bewegung.
Stellen sie die Versicherer vor
­ähn­liche Herausforderungen oder ­
wo l­ iegen die Unterschiede zu
S
­­ olvency II?
Dümont: Der gemeinsame Nenner
ist das, was man bei Solvency II als
die zweite, die qualitative Säule
kennt – die Vorschriften zum Risikomanagement und zum GovernanceSystem. Auch beim aufsichtsrecht­
lichen Prozess lassen sich viele
Ähnlichkeiten rund um die Welt
erkennen. Ein einfaches Beispiel ist
die Trennung von Risikonahme und
Risikokontrolle, ein fundamentales
Prinzip des Risikomanagements.
Große Unterschiede bestehen dagegen in der quantitativen Behandlung
der Risiken sowie beim Aufstellen
der Solvenzbilanz. Bei Solvency II hat
man sich mit der ökonomischen
Bilanz für einen strengen Ansatz entschieden. Andere Aufsichtsregime
haben weniger strikte Anforde­
rungen. Bei der dritten Säule, dem
Berichtswesen, betreiben wir in
Europa sicherlich den größten Aufwand, was der hohen Komplexität
geschuldet ist.
8
Munich Re Topics Magazin 1/2015
Wie stehen Sie zu den Bestrebungen
der Aufsichtsbehörden, mit ComFrame einen globalen Kapitalstandard für Versicherer zu etablieren,
um die Kapitalanforderungen weltweit vergleichbar zu machen? Was
bedeutet das für Solvency II, muss
man erneut umdenken?
Dümont: Noch ist ComFrame nicht
in Kraft, und die USA sind keine großen Freunde der Bestrebungen. Ihr
System hat sie gut durch die Finanzkrise gebracht, daher sind sie wenig
geneigt, etwas daran zu ändern. Falls
ComFrame kommt, erwarte ich nicht,
dass wir an unserer Kapitalausstattung etwas ändern müssen. Wir
müssten uns aber mit den – vermutlich vielschichtigen – Vorgaben einer
weiteren Institution auseinander­
setzen.
Kaufmann: Solvency II besticht ja
gerade dadurch, dass sich die
Erkenntnisse für die Geschäfts­
steuerung nutzen lassen. Wenn wir
nun ein globales Solvenzregime
bekämen, das die Kapitalstandards
nach anderen Prinzipien ermittelt,
könnte es problematisch werden. Wir
müssen dann möglicherweise Entscheidungen, die wir intern für sinnvoll erachten, überdenken, weil sie
unter ComFrame zu einem höheren
Kapitalbedarf führen. Dann hätten
wir ein Management- und Steuerungsproblem. Deshalb ist es unser
Anliegen, dass ComFrame auf ähn­
lichen Prinzipien basiert wie Solvency II. Da die Amerikaner aber
schon bei den Prinzipien unterschiedliche Auffassungen vertreten,
werden sich Lösungen, die allen
gerecht werden, nur schwer finden
lassen.
Wird es unter diesen Voraussetzungen überhaupt zu weltweit einheit­
lichen Standards kommen?
Kaufmann: Davon bin ich überzeugt.
Ob sie sich auf alle Säulen der regulatorischen Welt beziehen oder nur
auf Säule 2 und die quantitative
­Thematik außen vor bleibt, werden
wir sehen müssen.
Dümont: Im Grunde existiert ja
schon ein einheitlicher Standard, die
Insurance Core Principles der International Association of Insurance
Supervisors. Das ist die Blaupause
für eine moderne Aufsicht und liest
sich in vielen Zügen wie Solvency II.
So wird etwa eine vernünftige Bilanz
nach ökonomischen Prinzipien gefordert. Der Unterschied: Die Bestimmungen sind weniger detailliert und
die quantitativen Vorgaben nicht
spezifiziert. Die Grundprinzipien
wären also vorhanden, doch wenn es
um die konkrete Umsetzung geht,
wird es schwierig, alle Interessen
unter einen Hut zu bekommen.
Enterprise Risk Management
Eine Reihe von Erstversicherern
wurde bereits als systemrelevant eingestuft. Jetzt gibt es Bestrebungen,
auch Rückversicherer in diese Liste
einzubeziehen. Was halten Sie
davon?
Kaufmann: Ich kann nicht erkennen,
inwieweit der Ausfall eines Rück­
versicherers eine systemische Krise
auslösen würde. Diese Auffassung
vertreten wir auch bei den relevanten
Entscheidungsprozessen. Meiner
Ansicht nach ist die ganze Diskussion politisch getrieben. Die Politik
ist bestrebt, dass künftig kein
Finanz­institut mehr in einer prekären
­Situation vom Staat und damit vom
Steuerzahler gerettet werden muss.
Das ist auch nachvollziehbar. Doch
es wird sehr pauschal argumentiert,
und man schert Banken, Erst- sowie
Rückversicherer über einen Kamm.
Große Banken gelten aufgrund der
engen Vernetzung untereinander zu
Recht als systemrelevant, bei Rückversicherern ist diese Vernetzung
nicht gegeben.
Dümont: Die Definition, wer systemrelevant ist, entstand in einem bürokratischen Prozess, mit Größe und
Vernetzung untereinander als wichtigste Kriterien. Unserer Ansicht
nach wurde dabei die Größe zu stark
gewichtet, die Verflechtung kam zu
kurz. Unter diesen Voraussetzungen
liegt es natürlich nahe, die großen
Versicherer in die Kategorie systemrelevant einzuordnen.
Die Einführung von Solvency II in der
EU ist mehrmals verschoben worden.
Sind Sie froh, dass es 2016 endlich
so weit ist?
Kaufmann: Wenn unser internes
Modell im nächsten Jahr tatsächlich
zertifiziert wird und Solvency II dann
einige Monate später beginnt, sind
wir alle erst einmal erleichtert. Dann
können wir endlich einen Haken
­hinter die ganzen Vorbereitungen
machen, die wir in der Gruppe betrieben haben. Wir sind vor allem aber
auch deshalb froh, weil wir uns dann
verstärkt dem Thema Business
­Enabling widmen können sowie der
Frage, wie wir uns in der Steuerung
noch besser verzahnen.
Wie weit sind die Vorbereitungen zu
Solvency II auf dem Gesamtmarkt
gediehen?
Kaufmann: Es gibt ein paar Unternehmen, die wie wir bereits seit Längerem ein internes Modell verfolgen.
Doch die kann man etwa in Deutschland an einer Hand abzählen. Die
Konsequenz ist ein zweigeteilter
Markt: Einige wenige sind bestens
vorbereitet, stehen in engem Dialog
mit der Aufsicht und haben ein sehr
klares Bild, was auf sie zukommt. Die
breite Masse, die sich jetzt auf Solvency II vorzubereiten beginnt,
bekommt erst langsam ein Gefühl
dafür, welche Facetten das neue Solvenzregime mit sich bringt.
Gibt es in diesem Zusammenhang
viele Anfragen an Solvency
­Consulting?
Dümont: Eindeutig. Wir haben
schon in den vergangenen Jahren ein
großes Interesse festgestellt. Die
ständigen Terminverschiebungen bei
Solvency II waren allerdings nicht
sehr hilfreich, um die Spannung aufrecht zu erhalten. Gerade kleinere
Kunden haben noch viele Fragen.
Was passiert, wenn ein Unternehmen die Solvency-II-Anforderungen
nicht erfüllt?
Dümont: Es ist schwer vorherzusehen, wie die Aufsicht reagieren wird,
wenn ein Versicherer nicht perfekt
vorbereitet ist. Die Beratungsgesellschaft Ernst & Young hat kürzlich
eine Studie veröffentlicht, wonach
nur 80 Prozent der Unternehmen in
Europa bis zum 1. Januar 2016 die
Solvency-II-Vorschriften voll erfüllen.
Das heißt im Umkehrschluss, jeder
fünfte Versicherer ist nicht ausreichend vorbereitet. Die Reaktion der
Behörden wird sicher davon abhängen, wie schwer die Versäumnisse
sind. Da müssen wir abwarten,
­welche Aufsichtspraxis sich eta­
bliert.
Munich Re Topics Magazin 1/2015
9
Enterprise Risk Management
Regulatorische Veränderungen
sind die treibende Kraft für
die bessere Verzahnung von
Geschäftssteuerung und
Risikomanagement.
Jürgen Dümont
Sind durch Solvency II Änderungen
in der Zeichnungspolitik von
Munich Re zu erwarten?
Kaufmann: Dadurch, dass wir unsere
interne Steuerung schon länger an
ökonomischen Prinzipien ausgerichtet haben, erfüllen wir die Anforderungen von Solvency II, sowohl was
die Versicherungstechnik betrifft als
auch bei den Kapitalanlagen.
­Deshalb erwarte ich für die interne
Steuerung in der Rückversicherung
sowie die Zeichnungspolitik eigentlich keine Veränderung.
Unter Solvency II steigt die
Bedeutung von Rückversicherung,
da sie künftig eine unmittelbare
Bilanz­wirkung entfaltet. Welche
Auswirkungen dürfte das haben?
Dümont: Ich würde durchaus eine
stärkere Nachfrage erwarten. Ein
­­
Teil
der Unternehmen wird feststellen,
dass ihre Kapitalausstattung nicht
ausreicht, und sich über Rückver­
sicherung Entlastung verschaffen.
Andere werden sich für einen Sicherheitspuffer entscheiden, bis sie sich
an das neue Regime gewöhnt haben.
Mittelfristig wird sich die Motivation
des Rückversicherungseinkaufs verändern. Zum Risikotransfer wird die
Funktion des Kapitalmanagements
hinzukommen, was jetzt noch eine
Sonderrechnung ist. In bestimmten
Ländern und Branchen, beispielsweise
im kanadischen Leben-Geschäft,
10
Munich Re Topics Magazin 1/2015
beobachten wir diese Kundenmo­
tivation allerdings bereits seit Längerem. Dort hat sich das Kapital­
management zu einer treibenden
Kraft entwickelt.
Wird Solvency Consulting unsere
Kunden auch nach der Implemen­
tierung weiter unterstützen?
Dümont: Ich denke, es wäre vermessen zu sagen, dass mit der Implementierung von Solvency II noch ein
enormer Beratungsbedarf besteht.
Doch dass man das Regime scharfschaltet, heißt andererseits nicht,
dass damit auf einen Schlag unsere
Arbeit beendet wäre. Die Kunden
sollten auch danach die Möglichkeit
haben, bei Fragen zu Solvency II
einen kompetenten Ansprechpartner
zu finden. Darüber hinaus entstehen
ja unter anderem in Asien und
Lateinamerika derzeit neue Aufsichtsregimes, bei denen unsere
Kunden eine ähnliche Unterstützung
benötigen – und bekommen sollen.
Ist Ihr Geschäft geointelligent genug?
Wer heute Risiken ganzheitlich managen will, muss das räumliche Umfeld
exakt ­kennen. Mit der NATHAN Risk Suite können Sie Naturgefahrenrisiken
­adressgenau einschätzen und ganze Risikobestände analysieren –
und das weltweit.
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Munich Re Topics Magazin 1/2015
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Kanada
Die Aussichten:
heiter bis wolkig
Kanada gehört zu den wohlhabendsten Ländern
der Welt und ist ein begehrtes Ziel für Einwanderer.
Doch die boomenden Metropolen mit ihren
wachsenden Werte­konzentrationen bergen für
die Ver­sicherer Risiken. Die extremen Schäden aus
wetterbe­dingten Naturkatastrophen im Jahr 2013
machten dies sehr deutlich.
von Till Heydel und David Flikkema
Das mit einer Fläche von knapp zehn Millionen Qua­
dratkilometern zweitgrößte Land der Welt übt bis
heute eine besondere Anziehungskraft aus. Eine
grandiose Natur und reiche Bodenschätze locken
Abenteurer und Entdecker aus aller Welt an. Doch
weite Teile des Nordens sind bis heute unbesiedelt,
der Großteil der Bevölkerung lebt in einem etwa
200 Kilometer schmalen Streifen entlang der Grenze
zu den USA und an den Küsten. Die Mehrheit der gut
35 Millionen Kanadier lebt in den Städten im Süden
des Landes.
Unwetterschäden häufen sich
Das Jahr 2013 war im Hinblick auf Extremwetter
gleich in mehrfacher Weise bemerkenswert: Die
Überschwemmungen in der Provinz Alberta und das
heftige Unwetter über der Millionenstadt Toronto
entpuppten sich als der teuerste bzw. drittteuerste
ver­sicherte Schaden in der Geschichte des Landes.
Beide Ereignisse fanden innerhalb weniger Wochen
im Juni bzw. Juli statt, wodurch sich ein weiteres
Novum ergab: Erstmals traten innerhalb eines Jahres
zwei Naturkatastrophen auf, deren volkswirtschaft­
liche Schäden die Marke von jeweils 1,65 Milliarden
kanadischen Dollar (1,5 Milliarden US-Dollar) über­
schritten.
Das Häusermeer von Toronto.
Die Mehrheit der gut 35 Millionen
Kanadier lebt in den Städten im
Süden des Landes.
Munich Re Topics Magazin 1/2015
13
kanada
Und schließlich war 2014 das sechste Jahr in Folge,
in dem die Versicherer Schäden durch Extremwetter
von mehr als einer Milliarde kanadischen Dollar regu­
lieren mussten. Ein Trend, der sich möglicherweise
fortsetzen wird. Denn die Metropolen und damit auch
die Konzentration von Werten werden weiter stark
wachsen, auch aufgrund des stetigen Zustroms an
Einwanderern.
In seiner Geschichte blickt das Land auf eine Reihe
von Immigrationswellen zurück. Heute dominieren
Einwanderer aus Asien. Sie stellen den Löwenanteil
der Neuankömmlinge und prägen mancherorts das
Stadtbild. In Vancouver im Südwesten der Provinz
British Columbia hat sich inzwischen die drittgrößte
­chinesische Gemeinschaft außerhalb der Volks­re­
publik entwickelt. Stammte dort 2006 knapp jeder
fünfte Einwohner (18 Prozent) aus China, dürften es
nach einer von der Einwanderungsbehörde Citizen­
ship and Immigration Canada in Auftrag gegebenen
Studie 2031 rund 23 Prozent sein. Auch der Strom
der Zuwanderer aus Afrika, der Karibik sowie aus Mit­
tel- und Südamerika hat über die Jahre zugenommen.
Insgesamt sind gut 20 Prozent der Bewohner des
Landes laut Statistikamt im Ausland geboren, so viel
wie sonst in keinem anderen G7-Staat.
Rohstoffe und Energie dominieren
Wirtschaftlich steht Kanada, nicht zuletzt wegen
­seiner Einwanderer, äußerst erfolgreich da. Mit einem
Bruttoinlandsprodukt von fast 1,9 Billionen kanadi­
schen Dollar im Jahr 2013 ist es die elftgrößte Volks­
wirtschaft der Welt. Es verfügt nach Saudi-Arabien
über die zweitgrößten Rohölreserven, vor allem in Form
von Ölsand in der Provinz Alberta. Zu den wichtigsten
Sektoren gehören neben den Bereichen Rohstoffe
und Energie auch Industrie und Landwirtschaft.
Obwohl die Wirtschaft dank eines starken Banken­
sektors und einer soliden Haushaltspolitik gut durch
die globale Wirtschaftkrise 2008/09 gekommen ist,
konnten sich die in hohem Maß exportabhängigen
Unternehmen nicht dem globalen Abschwung ent­
ziehen. Wichtige ökonomische Kennzahlen wie die
Arbeitslosenquote (siehe Abb. 1) haben ihr Vorkrisen­
niveau noch nicht wieder erreicht, auch weil der
Industriesektor aufgrund nachlassender Produktivität
innerhalb des Nordamerikanischen Freihandelsab­
kommens NAFTA an Stellenwert verloren hat. Die
damit verbundenen Strukturprobleme betreffen vor­
rangig die östlichen Landesteile. Dagegen profitieren
die westlichen Provinzen – vor allem British Columbia
und Alberta – vom Rohstoffreichtum und der wach­
senden Bedeutung des Handels mit den pazifischen
Anrainerstaaten. Allerdings war der Beitrag der
Exportwirtschaft zum Wachstum zuletzt eher verhal­
ten, und das kanadische Wirtschaftswachstum fiel in
den vergangenen Jahren schwächer aus als in ande­
ren rohstoffexportierenden Ländern.
Private Verschuldung gibt Anlass zur Sorge
Insbesondere den ausgabefreudigen Verbrauchern
und dem regen Wohnungsbau war es zu verdanken,
dass die Konjunktur während der globalen Wirt­
schaftskrise nicht stärker nachgegeben hat. Kehrseite
der Medaille ist die hohe Verschuldung der privaten
Haushalte. Laut der Organisation für wirtschaftliche
Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) stieg die
private Verschuldung zwischen 2007 und 2012 auf
165 (143) Prozent des verfügbaren Einkommens.
Das ist unter den G7-Staaten ein Spitzenwert.
In den USA lag dieser Wert 2012 bei 111 Prozent,
in Japan bei 123 Prozent und in Deutschland bei
93 Prozent.
Abb. 1: Bruttoinlandsprodukt und Arbeitslosenquote
in %
9,0
8,0
7,0
6,0
5,0
4,0
3,0
2,0
1,0
0,0
-1,0
-2,0
-3,0
9,0
8,0
7,0
6,0
Seit 2010 sinkt die Arbeitslosen­
quote kontinuierlich, dennoch
liegt sie noch etwas höher als vor
der Finanzkrise.
5,0
4,0
3,0
2,0
Im Zuge der Finanzkrise war das
Bruttoinlandsprodukt spürbar
eingebrochen, hat sich jedoch
schnell erholt.
1,0
0,0
– 1,0
– 2,0
* Prognose
– 3,0
2006
2006
14
2007
2007
2008
2008
2009
2009
2010
2010
Munich Re Topics Magazin 1/2015
2011
2011
2012
2012
2013
2013
2014
2015
2014* 2015*
Quelle: OECD, Munich Re
kanada
Der Hafen in Vancouver: Die west­lichen
Provinzen profitieren besonders vom
wachsenden Handel mit den pazifischen
Anrainerstaaten.
Hypotheken und mit Immobilien besicherte Verbrau­
cher­kredite machen in Kanada schätzungsweise
80 Prozent der privaten Verschuldung aus und stellen
für die kanadischen Banken nach Ansicht des Inter­
nationalen Währungsfonds (IWF) das größte Einzel­
risiko dar.
gestiegen ist. Weil die Regierungen sowohl auf natio­
naler Ebene als auch in den einzelnen Provinzen ihre
Haushalte inzwischen konsolidieren, dürfte die Schul­
denquote in den kommenden Jahren wieder sinken.
Auch für die Finanzstabilität des Landes ist der Boom
auf dem Immobilienmarkt aus Sicht des IWF ein
wesentliches Risiko. Allerdings würden die Behörden
über wirksame Instrumente wie die Hypotheken­
versicherung verfügen, um die Kreditaufnahme in
geregelte Bahnen zu lenken. Auch restriktivere Richt­
linien zur Hypothekenvergabe und die Kontrolle der
staatlichen Canadian Mortgage and Housing Corpo­
ration (CMHC) hätten dazu beigetragen, dass sich der
Anstieg bei der Verschuldung der Privaten und bei
den Häuserpreisen verlangsamt habe. Dennoch gilt
der kanadische Immobilienmarkt als teuer: Der IWF
schätzt, dass die Häuserpreise 2013 im Durchschnitt
um rund zehn Prozent überbewertet waren. Manche
Analysten gehen sogar von einer weit größeren Preis­
blase aus.
Nach wie vor sind die USA mit Abstand wichtigster
Handelspartner. Rund drei Viertel aller Warenexporte
haben ihr Ziel im südlichen Nachbarstaat, gefolgt von
der EU mit gut sieben Prozent und China mit gut vier
Prozent. Um den Handel mit Energierohstoffen zu
diversifizieren – so gut wie alle Ölexporte gehen in die
USA –, sollen neue Transportmöglichkeiten geschaf­
fen werden. Gerade in Bezug auf die Energieexporte
nimmt die Bedeutung von Asien für Kanada kontinu­
ierlich zu. Der Trend jedenfalls zeigt nach oben. Wäh­
rend vor zehn Jahren die Exporte der Provinz British
Columbia in die Pazifikregion gerade einmal 24 Pro­
zent ausmachten, sind es heute knapp 43 Prozent.
Und 2011 gingen aus British Columbia erstmals mehr
Güter nach Asien als in die USA. Aufgrund seiner
multikulturellen Bevölkerungsstruktur und der Nähe
zum pazifischen Raum verfügt British Columbia über
beste Voraussetzungen, um die Handelsbeziehungen
mit den aufstrebenden Volkswirtschaften im pazifi­
schen Raum auszuweiten.
Dagegen ist die Lage der Staatsfinanzen im Vergleich
zu anderen Industrieländern vergleichsweise kom­
fortabel, auch wenn die Schuldenquote gemessen am
Bruttoinlandsprodukt nach der Wirtschaftskrise laut
IWF-Berechnung spürbar auf 89 Prozent im Jahr 2013
Orientierung zu den Pazifikstaaten
Munich Re Topics Magazin 1/2015
15
Kanada
Keine Ruhe nach dem Sturm
Heftige Unwetter schüttelten die Bilanzen der kanadischen
Schadenver­sicherer in den vergangenen Jahren schwer durch.
Außerdem machen ihnen Änderungen der regulatorischen
Rahmen­bedingungen zu schaffen.
Mit einem Prämienaufkommen von rund 131 Milliar­
den kanadischen Dollar – das entspricht einem globa­
len Marktanteil von rund 2,8 Prozent – gehörte der
kanadische Erstversicherungsmarkt 2013 zu den Top
Ten in der Welt. Die Bereiche Schaden & Unfall (P&C)
und Leben waren mit rund 52 bzw. 55 Milliarden
kanadischen Dollar annähernd gleich groß. Die pri­
vate Krankenversicherung machte rund 24 Milliarden
kanadische Dollar aus. Doch während die Markt­
durchdringung gemessen am Bruttoinlands­produkt
bei P&C mit 2,8 Prozent in etwa dem Niveau anderer
Industrieländer entspricht, sind Lebensversicherun­
gen mit 2,9 Prozent eher unterrepräsentiert.
Autoversicherung größte Sparte
Den Bereich Nicht-Leben dominiert das Segment Kfz,
gefolgt von der Sachversicherung (siehe Abb. 3). 2013
haben Unwetter, Hagel- und Eisstürme sowie Über­
flutungen nie zuvor erreichte Schäden hinterlassen.
Dennoch ist es der P&C-Branche gelungen, das Jahr
mit einem positiven versicherungstechnischen Ergeb­
nis von 285 Millionen kanadischen Dollar (Vorjahr:
1,858 Milliarden) abzuschließen. Die Schaden-Kos­
ten-Quote stieg von 96,0 auf 99,4. Während sich die
Aufmerksamkeit 2013 auf die wetterbedingten Ereig­
nisse richtete, ist der Einfluss des sich wandelnden
regulatorischen Umfelds ab 2014 auf die Unterneh­
men nicht zu unterschätzen. Dazu zählen etwa die
strengeren Richtlinien bei der Berechnung des obliga­
torischen Minimum Capital Test (MCT) oder die nun
bestehende Pflicht einer unternehmenseigenen
Risiko- und Solvabilitätsbeurteilung (Own Risk und
Solvency Assessment (ORSA).
Sinkende Tarife bereiten Probleme
Besondere Aufmerksamkeit verdient die in Ontario
verfügte Absenkung der Kfz-Beiträge. Dort hat die
Regierung jüngst angekündigt, dass die Tarife in der
Kfz-Versicherung innerhalb von zwei Jahren um
15 Prozent sinken müssen. Weitreichende Auswirkun­
gen sind zu erwarten. Zwar ist die Schadenquote im
Segment Kfz 2013 geringfügig gesunken, mit 80 Pro­
zent liegt dieser Wert aber immer noch recht hoch.
Der eisige und schneereiche Winter 2013/2014 hat
insbesondere die Kosten für Sachschäden in die Höhe
getrieben. Die Margenerosion angesichts rückläufiger
Prämien dürfte die Schadenversicherer in Ontario
erheblich belasten. Ohne zusätzliche Reformen ­des
bestehenden Systems und neue Herangehensweisen
wie der „Pay as you drive“-Versicherung ist es frag-­
lich, ob die verfügte Prämienabsenkung auf Dauer
Bestand haben kann. Bei diesem System erkennt ein
GPS-Empfänger, wie ein Fahrer den Wagen beschleu­
nigt, bremst und in die Kurven geht.
Abb. 2: Prämienentwicklung auf dem kanadischen
Versicherungsmarkt
in Mio. CAD
150.000
150000
120.000
120000
90.000
90000
P&C
60.000
Health
60000
Life
30.000
30000
0
0
16
2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013
Munich Re Topics Magazin 1/2015
Quelle: Munich Re
Kanada
Die Versicherungsgesellschaft erfährt so etwas über
den Fahrstil des Versicherten – und kann den Tarif
für die Versicherung entsprechend anpassen. Die
Experten der Motor Consulting Unit von Munich Re
haben auch für solche Versicherungsformen passende
Lösungen im Angebot. Gemeinsam mit dem Kunden
entwickeln sie Strategien und Prozesse, um die
Geschäfte abhängig von der spezifischen Markt­
situation zu optimieren. Das Team bietet Erst­­­­
versiche­­rungskunden eine umfassende Analyse ihres
Geschäfts, angefangen beim Underwriting über
Risikoauswahl, Moni­toring, Tarifierung und Schaden­
bearbeitung bis hin zu IT-Systemen, Marketing und
Vertrieb.
Als weitere Herausforderung für die Branche dürfte
sich erweisen, dass die Wohngebäudeversicherung
künftig nicht mehr die zuverlässigen und stabilen
Erträge der Vergangenheit liefern wird. Nach einer
Studie der kanadischen Property and Casualty Insu­
rance Compensation Corporation und dem Institute
for Catastrophic Loss Reduction ist die Schadenquote
in diesem Segment über die vergangenen Jahrzehnte
deutlich volatiler geworden. Der Unterschied zur
Schwankungsbreite des traditionell anfälligen KfzBereichs hat sich immer weiter verringert. Ein Trend,
der die Anbieter beunruhigt: Sie können sich nicht
länger darauf verlassen, mit der Wohngebäudever­
sicherung einen verlässlichen Puffer zu haben, der
schwierige Jahre im Kfz-Geschäft abfedert.
Als Reaktion auf die höhere Schadenanfälligkeit bei
Wohngebäuden haben Versicherer vereinzelt damit
begonnen, in ihren Allgefahren-Policen die einzelnen
Gefahren separat zu bewerten. Sie passen Prämien,
Selbstbehalte und Sublimite individuell auf die jewei­
lige Gefahr – Wind, Hagel, Kanalisationsrückstau –
an. Wie Aufsichtsbehörden auf diese Entwicklung
reagieren und ob diese Produkte bei den Kunden auf
ausreichend Akzeptanz stoßen, muss sich erst noch
zeigen.
Abb. 3: Aufteilung des Geschäfts ­in
Nicht-Leben
Motor
Allgemeine Haftpflicht
Property
Andere
Quelle: Munich Re
Das anhaltende Niedrigzinsumfeld und die jüngsten
Naturkatastrophen machen aber deutlich, dass zu viel
Selbstzufriedenheit fehl am Platz ist und es immer
stärker darauf ankommt, die Risiken im Underwriting
richtig zu beurteilen.
Bei der Einschätzung von Einzelrisiken sowie bei der
Bewertung von Portfolios und Kumulen sind die
Experten von Munich Re of Canada Ansprechpartner
erster Wahl. Steigende Exponierungen, komplexere
sowie neue Risiken stellen das Underwriting vor
Herausforderungen. Ein präziseres Enterprise Risk
Management und effizientes Kapitalmanagement
gewinnen an Bedeutung. Auch beim Umgang mit den
ORSA-Regelungen, wie in der seit Anfang 2014 gülti­
gen Richtlinie des Office of the Superintendent of
Financial Institutions Canada (OSFI) vorgesehen,
bietet Munich Re wertvolle Unterstützung.
Unternehmen sind gut kapitalisiert
Auf der Investmentseite haben sich die weiter rück­
läufigen Renditen bemerkbar gemacht. Die Kapital­
erträge der kanadischen P&C-Versicherer sanken
2013 um 9,4 Prozent auf 4,048 Milliarden kanadische
Dollar. Alles in allem sank die Rendite auf das Eigen­
kapital auf 7,77 (Vorjahr 11,3) Prozent – der niedrigste
Wert seit 2010. Dessen ungeachtet ist es den Gesell­
schaften gelungen, ihre Kapitalbasis weiter zu
verbreitern, und die Ratingagentur A.M. Best hat im
Jahresverlauf sieben Unternehmen hochgestuft.
Munich Re Topics Magazin 1/2015
17
Kanada
Im Griff der Naturgewalten
Kanada ist verschiedensten Naturgefahren ausgesetzt,
da­runter Winterstürmen, Dürren oder auch Überflutungen.
Das Erdbebenrisiko darf ebenfalls nicht unterschätzt werden.
Und gerade die wetterbedingten Gefahren werden häufiger.
Mehr dazu lesen Sie auch ab Seite 22.
Beaufort
Sea
Mackanzie Riv
er
Al ask a
Yukon
Territory
Whitehorse
Erdbeben
Zone 0: MM V und darunter
Zone 1: MM VI
Zone 2: MM VII
Zone 3: MM VIII
Zone 4: MM IX und darüber
Juneau
Wahrscheinliche Maximalintensität
(MM: modifiz. Mercalli-Skala) mit
einer Überschreitungswahrschein­
lichkeit von 10 % in 50 Jahren
(entspricht einer Wiederkehrperiode
von 475 Jahren bei mittleren
Unter­grundbedingungen).
Yell
British
Columbia
Tropische Zyklone
Colu
mbia
Rive
r
Zone 0: 76–141
Zone 1: 142–184
Zone 2: 185–212
Zone 3: 213–251
Zone 4: 252–299
Zone 5: ≥ 300
Typische
Zugbahnen
* Wahrscheinliche Maximalgeschwindig­
keit mit einer Überschreitungswahrschein­
lichkeit von 10 % in 10 Jahren (entspricht
einer Wiederkehrperiode von 100 Jahren).
Vancouver
Quelle: Munich Re, NATHAN World Map of
Natural Hazards
18
Munich Re Topics Magazin 1/2015
ca
r
Edmonton
Saskatchewan
Calgary
Regin
Gefahrenlage
Die Effekte von Wind, Brandstiftung
und Präventionsmaßnahmen fließen hier
nicht ein.
s
ba
ha
At er
v
Ri
Victoria
Feuer
keine Gefahr
Zone 1: gering
Zone 2
Zone 3
Zone 4: hoch
Peace River
ALBERTA
Spitzenwindgeschwindigkeiten (in km/h)*
Northwest
territories
USA
Kanada
Venzuela
Dec
Overal osses*:US$3,200
Insured
Kanada
USA
G reenland
Oben: Nach dem großen Eissturm
im Januar 2014 sind die Eiszapfen
mannshoch.
Unten: Anwohner des High River
in der Provinz Alberta, nahe Calgary,
mussten im Juni 2013 aus den
Fluten evakuiert werden.
nunavut
Iqualuit
lowknife
CA N A DA
Hudson Bay
manitoba
Chu
rc h
ill R
quebec
iv er
newfoundland
askatchewan
ontario
Winnipeg
Charlottetown
Quebec
L. Superior
Montreal
Toronto
tario
L . On
L.
Halifax
Ottawa
L. Huron
L. Michigan
na
St. John’s
Er
Atlantic
ocean
ie
Munich Re Topics Magazin 1/2015
19
Kanada
Wir wollen stärkere
Akzente setzen
Topics sprach mit Philipp Wassenberg über die
Besonderheiten des kanadischen Versicherungsmarkts und seine ersten Erfahrungen in der
neuen Heimat.
Topics: Herr Wassenberg, wie haben
Sie den Umzug von Deutschland
nach Kanada erlebt?
Philipp Wassenberg: So ein Wechsel
ist spannend, aber natürlich auch
turbulent. Meine Familie und ich
haben unser altes Leben in Deutsch­
land aufgegeben und einen Neu­
anfang in der Millionenmetropole
Toronto gestartet. So eine Umstel­
lung darf man nicht unterschätzen.
Wo liegen geschäftlich die größten
Herausforderungen?
Zunächst einmal musste ich mich
daran gewöhnen, dass sich der Fokus
meiner Tätigkeit grundlegend geän­
dert hat, vom rein Operativen zur Lei­
tung eines Unternehmens. Eine
große Herausforderung besteht jetzt
darin, uns enger mit der Zentrale in
München zu verzahnen, um das
Knowhow und die Ressourcen noch
effektiver nutzen zu können. Das
wird es uns ermöglichen, stärkere
Akzente vor Ort zu setzen. Zwar sind
wir in der Rückversicherung weiter
die Nummer eins im Land, aber die
Konkurrenz schläft nicht.
20
Munich Re Topics Magazin 1/2015
Die Rahmenbedingungen werden
also schwieriger ...
Der kanadische Markt profitierte
lange von einer Sonderstellung. Auf­
grund seiner Größe – das Rückver­
sicherungsvolumen liegt pro Jahr bei
gerade einmal rund 1,5 Milliarden
kanadischen Dollar – hatten viele
globale Player den Markt nicht auf
ihrem Radar. Bis 2013 waren die
Bedingungen fair, doch inzwischen
wird Kanada überschwemmt mit
Kapazität, da die Margen immer
noch auskömmlicher sind als auf
dem US-Markt. Innerhalb kurzer Zeit
war uns klar, dass wir eine andere
Weichenstellung vornehmen müs­
sen, wenn wir unsere führende Posi­
tion halten und in gewissen Berei­
chen wachsen wollen.
Welche strategischen Veränderun­
gen haben Sie bereits auf den Weg
gebracht?
Das Überthema lautet Innovation:
Wir müssen unseren Horizont öffnen
für neue Ideen, neue Kunden, neue
Märkte und mehr als früher auch die
Umsatzentwicklung im Auge behal­
ten. Wir haben einen kundenzentrier­
ten Ansatz eingeführt, bei dem wir
den Kunden in seiner Gesamtheit
betrachten. Künftig wollen wir uns
auch mehr um die Provinz Quebec
kümmern. Die Bedingungen sind
dort zugegebenermaßen schwieriger
als im Rest des Landes, vor allem bei
der Erdbebenexponierung, die zur
Vorsicht mahnt. Dennoch lautet
meine Philosophie, dass diese große
Region unser volle Aufmerksamkeit
verdient.
Bestehen große Unterschiede zwi­
schen dem kanadischen und dem
US-amerikanischen Markt?
In Kanada herrscht generell ein sehr
fairer und von Respekt getragener
Umgang zwischen den Marktteilneh­
mern. Man versucht nicht um jeden
Preis, sich auszustechen oder die
Konkurrenz zu marginalisieren. Es
gibt so etwas wie eine „Entente
­cordiale“, wonach man eher in neuen
Nischen mit neuen Produkten expan­
diert, aber nicht über Verdrängung.
Nicht jeder der neuen Wettbewerber
auf dem Markt hält sich daran; das
ist auf Branchentreffen inzwischen
schon ein Thema. Der kanadische
Markt ist mit Sicherheit auch erheb­
lich stärker durch persönliche Kon­
takte geprägt. Einmal eingegangene
Kundenbeziehungen werden nicht so
rasch über den Haufen geworfen.
Das hat gewisse Vorteile, macht es
uns aber auch schwer zu wachsen.
Besonderes Augenmerk verdienen
auch die verschiedenen Kulturen, die
in Kanada zusammentreffen. Diese
Unterschiede machen das Land so
interessant und den Markt so faszi­
nierend. Um Verbindungen und
Beziehungen aufzubauen, ist es
jedoch wichtig, diese zu verstehen
und zu berücksichtigen.
Kanada
Philipp Wassenberg leitet seit Früh­
jahr 2014 die Munich Reinsurance
Company of Canada und damit
unser dortiges Nicht-Leben-Geschäft.
Wie hat die Branche auf die ver­
heerenden Naturkatastrophen der
vergangenen Jahre reagiert?
Gerade beim Thema Überflutungen
sind Veränderungen unverkennbar.
Bislang gab es keine private Flutver­
sicherung, nun soll das Land in
einem ersten Schritt in Flutzonen
eingeteilt werden. Das ist ein riesiges
Unterfangen, und wir werden das
Knowhow von Munich Re in diesem
Bereich in die Diskussion einbringen.
Hausbesitzer sind momentan allen­
falls in der Lage, sich gegen Wasser­
schäden wegen Rückstau aus der
Kana­lisation abzusichern. Häufigerer
Starkregen in Kombination mit dem
Trend, die Kelleretage aufwendig
herzurichten und als zusätzlichen
Wohnraum zu nutzen, haben die
Schäden enorm in die Höhe getrie­
ben. Mit dem Resultat, dass mehr
und mehr Versicherer dazu überge­
hen, Sublimite zu vereinbaren.
Expertise als Service- und Solution­
provider unter Beweis stellen. Denn
im Zuge des neuen MCT achten die
Versicherer verstärkt auf ihre Kapi­
talausstattung. Wir analysieren die
Bilanzen von Kunden und überlegen
gemeinsam, wie wir ihre Kapitalposi­
tion stärken können. Bei ORSA, das
zeitgleich mit dem neuen MCT im
Januar 2015 in Kraft tritt, fungieren
wir ebenfalls als Consultants. Das
hilft uns auch, die Türen zum Top­
management zu öffnen. Dabei stellen
wir oft fest, dass gerade die CROs
und CFOs großes Interesse daran
haben, sich durch geeignete Rück­
versicherungsprodukte Kapitalent­
lastung zu verschaffen. Insofern bin
ich sehr optimistisch, dass wir hier
mit kreativen Ideen und Produkten
punkten können.
Mit dem ab Januar 2015 neuen ver­
pflichtenden Minimum Capital Test
(MCT) müssen die Versicherer in
Kanada neue Anforderungen
er­füllen. Inwieweit kann Munich Re
davon profitieren?
Regulatorische Neuheiten wie der
neue MCT oder die Implementierung
von ORSA, dem Own Risk and
­Solvency Assessment, sind wichtige
Veränderungen für die gesamte
Branche. Hier können wir den Kun­
den Mehrwert liefern und unsere
Munich Re Topics Magazin 1/2015
21
kanada
Leben mit der neuen Normalität
Im Gegensatz zu den hurrikangeplagten USA war Kanada
von schweren Naturkatastrophen lange weitgehend verschont.
Doch die vergangenen Jahre mit heftigen Unwettern und
­Über­­schwemmungen waren sehr kostspielig.
Kanada ist anfällig für eine Vielzahl von Naturkata­s­trophen, darunter Winterstürme, Hitzewellen und
Dürren, Waldbrände, Überflutungen, Hagel, Tornados
und Hurrikane. Auch das Erdbebenrisiko sollte nicht
unterschätzt werden, wie das große Alaska-Beben
zeigt, das sich 2014 zum 50. Mal jährte. Damals
erreichten Tsunamis Teile der Westküste und richte­
ten Schäden an. Nach einer Studie des Ministeriums
für Bodenschätze (Natural Resources Canada)
besteht ein mindestens 30-prozentiges Risiko, dass
im Südwesten von British Columbia und damit auch
in der Provinzhauptstadt Victoria oder in der Millio­
nenstadt Vancouver in den nächsten 50 Jahren ein
schadenträchtiges Erdbeben auftritt. Im Osten gelten
die Region vom Tal des Sankt-Lorenz-Stroms bis
zum Ottawa Valley – ein Gebiet, das Quebec, Mont­
real und Ottawa einschließt – als gefährdet. Hier
besteht eine mindestens fünf- bis 15-prozentige
Wahrscheinlichkeit für ein größeres Ereignis.
Extremwetter auf dem Vormarsch
Bei den wetterbedingten Naturkatastrophen blieb es
bis vor wenigen Jahren an der Schadenfront weitge­
hend ruhig, sieht man von Ausnahmen wie dem Eis­
sturm von 1998 oder vereinzelten Überschwemmun­
gen oder Sturmereignissen ab. Mit dem Jahr 2009
hat sich das Bild geändert. Seitdem mussten kanadi­
sche Versicherer jährlich mindestens eine Milliarde
kanadische Dollar für Schäden aufwenden – 2013
verbuchten sie mit 3,2 Milliarden kanadischen Dollar
sogar einen Rekordwert. Insgesamt kosteten Extrem­
wetterereignisse die Assekuranzen zwischen 2009
und 2013 rund 7,7 ­Milliarden kanadische Dollar.
Das größte Ereignis mit einem versicherten Schaden
von mehr als 1,7 Milliarden kanadischen Dollar und
einem Gesamtschaden von sechs Milliarden kanadi­
schen Dollar waren Überschwemmungen nach schwe­­
ren Gewittern in der Provinz Alberta im Juni 2013.
Erd­rutsche, überflutete Gebäude und Straßen, Strom­­
Abb. 4: Schadenereignisse in Kanada 1990 – 2014
Anzahl
40
30
20
10
40
Klimatologische Ereignisse:
Extremtemperaturen, Dürre, Waldbrand
30
Hydrologische Ereignisse:
Überschwemmung, Massenbewegung
20
Meteorologische Ereignisse:
Tropischer Sturm, außertropischer
Sturm, konvektiver Sturm,
lokaler Sturm
10
Geophysikalische Ereignisse:
Erdbeben, Tsunami, Vulkanausbrüche
* Prognose
0
0
1990
22
1992
1994
1996
1998
2000
Munich Re Topics Magazin 1/2015
2002 2004 2006 2008 2010 2012 2014 *
Quelle: Munich Re, NatCatSERVICE
kanada
ausfälle und zwei geschlossene Pipelines waren die
Folge, etwa 100.000 Menschen mussten ihre Häuser
verlassen. Kurz darauf verursachten Rekordnieder­
schläge Überflutungen in Toronto. Mit versicherten
Schäden von knapp einer Milliarde ­kanadischen
Dollar war es die zweitteuerste Wetterkatastrophe
des Jahres 2013. Es folgten heftige Gewitter in
Ontario und Quebec sowie ein Eissturm in Ost­
kanada, der vor allem durch umstürzende Bäume
und durch Stromausfälle Schäden in Höhe von etwa
200 Millionen kanadischen Dollar hinterließ.
Das Institute for Catastrophic Loss Reduction an der
University of Western Ontario geht inzwischen davon
aus, dass höhere Jahresschäden – wenn auch nicht
ständig im Milliarden-Dollar-Bereich – den neuen
Normalzustand in Kanada darstellen. Begünstigt wird
diese Entwicklung durch die zunehmende Konzen­
tration von Werten, vor allem in den großen Städten,
die in die Jahre gekommene öffentliche Infrastruktur
sowie das häufigere Auftreten von Extremwetter.
Mehr Überschwemmungen als Waldbrände
Nimmt man die Ereignisse seit 1990 als Maßstab,
stellen meteorologische Ereignisse die größte Gefahr
dar, gefolgt von Fluten sowie Hitze/Dürre/Feuer
(siehe Abb. 4). Betroffen von den Überflutungen
waren in der Vergangenheit fast alle kanadischen
Regionen, einschließlich der Metropolen Toronto,
Montreal, Vancouver und Ottawa. Deutlich nach oben
gegangen sind in den zurückliegenden Dekaden die
Schäden durch Rückstau in der Kanalisation. Deshalb
müssen Sachversicherer inzwischen pro Jahr mehr
als zwei Milliarden kanadische Dollar für wasserbe­
dingte Schäden und damit mehr als für Feuerschäden
aufbringen. Gründe dafür sind die wachsende Bevöl­
kerung in städtischen Ballungsräumen und über­
lastete Abwassersysteme, die mit den intensiveren
Niederschlägen nicht mehr fertig werden.
Während sich gewerbliche Immobilien in der Regel
mit Sublimiten oder je nach Risiko mit einem höheren
Selbstbehalt gegen Hochwasser versichern lassen,
existiert diese Möglichkeit bei Wohnimmobilien nicht.
Wohngebäudeversicherer bieten allerdings häufig
Schutz gegen Schäden aus Kanalisationsrückstau an.
Hier standen die Erstversicherer bei den Überflutun­
gen von Alberta vor dem Problem, wie die Versiche­
rungsverträge bei vielfältigen Schadenursachen aus­
zulegen seien. Denn häufig wurden die Keller über die
Kanalisation und anschließend schnell durch überir­
dische Überflutung verwüstet. Wenn überhaupt, lässt
sich nur mit hohem Aufwand feststellen, welcher
Schadenanteil auf eine bestimmte Ursache entfällt.
Mit fortschreitendem Klimawandel wächst außer­dem die Gefahr von Überflutungen an den Küsten, ist
Kanada doch das Land mit der weltweit längsten
Küste. Viele Gemeinden in British Columbia sind in
Meeresnähe dicht besiedelt, und wesentliche Infra­
strukturbauten befinden sich in tief liegenden Gebie­
ten. Auf der gegenüberliegenden Seite im Osten des
Landes steigt mit zunehmendem Meeresspiegel die
Gefahr durch Sturmfluten, etwa bei einem schweren
Hurrikan.
Brandgefahr vor allem im Norden
Kanada gehört nicht nur zu den waldreichsten Län­
dern der Welt – ein Drittel der Fläche ist mit Bäumen
bedeckt, auch in puncto Waldbrände zählt das Land
zur Spitze. Durchschnittlich 9.000 Feuer, meist durch
Blitzschlag ausgelöst, fressen sich jedes Jahr durch
Abb. 5: Volkswirtschaftliche und versicherte Schäden, 1990–2014
in Mrd. US$
9,0
Überschwem­
mungen1
9000
Gesamtschaden
in Werten von 20132
7,5
7500
6,0
6000
4,5
Über­
schwem­
mungen1
Winter­
schäden1
4500
3,0
3000
Eissturm1
1
Waldbrände/
Überschwem­
mungen1
Tornado/
Überschwem­
mungen1
2
Versicherter Schaden
in Werten von 20132
Teuerstes Ereignis im jeweiligen Jahr
Inflationsbereinigt durch den
kanadischen Consumer Price Index
* Prognose
1,5
1500
0
0
1990
1992
1994
1996
1998
2000
2002 2004
2006
2008
2010
2012
2014 *
Quelle: Munich Re, NatCatSERVICE
Munich Re Topics Magazin 1/2015
23
kanada
Den widrigen Umständen trotzen:
Ein Mann „surft“ während der großen
Überschwemmungen in der ­Provinz
Alberta 2013 mit Skateboard und
Regenschirm.
die Bestände und zerstören dabei ein Gebiet von
2,5 Millionen Hektar. In den Weiten des Nordens ist
das Feuerrisiko dabei fast 100 Mal höher als im bevöl­
kerungsreicheren Süden. Obwohl die kanadischen
Provinzen erheblich in den Schutz und die Bekämp­
fung von Waldbränden investiert haben, müssen
jedes Jahr rund 7.500 Einwohner aus ihren Häusern
vor den Flammen fliehen.
Die verheerendsten Brände liegen weit in der Vergan­
genheit zurück, als es noch keine Löschflugzeuge
gab. In der jüngeren Zeit sorgten die Brände von 2011
in Slave Lake, Alberta, und 2003 im Okanagan Moun­
tain Park in British Columbia für Aufsehen. Bei diesen
beiden Ereignissen wurden mehr als 90 Prozent der
Gebäude zerstört, die insgesamt in den vergangenen
drei Jahrzehnten Waldbränden zum Opfer fielen.
Änderungen im Klima, durch Krankheiten geschä­
digte Baumbestände und die zunehmenden Ansied­
lungen in der Nähe von Waldflächen dürften das
Brandrisiko weiter erhöhen, nachdem bereits in den
vergangenen 30 bis 40 Jahren ein steigender Trend
festzustellen war.
Tornados prägen Sturmgefahr
Zwischen 60 und 80 Tornados treten jedes Jahr in
Kanada auf, und manche Experten gehen davon aus,
dass viele Stürme in unbesiedelten Gebieten gar
nicht registriert werden. Die tatsächliche Zahl könnte
deshalb zwei- bis dreimal höher liegen, womit Kanada
nach den USA eines der Länder mit der höchsten Tor­
nadofrequenz wäre. Am stärksten betroffen sind das
südliche Ontario, Manitoba, Saskatchewan und
Alberta. Die große Mehrheit der Tornados (80 Pro­
24
Munich Re Topics Magazin 1/2015
zent) ist mit einer Stärke von F0 und F1 schwach aus­
geprägt. Intensitäten von F4 oder F5 wie im Jahr
2007 in Elie, Manitoba, treten in weniger als einem
Prozent der Fälle auf. Sie fordern jedoch die meisten
Todesopfer und ziehen beträchtliche Sachschäden
nach sich.
Obwohl sich jedes Jahr bis zu 28 (Rekord von 2005)
tropische Stürme im Atlantik bilden, bleibt Kanada
meist von schweren Hurrikanen verschont. Ausnah­
men bildeten 2003 der Kategorie-3-Hurrikan Juan,
der über Halifax zog, und 2010 der Kategorie-1-Hurri­
kan Igor über St. Johns. Anfällig für Überflutungen
durch tropische Stürme sind neben Südontario und
Quebec die vier östlichsten Provinzen von AtlantikKanada. Mehr als 60 Prozent der kanadischen Wohn­
häuser und Unternehmen liegen in Regionen, in
denen tropische Stürme Wasserschäden verursacht
haben.
Bei den regelmäßig auftretenden Blizzards und ande­
ren Winterstürmen sind Großereignisse wie der
­Eissturm von 1998 selten. Er markierte lange Zeit die
teuerste Naturkatastrophe in der kanadischen
Geschichte. In manchen Gebieten bildete sich damals
ein Eispanzer, der doppelt so dick war wie bei den
zuvor erlebten Eisstürmen. 28 Menschen starben, die
versicherten Schäden beliefen sich auf gut eine Mil­
liarde kanadische Dollar. Mehr als fünf Millionen Men­
schen mussten bis zu 28 Tage ohne Strom in der
Kälte ausharren.
kanada
Nicht nur die Wohngebäudeversicherer, auch die
Anbieter von Kfz-Policen können von Winterstürmen
erheblich betroffen sein. Der Unterschied bei den
Schäden zu Jahren mit geringer Aktivität kann
signifikant sein.
>> Auch
in der Lebensversicherung ist
Munich Re in Kanada aktiv. Lesen Sie dazu
in unserem Online­magazin das Interview
mit Mary Forrest, die das Lebensrück­
versicherungsgeschäft in Kanada/USA leitet:
www.munichre.com/de/topics-online
Anpassung an den Klimawandel nötig
Da der Klimawandel auch in Kanada seine Spuren
hinterlässt, dürften sich Extremwetterereignisse mit
Personen- und Sachschäden in den nächsten Jahr­
zehnten ausweiten. Besonders Regenfälle werden
wohl fast überall im Land häufiger und intensiver auf­
treten. Unsicher ist, ob die Frequenz heftiger Stürme
zunehmen wird, wenngleich schwere Hurrikane häu­
figer über Ostkanada zu erwarten sind. Die Gebiete,
in denen Waldbrände wüten, werden sich wahr­
scheinlich ebenfalls ausweiten und damit auch das
Risiko, dass die Brände außer Kontrolle geraten. Mit
der globalen Erwärmung dürfte die Zahl von Winter­
stürmen zwar abnehmen, doch steigt das Risiko, dass
sich Eisstürme, die bislang den Norden der USA
heimgesucht haben, vermehrt nach Südkanada ver­
lagern.
Sofern die richtigen Maßnahmen zur Anpassung an
den Klimawandel getroffen werden, bleiben die
Gefahren beherrschbar. Ein stärker ausgeprägtes
Bewusstsein für Sturmrisiken, wirkungsvollere Siche­
rungsvorkehrungen an Gebäuden und mehr öffentli­
che Mittel, um die Infrastruktur robuster zu gestalten,
sind mögliche Optionen. Flankierend dazu bleibt Ver­
sicherung ein wichtiges Instrument, mit dem sich
Hausbesitzer und Unternehmer vor Schäden durch
Extremwetter absichern können.
Bei der Einschätzung von Naturgefahrenrisiken
leistet die NATHAN (Natural Hazards Assessment
Network) Risk Suite von Munich Re wertvolle Hilfe.
Das einzigartige Produkt ermöglicht es, für jeden
Ort der Erde das Gefährdungspotenzial zum Beispiel
durch Stürme, Überschwemmungen, Erdbeben,
Hagel oder andere Naturgefahren anzuzeigen. Kom­
plexe Naturgefahrenrisiken lassen sich so iden­ti­fi­
zieren und besser bewerten. Zusätzlich stehen zur
Bewertung von Naturkatastrophen detaillierte
­Schadeninformationen zur Verfügung. Der NatCat­
SERVICE von Munich Re – die umfangreichste Daten­
bank über Naturkatastrophenschäden weltweit –
­bildet die Grundlage für ein breites Spektrum an
Analysen und Auswertungen im Rahmen des Risiko­
managements und der Risikoforschung.
UnserE ExperteN:
Till Heydel leitet neben seiner
Funktion als Vice President Client
Management die Marketing­­­­­­
aktivitäten von Munich Re of Canada.
theydel@mroc.com
David Flikkema ist für die
Marketingaktivitäten von Munich Re
of Canada verantwortlich.
dflikkema@mroc.com
Munich Re Topics Magazin 1/2015
25
Motormarkt
Trendsetter Großbritannien
Niedrige Zinsen, steigende Schadensummen, enge Margen:
Der britische Kfz-Versicherungsmarkt ist seit Jahren in einer schwie­
rigen Lage. Gleichzeitig sind die Entwicklungen dort möglicherweise
richtungs­weisend für die Zukunft anderer Märkte. Klaus Wilkens ­
und Mike Ayrey über Entwicklungen und Trends.
Klaus Wilkens (r.), Executive Client Manager
für britische und irische Kunden, und
Mike Ayrey, Senior Consultant der
Motor ­Consulting Unit von Munich Re.
26
Munich Re Topics Magazin 1/2015
Motormarkt
Topics: Wie würden Sie den
britischen Kfz-Versicherungsmarkt
charakterisieren?
Mike Ayrey: Es ist ein großer und
wettbewerbsintensiver Markt mit
einem Beitragsvolumen von rund
15 Milliarden britischen Pfund.
Kürzlich hatten wir einen Zeitraum,
in der die Ergebnisse besser waren,
doch inzwischen sinken die Tarife
bereits wieder.
Klaus Wilkens: Wie auf den meisten
anderen Märkten ist auch in Groß­
britannien eine Kfz-Haftpflichtver­
sicherung vorgeschrieben, und somit
ist dieses Segment von großer Be­­
deutung für die Branche. Allerdings
war der britische Kfz-Versicherungs­
markt in der Vergangenheit im
Durch­­­­schnitt weniger ertragsstark
als die meisten anderen großen KfzVersicherungsmärkte. Das erschwert
es uns, für unser eigenes Portfolio
positive Ergebnisse zu generieren.
Zudem ist dieser Markt häufig ein
Wegbereiter für viele andere Themen.
Ein Beispiel ist die große Bedeutung
von Preis­vergleichs­portalen. Etwa
zwei Drittel des Neugeschäfts wer­
den in Großbritannien über solche
Portale abgewickelt. Das ist weit
mehr als in anderen Märkten für pri­
vate Kfz-Versicherungen.
Die Bedeutung von
Preisvergleichsportalen
Topics: Wenn es nur um den Preis
geht, wie können Unternehmen
dann in einem solchen Umfeld
bestehen?
Ayrey: Die Verbraucher suchen in
der Tat vorwiegend nach dem güns­
tigsten Tarif. Zwischen den Versiche­
rungsangeboten der einzelnen Ver­
sicherer gibt es kaum Unterschiede,
weil es sich größtenteils um Stan­
dardpolicen handelt. Aus Sicht
unserer Kunden haben die Preisver­
gleichsportale das Tarifumfeld
dramatisch verändert. Jedes Problem
in der Tarifstruktur wird gnadenlos
ausgenutzt. Die Versicherer mussten
sich an dieses sehr schwierige
Umfeld gewöhnen, und manchen ist
dies besser gelungen als anderen.
Etwa zwei Drittel des Neugeschäfts werden in
Großbritannien über Preisvergleichsportale
abgewickelt. Das ist weit mehr als in anderen
Märkten für private Kfz-Versicherungen.
Klaus Wilkens
Einige Unternehmen nutzen Preis­
vergleichsportale bereits auf sehr
beeindruckende Weise und haben
sich schnell auf die neue Dynamik
eingestellt.
Wilkens: Britische Versicherungs­
nehmer sind preisbewusster als Kun­
den in anderen Märkten. Die Marke
eines Versicherungsunternehmens
scheint nicht so wichtig zu sein wie
in Deutschland oder einigen anderen
europäischen Märkten. Britische
Kunden neigen dazu, ihre Versiche­
rer häufiger zu wechseln, und der
Risikoträger (das heißt die Versiche­
rungsgesellschaft) muss nicht unbe­
dingt einen bekannten Namen
haben. Interessanterweise haben die
Preisvergleichsportale sehr erfolg­
reich eigene Marken entwickelt und
werden oft als Risikoträger und nicht
als reine Vertriebskanäle wahrge­
nommen.
Kunden in Großbritannien vertrauen
also der Marke eines Preisvergleichs­
portals mehr als einer bekannten
Versicherungsgesellschaft?
Ayrey: Zugegebenermaßen haben
die Preisvergleichsportale ihre Mar­
ken sehr erfolgreich etabliert. Und
die britischen Kunden scheinen
ihnen sehr zu vertrauen. Aber auf den
Preisvergleichsportalen findet man
nicht nur Versicherer, sondern auch
Makler, die Versicherungs­produkte
verkaufen, und Vertriebskooperatio­
nen, die die Marken von Supermärk­
ten und anderen Einzelhändlern
­nutzen und mit Versicherern partner­
schaftlich zusammenarbeiten.
Oft sind sich die Kunden gar nicht
bewusst, dass sie eine Police eines
bestimmten Versicherers gekauft
haben, sondern identifizieren sich
eher mit der Marke, die die Police
verkauft. In diesem Umfeld ist der
Markt sicherlich sehr wettbewerbs­
intensiv, und es ist für die Unterneh­
men nicht leicht, Gewinne einzu­
fahren. Glücklicherweise schaffen
es einige von ihnen doch.
Wilkens: Obwohl der Markt im
Durchschnitt kaum gewinnträchtig
ist, ist die Spanne zwischen einzel­
nen Unternehmen groß. Manche
Unternehmen sind immer besser als
der Marktdurchschnitt – sie sind
dauerhaft profitabel, auch während
einer Weichmarktphase. Wir beob­
achten den Markt genau, um zu
erkennen, wer erfolgreich ist und wer
künftig profitabel sein wird, mit wem
wir im Rückversicherungsgeschäft
zusammenarbeiten und wen wir
unterstützen können.
Ayrey: Die andere Möglichkeit ist,
einem weniger erfolgreichen Unter­
nehmen dabei zu helfen, seine
Geschäfte in Ordnung zu bringen.
In beiden Fällen ist es für uns wichtig
zu wissen, wo der Markt gerade
steht, in welche Richtung er sich
entwickelt und wie der einzelne Ver­
sicherer im Vergleich zur Marktent­
wicklung positioniert ist. Natürlich
ist es wesentlich einfacher, Partner­
schaften einzugehen, wenn die Stim­
mung am Markt etwas freundlicher
ist als üblicherweise. Eine Auf­
schwungphase ist für uns also eine
deutlich günstigere Zeit als eine
Phase des Abschwungs. Wir beob­
achten den Konjunkturverlauf sehr
genau, sammeln Marktinformationen
und berücksichtigen die daraus
gewonnenen Erkenntnisse in unse­
ren Prognosen.
Munich Re Topics Magazin 1/2015
27
Motormarkt
Rentenzahlungen:
Änderungsrisiko steigt
Welche anderen Trends sehen Sie
derzeit in Großbritannien?
Ayrey: Preisvergleichsportale beein­
flussen die Beiträge stark. Die Bei­
träge basieren auf einer Reihe von
Faktoren. Normalerweise würde man
die Schadeninflation für den bedeu­
tendsten Einflussfaktor halten. Zwar
führen aktuelle rechtliche Änderun­
gen zu einer negativen Schaden­
inflation. Langfristig ist jedoch davon
auszugehen, dass die durchschnitt­
lichen Schadenkosten einem ständi­
gen Aufwärtstrend unterliegen.
Ursächlich sind vor allem die Perso­
nenschäden, auf die sich unter ande­
rem die wachsende Zahl der Baga­
tellschäden und der Anspruchsteller
je Schadenfall auswirkt. Der andere
Faktor ist die Schadenhäufigkeit,
wobei Großbritannien – wie die
meisten westeuropäischen Märkte –
hier eine leicht rückläufige Tendenz
verzeichnet. In den vergangenen
­Jahren stieg die Zahl der Bagatell­
schäden aufgrund des sogenannten
Claims-Farming spürbar. Davor
machten uns Schäden zu schaffen,
bei denen Credit-Hire-Organisatio­
nen eingeschaltet waren. Diese wirk­
ten sich erheblich auf die Kosten
für Haftpflichtsachschäden aus.
Es zeigte sich, dass die Endkunden
diese Entwicklungen teuer bezahlen
mussten. Deshalb waren sowohl die
Versicherungsmärkte als auch die
Behörden bestrebt, diesen Tenden­
zen in irgendeiner Form entgegen­
zuwirken.
Die anstehenden Reformen im Rah­
men des Legal Aid, Sentencing and
Punishment of Offenders Act (LASPO)
sollten einige dieser Entwicklungen
eindämmen. Es wird erwartet, dass
die Reform zu Ein­sparungen bei
Schadenzahlungen f­ ühren wird; die
Versicherer haben bereits in vielen
Fällen mit Beitragssenkungen re­­
agiert. Die genauen Auswirkungen
sind noch abzuwarten, doch auf dem
Markt kursieren viele Schätzwerte.
28
Munich Re Topics Magazin 1/2015
Die möglichen Einsparungen schei­
nen zwischen null und fast zehn Pro­
zent zu liegen. Wir rechnen vorsich­
tig mit Ein­sparungen von etwa drei
bis vier Prozent.
Wilkens: Bei all diesen Veränderun­
gen ist es ziemlich schwierig, eine
genaue Prognose über die zukünftige
Marktentwicklung abzugeben. Ein
weiteres sehr wichtiges Thema sind
in Großbritannien sogenannte Perio­
dical Payment Orders (PPOs), also
regelmäßige Rentenzahlungen bei
Personenschäden. In Großbritannien
ist dies ein relativ neues Konzept,
in anderen kontinentaleuropäischen
Märkten ist es hingegen gang und
gäbe. Für die Risikoträger bedeuten
PPOs einen Anstieg des Änderungs­
risikos, insbesondere für Rückver­
sicherer, die Schäden im Rahmen
von nichtproportionalen Verträgen
mittragen. Durch PPOs steigt die
Vola­tilität der Ergebnisse. Derzeit
herrscht auf dem Markt noch große
Unsicherheit über die zukünftige
Entwicklung der Schadenhäufigkeit
sowie über die Schwere der Fälle.
Schließlich ist neben diesen Verän­
derungen des rechtlichen und ord­
nungspolitischen Umfelds auch das
derzeitige Wirtschaftsklima mit sei­
nen niedrigen Zinssätzen zu berück­
sichtigen. Die Kapitalerträge von
Versicherern und Rückversicherern
sind auf einem sehr niedrigen Niveau
und zwingen die Akteure, sich auf
versicherungstechnische Gewinne
zu konzentrieren.
OGDEN-Rate: Starke
finanzielle Auswirkungen
Gibt es noch andere Entwicklungen?
Wilkens: Ein weiteres Thema auf
dem britischen Markt ist die aus­
stehende Entscheidung zur OGDENRate – dem Abzinsungsfaktor, der auf
alle Personenschäden angewendet
wird, die nicht durch regelmäßige
Zahlungen, sondern durch eine Ein­
malzahlung entschädigt werden. Die
ersatzpflichtigen Kosten wie Heil­
kosten und Einkommensausfall wer­
den auf das aktuelle Datum diskon­
tiert. Der Faktor spiegelt außerdem
das aktuelle Zins­niveau wider.
Die OGDEN-Rate steht seit einigen
Jahren auf dem Prüfstand. Aktuell
gibt es keine konkreten Anzeichen
für eine Anpassung; dies kann sich
aber ändern. Wird die OGDEN-Rate
verringert, könnte das einen recht
großen finanziellen Einfluss auf die
wgesamte Branche haben, da alle
nicht regulierten Personenschäden
betroffen wären.
Ayrey: Wenn man in solch einem
Umfeld aktiv ist, sollten alle Risiko­
träger sehr gut über alle treibenden
Faktoren informiert sein und ihre
Strategie sehr sorgfältig wählen. Für
einen Rückversicherer ist es im All­
gemeinen wichtig, jene Versicherer
zu identifizieren, die unterstützt wer­
den können. Eine Reihe von Faktoren
spielt eine Rolle: auf jeden Fall die
technischen Preise, aber auch wei­
che Faktoren wie Profiländerungen
und wie diese Profiländerungen sich
auf die Häufigkeit von großen Schä­
den auswirken.
Wilkens: Der britische Kfz-Versiche­
rungsmarkt ist ein wenig aus dem
Gleichgewicht geraten. Vor der Ein­
führung des PPO-Konzepts wurden
Schäden schneller reguliert und
waren damit weit weniger anfällig für
Veränderungen. Das hat sich nun
geändert, und die neue Umgebung
wirkt sich vor allem auf die Schaden­
exzedentenrückversicherung aus.
Infolgedessen sind die Rückver­
sicherungspreise gestiegen, und die
Marktkapazität für dieses Segment
ist erheblich geschrumpft. Diese
Reaktion wird unter anderem durch
die von einigen Rückversicherern
berichteten Reservestärkungen
angetrieben. Die Situation verlangt
nach neuen Ideen, um den Versi­
cherungsunternehmen den notwen­
digen Schutz zu bieten.
Wie unterstützen Sie Ihre Kunden in
einer solchen Situation?
Wilkens: Als Rückversicherer bieten
wir unseren Kunden Produkte und
Dienstleistungen in verschiedenen
Formen. Wir bieten sehr selektiv eine
Schadenexzedentendeckung, durch
die sich die Volatilität der Ergebnisse
des Versicherers verringert.
Motormarkt
Die Erfahrungen, die wir in Großbritannien machen,
können in anderen Ländern nützlich sein.
Ebenso können wir von anderen Märkten lernen.
Mike Ayrey
Außerdem arbeiten wir aktiv an der
Entwicklung alternativer Produkt­
strukturen. Dabei profitieren wir von
unserer langjährigen Erfahrung als
einer der weltweit führenden Rück­
versicherer. Wir beobachten auch
eine wachsende Nachfrage nach
Rückversicherung als Kapital­
managementinstrument. Dafür ist
eine völlig andere Sichtweise erfor­
derlich. In diesem Fall ist die Rück­
versicherungskapazität integraler
Bestandteil des Geschäftsmodells
und senkt den Eigenkapitalbedarf
des Kunden. Insbesondere weniger
diversifizierte und kleinere Unter­
nehmen machen von dieser Unter­
stützung Gebrauch, und die diver­
sifizierte Bilanz eines großen
Rückversicherers wie Munich Re
kann dabei sehr hilfreich sein.
Telematik – ein Umbruch?
Wie wird die Telematik das
Geschäft verändern?
Ayrey: Die Telematik bringt eine
ganze Reihe von zusätzlichen Daten
ins Spiel, sowohl für das Under­
writing als auch bei der Schaden­
bearbeitung. Es ist immer noch ein
Nischenprodukt, da die Kosten für
den Einbau der Box weiterhin sehr
hoch sind. Derzeit würde es keinen
Sinn machen, ein Telematikprodukt
in Kundensegmenten mit einem
niedrigen Beitragsniveau zu verkau­
fen. Aber durch die sinkenden Kosten
und die wachsenden Möglichkeiten,
andere Geräte wie Smartphones zur
Datenerfassung zu nutzen, werden
diese Nischen wachsen. Die GenderRichtlinie hat den Telematik-Versi­
cherungsprodukten einen weiteren
Schub gegeben.
Da die Versicherer jetzt bei ihren
Ratings das Geschlecht nicht mehr
einbeziehen dürfen – wobei es zuvor
einen recht starken Einfluss auf die
kalkulierte Prämie hatte –, bietet die
Telematik die Möglichkeit, das tat­
sächliche Fahrverhalten zu betrach­
ten. Man bekommt heute also Pro­
dukte, die bessere Fahrer belohnen,
ungeachtet des Geschlechts. Wahr­
scheinlich wird sich herausstellen,
dass die Mehrheit der besseren Fah­
rer weiblich ist – auf jeden Fall in der
jüngeren Altersgruppe.
Wilkens: Früher kalkulierte die Ver­
sicherungsbranche ein Kfz-Risiko
nur auf der Grundlage von indirekten
Kriterien wie Geschlecht, Alter und
Wohnort. Die Nutzung der mittels
Telematiktechnologie gesammelten
Daten bietet ein enormes Potenzial.
Unternehmen haben heute die ITKapazitäten, Daten zu erfassen und
auszuwerten und dabei Echtzeit­
daten als direktes Kalkulationskrite­
rium zu verwenden. Der umstrittene
Aspekt ist hierbei die Privatsphäre
der Einzelpersonen – das ist mit
Sicherheit eine Frage der jeweiligen
Kultur. In Großbritannien ist das
­Interesse an Telematikversicherun­
gen derzeit größer als auf anderen
Märkten. Die Entscheidung des Kun­
den, eine Telematikpolice zu wählen,
scheint ein zuverlässiger Indikator
für ein besseres Risiko zu sein. Je
besser ein Kunde sein Fahrverhalten
einschätzt, desto entspannter sollte
er die Transparenz sehen, die er durch
die Box in seinem Auto gestattet.
Ayrey: Bei der Einführung vor einigen
Jahren haben sich die Unternehmen
auf ein nutzungsbasiertes Modell
konzentriert. Das war nicht besonders
erfolgreich, da die meisten Leute im
Voraus wissen wollten, wie hoch die
Prämie für das gesamte Jahr sein
würde. Neueste Erkenntnisse legen
außerdem nahe, dass Fahrverbots­
zeiten und andere Einschränkungen
auch nicht besonders beliebt sind.
Heute liegt der Schwerpunkt eher
auf dem Fahrstil des Kunden, um per
Telematik die besseren Fahrer zu
ermitteln. Es wird aber interessant
sein herauszufinden, ob Telematikver­
sicherungen auch das Fahrverhalten
der Nutzer verbessern können.
Munich Re Topics Magazin 1/2015
29
Motormarkt
Die Situation verlangt nach neuen Ideen,
um den Versicherungsunternehmen den
notwendigen Schutz zu bieten.
Klaus Wilkens
In der Anfangsphase werden die Ver­
sicherten, die eine Box wollen, wahr­
scheinlich auch die besseren Fahrer
sein. Es stellt sich die Frage: Werden
sich mehr Leute für den Einbau einer
Box entscheiden, wenn große Prä­
mieneinsparungen möglich werden?
Wenn ja, wird es interessant zu
sehen, ob man die Kunden zu einem
sichereren Fahrstil ermutigen und
dadurch die Schäden verringern
kann.
Wie wird die Telematik das
Schadenmanagement beeinflussen?
Wilkens: Der Einfluss auf das Scha­
denmanagement ist eine weitere
interessante Entwicklung, die wir
berücksichtigen müssen. Aus der
Sichtweise des Versicherungsneh­
mers kann die Box bei Notrufen
­hilfreich sein. Bei einem Unfall kann
sofort eine automatische Benach­
richtigung an den Versicherer aus­
gelöst werden, der dann umgehend
Notfallmaßnahmen einleiten kann.
Aus der Sichtweise des Versicherers
kann die Telematik beim Aufspüren
von Betrugsversuchen nützlich sein
und Hinweise liefern, wann, wo und
wie ein Unfall passiert ist. Es werden
nicht alle Daten nutzbar sein, aber
einige werden für die Bearbeitung
des Schadens und in der Tat für das
Underwriting hilfreich sein.
Ayrey: In der „normalen“ Schaden­
bearbeitung kann die Telematik
ebenfalls sehr nützlich sein. Als Ver­
sicherer eines Telematikrisikos erhält
man sehr klare Hinweise, wo der
Unfall passiert ist und wie der Fahrer
unmittelbar vor dem Unfall reagiert
hat. Falls sich herausstellt, dass der
30
Munich Re Topics Magazin 1/2015
eigene Versicherungsnehmer schuld
war, bedeutet das hoffentlich, dass
der Schaden schnell abgewickelt
werden kann. Das führt zu besserem
Kundendienst. Gleichsam erhält man
mehr Argumente, die Ansprüche des
Haftpflichtversicherers abzuweisen,
wenn feststeht, dass der Versiche­
rungsnehmer nicht schuld war.
Der Einfluss von Big Data
Bei Big Data geht es um IT. Sind
­größere, etablierte Unternehmen
mit großen bestehenden Systemen
bereit für die Telematik? Oder ist
das nur etwas für neu gegründete
Firmen, die ganz bei null anfangen?
Ayrey: In Großbritannien haben
nahezu alle großen Firmen die
Telematik zumindest als Pilotprojekt
­eingeführt oder sie beschäftigen sich
damit. Nur sehr wenige Unterneh­
men ziehen das Thema überhaupt
nicht in Betracht. Es wird Firmen
geben, die gut damit klarkommen,
und solche, die es nicht so gut hin­
bekommen. In den Daten stecken
jede Menge Möglichkeiten, aber viele
Unternehmen werden Probleme
haben, die Daten zu verarbeiten, und
keine Entscheidungen auf deren
Grundlage treffen können. Das müs­
sen wir berücksichtigen, weil wir
immer beobachten, dass Unterneh­
men, die bessere Daten haben und
vor allem diese Daten effektiver nut­
zen können, mit großer Wahrschein­
lichkeit den Markt anführen werden.
Wie kann Munich Re bei der
Auswertung von Big Data helfen?
Ayrey: Wir können mit unserem
Wissen und unserer Erfahrung helfen
und sehen uns hier als Ratgeber für
die Kunden.
Wilkens: Man muss den richtigen
Prozess etabliert haben, um aus den
wachsenden Datenmengen lernen
zu können – durch die Erfassung von
neuen Datentypen und deren Aus­
wertung, durch Erkennen von zuver­
lässigen Korrelationen. Wir können
bei der Methodik und der Betrach­
tungsweise solcher Herausforderun­
gen helfen. Das kann beim Vordrin­
gen in unbekannte Gebiete nützlich
sein.
Wenn Autos miteinander
reden
Welche anderen Langzeittrends
sehen Sie?
Ayrey: Es ist bereits erkennbar, dass
es irgendwann selbstfahrende Autos
geben wird, die keine Unfälle verur­
sachen. Wenn das eintritt, verliere
ich meinen Job! Ich denke aber, dass
noch viele Jahre vergehen werden,
bevor es so weit ist. Es wird auf die­
sem Gebiet noch weitere Entwick­
lungen geben – zum Beispiel beim
Parken. Es gibt bereits Autos, die von
selbst einparken. Das würde eine
Menge Unfälle verhindern. All diese
Entwicklungen werden sich auf die
Versicherungsprämien auswirken,
denn wenn es weniger Schäden gibt,
dann müssen logischerweise auch
die Versicherungsprämien sinken.
Ich persönlich glaube nicht, dass
irgendwann keine Kfz-Versiche­run­
gen mehr benötigt werden, denn
viele Menschen haben Freude am
aktiven Fahren und wollen nicht
­herumgefahren werden.
Motormarkt
Wilkens: Auf der Suche nach Lang­
zeittrends in der Kfz-Versicherung
sollte man die Mobilität als Mega­
trend betrachten und ebenso die ver­
schiedenen damit verbundenen
­Herausforderungen und Fragestel­
lungen. Nehmen wir einmal an, dass
es in der Zukunft eine Kultur der
selbstfahrenden Autos geben wird
und dass sich die Bedeutung der
­Kfz-Versicherung dadurch verringert.
Wir müssten uns dennoch mit der
Herausforderung von potenziellen
Konstruktionsfehlern oder fehler­
haften Sicherheitseinrichtungen
befassen. Das könnte zu komplett
anderen Schadenszenarien führen,
mit einem bedeutenden Einfluss auf
die Marktstruktur, zum Beispiel die
Verschiebung der Exponierung von
der ­Kfz-Versicherung hin zur Pro­
dukthaftpflichtversicherung.
Unsere Kunden weltweit
­können von den Erfahrungen
profitieren, die wir in Groß­
britannien gemacht haben
Als langfristiger Rückversicherungs­
partner müssen Sie die Märkte und
Bedürfnisse der Marktteilnehmer
verstehen. Wie können Kunden
weltweit davon profitieren?
Ayrey: Die Erfahrungen, die wir in
Großbritannien machen, können in
anderen Ländern auf der Welt nütz­
lich sein. Ebenso können wir von
anderen Märkten lernen und diese
Lektionen auf Großbritannien anwen­
­den. Ein Beispiel sind die PPOs. Das
ist ein Gebiet, auf dem Munich Re
aufgrund der Erfah­rungen auf ande­
ren Märkten zur D
­ iskussion beitra­
gen konnte. Es war für unsere Kun­
den hilfreich, mehr über Trends in
anderen Ländern zu erfahren.
Wilkens: Aufgrund unserer Erfah­
rungen mit PPOs in einigen Märkten
auf dem europäischen Kontinent
konnten wir nicht nur eine theoreti­
sche Diskussion über die potenzielle
Entwicklung von PPOs in Großbri­
tannien führen, sondern außerdem
darlegen, wie der Markt sich ent­
wickeln wird, wenn er den gleichen
Verlauf wie auf den anderen Märkten
nimmt. Es gibt andere Bereiche, in
denen Großbritannien bei der Ent­
wicklung in vorderster Reihe steht.
Zum Beispiel Preisvergleichsportale:
Sie sind eine globale Entwicklung,
die nicht aufzuhalten ist – es werden
immer mehr Policen online verkauft.
Andere Märkte können hier von den
in Großbritannien gemachten Erfah­
rungen profitieren.
Ayrey: Natürlich muss man jeden
Markt für sich betrachten. Zwischen
den einzelnen Märkten gibt es kul­
turelle und legislative Unterschiede.
Ein großer Unterschied zwischen
Großbritannien und Deutschland
besteht zum Beispiel darin, dass in
Deutschland die meisten Kunden
ihre Policen am 1. Januar verlängern.
Das führt zu ganz anderen Heraus­
forderungen bei Marketing und Ver­
waltung und beeinflusst gegebenen­
falls auch die Vertriebskette. Ein
weiteres Beispiel liegt im Fahrverhal­
ten von jungen Männern. In Groß­
britannien sind sie ein erkennbar
schlechteres Risiko als junge Frauen.
Dieser Unterschied ist üblicherweise
in anderen Ländern zwar auch vor­
handen, aber nicht immer auf allen
Märkten gleich stark ausgeprägt.
Man kann aus den Erfahrungen in
anderen Ländern lernen, muss diese
aber mit der eigenen Kenntnis der
anderen Märkte kombinieren.
Warum und in welchen Fällen sollte
ein Kunde sich an Sie wenden?
Wilkens: Wir haben in Großbritan­
nien ein erfahrenes Team, das die
Bedürfnisse und Anforderungen der
Kunden versteht. Der Kunde steht
immer im Mittelpunkt unserer
Arbeit. Dank unseres umfangreichen
Erfahrungsschatzes und unserer
weitreichenden Fähigkeiten können
wir maßgeschneiderte Lösungen
entwickeln und nachhaltige Partner­
schaften aufbauen. All das wird von
der finanziellen Sicherheit von
Munich Re flankiert.
Ayrey: Für einige Unternehmen sind
vielleicht die von uns angebotenen
Beratungsdienstleistungen interes­
sant. Ein weiterer wichtiger Faktor in
Großbritannien ist unser Schaden­
team in London. Diese Kollegen
haben exzellente Kenntnisse auf dem
Gebiet von großen Schäden, und
viele unserer Kunden wissen das
sehr zu schätzen.
Unsere Experten:
Klaus Wilkens, Executive Client
Manager, ist seit 5 Jahren zustän­
dig für britische und irische Kun­
den. Davor hatte er verschiedene
Underwritingfunktionen inne.
kwilkens@munichre.com
Mike Ayrey, Senior Consultant
der Motor Consulting Unit, ist
seit 12 Jahren bei Munich Re.
Davor arbeitete er 20 Jahre lang
für Kfz-Erstversicherer.
mayrey@munichre.com
Munich Re Topics Magazin 1/2015
31
Big Data
Eine riesige
Heraus­forderung
Die weltweit gesammelten Daten werden
immer schneller immer mehr. Ihre Auswertung
könnte viele Geschäftsprozesse in der
Assekuranz ver­bessern. Doch wie lassen
sich die Chancen nutzen ?
von Fabian Winter
Das Netz explodiert – Menschen und Maschinen
speisen unaufhörlich Daten ins World Wide Web ein.
Während bis 2005 etwa 0,1 Zettabyte an Daten pro­
duziert wurden, dürfte 2015 die weltweit verfügbare
Datenmenge etwa 8 Zettabyte erreichen. Und Pro­
gnosen besagen, dass sich die Datenmenge bis 2020
nochmals auf 40 Zettabyte verfünffacht. Dieser
immense „Datenhaufen“ wird inzwischen allgemein
mit dem Begriff „Big Data“ (siehe auch Abb. 1)
beschrieben.
tifiziert werden – sowie das „Image/Video Mining“.
Sie könnten Aufschluss darüber geben, welche
Bedürfnisse Kunden haben. Im weiteren Prozess
können diese Ergebnisse als Basis für gezieltere
Vertriebs- oder Servicemaß­nahmen dienen. Dabei gilt
es natürlich immer, die bestehenden Datenschutz­
regelungen des jeweiligen Rechtsraums zu beachten
(siehe auch Interview auf Seite 39/40).
Viele Unternehmen, unter ihnen die Versicherer, ver­
fügen über ein Geschäftsmodell, das ohne die fun­
dierte Untersuchung der zugrunde liegenden Fakten,
also Daten, nicht denkbar wäre. Doch mittlerweile
übersteigen die extern gewonnenen Daten die intern
gesammelten bei Weitem. Sie können aus verschie­
densten Quellen wie Einträgen in Social-Media-Platt­
formen oder Videos stammen; der überwiegende Teil
davon ist unstrukturiert. Aus diesen die relevanten
herauszufiltern, sie zu strukturieren und nutzbar zu
machen, ist die große Herausforderung für die Unter­
nehmen. Möglichkeiten dazu bieten „Content Ana­
lytics“ – damit können mithilfe einer linguistischen
Suche empirische Zusammenhänge beispielsweise
zwischen Kommentaren aus Internetforen, SocialMedia-Plattformen und eigenen Daten­­banken iden­
Die Datenanalyse ist der Knackpunkt, denn nur wenn
der riesige Datenfundus ausgewertet und die ver­schie­­­­
denen Quellen kombiniert werden können, schafft
dies tatsächlich Nutzen. Bisher gelingt das nur mit
einem geringen Anteil der verfügbaren Informationen.
Dennoch hat man in einigen Branchen bereits
be­eindruckende Resultate erzielt: Im Versandhandel
konnte aufgrund der Auswertung von Bestelldaten –
rund 300 Millionen Datensätze pro Woche – die
Lagerhaltung optimiert werden; dies führte zu Ein­
sparungen in zweistelliger Millionenhöhe.
Die Analyse ist das Wichtigste
Auch Banken und Kreditkartenfirmen durchforsten
die Daten, um kriminelle Muster zu erkennen und
damit betrügerische Transaktionen aufzudecken –
ein klarer Vorteil für ihre Kunden.
Gang im Pionen Data Center in
Stockholm, Schweden, das sich in einem
ehemaligen Atombunker befindet.
Munich Re Topics Magazin 1/2015
33
Big Data
Abb. 1: Charakteristika von Big Data
Volume
Menge
Virality
Verbreitungsgeschwindigkeit
Viscosity
Quellenvielfalt
Velocity
Entstehungs­
geschwindigkeit
Variety
Strukturen­
vielfalt
Big Data lässt sich durch mindestens
3 „V” charakterisieren: das Volumen
(Volume), also die schiere Menge der
Daten, ihre Vielfalt (Variety) sowie die
Geschwindigkeit (Velocity) ihrer Ent­
stehung.
Quelle: Munich Re
Big Data kann das Underwriting
von Betriebsunterbrechungsrisiken
unterstützen
Alexander Schmidl, Senior Underwriter für globale
fakultative Industrierisiken, über ein Pilotprojekt
zur Lieferkettenanalyse mithilfe von Big Data.
Topics: Herr Schmidl, Sie leiten eines
von fünf Pilotprojekten, mit denen
Munich Re herausfinden will, wo
Big Data Risikoprüfung und Pricing
optimieren kann. Wie ist es dazu
gekommen?
Alexander Schmidl: Im Frühjahr 2014
haben wir in den Big-Data-Teams der
Geschäftsbereiche be­gonnen, Anwen­
dungsfälle zusammenzutragen, bei
denen wir uns vorstellen konnten, dass
sie das Geschäft verbessern könnten.
Ursprünglich waren es fast 78 Fälle,
37 davon werden nun umgesetzt und
mit fünf Piloten sind wir im Herbst ge­­star­­­tet. Unser „Supply Chain Case“ be­­fasst sich mit der Analyse von Lieferket­­ten und will dieWechsel­wirkungen
bei globalen Industrien besser erfassen.
Was ist der Hintergrund dieses
Projekts?
Gerade bei Hightech-Unternehmen,
etwa Elektronikfirmen, findet die
Komponentenherstellung nicht mehr
34
Munich Re Topics Magazin 1/2015
in eigenen Betrieben statt, sondern
ist fast völlig an Fremdhersteller aus­
gelagert. Und obwohl die Unterneh­
men seit den Erdbeben- und Flut­
ereignissen in Japan bzw. Thailand
2011 verstärkt darauf achten, ihre
Lieferketten transparenter zu
machen, reichen die Informationen,
die wir für die Risikoprüfung erhal­
ten, zumeist leider nicht aus, um die
Effekte aus Wechsel- und Rückwir­
kungen in den Lieferketten bei
Betriebsunterbrechungsrisiken
adäquat zu bewerten.
Liegen diese Informationen denn
nicht bei den Versicherungsnehmern
vor?
Es ist tatsächlich so, dass viele Infor­
mationen, die uns helfen würden,
den Versicherungsnehmern oft
selbst fehlen – oder Wettbewerbs­
gründe bzw. Vertraulichkeitsverein­
barungen wie über Patente stehen
der Weitergabe im Weg. Diese
Lücken wollen wir mithilfe von
Big Data bestmöglich schließen und
damit unsere Unsicherheit beim
Underwriting verringern.
Wie schaut das Szenario im
Einzelnen aus?
Unser Testszenario will die Liefer­
ketten von Hightech-Elektronik­
indus­trierisiken, zum Beispiel bei
Smartphone-Herstellern, transparen­
ter machen. Hier bestehen häufig
ex­treme Abhängigkeiten: Oft stellt
nur ein Unternehmen ein spezielles
Bauteil her, das es an mehrere
­„Original Equipment Manufacturer“
(OEMs) liefert. Wenn dann beim
Zulieferer eine Lieferunterbrechung
auftritt, aus welchem Grund auch
immer, könnte die Produktion ver­
schiedener OEMs betroffen sein.
Unser Ziel ist also, solch kritische
Produkte und Zulieferer zu identifi­
zieren und Abhängigkeiten zu
Big Data
Diese Trans­pa­renz, ebenso wie Empfehlungen beim
Bücherkauf oder Ähnliches, nehmen die meisten nor­
malerweise gern in Kauf – im Versicherungskontext
wird der Kunde sensibler, obgleich die Empfindungen
unterschiedlich sind: So liegen in den USA bei der
deutlichen Mehrheit der Facebook-Profile die Informati­
onen teilweise oder völlig offen vor, in Deutschland sind
es etwa die Hälfte. Auch die ge­­­setz­lichen Rahmenbe­
dingungen variieren von Land zu Land; weltweit wer­
den derzeit die Rechtsgrundlagen für die Auswer­
tungsmöglichkeiten diskutiert (siehe auch Seite
39/40). Und inwiefern Kunden auf Dauer bereit sein
werden, etwa auch Gesundheitsdaten – wie über
iPhone Health ­Tracking – weiterzugeben, wird sich
noch zeigen und hängt wohl auch davon ab, welchen
Vorteil sie sich davon versprechen.
erkennen. Wenn wir diese Netzwerke
besser durchschauen, wissen wir im
Idealfall am Ende, wie hoch die
Betriebs­unter­brechungs­risiken
unserer jeweiligen Versicherungs­
nehmer sein können.
Welche Informationen werden dazu
analysiert?
Dazu wollen wir Informationen nut­
zen, die im Internet frei verfügbar,
aber unstrukturiert vorliegen. Die
Kunst ist, die relevanten aufzuspü­
ren, sie unter die Lupe zu nehmen
und mit unseren intern erhobenen
Daten zusammenzuführen.
Eine technische Herausforderung.
Ja, denn um diese riesigen Daten­
mengen zu durchforsten, muss man
intelligente Wissensmodelle und
spezielle Suchprogramme entwi­
ckeln, die sich im Lauf der Zeit selbst
optimieren. Die Ergebnisse müssen
selbstverständlich nochmals im Ein­
zelnen auf ihre Plausibilität geprüft
werden.
Wann rechnen Sie mit den ersten
Ergebnissen?
Die Projekte laufen bis ins zweite
Quartal 2015, also ein gutes Jahr
gerechnet vom ersten fachüber­
greifenden Kick-off und inklusive
­Findungsphase. Doch im Grunde
handelt es sich um eine Machbar­
keits­­studie: Zunächst müssen wir
sehen, was sich tatsächlich erreichen
lässt und was nicht bzw. welche
Business Analytics ist die Voraussetzung für
Strukturierung und Nutzung
Doch die riesigen Datenmengen erlangen erst dann
einen Wert für Unternehmen, wenn es gelingt, aus all
dem Wissen auch die richtigen Schlüsse und Kon­
sequenzen abzuleiten. Das Ziel ist, bisher unerkannte
Muster zu entdecken bzw. das Versichertenkollektiv
in kleinere und homogenere Gruppen einzuteilen und
mithilfe zusätzlicher Informationen die Risiken noch
präziser einschätzen zu können. Dank besserer
Datenauswertung und ungleich größerer Datenbe­
stände steigt auch die Chance, bislang unversicher­
bare Risiken versicherbar zu machen und somit neue
Geschäfte zu erschließen. Die potenziellen Anwen­
dungsmöglichkeiten sind vielfältig (siehe Abb. 2).
Lösungen langfristig implementier­
bar wären. Selbstverständlich muss
auch das Aufwand-Nutzen-Verhält­
nis passen. Wenn sich herausstellt,
dass ein Szenario nicht oder nur
unwirtschaftlich funktioniert, wird es
verworfen und durch einen anderen
Fall ersetzt.
durch Big-Data-gestütztes Under­
writing tatsächlich vollumfänglich
verbessern lassen und wir auch
Schäden aus unprofitablem Geschäft
vermeiden, könnte sich ein geschätz­
tes umsatzäquivalentes Potenzial
von einem mittleren zweistelligen
Millionenbetrag erschließen lassen.
Welche anderen Industrien könnte
man auf ähnliche Weise beleuchten?
Wie profitieren unsere Kunden von
diesen Aktivitäten?
Wir haben mit unserer IT-Beratungs­
firma drei Stränge aufgesetzt. Der
erste ist das oben beschriebene Sze­
nario. Der zweite bezieht sich auf
Cloud-Services/Provider – auch hier
besteht ein großes Kumulrisiko,
wenn ein Anbieter ausfällt oder
gehackt wird. Diese Abhängigkeiten
müssen wir beim Riskassessment
besser durchschauen. Das dritte
Stream-Szenario bezieht sich
gemeinsam auf die Öl- und Gas­
industrie sowie die Pharmabranche –
bei so spezialisierten Industrien hat
man oft nicht das volle Bild über
wichtige Lieferströme und ihre
Werte; hier könnte uns ebenfalls die
Analyse der im Internet verfügbaren
Daten weiterhelfen.
Selbstverständlich werden wir die
Erkenntnisse, die wir aus unseren
Analysen gewinnen, mit ihnen teilen.
Und je besser die Datenlage, desto
genauer kann unsere – und ihre –
Risikoeinschätzung sein und damit
das Pricing. Wir qualifizieren uns
zudem als Premium-Risk- und Solu­
tion-Partner, weil wir die komplexe
Problematik besser verstehen und
sehr kundenspezifische Lösungen
anbieten können – ein klarer Wettbe­
werbsvorteil für unsere Kunden und
auch für uns.
Mit welchem geschäftlichen
Mehrwert rechnen Sie, wenn alles
wie geplant läuft?
Bei einer erfolgreichen Umsetzung
aller vier Szenarien – wenn sich also
Risikoselektion, Beteiligungssteue­
rung und Pricing im fakultativen und
Vertragsgeschäft sowie die Akkumu­
lationskontrolle im Vertragsgeschäft
Munich Re Topics Magazin 1/2015
35
Big Data
Dazu müssen moderne Methoden der Datenanalyse
eingesetzt werden. Denn erst durch Business Ana­
lytics kann man die relevanten Informationen aus
dem „Datenhaufen“ herausfiltern. Beispiele für neue
statistische Modelle sind Verfahren zur Dimensions­
reduktion, die es ermöglichen, auf Basis von meh­
reren Hundert Informationen wenige neue Parameter
mit einem Großteil der Information zu berechnen;
ebenso wie komplexe Baumansätze, moderne
Regressions­methoden oder neuronale Netze, die es
mit Zusammmenhanganalysen erlauben, individuelle
Ereignisse nicht nur in der Vergangenheit zu erklären,
sondern auch für die Zukunft vorherzusagen.
Gerade durch diese individuelle Vorhersage, „predic­
tive modelling“ oder „predictive analytics“, ergeben
sich Chancen für eine bessere Echtzeit-Steuerung
einzelner Prozesse.
Im Vertrieb beispielsweise kann die Cross-SellingWahrscheinlichkeit eines bestehenden Kunden pro­
gnostiziert werden. Diese wird zusammen mit der
Prognose des optimalen Vertriebskanals für diesen
Kunden sowie mit den damit verbundenen Abschluss­
kosten und den erwarteten Einnahmen für das neue
Produkt zu einem individuellen Business Case ver­
dichtet. Basierend darauf wird für jeden Kunden das
ökonomisch optimale Vorgehen bestimmt.
Um solche neuen analytischen Modelle zu nutzen,
braucht es geeignetes Knowhow: Statistische Fähig­
keiten sind jedoch knapp auf dem Arbeitsmarkt und
die wenigen Ressourcen stark umworben. Anders als
in der angelsächsischen Welt, wo frühzeitig die
gestiegene Nachfrage erkannt und verstärkt universi­
Touch-Display einer Hightech-Anlage:
Eine große Menge Daten wird
mittlerweile auch von Maschinen
generiert und ins Netz eingespeist.
36
Munich Re Topics Magazin 1/2015
täre Angebote geschaffen wurden, übersteigt gerade
in Deutschland der Bedarf an statistischem Knowhow
bereits jetzt das Angebot auf dem Arbeitsmarkt.
Munich Re führt daher seit 2011 zusammen mit der
Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) München
jährlich einen Informationstag für Statistik-Studen­
ten durch.
Big Data und Business Analytics in der
­Sach­versicherung
In der Sachversicherung gibt es eine ganze Reihe von
Anwendungen, etwa bei der webbasierten Analyse
von Zulieferketten (siehe Seite 34/35). Auch bei der
Modellierung von Ernteausfall werden beispielsweise
länderspezifische Daten zur Georeferenzierung (aktu­
ell sind diese Daten nur in einzelnen Märkten vorhan­
den und verfügbar) der Felder mit Wetter- und Satel­
litendaten zusammen­geführt, um dann basierend auf
agronomischem Wissen entsprechende Risikoszena­
rien zu berechnen. Bei der Entwicklung neuer KfzTarife werden künftig ebenfalls Daten über das indivi­
duelle Fahrverhalten (Stichwort „connected car“) eine
bedeutende Rolle spielen (lesen Sie dazu auch das
Gespräch ab Seite 26).
Die systematische Beobachtung der weltweiten
Datenströme mit statistischen Methoden kann
zudem dabei unterstützen, frühzeitig von potenziell
relevanten Schäden zu erfahren. Diese Information
kann dann mit dem eigenen Portfolio abgeglichen
werden und bietet als eine Art Frühwarnsystem die
Möglichkeit zum frühzeitigen schadenmindernden
Eingreifen.
Big Data
Abb. 2: Denkbare Anwendungsfälle in der
Versicherungswirtschaft
Pricing und Produktentwicklung
–Ü
berprüfung des
Pricings bestehen­
der Produkte
–P
ricing neuer ­
Produkte
– Produktentwicklung
auf Basis von
Social-Media-Daten
Vertrieb und
Marketing
– Kundenakquisition
– I dentifikation von
Cross- und Up-sellingPotenzialen
Underwriting
– Verbesserung und
Automatisierung im
Underwriting
– Prozessoptimierung
– Kündigungsprävention
–E
rkennung von
Möglichkeiten zur
Kundenrückgewinnung
Schadenmanagement
– medizinische
Qualitätskontrolle
– Design von Gesund­
heitsprogrammen
– Betrugserkennung
verbessern
– Schadenbear­
beitung optimieren
– Kundenwertkalkulation
– Vertriebskanal­
optimierung
Die Möglichkeiten von Big Data
umfassen die gesamte Wertschöp­
fungskette: So könnten etwa wesent­
liche Informationszuwächse die
Produktentwicklung optimieren
sowie die Betrugserkennung
­verbessern und die Schaden­
bear­beitung beschleunigen.
Big Data und Business Analytics in der
Krankenversicherung
Streng genommen spielt Big Data in einigen
Geschäftsprozessen schon seit Jahren eine zentrale
Rolle. Bei der Optimierung von Vertriebs- und
Marketingmaßnahmen werden externe Informationen
zusammen mit intern verfügbaren Daten zu einer
Datenbank vereint. Basierend auf ausgefeilten statis­
tischen Modellen werden dann Verkaufskampagnen
zur Gewinnung von Neukunden und zur Bekämpfung
von Prämienabrieb gestartet. Neue Anwendungs­
bereiche ergeben sich bei der Schadenregulierung,
Gesundheitsförderung, Risikobewertung, Produkt­
entwicklung und Prozessoptimierung, wie die folgen­
den ­Beispiele zeigen. Je nach gesetzlichem und
­regulatorischem Marktumfeld können sie allerdings
unterschiedlich stark sein.
Schadenregulierung:
Betrüger erkennen
Bereits seit Längerem wird über ökonomische
Chancen und Risiken von Dunkelverarbeitung und
über eine Verbesserung der Betrugserkennung
debattiert. Die Entwicklung regelbasierter medizini­
scher Prüf­­systeme ermöglicht eine automatisierte
Schaden­bearbeitung in Echtzeit und damit eine
kosten­günstigere Prüfung. Regelbasierte Systeme
sind jedoch wartungsaufwendig und können
systema­tisches Verhalten über viele Rechnungen
hinweg nur teilweise erkennen. Munich Re hat in der
Kranken­­versicherung 2011 damit begonnen, den
Quelle: Munich Re
regelbasierten Ansatz durch analytische Verfahren zu
ergänzen. Diese weisen jedem neuen Schaden eine
Betrugs- oder Missbrauchswahrscheinlichkeit zu
(sogenannte Scores). Je nach Score-Wert wird dann
entschieden, ob man den Schaden in einer Betrugs­
abteilung genauer untersucht. In der Kfz-Versicherung
werden ähnliche Modelle angewendet.
Gesundheitsprogramme:
Patientenauswahl optimieren und Erfolg messen
Gerade für Volkskrankheiten wie Diabetes, Rücken­
schmerzen oder chronische Herzinsuffizienz werden
vermehrt Gesundheitsprogramme angeboten. Ziel
der sogenannten Disease-Management-Programme
ist es, sowohl die Versorgungsqualität der Betroffe­
nen zu erhöhen als auch den Versicherern Kosten zu
ersparen. Business Analytics hilft hier einerseits
durch die Auswertung einer Vielzahl von Patienten­
daten (beispielsweise Echtzeitgewicht und -blut­
druck) bei der Auswahl der Programmteilnehmer.
Andererseits lässt sich eine valide und unverzerrte
Messung ökonomischer Effekte vornehmen. Munich
Re hat hierzu ein analytisches Verfahren zur verbes­
serten Patientenauswahl entwickelt, das in der Fach­
zeitschrift „Health Care Management Science“ vorge­
stellt wurde. Dieses erweitert klassisch regelbasierte
Ansätze um eine regressionsbasierte Komponente
und ermöglicht somit individuelle Folgekostenschät­
zungen.
Munich Re Topics Magazin 1/2015
37
Big Data
40.000.000.000.000.000.000.000
Zettabyte
Exabyte
Unvorstellbar große Zahlen:
2020 werden wohl 40 Zettabyte an
Daten generiert – das 300-Fache
des Jahres 2005.
Petabyte
Terabyte
Megabyte
Kilobyte
Allein an der New Yorker Börse
entsteht an jedem Handelstag
1 Terabyte an Daten.
Produktentwicklung:
Massenindividualisierung durch Big Data
Auch in der Produktentwicklung spielt die Kombina­
tion aus internen und externen Daten eine zentrale
Rolle, um maßgeschneiderte Angebote zu entwickeln.
Zum Beispiel verhilft die intelligente Nutzung von
Social-Media-Daten durch Content Analytics, also die
Auswertung unstrukturierter Texte und das Ausfiltern
von Kerninformationen, zu zusätzlichem Wissen über
das Verhalten. Diese kostenlos extrahierbaren Daten
werden dann auf Basis eines statistischen Ähnlich­
keitsbegriffs mit den internen Daten zusammenge­
führt. So kann man Aufschluss gewinnen über das
Nachfrageverhalten und die Versicherbarkeit von
existierenden und potenziellen Kunden. Versiche­
rungsnehmer werden in homogene, aber untereinan­
der möglichst heterogene Bevölkerungsgruppen in
Bezug auf ihr Interesse an Versicherungsprodukten
aufgeteilt. Pro Gruppe bzw. Cluster werden dann
mögliche Bedarfe an neuen Versicherungsprodukten
sowie die entsprechende Vertriebskanalpräferenz
bestimmt. Der Grundstein für passgenaue Angebote
ist damit gelegt.
Prozessoptimierung:
Schaden- und Antragsprozesse besser steuern
Für das Antrags- und Schadenwesen, das üblicher­
weise viel Personalaufwand erfordert, bietet Business
Analytics Optimierungsmöglichkeiten. Bislang eher
qualitativ genutzt, können Techniken wie das
Managementsystem Six Sigma durch den Einsatz
von komplexen statistischen Modellierungsansätzen
die Prozesse auch quantitativ verbessern. In der
­Schadenregulierung kann etwa pro Einzelschaden
der durch die Prüfgenauigkeit bestimmte Trade-off
zwischen operationalen und medizinischen Kosten
bzw. möglichen Einsparungen ermittelt werden. Wäh­
rend die operationalen Kosten, die auf der Prüfzeit
basieren, eher einfach zu berechnen sind, bedarf es
für den Zusammenhang mit medizinischen Ein­spa­
rungen eines komplexen, datenbasierten Ansatzes.
38
Gigabyte
Munich Re Topics Magazin 1/2015
Byte
Für jeden Schaden kann dann – je nach Komplexität
und Betrugs- und Missbrauchswahrscheinlichkeiten – der optimale Prüfaufwand bestimmt und der
Gesamtprozess effizienter gestaltet werden.
Business Analytics:
Datenschutzkonform und frei von Diskriminierung
Statistische Verfahren erlauben das automatische
Filtern und Auswerten großer Datenmengen. Dass
dabei (Datenschutz-)Gesetze eingehalten werden
und keine unzulässige Diskriminierung einzelner Per­
sonengruppen auftritt, wird selbstverständlich streng
beachtet. Der Gesetzgeber hat wegen möglicher
­Diskriminierung, damals am Beispiel der Kreditver­
gabe, den Einsatz von Scoringverfahren neu geregelt.
Jeder Versicherer braucht eine Big-Data-Strategie
Der enorme Anstieg von zusätzlichen Daten kann –
bei sinnvoller Weiterverarbeitung – einen entschei­
denden Wettbewerbsvorteil mit sich bringen. Auf
jeden Fall können Tarifierung, Underwriting, Scha­
denmanagement oder Kundenservice optimiert wer­
den. Eine geschickte Kombination von Big Data und
Business/Predictive Analytics hilft, Risiken, Kunden­
verhalten und Kundenbedarfe individueller und prä­
ziser zu identifizieren und vorherzusagen, um folglich
maß­geschneiderte Versicherungsprodukte anzubie­
ten. Daher ist es von fundamentaler Notwendigkeit,
dass Versicherungsunternehmen jeglicher Größe für
sich eine Big-Data-Strategie definieren.
Unser Experte:
Fabian Winter ist Diplom-­
Sta­tistiker und befasst sich mit
Big Data Analytics im
Geschäftsfeld Munich Health.
fwinter@munichre.com
Quelle: IBM
BIG Data
Achtung, Datenschutz !
Der Wunsch vieler Unternehmen, die neuen Möglichkeiten
für ihr Geschäft zu nutzen, kann leicht in Konflikt mit den
Persönlichkeitsrechten des Einzelnen geraten. Ein geschärftes
Bewusstsein dafür ist also zentral, damit der hohe Aufwand
nicht am rechtlichen Rahmen scheitert, so Wolfgang Mörlein,
Chief Data Protection Officer bei Munich Re.
Topics: Herr Mörlein, seit der NSAAffäre wird viel über Datenschutz
gesprochen. Ist man in Deutschland
und Europa aufgrund der Vorfälle
sensibler geworden?
Wolfgang Mörlein: In Deutschland
besteht das Bewusstsein dafür spä­
testens seit den 1980er-Jahren, als
um die Zulässigkeit der Volkszäh­
lung gestritten wurde. Doch auf­
grund der riesigen Menge an Daten
besteht heute mehr denn je die
Angst, zum gläsernen Menschen zu
werden. Denn trotz ihrer Menge
und Verstreutheit ist es mittlerweile
relativ einfach, einzelnen Menschen
Daten zuzuordnen. Da kann man sich
schnell ein recht weitgehendes Bild
von einer Person machen. Deshalb ist
die Gesetzgebung in Europa relativ
streng.
Welches sind die zentralen
Regelungen?
In der Europäischen Union regelt seit
1995 die Richtlinie 95/46/EG die
Verarbeitung personenbezogener
Daten. Sie beschreibt Standards, die
in allen Mitgliedstaaten sicher­
gestellt werden müssen. Regelmäßig
ist die Verarbeitung personenbezo­
gener Daten nur dann erlaubt, wenn
die betroffene Person ausdrücklich
und zweckgebunden in die Verarbei­
tung der Daten einwilligt oder eine
Rechtsvorschrift diese vorsieht. In
den nächsten Jahren soll die Richt­
line von einer Datenschutz-Grund­
verordnung abgelöst werden, über
die momentan auf europäischer
Ebene verhandelt wird. Sie soll die
Datenschutzregelungen modernisie­
ren und an die aktuellen – zum Bei­
spiel mit der Nutzung des Internets
verbundenen – Herausforderungen
anpassen. Voraussichtlich werden
die Regelungen damit in gewissen
Bereichen auch strenger werden.
Wie schauen die Rahmenbedingun­
gen in anderen Staaten aus?
In den USA wird beispielsweise ein
anderer Ansatz verfolgt. Dort fokus­
siert man stark auf die heimische
Privatsphäre, berufliche Daten etwa
sind vom Schutz völlig ausgenom­
men. Viele Regionen, Asien oder auch
Südafrika, wo kürzlich ein neues
Datenschutzgesetz erlassen wurde,
orientieren sich allerdings eher an
den europäischen Regelungen.
Was bedeutet die strenge
euro­päi­sche Regelung nun für
Big-Data-­Projekte in der
Versicherungswirtschaft?
Derzeit ist – zumindest in Deutsch­
land – die Verarbeitung von im Inter­
net öffentlich zugänglichen perso­
nenbezogenen Daten in der Regel
zulässig. Zumindest solange man
nicht davon ausgehen muss, dass die
Angaben ohne Zutun der betroffenen
Person verbreitet wurden, zum Bei­
spiel ein vielleicht peinliches Foto
durch einen Dritten über soziale
Netzwerke. Das künftige EU-Recht
wird hier möglicherweise deutlich
restriktiver werden.
Die Daten, die wir von unseren
Zedenten zu ihren Versicherungs­
nehmern oder zu Anspruchstellern
bei Personenschäden bekommen,
sind zum Teil sehr sensibel, gerade
wenn es sich um Angaben zum
Gesundheitszustand handelt. Und
sie sind zweckgebunden, also auf die
Abwicklung der (Rück-)Versicherung
beschränkt. Falls man sie für weitere
Auswertungen nutzen möchte, ist
das per se erst einmal nicht erlaubt.
Dieser Grenzen muss man sich
immer bewusst sein, um nicht gegen
geltendes Recht zu verstoßen. In
manchen Bereichen lässt sich die
Datenerhebung für neue Techniken
und Produkte mit einer gesonderten
Einwilligung des Betroffenen ermög­
lichen, etwa bei der Black Box in der
Kraftfahrtversicherung. Doch in vie­
len Fällen bleibt das schwierig, zumal
für uns als Rückversicherer, der mit
den betroffenen Personen ja regel­
mäßig nicht in direktem Kontakt
steht.
Wie kann man dann trotzdem
Analysen vornehmen?
Anonymisierung, also das Weglassen
von personenbezogenen Daten wie
Namen und Geburtsdatum, ist ein
denkbares Verfahren. Für anonyme
Daten gelten die Datenschutz­
gesetze nicht. Allerdings ist darauf
zu achten, dass auch soziografische
Angaben in ihrer Kombination keine
eindeutigen Rückschlüsse auf Ein­
zelpersonen zulassen dürfen. Denken
Sie etwa an die Kombination Berufs­
angabe und Postleitzahl. In einer
Munich Re Topics Magazin 1/2015
39
BIG Data
Wolfgang Mörlein ist Jurist und seit
vielen Jahren Chief Data ­Protection
Officer bei Munich Re. Einen Schwer­
punkt seiner Tätigkeit bildet die
Begleitung der aktuellen europäi­
schen Datenschutzgesetzgebung.
dünn besiedelten Region kann es
vielleicht nur einen Zahnarzt oder
Ähnliches geben, dessen Name
sich aus anderen Quellen dann pro­
blemlos feststellen lässt. Je größer
die Menge der unterschiedlichen
Da­ten – und hier sind wir wieder bei
Big Data –, desto höher wird die
Wahrscheinlichkeit, dass eine Rück­
beziehbarkeit auf eine bestimmte
Person wieder möglich wird.
Anonyme Daten sind aber nicht für
alle Analysen geeignet. Die Aussage­
kraft der Ergebnisse kann leiden oder
ganz verloren gehen, wenn eine Ent­
wicklung über einen längeren Zeit­
raum beobachtet werden soll, zum
Beispiel ein Krankheitsverlauf. Hier
muss ich wissen, welche Einzeldaten
zusammengehören, sich also auf
eine Person beziehen. Um wen es
sich bei der Person genau handelt,
muss ich allerdings nicht wissen.
Hier kann unter Umständen eine
Pseudonymisierung der Daten helfen.
Und welche Regelungen gelten für
die Pseudo­nymisierung?
Hier verwende ich statt des Namens
beispielsweise eine durchlaufende
Nummer als Zuordnungskriterium.
So gehen wir derzeit vor, wenn wir
für Zedenten deren Bestände unter
bestimmten Gesichtspunkten analy­
sieren. Der Erstversicherer ersetzt
den Namen seines Versicherungs­
40
Munich Re Topics Magazin 1/2015
nehmers durch eine Nummer. Für
uns gelten diese Daten als anonym,
solange sichergestellt ist, dass der
Zuordnungsschlüssel, das heißt,
­welcher Name zu welcher Nummer
gehört, für uns unzugänglich bleibt.
Manche Aufsichtsbehörden sehen
das kritischer, da der Schlüssel ja
grundsätzlich vorhanden ist. Im
Zusammenhang mit sogenannten
dynamischen IP-Adressen wird der
Europäische Gerichtshof (EuGH)
voraussichtlich bald eine Grundsatz­
entscheidung zu dieser strittigen
Frage treffen. Auch die Planungen
für die neuen europäischen Rege­
lungen gehen momentan in die
­Richtung der Meinung der Aufsichts­
behörden und werten pseudonymi­
sierte Daten generell als personen­
bezogen, wenn nur irgendjemand
den Zuordnungsschlüssel besitzt.
Was würde eine solche Neuregelung
für die Versicherer bedeuten?
Das wäre äußerst problematisch.
Gerade dann, wenn Gesundheits­
daten im Spiel sind, müsste vor einer
Analyse jeder einzelne Betroffene
seine ausdrückliche Einwilligung
geben. Dazu besteht für die Betroffe­
nen aber kein besonderer Anreiz und
erst recht keine Verpflichtung. Ver­
mutlich würde allenfalls ein sehr
geringer Teil dem Versicherer eine
solche Einwilligung erteilen. Eine nur
lückenhafte Datengrundlage wäre
für Analysen dann aber wohl nicht
mehr aussagekräftig.
Muss bei der europäischen
Neu­regelung der Richtlinie also
noch nachgebessert werden?
Auf jeden Fall. Munich Re wie auch
der Gesamtverband der deutschen
Versicherungswirtschaft (GDV)
haben die Bedeutung bereits
erkannt. In unserer Lobbyarbeit geht
es darum, dass (Rück-)Versicherer
alle für ihre Tätigkeit notwendigen
personenbezogenen Daten, ebenso
Gesundheitsangaben, auf einer
sicheren Rechtsgrundlage auch tat­
sächlich verwenden dürfen. Zum
­Beispiel sind für Tarifierung und Risi­
komanagement statistische Erfah­
rungswerte als Einschätzungsgrund­
lage unabdingbar. Als Datenbasis
werden in den relevanten Bereichen
zumindest pseudonymisierte Daten
benötigt. Die neuen Vorschriften
müssen diese Datenverwendungen
jeweils ausdrücklich zulassen und
dürfen sie nicht von einer Zustim­
mung des Betroffenen im Einzelfall
abhängig machen. Ansonsten wäre
unter anderem die Aussagekraft der
Statistiken ausgehebelt. Kurz
gesagt: Bei den neuen Datenschutz­
regelungen muss noch eine ausge­
wogenere Balance zwischen dem
legitimen Schutz von personenbezo­
genen Daten und der Notwendigkeit
ihrer Verarbeitung durch die Unter­
nehmen erreicht werden.
Rezension
Mass Torts in Europe –
Cases and Reflections
von Ina Ebert
„Mass Torts“ sind ein Phänomen, das lange Zeit vor allem mit dem US-Recht
in Verbindung gebracht wurde. In den vergangenen Jahren kam es aber
auch in Europa zu Klagen von Hunderten oder Tausenden von Geschädigten, die ähnliche Ansprüche gegen den gleichen Beklagten geltend machten. Auf solche Ver­fahren waren die traditionellen europäischen Rechts­
systeme nicht eingerichtet. Die Studie des Wiener European Centre of Tort
and ­Insurance Law (Ectil) zeigt, wie und mit welchem Erfolg die verschie­
denen europäischen Rechts­ordnungen versuchen, dieser neuen Herausforderung gerecht zu werden.
Um gleichermaßen Theorie und Praxis zu erfassen, verfolgt die Studie dabei
zwei Ansätze: Einerseits werden abstrakt die jeweiligen rechtlichen Rahmenbedingungen und deren Weiterentwicklungen dargestellt: Welche Mechanismen wurden eingeführt, um Ansprüche zu aggregieren und den Gerichten die
Bewältigung der Massenverfahren zu erleichtern? Wie wird festgelegt, welches nationale Recht anwendbar ist und welche Gerichte zuständig sind ?
Zum anderen veranschaulichen neun Fallstudien von Praktikern aus verschiedenen europäischen Rechtsordnungen, wie dieses „law-in-the-books“ gelebt
wird. Die Bandbreite der behandelten Fälle reicht dabei von der Entschädigung
der Opfer von Massenunfällen (Eschede, „Costa Concordia“) bis zu ersten
Erfahrungen mit Class Actions (gegen italienische Banken) und Musterverfahren von Aktionären (Deutsche Telekom). Die Beispiele zeigen, mit welchen
Mass-Torts-Szenarien man sich längst auch in Europa befassen muss.
Die Reformen in Europa gehen weiter: 2013 hat die EU ihren Mitglieds­t aaten
die Einführung von Entschädigungsmechanismen bei Mass Torts („Collective
Redress“) empfohlen, 2014 haben Frankreich und Belgien Class Actions ein­
geführt. Wer wissen will, welche Konsequenzen sich daraus für die europäischen Märkte ergeben könnten, bekommt durch die Ectil-Studie einen guten
Überblick über die bisherigen Erfahrungen mit Mass Torts in Europa.
Willem H van Boom/
Gerhard Wagner (eds):
„Mass Torts in Europe –
Cases and Reflections”,
De Gruyter
Munich Re Topics Magazin 1/2015
41
Marine
In den Wachstumsmärkten
können wir am meisten bewegen
John C. Wilkinson sprach mit Topics über die Ziele des neu
­gebündelten Marine-Bereichs von Munich Re und die Vorteile,
die ­er den ­Kunden bieten kann.
Im Gleichklang – Knowhow und Kapital sind die
zentralen Faktoren auf dem Marine-Markt.
42
Munich Re Topics Magazin 1/2015
Marine
Topics: Welche Gründe waren ausschlaggebend,
das Marine-Geschäft neu zu strukturieren?
An welchen Aspekten lässt sich die neue Ausrichtung
des Bereichs am besten erkennen?
John Wilkinson: Auf dem Marine-Markt herrscht
bekanntlich ein sehr intensiver Wettbewerb. Und bislang waren die Marine-Rückversicherungsexperten
von Munich Re geografisch organisiert und damit im
Haus stark verstreut. Das war nicht optimal, um unser
umfassendes Knowhow in allen Subsparten angemessen zu vernetzen und den Markt bestmöglich zu
bearbeiten. Daher hat der Vorstand im Herbst 2013
entschieden, das Geschäft zu bündeln – mit dem Ziel,
die Produktentwicklung durch die Zusammenführung
der Expertise zu forcieren.
In den vergangenen Monaten haben wir intensiv
­ arüber diskutiert, wohin die Reise gehen soll. Grundd
sätzlich sind wir zwar global ausgerichtet, doch
natürlich wollen wir dezentral arbeiten, um näher an
unseren Kunden vor Ort zu sein. Deshalb haben wir
entschieden, zwei große Underwriting-Einheiten
außerhalb Münchens zu gründen, für den asiatischpazifischen Raum und für Nordamerika.
Was hat sich dadurch geändert?
Das technische Knowhow ist nun das maßgebliche
Merkmal. Insgesamt hat der Marine-Bereich damit
den Charakter eines Kompetenzzentrums mit einer
markt- und kundenorientierten Organisationsstruktur
bekommen. Damit stärken wir die Under­writing
Excellence und verbessern die Servicequalität für
unsere Kunden. Zudem können wir nun unseren Risikoappetit und unseren Kapitaleinsatz im Ganzen
definieren und somit besser steuern.
Wie viele Mitarbeiter gehören unternehmensweit
zum Bereich Global Marine Partnership?
Alles in allem sind wir hier in München rund 70 Leute.
Weitere rund 500 sind über den ganzen Globus verteilt.
Zu ihnen zählen auch die Mitarbeiter von Watkins
und ihr globales Netzwerk. Welche Vorteile bringt
die Zusammenarbeit mit diesen auch unseren
Erst­versicherungskunden?
Sowohl Erst- als auch Rückversicherungswissen in
einer Einheit zu haben, birgt einen enormen Vorteil:
Um innovativ zu sein, muss man nahe am Endkunden
sein. Watkins hat diese Nähe und bietet zudem sehr
viel Knowhow bei Spezial­risiken, etwa bei Terror,
Krieg, Offshore Energy oder Kunstversicherung. Wir
in der Rückversicherung können dieses Wissen nutzen, um dann die passenden Lösungen für unsere
Kunden zu entwickeln. Im Übrigen zeichnet sich meines Erachtens in Spezialbranchen schon seit Längerem ein Umdenken ab, und der Markt entwickelt sich
immer mehr zu einem Kapital- und Knowhow-Markt.
Munich Re hat beides zu bieten.
Ein Schwerpunkt Ihrer Arbeit liegt also auf Asien.
Ja, im asiatisch-pazifischen Raum sehen wir viel
Potenzial, sowohl gesamtwirtschaftlich als auch für
die Assekuranz. Bisher waren viele asiatische Märkte
stark vom Export getrieben, doch ebenso steigt hier
der Konsum einer immer größer werdenden Mittelschicht – die ihren gewonnenen Wohlstand auch
absichern will. Außerdem: Neun der zehn größten
Häfen weltweit liegen in Asien, sechs davon befinden
sich in China! Um diesem Wachstum zu begegnen,
müssen wir vor Ort sein und unsere Kunden dort proaktiv mit innovativen Lösungen unterstützen. Hier
können wir mit unserer Expertise am meisten bewegen und gemeinsam mit unseren Zedenten Produkte
auf den Markt bringen, die auf diesen Wachstumsmärkten noch fehlen.
Sie selbst sind ja ein profunder Kenner des
asiatischen Raums.
Mir liegen diese Märkte natürlich auch persönlich am
Herzen, weil ich viele Jahre meines Berufslebens dort
verbracht habe: Bevor ich 13 Jahre das Geschäft von
Munich Re in Greater China verantwortet habe, war
ich schon für einen Erstversicherer sechs Jahre in
Südostasien und Australien. Ich glaube aber auch,
dass Munich Re insgesamt hier viel anzubieten hat.
Denn sie hat eine lange Tradition in Asien und daher
ein tiefes Verständnis für die Spezifika der lokalen
Märkte.
Munich Re Topics Magazin 1/2015
43
Marine
John C. Wilkinson hat im Juli 2014 die
Verantwortung für den neu strukturierten
Marine-Bereich von Munich Re übernommen. Davor war er 13 Jahre lang für das
Geschäft des Unternehmens in Greater
China verantwortlich.
Sie haben eben Ihre Erstversicherungserfahrung
angesprochen. Kommt sie Ihnen bei Ihrer neuen
Aufgabe zugute?
Selbstverständlich ist es sehr hilfreich, beide Seiten
zu kennen! Doch das Schönste an meiner neuen
Aufgabe ist, dass ich die gesamte Bandbreite meiner
Berufserfahrung anwenden kann. Gerade auch die
Anfangsjahre bei Lloyd’s of London haben mir ein
Verständnis dafür gegeben, wie Syndikate funktionieren. Und das Geschäft aus unterschiedlichen Perspektiven zu betrachten, schärft den Blick für die
Chancen.
­­Also müssen alle Beteiligten an einem Strang ziehen?
Ja, um die Risiken in unserer immer komplexeren
Welt richtig absichern zu können, müssen alle partnerschaftlich zusammenarbeiten. Dieser Gedanke
spielte auch bei der Namenswahl unseres Bereichs
„Global Marine Partnership“ eine Rolle: Wir wollen
deutlich machen, dass wir eine Community sind, und
damit gleichzeitig unsere Reichweite und Zuständigkeit ausdrücken. Zudem soll das Partnerschaftliche
prägend sein für unsere Zusammenarbeit – sowohl
untereinander als auch mit unseren Kunden. Diese
Partnerschaft wollen wir in allen Facetten pflegen.
Was war die größte Herausforderung in der
vergangenen Erneuerung?
Wir wussten, dass wir uns in einem Weichmarkt
bewegen, und mussten unsere grundsätzliche Strategie in der ersten gemeinsamen Erneuerung nicht
massiv verändern. Im Sinne unseres Zyklusmanagements haben wir dabei dort auf Geschäft verzichtet,
wo die Raten unseres Erachtens zu niedrig sind, etwa
im sehr volatilen Offshore-Energy-Geschäft. Doch
44
Munich Re Topics Magazin 1/2015
wenn die Raten im Marine- und Energy-Geschäft wieder angemessen sind, haben wir die Flexibilität und
Marktdurchdringung, um wieder in attraktive Segmente einzusteigen.
Welche Sparten stechen besonders hervor?
Negativ fällt das Hull-Geschäft auf, das seit 18 Jahren
auf Basis der IUMI-Statistiken unprofitabel ist. Daher
ist unser Risikoappetit hier auch traditionell sehr
gering und wir zeichnen es nur in bestimmten Regionen. 2014 haben wir hingegen spontan eine Opportunität in der Untersparte ­„aviation war“ genutzt. Aufgrund der Spezialexpertise wird diese traditionell auf
dem Marine-Markt von Lloyd‘s of London gezeichnet,
und nach vielen schadenfreien Jahren gab es im Vorjahr einige große Schäden, sodass die Raten stark
angezogen haben.
Und wo sehen Sie eine besondere Stärke von
Munich Re?
Im Energy-Geschäft können wir besonders punkten:
Hier steigen die Einzelwerte für neue Produktionsund Förderanlagen massiv. Zugleich unterliegen diese
einem hohen NatCat-Kumulpotenzial. Um sie abzusichern, benötigt man viel Expertise im Risk Assessment sowie bei der Modellierung von Naturgefahren –
und natürlich muss man große Kapazitäten zur
Verfügung stellen können.
Wie beeinflusst der technische Fortschritt allgemein
das Marine-Geschäft?
Der Einfluss ist groß. Das besonders Spannende an
Marine ist ja, dass das Geschäft so vielseitig ist.
Daher wirken sich viele Entwicklungen aus. Eine fundamentale Herausforderung ist, dass die versicherten
Marine
Werte fast ständig in Bewegung sind. Das macht eine
angemessene Kumulkontrolle schwierig. Künftige
Schiffe können bis zu 18.000 Container laden, Tendenz wohl steigend; wenn jeder einen Wert zwischen
50.000 und 70.000 Euro hat, kommt einiges zusammen. Und wenn diese dann in riesigen Häfen neben­
einanderliegen, ist das eine immense Ballung an
Werten. Künftig könnte uns hier zum Beispiel das
GPS-Tracking bei der Kumulkontrolle gute Dienste
leisten. Wenn wir in Zukunft immer genau wissen,
welches Risiko sich wann wo befindet, kann das
unser Pricing wesentlich genauer machen.
Welche Trends werden die Marine-Branche in den
nächsten Jahren beschäftigen?
Logistik ist ein wichtiges Thema, denn der Welt­
handel wird immer umfangreicher. Auch Cyberrisiken
werden eine große Rolle spielen, denn Schiffe, die
künftig eventuell komplett ohne Crew unterwegs
sind, könnten auch zum Ziel terroristischer HackerAngriffe werden. Ebenso nehmen computerge­
steuerte Anlagen in vielen Bereichen, auch in Ölplattformen, zu. Vieles ist in Bewegung, und wir müssen
am Ball bleiben.
­­Spielt Big Data auch eine Rolle?
Ja, natürlich. Wir haben ein Projekt aufgesetzt, in dem
wir Schiffsrouten genauer analysieren, um die Gefahren, die sie bergen, besser zu kennen. Schon allein
Kollisionen ließen sich besser vermeiden, wenn wir
umfassendere Informationen hätten. Bei der Prävention lässt sich noch einiges verbessern.
Ist denn die Prävention bislang nicht gut genug?
Ich denke, das Bewusstsein für Sicherheit und Risikomanagement ist speziell in der Schifffahrt erst in den
vergangenen Jahren deutlich gestiegen und durchaus
noch ausbaufähig. Denken Sie nur an die „Costa
­Con­cordia“ – man fragt sich, wie das passieren
konnte, dass ein Einzelner auf einem Schiff entscheidet, die übliche, sichere Route zu verlassen. In puncto
Sicherheitsvorkehrungen und Entscheidungsstruk­
turen kann die Schifffahrt etwa vom Cockpitmanagement im Luftverkehr noch lernen.
Munich Re Topics Magazin 1/2015
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kolumne
Volkswirtschaft durch die Risikobrille
Kanada: Viel Potenzial,
auch f­ ür Europa
Michael Menhart, Chefvolkswirt von Munich Re
mmenhart@munichre.com
Aus europäischer Perspektive wird
Kanada jenseits der ­Diskussion um
das Freihandelsabkommen CETA
zumeist eher wenig beachtet. Zwar
ist es als Mitglied der G7 auf der
weltpolitischen Bühne als einer der
großen Industriestaaten präsent,
doch der große Nachbar USA ver­
stellt oft den Blick auf die Be­­deu­
tung und Potenziale Kanadas.
Dabei hätte Kanada Beachtung verdient: So ist die kanadische Volkswirtschaft besser durch die Finanzund Wirtschaftskrise der Jahre
2008/09 gekommen als jeder
andere G7-Staat. Auch danach war
die wirtschaftliche Dynamik höher
als in den anderen großen Industrieländern. Die Wachstumsdynamik
war allerdings stark getragen vom
privaten Konsum und der Bautätigkeit auf dem Wohnungsmarkt, was
sowohl die private Verschuldung als
auch die Immobilienpreise deutlich
steigen ließ.
Die Investitionsquote lag in Kanada
mit gut 23 Prozent des BIP im Jahr
2013 deutlich über dem Durchschnitt
der Industrieländer (von knapp 20
Prozent), obgleich die Investitionen
zuletzt nur verhalten zugelegt haben.
Günstige Finanzierungsbedingungen und solide Unternehmensbilanzen sollten die Bereitschaft zu investieren aber wieder erhöhen. Dies
wäre ein wichtiger Garant für die
wirtschaftlichen Perspektiven der
kommenden Jahre. Auch die vergleichsweise soliden Staatsfinanzen
lassen trotz notwendiger Konso­
lidierungen mehr Spielraum als in
anderen Ländern.
46
Munich Re Topics Magazin 1/2015
Sollte eine wieder stärkere Investi­
tionsdynamik dem Exportsektor
zugutekommen und somit auch der
Außenhandel – vor allem RohstoffExporte, aber auch Ausfuhren von
Industriegütern – wieder eine größere Bedeutung für das BIP-Wachstum erlangen, wären dies weitere
gute Voraussetzungen für ein nachhaltiges Wirtschaftswachstum.
Kanada ist langfristig ein
attraktiver Partner für Europa,
nicht nur bei der Energie­
versorgung.
Risiken für diesen Ausblick bestehen
vor allem, weil Kanada immer noch
stark von ökonomischen Entwicklungen in den USA abhängt. So würde
sich ein plötzlicher Anstieg der USZinsen entsprechend auf die Zinsen
in Kanada auswirken, mit mutmaßlich negativen Folgen für den Immobilienmarkt und die (relative hohe)
private Verschuldung. Auch bleibt
die direkte Abhängigkeit von der USKonjunktur hoch, weil die USA der
mit Abstand wichtigste Handelspartner sind. Dies bietet allerdings auch
Chancen für den Fall, dass die USWirtschaft stärker als erwartet wachsen sollte.
Die Abhängigkeit vom Handel ist
besonders im Bereich der Energie­
exporte offensichtlich, denn hier sind
die USA bislang der einzig nennenswerte Abnehmer. Und während
Kanada seine Rohöl-Ausfuhren in der
letzten Dekade steigern konnte (und
inzwischen rund ein Drittel der USImporte abdeckt), ging der Export
von Gas vor dem Hintergrund des
„shale gas“-Booms in den USA spürbar zurück. Wenn die Prognosen
stimmen, dass die USA nach 2020
Nettoexporteur von Gas sein werden,
dann dürfte sich dies auch weiterhin
dämpfend auf die kanadischen
­ nergieexporte auswirken.
E
Kanada reagiert auf diese Herausforderungen unter anderem mit Plänen
für eine Ölpipeline an die Westküste
und für Flüssiggasterminals,
wo­durch Exporte in die energiehungrigen Volkswirtschaften Asiens möglich würden. Im Vergleich dazu fallen
die Pläne zur Ausweitung von
Energie­exporten nach Europa bislang bescheiden aus. Im Kontext der
geplanten Vertiefung der Handels­
beziehungen zwischen Kanada und
der EU könnte sich hier jedoch eine
Perspektive bieten, die Lieferung insbesondere von Gas nach Europa mittelfristig deutlich auszubauen. Für
beide Seiten wäre dies von Vorteil:
Europa könnte seine Abhängigkeit
von russischem Erdgas verringern,
Kanada hätte einen verlässlichen
Abnehmer und könnte den Kreis seiner Energiehandelspartner stärker
diversifizieren als bei einer Aus­
weitung der Exporte nur in Richtung
Asien.
Kanada steht vielleicht oftmals im
Schatten der USA – aber insbesondere bei Rohstoffen und Energie ist
es ein attraktiver Partner für den Rest
der Welt.
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12. 12. 2014
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