Kurzgeschichte
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Kurzgeschichte
Kurzgeschichte Die Kurzgeschichte tritt im 20. Jahrhundert als kurze Prosaform in Konkurrenz zur Novelle. In ihr wird eine alltägliche Begebenheit erzählt, die einen charakteristischen Ausschnitt aus dem Leben der handelnden Figuren darstellt. (Deswegen hat man das Lesen einer Kurzgeschichte auch mit dem Aufspringen auf einen fahrenden Zug verglichen.) Ihre Wirkung entfaltet sich aus der Verdichtung des Geschehens, der Herausstellung des Alltäglichen als etwas Besonderen und aus ihrem meist lakonischen Sprachstil. Die auf das Wesentliche ausgerichtete Handlung der Kurzgeschichte ist klar und linear strukturiert. Das Erzählen setzt unvermittelt ein und führt mit dem ersten Satz oft mitten in die Geschichte hinein. Der Schluss wird offen gestaltet, um die "Mitarbeit" des Lesers anzuregen. Formal ist die Kurzgeschichte gekennzeichnet durch Aussparungen bei der Zeit-, Raum- und Figurendarstellung. Statt ausführlicher Beschreibungen dominieren Andeutung und Skizzenhaftigkeit. In Deutschland wurde die Kurzgeschichte durch den Einfluss amerikanischer Autoren nach 1945 sehr populär. Vor allem Ernest Hemingway, der als Meister der amerikanischen short story gilt, wurde deutschen Schriftstellern wie Heinrich Böll, Alfred Andersch oder Wolfgang Weyrauch in der unmittelbaren Nachkriegszeit zum Vorbild. (Einladung zur Literaturwissenschaft. Ein Vertiefungsprogramm zum Selbststudium: http://www.uni-due.de/einladung/index.php?option=com_content&view =article&id=231%3A5-5-kurzgeschichte&catid=40%3Akapitel-5&Itemid=55) Das Wort Kurzgeschichte ist eine Lehnübersetzung des amerikanischen Gattungsbegriffs short story, ist aber mit diesem nicht deckungsgleich, da die deutschsprachige Kurzgeschichte gegen andere etablierte Formen der erzählenden Kurzprosa (z. B. Novelle, Anekdote, Kalendergeschichte) abzugrenzen ist. Insbesondere die Dominanz der Novelle verhinderte eine frühe Entwicklung der Kurzgeschichte im deutschsprachigen Raum. Erst nach 1945 setzte eine produktive Rezeption der amerikanischen short story ein, wobei die jungen deutschen Schriftsteller sich vor allem von Ernst Hemingway beeinflussen ließen. 1) Geschichte/Entstehungsbedingungen Die Geschichte der deutschsprachigen Kurzgeschichte ist sehr jung und beginnt erst mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Diese Geschichte hat mit der literarischen Situation in Deutschland nach dem Dritten Reich zu tun. Kurz gesagt, bot sich mit der Kurzgeschichte eine Gattung an, die 'unbelastet' war, die ideologisch noch nicht missbraucht war. Man suchte nach einem literarischen Neuansatz, und diese Suche war verbunden mit der Suche nach neuen literarischen Formen. Man wollte sich von der Vorkriegs- und Kriegsliteratur distanzieren und nahm vor allem von der pathetischen, nationalsozialistischen Dichtung Abstand. Die Kurzgeschichte bot sich an, eine neue, unbelastete Sprache zu finden und übernahm damit eine Pionierfunktion. Sie war eine Gattung, die den Forderungen nach dem literarischen 'Kahlschlag' am ehesten nachkam. 'Kahlschlag' bezeichnet eine Waldfläche, auf der alle Bäume gefällt worden sind bzw. das Schlagen/Fällen von Bäumen in einem Wald; im vorliegenden, literaturhistorischen Zusammenhang bedeutet 'Kahlschlag' den radikalen Neuanfang; das bedeutet natürlich auch, dass man sich mit der Vergangenheit nicht mehr auseinandersetzen muss. Alfred Andersch sprach, um die Situation der Literatur nach 1945 zu kennzeichnen, von der 'Stunde Null'. Ein frühes Zeugnis für diese Position ist Wolfgang Weyrauchs (1907-1980) Feststellung in seiner berühmten Anthologie "Tausend Gramm. Sammlung neuer deutscher Geschichten": "Die Männer des Kahlschlags [...] wissen, oder [...] ahnen es doch mindestens, daß dem neuen Anfang der Prosa in unserem Land allein die Methode und die Intention des Pioniers angemessen sind. Die Methode der Bestandsaufnahme. Die Intention der Wahrheit. Beides um den Preis der Poesie. Wo der Anfang der Existenz ist, ist auch der Anfang der Literatur." (Wolfgang Weyrauch: Tausend Gramm. Sammlung neuer deutscher Geschichten. Hamburg 1949, S. 194-219, hier: S. 217.) Weyrauch behauptet aber nicht allein, dass die Gattung Kurzgeschichte diejenige Gattung ist, die in der damaligen historischen Konstellation der Situation der Literatur und der Autoren am ehesten entsprach. Er insistiert auch auf einer Erkenntnisfunktion ("Wahrheit"!) der Literatur und unterscheidet verschiedene Kategorien Schriftsteller: "Die einen schreiben das, was nicht sein sollte. Die anderen schreiben das, was nicht ist. Die dritten schreiben das, was ist. Die vierten schreiben das, was sein sollte. Die Schriftsteller des Kahlschlags gehören zur dritten Kategorie." (Ebd.) Wichtig für die Verbreitung der Kurzgeschichte war die Gruppe 47. Ihr gehörten Schriftsteller an, die bekannte Kurzgeschichtenautoren waren (Heinrich Böll, Wolfdietrich Schnurre, Alfred Andersch, Martin Walser). Die Gruppe 47, 1947 von Hans Werner Richter gegründet, war eine Gruppe von Kritikern und Schriftstellern, die die westdeutsche Literatur etwa 20 Jahre lang beherrschte. Kritiker und Schriftsteller trafen sich in unregelmäßigen Abständen und lasen auf Einladung Richters aus unveröffentlichten Texten vor. Seit 1950 wurde der "Preis der Gruppe 47" verliehen, der einer der renommiertesten Literaturpreise in der BRD werden sollte. Preisträger und -trägerinnen waren u.a. Günter Eich, Heinrich Böll, Ilse Aichinger, Ingeborg Bachmann, Martin Walser, Günter Grass, Johannes Bobrowski, Jurek Becker). Ästhetisches Programm dieser Gruppe war der Verzicht auf Poetisierung. Die Schriftsteller wollten eine schmucklose, präzise, schlichte Beschreibung der aktuellen Situation in einer realistischen, zeitgemäßen Sprache. 2) Themen Die Themen der Kurzgeschichte änderten sich im Laufe der Zeit und waren einem inhaltlichen Wandel unterworfen. Charakterisierte die Kriegsthematik die Kurzgeschichten bis in die 50er Jahre (z.B. Alltagsszenen aus kriegszerstörten Städten), so fanden danach auch andere aktuelle Themen Eingang: Arbeit, Politik (Kulturpolitik), Umwelt, zwischenmenschliche Beziehungen. Aber auch die späteren Kurzgeschichten zeichnet aus, dass sie einen engen Bezug zur Zeitgeschichte herstellen. Sie sind gegenwartsbezogen, gesellschaftlich engagiert und treffen eine moralisch-politische Aussage. 3) Formale Eigenschaften Hans Bender, ein wichtiger Kurzgeschichtenautor der deutschen Nachkriegsliteratur, nannte die Kurzgeschichte einmal ein "Chamäleon der literarischen Gattung" (Hans Bender: Ortsbestimmung der Kurzgeschichte. In: Die amerikanische Kurzgeschichte. Hrsg. von Hans Bungert, Darmstadt 1972, S. 333-354, hier: S. 335) Man könnte diese Aussage so verstehen, dass sich die Kurzgeschichte als Genre jeder gattungsspezifischen Festlegung entzöge. Das wollte H. Bender freilich nicht sagen. Seine Behauptung reflektiert vielmehr den Sachverhalt, dass die Kurzgeschichte historisch gesehen (im Unterschied zum Roman, zur Novelle) eine junge literarische Gattung ist und daher eine Gattungsdefinition schwerfällt. Je jünger die Gattung, desto höher ist der Legitimationsbedarf. Der Begriff deutet an, dass Kürze eine zentrale Eigenschaft der Gattung ist. Kürze ist hier nicht nur quantitativ (vom geringen Umfang), sondern qualitativ zu verstehen: Kürze meint sprachliche Verdichtung, konzentrierte Gestaltung. Verdichtende/intensivierende Formmittel: - ausschnittsweise/fragmentarische Darstellung eines Geschehens - Abruptheit des Erzählanfangs; unvermittelter Erzähleinsatz (in medias res) - zeitliche Sprung-, Raffungs- und Überlagerungstechniken - Figurenarsenal beschränkt sich auf 2-3 Personen - pointierte Dialogisierung; kurze, knappe Dialoge - parataktischer Satzbau - Rätselcharakter des Titels - knapper, nüchterner Erzählstil Der Ausschnittcharakter der Kurzgeschichte – es handelt sich oft um eine literarische Momentaufnahme – kam einer Generation entgegen, die nur über Schockerlebnisse verfügte, und die diese Erlebnisse nicht in einen großen Zusammenhang bringen konnte. Diese Generation stellte sich die Frage, wie erzählt werden soll bzw. kann. Die Grundlagen des eigenen Schreibens wurden in der Nachkriegszeit neu überdacht und neu reflektiert: Beschrieben werden kann nur, was der einzelne erlebt hat. Daher wird in Kurzgeschichten selten über ein Geschehen reflektiert, es werden nicht übergreifend Zusammenhänge dargestellt. Generell gelten folgende Merkmale für die Kurzgeschichte: a) Die Kurzgeschichte steht in ihrer historischen Entwicklung in engem Bezug zur deutschen Nachkriegsliteratur: Wichtige Impulse enthielt sie von der angelsächsischen short story. b) Die Kurzgeschichte ist im Ansatz realistisch, d.h. sie versucht, Stoffe aus der Wirklichkeit zu nehmen und diese Wirklichkeitserfahrung literarisch zu gestalten. Das schließt aber nicht aus, dass nicht auch Träume oder Phantasien, also innere Dimensionen der Wirklichkeit, die äußere sichtbare Dimension der Wirklichkeit ergänzen können. c) Die Kurzgeschichte ist eine literarische Form von höchstem künstlerischem Anspruch. Da sie im Unterschied zu anderen traditionellen epischen Gattungen (Roman, Novelle, Erzählung) Sachverhalte nicht ausführlich darstellen kann, muss sie mit Verknappung, Aussparung, äußerster Konzentration arbeiten. Oft wird das Wichtigste durch einzelne Wörter oder Sätze gesagt bzw. angedeutet. Es handelt sich um eine Technik der sprachlichen Konzentration. d) In der Kurzgeschichte wird meist ein bestimmter Zeitpunkt, ein bestimmter Lebensausschnitt, eine bestimmte Situation dargestellt. Die Gesamtheit einer Lebensgeschichte oder Lebenserfahrung ist auf einen entscheidenden Augenblick komprimiert. Eine belanglose Geste, eine alltägliche Situation, ein beiläufiges Zeichen erschließen schlagartig die gesamte Dimension der Wirklichkeit. e) Was die Struktur des Erzählens in der Kurzgeschichte betrifft, so entspricht der abrupte Erzähleinstieg nicht einem abrupten Ende. Anfang und Ende sind nicht gleichartig aufeinander zugeordnet. Vielmehr ist die Kurzgeschichte trotz ihres häufig unvermittelten Beginns so aufgebaut, dass die Erzählbewegung sich auf einen Kulminationspunkt, auf eine Pointe zu bewegt. Mit diesem Kulminationspunkt nimmt das Geschehen oft einen unerwarteten Umschwung, durch den das im Text mitgeteilte Geschehen einen neuen Sinn erhält. f) Oft herrscht eine eindeutige Erzählperspektive vor. - Ich-Erzähler - ein allwissender Erzähler g) Die Themen stammen aus der empirisch möglichen Realität (im Unterschied zu Fabel, Parabel, Legende, Märchen). Allerdings wird manchmal auch ein Spiel mit Fiktion und Wirklichkeit getrieben. Heinrich Böll brachte der Kurzgeschichte eine große Hochachtung entgegen, seine Einschätzung sei abschließend zitiert: "Es gibt nicht die Kurzgeschichte. Jede hat ihre eigenen Gesetze [...]. Ich glaube, daß sie im eigentlichen Sinn des Wortes modern, das heißt gegenwärtig ist, intensiv, straff. Sie duldet nicht die geringste Nachlässigkeit, und sie bleibt für mich die reizvollste Prosaform, weil sie auch am wenigsten schablonisierbar ist. Vielleicht auch, weil mich das Problem 'Zeit' sehr beschäftigt, und eine Kurzgeschichte alle Elemente der Zeit enthält: Ewigkeit, Augenblick, Jahrhundert. Es ist ein ganz verhängnisvoller Irrtum, wenn etwa ein Redakteur zu einem Autor sagt: Schreiben Sie uns doch mal eine Kurzgeschichte. Sie können das doch ... Es kann Jahre dauern, ehe ich mit einer Kurzgeschichte zu Rande komme, das heißt, ehe ich sie hinschreiben kann [...]." (Zitiert nach Horst Bienek: Werkstattgespräche mit Schriftstellern. München 1968, S. 168-174, hier: S. 170.) (nach: http://www.hum.uit.no/ger/kafka/Kurzgeschichte1.htm)