Das HVBE-Dossier 1

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Das HVBE-Dossier 1
HVBE
März 2006
Heimverband Bern
VaHS - Bern
INSOS-Bern
Tradition und Verbindlichkeit
Unter Tradition verstehen wir im Allgemeinen den Vorgang, etwas so zu
tun, wie es die Menschen vorhergehender Generationen getan haben.
Inwiefern kann eine Tradition Verbindlichkeit beanspruchen? Und wie
kann eine Tradition bewahrt werden?
Kurt Schori erläutert diese im Zusammenhang mit Traditionen zentralen
Fragen und präsentiert interessante
Erkenntnisse.
PD Dr. Kurt Schori ist Theologe und
Religionswissenschafter. Er lehrt und
lebt in Bern.
Rudolf Bultmann, ein berühmter Theologe
des letzten Jahrhunderts, bestimmte Tradition als weitergegebene Erinnerung an die
Vergangenheit. Im Allgemeinen werden wir
dazu neigen, unter Tradition den Vorgang
zu verstehen, etwas so zu tun, wie es unsere Väter oder Mütter getan haben, und sich
an das zu halten, was sie gelehrt haben.
Zum Wesen der Tradition gehört der
Wunsch nach historischer Kontinuität, das
Wissen, dass wir ohne die Erfahrungen und
Erkenntnisse vorhergehender Generationen
nicht sein könnten und die Einsicht, dass
wir die Geschichte der Menschheit nicht
von vorne beginnen können.
Wenn eine Tradition diskussionswürdig
wird, dann deshalb, weil uns entweder ihre
Berechtigung fragwürdig geworden ist,
oder weil wir sie im Gegenteil zu wenig
beachtet sehen. Ihre Verbindlichkeit lässt
nach, sie wird uns oder anderen fragwürdig. Eine Tradition, die nicht in Frage gestellt ist, löst keine Diskussionen aus, sie
erscheint niemandem fragwürdig, wird
oftmals kaum bemerkt. Sie organisiert das
Zusammenleben, setzt Akzente und wird
befolgt, manchmal ohne dass den teilnehmenden Menschen bewusst wird, dass sie
in einer Tradition stehen. Wir feiern Geburtstage, und niemand stört sich daran;
wir bearbeiten Materialien, weil «man es so
macht», wir fällen Urteile, weil wir nicht
anders können.
In diesem Sinne
könnte man auch
davon sprechen, dass
Tradition praktisch
identisch ist mit der
Kultur, in der wir
leben. Wir gehören
einer bestimmten
Kultur an, und im
Rahmen dieser Kultur
haben wir gelernt, wie «zu leben ist»: wir
essen mit Messer und Gabel, wir grüssen
uns mit einem Händedruck, wir feiern unsere Geburtstage und andere Jahreszeitenfeiern wie Weihnachten oder Ostern, wir bearbeiten Stein oder Eisen auf diese oder
jene Weise. Das alles ist Tradition.
Wenn Traditionen zur Diskussion stehen,
dann meistens im Hinblick auf die Frage ihrer Verbindlichkeit. Inwiefern kommt einer
Tradition oder bestimmten traditionellen
Formen, Verhaltensweisen oder Texten Verbindlichkeit zu? Inwiefern kann eine Tradi-
Editorial
Alter Wein in neuen Schläuchen?
Diese Metapher ist wohlbekannt und begegnet uns in diesem Heft im Artikel von
Kurt W. Meier. Bleiben wir doch kurz dabei:
Mit der zweiten Ausgabe des HVBE Dossiers überreichen wir Ihnen quasi einen
neuen Schlauch. Sein Inhalt ist – wie man
heute in der Fachsprache der Winzer sagt –
eine Assemblage. Also ein Mix von neueren
und auch älteren Provenienzen. Mit dem
Motto «Tradition und Verbindlichkeit –
Werte wahren durch Veränderung?!» greift
die Dossier-Redaktion, zusammen mit den
Autorinnen und Autoren der Beiträge dieser Nummer, ein spannendes und immer
wieder hoch aktuelles Thema auf. Dr. theol.
Kurt Schori hat zum Thema «Tradition»
eine wissenschaftliche Abhandlung geschrieben und diese für uns der Dimension
eines Leitartikels angepasst. Dafür danken
wir ihm herzlich.
Im Gegensatz zum HVBE-Info, welches die
Aufgabe eines aktuellen News-Letters zu
erfüllen hat, darf das HVBE-Dossier weit
mehr. Da es thematisch nicht unter Zeitdruck steht, soll und kann es «entschleunigend» wirken. Es werden darin Themen
aufgegriffen, die latent präsent sind. Sorgfältig recherchierte Beiträge sowie ausge-
leuchtete und aufgedeckte Hintergründe
gestatten tiefgründigeres Informieren.
Der Heimverband
Bern HVBE freut sich,
Ihnen, liebe Leserin
und lieber Leser, das zweite Dossier in
seinem neuen Kleid zu überreichen und
wünscht Ihnen damit viel Vergnügen und
eine interessante Lektüre.
Johannes Schwarz, Geschäftsführer HVBE
tion so etwas beanspruchen? Und mit welchen Gründen kann auf der anderen Seite
ihre Verbindlichkeit in Frage gestellt werden? Und für wen kann diese Verbindlichkeit in Frage gestellt werden?
Zugespitzter noch stellt sich dieselbe Frage
in allen pädagogischen Kontexten. Denn
hier entscheiden oft Erwachsene über die
Kindern zugemuteten oder zur Verfügung
gestellten Traditionen. Es gibt dabei immer
wieder Situationen, in welchen bestimmte
Traditionen in Misskredit geraten – so etwa
die Tradition der Körperstrafe oder überhaupt des Strafens; es gibt aber ebenso
auch immer wieder Situationen, in welchen
auf eine bestimmte Tradition zurückgegriffen wird, die lange Zeit nicht in Mode war –
etwa auf die Tradition der Reformpädagogik. Und es gibt insbesondere auch immer
wieder den Streit um Traditionen, um ihre
Fragwürdigkeit, um ihren Wert und um die
jeweiligen Begründungen für das eine oder
andere. In den allermeisten Fällen oder Situationen aber besteht die Tätigkeit des
Pädagogen/der Pädagogin doch darin, die
Kinder mit bestimmten Traditionen vertraut
«Im Herbst (05) wird bei uns darüber abgestimmt, ob alle Geschäfte in den grösseren
Bahnhöfen und in den Flughäfen am Sonntag geöffnet sein dürfen und Arbeit somit
am Tag des Herrn zulässig ist. Eine ökumenische Arbeitsgruppe diskutiert, ob der
Sonntag offizieller Ruhetag bleiben soll»
(Ref. Presse 15 / 15. April 2005, S. 5) – so
berichtete in diesem Zusammenhang die
Reformierte Presse. Mit grösster Selbstverständlichkeit begründen viele Interessenvertreter die Ablehnung der zusätzlichen
Ladenöffnungen am Sonntag mit dem Hinweis auf die Bibel und meinen damit, dass
dort die Sonntagsruhe geboten sei. Gemeint sind ebenfalls die 10 Gebote. Aber
die 10 Gebote, auf die man sich in diesem
Falle beruft, sind nicht diejenigen, die wir
im 2. und 5. Buch Mose finden, sondern
allenfalls die 10 Gebote in Luthers Katechismus. Dort ist nämlich allgemein von der
Heiligung des Feiertags die Rede – und so
auch des Sonntags. In der Bibel aber ist von
der Sabbatruhe die Rede und nicht von der
Sonntagsruhe – und das ist in mehrerer
Hinsicht nicht dasselbe.
sich für die meisten Christen und Christinnen dann das Feiertagsgebot mit der Pflicht
zum Besuch des Sonntagsgottesdienstes
verknüpft hat – und es kann ebenso nicht
wundern, dass in Umfragen gerade dieses
der 10 Gebote als das am wenigsten zeitgemässe benannt wird – wegen des sonntäglichen Kirchgangs und nicht wegen der
«Sabbatruhe».
Vom Streit um Tradition
Beispiel: Sonntag
«Eine der unumstrittensten Traditionen und
zugleich eine, die unser alltägliches Leben
massgeblich und tiefgreifend bestimmt, ist
der Sonntag zusammen mit dem Rhythmus
unserer Woche. Woher stammt diese Tradition? Welche Verbindlichkeit kommt ihr zu?
Um welchen Wertestreit geht es dabei?
In drei Evangelien wird die Szene erzählt, in
welcher Jesus mit seinen Jüngern am Sabbat Ähren liest. Er wird daraufhin von jüdischen Gelehrten angegriffen, weil er sich
nicht an die Tradition halte. Die jüdischen
Gelehrten können sich dabei auf eine gewichtige Tradition berufen, nämlich auf die
10 Gebote, in welchen steht, dass der Sabbat geheiligt werden solle und dass an diesem Tag alle Arbeit ruhen solle. Darüber
setzt sich Jesus mit seinen Jüngern hinweg.
Eine ganze theologische Tradition hat aufgrund dieser und ähnlicher Szenen Jesus als
einen grossen Traditions- und Kultkritiker
verstanden, ohne zu beachten, dass Jesus
für die Begründung seines Verhaltens ebenfalls das Alte Testament zitiert. Bei der Frage nach dem Bezug auf eine Tradition geht
es offenbar auch um Genauigkeit, eine Einsicht, die es nicht immer leicht hat, sich
Geltung zu verschaffen.
Das Beispiel steht für vieles: Man beruft sich
auf die Bibel, aber man meint dann nicht
das, was in der Bibel steht, sondern etwas,
das sich daran anlehnt und was daraus in
der kirchlichen Tradition geworden oder
gemacht worden ist. Manchmal ist es auch
nur das, wovon man gerne hätte, dass es in
der Bibel stünde. In Luthers kleinem Katechismus lautet das Gebot folgendermassen:
Du sollst den Feiertag heiligen … Wir sollen
Gott fürchten und lieben, dass wir die Predigt und sein Wort nicht verachten, sondern dieselbigen heilig halten, gerne hören
und lernen. Hier hat das Gebot der Sabbatruhe eine interessante Wendung genommen. Unter dem von Luther gegebenen
Vorzeichen kann es nicht wundern, dass
Im biblischen Sabbatgebot ist vom Gottesdienst oder von einer Begehung des Gottesdienstes nicht die Rede, auch nicht von
Gebeten, Predigten, Opfern, Synagogenbesuchen oder Ähnlichem. Inhalt und Ziel des
biblischen Gebotes sind die Unterbrechung
der Arbeit und die gemeinsame Ruhe.
Zwischen Bibel und Katechismus sind also
mehrere Verschiebungen geschehen. Es kann
also nicht einmal davon die Rede sein, dass
die zehn Gebote von Christen und Christinnen für verbindlich gehalten werden.
Wenn wir uns um Traditionen und um ihre
Gültigkeit streiten, dann steht in Wirklichkeit immer das zur Diskussion, was wir für
ein gutes, gelungenes und sinnvolles Leben
halten – und zwar im Zusammenhang einer
konkreten Frage, einer Situation, einer politischen oder historischen/wissenschaftlichen
Debatte. Hinter den Interessengruppen zur
Verlängerung (bzw. Ablehnung der Verlängerung) der Ladenöffnungszeiten stehen
unterschiedliche Konzepte eines gelungenen Lebens.
Deshalb ist die Debatte um Traditionen die
nie endende Fortführung der Debatte um
das, was wir mit unserem Leben, das ein
Leben in Gemeinschaft ist, wollen, und
worin wir es für uns und andere in Erfüllung gehen sehen. Die politische Debatte
ist eine religiöse Debatte, ebenso wie die
religiöse eine politische Debatte ist.
HVBE-Dossier / März 2006 / Seite 2
zu machen, und sie setzen sich mit Vehemenz für die von ihnen bevorzugten oder
favorisierten Traditionen ein. Wie verbindlich sind also Traditionen?
Das Bewahren von
Tradition
Neben der Frage nach der Verbindlichkeit
gibt es noch eine andere zentrale Frage im
Zusammenhang mit Traditionen: die Frage
danach, wie eine Tradition bewahrt werden
kann. Das Problem, das durch die Frage
nach der Bewahrung einer Tradition entsteht, ist vielleicht sogar noch grösser als
das Problem, das durch die Frage nach der
Verbindlichkeit entsteht. Traditionen sind
uns in Formen überliefert. Das gilt für Texte
ebenso wie für Rituale und ganz einfache
Formen des Verhaltens, die unser Zusammenleben regeln. Jedoch bedeutet die Kopie dieser Formen nicht die Erhaltung und
Bewahrung einer Tradition. Wenn wir ein
zweites Mal dasselbe zu einer bestimmten
(An)Gelegenheit sagen, dann ist es in Wirklichkeit nicht mehr dasselbe wie beim ersten Mal, ja oftmals wird es durch die neue
Situation in sein Gegenteil verkehrt. Wenn
wir eine Feier, die wir beim ersten Mal als
treffend und hilfreich erlebten, ein zweites
Mal durchführen, dann wird sie unter Umständen schal und fade. Wir kennen diesen
Effekt von unserem Gefühl, dass traditionelle Formen leer werden können, dass sie zu
Hülsen verkommen, die wir einfach durchführen, aber die uns nichts mehr bedeuten
– eine Erscheinung, mit welcher die Kirchen
zu kämpfen haben. Der Grund für diese
Erscheinung ist der, dass die Kopie keine
Garantie für das Bewahren einer Tradition
ist. Historische Kontinuität kann nicht durch
das Festhalten an Formen gewährleistet
werden; Kopie und Wiederholung sind
nicht dazu geeignet, Traditionen zu bewahren. Viele Rituale werden in unterschiedlichen Konfessionen und Religionen gleich
oder ähnlich durchgeführt, und ihre Bedeutung kann höchst verschieden sein. Überhaupt keine äusserlichen Formen können
Kontinuität herstellen; sie bieten keine Gewähr dafür, dass Einsichten und Erfahrungen wirklich erhalten bleiben. Darum besteht eine wichtige Frage darin, worin die
Identität einer Tradition besteht und wie sie
kontrolliert werden kann. Woran können
wir so etwas überhaupt messen?
In vielen Fällen ist deshalb der Wunsch nach
Veränderung ein Wunsch nach Kontinuität.
Die Tatsache, dass uns eine Form suspekt
geworden ist, bedeutet noch keinen Traditionsabbruch – er bedeutet oftmals den
Wunsch nach Wiederherstellung historischer Kontinuität. Das Unbehagen einer
Tradition gegenüber signalisiert eine Differenz zwischen unserem Verständnis von
menschlicher Existenz und der Form und
Wirkung dieser Tradition.
Diese Zuspitzung zeigt uns auch, welches
eigentlich der Akt der Tradierung ist: er besteht im aktuellen Entscheid für das, was
wir durch unser Verhalten, Reden oder
Behaupten zur Geltung bringen möchten.
Tradition steht niemals im Gegensatz zur
eigenen Stellungnahme, sondern wird
durch diese fortgesetzt.
Und der Streit um Traditionen wird geführt
und entschieden durch unsere aktuelle Suche, unsere Diskussionen und unseren
Kampf um Werte und Verhaltensweisen. Zu
sagen, dass uns das Überlieferte nicht interessiere, käme auf dasselbe heraus, als würden wir sagen, dass uns das Leben, die Erfahrungen und die Einsichten der uns vor-
angegangenen Generationen nicht interessieren würden – dies obwohl nur ihre Erfahrungen, ihre Sorge und ihre Suche für uns
dazu geführt hat, dass wir selber Menschen
geworden sind.
Die Frage der Tradition ist: Was gilt es zu erhalten? was preiszugeben? was zu modifizieren? Eine Entscheidung in dieser Frage
enthält immer eine Stellungnahme für das,
was man erhalten will – und gegen das,
was man preisgeben will. Ob wir sagen:
«Unsere Väter haben es so getan und darum tun wir es jetzt auch so», oder ob wir
im Gegenteil sagen: «Unsere Väter haben
es so getan, darum tun wir es jetzt anders»
– ist für das Problem der Tradition unerheblich. In beiden Fällen haben wir es mit einer
Entscheidung zu tun. Wir können daraus
folgern: Das Kriterium der Tradition ist nicht
das Beibehalten einer Folklore, sondern –
um es formal zu bezeichnen – das Gute,
das wir erkennen müssen und für welches
wir uns zu entscheiden haben. Darum
schreibt Paulus in 1. Thess 5,21: Alles aber
prüfet, das Gute behaltet. Dieser Prüfungsvorgang ist die Überlieferung. Der Akt des
Tradierens vollzieht sich im Entscheiden.
Inhalt
Editorial: Alter Wein
in neuen Schläuchen?
Tradition und Verbindlichkeit
Vom Streit um Tradition
Beispiel: Sonntag
Tradition Herbstausflug
Wie neu ist Neues?
Zwischenruf: Traditionen – Werte
wahren durch Veränderung
1
1
2
4
6
7
Verbindlichkeit von Werten
im Veränderungsprozess 8
Von Tradition, Veränderung und
Wertebasis im Tabor 9
Werte vertreten in Zeiten
der Veränderung 10
Tradition und Verbindlichkeit.
Werte wahren durch
Veränderung?! 11
HVBE-Dossier / März 2006 / Seite 3
Tradition Herbstausflug
Die Kontinuität einer Tradition wird
nicht allein durch die Wiederholung
von Ritualen gewährleistet. Es
braucht eine Reflexion, welche die
früheren Einsichten für die aktuelle
Zeit auslegt und bedeutsam macht.
Reflexionen zur Tradition des Herbstausflugs von Charlotte Gruner.
Charlotte Gruner hat Heilpädagogik,
Pädagogik und Psychologie an den
Universitäten Fribourg und Bern studiert. Sie leitet das Zentrum für Entwicklungsförderung und pädiatrische
Neurorehabilitation Z.E.N. der Stiftung Wildermeth in Biel.
Seit 1977 werden alle Herbstausflüge mehr
oder weniger ausführlich dokumentiert.
Eine Tradition organisiert das Zusammenleben und setzt Akzente, schreibt Kurt
Schori. Das trifft auf den Herbstausflug zu:
Er ermöglicht, nebst anderen Anlässen wie
z.B. der Herbsttagung oder dem neu ins
Leben gerufene Dienstags-Apéro-Gespräch,
dass die Mitglieder des Heimverbands Bern
zusammentreffen können. Und er setzt
einen Akzent im Jahresverlauf, jeweils an
einem Donnerstagnachmittag im Herbst.
Die Tradition des Herbstausflugs gibt es seit
vielen Jahren. Dadurch entspricht sie dem
Wunsch nach Kontinuität.
Horneggli im Saanenland, Feriendorf
Twannberg, Moléson im Greyerzerland, Kirche Amsoldingen, Kulturmühle Lützelflüh
und Gotthelf, Schloss Burgdorf und Pestalozzi, Kunstmuseum Bern, Murtensee, Klosterkirche St. Urban, Schloss Thun, Pilgerweg Schwarzenburg-Heitenried, Windkraftwerk Mont Crosin … Das ist nur eine kleine
Auswahl der Ausflugsziele, und die Liste im
Ordner der Geschäftsstelle bestätigt es: Der
Herbstausflug ist eine langjährige Tradition
des Heimverbands Bern bzw. des Verbands
bernischer Heimleiter, wie der Verband früher hiess. Ins Leben gerufen wurde diese
Tradition im Jahre 1948, im Gründungsjahr
des Verbands.
Beim Heimverband Bern hat die Tradition
des Herbstausflugs bisher noch nie zur
Diskussion gestanden.
Das Dossier bietet die Gelegenheit, sie jetzt
einmal zu begutachten. Es geht mir dabei
nicht um die Frage, ob der Herbstausflug
noch seine Berechtigung hat, sondern um
eine Überprüfung im Sinne von Kurt Schori:
Ich stelle die Frage, ob wir die Einsichten
und Haltungen, wie sie ursprünglich in die
Tradition des Herbstausfluges hineingetragen wurden, heute noch als Wahrheit, als
gut erkennen können und uns bewusst
dafür entscheiden wollen.
Es waren mehrere
Einsichten, die vor
vielen Jahren zur
Einführung eines
Herbstausfluges
führten:
$ Ein regelmässig
stattfindender
Anlass schafft die
Möglichkeit für
das gesellige Beisammensein aller Leiterinnen und Leiter im Kanton Bern.
$ Die Geselligkeit (Natur erleben, Gespräche führen, gemeinsam essen und
trinken) wird ergänzt und bereichert
durch ein oder mehrere kulturelle Angebote.
$ Der Anlass führt Leiterinnen und Leiter
aus verschiedenen Heimkategorien
(Altersheime, Kinder- und Jugendheime,
später Erwachseneninstitutionen) sowie
aus allen Regionen des Kantons zusammen.
$ Die pensionierten Leiterinnen und Leiter
– die so genannten Veteranen – dürfen
an diesem geselligen Beisammensein teilhaben.
Wie haben sich diese Einsichten in der Tradition des Herbstausflugs im Verlaufe der
Zeit niedergeschlagen? Meine Analyse der
Herbstausflüge von 1977 bis 2004 ergibt
folgendes Bild:
HVBE-Dossier / März 2006 / Seite 4
Seit 1977 fand jedes Jahr ein Herbstausflug
statt, jeweils am Donnerstag, bis 1979 Anfang September und ab 1980 Ende August.
Mit einer Ausnahme (1977) begann der
Ausflug jeweils zu Beginn des Nachmittags
und dauerte bis in den Abend hinein. Ein
Apéro und ein gemeinsames Nachtessen
bildeten den Abschluss, zweimal wurde
zudem noch zum Tanz aufgespielt.
Die Ausflugsorte verteilen sich auf alle Regionen des Kantons Bern. Am häufigsten
führte der Herbstausflug in die Region Bern
sowie Richtung Thun und Emmental, doch
es wurden auch immer wieder Orte in den
so genannten Randregionen auserwählt.
Bei den kulturellen Angeboten steht die
Besichtigung der Schlösser im Kanton Bern
an erster Stelle. In Augenschein genommen
wurden auch Kirchen, Museen und Kulturstätten aus früherer Zeit (Kulturmühle Lützelflüh, Jakobsweg u.a.). Meistens wurde,
passend zum Kulturobjekt, ein Vortrag
angeboten. Einmal stand ein Theaterstück
(Der Raubritter von Koppigen) und einmal
ein Film (Pestalozzis Berg) auf dem Programm. Musikalisch wurde Klassik, Tanzmusik und Berner Chansons (Troubadours)
angeboten.
Kultur als Angebot wurde auch im weiteren
Sinne verstanden. Dreimal war der Herbstausflug mit dem Besuch eines industriellen
Betriebes verbunden (Camille Bloch, Windkraftwerk Mt. Crosin, Tabakindustrie in
Lurtigen), und mehrmals besuchten die
Teilnehmenden eine kantonale Institution
aus ihren Reihen.
dersetzung fokussierte fast durchwegs auf
die Vergangenheit, selten auf die Gegenwart oder die Zukunft.
Ich gehe mit Kurt Schori einig: Die Kopie
der Form garantiert nicht, dass frühere Einsichten und Wahrheiten bewahrt werden.
Die Wiederholung von Ritualen kann die
gewünschte Kontinuität nicht leisten. Es
braucht eine Reflexion, welche die früheren
Einsichten für die aktuelle Zeit auslegt und
bedeutsam macht. Meine Reflexion zur
Tradition des Herbstausflugs lautet:
Die Tatsache, dass die Mitglieder des Heimverbandes Bern einmal pro Jahr das gesellige Zusammensein pflegen, finde ich sehr
wertvoll. Das finden andere offenbar auch,
sonst hätte diese Tradition nicht seit Jahren
Bestand.
Die Gestaltung unseres Herbstausflugs ist
aus meiner Sicht jedoch erneuerungsbedürftig. Die bisherige Form hat den Reichtum an Ideen zu wenig berücksichtigt und
ist dadurch im Laufe der Zeit einseitig
geworden. Geselligkeit kann in so vielen
Variationen gepflegt werden! Der Zug zum
Beispiel ist ein wunderbares Fortbewegungsmittel, denn da lässt es sich vortrefflich palavern oder einen Jass klopfen. Auch
gemeinsame Wanderungen bieten eine
ideale Möglichkeit, mit Kolleginnen und
Kollegen vertieft ins Gespräch zu kommen.
Zur Abwechslung eignen sich Aktivitäten,
die uns in Bewegung bringen: Velofahren,
Nordisch Walking, Schneeschuhwandern,
Volleyball spielen und anderes mehr. Dabei
kann es durchaus verschiedene Angebote
für verschiedene Bedürfnisse geben. Das
kulturelle Angebot setzt neue Akzente mit
A capella, einer Artistentruppe oder mit einem aktuellen Film («Rhythm is it!»). Und
ein Déjeuner sur l’herbe, ein Buffet canadien oder ein Apéro riche sind attraktive Alternativen zum Nachtessen im Restaurant.
Seitdem die Tradition des Herbstausfluges
ins Leben gerufen worden ist, hat sich einiges verändert: Durch den Wandel in der
Heimlandschaft gehören dem Verband heute eine grosse Anzahl unterschiedlichster Institutionen an. Eine variantenreiche Tradition ist die beste Grundlage, damit möglichst
viele Mitglieder die Gelegenheit zum geselligen Beisammensein wahrnehmen. Die Frage der Tradition ist: Was gilt es zu erhalten?
was zu modifizieren? was preiszugeben?
Ich schlage vor: Setzen wir unsere Tradition
fort, indem wir Antworten auf diese Fragen
suchen – z.B. mittels einer Umfrage – , das
Gute behalten und uns mutig für Neues
entscheiden.
Das wichtigste Fortbewegungsmittel beim
Herbstausflug: der Car! Ein einziges Mal
brachte der Zug die Reisenden zu ihrem
Ausflugsziel (ganztägiger Ausflug ins
Saanenland mit Wanderung auf das Horneggli). Ab und zu wurde die Reise mit
einer Schifffahrt oder Spaziergängen aufgelockert.
Die Zusammenfassung meiner Analyse: Die
Tradition des Herbstausflugs hat ihre Form
zumindest seit 1977 bewahrt. Zeitpunkt
und Ablauf sind über all die Jahre gleich
geblieben. Die Ausflugsziele und die damit
verbundenen kulturellen Angebote sind auf
den ersten Blick vielfältig. Beim genauen
Hinsehen lassen jedoch auch sie eine gleich
bleibende Tradition erkennen: Es sind vor
allem historische Kulturstätten, welche gewürdigt wurden. Die kulturelle AuseinanHVBE-Dossier / März 2006 / Seite 5
Wie neu ist Neues?
Wollen wir die Last einer 40-jährigen
Pionierphase mitschleppen? Oder konsolidieren wir nun, was schon lange
hätte konsolidiert werden müssen?
Wandel baut nicht Neues aus Neuem
– er modelliert Altbekanntes und gestaltet eine neue Erscheinungsform.
Kurt W. Meier, Leiter der Behindertenwerke Oberemmental in Langnau und
Präsident INSOS Schweiz meint: Erneuerung und Anpassung hat wohl
die längste Tradition aller Traditionen.
Die einzige Konstante ist der Wandel!
Ist Neues wirklich neu?
Die Autobahnen durch die Alpen sind neu.
Verkehrswege über die Alpen als Mittel für
militärische und wirtschaftliche Zwecke haben Tradition. Das Meiste, was ich kreiere,
gestalte, auf- und ausbaue, anpasse, anders
ordne und organisiere, ist nicht neu, basiert
auf überliefertem Wissen. Nur lege ich mir
selten Rechenschaft darüber ab.
Ich verbinde den Begriff der Tradition gerne
mit Folklore, Festhalten an Althergebrachtem, mit Widerstand gegen Neues und gegen Veränderung. Verbinde ich nicht mit
Tradition Werturteile wie verstaubt, altmodisch, eingemottet, passiv, in Form von
Folklore mit unterhaltsam, lustig, nett, farbig und gut für den Ochsensaal? Dabei hat
die stete Erneuerung und Anpassung wohl
die längste Tradition aller Traditionen. Die
einzige Konstante ist der Wandel! Und dieser Wandel baut nicht Neues aus Neuem,
Wandel modelliert Altbekanntes, gestaltet die Erscheinungsform etwas anders. Alter Wein in neuen Schläuchen eben.
jage ich? Wie komme ich zu meiner Fellkleidung? Wie baue ich mir ein Haus und wie
mache ich mir ein Feuer ohne dieses Wegwerffeuerzeug? Die zivilisatorische und kulturelle Menschheitsentwicklung ist kaum
linear verlaufen; sicher aber nicht von unten
nach oben, gleichsam Sprosse um Sprosse
auf angestellter Leiter.
Unsere Probleme sind relativ
Die Kantonalisierung (NFA) überträgt die
Finanzierung der Behinderteninstitutionen
vom Bund an die Kantone. Das bedeutet
für uns – einem kleinen und unbedeutenden Teil unserer Gesellschaft – eine ziemlich
grosse Umgestaltung, verbunden mit erheblichen Unsicherheiten. Wir müssen unsere Verbände organisatorisch den föderalistischen Strukturen anpassen. Wir wollen
darauf hinwirken, dass möglichst nicht 26
Finanzierungsmodelle aus dem Boden
schiessen. Wir wollen verhindern, dass ein
hoher Qualitätsstandard in der Begleitung
und Förderung von Menschen mit geistiger
und körperlicher Behinderung abbröckelt
und ausgedünnt wird. Wir wollen auch
nicht stagnieren, unsere Aufgabe weiter
entwickeln können. Und da ist noch die
reale Gefahr, die vom Neoliberalismus aus-
geht: Für das wirtschaftliche Fortkommen dieser Nation ist
unser Aufwand nicht
nötig, ist unsere Aufgabe kaum mehr
Wert als ein verbales
Feigenblatt. Für uns
hat unsere Aufgabe
eine andere Bedeutung: Sie ist Teil unserer sozialen Wohlfahrt
und wichtig für den sozialen und geistigen
Frieden, für die Menschlichkeit und Fürsorglichkeit, auf die wir Schweizer uns
etwas einbilden.
Den Dachboden aufräumen
Nach dieser langen Vorbereitung komme
ich zum Kern meiner Fragen: In den letzten
40 Jahren hat sich in der Finanzierung der
Institutionen eine bewährte Tradition herausgebildet. Was ist davon gut, brauchbar
und es wert, bewahrt zu werden? Wir
haben aber auch eine vierzigjährige Pionierphase durchlaufen, die längst einer Konsolidierung bedürfte, die zu unerklärbaren, unlogischen und ungerechten Ungleichheiten
geführt hat. Wollen wir das auch konservieren? Die Forderung ist einfach: Trennen wir
Wo bleibt die Wertschätzung?
Wenn ich verstehen will, woher die Missachtung des Altbekannten rührt, dann frage ich, wie ich mich in der Gegenwart sehe
und beurteile: Tue ich nicht so, als wäre ich
der Erste und Einzige, der auf dem Kamm
der Welle reiten kann? Meine ich nicht verwegen, ich sei mit meinen Zeitgenossen der
gegenwärtige End- und Höhepunkt der
menschlichen Entwicklung, die vor zwei
Millionen Jahren ihren Anfang genommen
hat mit Ahnen, die sich noch gegenseitig
lausen mochten und die mit primitivsten
Werkzeugen ihr Dasein bewältigten? Nachgedacht und eingefühlt: Würde ich, die Zeit
bereisend, bei diesen Vorfahren stranden:
Vermöchte ich mit ihnen mitzuhalten? Wie
HVBE-Dossier / März 2006 / Seite 6
die Spreu vom Weizen! Oder: Die Guten
(Regeln) ins Töpfchen, die Schlechten ins
Kröpfchen! Nicht das Was, sondern das
Wie macht es uns schwer. Unsere Köpfe
sind nicht frei. Wir sind verhaftet in der Tradition, haben oft weder Kraft noch Geduld,
offene Fragen stehen zu lassen und vertrauensvoll abzuwarten, dass die Antwort später sich zeigen wird.
Mut zur Entrümpelung
Je mehr Interessierte jedoch bei einer solchen Entrümpelung mitwirken, desto weniger Ware wird schliesslich entsorgt, selbst
wenn keine Messies dabei sind. Unsere
«Ware» ist nicht materieller Natur. Wir
müssen uns entscheiden. Unsere Köpfe sind
nicht frei. Die Projektgruppe arbeitet. Wollen wir nackt starten? Wollen wir die Last
einer 40-jährigen Pionierphase mitschleppen? Oder konsolidieren wir nun, was
schon lange hätte konsolidiert werden
müssen? Wie oben erwähnt: Wandel baut
nicht Neues aus Neuem – er modelliert Altbekanntes und gestaltet eine neue Erscheinungsform. Das braucht Teamarbeit, nicht
Rezepteschreiber und Besserwisser.
Beispiel: Kosten des Leistungsangebotes der Institution
Ein grosser Mangel des bisherigen Systems
war der fehlende Bezugsrahmen. Das
schaffte für die Institutionen einen grossen
Handlungsfreiraum, aber auch Unsicherheit, weil z.B. willkürlichen Sparübungen
nicht wirklich Paroli geboten werden konnte. Da liegt so ein riesiger Haufen an nicht
beweisbaren Argumentationen, Erklärungen, Begründungen für den Subventionsbedarf bezüglich der Kosten des Leistungsangebotes der Institution. Oder viel kürzer
und einleuchtender: Bisherige Leistungsverträge wogen quasi den Mist, den der Esel
ausschied, und schlossen daraus auf die
Menge Futter, die ihm zu verabreichen war.
Keiner fragte, ob und welche Leistung der
Esel wirklich erbrachte oder ob er nicht
bloss in Trägheit Fett ansetzte.
Fazit
Meine Schlussfolgerung entlehne ich der
kreativen Idee von Johannes Schwarz: Wir
brauchen Moderatoren, die sich nicht im
Gespinst unserer Bräuche, Gewohnheiten
und Überlieferungen verfangen haben, die
uns vielmehr mit unbequemen Fragen konfrontieren und uns ermutigen, zu neuen
Ufern aufzubrechen. Dafür werfen wir nicht
alles weg und gehen nackt, aber wir brauchen auch nicht den ganzen angesammelten Krempel mitzuschleppen! Oder?
Kurt W. Meier, Präsident INSOS CH
Zwischenruf
Traditionen – Werte wahren durch
Veränderung
«Frech und keck soll der ‹Zwischenruf›
sein», bittet der Redaktor. Und doch
geht es um ein ernsthaftes Thema.
Was sage ich denn bloss? Zu Traditionen? Über Werte? Von Veränderung?
Was mache ich denn nur?
Als erstes tue ich, was man in solchen Situationen immer tut: man googelt. «Googeln» ist ein neues Verb. Eine Veränderung
der Sprache sozusagen. Sprache verändert
sich. Das Schöpfen von Wörtern hat in der
deutschen Sprache Tradition. Und ebenso
hat es Tradition, dass Sprachtraditionalisten
den sinkenden Wert der Sprache ja gar den
Untergang der deutschen Kultur beklagen.
Mein liebster Sprachwandel – Sprachwandel ist fast so schlimm wie Wertewandel –
ist der Bedeutungswandel des ungeliebten
geliebten Wörtchens «geil».
Im Mittelalter bedeutet «geil» schlicht
«fröhlich».
Später hat man in der Botanik den Begriff
«vergeilen» verwendet. Bohnenkeime vergeilen, wenn sie im Dunkeln gehalten werden. Fröhlich suchen sie das Licht und werden lang und dünn. Nicht nur die Berner
Buben erinnern an die vergeilten Bohnenkeime im Biologieunterricht, wenn alles an
ihnen zu lang und zu dünn wird.
Eines Tages begannen die grossmauligen Jungs das kleine
Wörtchen zu lieben.
Denn plötzlich zeigte
es grosse Wirkung. Fröhlich provozierten
die Buben damit ganz in der Tradition der
Jugend. Sogleich diagnostizierte die alte
Generation den Wertezerfall der Jugend –
bis die Eltern schliesslich klein bei gaben,
und das Wort selbst in den Mund nahmen.
Erst zögerlich, verschämt und nur wenn
kein Jugendlicher es hören konnte. Dann
immer häufiger und immer lieber.
Heute brauchen es alle. «Geil» ist eben geil.
So hat das liebe ungeliebte Wort heute
wieder die alte Bedeutung. Munter bezeichnet es alles, was wir schön und gut
finden. Lustvoll drückt es unser Fröhlichsein
aus.
Werte wahren durch Veränderung? Dies gilt
wenigstens für die Bedeutung des kurzen
Wortes mit scharfer Würze.
Naomi Jones, Germanistin und
Assistentin OdA Soziales Bern
HVBE-Dossier / März 2006 / Seite 7
Verbindlichkeit von Werten
im Veränderungsprozess
Heike Meyer Egli, Univ. Dipl. Behindertenpädagogin, zeigt an einem Beispiel
aus dem Bereich Kinder und Erwachsene mit schweren Mehrfachbehinderungen auf, wie aus der Verteidigungshaltung für Bestehendes handlungsleitende Visionen entstehen
können.
Die Rahmenbedingungen unserer Arbeit
verändern sich. Die Zunahme der Anzahl
von Kindern und Erwachsenen mit schweren Mehrfachbehinderungen, die Platzierungsprobleme von Menschen mit Behinderungen und herausforderndem Verhalten,
die bevorstehende Umsetzung des NFA und
Sparmassnahmen, um nur einige Faktoren
zu nennen, fordern uns heraus. Auf den
ersten Blick mögen uns diese Einflüsse bedrohen und entsprechend eine Verteidigungshaltung für Bestehendes auslösen.
Doch wir wären nicht gut beraten in dieser
Position zu verharren oder uns auf das
Reagieren auf Einflüsse von Aussen festzulegen.
Wenn es in diesem Kontext darum gehen
soll, Werte durch Veränderung zu wahren,
so heisst das Gebot der Stunde in vielfacher
Hinsicht, selbst aktiv zu werden, institutionsübergreifend zu denken und Synergien
zu nutzen, wie es so schön neudeutsch
heisst. Ebenso wichtig scheint es aber im
Rahmen von Fachdiskussionen zu klären,
von welchen Werthaltungen wir ausgehen
wollen und welche Richtung die bevorstehenden Veränderungsprozesse haben sollen, auf welche Zukunft wir uns also zubewegen wollen.
Kleinere Institutionen, die insbesondere
Menschen mit Autismus oder auch geistigen Behinderungen betreuen, die zeitweise
herausforderndes Verhalten zeigen, stehen
in besonderer Weise im Brennpunkt der beschriebenen Prozesse. Vertreterinnen und
Vertreter aus diesem Kreis, erweitert um
Fachexperten, Verbandsvertretern und einem Moderator, haben sich angesichts dessen zu einer Arbeitsgruppe zusammengefunden, die sich zum Ziel gesetzt hat, gewissermassen handlungsleitende Visionen
zu entwickeln.
Die bisher diskutierten Themen haben
sich aus den aktuellen Problemen und
Herausforderungen
abgleitet:
1. Ist eine spezialisierte Versorgung
des oben benannten Personenkreises zukünftig sinnvoll oder sollte
eine systematische Durchmischung von
Menschen mit leichten, mittleren und
schweren Behinderungsformen angestrebt werden?
2. Wenn man von der spezialisierten Betreuung abrückt, wie sichert man dann
den unverzichtbaren Erhalt und die Weiterentwicklung von speziellem Knowhow? Welchen Beitrag könnte in diesem
Zusammenhang ein Kompetenzzentrum
leisten? Erscheint diesbezüglich die Erarbeitung von pädagogisch bzw. agogisch
orientierten Qualitätsstandards nicht unverzichtbar?
3. Wie kann man die Vernetzung im Zusammenhang mit Krisenprävention und
-intervention verbessern?
4. Welche Modelle der Veränderung von
Trägerschaftsstrukturen sind denkbar
und sinnvoll?
Die bisherige Zusammenarbeit war spannend, ergebnisreich und von viel Bereitschaft zu Veränderungen gekennzeichnet,
die der individuellen Weiterentwicklung von
Menschen mit Behinderungen dienen. Wir
wollen die Arbeit im 2006 in einer grösseren Runde fortsetzen und laden interessierte Institutionsleitungen und Trägerschaften
daher zur Mitarbeit ein.
Kontaktadresse:
Nathaliestiftung
Beratungsstelle Autismus und Geistige
Behinderung
Worbstrasse 316
3073 Gümligen
Telefon 031 958 16 49
beratungsstelle@nathaliestiftung.ch
Stichwort: Diskussionsplattform
HVBE-Dossier / März 2006 / Seite 8
Von Tradition, Veränderung
und Wertebasis im Tabor
Die Kinderheimat Tabor in Aeschi wird
dieses Jahr 85 Jahre alt. Zu den Grundpfeilern des Arbeitsverständnisses gehört die christliche Ausrichtung. Wie
geht das Tabor mit christlichen Traditionen um, in einem gesellschaftlichen
Umfeld, wo die Wertebasis sich immer
säkularer und individueller gestaltet?
«Traditionen sind wie Laternen in der Nacht,
die den Weg erhellen – nur Betrunkene
halten sich daran fest!» (Unbekannt).
Dieses etwas provokative Zitat macht deutlich, welche Bedeutung eigentlich Traditionen, auch christliche Traditionen, haben.
Niemand würde die Berechtigung und die
Sinnhaftigkeit einer Strassenlaterne in der
Nacht bestreiten. Allerdings stellt sich die
Frage, wie ich die Tradition bewerte. Gibt
die Tradition mir letztendlich wirklich Halt
oder ist sie nur Wegweiser, nur Markierung
auf einem Weg zu einem Ziel? – Traditionen
sind nur Hinweise, keine Inhalte. Hier sind
wir als Institutionen herausgefordert. Welche Inhalte vermitteln wir den Jugendlichen
und woher nehmen wir die Grundlage
dazu? – Wir kommen nicht darum herum,
in unseren Leitbildern und Konzepten wieder vermehrt die grundlegenden Fragen
miteinander zu behandeln. Dies tun wir
bereits in einem Vorstellungsgespräch, was
sich klar bewährt hat und die Zusammenarbeit erleichtert. Je klarer und eindeutiger
diese Basis gestaltet werden kann, umso
einfacher werden auch die Handlungsschritte in der Praxis ausfallen und den
Kindern und Jugendlichen als echte Hilfe
nützen.
Es ist bekannt, dass jede Kopie, die wiederum kopiert wird, an Qualität verliert, bis zur
Unkenntlichkeit. Dies darf bei der Weitergabe von Wertmassstäben nicht passieren.
Deshalb sind wir als erstes als Persönlichkeit
gefragt.
Altbekannt ist die pädagogische Weisheit,
dass echte Veränderung nur über Einsicht
geschieht. Einsicht geschieht aber erst,
wenn eine Ansicht vorhanden ist. Wir
sollen den Kindern als Ansichtsexemplare
dienen. Sie sollen etwas sehen, anfassen,
erleben, spüren, überprüfen und bewerten
dürfen (und damit auch eine andere Meinung einnehmen können). Dabei denke ich
nicht, sie sollten bei uns Perfektionismus sehen. Nein, vielmehr Echtheit oder eben das
Vorbild. Ich meine damit, dass ich nur dann
von Liebe als Wert sprechen darf, wenn diese Liebe beim Kind und Jugendlichen auch
dann durch mich sichtbar wird, wenn nichts
Liebenswertes mehr im Vordergrund steht
und das Verhalten des Kindes wenig oder
keinen Anlass zur Liebe gibt. Es nützt nichts,
wenn ich Versöhnung als Ritual (oder traditionelle Handlung) mit den Kindern einübe,
selber aber nicht den
Mut aufbringe mein
Fehlverhalten beim
Kind oder Mitarbeiter
selber zu entschulden. Ich für meinen
Teil kann diese Werte
nur deshalb leben,
weil ich vom Schöpfer Jesus Christus,
vom Baumeister des Lebens selber, als Original geschaffen wurde.
Wir brauchen Originale und keine Kopien.
Deshalb können, dürfen, ja müssen Traditionen immer wieder überprüft und neu
beurteilt werden. Was nicht heisst, dass sie
immer auch verändert werden müssen –
aber deren Bedeutung erscheint in einer
anderen Gewichtung.
Urs Klingelhöfer, Heimleiter Tabor,
Aeschi b. Spiez
Wir brauchen
Originale
und keine
Kopien!
HVBE-Dossier / März 2006 / Seite 9
Werte vertreten in Zeiten der
Veränderung
Interview mit Magdalena FrickerRoidt, Sozialpädagogin. Sie leitet mit
Ueli Fricker-Roidt, Heilpädagoge und
Sonderschullehrer, gemeinsam und
partnerschaftlich die Friederika-Stiftung, Ausbildungsstätte für Beruf und
Wohnen in Walkringen.
Die Fragen stellte Redaktorin Charlotte
Gruner
Kurt Schori plädiert in seinem Artikel
dafür, unsere Tradition zu überprüfen,
das Gute darin zu erkennen und uns
dafür zu entscheiden. Was löst das bei
dir aus?
M.F.: Im Mai 2006 wird die Friederika-Stiftung 100 Jahre alt. Durch die Auseinandersetzung mit der hundertjährigen Geschichte
ist mir bewusst geworden, dass unzählige
Traditionen die Friederika-Stiftung geprägt
haben und prägen. Viele Menschen haben
mitgetragen, mitgestaltet, entwickelt, verändert und Entscheide getroffen. In diesem
Sinne hat mich der Artikel sehr angesprochen. Traditionen überprüfen, ständig im
Prozess bleiben, dabei aber genügend
Strukturen zur Orientierung geben – das ist
ein enormer Balanceakt. Wenn Verbindlichkeiten nachlassen oder Veränderungen unbewusst geschehen, erinnert mich das an
ein Mobile: Die Gewichte haben sich verschoben, es hängt schief und beginnt sich
zu verwickeln.
Da wird es nötig zusammenzusitzen und
den Wunsch nach Veränderung zu klären.
Ist ein gemeinsamer Prozess in wertschätzender Auseinandersetzung möglich und
können wir eine verbindliche Haltung erarbeiten ohne zu viele Regelungen, stärkt
dies die vertrauensvolle Zusammenarbeit
für den gemeinsamen Auftrag. Das erlebe
ich dann als das «Gute».
Beschreibe eine Tradition aus deiner
Institution: Wie organisiert sie das
Zusammenleben? Welche Akzente
setzt sie?
M.F.: Ich habe die Mitarbeitenden gefragt,
was sie als Tradition empfinden. Sie haben
übereinstimmend geantwortet: Unsere Art,
wie wir miteinander umgehen. Ich möchte
diese «Art von Umgang» an einigen Beispielen beschreiben: Am Montagmorgen
treffen sich alle Mitarbeitenden und alle
Jugendlichen zum Wochenanfang. Wir
grüssen einander, geben uns die Hand und
erleben die erste Stunde der Woche gemeinsam mit Musik und Singen. Die Tradition der Begrüssung mit der Hand setzt sich
jeden Tag fort. An der Wochensitzung nehmen die Leitung und alle Mitarbeiterinnen
und Mitarbeiter teil. Wir wollen weniger
Traktanden mit «Delegierten» besprechen,
sondern die Mitarbeitenden an der Themenbearbeitung beteiligen. Im Berufsbereich ist es Tradition, dass der Arbeitstag
der Lernenden mit einer gemeinsamen
Tagesplanung beginnt und auch gemeinsam abgeschlossen wird. Eine Besonderheit ist der Wohnschulnachmittag:
Am Donnerstagnachmittag arbeiten die
Lernenden nicht an
ihrem Arbeitsplatz,
sondern befassen sich, gemeinsam mit den
SozialpädagogInnen ihrer Wohngruppe, mit
Fragen und Problemen aus dem Alltag und
der Freizeit.
Welche Einsichten und Wahrheiten –
das Gute – sollen mit diesen Traditionen bewahrt und überliefert werden?
M.F. : Ausgangspunkt ist mein Menschenbild, das vom Humanismus geprägt ist: Mir
ist wichtig, dass wir uns selber und andere
bewusst wahrnehmen, dass alle, Jugendliche und Mitarbeitende, eine Stimme
haben, mit der sie sich ausdrücken können
bzw. sich auszudrücken wagen, weil sie
sich akzeptiert fühlen. Individualität und
Gemeinschaft sind ebenbürtige, sich ergänzende Werte. Wegleitend für Beziehungen
in der Lerngemeinschaft sind Wertschätzung, Respekt, Sorgfalt, Verbindlichkeit und
Verantwortlichkeit. Der Wochenanfang, die
Wochensitzung, die Begrüssung mit der
Hand – alle diese Traditionen bieten in
besonderem Mass die Möglichkeit, unsere
Werte und Haltungen zum Ausdruck zu
bringen und zu leben: Wenn wir uns die
Hand geben, gibt uns dies Gelegenheit,
unser Gegenüber wahrzunehmen. Beim
Wochenanfang wird vielstimmig gesungen,
dafür braucht es die Teilnahme aller, jede
Stimme ist wichtig. Der «Einblick» zu Beginn der Wochensitzung bietet Raum, sich
auszudrücken, gehört zu werden und Anteil zu nehmen. Der so gemeinsam erarbeitete Boden stärkt das gegenseitige Vertrauen und ist letztlich die Basis für Entwicklung
und Wachstum, damit wir unseren Auftrag
erfüllen können.
HVBE-Dossier / März 2006 / Seite 10
Seit wann bestehen diese Traditionen?
M.F.: Diese Traditionen gibt es eigentlich
schon lange. Mit unserer Leitungsübernahme im Jahre 1995 haben wir begonnen,
diese Traditionen, das heisst die humanistische Werthaltung im Umgang miteinander,
bewusst zu pflegen. Wir erwarten von den
Mitarbeitenden, dass sie sich mit Themenzentrierter Interaktion auseinandersetzen
(z.B. Besuch eines TZI-Methodenkurses oder
des zweijährigen Projektes TZI und Berufsfeld), damit wir gemeinsam an unserer Umgangskultur arbeiten können. Wir haben
diese nicht neu ins Leben gerufen, sie hat
aber durch uns ein professionelles Gepräge
bekommen.
Wurde die Form der Traditionen in den
vergangenen zehn Jahren überprüft?
Gab es Veränderungen?
M.F.: Es hat immer wieder Anlass gegeben,
die Formen zu überprüfen. Unsere Organisationsentwicklung und das prozessorientierte Qualitätsmanagement, das in unserem Betrieb angewendet wird, haben uns
herausgefordert zu benennen, wofür wir
uns einsetzen wollen. Weil sich Mitarbeitende und Jugendliche getrauen, ihre Meinung zu äussern, kommt der Anlass zur
Überprüfung vor allem von innen, von den
Menschen, die in der Friederika-Stiftung
leben und arbeiten.
Die Form der Traditionen ist bisher kaum
verändert worden. Es sind einfache Grundformen, die viel Platz für Kreativität lassen.
Manchmal sind wir allzu kreativ gewesen
und haben einen zu grossen Aufwand
betrieben, der das eigentliche Ziel fast
verdeckte. Dann ist es nötig geworden, zu
vereinfachen und auf das Wesentliche
zurückzukommen.
Tradition und Verbindlichkeit.
Werte wahren
durch Veränderung?!
Interview mit Richard Weber, Lehrer
und Musiktherapeut. Er leitet seit
1993 zusammen mit Catherine Pellaton die Heilpädagogische Tagesschule
in Biel.
Die Fragen stellte Redaktorin Charlotte
Gruner
Kurt Schori plädiert in seinem Artikel
dafür, unsere Tradition zu überprüfen,
das Gute darin zu erkennen und uns
dafür zu entscheiden. Was löst das bei
dir aus?
R.W.: Zuerst hat mich seine Aussage angesprochen, dass Tradition eigentlich identisch
ist mit der Kultur, in der wir leben. Ich habe
mich gefragt, womit der Begriff «Tradition»
gefüllt werden kann, damit er sich von der
Kultur abhebt. Für mich ist Tradition die bewusst gelebte und reflektierte Kultur. Wenn
Kultur das ganze Leben umfasst, verstehe
ich die Traditionen als kulturelle Elemente,
die uns auffallen und die wir dann auch als
Traditionen definieren.
Ein zweiter Punkt ist ein Gedanke, der mir
beim Lesen spontan in den Sinn gekommen
ist: Ich meine, dass die Wurzeln für unseren
Umgang mit Traditionen in der Jugendzeit
liegen. In dieser Zeit definieren wir unsere
eigene Identität vor allem dadurch, dass wir
uns per se gegen die Traditionen wehren,
die von aussen – von Eltern, Lehrkräften,
und Behörden – an uns herangetragen werden. In diesem Sinne tragen wir, die mit
Kindern und Jugendlichen arbeiten, diese
Auseinandersetzung bereits in uns.
Ich schliesse mich der Empfehlung im Artikel an, Traditionen zu überprüfen: Was ist
uns wertvoll? Was wollen wir aus unserer
Geschichte mitnehmen? Dabei ist es wichtig, eine Balance zu finden zwischen Erneuerung und Kontinuität von Traditionen.
Ich komme zurück auf die Unterscheidung
zwischen Tradition und Kultur: Wenn wir
täglich alles überprüfen, können wir nicht
mehr leben und arbeiten. Veränderungen
sind deshalb nur punktuell möglich. Am
besten ist es, wenn das Hinterfragen von
Traditionen aus dem gelebten Alltag heraus
entsteht.
Beschreibe eine Tradition aus deiner
Institution: Wie organisiert sie das
Zusammenleben? Welche Akzente
setzt sie?
R.W.: Die Heilpädagogische Tagesschule
Biel pflegt seit vielen Jahren die Tradition,
dass alle Schülerinnen und Schüler, alle
Lehrerinnen und Lehrer und die Schulleitung den Morgen
jeweils gemeinsam
beginnen. Wir nennen diese Tradition
«Morgefüür» und
«Morgefiir». Jeden
Morgen treffen wir uns um 8.30 Uhr beim
Feuer in der Mitte des Hauses, singen Lieder und tauschen Informationen aus. Es ist
eine Mischung zwischen Besinnung auf den
Tagesanfang und organisatorischen Elementen. Nachher begehen wir im Saal gemeinsam die Morgenfeier. Sie besteht aus
einem Kulturprogramm, das von Lehrkräften, auch gemeinsam mit Schülerinnen und
Schülern, geplant und durchgeführt wird.
Zum Kulturprogramm (ca. 20 Min.) gehören
verschiedene Elemente: Eingangsmusik,
Rhythmus/Lied (ein Tanz oder ein Lied wird
eingeführt), Präsentation eines Musikstükkes, Sprachteil (Gedicht, Geschichte u.a.),
Bewegung (Eurythmie) und der Schlusskreis. Mit dieser Tradition geben wir unserer
Überzeugung Ausdruck, dass nebst fachspezifischer Förderung durch die einzelnen
Lehrkräfte auch das Gemeinschaftliche
HVBE-Dossier / März 2006 / Seite 11
wichtig ist: die ganze Schulgemeinschaft
macht sich gemeinsam auf den Weg, vergleichbar mit einem Schiff, welches jeden
Morgen in den Ozean startet. Das Bewusstsein der Gemeinschaft ist fundamental, für
die Kinder wie für die Erwachsenen. Nicht
nur die einzelnen Lehrkräfte, auch die
Gemeinschaft als ganzes wirkt, schult und
erzieht.
Welche Einsichten und Wahrheiten –
das Gute – sollen mit diesen Traditionen bewahrt und überliefert werden?
R.W. : Durch den gemeinsamen Tagesbeginn können wir uns jeden Morgen als Gemeinschaft begegnen und wahrnehmen.
Die Form, der Ablauf des Rituals bzw. der
beiden Rituale, bleibt sich gleich. Abwechslung bringen die Inhalte, die Lieder und die
kulturellen Darbietungen. Der täglich wiederkehrende Rhythmus ist wichtig: Er bringt
Stabilität in den Tagesablauf und bietet insbesondere den jüngeren Kindern Sicherheit,
um sich in unserer grossen Gemeinschaft
zurecht zu finden.
Das Feuer ist ein Urelement. Mit diesem
archaischen Symbol sollen alle, Kinder und
Erwachsene, angesprochen werden. Feuer
ist lebendig, zugleich wirkt es beruhigend,
wenn wir im Kreis sitzen und ins Feuer
schauen.
Die verschiedenen Elemente des Kulturprogramms stehen für die Pflege einer
kulturellen Vielfalt in unserer Schule. Wir
üben bewusst die Kultur des Zuhörens.
Ebenso legen wir Wert darauf, dass sich alle
an der Gestaltung des Kulturprogramms
beteiligen.
Ein wiederkehrender Rhythmus findet sich
auch beim Kulturprogramm: Die kulturellen
Darbietungen werden jeweils für die Dauer
einer Woche geplant. An den einzelnen
Wochentagen können sie wiederholt bzw.
vertieft werden.
Seit wann besteht diese Tradition?
R.W.: Die Tradition gibt es seit 1963. Damals hat sich die Heilpädagogische Tagesschule noch in einem Privathaus befunden.
1975 hat sie ihr neues Gebäude, die heutige Schule, welche über einen Raum mit
einer Feuerstelle in der Mitte verfügt, bezogen. Infolge dieser neuen Möglichkeit ist
der erste Teil der Tradition, das Morgefüür
entstanden.
Wurde die Tradition in den vergangenen 20 Jahren überprüft?
Gab es Veränderungen?
R.W.: Seit 1975 hat sich die Form der Tradition nicht mehr verändert. Eine Verände-
rung hat es jedoch bei der Beurteilung der
kulturellen Darbietungen gegeben. Früher
galt das «ungeschriebene» Gesetz, dass
musikalische Darbietungen sich auf klassische Musik beschränken sollen. Das ist heute nicht mehr so. Neu ist auch der Grundsatz, dass man die dargebotene Musik diskutieren darf. Diese Möglichkeit wird genutzt, wobei die Rückmeldungen weniger
den Musikstil als viel mehr die Art der Präsentation betreffen (Dauer, Lautstärke u.a.).
Die Verantwortung für das Kulturprogramm
während einer Woche wird auf einer Liste
festgehalten, auf der sich alle Lehrkräfte
freiwillig eintragen. Das Prinzip der «Freiwilligkeit» ist sehr wichtig für uns. Es braucht
aber hin und wieder Anstösse von Seiten
der Schulleitung, damit die Verteilung funktioniert. Ich möchte diesen Freiraum bewahren, denn nur so kann sich die Kreativität entfalten. Wenn die Gestaltung des
Kulturprogramms verordnet werden muss,
dann ist die Tradition der Morgenfeier für
mich in Frage gestellt.
Veränderungen im Zusammenhang mit unserer Tradition des Morgenfeuers und der
Morgenfeier gehören zum Alltag. Es sind
aber die Inhalte, die kulturellen Darbietungen, die sich verändern, nicht der Ablauf,
die Form. Das ist aus meiner Sicht der
Grund, weshalb die Tradition als Ganzes immer noch und immer wieder für gut befunden und von allen getragen wird.
Beim Nachdenken über unsere Tradition ist
mir ein wichtiger Grundsatz bewusst geworden: Traditionen helfen uns, das Leben
rückblickend zu verstehen und vorwärts
schauend zu gestalten.
Impressum
Herausgeber, Bestelladresse: Heimverband Bern HVBE, Geschäftsstelle Melchenbühlweg 8,
3000 Bern 31, 031 939 15 30, info@heimverbandbern.ch, www.heimverbandbern.ch,
Redaktion: Charlotte Grunder, Johannes Schwarz, Lektorat: Cornelia Schwarzenbach, Naomi Jones
Layoutkonzept: Atelier Eichenberger, Biglen, Satz und Druck: Druckerei Schläfli AG, Roggwil
Bilder: PixelQuelle.de
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