magenDie Redaktion hat gebacken.

Transcription

magenDie Redaktion hat gebacken.
Titelfoto: Benjamin Rennicke
Dreck ist, was das Leben übrig lässt. Die letzte Verwandlung von „heiß geliebt“
zu „weg damit“ oder immer schon das Letzte. Deshalb verstecken, verbrennen,
vernichten wir ihn. Vergangene Abenteuer, verzehrtes Glück, verdaute Geheimnisse
und leere Hüllen – alles kommt in die Tonne. Auf dem Sammelplatz für Ungeliebtes will man keine Schnüffler. Hier stapelt sich, was vergessen werden soll. Aber
nicht nur die Fliegen wissen: Dreck ist eine Frage der Perspektive. Also ist die facette
ausgeschwärmt und eingetaucht und hat dabei so manchen Schatz geborgen.
Über dreißig Autoren, Fotografen und Zeichner steckten ihre Nasen in den Dreck
und fanden skandalöse Geschäfte, gequälte Tiere, eine Stadt im Smog und verschimmelte Kunst. Sie entdeckten Models auf der Müllhalde, einen wunderlich
sauberen Bahnhof, verworfene Utopien, verstaubte Skurrilitäten, den DosenpfandMinister und einen Journalisten, der schon immer gern im Schmutz wühlte. In
der Gosse steckte Glanz, in der Musik alte Töne. Dreck wurde zum Styling, zum
Leckerbissen, zu Poesie und alles zusammen recycelten wir zur neuen facette.
Nach Geld und Liebe, kommt uns jetzt der Schmutz ins Heft. Und weil das
Toben im Dreck den größten Spaß macht, können Sie sich hier auf eine gepflegte
Schlammschlacht freuen. Aber nicht vergessen:
Editorial
Immer sauber bleiben,
die facette
3
inhalt
7
Cartoon von Pedro Stoichita
8
Manifest der Saubermänner Ein Plädoyer für den globalen Hausputz
12Fotos von Marie Goetze
Aus der Gosse
16Sechsmal Müll, sechsmal versteckt
Vegetarier sind Mörder!20Die Flucht aus der Hölle Hühnerstall
Dreck und weg
27Kabinettstückchen
Die Möglichkeit einer Insel
28Interview mit Jürgen Trittin
Ein schlimmes Spiel
30Mehdorns sterile Kulisse gibt Dreck keine Chance
Bahnhof der Eitelkeiten
36Sechsmal Business, sechsmal skandalös
Drecksgeschäfte
40Der „homo hygienicus“ und sein Zubehör
Die Entdeckung der Reinlichkeit
44Interview mit Günter Wallraff
Wallraffen
47Drei Minuten Sport
In großen Buchstaben48Ein Lied von julius
Harte Wahrheit Hollywood50Der facette-Triptipp: Los Angeles
Ungefragt und leise52Interview mit Christoph Janke und einem nachtaktiven Sprayer
Po-dol-ski!
4
inhalt
57Berlin ist auch nicht alles
Fashiondeponie58Modefotos von Benjamin Rennecke
Punk’s not dead
62William T. Vollmanns Roman Huren für Gloria
Gosse, Glanz und Gloria
64Der Teufel trägt Prada, zumindest auf der Leinwand
Wenn die Wölfin heult66Die Wolfmother stecken im Glamrock
Außen hui, innen pfui
68Dieter Roths wucherndes Museum
Das Schimmelreich
70Das anonyme Genie Banksy im Internet
Digitale Hauswand
72Der facette-Warentest: Klobürste
Bürsten Battle
74von Kati Rickenbach
Die Verfolgungsjagd78Ein Gedicht von Nico Woche
Comic
80Die Redaktion hat gebacken
Dreck geht durch den Magen
84Schürzenträger
Auf ’s Kreuz gelegt86Das Rätsel mit schmutzigen Fragen
Impressum77die facette
Bastelecke
5
cartoon
von Pedro Stoichita
7
manifest der
saubermänner
von Malte C. Daniels
Illustration: Philipp Steinbrenner
Das neue Jahrtausend ist schon fast sieben. Und was tut es?
Es macht immer noch in die Windeln. Visionen? Fehlanzeige!
Hier ein Vorschlag: erst mal saubermachen.
Manifest der Saubermänner
Ein Schmutzfink geht um in der Welt,
und überall hinterlässt er seine Spur. Wo
wir auch hinschauen, hinter jeder Ecke
lauert der Dreck. Er breitet sich aus, er
schmuddelt durch unsere Straßen, unsere
Wälder und unser Internet. Selbst in unseren Gedanken hockt er und gammelt
vergnüglich vor sich hin. Er schimmelt
nicht nur in Schlachthöfen oder lässt sich
über unsere Gemüsebeete spritzen, er erscheint auch in der Trefferliste bei Google
und schwebt durch die Atmosphäre. Man
kann da nicht einfach mal durchwischen
und alles blitzt und blinkt. Bringt man
etwas Dreckiges mit etwas Sauberem zusammen, wird in der Regel danach beides
dreckig. Mist.
Bei solchen Aussichten lockt natürlich der
Seitenwechsel. Wie viel attraktiver scheint
10
es, mit Massenverschmutzungswaffen der
Sauberkeitsempfindung den Krieg zu erklären, anstatt täglich den treuseligen Sisyphusdienst zu leisten, die schmutzige
Wirklichkeit unter den Teppich zu kehren
und die Grundpfeiler unserer sauberen
Gesellschaft zu polieren? Aber selbst das
reicht ja schon lange nicht mehr aus. Auf
Dauer, so scheint es, wird die totale Verdreckung des Planeten und damit auch
von allem, was auf ihm zu finden ist, nicht
aufzuhalten sein. Aber die letzten weißgebliebenen Fähnchen zu schwenken und
einfach aufzugeben, ist keine Lösung.
Mitten in diese düstere Vision leuchtet
plötzlich die Erkenntnis: Der Kampf geht
verloren, weil wir noch keine Vision von
globaler Sauberkeit entwickelt haben. Ein
jeder kehrt hinter seiner eigenen Tür. Wir
bitten die Gäste, die Schuhe auszuziehen,
um den Dreck nicht hineinzutragen, und
der Dreck aus der eigenen Wohnung wird
in einem kurzsichtigen Verständnis von
lokaler Sauberkeit nach draußen geschafft.
Ein verhängnisvoller Kreislauf aus Putzen
und Verschmutzen. So wird es draußen
immer dreckiger. Das bringt auf die Dauer
nichts. Denn der Schmutz bahnt sich über
kurz oder lang seinen Weg in die sauberen
vier Wände zurück.
Viel konsequenter wäre es, wenn sich
alle zusammen daran machen würden,
auch draußen endlich einmal sauber zu
machen. Und zwar ein- für allemal! Also
frisch ans Werk: Ozeanboden wischen,
Berge polieren und bitteschön auch im
Wald staubsaugen. Der aufgefangene
Dreck wird dann auf einer Karibikinsel
Manifest der Saubermänner
abgeladen oder gleich der Erde verwiesen.
Danach müsste sich auch keiner mehr die
Schuhe ausziehen, wenn er nach Hause
kommt.
Aber leider und insgeheim wissen wir: Das
Leben selbst verbreitet den größten Dreck.
Wir produzieren beschissene Serien, frönen lasterhaften Leidenschaften und verlieren zudem in jeder Sekunde hunderte
Hautschuppen. Ganz zu schweigen von
dem, was wir Mutter Erde sonst noch auf
die Schultern laden. Daher sollten alle
nicht-sauberen Wesen in Plastikfolie eingeschweißt werden. Das mag temporär zu
Unannehmlichkeiten führen, doch auch
in diesem Fall gilt der Slogan: Frage nicht,
was die Sauberkeit für Dich tun kann,
sondern frage, was Du für die Sauberkeit
tun kannst.
Nach der Endreinigung werden wir dann
in unserer Umweltschutzverpackung
über die Erde knistern und uns an eingeschweißten Schmetterlingen und sauber
verpackten Bergziegen ergötzen. Die vollkommene Reinheit erahnen, die sich hinter dem PVC um unsere Körper schmiegt.
Und dann uns selbst entsorgen, denn die
Fortpflanzung kann man im Ganzkörperkondom erstmal vergessen.
So geschieht es mit jedem Lebewesen, und
am Ende gibt es nur noch das Plätschern
des sauberen Wassers, die erfrischenden
Stürme und ab und an das freudige Piepsen eines putzigen Chinchillas. Denn die
fressen ihren eigenen Kot. Die sind ok. -f-
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aus der gosse
von Marie Götze
dreck und weg
Wirkliche Müllentsorgung gibt es nicht. Gesucht
sind gute Verstecke. Gefunden haben wir sechs.
Illustration: Harald Lustinger
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Dreck und weg
Giftmüllschmuggel
Der Müll: Wenn Müll zu einer Gefahr für die Gesundheit wird,
sprechen Abfallrechtler von „besonders überwachungsbedürftigen
Abfällen“ – ein Hinweis, dass dieser Müll auch gerne mal verloren
geht. Da können dann schnell 500 Tonnen Giftschlamm, gemixt
aus Reinigungschemikalien und Ölrückständen, auf leisen Sohlen Europa verlassen.
Das Versteck: Ein Krisenherd. In Amsterdam
benötigt man 250.000 Euro für die Entsorgung von 500 Tonnen Giftmüll, im ohnehin schon verlorenen Westafrika nur ein
paar einflussreiche Freunde. Logisch, dass
dicht besiedelte Gebiete der Stadt Abidjan
an der Elfenbeinküste jetzt besonders hoch
im Dreck liegen.
Das Gewissen: Bitte was? Hat man mit einer sowieso bösen Öltransportfirma kooperiert, bleibt der eigene Firmenname in der
Berichterstattung unbefleckt. Die Quittung für sieben Todesfälle,
30.000 kranke Menschen und die nachhaltige biologische Zerstörung eines Landstrichs kassiert ein Regierungsmitglied, das
von Demonstranten verprügelt wird. -fUrsula Feuersinger
Spam mit!
Der Müll: Digitale Dummschwätzer. Ominöse Spammer verbreiten aggressiv digitalen Dreck, der unsere virtuellen Briefkästen
verstopft. Der alltägliche E-Müll kostet die Weltwirtschaft jährlich über 25 Milliarden Euro.
Das Versteck: Moderne Kunst. Spam spielt ja am liebsten selbst
Verstecken, indem er sich hinter den Namen anderer
verbirgt. Am besten ihn also anders getarnt weiter verstecken, wie es www.spamrecycling.com anbietet. „Sehen sie zu, wie ihre Spammails zu Kunstwerken recycelt
werden“, heißt es dort. Sendet man seine persönlichen
Massenmails an spam@spamrecycling.com, tritt ein vorprogrammierter Zersetzungsalgorithmus in Kraft, der
durch einige Parameter kontrollierbar ist. Das individuelle Spamkunstwerk kann man sich dann selbst zuschicken und damit den
heimeligen Desktophintergrund verschönern.
Das Gewissen: High-Tech sauber. Ist doch eh alles nur virtuell.
Bezahlt wurde das Projekt von EnBW, die nach eigenen Angaben
schon länger Müll in Energie umsetzt. Und apropos Gewissen:
Recycling lebt vom Mitmachen! -fUrsula Feuersinger
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Dreck und weg
Mode-Recycling
Der Müll: Alte Kleidung, früher heiß geliebt, jetzt lieblos in die
hinterste Ecke der Kommode gestopft. Nur die Hoffnung auf
bessere Zeiten bewahrt sie vor der schnöden Abfalltonne. Denn
vielleicht erleben sie das gleiche Revival wie einst die Röhrenhose
oder der Keilabsatz. Man will sich schließlich später keine Vorwürfe machen, dass man diesen Trend nicht rechtzeitig erkannt
hätte und jetzt ein Monatsgehalt opfern muss. Also steht man vor
dem überquellenden Kleiderschrank und die neue Saison naht.
Das Versteck: Der Sitzsack. So simpel wie effizient bietet er genügend Stauraum für alle Kleidungsstücke, im Schwebezustand
zwischen Müll und Moderne. Man benötigt nur etwas handwerkliches Geschick und ein großes Stück festen Stoff und sogleich
erhält man eine gemütliche Sitzgelegenheit. Bei übermäßig vielen
Klamotten empfehlen wir ein Sitzsofa. -fDas Gewissen: Weich und flauschig – wie
der Sitzsack selbst.
Franziska Bornefeld
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Atommüll hinterm Mond
Der Müll: Radioaktiver Abfall kann leider nicht einfach irgendwo abgestellt werden. Er strahlt und schadet jedem, der ihm zu
nahe kommt – und das noch für einige zehntausend Jahre. Atommüll muss also auf eine Weise entsorgt werden, die sicherstellt,
dass auch in ferner Zukunft kein Mensch mit ihm in Berührung
kommt.
Das Versteck: Der Weltraum. Mit einem beherzten Schuss ins All
ballert man dieses Problem aus den Augen, aus dem Sinn. Dazu
kann man auf herkömmliche Raketen setzen oder neue Techniken entwickeln, zum Beispiel riesige Schleudern, die ihn aus dem
Gravitationsfeld der Erde heraus hinter den Mond, zum Mars
oder gleich in die Sonne katapultieren.
Das Gewissen: In jedem Fall strahlend. Ist der Müll erstmal im
Weltraum verschwunden, schadet er tatsächlich niemandem
mehr. Probleme bereitet nur der Weg dorthin. Beim Start einer
Rakete kommt es regelmäßig zu Unfällen. Geriete der Atommüll
auf diese Weise in die Atmosphäre, könnte er sich von dort über
die ganze Erde verbreiten und gleich alles verseuchen. -fNikolas Schmidt-Voigt
Dreck und weg
Liebhaber lagern
Der Müll: Alte Rendezvous. Wie viele Flirts braucht ein Mensch?
Die Frage drängt sich auf, wenn man das Adressbuch seines Mobiltelefons durchschaut. Die schreckliche Verabredung von letzter
Woche, die alte Sommerliebe – viele Nummern, die man ohne
Not nie wieder wählen wird. Jetzt müllen sie nur noch das Telefonbuch zu.
Das Versteck: Die Zaubertinte. Mit einem einzigen Knopfdruck
löschen? Das wäre endgültig und nachher ist man vielleicht für
immer allein. Daher braucht man ein diskretes Versteck: man
nehme ein Fässchen Zaubertinte und ein geeignetes Blatt Papier
und übertrage alle überflüssigen Nummern ins Unsichtbare.
Das Gewissen: Befreit von emotionalem Ballast ist man wieder
bereit für neue Schandtaten und neue Telefonnummern. Wenn
dann doch mal die Einsamkeit droht, streut man Zaubersalz über
das Blatt und die ehemals Überflüssigen sind wieder ganz nah. -fKristin Joachim
Freunde verschrotten
Der Müll: Alte Freundschaften. Erst zieht man um, dann wird
man cool und dann nerven sie: die Freunde von früher, Überreste
einer pickligen Jugend. Was tut man also, wenn das Moped schon
lange verschrottet ist und jedes Dorffest gemieden wird, ihre ständigen Anrufe diesen Umstand aber strikt leugnen?
Das Versteck: Neues Leben. Anders als kurze Flirts lassen sich alte
Freunde nicht zeitweise in Zaubertinte ertränken. Hier hilft nur
sich selbst verstecken, Spuren verwischen und in Deckung bleiben. Die drei Grundregeln lauten: neue Nummer, neue Frisur,
neue Lieblingsbands. Und wird man doch einmal erkannt, wird
gelogen bis sich die Balken biegen. Beliebte Alibis sind Auslandsreisen, Drogenabhängigkeit und ansteckende Krankheiten.
Das Gewissen: Nervt nur. Bei jedem Kontakt mit der Vergangenheit piekst es einen. Wer alte Freunde verschrotten will, muss also
entweder alles hinter sich lassen oder darf kein Gewissen haben. -fKatrin Knoppe
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vegetarier sind mörder!
von Philip Jaeger
Fotos: Maqi, tierrechtsbilder.de
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Wir ernähren uns von Menstruationsprodukten, Drüsensekreten, Erbrochenem und Leichen.
Wir essen das, was die Tiere ausscheiden und manchmal essen wir auch die Tiere selbst. Dafür
nehmen wir sie in Haft, quälen und töten sie. Das erinnert Achim Stößer an Inquisition, Sklaverei
und Faschismus. Und dagegen, meint er, lohnt es sich zu kämpfen.
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Vegetarier sind Mörder!
Als Leichenfresser könnte man denken, es
sei schwer, mit Achim Stößer ins Gespräch
zu kommen. Leichenfresser sind für ihn
Menschen, die Fleisch essen. Aber Achim
Stößer ist nicht nur überzeugter Veganer,
sondern auch Pragmatiker. Schließlich
geht es um eine große Sache: Gerechtigkeit für jedes Individuum. Und weil er
dabei Öffentlichkeit braucht, wird hier
nicht missioniert, sondern informiert. Fotos dürfen trotzdem nur digital geschossen
werden. Analoge Bilder enthalten Gelatine. Anders gesagt: Knochen toter Tiere.
Achim Stößer ist Gründer von Maqi, einer Initiative für Tierrechte und gegen
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Speziesismus, gegen die Diskriminierung zielter Täuschung könnten wir mit soviel
von Individuen aufgrund ihrer Artenzu- Unrecht leben.
gehörigkeit. Also beginnt sein Kampf bei In der Werbung lebt jede Kuh auf einer
der Ausbeutung der Honigbiene und geht Almwiese und jedes Huhn auf einem idylweiter bis zur Ungleichbehandlung nach lischen Kleinbauernhof. Aber egal, was
Geschlechter und Hautfarbe. Ein weites wir träumen, die Realität ist industrialiFeld, mag man nun denken. „Nur konse- sierte Qual. „Wir lügen uns jeden Bissen
quent“, findet Achim Stößer: „Wer Skla- die Kehle runter.“
verei verurteilt, darf das Gefangenhalten
Der Hühnerdieb
so genannter Nutztiere nicht gut heißen.
Wo liegt der Unterschied zwischen dem Wenn sich Achim Stößer und seine FreunLeid von Menschen und dem der anderen de von Maqi in der Nacht auf den Weg
Tiere?“ Es herrsche ein logischer Wider- zu einer Hühnerfabrik machen, dann geht
spruch zwischen Anti-Rassismus und dem es ihnen nicht um blinden Ökoterror. Es
sonntäglichen Frühstücksei. Nur dank ge- geht darum, ein paar Hühner zu befreien
und vor allem den Leichenfressern die Augen zu öffnen.
Auf der nächtlichen Fahrt zu einer Aufzuchtsanlage für Hühner ist die Stimmung wenig angespannt, es herrscht professionelle Routine. Die Anlage ist nicht
bewacht, die Tür ist offen. Dahinter liegt
die Hühnerhölle: Links und rechts vom
schmalen Gang leben tausende Tiere
auf ein paar Metern, strecken ihre Hälse durch die Gitter. Wir befinden uns in
einer Volierenhaltung. Diese feierte die
rot-grüne Regierung als großen Erfolg für
den Tierschutz. Statt 50 kommen nun 20
Tiere auf einen Quadratmeter. Das Gesetz
wurde inzwischen aber wieder aufgeschoben, zu Gunsten der herkömmlichen Käfighaltung.
Maqi befreit nur so viele Tiere, wie später
an Tierfreunde weiter vermittelt werden
können. Heute Nacht sind das zwei Küken. Den Tieren wurden ihre Tastorgane,
die Schnabelspitzen abgeschnitten, weil in
dieser Enge die Entwicklung eines normalen Sozialverhaltens unmöglich wird. Das
führt zu Federpicken und Kannibalismus.
In den Eierproduktionsanlagen legen
die Hühner häufig blutverschmierte Eier
ohne Schale. Die Eindringlinge machen
Fotos von dem Elend. Dann verschwinden sie wieder.
Angst vor Bestrafung haben die Aktivisten
nicht. Die geschädigten Betreiber fürchten negative Publicity und schweigen lieber. Oft bemerken sie das Fehlen von ein
paar Tieren nicht. Maqi bleibt nicht anonym. Keine andere Initiative dieser Art
geht so offensiv mit ihrer Arbeit um. Sie
zeigen die Bilder im Internet, verteilen
sie an Journalisten, präsentieren in Fußgängerzonen Ferkel, deren Leichen sie in
Mülltonnen von Aufzuchtsanlagen gefun23
den haben. Das alles macht Achim Stößer
zu einem der bekanntesten Tierrechtsaktivisten der Republik. Er war bereits Gast
in einer Talkshow zum Thema „Ich klaue
alles, was ich kriegen kann“. Er war der
Hühnerdieb.
Ein radikaler Guru?
Stößer ist dafür bekannt, nahezu alles und
jeden, auch andere Aktivisten, zu kritisieren. „Oft ist das nur cooler Lifestyle“,
wenn sie sich mit dem Image des Tierrechtlers schmücken und trotzdem „Tier24
rechtsverletzer, zum Beispiel Vegetarier, in
ihren Reihen dulden.“ Denn für Stößer ist
klar: „Vegetarier sind Mörder.“ Wer Tiere
befreit und trotzdem Tierprodukte isst,
schade der Sache mehr, als ihr zu nutzen:
„Denn auch für den Konsum von Menstruationsprodukten (Eier), Drüsensekreten
(Milch) und Erbrochenem (Honig) werden Tiere umgebracht. Allein für den Eierverbrauch der Vegetarier in Deutschland
werden jährlich acht Millionen männliche
Küken und ebenso viele Hennen getötet.“
Deswegen teilt Stößer aus. Maqi betreibt
zahlreiche Internetseiten gegen Vegetarier, gegen „Pseudo-Tierrechtler“, gegen
Sexismus, Speziesismus und den „religiösen Wahn“. Dafür muss er aber auch
ordentlich einstecken. Besonders aus der
Tierrechtsszene werden immer wieder
Vorwürfe gegen Maqi und ihren „radikalen Guru“ Stößer laut. Manch einer sieht
die Gruppe als Sekte, weil sie ständig in
Konflikt mit Angehörigen, anderen Gruppierungen und den Behörden läge. Weil
dort eine autoritäre Lehre herrsche. Das
alles sind aber wohl eher Symptome ihres
Vegetarier sind Mörder!
Dogmatismus und ihrer Besserwisserei.
Eine Sekte ist Maqi nicht. In Internetforen schwingt er dann gegen seine Kritiker
auch mal die historische Keule: „Das sind
Goebbels-Methoden.“
Die Sklavenkuh
Vor solchen Vergleichen schreckt Achim
Stößer nicht zurück. Immer wieder zieht
er Parallelen zwischen Nutztierhaltung
und Sklaverei, zwischen Legebatterien und Konzentrationslagern, zwischen
Hühnerbefreiung und DDR-Fluchthilfe.
Dass sich bei solchen Analogien nicht nur
dem Historiker die Nackenhaare aufstellen, sieht Stößer gelassen: „Vieles, was früher als Unrecht galt, ist heute eine ethische
Selbstverständlichkeit. Wir müssen unsere
heutigen Verbrechen als solche erkennen
und stoppen.“ Rechtfertigt er sich für diese
Vergleiche, zitiert er Adorno: „Auschwitz
beginnt da, wo jemand im Schlachthof
steht und denkt, es sind ja nur Tiere.“
Seine Radikalität basiert auf einer simplen
Annahme: „Menschen sind Tiere wie andere auch.“ Er sagt: „Deshalb kämpft Maqi
konsequent für die Abschaffung anstatt
einer bloßen Reform der Tierausbeutung.
So wie die Gegner der Sklaverei nicht für
leichtere Ketten und sanftere Folter eintraten, sondern für deren Ende.“ Wir sollen
den Sklaven im Steak erkennen. -f-
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26
Kabinettstückchen von Christoph Schmaus
die Möglichkeit einer Insel
Womit schmücken ungewaschene Sklaven ihre Kleider? Aus welchem Material sind die Ketten der kinderfressenden Mörder gefertigt und auch die der sonst noch üblichen Schwerverbrecher?
Woraus bestehen die Nachttöpfe, in die sich der nächtliche Urin
scheppernd ergießt? Aus Gold. Aus nichts als purem Gold. Und
wo befinden wir uns überhaupt, dass wir es wagen, dem sonst
so finanzstarken Edelmetall eine so schäbige Verwendung zuzuschreiben? Auf Utopia. Wohlgemerkt „auf“, nicht „in“ Utopia
– wir verbringen unseren Urlaub ja auch „auf“ und nicht „in“
Mallorca. Von der sagenumwobenen Insel ist also die Rede. Vom
frühsozialistischen Paradies, wie es der Engländer Thomas Morus
im 16. Jahrhundert beschrieb. Von der Mutter aller gesellschaftlicher Idealvorstellungen. Von Utopia jetzt, wohlgemerkt, nicht
von Malle.
Hier geht einiges. Genaugenommen geht hier eigentlich alles.
Alles, was das politische Herz begehrt: Ganztagsschule, Arbeitslosenquote null Prozent, Vollbeschäftigung quasi. Gold ist öde, und
„Staatsdefizit“, das Wort kennen die da unten nicht einmal. Da
unten? Ja, das ist das Problem. Kein Mensch weiß, wo sich dieses Streber-Eiland in den Wassermassen der Weltmeere versteckt
hält. Totale Abschottung, vermutlich alles Globalisierungsgegner.
Ansonsten hätte der Bundestag wohl schnurstracks der deutschen
Marine den Marschbefehl erteilt (wie marschieren Schiffe eigentlich?), um Utopia zu finden. Aber über die bundesrepublikanischen Matrosen wäre dort sowieso nur die Nase gerümpft worden. Sie segeln schließlich unter dieser Flagge, genau, Sie wissen
schon: Schwarz, Rot – Nachttopfgold. Oje.
Aber es gibt ja noch diese andere Insel, Malle eben. Die ist mit
dem Billigflieger gar nicht zu verfehlen und schon längst an deutsche Farben gewöhnt. Siebzehntes Bundesland und so, Sie wissen
schon. Deshalb hier jetzt ein Vorschlag zwecks Verwirklichung
politischer Wunschträume: Warum nicht einfach alles, was man
sich bisher hierzulande nicht getraut hat, und das ist einiges, warum nicht einfach dort mal ausprobieren? Was längst auf dem
Müllhaufen der unverwirklichten politischen Konzepte vor sich
hin gammelt wie bayerisches Qualitätsfleisch, das könnte in der
politischen Wiederaufbereitungsanlage Mallorca zu realpolitischem Leben erweckt werden. Wir gehen nur nicht weiter zurück
als ´45, eh klar. Sonst ist alles erlaubt. Die Insel ist dafür geradezu
prädestiniert. Los geht’s: Das Sachzwang-Korsett und die parteifarbenen Hüllen munter abgestreift und ohne Rücksicht auf den
Koalitionspartner mal so richtig die polit-aktivistische Sau ´raus
gelassen! -f27
ein schlimmes Spiel
Sieben Jahre lang war er Mister
Umwelt. Dann kamen die Neuwahlen. Wir haben Jürgen Trittin gefragt,
was er als Minister gegen die Verdreckung des Planeten getan hat
und ob die Politik der Welt noch eine
Chance gibt.
Seit knapp einem Jahr sind Sie nicht
mehr Bundesumweltminister. Vermissen
Sie Ihren alten Job?
Mir macht mein neuer Job als Koordinator unserer internationalen Politik Spaß, und an
den alten Job habe ich gute Erinnerungen.
Wenn Sie auf Ihre Tätigkeit als Minister
zurückblicken, was waren Ihre wichtigsten Projekte? Was ist Ihnen gelungen?
Wir Grünen haben in Deutschland eine umfassende Energiewende eingeleitet. Altkraftwerke, ob mit Atom oder Kohle betrieben, werden vom Netz genommen. Mit unserem
Gesetz für erneuerbare Energien und mit dem Emissionshandel haben wir außerdem einen Boom in der modernen Energietechnik ausgelöst. Deutschland ist heute Markt- und
Technologieführer bei Windenergie und Fotovoltaik. Wir haben das Land und Europa
zu einem Vorreiter beim internationalen Klimaschutz gemacht und das Kyotoprotokoll
in Kraft gesetzt. Uns ist es gelungen, den Natur- und Hochwasserschutz zu modernisieren. Außerdem haben wir bewiesen, dass sich Politik nicht von großen Konzernen
erpressen lassen muss – und das Dosenpfand durchgesetzt.
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Ein schlimmes Spiel
Gibt es auch Projekte, an denen Sie noch
stärker hätten arbeiten wollen?
Wir werden 2020 ein Viertel des Stroms erneuerbar erzeugen – dasselbe müsste dann
auch für ein Viertel unserer Wärme, ein Viertel unseres Treibstoffs und ein Viertel der
Rohstoffe für die Chemieindustrie gelten.
Wer ist Ihrer Meinung nach der größte
Umweltverschmutzer?
Es gibt nicht den einen großen Verschmutzer. Es gibt aber das größte umweltpolitische
Problem: Das ist der Klimawandel. Dafür müssen die Treibhausgase gesenkt werden – in
der Industrie, im Verkehr und in den privaten Haushalten. Wir müssen ihren globalen
Ausstoß bis 2050 halbiert haben. Und wir müssen Moore, Tundren und Wälder erhalten, damit aus diesen Kohlenstoffsenken nicht Treibhausgasquellen werden.
Drängt die Große Koalition die Umweltpolitik auf die Oppositionsbank?
Sie ist in diesen Fragen fast vollständig in einer Selbstblockade zwischen CDU und SPD
verfangen. Es gibt noch kein Zurück hinter Rot-Grün – aber auch nichts darüber hinaus.
Wie empfinden Sie die Diskussion über
den Ausstieg aus dem Ausstieg?
Zynisch. Die Stromkonzerne haben immer langfristige Berechenbarkeit gefordert und
kündigen nun den Atomkonsens auf, der genau dies sicherstellt. Unverhohlen drohen
sie mit der Erpressung des Gesetzgebers. Wer Laufzeiten von alten und störanfälligen
Anlagen verlängert, spielt ein schlimmes Spiel mit der Sicherheit der Bevölkerung.
Von der Umweltpolitik als Leitpolitik ist
nicht mehr oft die Rede. Wird sich das
wieder ändern?
Sie können heute in den USA beobachten, wie aufgrund der weltweiten Verknappung
aller Ressourcen nach neuen Strategien gefragt wird, die weg vom Öl führen und hin zu
Einsparungen und Effizienz, zu mehr erneuerbaren Technologien. Dies wird zu einer
Frage globaler Wettbewerbsfähigkeit. Moderne Umweltpolitik ist die Industriepolitik
von morgen. -fDie Fragen stellte Christoph Schmaus
29
bahnhof der
eitelkeiten
30
von Lars Gaede
Fotos: Sandra Kühnapfel
Hunderttausende Menschen besuchen
täglich den Berliner Hauptbahnhof.
Dennoch wirkt er in seiner Sauberkeit
wie eine auf Hochglanz polierte Kulisse.
Der Bahnhof als schmuddeliger Begegnungsort sozialer Gegensätze hat
ausgedient.
31
Bahnhof der Eitelkeiten
Selbst fünf Monate nach seiner pompösen sich dem Besucher erst auf den zweiten
Eröffnung haben sich die Besucher noch Blick: Er ist komplett und ausnahmslos
nicht an den Berliner Hauptbahnhof ge- sauber. Geradezu steril. Aseptisch.
wöhnt. Sie eilen nicht hektisch zu ihren
Zügen. Sie bleiben stehen. Schlendern. Keine Spuren
Betrachten. Ein ergrauter Herr und sein Durchschnittlich 300.000 Besucher solEnkel legen die Köpfe tief in ihre Nacken len es pro Tag sein, eine ganze Stadt. Und
und verfolgen die schwindelerregende Sta- dennoch: Es liegt kein Papier auf dem
tik des Glasdaches. Drei Mädchen im vier- Boden. Kein Kaugummi. Keine Zigaretten der fünf Geschosse hängen sich über ten-Stummel. Man findet kein einziges
die Holzbalustrade und planen ihre Ein- Graffiti, auch keine Schmiererei. Keine
kaufsroute aus der Vogelperspektive. Wie Scheibe ist zerkratzt. Es gibt nicht einmal
die Panorama-Aufzüge in ihren gläsernen Fingerabdrücke darauf. Man findet keine
Röhren auf und ab schweben, finden sie liegengelassene Zeitung auf der Sitzbank.
„echt krass, wie bei Star Wars.“
Keinen fallengelassenen Eisstiel. Keine
Tatsächlich, der Prestige-Bau wirkt und leergetrunkene Cola-Dosen. Keine Spuckglänzt durch seine architektonischen Su- reste. Keine heruntergefallenen Pommes.
perlative. Doch nicht nur. Ein ganz anderer Auch keine Ketchup-Flecken. Schon gar
Superlativ des Hauptbahnhofs erschließt keine abgerissene Fahrkarte. Nichts. Die
32
Bahnhof der Eitelkeiten
Entdeckung einer leeren Beck`s-Flasche
gerät zum Triumph. Nur steht sie draußen.
Auf den Stufen vor dem Bahnhof. Würde
eine außerirdische Macht alle Menschen
im Hauptbahnhof schlagartig entführen,
bliebe dort nicht eine Spur ihrer Existenz.
Nur ein fremdartiges auf Hochglanz poliertes Objekt im Niemandsland – beinahe selbst wie ein gestrandetes Raumschiff.
Es ist, als hätte die Bahn dem Dreck den
Krieg erklärt. Und tatsächlich hat sie das.
Auf jeder Etage und auf jedem Gleis entdeckt man die Reinigungskräfte beim
Putzen. 52 sind es insgesamt, direkt bei
der Bahn beschäftigt und rund um die
Uhr im Kampf gegen den Dreck. Unauffällig schieben sie ihre „Servicewagen“
an den Besuchern vorbei, bewaffnet mit
allen erdenklichen Putzutensilien von
Fleeceschrubber bis Scheuerbürste, von
Handfeger bis Glasreiniger. Einer von ihnen ist Thomas, 20 Jahre alt. Eigentlich
heißt er anders, seinen wirklichen Namen
möchte er aber lieber nicht verraten. Im
Hauptbahnhof macht er eine Lehre zum
Gebäudereiniger. „Jeder einzelne Fleck des
Bahnhofs wird am Tag einmal gründlich
geputzt“, sagt er in einer kurzen Pause vor
dem Bahnhof und zieht kräftig an seiner
PallMall, „auf jeden Fall in der Nacht.“
Spätestens dann bringt die Putztruppe
ihre schweren Geschütze zum Einsatz.
Diese nennen sich Scheuersaugautomaten, Aufsitzmaschinen, Fahrtreppenreinigungsautomaten, oder auch Wasser- und
Trockensauger. Selbst für die Reinigung
der Blindenleitsysteme gibt es spezielle
Bürstenwalzmaschinen. „Graffiti werden
sofort weggewischt“, sagt Thomas, „oder
notfalls übermalt“. Zerkratzte Scheiben
33
Bahnhof der Eitelkeiten
werden umgehend ausgewechselt. Auch
die Toiletten glänzen wie in einem MeisterProper-Spot. Für seine 80 Cent bekommt
der Kunde nicht nur ein mit weißen Lilien
geschmücktes Klo-Foyer - inklusive Kiosk
-, sondern auch eine stets frisch gewischte
Sitzfläche. „Außer, jemand kann es nicht
lange genug halten“, wie eine der Toilettenfrauen sagt. Auch sie sind rund um
Uhr vor Ort, an jedem Tag der Woche.
Das Ikea-Prinzip
In seiner makellosen Sterilität erinnert der
Hauptbahnhof an ein modernes Einkaufszentrum. Und im Grunde ist er das auch:
eine Shopping-Mall mit Bahnanschluss.
Achtzig Geschäfte teilen sich die 15.000
qm Ladenfläche, mehr als zwei Fußballfelder. Jack Johnson, der Troubadour der
Kaufhausmusik, rieselt aus den Ladenzeilen der immer gleichen Drogerie-, Bäckerei-, Mode-, Schuh-, Fastfood-, Papierwarenketten. Ladenschlussgesetze gelten nicht.
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Die Kunden werden frei Haus geliefert.
Im 90-Sekunden-Takt spuckt ein Zug
sie aus - und es herrscht das Ikea-Prinzip: Raus geht es nur an den Produkten
vorbei. Lautlos gleitend – auf einer der
54 Rolltreppen, dem ultimativen Fortbewegungsmittel für die Kurzstrecke in der
Shoppingsphäre.
Kein Schmutz und kein Dreck trüben das
Bild des perfekten Einkaufsparadieses.
Und auch nicht der Anblick von Menschen ganz ohne Kaufkraft. Sie kommen
in dem Bild nicht vor. Das Klischee des
Bahnhofs als sozialer Schmelztiegel, als
Begegnungsstätte von Menschen verschiedenster Couleur von wohlhabenden
Pendlern, nichtshabenden Obdachlosen,
ausländischen Touristengruppen, Punks,
Straßenmusikern, fliegenden Händlern,
gestrandeten Ausreißern, gar als krimineller Umschlagplatz für Sex und Drogen
– weiter entfernt könnte der Hauptbahnhof davon nicht sein. Er ist das exakte Ge-
Bahnhof der Eitelkeiten
genteil. Hier kann man vieles kaufen, Obdachlosenzeitungen gehören nicht dazu.
Auf die Frage, ob es Menschen gibt, die
im Gebäude nicht geduldet werden, sagt
der junge Mann im Büro der Bahnsicherheit nur: „Sorry, kein Kommentar“ – und
lächelt etwas unsicher. Die befragten Polizisten verweisen auf das Hausrecht der
Bahn. Ein Mitarbeiter der Bahnhofsmission erklärt, der Hauptbahnhof sei ohnehin
„kein Ort für Obdachlose. Die fühlen sich
hier nicht wohl.“ Sie blieben lieber am
Bahnhof Zoo, dort gäbe es eine regelmäßige Essensausgabe, „eine seit Jahren gewachsene Infrastruktur.“
selbst ist nur noch ein müdes Abbild seiner
quirligen Vergangenheit. Er wirkt verlassen, auch von den Reinigungsbataillonen
der Bahn. Dreck muss man nicht suchen,
er ist allgegenwärtig. Burgerverpackungen
und Bierdosen säumen die Fußgängerunterführung, es riecht nach Urin.
Am Hauptbahnhof wäre das unvorstellbar. Befragt man dort den Gebäudereiniger Thomas, was das Ekligste ist, was
er je hat putzen müssen, denkt er kurz
nach und sagt: „Unsere Personaltoiletten,
eindeutig.“ -f-
Tristesse am Zoo
Dort, am Bahnhof Zoo, ist nicht mehr viel,
wie es einmal war. Seit der Hauptbahnhof
ihm den Rang als Fernbahnhof abgelaufen
hat, geht es den umliegenden Geschäften
und Hotels schlecht. Mit den ICEs bleiben auch die Kunden weg. Der Bahnhof
35
drecks geschäfte
Bei derArbeit macht man sich manchmal die Hände schmutzig. Die
sechs schmierigsten Deals der letzten Jahre finden sich hier.
von Felix Dembski
Illustration: Anna Niedhart
36
Drecks Geschäfte
Banco Ambrosiano
Echo-Affäre
Sachverhalt: Als die Mailänder Bank Banco Ambrosiano, an der
auch der Vatikan beteiligt war, 1982 zusammenbricht, kommt
ein weitreichendes Tarnfirmennetzwerk ans Licht, über das anscheinend Waffen-, Devisen- und Drogengeschäfte in Südamerika abgewickelt wurden. Ihr Generaldirektor Calvi taucht unter.
Sachverhalt: Externe Prüfer suchen 1998 in den Büchern der
EU-Hilfsorganisation „ECHO“ nach verschwundenen 2,4 Millionen Euro. Sie stoßen dabei auf ein System aus Inkompetenz und
Unwissen innerhalb der gesamten Kommission. Sie kommen zu
dem Schluß, dass die Kommissare jegliche Kontrolle über Gelder
und Verwaltung verloren haben.
Folgen: In einem außergerichtlichen Vergleich zahlt der Vatikan
240 Millionen Dollar an die Gläubiger der Banco Ambrosiano.
Calvi wird Wochen später erhängt an der Londoner Blackfriars
Bridge gefunden, die Hosentaschen voller Ziegelsteine. Seine
Sekretärin stürzt am selben Tag aus einem Fenster der Bank zu
Tode. Der für die Bank zuständige Kardinal Marcinkus kann
zeitweilig wegen eines italienischen Haftbefehls den Vatikanstaat
nicht mehr verlassen.
Folgen: Die Kommission unter Jaques Santer tritt 1999 geschlossen zurück. Santiago Gomez-Reino, Vorsitzender von ECHO,
wird freigesprochen. Der Tippgeber, EU-Beamter Paul van Buitenen, wird suspendiert und seine Bezüge werden halbiert. Er
gründet eine eigene Partei und ist heute Mitglied des Europäischen Parlaments.
37
Drecks Geschäfte
Flowtex
Kölner Müllskandal
Sachverhalt: Der ehemalige Gebrauchtwagenhändler Manfred
„Big Manni“ Schmider erleichtert von 1996 bis 1999 diverse
deutsche Leasingbanken um 1,6 Milliarden DM. Er verkauft ihnen angeblich auf seinem Betriebsgelände stehende Tunnelbohrmaschinen, um sie sofort in Raten zurückzuleasen. Trotz anonymer
Anzeigen aus dem Jahr 1996 bleibt das Schneeballsystem unentdeckt, wohl auch weil Schmider als Musterunternehmer und
–steuerzahler gilt.
Sachverhalt: Im Jahr 2001 sticht die Kölner Staatsanwaltschaft in
ein Wespennest: Über Jahre hinweg hatte der Müllunternehmer
Hellmut Trienekens mit gestückelten Spenden die Parteienlandschaft gepflegt, kommunale Entscheidungsträger mit üppigen
Beraterverträgen versorgt und beim Bau von Müllverbrennungsanlagen Schmiergelder in zweistelliger Millionenhöhe gezahlt.
Folgen: Der Schwindel fliegt 1999 auf, und Schmider wird ein
Jahr später zu zwölf Jahren Haft verurteilt. Unter ungeklärten
Umständen gelingt es ihm, aus der Untersuchungshaft zu entfliehen – allerdings nur, um in einem Luxusrestaurant essen zu
gehen.
38
Folgen: Trienekens wird 2004 wegen Steuerhinterziehung zu einer zweijährigen Bewährungsstrafe und einer Geldstrafe von 10
Millionen Euro verurteilt. Der Kölner SPD-Stadtrat Rüther wird
freigesprochen, da er nach Einschätzung des Gerichts nicht die
für eine Verurteilung notwendige Eigenschaft als „Amtsträger“
besitzt.
Drecks Geschäfte
Enron
E.ON Ruhrgas Fusion
Sachverhalt: Den Finanzhexern des US-Energiehändlers Enron
gelingt es, den Börsenwert des eigentlich hoch defizitären Unternehmens im Dezember 2000 auf über 60 Milliarden Dollar zu
treiben. Enron ist die siebtgrößte Firma der USA. Als ihr System
aus Scheinfirmen und –buchungen ans Licht kommt, muss die
Firma ein knappes Jahr später Insolvenz anmelden.
Sachverhalt: Das Kartellamt untersagt 2002 eine Übernahme
der Ruhrgas AG durch den weltgrößten privaten Energiekonzern
E.ON. Dieser bittet den damaligen Wirtschaftsminister und ehemaligen Energie-Manager Werner Müller um eine Ausnahmeerlaubnis. Da Müller sich für befangen hält, genehmigt die Fusion
sein Staatssekretär und Schröder-Vertraute Alfred Tacke.
Folgen: Da der Pensionsfonds für die Enron-Mitarbeiter seine
Gelder primär in Enron-Aktien angelegt hatte, verlieren diese
beinahe ihre gesamte Altersvorsorge. Mehrere hochrangige Manager werden zu Haftstrafen verurteilt. Der Ex-CEO und BushVertraute Kenneth „Kenny Boy“ Lay stirbt im Sommer 2006 in
Haft.
Folgen: Die Konkurrenten der E.ON AG ziehen ihre Klage gegen
die Erlaubnis einen Tag vor der Urteilsverkündung zurück. Müller ist seit 2003 Vorstandsvorsitzender der RAG, deren größter
Anteilseigner die E.ON AG ist. Tacke arbeitet seit 2004 als Vorstandsvorsitzender der RAG-Tochter Steag. Ex-Kanzler Schröder
ist Aufsichtsratsvorsitzender des Pipeline Joint-Ventures NEGP,
an dem E.ON ebenfalls beteiligt ist. -f-
39
40
die entdeckung
der reinlichkeit
Wie oft wechselte man damals seine Wäsche? Putzte man
sich überhaupt die Zähne und womit wischte man sich den
Hintern ab? Die historischen Quellen schweigen sich aus.
Deshalb soll hier eine Geschichte der Dinge geschrieben
werden, die den Menschen erst zum „homo hygienicus“
machen: Flohfalle, Zahnbürste, Feuerklosett.
von Kaspar Renner
Illustration: Philipp Steinbrenner
41
Die Entdeckung der Reinlichkeit
Im Mittelalter gab es keine Zahnbürsten,
sondern nur sogenannte „Zähnereißer“.
Sie ließen ihre Zangen auf Jahrmärkten
kreisen, begleitet von Musik, Witzen und
Zaubertricks. Viele europäische Herrscherfamilien ließen sich prophylaktisch gleich
mal das halbe Gebiss rausnehmen – es gibt
keinen einzigen Staufer oder Hohenzoller,
der auf dem Familienportrait auch nur
annähernd lächeln würde. Mundwasser
kannte man damals zwar auch schon, es
hatte aber einen eher spirituellen Sinn:
Um 1150 beschreibt Großmystikerin Hildegard von Bingen, wie sie ihren Mund
mit Rosenwasser spült, um den Heiligen
Geist in gebotener Reinheit empfangen zu
können. Nach der gleichen Logik sprenkelt man die Kirchen mit Weihwasser.
Wasser im Mund
Zu einer hygienischen Angelegenheit wird
der Mund erst 1893 mit der Entwicklung
von „Odol“. Hintergrund ist die Identifikation der Mikroben als Krankheitserreger
42
durch Louis Pasteur. Fortan gilt die Glei- dann zu fett, um wieder herauszuhüpfen.
chung: „Sauberkeit = relative Mikroben- Der Rückenkratzer gehört zur Gattung
freiheit“. In zeitgenössischen Kampagnen der Gegenstände, die nur eine einzige
zeigt man die unsichtbaren Viecherhorden Funktion erfüllen. Queen Elizabeth soll
als Luftschiffe, Zeppeline und Flieger, die ein besonders schönes Exemplar besessen
unsere Körperöffnungen attackieren. Karl haben, ein elfenbeinernes Händchen mit
August Lingners Mundwasser ist so etwas schön langen Nägeln.
wie das perfekte Schutzplasma. Noch vor
Puder im Gesicht
dem ersten Weltkrieg gehen Nylon-Zahnbürsten in Serie. Die Entwicklungsspi- Dass diese Geräte um 1700 en vogue warale dreht sich nun immer schneller, bis ren, erklärt sich aus einer physiologischen
Dr. Best 1985 einen Geistesblitz hat: die Vorstellung, die damals durch die Salons
Schwingkopftechnologie!
wandelte. Das Wasser stand im Ruf, ein
Aber wir wollen hier keine bloße Fort- gefährlicher Porenöffner zu sein. Nur die
schrittsgeschichte schreiben. Es lohnt ein „trockene Toilette“ galt als gesund. So
Blick auf die vielen schönen Utensilien, verpanzerte sich die Adelsgesellschaft mit
die man noch zur Zeit Ludwigs XIV. ver- einer Schicht aus Puder, Schweiß und Parwendete. Die Flohfalle etwa ist ein kleines, füm. Das Wasser war auf ewig dazu verkäfigartiges Gehäuse, das mit einer Mi- dammt, im Springbrunnen zu zirkulieren.
schung aus Honig, Blut und Harz gefüllt Die Wäsche hingegen wurde regelmäßig
ist. Die Damen steckten es sich unter den gewechselt. Der weiße Kragen war so etwas
Rock respektive unter die Perücke. Flö- wie eine nach außen gekrempelte Insignie
he schlüpften durch die kleinen Löcher der Sauberkeit. Deshalb zeremonialisierte
ins Gehäuse, fraßen sich voll, und waren Ludwig XIV. den Akt des Hemdchenrei-
Die Entdeckung der Reinlichkeit
chens. Wenn im Barock vom „Putz“ die
Rede war, dann bezog sich das aufs Herausputzen.
Apparate, die Wasser über den Körper
gießen, entwickelten sich erst im 19. Jahrhundert. Revolutionär war der Duschkopf, den man in den Volksbadeanstalten einsetzte. Erste Experimente mit der
neuen Technik wurden im Gefängnis von
Rouen durchgeführt. 1857 folgte das 33.
Linienregiment in Marseille. Ein Offizier
notierte: „Auf diese Weise kann man innerhalb von zwei Wochen das ganze Regiment (1300 Männer) für einen Centime
pro Kopf waschen.“ Das hat Foucault zu
weitschweifigen Reflexionen über die Disziplin der abgezirkelten Duscharchitektur
angeregt. Alles mal wieder ein einziges Panopticum.
Feuer unterm Hintern
Die Erkenntnis, dass Wasser, das zufließt,
auch irgendwie abfließen sollte, machte
die Römer zu den größten Technikern der
Kanalisation: Um 600 v. Chr. errichtete
Tarquinius Priscus die „Cloaca Maxima“,
die direkt in den Tiber mündete und von
Kriegsgefangenen und Häftlingen gewartet
wurde. Vergleichbare Kloprojekte kamen
erst wieder in der Renaissance auf. Leonardo da Vinci entwarf neben Flugmaschinen
auch eine belüftete Drehtoilette. Vollends
überschlugen sich die Ingenieursfantasien
dann um 1892. Ein Mann – eine Vision:
das Feuerklosett. Der Verbrennungsofen
dieser Konstruktion, den man am besten
im Keller unterbrachte, bestand aus einer
mit Kohle betriebenen Feuerungsanlage
und zwei sich drehenden Walzen, auf welche die Fäkalien fielen und verbrannten:
„Die Drehung der Walzen erfolgt beim
Öffnen und Schließen der zum Klosett
führenden Tür vermittels eines Drahtseiles, das an der Tür befestigt ist“. Letztendlich entschied man sich dann doch fürs
Wasserklosett.
Zähneputzen, duschen, scheißen – fehlt
eine letzte Kulturtechnik: die Rasur. Be-
reits im Hochmittelalter rasierte man sich
aus Gottesfurcht. Um vom Laienbruder
zum geweihten Priestermönch aufzusteigen, musste man den Bart opfern. Ähnlich zufällig fand dann im 20. Jahrhundert
die Hygiene zu ihrem Gerät: Der „Gillette“-Sicherheitsapparat hatte nur deshalb
so großen Erfolg, weil die amerikanische
Armee ihn brauchte. Die Gasmasken des
Ersten Weltkriegs schlossen nur direkt auf
der Haut. Die Kriegsheimkehrer machten
die Feldsitten dann zur gesellschaftlichen
Norm – oder eben: Hygiene.
Der Rasierapparat sei der vorläufige Endpunkt dieser Historie. Die Geschichte der
Hygieneartikel ließe sich natürlich noch
fortschreiben: Eine kleine Drogerie-Exkursion (besser als jede Hygiene-Ausstellung) hat ergeben, dass es schon wieder
rund hundert neue Artikel gibt. Vielleicht
werden diese Dinge den Historikern der
Zukunft ähnlich skurril erscheinen wie
uns Flohfalle und Feuerklosett. -f43
wallraffen
Die Stasi sah ihn als Anarchisten, der BND als Nestbeschmutzer. Günter Wallraff selbst nennt sich einen Dreckaufwühler und was er dabei zutage förderte,
erschreckte die Republik.
Hallo Herr Wallraff, bei dem Thema
Dreck muss ich sofort an Sie denken.
Das glaube ich Ihnen.
Nicht beleidigt?
Nein, ich habe immer im Dreck gewühlt. Im Amerikanischen gibt es dafür sogar einen
Ehrentitel: Muckrake, Dreckaufwühler.
Und was hat das mit Ehre zu tun?
Wer sich nicht mit dem Schmutz einer Epoche auseinandersetzt, der gehört selbst zum
Schmutz. Die so genannten feinen Leute haben oft den meisten Dreck am Stecken. Da
müsste noch viel mehr Dreck aufgewirbelt werden.
Als Journalist und Buchautor haben Sie
bei denen oft für viel Wirbel gesorgt.
Heute gibt es in Schweden und Norwegen
sogar ein Wort für Ihre Arbeit des investigativen Journalismus: wallraffen.
Das stimmt. Ähnlich wie bei Röntgen das medizinische Durchleuchten von seinem Namen abgeleitet wurde, bezeichnet „wallraffa“ das gesellschaftliche Durchleuchten. Ich
kriege alle paar Wochen Belege, wer da mal wieder gewallrafft hat.
44
Wallraffen
Ihre Reportagen sind weltbekannt. Als
Leiharbeiter Ali haben Sie in den 80er
Jahren erschreckende Zustände bei Thyssen aufgedeckt.
Thyssen war eine mörderische, menschenruinierende Gesundheitsvernichtungsanlage.
Etliche meiner früheren Kollegen sind an Lungenkrankheiten und Krebs gestorben. Ich
selbst habe da meine Bronchien und Knochen ruiniert.
Heute ist Thyssen einer der größten Stahlkonzerne…
…gebaut auf den Rücken der modernen Sklaven, der Leiharbeiter. Wo wir früher sechs
bis acht Mark bekommen haben, schuften heute osteuropäische Leiharbeiter schon für
zwei Euro die Stunde.
Es gibt Berufe, bei denen man sich anders
schmutzig macht. Bei der Bild-Zeitung
waren Sie der Journalist Hans Esser.
Das war meine größte Schmutzrolle. Der Dreck bei Thyssen war zwar gesundheitsruinierend, aber geistig behielt man dort wenigstens seine Identität. Bei Bild hingegen war
es Selbstverleugnung. Man musste diesem ganzen Lügenwahn Nahrung verschaffen. Ich
traf da auf eine feixende und total abgebrühte Gang. Die setzte sich über alles hinweg,
verachtete andere und lebte ihre Vorurteile auf Kosten von Schwächeren aus. Die Schlagzeilen standen meist schon vorher fest. Es war eine professionelle Fälscherwerkstatt, ein
Zentralorgan des Rufmordes, die ich da erlebte und überführen konnte.
Wofür steht Bild heute?
Das könnte man auch über MC Donalds
sagen.
Für publizistische Umweltverschmutzung. Da ist die Schmutzzulage ganz groß.
Genau. Bei denen ist aber nicht nur der Fraß der letzte Dreck. Ich fühlte mich dort nicht
als Arbeiter in einer Firma, sondern eher wie das Mitglied einer Sekte. Jeder musste sich
von dem anderen absetzen. Der eine wurde Mitarbeiter des Monats, der andere wurde
gemobbt.
45
Wallraffen
IIhre Reportagen dokumentierten meistens das Innenleben großer Firmen. Wieso
konzentrierten Sie ihre journalistische
Arbeit nicht auf die Politik?
Die Betriebe sind die Hinterhöfe und gleichzeitig die Trainingsräume und Hochburgen
unserer Gesellschaft. Die 68er haben viel Sauerstoff in die Demokratie gepumpt, gerade
was Minderheitenrechte angeht. Aber in den Betrieben lassen die Menschen oft alles mit
sich machen – aus Angst vor Arbeitslosigkeit und weil da vieles im Dunkeln geschieht.
Wie bewerten Sie den Journalismus heute?
Er ist angepasster und es gibt mehr Kampagnenjournalismus. Leider muss man sagen, ist
Bild in Deutschland heute oft tonangebend: Zur Stimmungsmache vor dem Irakkrieg
die Angst vor Anthrax, dann aus Pharmainteresse die Vogelgrippe und heute die Kofferbomber. In diesem Fall riecht es gerade zu danach, dass diese Dilettanten instrumentalisiert wurden, um den Geheimdiensten noch mehr Kompetenzen zu ermöglichen und
die Bürgerrechte weiter einzuschränken. Die Panikmache funktioniert ausgezeichnet.
Was sind Ihre Tipps für junge Journalisten?
Suchen Sie sich einen Zweitberuf, um nicht abhängig zu werden. Spezialisieren Sie sich
auf einem Gebiet und steigen Sie auch in die Niederungen herab, um nicht von den
elitären Kreisen vereinnahmt zu werden. Man darf seine ursprünglichen Ziele nicht verraten.
Sie laufen am Sonntag den Köln-Marathon. Was ist da Ihr Ziel?
Früher lief ich in 2 Stunden 50. Nach den Thyssen-Giftstäuben hoffe ich auf eine entspannte Zeit unter 4 Stunden 15. -f-
Die Fragen stellte Philip Jaeger.
46
3 Minuten Sport mit Philip Jaeger
po-dol-ski!
Dreck ist so unnütz wie lackierte Stoßstangen und alkoholfreies
Bier. Er ist da, aber keiner weiß etwas mit ihm anzufangen. In
dieses Sinnvakuum fällt plötzlich ein Satz des Philosophen Heinrich Nüsse: „Entwickelt heißt jener Teil der Welt, wo der Dreck
ein Problem geworden ist.“ Und weil sich aus klugen Sprüchen
auch manchmal was Kluges basteln lässt, basteln wir in diesem
Fall - ein Zivilisationsbarometer. Umso negativer die Probanden
auf Mist reagieren, desto höher ist die Stufe der Entwicklung.
Wir testen das neue Messgerät und packen Dreck auf den Operationstisch, in den Hauseingang, zum Bäcker – kein Applaus. Ist
bei uns also alles durch und durch zivilisiert, eine Hochkultur der
reinlichen Form?
Nein. Denn mitten in unserem Leben finden wir einen Ort, da
gilt Dreck noch als das, was er mal war. Als Zeichen der ehrlichen
Arbeit, des heldenhaften Kampfes, der Freude am Toben. Herzlich Willkommen im letzten Schlupfloch der Barbaren, im Lande
des Sports. Der Dreck-o-mat kann einpacken.
Hier finden wir Oliver Bierhoff. Er berichtet, er sei sehr reinlich
und ein guter Fußballer, der früher mal viele Tore schoss, einmal
sogar ein goldenes. Trotzdem ist zu beobachten, dass er nur von
ein paar Schwiegermüttern und Werbemenschen angehimmelt
wird. Der Befund ist eindeutig: Die Herzen der Südkurve fliegen
an ihm vorbei, weil er schon immer das war, was er heute ist – ein
Saubermann, Manager und Schnösel. Was ihm fehlt, ist Dreck
am Trikot und im Auftritt. Anders bei Prinz Poldi. Ein ganzes
Fanvolk huldigt ihm in Sprechchören, weil er so schießt, wie er
redet, wie er heißt: Po-dol-ski! Das klingt nach Kawumm, nach
schmissigen Sprüchen und Sportskanone. Da bleibt kein Trikot
weiß.
In dieser Welt bestehen Helden also nicht aus Reichtum, Schönheit und Bildung. Aus Schweiß, Schlamm und Herzblut, daraus
sind die Sieger geformt. Egal ob beim Fußball, Rugby, Prügeln
und dem Rest, überall schreit und brüllt es: „Quäl dich, du Sau!“,
„Scheiß Millionäre!“, „Wir wollen euch kämpfen sehen!“. Zwar
gibt es auch hier Grüppchen, bei denen Sauberkeit geschätzt und
martialische Rufe verpönt sind, aber wer würde Dressurreiten
und Golf schon als Sport bezeichnen?
Am Ende der Expedition ist klar, Dreck ist nicht sinnlos, sondern
sexy. Er ist das Styling der Helden. -f-
47
in grossen buchstaben
Komposition: julius
es ziehen wolken auf
gen
doch es ist
dämmerlicht
egal
als wir in großen
irgendwer wartet
mich
48
es
ist
egal
und wir gehen raus
es ist so
egal
buchstaben
deine
schminke verläuft im re-
denn dein lächeln glänzt im feierabend-
auf die wagen schrieben
irgendwo auf dich
und irgendwo wartet irgendwer auf
denn wir können nicht länger warten und deine haut scheint im parkplatz-
laternenlicht
als wir in großen
buchstaben
auf die wagen
schrieben:
Solo: Mundharmonika d B C dd
»wasch mich
ich bin dreckig«
auf dem weg zurück
aus
er
»wasch mich
und alles was von
heut‘ nacht.
du bringst mich nach hause
diesem abend bleibt:
nachdem wir in großen
ich bin dreckig«
und ich steig schon eine straße früher
der asphalt scheint im glanz deiner rücklicht-
buchstaben auf die wagen schrieben:
heut‘ nacht.
Wer keine Noten lesen kann, hört sich das Lied auf www.diefacette.net an, oder auf CD: Im Frühjahr erscheint bei urbanprovince das Debut.
49
der facette-triptipp: los angeles
harte wahrheit hollywood
von Philip Jaeger
50
Harte Wahrheit Hollywood
Das passiert mir immer öfter: Ich erinnere mich an eine Reise,
etwa an Rom, an den Circus Maximus, das spektakuläre Wagenrennen damals, und langsam dämmert es mir – stopp, das war
nicht ich, das war Charlton Heston. Ähnlich ist es bei meinen
Abenteuern in der Karibik, in Las Vegas, auf dem Mond. Immer wieder zerplatzen Urlaubsanekdoten an der harten Wahrheit
Hollywood. Ärgerlich, denn Zwischenrufe à la „das ist doch die
Geschichte von Ben Hur!“ können das Interesse der Zuhörer hinterrücks erdolchen, wie damals der Brutus den Caesar – aber das
ist eine andere Geschichte.
Los Angeles – Ursprung und Ende vieler Träumereien. Zur Entzauberung daher einige fantasielose Fakten vorneweg: 1. Die
meisten Menschen leben hier nicht vom Film, sondern vom
Krieg. Die größten Arbeitgeber sind Militär- und Luftfahrtunternehmen. 2. Es gibt so viele Autos pro Kopf, wie nirgendwo
sonst auf der Welt. Die wenigsten sind schwarze Stretchlimousinen, die meisten sandfarbene Toyota Charisma. Und 3. in Los
Angeles gibt es mehr Smog als Stars. An einem Sommertag wiegt
der Dreck in der Luft mehr, als alle in LA lebenden Oscarpreisträger zusammen. Auf ein Kilo Star kommen dann mehrere Kilo
krebserregende Partikel. Derart aufgeklärt lässt sich alles tiptop
enttarnen. Vor der Wahrheitskur hätte ich vielleicht noch Uma
Thurman zu sehen geglaubt. Jetzt sitzen langbeinige Blondinen
mit gebastelten Nasen in der mondänen Sky-Bar am Sunset Boulevard oder im pittoresken Le Pain Quotidien an der Melrose Avenue und zwitschern sinnfrei in ihre vergoldeten Nokias, während
die männlichen Exemplare in gemieteten Luxuslimousinen über
den Hollywood Boulevard prollen. Tinseltown, Glitzerstädtchen,
nennen das dann die, die es besser wissen. Es funkelt und Punkt.
Aber was ist mit dem sensationellen Getty Museum, über der
Stadt thronend, wie die Kommandozentrale des bösen Dr. No?
Touristisch völlig überlaufen. Der blubbernden Teersee von La
Brea mit seinen Dinos, die seit Jahrtausenden auf ihr Comeback
warten? Riecht nach Schwefel und Ölkatastrophe. Der Financial
District, seine einsamen Hochhäuser, seine menschenleere Science-Fiction? Kulturlose Moderne. Und der heldenhafte Terminator-Gouverneur, der in den Universal Studios gegen Roboterkiller und in der Politik für Kyoto kämpft? Alles nur Show. So
kann man durch die berühmteste Kulisse der Welt streifen und
hinter jeder pompösen Fassade eine nüchterne Erklärung finden,
das Gegenteil von Entertainment.
Deshalb: Schnitt! Das macht man anders. Offensichtlich gibt es
keine schlechtere Methode, dem Geist der Stadt auf die Schliche zu kommen, als mit harten Fakten vorneweg. Der angesagte
LA-Triptipp lautet: Augen auf und rein. Mutige Träumer gucken,
dicke Limousinen anhupen, im Pazifik surfen, dem weißen Hai
ausweichen und von Pam gerettet werden. Klingt lässig, macht
Spaß und am Ende hat man was zu erzählen.
Also noch schnell hoch auf die Hollywood Hills. Einen versöhnlichen Blick werfen auf diese halbwahre Stadt mit den verrückten
Yoga-Übungen und den muskulösen Feuerwehrmännern. Das
Highlight bewundern: den einzigartigen rosagrünen Sonnenuntergang. Und nicht fragen, wer hier Regie führt. Unter uns – ein
solches Schauspiel inszeniert nur der Smog. -f51
ungefragt und leise
Fotos: ueberdose.de
52
Ungefragt und leise
Schmierereien, die das Stadtbild verschandeln und sinnloses
Gekritzel: Graffiti bekommt von allen Seiten einen drüber.
Florian Renner (26)*, der nachts loszieht, weil er saubere
Fassaden nicht erträgt und Christoph Janke (27), Macher
von ueberdose.de, einem Archiv für Graffiti und Street Art in
Berlin, erklären hier ihre Motivation.
Warum machst du Graffitis, Florian?
F: Mit fünfzehn wollte ich cool sein und habe aber nur ein Graffiti abgemalt und gar
nicht verstanden, was das sollte. Bis heute hat es keinen direkten Sinn, was ich male. Wie
in der Kunst.
Und warum machst du das in der Öffentlichkeit?
F: Wo denn sonst? Außerdem gibt es so die Kommunikation in der Szene, die Kritik der
anderen Maler.
C: Es geht nicht um Provokation, sondern um die Aktion selbst und die Weiterentwicklung der Crews. Wie die UT-Crew um Yps, Ehsone und Roger in den letzten Monaten
das Stadtbild geprägt hat, das ist unglaublich.
Für Außenstehende bleibt das aber alles
anonym.
C: Für die Leute, die das nicht lesen können, gibt es Street Art mit hübschen Klebebildchen.
F: Das ist die Rückkehr zur figurativen Malerei! Die konservative Wende in der Graffitibewegung. Graffiti hat eine andere Abstraktionsebene.
53
Ungefragt und leise
Du sprichst von „sauber“ – woher Dein
Bedürfnis nach Dreck?
F: Mich interessieren die Spuren, die da nicht hingehören, wenn die glatte, langweilige
Architektur aufgebrochen wird. Für Anyone z.B. ist Graffiti nicht Kunst sondern Zerstörung, Anti-Style und Dreck. Das ist die Punkhaltung. Trotzdem wirft er keine Scheiben
ein.
Ist Graffiti Dreck?
C: Das ist eine Frage der Einstellung. Ich empfinde die leere Wand als Dreck.
F: Für mich ist Graffiti Dreck. Alle Gesellschaften haben Reinlichkeitskulte. Je autoritärer die Gesellschaft, desto reiner will sie sein. Da verdrecke ich aber lieber.
Warum arbeitet ihr mit Buchstaben und
Sprache?
C: Man erwartet von Buchstaben immer gleich eine Bedeutung, und da stehen aber nur
comichafte Namen, die keiner versteht. Dieser Widerspruch nervt die Leute.
F: Es ist die Sinnenttäuschung. Es bedeutet nichts, es hat „nur“ einen ästhetischen Sinn.
Aber wir brauchen etwas, um die Welt zu strukturieren. Das ist das Alphabet. Als Maler
breche ich dieses Gesetz, wenn ich es anwende. Es ist der Reiz zwischen Freiheit und
Gesetz. Das kann man sich auch in der Berliner Gemäldegalerie anschauen: Gotische
Maler haben Schriftbänder in ihren Bildern selbst zu Bildern gemacht.
54
Ungefragt und leise
Ihr brecht aber auch ganz konkret Gesetze
– Graffiti ist oft illegal.
F: Für Menschen wie Karl Henning von nofitti sind Maler nur kindliche Rebellen. Das
spielt beim Einstieg auch oft eine Rolle, aber für mich steht das kreative Moment inzwischen klar im Vordergrund.
C: Die scheinbar negative Voraussetzung ist durchaus positiv: Maler unter Zeitdruck
und mit Handschwitze malen erfahrungsgemäß die besten Styles. Man kann sich nur
auf sein Gefühl, die Übung und Erfahrung verlassen. Die Illegalität ist im Prinzip egal,
es passiert einfach trotzdem, ungefragt und leise.
Oft werden Sprayer mit Hunden verglichen, die ihr Revier abstecken. Stimmt
der Vergleich?
F: Das trifft es gar nicht. Es ist nicht exklusiv. Es geht darum, Leere zu gestalten.
C: Und Maler bewegen und orientieren sich in der Stadt nicht über Straßennamen, wir
kennen die Pieces, Tags und Bomben in Berlin. Das ist eine andere Wahrnehmung. Wir
haben uns einen eigenen Erinnerungsraum geschaffen.
Eure Lieblingsfarbe?
F: Blau und Rot.
C: Panther Pink ist gut dreckig. -fDie Fragen stellte Onno Berger
*Name geändert
55
Berlin ist auch nicht alles für Onno Berger
punk’s not dead
Lichterketten, Tische, Stühle auf der Straße. Johlendes Jungvolk
in alkoholisierter Abi-Laune. Elternlose Kinder laufen umher
und Hunde streunen durch die Straßen. Kneipe an Restaurant an
Café. Wir sind in Friedrichshain, Simon-Dach Kiez. Die Ausgehmeile für Brandenburg.
Längst sind die Szenezeiten vorbei, die Schlesische Straße liegt
eben auf der anderen Seite der Spree, der Mob sucht Friedrichshain heim. Aus dem Umland fallen, besonders am Wochenende,
Heerscharen von Jugendlichen ein. Alteingesessene Friedrichshainer und zugezogenes Studentenpack sind das nicht gewohnt.
Aber es passt. Denn die alte Leier von den Widersprüchen im
Leben trifft in diesem Kiez mal wirklich zu. Hier passt nämlich
nichts. Aus dem Blumenladen ist eine Sushi-Bar geworden. Der
Besitzer, ein Kurde, hat nicht gewechselt. Sushi läuft nur besser.
Aber nicht so gut wie die Thai-Küche. An jeder Ecke wird aus
Eimern Glutamat in die Soßen geschüttet. Hier bekommt jeder
seinen Fraß, den er in seinem Hippness-Hype auf Low-Level verdient. Hier hat man noch kein Geld für Lebensqualität. Das hier
ist nicht Prenzlauer Berg.
Hier gibt es Skins, die Shisha rauchen. Man glaubt es kaum. Genauso wie Sand als Bodenbelag in Bars. Darin wird mit den Sneakers
gescharrt und ein Duft von frischgewaschenen Haaren und Axe-
Deo liegt in der Luft. Billig ist auch das Angebot: Alle Cocktails
vier Euro. Teurer war wohl der neu angelegte Boxhagener Platz.
Neuer Rasen, neuer Spielplatz – neuer Zaun drumrum. Ist aber
auch egal, nach einem Sommer haben wir wieder Steppe auf dem
Platz und der Zaun kann höchstens als Kampfhundearena am
Sonntagnachmittag fungieren: Wer ein Gebiss hat, zeigt sich hier
mit seinem Herrchen.
Aber man gibt sich irrsinnig Mühe. Auf dem Stückchen Sand, das
die Bäume auf dem Bürgersteig umgibt, werden Beete angelegt.
Eine Mutter zu ihrem Kind: „Das ist doch nicht wahr, Maike!
Meine einzige Rose – einfach ausgegraben!“ Huch – wir leben in
einer Stadt! Aber hier lebt jeder wohl seine eigene Welt. Vorsichtshalber lässt der Schawarma-Laden an der Südseite vom Boxhagener Platz die Zeiger der Wanduhr andersherum laufen.
Das Schönste sind eigentlich die Hundescheißbeutelständer. Der
größte Witz dabei: Die werden auch noch benutzt! Und von wem?
Na klar, wie kann es anders sein, denke ich an einem Morgen, als
ich eine Frau mit zerrissenen Netzstrumpfhosen und einem schicken Iro ihre Töle angiften höre. „Man – schon das zweite Mal!“
Lässig zieht sie daraufhin eine Hundescheißbeutelplastiktüte aus
der Jackentasche, greift sich die Wurst und läuft zur nächsten
Mülltonne. Punk’s not dead. Friedrichshain sucks? Denkste. -f57
fashiondeponie
Fotos:
Benjamin Rennicke www.benjaminrennicke.de
Hair & Make-Up:
Fränze Habicht
Styling & Fashion:
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Fränze, Lenny, Xarah
gosse, glanz
und gloria
William T. Vollmann
kennt in seinem Roman
,Huren für Gloria’ kein
Feigenblatt
„Haben Sie sich jemals die Hand einer alten Straßenhure angesehen? Dreckige schlaffe Falten, die so tief sind wie Schnitte,
die Fingerspitzen verschwielt und abgeblättert…“ Zitat Ende
– halt, noch nicht, es geht noch weiter, das ist wichtig: „Diese
Hand hat schwer gearbeitet, Fremden Liebe zu geben oder das
zu geben, was Fremde Liebe nennen oder was Fremde anstelle
von Liebe wollen – nein, es ist Liebe, denn Arbeit ist Liebe,
egal was oder wie.“ Was passiert in diesen Zeilen, im ganzen
Buch, was geht hier vor sich? Antwort: Ungeheuerliches.
Huren für Gloria heißt das Werk von William T. Vollmann, in
den USA ist es bereits vor knapp 15 Jahren erschienen, und
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Gosse, Glanz und Gloria
nun endlich, endlich auch auf Deutsch.
Ein übermenschliches Buch ist das, denn
es bringt zwei Dinge zusammen: Den
größten Dreck und die höchste Herrlichkeit. Gewalt und Liebe. Hass und
Zärtlichkeit. Tod und Leben. Vernichtung und Erlösung. Ungelogen.
Dabei erscheint die Story auf den
ersten Blick simpel. Ein durchgeknallter Vietnamveteran säuft und
fickt sich durch den Straßenstrich
von San Franciscos Rotlichtviertel
Tenderloin. Er ist auf der Suche
nach Gloria, man weiß nicht, ob
sie tatsächlich seine ehemalige
Geliebte oder sein reines Hirngespinst ist. Aber das ist auch
egal. Sie ist nicht da und er findet sie trotzdem. In fabulierten
Gesprächen mit sich selbst und
bei den Straßenhuren. Deren
Körper werden für ihn zu Glorias Körper. Ihre Kindheitserinnerungen, für die er ebenso
ehrlich bezahlt wie für den Analverkehr,
werden zu Glorias Erinnerungen. Ihre Locken, abrasiert, gekauft und zur Perücke
geknüpft, werden zu Glorias Haarpracht.
Aus all diesen materiellen und geistigen
Einzelteilen setzt Jimmy, so heißt er, seine
große Liebe zusammen. Was heißt hier, er
setzt sie zusammen? Er erschafft sie, nach
dem Ebenbild der Nutten dieser Stadt.
Das ist das Ungeheuerliche, dass hier
ein Schöpfungsakt gezeigt wird, hier im
tiefsten Sumpf der Gesellschaft. Und des
Autors literarische Produktion ist nicht
weniger eng geknüpft an die direkte Begegnung mit „dem Milieu“ – wie wir in
unserer durch und durch soziologisierten
Sprache zu sagen pflegen. Zum Glück
spricht Vollmann anders, er spricht den
Slang, er nimmt kein Feigenblatt vor den
Mund, er wählt Vokabeln, die nur in literarischer Form zu ertragen sind. Selbst das
nicht immer. Schließlich lässt er wirkliche
Prostituierte in seinem Roman zu Wort
kommen. Er hat vor Ort recherchiert, O-
Töne gesammelt und nun in einem beinahe dokumentarischen Stil alles hingeworfen, auf dass es große Literatur werde.
Und es wurde. Denn Vollmann beschränkt
sich nicht nur aufs Berichten. Er schafft
sich für sein Thema eine eigene Grammatik, die Grammatik der Gosse. Immer wieder nehmen die Sätze kein Ende, wie das
Elend vor Ort. Sie haben keinen und doch
zig Erzähler. Immer wieder verheddern sie
sich in den brutalsten Ausdrücken, wieder
und wieder versuchen sie klar zu sehen.
Und manchmal, da schaffen sie es. Sie
zeigen das Leiden so echt, dass das Lesen
zwangsläufig zum Mitleiden wird. Und
durch diese Verbindung, ja, da beginnt
der ganze Schmutz zu strahlen. Und die
Hure nimmt dich an die Hand. -fChristoph Schmaus
William T. Vollmann
Huren für Gloria. Roman.
Suhrkamp, Frankfurt am Main 2006
200 Seiten. 17,80 Euro
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aussen hui, innen pfui
‚Der Teufel trägt Prada’ klärt über die dreckigen Seiten der schicken Modebranche auf
Der Teufel trägt Prada
USA 2006, 110 Minuten
Regie
David Frankel
Darsteller
Meryl Streep, Anne Hathaway,
Emily Blunt
seit 13. Oktober 2006 im Kino
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„That’s all“ - mit dieser lakonisch hingehauchten Bemerkung beschließt Miranda Priestly
(Meryl Streep), Chefredakteurin des weltweit führenden Modemagazins „Runway“, für
gewöhnlich die minutenlangen Befehlskaskaden an ihre Assistentinnen. Ihre Neue ist die
ehrgeizige Collegeabgängerin Andy Sachs (Anne Hathaway), die ziemlich nichtsahnend
in die schickste Branche der Welt stolpert.
Auf den ersten Blick könnten die Lebenswelten der beiden Protagonistinnen von Der
Teufel trägt Prada kaum unterschiedlicher sein. Während Andy in einem heruntergekommenen Appartment mit ihrem unrasierten Freund wohnt und sich von Fast Food
und Bier ernährt, strahlt das Büro ihrer Chefin Miranda vor antiseptischer Sauberkeit,
und superschlanke „Fashion-Diven“ klappern auf ihren Pfennigabsätzen durch die Flure.
Andy sieht sich gezwungen, eine radikale Veränderung zu durchlaufen, wenn sie Erfolg
haben will. Ihr Privatleben muss dabei offenbar auf der Strecke bleiben: Freunde, Familie,
Außen hui, innen pfui
Freizeit – alles gerät in den Hintergrund.
Bestimmt wird Andy Sachs’ Leben zunehmend von einem „Miranda“-blinkenden
Handydisplay.
Der Teufel trägt Prada basiert auf dem
gleichnamigen Roman von Lauren Weisberger über ihre Erfahrungen mit der
amerikanischen „Vogue“-Redaktion und
ihrer Chefin Anna Wintour.
Mit der Oscar-Gewinnerin Meryl Streep
und Anne Hathaway, bekannt durch
„Brokeback Mountain“, ist dem Regisseur
David Frankel neben Gastauftritten von
Gisèle Bündchen, Valentino und Heidi
Klum die perfekte Besetzung für diesen
Film gelungen. Insbesondere die graugefärbte Streep überzeugt durch ihre Kälte
und Gnadenlosigkeit. Trotz gelegentlich
aufblitzenden menschlichen Zügen ist sie
die tyrannische Herrscherin der Modewelt.
Mit schnellen Schnitten schafft es Frankel,
das hektische Leben in New York glaubhaft wiederzugeben und gleichzeitig die
Faszination der Modewelt schreiend komisch zu transportieren, auch wenn der
Film gelegentlich ins Klischeehafte abzurutschen droht.
Der Teufel trägt Prada ist aber vor allem
eine Bestandsaufnahme der heutigen Arbeitswelt. Andy Sachs verkörpert eine
Vertreterin der neuen Klasse des Prekariats
(auch als „Generation Praktikum“ betitelt), welche sich in schwebenden Arbeitsverhältnissen despotischen Vorgesetzten
ausgeliefert sieht, um auch nur den Hauch
einer Chance für das spätere Arbeitsleben
zu erhalten. Dabei kann eine Erkältung
das Ende aller Assistententräume bedeu-
ten, was Andys Kollegin Emily (Emily
Blunt) am eigenen Leib erfährt: Prompt
schreit Miranda, die Chefin, nach „antibacterials!“ und schlägt Andy die begehrte
Reisebegleitung für die Pariser Modewochen zu. Emily ist nun wieder dazu degradiert, Mirandas Handtasche und Mantel
zu empfangen, welche allmorgendlich auf
ihren Schreibtisch geknallt werden. Andy
hingegen sieht sich hier zum ersten Mal
gezwungen, auf Kosten anderer Erfolg
zu haben. Zum Schluss bleibt die Frage:
Kann gerade eine junge Frau nie Karriere
machen, ohne unter Anwendung mieser
Methoden zum kaltblütigen Karriereweib
zu mutieren, Freunde und Beziehung zu
verlieren? Miranda Priestly zumindest lässt
die Zuschauer mit dieser Frage zurück. -fFranziska Bornefeld, Christoph Willmitzer
65
wenn die wölfin heult
‚Wolfmother‘
stecken im
Glamrock.
Dass Outfit und Output manchmal weit auseinander liegen, beweisen Wolfmother. Das
sind drei Knaben aus Sydney: Andrew Stockdale, Chris Ross, Myles Heskett. Einer
braun, zwei schwarz gelockt, mit Streifenshirts, engen Hosen und Chucks an den Füßen.
Und gar hübsch anzuschauen, wie sie sich abmühen an ihren Instrumenten. Wenn man’s
nicht wüsste, man würde wieder auf eine dieser The-Combos aus UK tippen.
Aber dann kommt die Musik. Und der Zuhörer fragt sich: Auch wenn sie aus Australien
kommt – geht das, dass eine Band in diesen Monaten unseres Jahrtausends noch solche
Töne produziert?
Eine neue Hardrockbewegung sei hier schwer im Kommen, schwärmen Intro und NME.
Lange Schlangen vor dem Londoner Koko schon im Mai, zweimal Platin für ihr Debüt
Wolfmother auf dem Heimatkontinent. Die Band hält Vergleichen mit Led Zeppelin
und Black Sabbath, die Stimme von Frontmann Stockdale mit der eines frühen Ozzy
Osbourne stand.
66
Wenn die Wölfin heult
Und man muss schon zugeben, die machen das gar nicht schlecht. Da wurde im
Studio in L.A. aufgenommen und genau
das weggelassen, was keiner braucht, was
nur stört, und am Ende steht nichts weiter als roher, ungestümer Rock’n’Roll, der
einen bei Konzerten immer so schön zum
Schwitzen bringt.
Aber anders als bei Gitarrenrockbands
der jüngsten Zeit ist da noch ein bisschen
mehr. Das bisschen Mehr, das einen sofort
anspringt, wenn man die Platte in den
Händen hält und die Play-Taste gedrückt
hat: Mythos.
Die auf dem Albumcover abgebildete,
grimmig dreinblickende halbnackte, einer griechischen Göttersage entsprungene Dame könnte man so als Airbrushbild
auch auf der Kühlerhaube eines Trucks
finden. Die Lyrics erzählen von Gnomen,
Hexen, Adlern und Einhörnern. Und
über die Frage hinaus, ob wir wirklich ein
Glamrock-Revival brauchen, bleibt eines
offen: Meinen die das ernst?
Ja, offensichtlich tun sie das. Das ist derbe,
dreckig, agressiv, das geht auf die Zwölf,
das ist einfach Rockmusik. Als organic
jam-based rock der 70er bezeichnet denn
auch Chris Ross die Musik der Band. Musik, die entsteht, wenn frei von Pomp und
großen Melodien einfach nur geknüppelt
wird.
Kanada hat keine Kultur, hat der kanadische Musiker Gonzales in einem Radio
Eins-Interview gesagt. Das sei ein Grund
dafür, dass die Musikszene so dynamisch,
innovativ und frei von den Einflüssen, wie
sie in Europa vorherrschen, agieren kann.
Von Australien kann man getrost dasselbe
behaupten.
Die Geschichtslosigkeit des Staates – zerrissen zwischen patriotischen Gefühlen
für die alte Kolonialmacht Britannien und
einem von den USA inspirierten Lifestyle
– bringt nicht ohne Grund eine Band
wie Wolfmother hervor. Die brauchbaren
Elemente von allen Hard- und Stonerrockcombos der vergangenen Jahrzehnte
klauben sie zusammen, schmeißen sie in
einen Topf, schütteln und rotzen sie dem
Zuhörer wieder auf die Füße.
Queens of the Stone Age meets AC/DC
meets Marc Bolan. Wer keine Scheu hat,
sich schmutzig zu machen, bei einem Konzert in eine Prügelei zu geraten oder einfach mal wieder ausgiebig Luftgitarre spielen will, dem seien Wolfmother ans Herz
gelegt. Wen allerdings Slayer-Riffs und
Highway-to-hell-sound-a-like-Gekreische
noch nie hinter dem Ofen vorgelockt haben, der kann auch diese Jugendbewegung
furchtlos ignorieren. -fKatrin Knoppe
Wolfmother
Wolfmother
Juni 2006
Interscope
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das schimmelreich
Dieter Roths wucherndes Museum und was davon übrig blieb
SSeit der Zeit beuysscher Fettecken und Piero Manzonis eingemachten Fäkalien aus
Eigenproduktion ist der Konsument der schönen Künste mit Werken aus ekelhaften Materien vertraut und mit der Tatsache, dass diese zerfallen. Für das Beseitigen von Kunstwerken aus organischen Materialien braucht es keine übereifrige Reinigungskraft, wie
diejenige, die unter Einsatz von hocheffizienten Fettlösern Beuys’ Fettecke einfach wegwischte. Abseits von solcherlei Anekdoten ächzen Kuratoren unter den Anforderungen,
welche die Konservierung von Kunstwerken aus kurzlebigen Materialien an sie stellt.
Der Zerfall selbst ist aber Kunst. Das zumindest zeigen die Werke des 1998 gestorbenen Dieter Roth. Bei ihnen sind Zersetzungsprozesse nicht ein zu vermeidendes
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Problem, sondern Teil des Werkes. Das
zeigt Roths Anfang der 90er Jahre eingerichtetes Schimmelmuseum. Von dem
Sammler Philipp Buse erbat Roth sich ein
verfallenes Gebäude, das eigentlich einem
geplanten Roth-Museum weichen sollte.
Die angeschimmelten Räume waren ideal
für Roths Idee einer verrottenden Kunst.
Entsprechendes hatte er bereits in Ver-
Das Schimmelreich
wesungsobjekten, wie dem aus Käse und
Joghurt gefertigten Schimmelhaufen von
1968 gezeigt.
Das Schimmelmuseum wurde schließlich
mehr als ein unauffälliger Museumsraum.
Eine Zucker- und eine Schokoladenküche wurden eingerichtet, in denen Roth
die meisten der ausgestellten Stücke erst
herstellte. Bis ins Obergeschoss ragte beispielsweise der Selbstturm aus Schokolade, der langsam unter seiner eigenen Last
zusammensank. Vorgänge des Zerfalls ließen sich auch an den benachbarten Obstfenstern beobachten, in denen verschiedene Obstsorten zwischen Glasscheiben
vergammelten. Im Obergeschoss brachte
Roth Rahmen auf den schimmelnden
Wänden des Hauses an, und malte deren
Zwischenräume mit grauer Farbe aus. So
entstanden Schimmelbilder, die Roth in
Ruhe wuchern ließ.
Wendet der Betrachter sich nicht sofort
schaudernd ab, so kann er im Museum
mehr finden, als ein Gesamtkunstwerk
des Ekels. Schimmelnde und zerfallende
Kunstwerke geben einen Hinweis darauf,
dass die Medien der Bildenden Kunst im
Allgemeinen zur schönen Ewigkeit ungeeignet sind. Die übliche Konservierung erscheint als das panische Aufrechterhalten
einer Ästhetik der Makellosigkeit, die der
Einrichtung der materiellen Welt nun einmal widerstrebt – und man fragt sich, ob
es denn nicht vielleicht schöner sei, dass
eben alles zerfällt.
Zu besichtigen war das Schimmelmuseum
zwischen 1998 und 2001. Anfang 2004
wurde es abgerissen, was nach wie vor umstritten ist. Dieter Roth selbst allerdings
hatte sich noch zu Lebzeiten klar für den
Abriss ausgesprochen. Nach seiner Definition von Kunst als „Kucken und Kacken“
war eben auch der Abriss des Hauses nur
ein weiterer jener Verdauungsprozesse, denen Roth einen beachtlichen Teil seiner
künstlerischen Arbeit gewidmet hatte.
Eine bisher fehlende Dokumentation
über das Haus ist seitens der Dieter Roth
Foundation geplant. Was bleibt, ist der
virtuelle Rundgang durch das Museum im
Netz oder gesicherte Teile des Schimmelmuseums zu besichtigen. Auf das Kleben
unter den Schuhen und den Geruch des
schimmelnden Hauses allerdings muss
man verzichten, oder Entsprechendes im
heimischen Keller nachholen. -fBjörn Märtin
Dieter Roth Museum
Abteistraße 57
20149 Hamburg
www.dieter-roth-museum.de
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digitale hauswand
Die Webgemeinde pflegt das Werk eines anonymen Genies
Das Internet ist die ideale Ausstellungsfläche für die illegale Kunst von Banksy. Tausende
Anhänger dokumentieren sie auf Fotoportalen wie flickr.com. Mit neuartigen Funktionen wie Geotagging verknüpfen sie die digitale wieder mit der realen Welt und kreieren
einen globalen Wegweiser für alle, die sich für die meist kurzlebigen Werke des Briten
begeistern. Denn einen echten Banksy findet man meist nur dort, wo er eigentlich nicht
willkommen ist.
Disneyland ist so ein Ort. Alles ist groß, rund und süß. Die Big-Thunder-MountainAchterbahn rast durch eine Lollipop-Inszenierung des amerikanischen Westens mit allem was dazu gehört: Canyons, Minen, Klapperschlangen. Am 10. September dieses Jahres konnten die Besucher dort eine weitere bunte Ikone des American Way bestaunen.
Zwischen Kakteen und Felsen stand ein Mann im orangefarben leuchtenden Overall,
gefesselt an Händen und Füßen, einen schwarzen Sack über den Kopf gestülpt. Banksy
hatte wieder zugeschlagen. Mitten im entrückten Kinderparadies für Jung und Alt stand
Digitale Hauswand
die lebensgroße Puppe eines Guantanamo-Häftlings.
Immer wieder gelingt es dem gefeierten
Graffiti-Artist, seine Werke an Orten zu
platzieren, die versuchen, ihre saubere
Inszenierung vor jedem Kommentar zu
schützen. An der Wand im Elefantengehege des Bristol Zoo waren eines Tages
die Reflexionen der Dickhäuter in einer
riesigen Gedankenblase zu lesen: „Keeper
smells. Boring! Boring! Boring!“ Seine
Ratten, Affen und knutschenden Bobbys
bevölkern seit Jahren die Häuserwände
von Großstädten wie London, Los Angeles oder Berlin.
All das findet selten den Segen der Gesetzeshüter, weshalb Banksys Werke meist
nur eine geringe Halbwertzeit besitzen.
Seine Fans versehen daher ihre bei flickr.com
veröffentlichten Fotos mit einem sogenannten Geotag. Hierbei wird der Ort der Aufnahme auf einer Satellitenkarte vermerkt.
So entsteht über die Zeit ein Weltatlas der
aktuellen und wieder verschwundenen Arbeiten.
Längst haben Banksys verschönerte Ölschinken vom Flohmarkt sogar ihren Weg
in die großen Museen dieser Welt gefunden. Sie wurden nur nie bestellt. Es bedarf
anscheinend nur eines falschen Barts und
eines Trenchcoats, um die eigenen Werke
im Louvre, dem Museum of Modern Art
oder dem Brooklyn Museum ungefragt
auszustellen. Dort hängen sie Stunden,
manchmal Tage unentdeckt. Das British
Museum nahm „seinen“ Banksy dann sogar in die ständige Sammlung auf. Acht
Tage blieb unentdeckt, dass in der Abteilung Höhlenmalerei ein Stein an der
Wand hing, der neben einem primitiven
Büffel einen Menschen zeigte, der einen
Einkaufswagen schiebt. „Der Urmensch
geht zum Markt“ bezeichnet die angebrachte Plakette das Exponat.
Sogar dort, wo die Demarkationslinie
zwischen dem sauberen Westen und der
stinkenden Dritten Welt nicht brutaler
und chirurgischer sein könnte, hat der immer noch anonyme Künstler seine Spuren
hinterlassen. Im Jahr 2005 bemalte er an
sechs Stellen die palästinensische Seite der
Grenzmauer im Westjordanland. Durch
gemalte Löcher blickt man jetzt auf verstörend kitschiges Berg- und Südseepanorama. Vielleicht das einzige Werk, von
dem zu hoffen ist, dass es eines Tages nur
noch im Internet zu bewundern ist. -fFelix Dembski
www.banksy.co.uk
www.flickr.com
bürsten
battle
Von Christian Sammer
und Christina Lazai
Wenn es auf dem stillen Örtchen dicke kommt, hilft nur eins: die Klobürste.
die facette testet drei Spurenvernichter.
Die drei Testbürsten unterschieden sich maßgeblich in Preis und Design. Wie es aber
um Reinigungskraft, Handling, Abnutzung und schließlich auch der Verschmutzung
der Bürsten selbst bestellt war, konnte nur im Versuch herausgefunden werden. Aus
Rücksicht auf die allgemeine Befindlichkeit wurde zur Verschmutzung des WCs nur
lactosefreier Schokopudding verwendet.
Das teuerste Modell, die Bürste Toq der hessischen Designfirma Koziol, trat an gegen die
Ein-Euro Bürste Viren aus dem Möbelhaus IKEA und die Durchschnittsbürste deutscher
Duschbäder, die WC-Bürstengarnitur mit Randreiniger vom Hersteller Rival. Bewertet
wurden sie in einzelnen Kategorien nach Punkten. Nach einem Gewichtungsschlüssel
wurde die Gesamtnote ermittelt. Im Test schnitten die Bürsten von Gut + bis Gut - ab,
zeigten aber spezifische Stärken und Schwächen:
Modell
Preis
Koziol: Toq
Ikea: Viren
Rival: WC-Bürstengarnitur
28,75 €
1€
3,99 €
Kriterien Gewichtung
20,5
20,5
23
Design 20%
18,5
16,5
14,5
Preis 20%
10,5
20
17,5
Handhabung 10%
9,5
8
7
Abnutzung 10%
9,5
8
6,5
Dreckaufnahme 10%
9,5
9,5
7
Aufbewahrung 5%
4,5
3,5
3
82,5 = 2
86 = 2+
78,5 = 2-
Gesamt
72
Punkte insgesamt 100 möglich
Reinigung 25%
Der Reinigungsspezialist: Rival
WC-Bürstengarnitur
Die Kreative: Koziol Toq
Der Allrounder: IKEA Viren
Diese Bürste kann alles und hat kaum
Nachteile. Sie reinigt gut, steht sicher
und gerade im Aufbewahrungsbehälter,
braucht nur wenig Platz, kann leicht herausgenommen und verstaut werden und
liegt dabei noch griffig in der Hand. Besonders der günstige Preis macht kleinere
Mängel, wie das frühe Aufsplittern der
Borsten und das Spritzwasser, das beim
Aufnehmen oder Ablegen leicht über den
kleinen Standfuß tropfen kann, wieder
wett.
Sie besticht vor allem durch ihre solide
Verarbeitung und ihr pfiffiges Design. Der
große Standbehälter nimmt jeden Tropfen
auf, konnte jedoch die lange Bürste während der Testzeit niemals gerade halten.
Bei der Reinigung überzeugte sie vollkommen. Weder splitterten die Borsten
am Kopf, welcher für knappe vier Euro
separat ausgetauscht werden kann, noch
nahm sie irgendwelchen Schmutz auf.
Aber hervorragende Handhabung und
bestechende Schönheit haben ihren Preis:
Mit 28,75 Euro ist Toq für eine Klobürste
eindeutig zu teuer.
Mit dieser Bürste holt man sich den
Durchschnitt ans Klo. Sie hängt leicht
wacklig in dem sonst stabilen Ständer,
der aber bei hohem Wasserstand undicht
wird. Verschmutzte und leicht splitternde
weiße Borsten sind durch dessen zu große
Öffnung immer sichtbar. Aber in Sachen
Reinigung überzeugt das Modell, nicht
zuletzt durch den seitlich angebrachten
Randreiniger. Beim Test konnte die WCBürstengarnitur nicht nur das Fäkalimitat
problemlos entfernen, sondern förderte
sogar noch alten Schmutz aus dem Wasserkanal zu Tage.
Als Fazit bleibt damit eine banale, aber
wichtige Erkenntnis: Welche Bürste die
richtige ist, hängt von den mitgebrachten
Erwartungen und Wünschen ab. -f73
von Kati Rickenbach
Impressum
Wühlischstraße 20
10245 Berlin
www.diefacette.net
redaktion@diefacette.net
+49 (0)30 / 41 999 540
Chefredaktion: Onno Berger, Philip Jaeger, Christoph Schmaus
Cheflayout: Markus Schuster
Finanzen: Nikolas Schmidt-Voigt
Autorinnen: Franziska Bornefeld, Malte C. Daniels, Felix Dembski, Ursula Feuersinger, Lars Gaede, Kristin Joachim, Katrin Knoppe, Christina Lazai, Björn Märtin, Kaspar Renner, Christian Sammer, Nikolas Schmidt-Voigt,
Christoph Willmitzer, Nico Woche
Schlussredaktion: Anna-Mareike Krause
Lektorat: Michael Jaeger, Christian Sammer
Fotografinnen: Marie Goetze, Benjamin Rennicke, Sandra Kühnapfel
Illustrationen: Ursula Feuersinger, Harald Lustinger, Anna Niedhart, Philipp Steinbrenner, Carolin Steinat,
Pedro Stoichita, Franziska Vogl, Zonenkinder collective
Cartoon: Pedro Stoichita
Comic: Kati Rickenbach
Komposition: Julius Kowarz
Bastelecke: Klara Schneider
Flyerlayout facette-Party: Wolfgang Steinbauer
Homepage: Alexander Bethke
Druck: QuickPrinter GmbH, Hauptstraße 53, 51491 Overath
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78
79
dreck geht durch den magen
Zutaten (ca. 30 Stück):
100 g Marzipanrohmasse
100 g gemahlene Haselnüsse
100 g gemahlene Mandeln
100 g Löffelbiskuit
100 g Orangeat
30 g Mehl
150 ml Sahne
Zitronen und Orangenschale
Oblaten
Gewürzmischung:
35 g Zimt
9 g Nelken
2 g Koriander
3 g Ingwer
1 g Kardamom
2 g Muskatnuss
2 g Fenchel
2 g Anis
1 g Kümmel
2 g Piment
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Die Redaktion hat gebacken.
Aufgepasst hat Onno Berger.
Dreck geht durch den Magen
Mannheim ist eine schöne Stadt. Schön
langweilig. Hier rollte der erste MercedesBenz, liegt ein bedeutender Binnenhafen
und Gerhard Mayer-Vorfelder sowie Steffi
Graf gehören zu den Söhnen und Töchtern Mannheims. Das macht es aber nicht
besser: Das Bild der Stadt bleibt betrüblich spröde. Dabei waren badischer Erfindergeist und Humor noch zu Beginn des
19. Jahrhunderts eine fruchtbare Paarung
eingegangen – wie die folgende Geschichte zeigt.
Herr von Jagemann, ein Stadtamtsvor-
stand, verbot 1822 den Bürgern der Großherzoglichen Hauptstadt von Baden, jeglichen Kot auf die Straße zu werfen. Wer
trotzdem seine Geschäfte in die Öffentlichkeit trug, wurde mit einem Bußgeld
von zwei Reichstalern bestraft. Ein Zuckerbäcker bewies daraufhin Fäkalhumor:
Er kreierte ein unansehnliches aber ausgezeichnetes Gebäck und legte es als „Mannemer Dreck“ ins Schaufenster. Natürlich
ist das Rezept ein Geheimnis. Die Konditorei Herrdegen in Mannheim hütet es
noch heute. Wir probieren es trotzdem.
Marzipanrohmasse, gemahlene Haselnüsse und Mandeln, zerbröselter Löffelbiskuit, feingehacktes Orangeat, ein wenig
Mehl und Sahne werden mit ein bisschen
geriebener Zitronen- und Orangenschale
zu einem Teig geknetet. Lebkuchengewürz
sollte da auch schon drinnen sein. Lebkuchengewürz? Handelt es sich hier um
ein getarntes Weihnachtsgebäck? Nein,
Mannheimer würden widersprechen:
„Mannemer Dreck“ kennt keine Saison.
Und damit entspricht es ganz nebenbei
dem globalisierten Konsumentenwunsch,
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Dreck geht durch den Magen
alles immer und überall zu bekommen.
Einziges Problem – trotz des großartigen
Lebkuchenangebots Anfang September in
hiesigen Supermärkten ist die Gewürzmischung oft erst zur realen Weihnachtszeit
auf dem Markt. Schade für den Backkomfort.
Allerdings ein Glücksfall für die eigene
Erfahrung (Wow! Was ich alles kann!).
Denn man mischt sich das Aroma einfach
selber. Nelken, Koriander, Kardamom,
Ingwer, Fenchel, Anis, Muskatnuss und
Zimt – hört sich nach viel an, steht aber
82
meistens trotzdem in der heimischen Gewürzsammlung herum. Alles gemahlen
und gemischt. Erstaunlich wie aus diesem
Gewürz-GAU auf einmal der typische
Duft entsteht.
Jetzt kann man auch ganz entspannt Eiweiß mit einer Prise Salz als Versicherung
für die Festigkeit, und Zucker steif schlagen. Nussteig und Eischnee müssen jetzt
vorsichtig gemischt werden. Entweder
man drückt das Ganze nun durch eine
Spritztüte oder löffelt das Zeug auf die
bereit gelegten Oblaten. Bei 200 Grad
reichen zehn Minuten im Ofen. Danach
abkühlen lassen. Überzogen mit einer
Schokoglasur bekommt der Dreck seine
typische Farbe. Gleichzeitig wird der aromatische Geschmack konserviert, der hervorbricht, sobald man reinbeißt.
Der Geschmack macht es, zumindest für
Mannheimer, zu einem hervorragenden
Dauergebäck. Zur Kaffeezeit natürlich,
wobei ja noch zu Wenigen bekannt ist,
dass zu süßer Schokolade unbedingt Rotwein getrunken werden muss. -f-
schürzenträger
Im ewigen Kampf gegen den Dreck, hat die Sauberkeit zwei alte Gefährten: Reiniger und Schürze.
Für den einen braucht man eine Alchemistenküche,
für die andere die facette. Denken.Kochen.Basteln.
– und trotzdem sauber bleiben.
von Klara Schneider und Franziska Vogl
Models: Hannes und Klara
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Schürtzenträger
Müllsack mit Gaffatapestreifen direkt an die
Kleidung kleben.
Waschlappen als Tasche und Stoffstreifen zum
Umbinden auf und an ein Stück Bettlaken
tackern.
Schnürsenkel mit Sicherheitsnadeln an ein
Geschirrhandtuch stecken. -f85
Auf‘s Kreuz gelegt
Das große Rätsel mit den dreckigen Fragen.
1. auf Utopia ist er aus Gold
2. kann auch Kunst sein
3. Rotlichtviertel
4. als solches kann Pudding fungieren
5. hat man eine Schürze, braucht man keine
6. Bahnchef
7. DB-Putzutensilie
8. kann man nicht am Lehrter kaufen
9. Sohn Mannheims
10. Abk. Sohn Mannheims
11. Wow!, kann man auch selber mischen
12. passt zu süßer Schokolade
13. Zutat Nummer eins
14. trägt der Teufel
15. neue Klasse
16. klappern durch die Modewelt
17. findet man auf Kühlerhauben
18. kann man furchtlos ignorieren
19. harte Wahrheit
20. Glitzerstädtchen
21. leuchtet einzigartig rosagrün
22. Berufsgruppe um 1200
23. Hildegard von Bingen gurgelt damit
24. Geistesblitz von Dr. Best
25. steckt sich die Dame unter den Rock
26. Ingenieursfantasie
27. Tierrechtlerisch für Kuhmilch
28. Tierrechtlerisch für Honig
29. Enrons amerikanische Geldmagier
30. sticht gern ins Wespennest
Ilustration: Pedro Stoichita
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Das Lösungswort unter www.diefacette.net/preis
eingeben und sich überraschen lassen.