Die verlangsamte und die beschleunigte Zeit

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Die verlangsamte und die beschleunigte Zeit
Band 150, April – Juni 2000, Seite 80, Dokumentation
ÜBER DIE EXISTENTIELLE ERFAHRBARKEIT VON ZEIT
GÜNTER METKEN
Die verlangsamte und die
beschleunigte Zeit
EIN GESPRÄCH VON HEINZ-NORBERT JOCKS
Günter Metken.
Foto: HeinzNorbert Jocks
WALTER DE MARIA,
Lightning Field, 1977.
Foto: John Cliett
WALTER DE MARIA,
Lightning Field, 1977
RICHARD LONG, Eine
Linie in Schottland, Cul
Mór, 1981
Der in Paris und München lebende Kritiker Günter
Metken, geboren 1928, ist ein sich in den
verschiedensten Medien auskennender Geist in
pausenloser Bewegung. Ob er sich in den Bereich
der Ethnologie begibt, weil er selbst gerne reist, ob
er sich in die Weiten der Musik vertieft, weil er auf
Hörabenteuer aus ist, ob er Künstler am Tatort
aufsucht, weil ihn die Verbindung von Raum und
Werk interessiert, oder ob er sich durch das Dickicht
der Weltliteratur schlägt, weil ihm reines Sehen nie
genügt: er ist aufgrund der Felder, auf denen er sich
bewegt, wie kein anderer in der Lage,
Querverbindungen zu ziehen, Differenzen ausfindig
zu machen und Dinge zu sagen, auf die kein anderer
auf so spannende Weise kommt. Sich auf ihn
einzulassen, kommt dem Frager vor wie eine Reise
ins Unbekannte der Zeit und ihren Manifestationen in
den Künsten. In Paris sprach mit Günter Metken, der
über Kunst, Musik und Reisen Bücher veröffentlichte,
Heinz-Norbert Jocks.
Die Zeit der Kulturen
Heinz-Norbert Jocks: An Ethnologie interessiert,
reisen Sie, wie ich weiß, viel. Deshalb meine Frage:
Bringt das Bereisen anderer Kulturen mit sich, dass
man auch deren anderen Zeitsinn kennen lernt?
Günter Metken: Ja, das ist eines der Hauptanliegen
der Reisen. Jede Kultur hat einen anderen
Zeitbegriff. Kaum in Afrika, merkt man schon, wie
die Zeit sich verdichtet, verdickt und verlangsamt.
Es gab jetzt ein schönes Beispiel: Der Fernsehsender
Arte hat Filmbeiträge zum Jahr 2000 angefordert.
Unter den Angesprochenen war auch ein Afrikaner,
der sich vorstellt, zu Silvester 1999 in sein Dorf in
Mali zurückzukehren, um dort die Zeitenwende
mitzuerleben. Es wird wie an jedem anderen Tag im
Jahr sein mit all den Schwierigkeiten, die der Winter
während der großen trockenen Hitze mit sich bringt.
Ein paar Jungs werden sich an die Wand mit einem
Transistor am Ohr lehnen, um die Ereignisse aus
Paris zu verfolgen, wo die Wende mit einem großen
Feuerwerk am Arc de Triomphe gefeiert wird, und
danach werden sie ihre Stühle wie jeden Abend
einpacken und schlafen gehen. Das dritte
Jahrtausend ist dann angebrochen. Das Verhältnis
RICHARD LONG, Eine
Linie im Forêt du Porge
HAMISH FULTON,
Seasons of the
Year - Ireland
Wales Scotland
England, 19721988
Afrikas zur Zeit ist insofern anders, als die Menschen
keine Einschnitte vornehmen, wozu wir so sehr
neigen. Wir tendieren ja dazu, die Zeit einzuteilen,
und privilegieren bestimmte Zeitabschnitte. Das ist
dort nicht der Fall. Dasselbe ließe sich auch von
anderen Kulturen sagen. In Asien ist es ja
sprichwörtlich so – und es ist fast schon ein
Gemeinplatz –, dass man die Zeit zirkular erlebt,
weil man wohl nicht in ein solches Zeitrennen
eintreten möchte. Das wirkt sich auch auf andere
Dinge wie das Kunstwollen aus. Wir könnten nun von
China und der ewigen Wirklichkeit der Schrift
sprechen, die dort alles beherrscht. Da gibt es
soundso viele Buchstabenzeichen, die praktisch das
ganze Universum regieren und das einzige sind, was
Bestand hat, während alles andere, ob Bauten oder
Skulpturen, vergänglich ist. Sie werden abgerissen,
zerstört oder wieder ergänzt. Das geschieht insofern
ganz ohne Bedauern, weil das, was dann wieder
entsteht, das gleiche ist. Wenn heute chinesische
Künstler in Venedig ein solches Aufsehen erregen, so
rührt das wohl auch daher, dass die Schriftzeichen
immer zugleich körperlich und abstrakt sind. Es ist
ein Charakteristikum dieses Zeitbegriffs, dass er
zugleich gefüllt und nicht existent ist. Das heißt, die
Zeit steht, während sie gleichzeitig geht. Das ist für
uns wenn überhaupt, nur in Momenten der
Entrückung oder Erleuchtung vorstellbar und wird
allenfalls in der Philosophie und Literatur bedacht.
Die europäische Musik wäre ohne einen extrem
strukturierten Zeitbegriff undenkbar, während
andere Musiken ohne den metronomischen oder
zählbaren Zeitbegriff vorstellbar sind. So verläuft
eine afrikanische Pentatonik – wie soll ich sagen? –
gleichmäßig, mit Aufschwüngen und
Verlangsamungen, aber unabhängig von metrischen
Vorbedingungen.
Mehr über den Zeitbegriff in der Musik, bitte?
BERND UND
HILLA BECHER,
Zwei
Wassertürme,
1979, ein Teil
eines Diptychons
mit
Photographien,
40,5 x 30,9 cm
Förderturm
Beringen,
Es verhält sich so, dass Musik bei uns im Mittelalter
liturgisch gebunden war und in Kirchen aufgeführt
wurde. Die Abschnitte konnten je nach Bedarf
gestreckt, verlangsamt, vervielfältigt und repetiert
werden, so bei der Gregorianischen Musik oder der
Schule von Notre Dame. Die Ars Nova ist
strukturierter, weil sie an als Refrain eingeführte
Wiederholungen präziser Art, d.h. an feste
Strukturen gebunden ist, die sich zu einem Material
verdichten, bestehend aus verschiedenen Formen in
einer Form, die in präzise wiederkehrenden Abläufen
wiederkehren. Seit der Renaissance findet eine
extreme Formalisierung statt. Das heißt, Musik teilt
sich in genau definierte Stücke auf, woraus sich
Kompositionen wie Motetten, Symphonien, Sonaten,
auch Ouvertüren ergeben. Diese Dinge sind
messbar. Die Notation geht dem Prozess voran und
dementsprechend auch die Taktierung. Innerhalb
des späten Barocks wird das zu einem Höhepunkt
getrieben. Die Verflechtungen von Zeitebenen in den
großen Passionen von Bach, aber auch in seinen
Kompositionen für ein oder zwei Instrumente sind
wirklich schwindelerregend. Dergleichen findet man,
obschon sie stark rhythmisiert sind, in anderen
Musiken nicht. Der Rhythmus beruht dort oft auf
Belgien, um
1991, (auf der
oberen Plattform
Hilla Becher),
Photographie,
60,2 x 48,2 cm
einer zeitlichen Steigerung. Das lässt sich in der
indischen Musik sehr schön hören, wo man wieder
und wieder zu neuen Anläufen ausholt, um zu einer
Steigerung und Beschleunigung des musikalischen
Ablaufs im ekstatischen Sinne zu gelangen, der
schließlich abfallen und langsam ausklingen kann.
Das sind andere Stellungnahmen zur Zeit, und
dahinter steht auch eine andere Zeit.
Wie sehen Sie im Vergleich dazu den Zeitsinn der
Literaturen?
WEEGEE (Arthur Feelig),
Reportage-Fotografie
WEEGEE (Arthur Feelig),
Reportage-Fotografie
Da ist das noch viel diffiziler, weil jeder Erzähler sich
darum bemüht, eine persönliche Zeit einzuführen.
Aber wenn wir einmal große Beispiele nehmen, so
sind doch der Ablauf der Ilias oder das ReiseProgramm der Odyssee zeitlich strukturiert.
Merkwürdigerweise folgt danach – teils auch darauf
fußend – eines der großen Werke der Weltliteratur,
nämlich die Erzählungen von Tausendundeiner
Nacht, die einen verräumlichten Zeitbegriff
aufweisen. Das heißt, man bewegt sich zwischen den
Ausläufern des alexandrinischen Reiches, zwischen
Indien, Bagdad und den Kreuzzügen bis zum
osmanischen Reich in einem zeitlosen Raum, der
aber in Wirklichkeit einen Zeitraum von etwa
tausend Jahren umspannt. Darin begegnen sich
Figuren aus den verschiedensten Zeit- und übrigens
auch Kulturbereichen, ohne dass es einen Hiatus
gibt. Drin steckt ein religiöser Hintersinn, etwa der
Bezug des auf der Antike fußenden Christentums
zum Islamischen. Das Christentum ist wie das
Judentum auf Wiederkehr, auf eine Wiederkehr des
Messias, das Jüngste Gericht, also auf ein Ende der
Zeiten ausgerichtet. Im Islam ist das weniger der
Fall.
Wie dann?
HENRI CARTIERBRESSON, Queen
Charlotte´s Ball,
London, 1959. ©
Henri CartierBresson/Magnum
Photos. Courtesy
KV Düsseldorf
Nicht so begrenzt. Das Begrenzte und das
Unbegrenzte stellen ja überhaupt ein Problem dar:
ob Kulturen ihren Ablauf durch Anfang und Ende
begrenzt sehen, ob sie darüber überhaupt
reflektieren oder ob es als selbstverständlich gilt,
dass es weitergeht. Wobei ein Wort wie
"Weitergehen" bereits westlich gedacht ist, denn es
würde bedeuten, dass es von hier nach dort geht.
Das tut es in anderen Kulturen gar nicht und
übrigens auch in unserer nicht immer. Aber bei uns
ist es stärker ausgeprägt.
Welche Auswirkungen hat es für den Einzelnen, ob
er in einer Kultur der Begrenztheit oder
Unbegrenztheit lebt?
AUGUST SANDER,
Wer in einer Kultur der Unbegrenztheit lebt, bei dem
sind die Selbstgewichtigkeit, die Selbstbewusstheit
und die Egozentrik weniger stark ausgeprägt; dafür
stehen aber der Bezug zu seinem Dorf, die Familienoder Clanzusammenhänge, die Verbindungen
dynastischer Art stärker im Vordergrund. Das heißt,
der Einzelne lebt wichtig, ist sich aber selbst nicht so
wichtig. Das ist jetzt keineswegs im Sinne einer
Straßenarbeiter,
Ruhrgebiet, um
1928,
Photographie,
28,7 x 20,1 cm
zurückgezogenen Psychologie oder
Ameisenhaftigkeit gemeint, sondern als Frage des
Zusammenseins. Hingegen ist bei uns durch das
verschärfte Zeitbewusstsein das Gefühl für die kurze
Strecke des eigenen Lebens und für ihr Maß an Sinn,
Wert, Vergnügen und Genuss ausgebildeter.
Nun gibt es noch heute Naturvölker sowohl in
Indonesien als auch in Südamerika und anderswo,
wo das Bewusstsein vom eigenen Alter, also das
Wissen um die eigene Zeit fehlt.
AUGUST SANDER,
Handlanger, um
1928,
Photographie,
22,3 x 15,5 cm
DAVID HOCKNEY,
Gregory Walking, Venice,
Ca., Feb. 1983,
Photocollage, Edition
1/1, 40 x 54,6 cm
Man braucht da gar nicht soweit zu gehen. Der
Cineast des vorhin genannten Films ist ein
Mauretanier, aber in Mali aufgewachsen und stammt
aus einer Familie, deren Geschichte ganz interessant
ist. Er hat beispielsweise von sich gesagt, er habe
sein Geburtsdatum erst im Alter von 15 Jahren
erfahren. Wann geboren, spielt also keine Rolle. Was
in Kulturen wie seiner sehr viel wichtiger ist, ist das
Ableben. Das wird genau bezeichnet, und dem
gelten die Kulte, weil danach eine andere Form des
Daseins beginnt. Die Vereinigung mit den Ahnen
oder den Geistern der Verstorbenen stellt dabei ein
ganz großes Problem dar. Im Grunde auch bei und
für uns, obschon wir es gerne verschweigen. Aber
dieses Denken in einer zeitlosen oder locker
zeitgebundenen Gemeinschaft sollte man
keineswegs auf sogenannte Naturvölker, also auf
entlegene oder noch unberührte Völkerschaften
eingrenzen. Es sind – natürlich mit Variationen –
durchaus auch für ganze Länder und große heutige
Staaten geltende Kriterien. Es handelt sich um
andere Zeitvorstellungen.
Das Tempo des Seins
Ist das, was wir mit der Hälfte des Lebens, also mit
der Midlifecrisis verbinden, dadurch bedingt, dass wir
die Zeit unseres Lebens so strukturieren, wie wir es
tun. Treten derartige Krisen dort, wo man um das
eigene Alter nicht weiß, weniger oder gar nicht auf?
DAVID HOCKNEY,
Interior, Pembroke
Studios, London, 1986,
Photocollage, Edition
1/1, 114 x 166,4 cm
CHRISTIAN BOLTANSKI,
364 Suisses morts (364
tote Schweizer), 1990,
Installation in der
Ich glaube, das hängt viel mit dem Training auf eine
Karriere und eine Erfolgslaufbahn zusammen. Heute
kommt der Höhepunkt, den man früher relativ spät
erreichte, recht früh. Auf einmal stellt man fest, dass
das ja noch gar nicht alles gewesen sein kann oder
noch gar nicht war. Was Sie Mittlebenskrisis nennen,
das tritt meines Erachtens deshalb auf, weil man so
extrem, schon in der Schule und zu Hause, auf ein
Erfolgserlebnis hin organisiert wird. Später sind es
der Druck und die Erwartungshaltung der einen
beschäftigenden Firmen, die einen darauf
programmieren. Vor allem aber drängen uns die
Institutionen sowie die Gesellschaft und der Staat zu
so einem Karrieredenken. In Japan wird man in
extremer Weise per Erziehung auf Erfolg getrimmt,
aber wenn man ihn dort einmal hat, so ist man in
einer Situation mit vielen anderen, die zum großen
Teil älter sind. Dort neigt man nicht so dazu, die
Alten zu verdrängen, sondern diese genießen
Ansehen in Kontrollgremien, als Chefs oder
Respektspersonen. Sie begleiten die Jungen eine
Whitechapel Art Gallery,
London, 1990
Zeitlang, bis sie langsam austreten und die Jungen
selbst das Alter erreicht haben. Insofern wird dort
die extreme Spannung der Midlifecrisis
abgeschwächt.
Sehen Sie die Möglichkeit, einen kollektiven, durch
die eigene Kultur geprägten Zeitsinn dahingehend zu
überschreiten, dass man sich einen anderen
aneignet, der dem herrschenden vielleicht sogar
widerspricht?
CHRISTIAN BOLTANSKI,
Réserve du musée des
enfants (Reserve des
Museums der Kinder),
1989, Installation im
Musée d´Art Moderne de
la Ville de Paris ("Histoire
de Musée"), 1989
GIORGIO DE CHIRICO,
Piazza D´Italia
Metafisica, 1921
SALVADOR DALÍ,
Dreieckige
Stunde, 1933,
Öl/Lwd., 61 x 46
cm
Es gibt die vielen Versuche von Westlern, zum
Beispiel von Amerikanern in Japan, Buddhisten zu
werden. Sie sind buddhistischere Buddhisten
geworden als die Japaner. Das ist das eine.
Außerdem gibt es gar nicht so namenlose
Intellektuelle wie Roger Garaudy und andere, die
zum Islam übertraten, und das sicher aus
ebensolchen Gründen. Es gibt viele Versuche, auch
in der Musik, von der wir vorhin ausschweifend
gesprochen haben, sich mit östlichen Parametern zu
messen. Von Debussy bis Boulez ist das ein
Charakteristikum französischer Komponisten. Alles
Versuche, wenn auch in einem technischmusikalischen Bereich, aus einem extrem taktierten
Medium auszusteigen, um sich größere Freiheiten,
Lässigkeiten und ein Gehenlassenkönnen zu
erlauben. Was Ihre Frage betrifft, ob man sich der
extremen Zeitversessenheit unserer Kultur entziehen
kann, ist das gewiss ein individuelles Problem. Die
Frage ist ja nicht, ob man es will – denn so eine
vorübergehende Bewusstseinserhellung wollen sicher
viele –, sondern, ob man es kann. Wenn man von
beruflichen und anderen Bedingtheiten und
Gebundenheiten absieht, so kann es ins Komische
ausschlagen, wenn man das Dasein eines
Vegetariers mit verlangsamtem Zeitbegriff führt.
Daraus kann auch der Esoteriker hervorgehen, der
innerhalb einer vorgegebenen Zeit seinen eigenen
Rhythmus leben will. Generell glaube ich, dass jeder,
wenn er ein bisschen in sich hineinhorcht und
seinem eigenen Rhythmus zuhört, Aufschlüsse
bekommen kann, in welchem Tempo er eigentlich
leben sollte. Ich glaube, dass sich diese
Innenorientierung relativ einfach, bruchlos und ohne
Spaltung mit dem heutigen Lebensstil vereinbaren
lässt.
Ein Tag auf dem Lightning Field von Walter de Maria
Welches ist der von Ihnen favorisierte Zeitsinn?
SALVADOR DALÍ, Weiche
Uhren, 1933, Öl/Lwd., 81
x 100 cm
Es ist eine Banalität, wenn ich sage, dass ich
manchmal mehr und manchmal weniger Zeit haben
möchte. Was ich mir vorstelle, ist ein Zustand, der
es einem ermöglicht, die Zeit, wenn man sich durch
Architekturen bewegt, buchstäblich zu vergessen. Es
wäre wunderbar, wenn sich einem die Zeit des
Bauwerks mitteilte, das einen ja in sich, in all seine
Verschlingungen und Wege hineinzieht. Dann könnte
man so glücklich werden wie gelegentlich beim
Hören von Musik. Deren Suggestion ist es ja, dass
sich ihre Zeit auf einen überträgt. Ich stelle mir vor,
dass man sich den Angeboten der Natur oder
gewisser Kunstgattungen anpassen kann, dass man
sich einem großen Kirchenbild von Rubens oder
Tizian so nähert und mit ihm auch so umgeht, wie es
eigentlich sowohl das Bild wie auch der Raum
verlangen, in dem es hängt. Nämlich umhergehend,
von weitem wie von nahem schauend und mit
verschiedenen Geschwindigkeiten. Ich komme noch
einmal darauf zurück, was ich in unserem ersten
Gespräch über Walter de Marias Lightning Field
sagte. Wenn man sich darauf einlässt, so ist einem
ja ein Zeitrahmen vorgegeben. Die Mindestdauer des
Aufenthaltes umfasst 24 Stunden, so dass man
CHRISTO,
einmal den Ablauf von Tag und Nacht mit den
Surrounded
Sternen, dem langsamen Hellerwerden, dem Lauf
Islands, Biscayne
der Sonne und des Mondes, mit den Übergänge von
Bay, Miami,
bleich zu blass, dann wieder von hell zu dämmerig
Florida, 1983
und dunkel miterlebt. Zunächst ist das einem
aufgezwungen. Wer aber länger am Ort verweilt,
merkt, dass er da ganz schön reingezogen wird und mitmacht, weil so eine
Umdrehung etwas sehr Beruhigendes hat. Man merkt, dass dies mit dem
eigenen Blutkreislauf oder dem eigenen Gedankentempo harmoniert, so dass
man sich wenigstens einmal der zirkularen Zeit bewusst wird.
Können Sie das Gebiet, in der Walter de Marias Arbeit eingebettet ist, ein
bisschen beschreiben?
Es ist in 2200 m Höhe auf einem Steppenplateau 180 Meilen südwestlich von
Albuquerque gelegen. Noch das örtliche Büro der Stiftung in Quemado, einem
Nest mit drei Kirchen, ist 34 Meilen entfernt. Von hier aus geht es mit
Vierradantrieb in einstige Weidegründe, denn das Lightning Field gehörte zu
einer Ranch, und in der Ferne blöken noch Rinder. Aber der nächste Nachbar
wohnt meilenweit, und geblieben ist vom alten Anwesen nur eine Blockhütte aus
Bohlen und Brettern, fachmännlich instandgesetzt und mit Strom, Wasser und
einem wohlgefüllten Kühlschrank versorgt. Hier verbringt der Besucher, gegen
eine Pauschale von damals dreißig Dollar täglich, seine einsiedlerischen Tage,
mindestens aber 24 Stunden, um den vollen Umlauf des Lichts zu erleben, ein
kosmisches Exerzitium. Durch alle Fenster der Hütte blickt der unverstellte
Horizont herein, wie ausgestreckt durch Stangen, die am Mittag, wenn man
ankommt, so banal aussehen wie Licht- und Telegraphenmasten, abends und
morgens aber bei schrägstehender Sonne ein Eigenleben nie gesehener Art
entfalten: das Ritual scheint dann zu beginnen. In Wirklichkeit hat es bereits mit
der Anfahrt, zunächst im Tal des Rio Grande, dann stetig ansteigend durch
Wüstenstreifen, längs Tafelgebirgen und schluchtartig ausgewachsenen
Trockentälern, die hier "arroyos" heißen. Unterwegs Wellblechorte, Windräder,
die Wasser in die Corrals pumpen, die Spur des alten Viehabtriebs zur
Eisenbahn. Die Strecke zieht sich hin, per aspera ad astra, durch Einöden
aufsteigend zum Heiligtum, wie in alten Kulturen, oder nach Monsalvat, der
Gralsburg des Parzival. Pilgerstraßen kommen einem in den Sinn, das
beschwerliche Näherkommen, die allmähliche Einweihung, der Weg als
Läuterung. Dies alles freilich bildlich gesprochen, denn man braucht ja nur einen
Leihwagen, Geld und Geduld. Im Grunde reagiert Walter de Maria mit dem
Lightning Field auf die Zersiedelung der amerikanischen Landschaft, die zwar in
Nationalparks betulich gehätschelt, überall sonst aber rücksichtslos ausgebeutet,
liegengelassen, zur Müllkippe wird. Demgegenüber grenzt de Maria an
entlegener Stelle ein Schutzgebiet rein ästhetischer Betrachtung aus.
Was macht das Werk aus? Woraus besteht es?
Der Künstler hat selbst erklärt, dass die Summe der Tatsachen weder das Werk
ausmache noch seine Ästhetik bestimme. Doch sind die Fakten schon sprechend
genug. Das Lightning Field besteht aus vierhundert hochglanzpolierten
Stahlpfosten mit scharfer Spitze. Jeder Pfahl hat fünf Zentimeter Durchmesser
und ist an die sechs Meter hoch; einige wurden nach unten verlängert, um die
Unebenheiten des Terrains auszugleichen. Die Einpflanzung erfolgte nach
genausten Vermessungen. Die Stangen sind fest verankert, zugleich aber
federnd genug, um die schwersten Stürme auszuhalten, ein Werk auf Dauer. Sie
wurden im Abstand von 67 m als ostwestliches Rechteck von einer Meile Länge
und einem Kilometer Tiefe errichtet. Dieses Aufstellen nach Himmelsrichtungen
ist nicht ohne Hintergedanken. Tatsächlich zeigen bei niedrigem Sonnenstand
die Schatten wie Striche zum nächsten Schaft, so dass der Punktraster von oben
gesehen zur Raumzeichnung wird, ähnlich den kalendarischen Erdeingrabungen
der Nazca in Peru, die von allen Land-Artisten bewundert und von einigen
besucht wurden. Gegen Abend denkt man an Leuchtstäbe, von der Sonne
getroffen. Die vibrierenden Speerspitzen glühen als kleine Kugeln gleich den
Goldpunkten für Amun Re auf ägyptischen Obelisken - ein Sonnenkult des
späten 20. Jahrhunderts. Die Stangen vermessen den Raum, machen ihn
sozusagen anschaulich, ohne dass sie selbst je auf einen Blick zu erfassen
wären. Es sind ins Endlose verlaufende Säulenreihen – eine klassische
Erinnerung – und sich überschneidende Perspektiven, Lufttäuschungen, eine
kalkulierte Fata Morgana.
Wie erlebten Sie den Tag dort?
Die Einsamkeit ist total, kein Mensch. Stille, nur Wind und Sonne, alle paar
Stunden eine hochfliegende Düsenmaschine. Das mühsame Fortkommen im
aufgeplatzten Gelände verleiht den eleganten, immateriellen Masten auch etwas
sich entziehendes, Unerreichbares. Zugleich gerichtet und desorientiert, irrt der
Pilger in dieser mathematischen Schonung umher. Wäre nicht die Einrahmung
mit Hügeln – er käme völlig ins Schwimmen. Immer andere Fluchten von
Masten verwirren den Blick, die geometrische Anlage wird zum Labyrinth. Als
abstrakte Anpflanzung steht sie nun kalt und gleißend gegen den Rundhorizont;
im sinkenden Licht glänzen die Piken messingfarben, bis sich der Himmel grün
zu verfärben beginnt: Sonnenuntergang. Mit einem Mal ist alles stumpf, als
habe jemand das Licht ausgeschaltet. Kalte Pracht im Widerschein des
Abendrots. Die Stangen stehen blass, wie Totempfähle, gegen den fahlen rosa
Himmel, reihenweise und hochaufgerichtet gen Westen strebend, erst noch
Lichtfäden, denn Striche zwischen zwei bleichen Lichtquellen, denn gegenüber
ist längst der Mond hochgestiegen. Schienen die Pfosten einen Augenblick mit
dem Tageslicht ganz vom Erdboden verschwunden, so wirken sie nun in der
hellen Nacht dünngesäter, und das Metall im Mondlicht schimmert wie jene
verlängerten Strahlen, an denen man in Märchen zu unserem Trabanten
emporklettert. Frühmorgens herrschen dann klare geometrische Verhältnisse.
Jetzt kommt kein Gedanken an Irrwege auf, alles ist übersichtlich in Geraden,
rechten Winkeln und Diagonalen angeordnet. Die aufgereihten Stangen
verkürzen sich perspektivisch zu Dreiecken – oder zu Harfen? Denn da ist noch
etwas anderes. Als man im Dämmern das Blockhaus verließ, das bei
zunehmender Entfernung geduckt und verloren gegen die graue Trostlosigkeit
dalag wie in den frühen Bildern von Andrew Wyeth, da waren die Masten nur zu
erahnen. Dann wurden sie dünn und nadelscharf sichtbar. Und dann der
unglaubliche Moment: Die Sonne springt über den Bergrand, und im Augenblick
glänzen alle Stäbe licht auf, so leicht und schwerelos, als würden sie von Musik
erbeben; Sphärenklänge wie von Phil Glass, mathematische Akkorde der
Pythagoräer. Das Licht bringt sie zum Klingen, so wie einst im ersten
Morgenlicht die Memnonskolosse bei Luxor ertönten, in einer Erzählung
Herodots, die einem auf diesem Hochplateau im Südwesten Amerikas einfällt.
Auch an lauter Sonnenuhren denkt man, deren Schatten sich Tag für Tag um
Metallnadeln drehen, im Gleichtakt der Natur. Hinzu kommt die
Blitzkomponente. In den gewitterreichen Sommern Neu-Mexikos funktionieren
die vierhundert Masten als Blitzableiter; die elektrischen Entladungen erzeugen
Lichtbögen und -netze.
Die Verschiebungen des Lichts
Das Ganze verändert sich wohl auch noch einmal, je nachdem zu welcher
Jahreszeit man kommt?
Ein wirkliches Lightning Field ist es natürlich im Frühjahr wie im Spätsommer,
aber ich war nie zu dieser Zeit dort, da muss es extrem gewitterreich sein, so
dass die Spitzen die Blitze wie Elmsfeuer auffangen und leiten. Auch außerhalb
davon reflektieren sie alles Licht genau, vor allem in den Zwischenzeiten.
Mittags, wenn die Sonne senkrecht darauf scheint, ist es flach. Aber in den
Zwischensituationen, vor allem in der frühen Dämmerung und der
Morgendämmerung, bei Morgenröte und Abenddämmerung fangen diese Masten
extreme Schattierungen von Rosa, Lila und Grau auf. Das ist ein geradezu
einzigartiges, ein kosmisches Schauspiel von kalten Farben. Es ist unglaublich
schön, zwingend und kann nur erreicht werden, wenn der Besucher sich ständig
bewegt. Das heißt, er bewegt sich zwischen den Masten, stolpert über
Karnickeläcker, um immer anderen Verschiebungen des Lichtes auf die Spur zu
kommen. Da sieht man, wie die Zeit im praktischen Sinne zum Raum wird.
Indem man einen Skulpturenwald sozusagen abschreitet, wird man zugleich
eines zeiträumlichen Sehens inne. Walter de Maria hat da etwas erreicht, was in
der heutigen Kunst selten, ja einmalig ist, nämlich eine Allsinnigkeit, wie sonst
nur noch in der Opermusik möglich. Es wäre jetzt zu banal, auf Wagners Parsifal
hinzuweisen. Aber effektiv wird auch dort wird die Zeit zum Raum. Kein anderer
als der Ethnologe Claude Lévi-Strass erklärte, entscheidend sei der Moment, wo
sich eine moderne westliche Musikausübung der Strukturiertheit der Mythen der
Welt, vor allem den von ihm untersuchten Indianermythen aus dem Nordwesten
Amerikas nähert. Also eine Simultan-, keine Hinter-Nacheinander-Struktur, eben
eine Struktur der Gleichzeitigkeit.
Das Erleben der Arbeit von Walter de Maria basiert auf einem naturmimetischen
Zeitbegriff?
Man wird eines kosmischen Umlaufs inne, indem man selbst in einen Umlauf
gerät, den Lichtreflexen auf den Stahlmasten nachspürt und sich dabei in
gewisse Richtungen bewegt, weil das Licht, je nachdem von wo es kommt, mal
dahin, mal dorthin verschwindet und mal durch die große Helligkeit, Reflexe
auslöst, mal durch die Dunkelheit gebremst wird. Im Grunde kann man immer
noch einem letzter Lichtschimmer oder Lichthauch nachspüren. Das ist nie ganz
erloschen.
Das ist fast wie die Erinnerung an einen organischen im Gegensatz zu einem
Zeitsinn, der sich von der Natur mehr und mehr verabschiedet hat.
Das ist ganz bestimmt so. Walter de Maria ist Amerikaner, und er lebte in New
York. Bereits die Tendenz der Land-art, in den Westen auszuwandern, war der
Versuch, der hektischen Zeitvorstellung, dem "time is money" der Ostküste zu
entfliehen. Das war besonders bei den Künstlern der Fall, die auf
vorgeschichtliche Kulturen, etwa auf die Wiederentdeckung der NazcaErdzeichen reflektierten, um zu einer verlangsamten oder gar stillstehenden Zeit
zu gelangen – wenigsten im Kontrast zu unserer Zeitkultur. Man hoffte, schon
aus dem Sich-Reiben beider Begriffe ließe sich eine kulturelle Energie oder
Befriedigung schöpfen.
Die Wiederkehr des Labyrinths
Ist Ihnen Richard Long wichtig?
Unbedingt. Seine Wanderungen sind stets minutiert und kartographiert. Sie
weisen auf Geographien hin und sind auf das Finden ausgerichtet. Sobald er auf
einen Ort stößt, wo ihn die natürlichen Gegebenheiten reizen oder die Situation
ihn so anspricht, dass er selbst etwas baut, steht sozusagen die Zeit still. Nunc
stans. Es ist kein Zufall, dass er ständig kreisrunde Dinge errichtet. Die
Spiralformen, von ihm verwendet, gibt es schon lange in der menschlichen
Kunstäußerung und in Labyrinthen. Man könnte jetzt einen Exkurs über die
Wiederbeliebtheit des Labyrinthes machen. Neulich las ich in einer Zeitschrift, in
Frankreich würden laufend Labyrinthe sozusagen als Hobbyräume gebaut, in
denen man sich lustvoll verliert und wiederfindet. Das heißt, man hebt, zwischen
den Heckenwänden spazieren gehend, die Zeit eine Zeitlang auf, jedoch nicht
allzu lange, damit es nicht beängstigend wird.
Warum geht das nicht länger?
Zum einem, weil man es mit Kindern zusammen tut, und zum anderen, weil das
so ein Anhängsel der Vergnügungsindustrie, also der Ferienbeschäftigung und
des Spiels ist. Gott sei Dank haben wir noch das Spiel, und dieses ist ein Moment
des Verschwindens von Zeit. Weil es möglich ist, sie dabei zu vergessen, spielen
auch Erwachsene so gerne eine Zeitlang mit; und weil sie kein Zeitgefühl haben,
werden Kinder so bestaunt und bewundert.
Zurück zu Richard Long, mehr zu seinem Zeitsinn, bitte?
Nun, ich bin nicht zu vertraut mit seinen Gedanken. Aber ich könnte mir
vorstellen, dass für ihn die Tätigkeit des Anhäufens und Aufklatschens,
überhaupt die großen, aber ohne große technische Mittel zu verwirklichenden
Projekte eine Herausforderung an die Zeit sind. Das heißt, was er anstrebt, ist
mit den Mitteln eines Mannes mit zwei Armen und einem Willen zu schaffen.
Zum anderen hebt er die Zeit für sich auf, indem er sich unbegrenzt in dieses
eine Projekt vertieft. Das ist aber überhaupt etwas, was den Künstler von dem
"normalen Menschen" unterscheidet. Er wird darum beneidet, dass er sich Zeit
lassen kann. Da er keinem wüsten Produktionsrhythmus folgt, ist er privilegiert,
ohne zeitliche Begrenzung an einem Werk zu arbeiten. Er tut es, weil er den
Eindruck hat, das sei jetzt das, was passieren und erreicht werden muss. Damit
wird eine Station erreicht, die wichtig ist. Also die Wichtigkeitsbegriffe sind
andere. Es ist unnötig zu erwähnen, wie viele Werke sich wie lange hingezogen
haben, wie viele nie fertig geworden sind und wie viele auch in der Literatur in
eine totale Thematisierung von Zeit gipfeln. Nehmen Sie Marcel Prousts A la
recherche du temps perdu oder überhaupt die großen Erzählwerke des 20.
Jahrhunderts.
Ich hake da einmal ein. Künstler unterscheiden sich ja ebenfalls in der Frage, ob
sie ihr Werk zu Lebzeiten beenden oder ob sie in dem Wissen arbeiten, dass es
ihnen gar nicht gelingen kann, weil die Realisierung des Projekts – ich denke
jetzt an den Bau von Pyramiden, Türmen oder Kathedralen – mehr als eine
Lebenszeit erfordert.
Bei Türmen kann man sich das ja denken. So hat Martin Warnke gesagt, das
seien meistens von Kommunen, staatlichen oder kirchlichen Obrigkeiten initiierte
"Leistungsträger", die von vornherein nicht einen einzelnen Bauherrn betreffen.
Insofern wird dort ein die individuelle Zeit überschreitender Begriff angestrebt,
und es ist nicht so maßgeblich, ob das Bauprojekt wirklich zu Ende geführt wird.
Oft gelingt dies ja auch nicht. Apropos Pyramide: soweit wir unterrichtet sind,
begann man mit deren Bau meist recht früh im Leben des Herrschers, damit sie
errichtet waren, wenn dessen Karriere dem Ende zuging, was nicht immer
gelang. Aber wahrscheinlich gibt es Pyramiden, die der Herrscher im fertigen
Zustand erlebt hat. Das ist ein ganz faszinierender Gedanke, nicht? Damals war
Zeit nicht Gotteszeit, wie Bach sagt, sondern des Herrschers Zeit. Wir haben
beispielsweise vom Alten Reich in Ägypten keine präzise Zeitvorstellung, weil wir
nur die dynastischen Herrscherzeiten kennen, keine Durchzählungen. Das ist es,
was solche von späteren Perioden unterscheidet.
Interessant an Pyramiden ist ja auch, dass aufgrund ihrer speziellen
Himmelsrichtungslage der mumifizierte Leichnam in ihnen überdauern kann. Das
ist wohl auch von den magnetischen Feldern abhängig, wenn ich richtig
unterrichtet bin.
Von den Feldern, ja. Aber es hat auch damit zu tun, dass der Sonnengott Re auf
der Spitze sozusagen landen kann. Der Pharao, sein Stellvertreter auf Erden,
kann von seiner Grabkammer aus seine große Reise ins Land der Toten antreten.
Das sind in vielen Kulturen anzutreffende Begriffe. Vor einigen Monaten sah ich
eine Ausstellung über afrikanische Musik. Es gibt heute einen Kult in Gabun, wo
eine Seelenreise über einen Fluss, und zwar mit Musikbegleitung stattfindet. Da
ist ein Harfenspieler, der dazu singt. Eine ganz wesentliche Funktion von Musik
ist, dass sie den Reisenden auf seinem Weg von der Zeit in die Ewigkeit
begleitet. Das muss man sich einmal vergegenwärtigen. Das extreme Gegenteil
erleben wir in unseren Ausstellungen heute. Nehmen Sie Venedig und die
Biennale oder das, war uns zum Jahresende erwartet. Ausstellungen sind wie die
Inszenierungen eines Wanderzirkus, der seine Zelte aufschlägt und wieder
abbricht, um anderswo ein neues Spektakel aufzuführen, darin die
verschiedensten, bisher streng voneinander getrennten Medien aufeinander
reagieren. Da könnte man auch versuchen, eine wahnsinnig rasche Zeitfolge zu
sehen, durch die verschiedensten Dinge wie elektronische Bilder mitbedingt.
Nun, was wird damit intendiert? Natürlich begehbare Bilder und eine
Überwältigung des Zuschauers wie bei einer Theaterinszenierung oder wie im
Barock. Weil es mehrsinnig sein soll, werden alle Medien zusammengeführt. Auf
Climax ausgerichtet, deutet das auf eine bestimmte Vorstellung von Zeit hin,
nämlich auf eine konzentrierte, also wie in einem Tuttischlag oder bei einem
Feuerwerk. Die Beanspruchung des Betrachters ist dabei eine ganz andere. Er
ist weder gezwungen, davorzustehen, noch dazu verdammt, es zu bewundern
oder zu analysieren. Vielmehr ist er dazu aufgefordert, in irgendeiner Form
mitzumachen oder darin in der Hoffnung aufzugehen, etwas von der
thematischen Aufladung des Ensembles gehe auf ihn über. Ziemlich weit von
den Vorgaben des 20. Jahrhunderts entfernt, bewegen wir uns auf etwas Neues
hin, zumal diese Kunstaufführungen meistens in kunstfremden Räumen, also in
Arsenalen, Kirchen, Fabriken oder in Gasometern stattfinden. Man erlebt mit
dem Ablauf eines ästhetischen Programms nicht nur eine Architektur, sondern
auch einen jedenfalls räumlich erweiterten Zeitbegriff. Man ist nicht so extrem
auf bestimmte Abläufe innerhalb eines Museums eingeschränkt.
Die Poesie der Landvermessung
Apropos Walter de Maria und Richard Long, einer, der da nicht fehlen kann, ist
Hamish Fulton, oder?
Hamish Fulton, für mich mit seinen Sommer- und Winterreisen der Franz
Schubert der bildenden Künstler, hat das Wandern als Teil des Kunstwerks
entdeckt. Ganz wichtig ist für ihn das Tagespensum, das genaue Beschreiben
dessen, von wo bis wo er gegangen ist, und die Auflistung dessen, was er da
sieht und dann auch zeichnend oder mit der Kamera festhält. Dabei spielt bei
ihm, was sehr englisch ist, auch das ästhetische oder sogar biographische
Tagebuchführen ins Medium des von ihm Erlebten hinein. Es ist ein Versuch, die
Zeit zu bändigen, den Zeitablauf sozusagen zu domestizieren, dem eigenen
Rhythmus anzupassen, um ihn anzuhalten, so dass man sich über das von
einem gerade durchmessene Zeitquantum im klaren wird. Vor allem, wenn es
mit signifikativen Erlebnissen aufgeladen ist.
Wissen Sie bei ihm, wie sich sein Bestreben existentiell erklärt?
Nun kenne ich ihn nicht persönlich, bin mit ihm nur einmal Aufzug gefahren.
Aber vermutlich hängt es mit einer romantischen Erschließung von Landschaft
zusammen, wie wir es in England von John Constable oder William Turner
kennen. Es ist auch der Wunsch, über die allzu raschen Highlightsetzungen der
Fotografie hinaus zu einer poetischen Landvermessung zu gelangen, die sich
dem Individuum einprägt. Manchmal wirkt es, als ob er ein Rädchen mitführe,
einen Weg abzeichnet, wie das früher die Landvermesser beim Festlegen von
Straßenzügen taten.
Wie sieht der Zeitsinn der Fotografie aus?
Extrem verschieden. Es gibt die Reportagefotografie, extrem bei Weegee, die
eine Reporterzeit, eine Sekundenzeit, eine Tatzeit ist. Dann die Zeitvorstellung
der sogenannten Düsseldorfer Schule. Entweder steht sie ganz wie bei den
Bechers, die sich neutrale Umgebungen unter neutralen Wetterumständen
suchen, damit man keine Vorstellung davon bekommt, ob da eventuell Wolken
wandern oder Sonnenstrahlen einen Tag einteilen. Ein Gebäude steht da,
dokumentiert wie für die Ewigkeit, aber es ist keine wirkliche Ewigkeit, sondern
nur ein Da-Sein. Mehrere aus dieser Schule hervorgegangene Fotografen
tendieren dazu, etwas Unverrückbares festzuhalten. Statt dieser Statik suchen
andere Fotografen die Transition. Ein Cartier-Bresson, der Zeitmomente
verdichtet, scheint genau dazwischen angesiedelt zu sein. Bei ihm ist es so eine
Art Trance, ein Moment, als stehe die Zeit still und als sei ein Punkt erreicht, der
so bleiben könnte. Sein Auge ist extrem geschärft für Bewegungsabläufe und für
das Ineinsfallen von Gegensätzen. Darüber hinaus gibt es die Fotografie, die
alles verwischt, weil sich alles in einem ständigen Übergang befindet, nichts sich
festhalten lässt. Selbst ein Hüttenwerk oder eine Kokerei, von den Bechers
fotografiert, ist atmosphärisch belebt. Aber sie erwischen den Moment so, dass
es aussieht, als sei es immer so grau und immer so neutral.
Das Weiterleben des Toten
Würden Sie im Fall der Zeitaufhebung auch von einer Zeitverdrängung reden?
Durchaus. Es ist ja der Wunsch der Bechers, dass der Bau stehen bleibt,
obgleich er, weil funktionslos, dazu bestimmt ist, abgerissen zu werden.
Zeitverdrängung würde bedeuten, dass mit dem Monumentcharakter auch der
Kunstwerkcharakter im alten Stil des Monuments angestrebt ist.
Wer von den Fotografen ist Ihnen lieber? Ein Cartier-Bresson mit seiner
Zeitverdichtung oder die Bechers mit ihrer Zeiteinfrierung?
Ich bin von beidem sehr angetan. Zum einen, weil ich die Industrie- und
Vernikulararchitektur sehr schätze. Das wäre der Fall Becher. Zum anderen, weil
die Bilder von Cartier-Bresson etwas Erlösendes haben. Er fängt einen Moment
Harmonie ein, und zwar eine, die nicht künstlich arrangiert ist, sondern sich so
ergeben hat. Ich besitze ein Foto von ihm, worauf Sargträger abgebildet sind.
Durch die Last der auf ihren Schultern getragenen Särge verteilt sich ihr
Gewicht auf die Beine so, dass sie wie Tänzer aussehen. Ein solches Bild wirkt
wie schwebend.
Beim Zuhören denke ich an Beerdigungsrituale in Indonesien, auf Bali.
Ah ja! Dort spielt eine Rolle, dass es eine erste und eine zweite Beerdigung gibt,
wobei die zweite die Verabschiedung von dem jetzt schon nur noch in Knochen
vorhandenen Menschen ist. Die ist heiter, weil der Tote jetzt endlich den Weg
ins Jenseits findet und einen in Ruhe lässt. Denn in vielen Kulturen ist ja der
Tote keineswegs tot, sondern kommt wieder. Um das abzuwehren und um sich
selbst und ihm Ruhe zu verschaffen, werden Riten und Zeremonien aufgeboten,
die zum großen Faszinosum der Weltkulturen gehören.
Auch Cartier-Bresson hat sich stark mit asiatischen Kulturen beschäftigt, und da
insbesondere mit Buddhismus und indonesischen Religionen.
Ja, er hat das sicher getan, aber Gott sei Dank lässt er sich nicht davon
bestimmen, sondern alles durch seine Poren in sich eindringen, um ein
Verständnis für das Verhalten zu bekommen, ohne es aber selbst zu
übernehmen. Das heißt, er bleibt der Mann des Westens, der das andere in sich
aufnimmt, aber in dem ihm gemäßen Geist. Das ist seine Möglichkeit. Deshalb
glaubt man, dass, was immer er fotografiert, irgendwie gerecht ist und dass er
zudem weder jemanden noch eine andere Kultur vergewaltigt.
Der prismatische Charakter des Hier und Jetzt
Bezogen auf Zeit, an welche Fotografen denken Sie da noch?
Die gesamte Fotografie ist auf Zeit bezogen.
Was wäre eines der signifikantesten Beispiele?
Als erstes kommt mir ein Gigant wie August Sander in den Sinn mit seinem
Versuch, eine Gesellschaft in ihrer typischen Struktur aufzuzeichnen, wobei er
sich im klaren ist, dass es ein sich veränderndes Gesellschaftsbild ist. Er,
übrigens ganz ähnlich wie die Bechers und ebenfalls ein Rheinländer, zeichnet
die Gesellschaft zwischen 1910 und 1930 auf, und zwar, wie im Mittelalter,
anhand von handwerklichen, berufs- und tätigkeitsspezifischen Typen. Das ist
insofern interessant, als ein Vergleich mit David Hockney aufgrund seiner
Ausstellung im Centre Pompidou und vor allem im Kölner Museum Ludwig als
Fotograf möglich ist. Er hat in seinem Studio in Los Angeles die Personen, die
ihn besuchten, wenn sie ihm signifikant erschienen, eine nach der anderen vor
dem Bild einer Hochstrasse mit Bergen abgelichtet. Obwohl mancherlei
Kunstentwicklungen zwischen Sander und Hockney liegen, scheint es das gleiche
zu sein, dabei ist es völlig ungleich. Die Hockneysche Parade ist wie eine
Nummernrevue mit Nachbarn, Freunden – manche kennt man, die meisten
jedoch nicht –, mit bekannten Künstlern oder Leuten aus dem Milieu. Aber es
ergibt sich nicht die Struktur, sondern nur das Phantombild einer Gesellschaft.
Man könnte damit die Leute, die Gesellschaft und auch die achtziger Jahre
identifizieren. Während man bei Sander gar nicht genau weiß, ob man
überhaupt erkennen soll, dass er in den 10er oder 20er Jahren fotografiert hat.
Er greift sozusagen eine Gesellschaft aus der Zeit heraus, um sie zu
konservieren, während Hockney sie extrem in die Zeit hineinstellt, um sie
lebendig zu halten, was natürlich nicht gelingt. Aber man weiß, welche Zeit es
ist.
Apropos Hockney und Zeit: Interessant sind ja seine Panoramablicke,
zusammengesetzt aus Tausenden von Polaroids. Polaroids, die zwangsläufig
nacheinander geschossen sein müssen. Das Bild als solches vermittelt den
Eindruck, als wäre es einer, aber zusammengesetzt aus vielen Augenblicken.
Hat das Ihrer Ansicht nach Auswirkungen auf die Art, wie wir den Panoramablick
betrachten?
Es gibt zwei Dinge. Zum einen das aus vielen, zu unterschiedlichen Zeiten, zum
Teil mit einem Abstand von mehreren Jahren, und eben nicht hintereinander
geknipsten Schnappschüssen minutiös zusammengesetzte Panoramabild. Zum
anderen die beiden, danach gemalten Panoramen. Lustigerweise – jedenfalls ist
es mir so gegangen – vermittelt das fotografierte Panorama den prismatischen
Eindruck des Hier und Jetzt. Stehend vor den gemalten Bildern, hatte ich
dagegen den Eindruck, als ob man daran mit dem Auto vorbeiführe oder als ob
man einen Panoramaschwenk per Kamera machte. An einen Ablauf gebunden,
kehrt man damit in die großräumige Erlebniszeit des amerikanischen Westens
zurück.
Verlangsamt gleich veranschaulicht
Gedankensprung, wie sieht Boltanski die Zeit?
Es ist nicht seine Zeit, um die es ihm geht, sondern die Zeit der Dargestellten,
die er auch nicht selbst fotografiert, sondern reproduziert. Er nimmt sie aus
einem unter Umständen aktualisierten Rahmen wieder heraus und in eine
ikonenhafte Zuständigkeit hinein. Auf diese Weise erzielt er die Vorstellung, als
ob jeder Mensch für sich da ist, unabhängig von allen anderen, und als ob jeder
seine eigene Lebenszeit beanspruchen könnte. Dass er das nicht kann und dass
ihm die auch verwehrt wird, das ist das eher Tragische an seinen immer durch
Heiterkeit grundierten Werken. Er erhebt sich weder zum Ankläger noch zum
nostalgischen Verteidiger, sondern zieht die Bilder aus dem Verkehr. Das ist
etwas ganz anders als das, was die dokumentarische Bechersche Schule
erreicht, und zwar in einer Intensität, die mich an Ikonenmalerei oder an
Totenbilder aus dem spätpharaonischen und frühchristlichen Ägypten erinnert.
Sein Versuch besteht darin, Zeit anschaulich zu machen, indem er sie extrem
verlangsamt. Er hat das ja auch gerade in Berlin zusammen mit Ilya Kabakow
versucht, indem er der Tetralogie Wagners einen fünften Tag, nämlich den Tag
"danach" anhängte. Er lockerte die trotz in ihrer unendlichen Längen strengen
Abläufe Wagners auf, indem er an mehreren Schauplätzen verschiedene Stücke
spielen ließ, in denen ehemalige Wagnersänger ihre Lieblingsmelodien singen.
Man gewinnt den Eindruck, dass sich die Zeit nach der Götterdämmerung
streckt. Ein Problem, auf das Boltanski anspielt, ist, dass die Zeit die Hoffnung
auffrisst. Er schenkt der Verbesserungsfähigkeit der Menschheit keinen großen
Glauben, bezweifelt, dass, je mehr man sich jetzt in immer kürzeren Zeiträumen
anstrengt, der Mensch desto vollkommener wird. Das, übrigens das Problem der
Aufklärung, ist im Grunde ein im 19. und vor allem im 20. Jahrhundert
gescheiterter Versuch. Offenbar hofft Boltanski, dieser Tendenz durch die
Erstarrung und Herausbildung von detaillierten, immer aufgelösteren
Gesichtszügen entgegenwirken zu können. Gleichzeitig ist darin auch das
Vergebliche des Versuchs eingefangen, und das macht ihn bei aller Starre so
pathetisch. Neben diesem Pathos ist gleichzeitig eine gewisse Nonchalance zu
bemerken.
Historische Zeit und Eigenzeit
Wie sehen Sie, auf Kunst bezogen, das Verhältnis zwischen historischer Zeit und
Eigenzeit?
Historische Zeit, verstanden als Ablaufzeit, ist ein Nacheinander, das von der
heutigen Geschichtswissenschaft zu Recht angefochten wird. Aber gut, bleiben
wir bei dem Nacheinander, wie es uns auferlegt wird. Hingegen ist die
künstlerische Zeit ein Miteinander, eine Gleichzeitigkeit, womit wir bei dem
Problem der Historienmalerei im späten 20. Jahrhundert angelangt sind. Sie
versucht, gewisse Abschnitte in einer strukturalen Gleichzeitigkeit zu bieten, die
eine Typologie beinhaltet, was ja zum Teil ein amerikanisches Problem ist.
Warhols Bilder wollen per Hypertrophierung des Ereignismoments eine
Historizität derart erreichen, dass man sich sagt, das sei so gewesen und zudem
typisch für die amerikanische Mentalität oder Geschichte zu einer bestimmten
Zeit, etwa in den 70er oder 80er Jahren. Außerdem gibt es Tübkes deutschen
Versuche in Frankenhausen, durch ein Panorama die bürgerliche Gesellschaft in
einem Bild des Aufbruchs zur Neuzeit zu spiegeln. Also 16. Jahrhundert.
Bauernkriege. Thomas Münzer. Zudem fällt mir da Jörg Immendorff mit seinem
Café Deutschland ein. Ein Bildreihe, in der er alle signifikanten Momente der
umgezogenen Bonner Republik zu bannen versucht. Einerseits ganz
faszinierend, gerät es andererseits genau dort banal, wo er reale Personen
auftreten lässt. Das sind oberflächlichen Beziehungen von historischer und
künstlerischer Zeit. Im einzelnen reagiert jeder einzelne Künstler anders und mit
einer jeweils anderen Zeitbreite auf historische Ereignisse. Beuys hat der
historischen Zeit seine eigene Zeit entgegengesetzt, eine Zeit der Utopie, der
kosmischen Abläufe, der Wahlverwandtschaften und der Beziehung zwischen
nördlichen und südlichen Teilen Europas. Wenn ich noch einmal auf Kabakow
zurückkommen darf, für ihn scheint die Zeit stehengeblieben zu sein. Er fixiert
die sowjetische Emprise auf Russland, also etwas, was sich rasend schnell, viel
schneller als der Nationalsozialismus von uns entfernt. Was mit Momenten aus
seiner eigenen Jugend beginnt, hat bei ihm eine epische, ja eine Tolstoische
oder gar Dostojewskische Dimension des Arme-Leute-Panoramas. Seine vom
Persönlichen ausgehenden Installationen öffnet er hin auf eine allgemeine
Aussage. Es scheint so, als habe sich die Zeit einen Augenblick wie in einem
Netz einfangen lassen, wodurch Aufschlüsse möglich werden.
Gedankensprung, ein de Chirico hat die stillstehende Zeit verdinglicht, während
der Futurismus auf eine wahnwitzige Weise die pausenlosen Bewegung nach
vorne, d.h. die Geschwindigkeit als Surplus ihrer Zeit kultiviert hat.
Ja, das ist so. Der Futurismus hat sich ja auch alles so klirrend und strahlig und
militant modern gedacht, während de Chirico, der aus einem östlichen,
griechisch-levantinischen Kulturkreis kam und kein richtiges Italienisch konnte,
als er seine Karriere in Italien begann, fasziniert von der Verdinglichung der Zeit
innerhalb von Architektur, Monumenten und Gegenständen war. Er war geneigt,
dem Westeuropa, in dem er gelandet war, durch den Stillstand in seinen Bildern,
die zum großen Teil in Paris entstanden, zu entkommen. Für ihn war das eine
poetische Assemblage, womit wir jetzt auch bei der dichterischen Zeit angelangt
sind. Sie zeigt, als wie erschreckend am Anfang des 20. Jahrhunderts der
unwahrscheinliche Zeitverschleiß des späteren 19. Jahrhunderts erlebt wurde.
Die Städte, die sich wie verrückt ausbreiteten. Die Züge, die verrückt schnell
fuhren, und die Länder, die sich zusammenschlossen. Heute erleben wir ganz
ähnliches, aber im planetarischen Maßstab. Damals wurde das wegen der viel
größeren Kontraste ganz hautnah empfunden. Von da, wo man herkam, war
das, was man erlebte und einen selbst veränderte, viel extremer erfahrbar als
heute. So hat man festgestellt, dass der Eisenbahnbau im frühindustriellen
England die Landschaft mehr verändert hat als alle Jahrtausende vorher und
wahrscheinlich auch nachher. Alles das sind Zeitmarken, Sprünge und Brüche,
die sich einprägen und denen ein nietzscheanisch geprägter Geist wie de Chirico
entgegentrat.
Die Zeitreise des Kinos
Wie sehen Sie Dalís Uhren im Verhältnis zu de Chirico?
Dalís Uhren sehe ich im Zusammenhang mit Barcelonas formbaren Jugendstil
eines Gaudí oder Montaner, auf die er sich berief. Als extremer Nietzscheaner,
der zudem Surrealist war, hielt er die Zeit für formbar im Glauben, dass der
Mensch dank seiner Imagination sie sowohl anhalten als auch beschleunigen
oder nach Belieben intensivieren, vertiefen oder verflachen kann. Von daher
rührte wohl sein äußerst kreativer Bezug zum Kino, das dieselben Eigenschaften
besitzt und das erste Medium war, das mit der Zeit umgehen konnte, wie es der
Regisseur und nicht wie die Zeit es wollte. Das Kino hat im Grunde die Zeit
überwältigt, sie dem Menschen so zur Verfügung gehalten und ihm eine
Möglichkeit an die Hand gegeben, aus der Zeit herauszutreten. Eine Opern- und
eine Kinovorführung sind insofern zwei verschiedene Paar Schuhe, weil die Oper
die Überwältigung durch die Musik praktiziert, ergänzt durch Bild und Sprache,
während das Kino eine völlig eigene Zeitreise aufbauen kann. Es kann sowohl
rückwärts als auch vorwärts gehen oder verlangsamen, beschleunigen und die
Zeit unter Umständen sogar auslöschen. In dieser Bewegung steht Dalí mit
seinen weichen Uhren.
Wo grenzt sich da Max Ernst ab?
Max Ernst ist so unideologisch wie kapriziös. Ihn zogen stets Dinge außerhalb
unseres unmittelbaren Wahrnehmungsbereiches an, darunter die Mikrowelt und
die Welt der Gestirne. Also unvorstellbar viele kleine Lebewesen sowie
unvorstellbar langsame, riesige Geschwindigkeiten. Selten hat er sich auf die
unmittelbar psychologische oder menschliche Ebene begeben. Seine Bilder und
Collagen, überhaupt sein Vorgehen sind von solchen außerhalb stehenden
Kategorien regiert, weshalb man glaubt, er hätte, wenn er etwas macht,
daneben gestanden. Er hat es ja auch oft genug gesagt und sich dabei
ironischerweise immer mit der dritten Person angesprochen: Er sehe sich dabei
zu, wie unter seiner Hand merkwürdige Dinge entstünden.
Welche Zeitidee liegt seinem Werk zugrunde?
Das ist gar nicht einfach zu sagen. Es macht seine Stärke aus – weshalb er
immer interessanter wird –, dass er schwer festzulegen ist. Sicher favorisiert er
eine sehr sprunghafte Zeit. Ab und zu stark auf die Außenwelt reagierend, folgte
er aber seiner inneren Zeit und Erlebniswelt. In den späten 30er Jahren, als es
für viele europäische Künstler, die unabhängig von der Aktualität arbeiteten,
sehr gefährlich wurde, antwortete er zwar wieder auf die Politik. Aber er suchte
dabei zugleich den ironischen Abstand. Sicher hat er, bestärkt durch seinen
Aufenthalt in Arizona, in kosmischen Zeiträumen gedacht. Jedoch hat er sie
nicht ins Erhabene gesteigert, sondern nur mit solchen Gedanken gespielt. In
dem Zusammenhang sei seine Grafikfolge Maximiliana erwähnt. Ein Loblied auf
einen deutschen Astronomen namens Gottfried Leberecht Tempel, einen
liberalen 48er, der weder einen Abschluss hatte – weshalb Max Ernst ihn auch
gerne als Astronom ohne Diplom bezeichnete –, noch eine Anstellung bekam.
Zunächst im südfranzösischen Marseille und dann später in einem italienischen
Observatorium arbeitend, entdeckte er dort STERNhaufen, die noch heute nach
ihm heißen. Max Ernst hat solche Kartographien und auch eine Kryptographie
erfunden, eine Geheimschrift, die mit den Ideen des unendlichen Raums spielt.
Er hat so etwas als Muster angesehen, an dem man weiterknüpfen kann. Also
das Stern-Bild. Er hat es nicht dokumentarisch aufgefasst.
Einer der von Max Ernst viel hält, ist Claude Lévi-Strauss. Lässt sich dessen
Zeitsinn charakterisieren?
Sicher hat er intensiv seine eigene erlebt und gleichzeitig die mythische der
Indianer und die musikalische Zeit erfahren. Die drei übereinander ergeben
seine Bücher, vor allem das grosse Werk der Mythologica, Es stellt einen
Versuch dar, Mythen auf bestimmte Wiederkehren und Leitmotive zu
strukturieren, um daraus zu schließen, wie die menschliche Vorstellungskraft
arbeitet. Am Anfang seiner Traurigen Tropen reflektierte er über die Begegnung
von Zeitaltern. Am Strand von Rio de Janeiro glaubt er, die Kultur von vor
vierhundert Jahren zu verstehen. Er war sich sicher, die große Tragik bestünde
darin, dass die spanischen oder portugiesischen Eroberer sich der ihnen
entgegentretenden Hochkultur nicht gestellt hätten. Das hätte das Verhältnis
von Europa und Amerika grundsätzlich verändert. Erst einem Humboldt ist es
fast dreihundert Jahre später gelungen, das einigermaßen wieder ins rechte
Licht und ins Gleichgewicht zu rücken.
Christos Zeit
Am Anfang erwähnten Sie den Impressionismus. Ist dessen Zeit eine
müßiggängerische?
Das ist je nach Temperament verschieden. Man lebte in einem aufstrebenden
Land, in einer sich diversifizierenden Kultur, in der der Lebensgenuss und die
Lebensmöglichkeiten stiegen und das Tempo ständig zunahm durch Züge und
andere Kommunikationsmitteln. Da nicht sehr prätentiös, registriert man diese
Hochstimmung, der gleichzeitig eine gewisse Idyllik in der Natur entspricht, mit
einer Technik, die fast so etwas wie eine moderne Zeitdarstellung ist, also mit
unendlich vielen kleinen Tupfern und winzigen Momenten, so dass man an die
sich immer deutlicher herauskristallisierende Atomwelt, die elektrischen und die
Molekularelemente sowie an den Bergsonschen, ebenfalls aus so kleinen
Erlebnismomenten bestehenden Bewusstseinsstrom denkt. Diese Malerei ist
konform zu einem sich immer feiner strukturierenden sandartigen Zielablauf.
Noch einmal zurück zur Land-art: Dort sind viele Werke temporär. Sie bestehen
nur für eine bestimmte Zeit, sind auf ihr Verschwinden hin programmiert. Einer,
der das insbesondere praktiziert, ist Christo, der mal den Pont Neuf in Paris, mal
den Reichtag verpackt. Alles, was er schafft, lebt nur als Bild, etwa in der
Fotografie von Wolfgang Volz weiter.
Ich würde Christo gerade deswegen nicht zur Land-art rechnen, weil er auf Zeit
spekuliert, mit ihr arbeitet und die Zeitabläufe vorher genau festlegt. Er ist
folglich mehr ein Zeitingenieur, der viel mehr in die Welt der Science Fiction
oder der alten sogenannten Zukunftsromane passt. Was er anstrebt, ist die
Veränderung der großräumigen Wahrnehmung in einem bestimmten Zeitraum,
ob nun in einem ländlichen oder städtischen Rahmen. Er gibt die Termine im
Sinne einer Logistik ganz genau bekannt. Aber es ist nicht nur die Logistik, die
dabei eine Rolle spielt, sondern auch die Tatsache, dass er die Öffentlichkeit
darauf einstellt, etwas sei nur zu einer bestimmten Zeit zu sehen. Das
funktioniert ähnlich wie die von den Medien geschürte Erwartung der
Sonnenfinsternis, der alle am 11. August 1999 entgegenfieberten. Wichtig ist,
dass ausschließlich in einem bestimmten Zeitraum etwas oder nichts mehr
passiert. Insofern sondert er ein Stück wie im Bilderrahmen aus und sagt quasi:
In dem Moment, wo ich ihn wie einen Eisberg verhüllt habe, so dass er
herausgehoben ist, werdet ihr den Reichstag erst richtig sehen. Das war das
Unglaubliche, das er geschafft hat, dass der Reichstag anders und nicht mehr
verdeckt durch alle möglichen politischen und künstlerischen Untaten, durch
Bombardierungen, Fotografien und vieles mehr gesehen wurde.
Erstaunlicherweise ist genau das eingetreten. Christo hat ein deutsches Symbol,
also etwas geschaffen, was keinem deutschen Staatsmann seit 1945 gelungen
ist. Das ist eine Leistung, die einem Künstler selten gelingt. Ganz folgerichtig hat
der Umbau des Reichstags dazu geführt, dass er prompt zum Symbol der
Berliner Republik wurde. Christo ist ein extrem zeitbezogener und
zeitbesessener, ja ein Mensch mit Uhren und Helicoptern, mit Überwachungen
und genau eingeteilten Arbeitsschritten. Es geht nichts schief. Alles ist genau
geplant, um einen Moment der Zeitenthobenheit zu erreichen. Gleichzeitig denkt
man auf Zeit. Also ein nicht bleibendes Denkmal.
Ist da nicht auch eine utopische Zeit am Werk, da am Anfang das Gelingen von
etwas noch nie Gemachtem gewährleistet ist. Ich denke jetzt vor allen an seine
Surroundet Islands.
Die Inseln, ja. Er hat sicher ausprobieren müssen, wie viel er packen kann. Es
sind auch Dinge schiefgegangen, als er damals die Vorhänge durch die
kalifornischen Täler zog. Vor einiger Zeit sah ich einen Film, der darüber
berichtete, wie ein Raumtransport nicht klappte und der Fallschirm um das Ding
herumflatterte. Das sieht ungeheuer toll aus und ist künstlerisch viel reizvoller,
als wenn alles gelingt. Im Laufe der Zeit haben sich Christos Anliegen von einem
Überflug wie in Miami oder einer Wanderung, wie in Japan und Kalifornien, auf
städtische Punkte wie Pont Neuf in Paris, Reichstag in Berlin und den Gasometer
in Oberhausen konzentriert. Er arbeitet vom Gehen, vom Weg und vom Ablauf
auf das Monument hin, also auf das Heraustrennen eines Augenblicks, den man
zum Stehen bringt, wodurch er eine gewisse Ewigkeit auf Zeit erreicht. Ich
finde, hier wäre ein guter Schluss, denn ewig kann unser Gespräch nicht
dauern.