Die verlangsamte und die beschleunigte Zeit
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Die verlangsamte und die beschleunigte Zeit
Band 150, April – Juni 2000, Seite 80, Dokumentation ÜBER DIE EXISTENTIELLE ERFAHRBARKEIT VON ZEIT GÜNTER METKEN Die verlangsamte und die beschleunigte Zeit EIN GESPRÄCH VON HEINZ-NORBERT JOCKS Günter Metken. Foto: HeinzNorbert Jocks WALTER DE MARIA, Lightning Field, 1977. Foto: John Cliett WALTER DE MARIA, Lightning Field, 1977 RICHARD LONG, Eine Linie in Schottland, Cul Mór, 1981 Der in Paris und München lebende Kritiker Günter Metken, geboren 1928, ist ein sich in den verschiedensten Medien auskennender Geist in pausenloser Bewegung. Ob er sich in den Bereich der Ethnologie begibt, weil er selbst gerne reist, ob er sich in die Weiten der Musik vertieft, weil er auf Hörabenteuer aus ist, ob er Künstler am Tatort aufsucht, weil ihn die Verbindung von Raum und Werk interessiert, oder ob er sich durch das Dickicht der Weltliteratur schlägt, weil ihm reines Sehen nie genügt: er ist aufgrund der Felder, auf denen er sich bewegt, wie kein anderer in der Lage, Querverbindungen zu ziehen, Differenzen ausfindig zu machen und Dinge zu sagen, auf die kein anderer auf so spannende Weise kommt. Sich auf ihn einzulassen, kommt dem Frager vor wie eine Reise ins Unbekannte der Zeit und ihren Manifestationen in den Künsten. In Paris sprach mit Günter Metken, der über Kunst, Musik und Reisen Bücher veröffentlichte, Heinz-Norbert Jocks. Die Zeit der Kulturen Heinz-Norbert Jocks: An Ethnologie interessiert, reisen Sie, wie ich weiß, viel. Deshalb meine Frage: Bringt das Bereisen anderer Kulturen mit sich, dass man auch deren anderen Zeitsinn kennen lernt? Günter Metken: Ja, das ist eines der Hauptanliegen der Reisen. Jede Kultur hat einen anderen Zeitbegriff. Kaum in Afrika, merkt man schon, wie die Zeit sich verdichtet, verdickt und verlangsamt. Es gab jetzt ein schönes Beispiel: Der Fernsehsender Arte hat Filmbeiträge zum Jahr 2000 angefordert. Unter den Angesprochenen war auch ein Afrikaner, der sich vorstellt, zu Silvester 1999 in sein Dorf in Mali zurückzukehren, um dort die Zeitenwende mitzuerleben. Es wird wie an jedem anderen Tag im Jahr sein mit all den Schwierigkeiten, die der Winter während der großen trockenen Hitze mit sich bringt. Ein paar Jungs werden sich an die Wand mit einem Transistor am Ohr lehnen, um die Ereignisse aus Paris zu verfolgen, wo die Wende mit einem großen Feuerwerk am Arc de Triomphe gefeiert wird, und danach werden sie ihre Stühle wie jeden Abend einpacken und schlafen gehen. Das dritte Jahrtausend ist dann angebrochen. Das Verhältnis RICHARD LONG, Eine Linie im Forêt du Porge HAMISH FULTON, Seasons of the Year - Ireland Wales Scotland England, 19721988 Afrikas zur Zeit ist insofern anders, als die Menschen keine Einschnitte vornehmen, wozu wir so sehr neigen. Wir tendieren ja dazu, die Zeit einzuteilen, und privilegieren bestimmte Zeitabschnitte. Das ist dort nicht der Fall. Dasselbe ließe sich auch von anderen Kulturen sagen. In Asien ist es ja sprichwörtlich so – und es ist fast schon ein Gemeinplatz –, dass man die Zeit zirkular erlebt, weil man wohl nicht in ein solches Zeitrennen eintreten möchte. Das wirkt sich auch auf andere Dinge wie das Kunstwollen aus. Wir könnten nun von China und der ewigen Wirklichkeit der Schrift sprechen, die dort alles beherrscht. Da gibt es soundso viele Buchstabenzeichen, die praktisch das ganze Universum regieren und das einzige sind, was Bestand hat, während alles andere, ob Bauten oder Skulpturen, vergänglich ist. Sie werden abgerissen, zerstört oder wieder ergänzt. Das geschieht insofern ganz ohne Bedauern, weil das, was dann wieder entsteht, das gleiche ist. Wenn heute chinesische Künstler in Venedig ein solches Aufsehen erregen, so rührt das wohl auch daher, dass die Schriftzeichen immer zugleich körperlich und abstrakt sind. Es ist ein Charakteristikum dieses Zeitbegriffs, dass er zugleich gefüllt und nicht existent ist. Das heißt, die Zeit steht, während sie gleichzeitig geht. Das ist für uns wenn überhaupt, nur in Momenten der Entrückung oder Erleuchtung vorstellbar und wird allenfalls in der Philosophie und Literatur bedacht. Die europäische Musik wäre ohne einen extrem strukturierten Zeitbegriff undenkbar, während andere Musiken ohne den metronomischen oder zählbaren Zeitbegriff vorstellbar sind. So verläuft eine afrikanische Pentatonik – wie soll ich sagen? – gleichmäßig, mit Aufschwüngen und Verlangsamungen, aber unabhängig von metrischen Vorbedingungen. Mehr über den Zeitbegriff in der Musik, bitte? BERND UND HILLA BECHER, Zwei Wassertürme, 1979, ein Teil eines Diptychons mit Photographien, 40,5 x 30,9 cm Förderturm Beringen, Es verhält sich so, dass Musik bei uns im Mittelalter liturgisch gebunden war und in Kirchen aufgeführt wurde. Die Abschnitte konnten je nach Bedarf gestreckt, verlangsamt, vervielfältigt und repetiert werden, so bei der Gregorianischen Musik oder der Schule von Notre Dame. Die Ars Nova ist strukturierter, weil sie an als Refrain eingeführte Wiederholungen präziser Art, d.h. an feste Strukturen gebunden ist, die sich zu einem Material verdichten, bestehend aus verschiedenen Formen in einer Form, die in präzise wiederkehrenden Abläufen wiederkehren. Seit der Renaissance findet eine extreme Formalisierung statt. Das heißt, Musik teilt sich in genau definierte Stücke auf, woraus sich Kompositionen wie Motetten, Symphonien, Sonaten, auch Ouvertüren ergeben. Diese Dinge sind messbar. Die Notation geht dem Prozess voran und dementsprechend auch die Taktierung. Innerhalb des späten Barocks wird das zu einem Höhepunkt getrieben. Die Verflechtungen von Zeitebenen in den großen Passionen von Bach, aber auch in seinen Kompositionen für ein oder zwei Instrumente sind wirklich schwindelerregend. Dergleichen findet man, obschon sie stark rhythmisiert sind, in anderen Musiken nicht. Der Rhythmus beruht dort oft auf Belgien, um 1991, (auf der oberen Plattform Hilla Becher), Photographie, 60,2 x 48,2 cm einer zeitlichen Steigerung. Das lässt sich in der indischen Musik sehr schön hören, wo man wieder und wieder zu neuen Anläufen ausholt, um zu einer Steigerung und Beschleunigung des musikalischen Ablaufs im ekstatischen Sinne zu gelangen, der schließlich abfallen und langsam ausklingen kann. Das sind andere Stellungnahmen zur Zeit, und dahinter steht auch eine andere Zeit. Wie sehen Sie im Vergleich dazu den Zeitsinn der Literaturen? WEEGEE (Arthur Feelig), Reportage-Fotografie WEEGEE (Arthur Feelig), Reportage-Fotografie Da ist das noch viel diffiziler, weil jeder Erzähler sich darum bemüht, eine persönliche Zeit einzuführen. Aber wenn wir einmal große Beispiele nehmen, so sind doch der Ablauf der Ilias oder das ReiseProgramm der Odyssee zeitlich strukturiert. Merkwürdigerweise folgt danach – teils auch darauf fußend – eines der großen Werke der Weltliteratur, nämlich die Erzählungen von Tausendundeiner Nacht, die einen verräumlichten Zeitbegriff aufweisen. Das heißt, man bewegt sich zwischen den Ausläufern des alexandrinischen Reiches, zwischen Indien, Bagdad und den Kreuzzügen bis zum osmanischen Reich in einem zeitlosen Raum, der aber in Wirklichkeit einen Zeitraum von etwa tausend Jahren umspannt. Darin begegnen sich Figuren aus den verschiedensten Zeit- und übrigens auch Kulturbereichen, ohne dass es einen Hiatus gibt. Drin steckt ein religiöser Hintersinn, etwa der Bezug des auf der Antike fußenden Christentums zum Islamischen. Das Christentum ist wie das Judentum auf Wiederkehr, auf eine Wiederkehr des Messias, das Jüngste Gericht, also auf ein Ende der Zeiten ausgerichtet. Im Islam ist das weniger der Fall. Wie dann? HENRI CARTIERBRESSON, Queen Charlotte´s Ball, London, 1959. © Henri CartierBresson/Magnum Photos. Courtesy KV Düsseldorf Nicht so begrenzt. Das Begrenzte und das Unbegrenzte stellen ja überhaupt ein Problem dar: ob Kulturen ihren Ablauf durch Anfang und Ende begrenzt sehen, ob sie darüber überhaupt reflektieren oder ob es als selbstverständlich gilt, dass es weitergeht. Wobei ein Wort wie "Weitergehen" bereits westlich gedacht ist, denn es würde bedeuten, dass es von hier nach dort geht. Das tut es in anderen Kulturen gar nicht und übrigens auch in unserer nicht immer. Aber bei uns ist es stärker ausgeprägt. Welche Auswirkungen hat es für den Einzelnen, ob er in einer Kultur der Begrenztheit oder Unbegrenztheit lebt? AUGUST SANDER, Wer in einer Kultur der Unbegrenztheit lebt, bei dem sind die Selbstgewichtigkeit, die Selbstbewusstheit und die Egozentrik weniger stark ausgeprägt; dafür stehen aber der Bezug zu seinem Dorf, die Familienoder Clanzusammenhänge, die Verbindungen dynastischer Art stärker im Vordergrund. Das heißt, der Einzelne lebt wichtig, ist sich aber selbst nicht so wichtig. Das ist jetzt keineswegs im Sinne einer Straßenarbeiter, Ruhrgebiet, um 1928, Photographie, 28,7 x 20,1 cm zurückgezogenen Psychologie oder Ameisenhaftigkeit gemeint, sondern als Frage des Zusammenseins. Hingegen ist bei uns durch das verschärfte Zeitbewusstsein das Gefühl für die kurze Strecke des eigenen Lebens und für ihr Maß an Sinn, Wert, Vergnügen und Genuss ausgebildeter. Nun gibt es noch heute Naturvölker sowohl in Indonesien als auch in Südamerika und anderswo, wo das Bewusstsein vom eigenen Alter, also das Wissen um die eigene Zeit fehlt. AUGUST SANDER, Handlanger, um 1928, Photographie, 22,3 x 15,5 cm DAVID HOCKNEY, Gregory Walking, Venice, Ca., Feb. 1983, Photocollage, Edition 1/1, 40 x 54,6 cm Man braucht da gar nicht soweit zu gehen. Der Cineast des vorhin genannten Films ist ein Mauretanier, aber in Mali aufgewachsen und stammt aus einer Familie, deren Geschichte ganz interessant ist. Er hat beispielsweise von sich gesagt, er habe sein Geburtsdatum erst im Alter von 15 Jahren erfahren. Wann geboren, spielt also keine Rolle. Was in Kulturen wie seiner sehr viel wichtiger ist, ist das Ableben. Das wird genau bezeichnet, und dem gelten die Kulte, weil danach eine andere Form des Daseins beginnt. Die Vereinigung mit den Ahnen oder den Geistern der Verstorbenen stellt dabei ein ganz großes Problem dar. Im Grunde auch bei und für uns, obschon wir es gerne verschweigen. Aber dieses Denken in einer zeitlosen oder locker zeitgebundenen Gemeinschaft sollte man keineswegs auf sogenannte Naturvölker, also auf entlegene oder noch unberührte Völkerschaften eingrenzen. Es sind – natürlich mit Variationen – durchaus auch für ganze Länder und große heutige Staaten geltende Kriterien. Es handelt sich um andere Zeitvorstellungen. Das Tempo des Seins Ist das, was wir mit der Hälfte des Lebens, also mit der Midlifecrisis verbinden, dadurch bedingt, dass wir die Zeit unseres Lebens so strukturieren, wie wir es tun. Treten derartige Krisen dort, wo man um das eigene Alter nicht weiß, weniger oder gar nicht auf? DAVID HOCKNEY, Interior, Pembroke Studios, London, 1986, Photocollage, Edition 1/1, 114 x 166,4 cm CHRISTIAN BOLTANSKI, 364 Suisses morts (364 tote Schweizer), 1990, Installation in der Ich glaube, das hängt viel mit dem Training auf eine Karriere und eine Erfolgslaufbahn zusammen. Heute kommt der Höhepunkt, den man früher relativ spät erreichte, recht früh. Auf einmal stellt man fest, dass das ja noch gar nicht alles gewesen sein kann oder noch gar nicht war. Was Sie Mittlebenskrisis nennen, das tritt meines Erachtens deshalb auf, weil man so extrem, schon in der Schule und zu Hause, auf ein Erfolgserlebnis hin organisiert wird. Später sind es der Druck und die Erwartungshaltung der einen beschäftigenden Firmen, die einen darauf programmieren. Vor allem aber drängen uns die Institutionen sowie die Gesellschaft und der Staat zu so einem Karrieredenken. In Japan wird man in extremer Weise per Erziehung auf Erfolg getrimmt, aber wenn man ihn dort einmal hat, so ist man in einer Situation mit vielen anderen, die zum großen Teil älter sind. Dort neigt man nicht so dazu, die Alten zu verdrängen, sondern diese genießen Ansehen in Kontrollgremien, als Chefs oder Respektspersonen. Sie begleiten die Jungen eine Whitechapel Art Gallery, London, 1990 Zeitlang, bis sie langsam austreten und die Jungen selbst das Alter erreicht haben. Insofern wird dort die extreme Spannung der Midlifecrisis abgeschwächt. Sehen Sie die Möglichkeit, einen kollektiven, durch die eigene Kultur geprägten Zeitsinn dahingehend zu überschreiten, dass man sich einen anderen aneignet, der dem herrschenden vielleicht sogar widerspricht? CHRISTIAN BOLTANSKI, Réserve du musée des enfants (Reserve des Museums der Kinder), 1989, Installation im Musée d´Art Moderne de la Ville de Paris ("Histoire de Musée"), 1989 GIORGIO DE CHIRICO, Piazza D´Italia Metafisica, 1921 SALVADOR DALÍ, Dreieckige Stunde, 1933, Öl/Lwd., 61 x 46 cm Es gibt die vielen Versuche von Westlern, zum Beispiel von Amerikanern in Japan, Buddhisten zu werden. Sie sind buddhistischere Buddhisten geworden als die Japaner. Das ist das eine. Außerdem gibt es gar nicht so namenlose Intellektuelle wie Roger Garaudy und andere, die zum Islam übertraten, und das sicher aus ebensolchen Gründen. Es gibt viele Versuche, auch in der Musik, von der wir vorhin ausschweifend gesprochen haben, sich mit östlichen Parametern zu messen. Von Debussy bis Boulez ist das ein Charakteristikum französischer Komponisten. Alles Versuche, wenn auch in einem technischmusikalischen Bereich, aus einem extrem taktierten Medium auszusteigen, um sich größere Freiheiten, Lässigkeiten und ein Gehenlassenkönnen zu erlauben. Was Ihre Frage betrifft, ob man sich der extremen Zeitversessenheit unserer Kultur entziehen kann, ist das gewiss ein individuelles Problem. Die Frage ist ja nicht, ob man es will – denn so eine vorübergehende Bewusstseinserhellung wollen sicher viele –, sondern, ob man es kann. Wenn man von beruflichen und anderen Bedingtheiten und Gebundenheiten absieht, so kann es ins Komische ausschlagen, wenn man das Dasein eines Vegetariers mit verlangsamtem Zeitbegriff führt. Daraus kann auch der Esoteriker hervorgehen, der innerhalb einer vorgegebenen Zeit seinen eigenen Rhythmus leben will. Generell glaube ich, dass jeder, wenn er ein bisschen in sich hineinhorcht und seinem eigenen Rhythmus zuhört, Aufschlüsse bekommen kann, in welchem Tempo er eigentlich leben sollte. Ich glaube, dass sich diese Innenorientierung relativ einfach, bruchlos und ohne Spaltung mit dem heutigen Lebensstil vereinbaren lässt. Ein Tag auf dem Lightning Field von Walter de Maria Welches ist der von Ihnen favorisierte Zeitsinn? SALVADOR DALÍ, Weiche Uhren, 1933, Öl/Lwd., 81 x 100 cm Es ist eine Banalität, wenn ich sage, dass ich manchmal mehr und manchmal weniger Zeit haben möchte. Was ich mir vorstelle, ist ein Zustand, der es einem ermöglicht, die Zeit, wenn man sich durch Architekturen bewegt, buchstäblich zu vergessen. Es wäre wunderbar, wenn sich einem die Zeit des Bauwerks mitteilte, das einen ja in sich, in all seine Verschlingungen und Wege hineinzieht. Dann könnte man so glücklich werden wie gelegentlich beim Hören von Musik. Deren Suggestion ist es ja, dass sich ihre Zeit auf einen überträgt. Ich stelle mir vor, dass man sich den Angeboten der Natur oder gewisser Kunstgattungen anpassen kann, dass man sich einem großen Kirchenbild von Rubens oder Tizian so nähert und mit ihm auch so umgeht, wie es eigentlich sowohl das Bild wie auch der Raum verlangen, in dem es hängt. Nämlich umhergehend, von weitem wie von nahem schauend und mit verschiedenen Geschwindigkeiten. Ich komme noch einmal darauf zurück, was ich in unserem ersten Gespräch über Walter de Marias Lightning Field sagte. Wenn man sich darauf einlässt, so ist einem ja ein Zeitrahmen vorgegeben. Die Mindestdauer des Aufenthaltes umfasst 24 Stunden, so dass man CHRISTO, einmal den Ablauf von Tag und Nacht mit den Surrounded Sternen, dem langsamen Hellerwerden, dem Lauf Islands, Biscayne der Sonne und des Mondes, mit den Übergänge von Bay, Miami, bleich zu blass, dann wieder von hell zu dämmerig Florida, 1983 und dunkel miterlebt. Zunächst ist das einem aufgezwungen. Wer aber länger am Ort verweilt, merkt, dass er da ganz schön reingezogen wird und mitmacht, weil so eine Umdrehung etwas sehr Beruhigendes hat. Man merkt, dass dies mit dem eigenen Blutkreislauf oder dem eigenen Gedankentempo harmoniert, so dass man sich wenigstens einmal der zirkularen Zeit bewusst wird. Können Sie das Gebiet, in der Walter de Marias Arbeit eingebettet ist, ein bisschen beschreiben? Es ist in 2200 m Höhe auf einem Steppenplateau 180 Meilen südwestlich von Albuquerque gelegen. Noch das örtliche Büro der Stiftung in Quemado, einem Nest mit drei Kirchen, ist 34 Meilen entfernt. Von hier aus geht es mit Vierradantrieb in einstige Weidegründe, denn das Lightning Field gehörte zu einer Ranch, und in der Ferne blöken noch Rinder. Aber der nächste Nachbar wohnt meilenweit, und geblieben ist vom alten Anwesen nur eine Blockhütte aus Bohlen und Brettern, fachmännlich instandgesetzt und mit Strom, Wasser und einem wohlgefüllten Kühlschrank versorgt. Hier verbringt der Besucher, gegen eine Pauschale von damals dreißig Dollar täglich, seine einsiedlerischen Tage, mindestens aber 24 Stunden, um den vollen Umlauf des Lichts zu erleben, ein kosmisches Exerzitium. Durch alle Fenster der Hütte blickt der unverstellte Horizont herein, wie ausgestreckt durch Stangen, die am Mittag, wenn man ankommt, so banal aussehen wie Licht- und Telegraphenmasten, abends und morgens aber bei schrägstehender Sonne ein Eigenleben nie gesehener Art entfalten: das Ritual scheint dann zu beginnen. In Wirklichkeit hat es bereits mit der Anfahrt, zunächst im Tal des Rio Grande, dann stetig ansteigend durch Wüstenstreifen, längs Tafelgebirgen und schluchtartig ausgewachsenen Trockentälern, die hier "arroyos" heißen. Unterwegs Wellblechorte, Windräder, die Wasser in die Corrals pumpen, die Spur des alten Viehabtriebs zur Eisenbahn. Die Strecke zieht sich hin, per aspera ad astra, durch Einöden aufsteigend zum Heiligtum, wie in alten Kulturen, oder nach Monsalvat, der Gralsburg des Parzival. Pilgerstraßen kommen einem in den Sinn, das beschwerliche Näherkommen, die allmähliche Einweihung, der Weg als Läuterung. Dies alles freilich bildlich gesprochen, denn man braucht ja nur einen Leihwagen, Geld und Geduld. Im Grunde reagiert Walter de Maria mit dem Lightning Field auf die Zersiedelung der amerikanischen Landschaft, die zwar in Nationalparks betulich gehätschelt, überall sonst aber rücksichtslos ausgebeutet, liegengelassen, zur Müllkippe wird. Demgegenüber grenzt de Maria an entlegener Stelle ein Schutzgebiet rein ästhetischer Betrachtung aus. Was macht das Werk aus? Woraus besteht es? Der Künstler hat selbst erklärt, dass die Summe der Tatsachen weder das Werk ausmache noch seine Ästhetik bestimme. Doch sind die Fakten schon sprechend genug. Das Lightning Field besteht aus vierhundert hochglanzpolierten Stahlpfosten mit scharfer Spitze. Jeder Pfahl hat fünf Zentimeter Durchmesser und ist an die sechs Meter hoch; einige wurden nach unten verlängert, um die Unebenheiten des Terrains auszugleichen. Die Einpflanzung erfolgte nach genausten Vermessungen. Die Stangen sind fest verankert, zugleich aber federnd genug, um die schwersten Stürme auszuhalten, ein Werk auf Dauer. Sie wurden im Abstand von 67 m als ostwestliches Rechteck von einer Meile Länge und einem Kilometer Tiefe errichtet. Dieses Aufstellen nach Himmelsrichtungen ist nicht ohne Hintergedanken. Tatsächlich zeigen bei niedrigem Sonnenstand die Schatten wie Striche zum nächsten Schaft, so dass der Punktraster von oben gesehen zur Raumzeichnung wird, ähnlich den kalendarischen Erdeingrabungen der Nazca in Peru, die von allen Land-Artisten bewundert und von einigen besucht wurden. Gegen Abend denkt man an Leuchtstäbe, von der Sonne getroffen. Die vibrierenden Speerspitzen glühen als kleine Kugeln gleich den Goldpunkten für Amun Re auf ägyptischen Obelisken - ein Sonnenkult des späten 20. Jahrhunderts. Die Stangen vermessen den Raum, machen ihn sozusagen anschaulich, ohne dass sie selbst je auf einen Blick zu erfassen wären. Es sind ins Endlose verlaufende Säulenreihen – eine klassische Erinnerung – und sich überschneidende Perspektiven, Lufttäuschungen, eine kalkulierte Fata Morgana. Wie erlebten Sie den Tag dort? Die Einsamkeit ist total, kein Mensch. Stille, nur Wind und Sonne, alle paar Stunden eine hochfliegende Düsenmaschine. Das mühsame Fortkommen im aufgeplatzten Gelände verleiht den eleganten, immateriellen Masten auch etwas sich entziehendes, Unerreichbares. Zugleich gerichtet und desorientiert, irrt der Pilger in dieser mathematischen Schonung umher. Wäre nicht die Einrahmung mit Hügeln – er käme völlig ins Schwimmen. Immer andere Fluchten von Masten verwirren den Blick, die geometrische Anlage wird zum Labyrinth. Als abstrakte Anpflanzung steht sie nun kalt und gleißend gegen den Rundhorizont; im sinkenden Licht glänzen die Piken messingfarben, bis sich der Himmel grün zu verfärben beginnt: Sonnenuntergang. Mit einem Mal ist alles stumpf, als habe jemand das Licht ausgeschaltet. Kalte Pracht im Widerschein des Abendrots. Die Stangen stehen blass, wie Totempfähle, gegen den fahlen rosa Himmel, reihenweise und hochaufgerichtet gen Westen strebend, erst noch Lichtfäden, denn Striche zwischen zwei bleichen Lichtquellen, denn gegenüber ist längst der Mond hochgestiegen. Schienen die Pfosten einen Augenblick mit dem Tageslicht ganz vom Erdboden verschwunden, so wirken sie nun in der hellen Nacht dünngesäter, und das Metall im Mondlicht schimmert wie jene verlängerten Strahlen, an denen man in Märchen zu unserem Trabanten emporklettert. Frühmorgens herrschen dann klare geometrische Verhältnisse. Jetzt kommt kein Gedanken an Irrwege auf, alles ist übersichtlich in Geraden, rechten Winkeln und Diagonalen angeordnet. Die aufgereihten Stangen verkürzen sich perspektivisch zu Dreiecken – oder zu Harfen? Denn da ist noch etwas anderes. Als man im Dämmern das Blockhaus verließ, das bei zunehmender Entfernung geduckt und verloren gegen die graue Trostlosigkeit dalag wie in den frühen Bildern von Andrew Wyeth, da waren die Masten nur zu erahnen. Dann wurden sie dünn und nadelscharf sichtbar. Und dann der unglaubliche Moment: Die Sonne springt über den Bergrand, und im Augenblick glänzen alle Stäbe licht auf, so leicht und schwerelos, als würden sie von Musik erbeben; Sphärenklänge wie von Phil Glass, mathematische Akkorde der Pythagoräer. Das Licht bringt sie zum Klingen, so wie einst im ersten Morgenlicht die Memnonskolosse bei Luxor ertönten, in einer Erzählung Herodots, die einem auf diesem Hochplateau im Südwesten Amerikas einfällt. Auch an lauter Sonnenuhren denkt man, deren Schatten sich Tag für Tag um Metallnadeln drehen, im Gleichtakt der Natur. Hinzu kommt die Blitzkomponente. In den gewitterreichen Sommern Neu-Mexikos funktionieren die vierhundert Masten als Blitzableiter; die elektrischen Entladungen erzeugen Lichtbögen und -netze. Die Verschiebungen des Lichts Das Ganze verändert sich wohl auch noch einmal, je nachdem zu welcher Jahreszeit man kommt? Ein wirkliches Lightning Field ist es natürlich im Frühjahr wie im Spätsommer, aber ich war nie zu dieser Zeit dort, da muss es extrem gewitterreich sein, so dass die Spitzen die Blitze wie Elmsfeuer auffangen und leiten. Auch außerhalb davon reflektieren sie alles Licht genau, vor allem in den Zwischenzeiten. Mittags, wenn die Sonne senkrecht darauf scheint, ist es flach. Aber in den Zwischensituationen, vor allem in der frühen Dämmerung und der Morgendämmerung, bei Morgenröte und Abenddämmerung fangen diese Masten extreme Schattierungen von Rosa, Lila und Grau auf. Das ist ein geradezu einzigartiges, ein kosmisches Schauspiel von kalten Farben. Es ist unglaublich schön, zwingend und kann nur erreicht werden, wenn der Besucher sich ständig bewegt. Das heißt, er bewegt sich zwischen den Masten, stolpert über Karnickeläcker, um immer anderen Verschiebungen des Lichtes auf die Spur zu kommen. Da sieht man, wie die Zeit im praktischen Sinne zum Raum wird. Indem man einen Skulpturenwald sozusagen abschreitet, wird man zugleich eines zeiträumlichen Sehens inne. Walter de Maria hat da etwas erreicht, was in der heutigen Kunst selten, ja einmalig ist, nämlich eine Allsinnigkeit, wie sonst nur noch in der Opermusik möglich. Es wäre jetzt zu banal, auf Wagners Parsifal hinzuweisen. Aber effektiv wird auch dort wird die Zeit zum Raum. Kein anderer als der Ethnologe Claude Lévi-Strass erklärte, entscheidend sei der Moment, wo sich eine moderne westliche Musikausübung der Strukturiertheit der Mythen der Welt, vor allem den von ihm untersuchten Indianermythen aus dem Nordwesten Amerikas nähert. Also eine Simultan-, keine Hinter-Nacheinander-Struktur, eben eine Struktur der Gleichzeitigkeit. Das Erleben der Arbeit von Walter de Maria basiert auf einem naturmimetischen Zeitbegriff? Man wird eines kosmischen Umlaufs inne, indem man selbst in einen Umlauf gerät, den Lichtreflexen auf den Stahlmasten nachspürt und sich dabei in gewisse Richtungen bewegt, weil das Licht, je nachdem von wo es kommt, mal dahin, mal dorthin verschwindet und mal durch die große Helligkeit, Reflexe auslöst, mal durch die Dunkelheit gebremst wird. Im Grunde kann man immer noch einem letzter Lichtschimmer oder Lichthauch nachspüren. Das ist nie ganz erloschen. Das ist fast wie die Erinnerung an einen organischen im Gegensatz zu einem Zeitsinn, der sich von der Natur mehr und mehr verabschiedet hat. Das ist ganz bestimmt so. Walter de Maria ist Amerikaner, und er lebte in New York. Bereits die Tendenz der Land-art, in den Westen auszuwandern, war der Versuch, der hektischen Zeitvorstellung, dem "time is money" der Ostküste zu entfliehen. Das war besonders bei den Künstlern der Fall, die auf vorgeschichtliche Kulturen, etwa auf die Wiederentdeckung der NazcaErdzeichen reflektierten, um zu einer verlangsamten oder gar stillstehenden Zeit zu gelangen – wenigsten im Kontrast zu unserer Zeitkultur. Man hoffte, schon aus dem Sich-Reiben beider Begriffe ließe sich eine kulturelle Energie oder Befriedigung schöpfen. Die Wiederkehr des Labyrinths Ist Ihnen Richard Long wichtig? Unbedingt. Seine Wanderungen sind stets minutiert und kartographiert. Sie weisen auf Geographien hin und sind auf das Finden ausgerichtet. Sobald er auf einen Ort stößt, wo ihn die natürlichen Gegebenheiten reizen oder die Situation ihn so anspricht, dass er selbst etwas baut, steht sozusagen die Zeit still. Nunc stans. Es ist kein Zufall, dass er ständig kreisrunde Dinge errichtet. Die Spiralformen, von ihm verwendet, gibt es schon lange in der menschlichen Kunstäußerung und in Labyrinthen. Man könnte jetzt einen Exkurs über die Wiederbeliebtheit des Labyrinthes machen. Neulich las ich in einer Zeitschrift, in Frankreich würden laufend Labyrinthe sozusagen als Hobbyräume gebaut, in denen man sich lustvoll verliert und wiederfindet. Das heißt, man hebt, zwischen den Heckenwänden spazieren gehend, die Zeit eine Zeitlang auf, jedoch nicht allzu lange, damit es nicht beängstigend wird. Warum geht das nicht länger? Zum einem, weil man es mit Kindern zusammen tut, und zum anderen, weil das so ein Anhängsel der Vergnügungsindustrie, also der Ferienbeschäftigung und des Spiels ist. Gott sei Dank haben wir noch das Spiel, und dieses ist ein Moment des Verschwindens von Zeit. Weil es möglich ist, sie dabei zu vergessen, spielen auch Erwachsene so gerne eine Zeitlang mit; und weil sie kein Zeitgefühl haben, werden Kinder so bestaunt und bewundert. Zurück zu Richard Long, mehr zu seinem Zeitsinn, bitte? Nun, ich bin nicht zu vertraut mit seinen Gedanken. Aber ich könnte mir vorstellen, dass für ihn die Tätigkeit des Anhäufens und Aufklatschens, überhaupt die großen, aber ohne große technische Mittel zu verwirklichenden Projekte eine Herausforderung an die Zeit sind. Das heißt, was er anstrebt, ist mit den Mitteln eines Mannes mit zwei Armen und einem Willen zu schaffen. Zum anderen hebt er die Zeit für sich auf, indem er sich unbegrenzt in dieses eine Projekt vertieft. Das ist aber überhaupt etwas, was den Künstler von dem "normalen Menschen" unterscheidet. Er wird darum beneidet, dass er sich Zeit lassen kann. Da er keinem wüsten Produktionsrhythmus folgt, ist er privilegiert, ohne zeitliche Begrenzung an einem Werk zu arbeiten. Er tut es, weil er den Eindruck hat, das sei jetzt das, was passieren und erreicht werden muss. Damit wird eine Station erreicht, die wichtig ist. Also die Wichtigkeitsbegriffe sind andere. Es ist unnötig zu erwähnen, wie viele Werke sich wie lange hingezogen haben, wie viele nie fertig geworden sind und wie viele auch in der Literatur in eine totale Thematisierung von Zeit gipfeln. Nehmen Sie Marcel Prousts A la recherche du temps perdu oder überhaupt die großen Erzählwerke des 20. Jahrhunderts. Ich hake da einmal ein. Künstler unterscheiden sich ja ebenfalls in der Frage, ob sie ihr Werk zu Lebzeiten beenden oder ob sie in dem Wissen arbeiten, dass es ihnen gar nicht gelingen kann, weil die Realisierung des Projekts – ich denke jetzt an den Bau von Pyramiden, Türmen oder Kathedralen – mehr als eine Lebenszeit erfordert. Bei Türmen kann man sich das ja denken. So hat Martin Warnke gesagt, das seien meistens von Kommunen, staatlichen oder kirchlichen Obrigkeiten initiierte "Leistungsträger", die von vornherein nicht einen einzelnen Bauherrn betreffen. Insofern wird dort ein die individuelle Zeit überschreitender Begriff angestrebt, und es ist nicht so maßgeblich, ob das Bauprojekt wirklich zu Ende geführt wird. Oft gelingt dies ja auch nicht. Apropos Pyramide: soweit wir unterrichtet sind, begann man mit deren Bau meist recht früh im Leben des Herrschers, damit sie errichtet waren, wenn dessen Karriere dem Ende zuging, was nicht immer gelang. Aber wahrscheinlich gibt es Pyramiden, die der Herrscher im fertigen Zustand erlebt hat. Das ist ein ganz faszinierender Gedanke, nicht? Damals war Zeit nicht Gotteszeit, wie Bach sagt, sondern des Herrschers Zeit. Wir haben beispielsweise vom Alten Reich in Ägypten keine präzise Zeitvorstellung, weil wir nur die dynastischen Herrscherzeiten kennen, keine Durchzählungen. Das ist es, was solche von späteren Perioden unterscheidet. Interessant an Pyramiden ist ja auch, dass aufgrund ihrer speziellen Himmelsrichtungslage der mumifizierte Leichnam in ihnen überdauern kann. Das ist wohl auch von den magnetischen Feldern abhängig, wenn ich richtig unterrichtet bin. Von den Feldern, ja. Aber es hat auch damit zu tun, dass der Sonnengott Re auf der Spitze sozusagen landen kann. Der Pharao, sein Stellvertreter auf Erden, kann von seiner Grabkammer aus seine große Reise ins Land der Toten antreten. Das sind in vielen Kulturen anzutreffende Begriffe. Vor einigen Monaten sah ich eine Ausstellung über afrikanische Musik. Es gibt heute einen Kult in Gabun, wo eine Seelenreise über einen Fluss, und zwar mit Musikbegleitung stattfindet. Da ist ein Harfenspieler, der dazu singt. Eine ganz wesentliche Funktion von Musik ist, dass sie den Reisenden auf seinem Weg von der Zeit in die Ewigkeit begleitet. Das muss man sich einmal vergegenwärtigen. Das extreme Gegenteil erleben wir in unseren Ausstellungen heute. Nehmen Sie Venedig und die Biennale oder das, war uns zum Jahresende erwartet. Ausstellungen sind wie die Inszenierungen eines Wanderzirkus, der seine Zelte aufschlägt und wieder abbricht, um anderswo ein neues Spektakel aufzuführen, darin die verschiedensten, bisher streng voneinander getrennten Medien aufeinander reagieren. Da könnte man auch versuchen, eine wahnsinnig rasche Zeitfolge zu sehen, durch die verschiedensten Dinge wie elektronische Bilder mitbedingt. Nun, was wird damit intendiert? Natürlich begehbare Bilder und eine Überwältigung des Zuschauers wie bei einer Theaterinszenierung oder wie im Barock. Weil es mehrsinnig sein soll, werden alle Medien zusammengeführt. Auf Climax ausgerichtet, deutet das auf eine bestimmte Vorstellung von Zeit hin, nämlich auf eine konzentrierte, also wie in einem Tuttischlag oder bei einem Feuerwerk. Die Beanspruchung des Betrachters ist dabei eine ganz andere. Er ist weder gezwungen, davorzustehen, noch dazu verdammt, es zu bewundern oder zu analysieren. Vielmehr ist er dazu aufgefordert, in irgendeiner Form mitzumachen oder darin in der Hoffnung aufzugehen, etwas von der thematischen Aufladung des Ensembles gehe auf ihn über. Ziemlich weit von den Vorgaben des 20. Jahrhunderts entfernt, bewegen wir uns auf etwas Neues hin, zumal diese Kunstaufführungen meistens in kunstfremden Räumen, also in Arsenalen, Kirchen, Fabriken oder in Gasometern stattfinden. Man erlebt mit dem Ablauf eines ästhetischen Programms nicht nur eine Architektur, sondern auch einen jedenfalls räumlich erweiterten Zeitbegriff. Man ist nicht so extrem auf bestimmte Abläufe innerhalb eines Museums eingeschränkt. Die Poesie der Landvermessung Apropos Walter de Maria und Richard Long, einer, der da nicht fehlen kann, ist Hamish Fulton, oder? Hamish Fulton, für mich mit seinen Sommer- und Winterreisen der Franz Schubert der bildenden Künstler, hat das Wandern als Teil des Kunstwerks entdeckt. Ganz wichtig ist für ihn das Tagespensum, das genaue Beschreiben dessen, von wo bis wo er gegangen ist, und die Auflistung dessen, was er da sieht und dann auch zeichnend oder mit der Kamera festhält. Dabei spielt bei ihm, was sehr englisch ist, auch das ästhetische oder sogar biographische Tagebuchführen ins Medium des von ihm Erlebten hinein. Es ist ein Versuch, die Zeit zu bändigen, den Zeitablauf sozusagen zu domestizieren, dem eigenen Rhythmus anzupassen, um ihn anzuhalten, so dass man sich über das von einem gerade durchmessene Zeitquantum im klaren wird. Vor allem, wenn es mit signifikativen Erlebnissen aufgeladen ist. Wissen Sie bei ihm, wie sich sein Bestreben existentiell erklärt? Nun kenne ich ihn nicht persönlich, bin mit ihm nur einmal Aufzug gefahren. Aber vermutlich hängt es mit einer romantischen Erschließung von Landschaft zusammen, wie wir es in England von John Constable oder William Turner kennen. Es ist auch der Wunsch, über die allzu raschen Highlightsetzungen der Fotografie hinaus zu einer poetischen Landvermessung zu gelangen, die sich dem Individuum einprägt. Manchmal wirkt es, als ob er ein Rädchen mitführe, einen Weg abzeichnet, wie das früher die Landvermesser beim Festlegen von Straßenzügen taten. Wie sieht der Zeitsinn der Fotografie aus? Extrem verschieden. Es gibt die Reportagefotografie, extrem bei Weegee, die eine Reporterzeit, eine Sekundenzeit, eine Tatzeit ist. Dann die Zeitvorstellung der sogenannten Düsseldorfer Schule. Entweder steht sie ganz wie bei den Bechers, die sich neutrale Umgebungen unter neutralen Wetterumständen suchen, damit man keine Vorstellung davon bekommt, ob da eventuell Wolken wandern oder Sonnenstrahlen einen Tag einteilen. Ein Gebäude steht da, dokumentiert wie für die Ewigkeit, aber es ist keine wirkliche Ewigkeit, sondern nur ein Da-Sein. Mehrere aus dieser Schule hervorgegangene Fotografen tendieren dazu, etwas Unverrückbares festzuhalten. Statt dieser Statik suchen andere Fotografen die Transition. Ein Cartier-Bresson, der Zeitmomente verdichtet, scheint genau dazwischen angesiedelt zu sein. Bei ihm ist es so eine Art Trance, ein Moment, als stehe die Zeit still und als sei ein Punkt erreicht, der so bleiben könnte. Sein Auge ist extrem geschärft für Bewegungsabläufe und für das Ineinsfallen von Gegensätzen. Darüber hinaus gibt es die Fotografie, die alles verwischt, weil sich alles in einem ständigen Übergang befindet, nichts sich festhalten lässt. Selbst ein Hüttenwerk oder eine Kokerei, von den Bechers fotografiert, ist atmosphärisch belebt. Aber sie erwischen den Moment so, dass es aussieht, als sei es immer so grau und immer so neutral. Das Weiterleben des Toten Würden Sie im Fall der Zeitaufhebung auch von einer Zeitverdrängung reden? Durchaus. Es ist ja der Wunsch der Bechers, dass der Bau stehen bleibt, obgleich er, weil funktionslos, dazu bestimmt ist, abgerissen zu werden. Zeitverdrängung würde bedeuten, dass mit dem Monumentcharakter auch der Kunstwerkcharakter im alten Stil des Monuments angestrebt ist. Wer von den Fotografen ist Ihnen lieber? Ein Cartier-Bresson mit seiner Zeitverdichtung oder die Bechers mit ihrer Zeiteinfrierung? Ich bin von beidem sehr angetan. Zum einen, weil ich die Industrie- und Vernikulararchitektur sehr schätze. Das wäre der Fall Becher. Zum anderen, weil die Bilder von Cartier-Bresson etwas Erlösendes haben. Er fängt einen Moment Harmonie ein, und zwar eine, die nicht künstlich arrangiert ist, sondern sich so ergeben hat. Ich besitze ein Foto von ihm, worauf Sargträger abgebildet sind. Durch die Last der auf ihren Schultern getragenen Särge verteilt sich ihr Gewicht auf die Beine so, dass sie wie Tänzer aussehen. Ein solches Bild wirkt wie schwebend. Beim Zuhören denke ich an Beerdigungsrituale in Indonesien, auf Bali. Ah ja! Dort spielt eine Rolle, dass es eine erste und eine zweite Beerdigung gibt, wobei die zweite die Verabschiedung von dem jetzt schon nur noch in Knochen vorhandenen Menschen ist. Die ist heiter, weil der Tote jetzt endlich den Weg ins Jenseits findet und einen in Ruhe lässt. Denn in vielen Kulturen ist ja der Tote keineswegs tot, sondern kommt wieder. Um das abzuwehren und um sich selbst und ihm Ruhe zu verschaffen, werden Riten und Zeremonien aufgeboten, die zum großen Faszinosum der Weltkulturen gehören. Auch Cartier-Bresson hat sich stark mit asiatischen Kulturen beschäftigt, und da insbesondere mit Buddhismus und indonesischen Religionen. Ja, er hat das sicher getan, aber Gott sei Dank lässt er sich nicht davon bestimmen, sondern alles durch seine Poren in sich eindringen, um ein Verständnis für das Verhalten zu bekommen, ohne es aber selbst zu übernehmen. Das heißt, er bleibt der Mann des Westens, der das andere in sich aufnimmt, aber in dem ihm gemäßen Geist. Das ist seine Möglichkeit. Deshalb glaubt man, dass, was immer er fotografiert, irgendwie gerecht ist und dass er zudem weder jemanden noch eine andere Kultur vergewaltigt. Der prismatische Charakter des Hier und Jetzt Bezogen auf Zeit, an welche Fotografen denken Sie da noch? Die gesamte Fotografie ist auf Zeit bezogen. Was wäre eines der signifikantesten Beispiele? Als erstes kommt mir ein Gigant wie August Sander in den Sinn mit seinem Versuch, eine Gesellschaft in ihrer typischen Struktur aufzuzeichnen, wobei er sich im klaren ist, dass es ein sich veränderndes Gesellschaftsbild ist. Er, übrigens ganz ähnlich wie die Bechers und ebenfalls ein Rheinländer, zeichnet die Gesellschaft zwischen 1910 und 1930 auf, und zwar, wie im Mittelalter, anhand von handwerklichen, berufs- und tätigkeitsspezifischen Typen. Das ist insofern interessant, als ein Vergleich mit David Hockney aufgrund seiner Ausstellung im Centre Pompidou und vor allem im Kölner Museum Ludwig als Fotograf möglich ist. Er hat in seinem Studio in Los Angeles die Personen, die ihn besuchten, wenn sie ihm signifikant erschienen, eine nach der anderen vor dem Bild einer Hochstrasse mit Bergen abgelichtet. Obwohl mancherlei Kunstentwicklungen zwischen Sander und Hockney liegen, scheint es das gleiche zu sein, dabei ist es völlig ungleich. Die Hockneysche Parade ist wie eine Nummernrevue mit Nachbarn, Freunden – manche kennt man, die meisten jedoch nicht –, mit bekannten Künstlern oder Leuten aus dem Milieu. Aber es ergibt sich nicht die Struktur, sondern nur das Phantombild einer Gesellschaft. Man könnte damit die Leute, die Gesellschaft und auch die achtziger Jahre identifizieren. Während man bei Sander gar nicht genau weiß, ob man überhaupt erkennen soll, dass er in den 10er oder 20er Jahren fotografiert hat. Er greift sozusagen eine Gesellschaft aus der Zeit heraus, um sie zu konservieren, während Hockney sie extrem in die Zeit hineinstellt, um sie lebendig zu halten, was natürlich nicht gelingt. Aber man weiß, welche Zeit es ist. Apropos Hockney und Zeit: Interessant sind ja seine Panoramablicke, zusammengesetzt aus Tausenden von Polaroids. Polaroids, die zwangsläufig nacheinander geschossen sein müssen. Das Bild als solches vermittelt den Eindruck, als wäre es einer, aber zusammengesetzt aus vielen Augenblicken. Hat das Ihrer Ansicht nach Auswirkungen auf die Art, wie wir den Panoramablick betrachten? Es gibt zwei Dinge. Zum einen das aus vielen, zu unterschiedlichen Zeiten, zum Teil mit einem Abstand von mehreren Jahren, und eben nicht hintereinander geknipsten Schnappschüssen minutiös zusammengesetzte Panoramabild. Zum anderen die beiden, danach gemalten Panoramen. Lustigerweise – jedenfalls ist es mir so gegangen – vermittelt das fotografierte Panorama den prismatischen Eindruck des Hier und Jetzt. Stehend vor den gemalten Bildern, hatte ich dagegen den Eindruck, als ob man daran mit dem Auto vorbeiführe oder als ob man einen Panoramaschwenk per Kamera machte. An einen Ablauf gebunden, kehrt man damit in die großräumige Erlebniszeit des amerikanischen Westens zurück. Verlangsamt gleich veranschaulicht Gedankensprung, wie sieht Boltanski die Zeit? Es ist nicht seine Zeit, um die es ihm geht, sondern die Zeit der Dargestellten, die er auch nicht selbst fotografiert, sondern reproduziert. Er nimmt sie aus einem unter Umständen aktualisierten Rahmen wieder heraus und in eine ikonenhafte Zuständigkeit hinein. Auf diese Weise erzielt er die Vorstellung, als ob jeder Mensch für sich da ist, unabhängig von allen anderen, und als ob jeder seine eigene Lebenszeit beanspruchen könnte. Dass er das nicht kann und dass ihm die auch verwehrt wird, das ist das eher Tragische an seinen immer durch Heiterkeit grundierten Werken. Er erhebt sich weder zum Ankläger noch zum nostalgischen Verteidiger, sondern zieht die Bilder aus dem Verkehr. Das ist etwas ganz anders als das, was die dokumentarische Bechersche Schule erreicht, und zwar in einer Intensität, die mich an Ikonenmalerei oder an Totenbilder aus dem spätpharaonischen und frühchristlichen Ägypten erinnert. Sein Versuch besteht darin, Zeit anschaulich zu machen, indem er sie extrem verlangsamt. Er hat das ja auch gerade in Berlin zusammen mit Ilya Kabakow versucht, indem er der Tetralogie Wagners einen fünften Tag, nämlich den Tag "danach" anhängte. Er lockerte die trotz in ihrer unendlichen Längen strengen Abläufe Wagners auf, indem er an mehreren Schauplätzen verschiedene Stücke spielen ließ, in denen ehemalige Wagnersänger ihre Lieblingsmelodien singen. Man gewinnt den Eindruck, dass sich die Zeit nach der Götterdämmerung streckt. Ein Problem, auf das Boltanski anspielt, ist, dass die Zeit die Hoffnung auffrisst. Er schenkt der Verbesserungsfähigkeit der Menschheit keinen großen Glauben, bezweifelt, dass, je mehr man sich jetzt in immer kürzeren Zeiträumen anstrengt, der Mensch desto vollkommener wird. Das, übrigens das Problem der Aufklärung, ist im Grunde ein im 19. und vor allem im 20. Jahrhundert gescheiterter Versuch. Offenbar hofft Boltanski, dieser Tendenz durch die Erstarrung und Herausbildung von detaillierten, immer aufgelösteren Gesichtszügen entgegenwirken zu können. Gleichzeitig ist darin auch das Vergebliche des Versuchs eingefangen, und das macht ihn bei aller Starre so pathetisch. Neben diesem Pathos ist gleichzeitig eine gewisse Nonchalance zu bemerken. Historische Zeit und Eigenzeit Wie sehen Sie, auf Kunst bezogen, das Verhältnis zwischen historischer Zeit und Eigenzeit? Historische Zeit, verstanden als Ablaufzeit, ist ein Nacheinander, das von der heutigen Geschichtswissenschaft zu Recht angefochten wird. Aber gut, bleiben wir bei dem Nacheinander, wie es uns auferlegt wird. Hingegen ist die künstlerische Zeit ein Miteinander, eine Gleichzeitigkeit, womit wir bei dem Problem der Historienmalerei im späten 20. Jahrhundert angelangt sind. Sie versucht, gewisse Abschnitte in einer strukturalen Gleichzeitigkeit zu bieten, die eine Typologie beinhaltet, was ja zum Teil ein amerikanisches Problem ist. Warhols Bilder wollen per Hypertrophierung des Ereignismoments eine Historizität derart erreichen, dass man sich sagt, das sei so gewesen und zudem typisch für die amerikanische Mentalität oder Geschichte zu einer bestimmten Zeit, etwa in den 70er oder 80er Jahren. Außerdem gibt es Tübkes deutschen Versuche in Frankenhausen, durch ein Panorama die bürgerliche Gesellschaft in einem Bild des Aufbruchs zur Neuzeit zu spiegeln. Also 16. Jahrhundert. Bauernkriege. Thomas Münzer. Zudem fällt mir da Jörg Immendorff mit seinem Café Deutschland ein. Ein Bildreihe, in der er alle signifikanten Momente der umgezogenen Bonner Republik zu bannen versucht. Einerseits ganz faszinierend, gerät es andererseits genau dort banal, wo er reale Personen auftreten lässt. Das sind oberflächlichen Beziehungen von historischer und künstlerischer Zeit. Im einzelnen reagiert jeder einzelne Künstler anders und mit einer jeweils anderen Zeitbreite auf historische Ereignisse. Beuys hat der historischen Zeit seine eigene Zeit entgegengesetzt, eine Zeit der Utopie, der kosmischen Abläufe, der Wahlverwandtschaften und der Beziehung zwischen nördlichen und südlichen Teilen Europas. Wenn ich noch einmal auf Kabakow zurückkommen darf, für ihn scheint die Zeit stehengeblieben zu sein. Er fixiert die sowjetische Emprise auf Russland, also etwas, was sich rasend schnell, viel schneller als der Nationalsozialismus von uns entfernt. Was mit Momenten aus seiner eigenen Jugend beginnt, hat bei ihm eine epische, ja eine Tolstoische oder gar Dostojewskische Dimension des Arme-Leute-Panoramas. Seine vom Persönlichen ausgehenden Installationen öffnet er hin auf eine allgemeine Aussage. Es scheint so, als habe sich die Zeit einen Augenblick wie in einem Netz einfangen lassen, wodurch Aufschlüsse möglich werden. Gedankensprung, ein de Chirico hat die stillstehende Zeit verdinglicht, während der Futurismus auf eine wahnwitzige Weise die pausenlosen Bewegung nach vorne, d.h. die Geschwindigkeit als Surplus ihrer Zeit kultiviert hat. Ja, das ist so. Der Futurismus hat sich ja auch alles so klirrend und strahlig und militant modern gedacht, während de Chirico, der aus einem östlichen, griechisch-levantinischen Kulturkreis kam und kein richtiges Italienisch konnte, als er seine Karriere in Italien begann, fasziniert von der Verdinglichung der Zeit innerhalb von Architektur, Monumenten und Gegenständen war. Er war geneigt, dem Westeuropa, in dem er gelandet war, durch den Stillstand in seinen Bildern, die zum großen Teil in Paris entstanden, zu entkommen. Für ihn war das eine poetische Assemblage, womit wir jetzt auch bei der dichterischen Zeit angelangt sind. Sie zeigt, als wie erschreckend am Anfang des 20. Jahrhunderts der unwahrscheinliche Zeitverschleiß des späteren 19. Jahrhunderts erlebt wurde. Die Städte, die sich wie verrückt ausbreiteten. Die Züge, die verrückt schnell fuhren, und die Länder, die sich zusammenschlossen. Heute erleben wir ganz ähnliches, aber im planetarischen Maßstab. Damals wurde das wegen der viel größeren Kontraste ganz hautnah empfunden. Von da, wo man herkam, war das, was man erlebte und einen selbst veränderte, viel extremer erfahrbar als heute. So hat man festgestellt, dass der Eisenbahnbau im frühindustriellen England die Landschaft mehr verändert hat als alle Jahrtausende vorher und wahrscheinlich auch nachher. Alles das sind Zeitmarken, Sprünge und Brüche, die sich einprägen und denen ein nietzscheanisch geprägter Geist wie de Chirico entgegentrat. Die Zeitreise des Kinos Wie sehen Sie Dalís Uhren im Verhältnis zu de Chirico? Dalís Uhren sehe ich im Zusammenhang mit Barcelonas formbaren Jugendstil eines Gaudí oder Montaner, auf die er sich berief. Als extremer Nietzscheaner, der zudem Surrealist war, hielt er die Zeit für formbar im Glauben, dass der Mensch dank seiner Imagination sie sowohl anhalten als auch beschleunigen oder nach Belieben intensivieren, vertiefen oder verflachen kann. Von daher rührte wohl sein äußerst kreativer Bezug zum Kino, das dieselben Eigenschaften besitzt und das erste Medium war, das mit der Zeit umgehen konnte, wie es der Regisseur und nicht wie die Zeit es wollte. Das Kino hat im Grunde die Zeit überwältigt, sie dem Menschen so zur Verfügung gehalten und ihm eine Möglichkeit an die Hand gegeben, aus der Zeit herauszutreten. Eine Opern- und eine Kinovorführung sind insofern zwei verschiedene Paar Schuhe, weil die Oper die Überwältigung durch die Musik praktiziert, ergänzt durch Bild und Sprache, während das Kino eine völlig eigene Zeitreise aufbauen kann. Es kann sowohl rückwärts als auch vorwärts gehen oder verlangsamen, beschleunigen und die Zeit unter Umständen sogar auslöschen. In dieser Bewegung steht Dalí mit seinen weichen Uhren. Wo grenzt sich da Max Ernst ab? Max Ernst ist so unideologisch wie kapriziös. Ihn zogen stets Dinge außerhalb unseres unmittelbaren Wahrnehmungsbereiches an, darunter die Mikrowelt und die Welt der Gestirne. Also unvorstellbar viele kleine Lebewesen sowie unvorstellbar langsame, riesige Geschwindigkeiten. Selten hat er sich auf die unmittelbar psychologische oder menschliche Ebene begeben. Seine Bilder und Collagen, überhaupt sein Vorgehen sind von solchen außerhalb stehenden Kategorien regiert, weshalb man glaubt, er hätte, wenn er etwas macht, daneben gestanden. Er hat es ja auch oft genug gesagt und sich dabei ironischerweise immer mit der dritten Person angesprochen: Er sehe sich dabei zu, wie unter seiner Hand merkwürdige Dinge entstünden. Welche Zeitidee liegt seinem Werk zugrunde? Das ist gar nicht einfach zu sagen. Es macht seine Stärke aus – weshalb er immer interessanter wird –, dass er schwer festzulegen ist. Sicher favorisiert er eine sehr sprunghafte Zeit. Ab und zu stark auf die Außenwelt reagierend, folgte er aber seiner inneren Zeit und Erlebniswelt. In den späten 30er Jahren, als es für viele europäische Künstler, die unabhängig von der Aktualität arbeiteten, sehr gefährlich wurde, antwortete er zwar wieder auf die Politik. Aber er suchte dabei zugleich den ironischen Abstand. Sicher hat er, bestärkt durch seinen Aufenthalt in Arizona, in kosmischen Zeiträumen gedacht. Jedoch hat er sie nicht ins Erhabene gesteigert, sondern nur mit solchen Gedanken gespielt. In dem Zusammenhang sei seine Grafikfolge Maximiliana erwähnt. Ein Loblied auf einen deutschen Astronomen namens Gottfried Leberecht Tempel, einen liberalen 48er, der weder einen Abschluss hatte – weshalb Max Ernst ihn auch gerne als Astronom ohne Diplom bezeichnete –, noch eine Anstellung bekam. Zunächst im südfranzösischen Marseille und dann später in einem italienischen Observatorium arbeitend, entdeckte er dort STERNhaufen, die noch heute nach ihm heißen. Max Ernst hat solche Kartographien und auch eine Kryptographie erfunden, eine Geheimschrift, die mit den Ideen des unendlichen Raums spielt. Er hat so etwas als Muster angesehen, an dem man weiterknüpfen kann. Also das Stern-Bild. Er hat es nicht dokumentarisch aufgefasst. Einer der von Max Ernst viel hält, ist Claude Lévi-Strauss. Lässt sich dessen Zeitsinn charakterisieren? Sicher hat er intensiv seine eigene erlebt und gleichzeitig die mythische der Indianer und die musikalische Zeit erfahren. Die drei übereinander ergeben seine Bücher, vor allem das grosse Werk der Mythologica, Es stellt einen Versuch dar, Mythen auf bestimmte Wiederkehren und Leitmotive zu strukturieren, um daraus zu schließen, wie die menschliche Vorstellungskraft arbeitet. Am Anfang seiner Traurigen Tropen reflektierte er über die Begegnung von Zeitaltern. Am Strand von Rio de Janeiro glaubt er, die Kultur von vor vierhundert Jahren zu verstehen. Er war sich sicher, die große Tragik bestünde darin, dass die spanischen oder portugiesischen Eroberer sich der ihnen entgegentretenden Hochkultur nicht gestellt hätten. Das hätte das Verhältnis von Europa und Amerika grundsätzlich verändert. Erst einem Humboldt ist es fast dreihundert Jahre später gelungen, das einigermaßen wieder ins rechte Licht und ins Gleichgewicht zu rücken. Christos Zeit Am Anfang erwähnten Sie den Impressionismus. Ist dessen Zeit eine müßiggängerische? Das ist je nach Temperament verschieden. Man lebte in einem aufstrebenden Land, in einer sich diversifizierenden Kultur, in der der Lebensgenuss und die Lebensmöglichkeiten stiegen und das Tempo ständig zunahm durch Züge und andere Kommunikationsmitteln. Da nicht sehr prätentiös, registriert man diese Hochstimmung, der gleichzeitig eine gewisse Idyllik in der Natur entspricht, mit einer Technik, die fast so etwas wie eine moderne Zeitdarstellung ist, also mit unendlich vielen kleinen Tupfern und winzigen Momenten, so dass man an die sich immer deutlicher herauskristallisierende Atomwelt, die elektrischen und die Molekularelemente sowie an den Bergsonschen, ebenfalls aus so kleinen Erlebnismomenten bestehenden Bewusstseinsstrom denkt. Diese Malerei ist konform zu einem sich immer feiner strukturierenden sandartigen Zielablauf. Noch einmal zurück zur Land-art: Dort sind viele Werke temporär. Sie bestehen nur für eine bestimmte Zeit, sind auf ihr Verschwinden hin programmiert. Einer, der das insbesondere praktiziert, ist Christo, der mal den Pont Neuf in Paris, mal den Reichtag verpackt. Alles, was er schafft, lebt nur als Bild, etwa in der Fotografie von Wolfgang Volz weiter. Ich würde Christo gerade deswegen nicht zur Land-art rechnen, weil er auf Zeit spekuliert, mit ihr arbeitet und die Zeitabläufe vorher genau festlegt. Er ist folglich mehr ein Zeitingenieur, der viel mehr in die Welt der Science Fiction oder der alten sogenannten Zukunftsromane passt. Was er anstrebt, ist die Veränderung der großräumigen Wahrnehmung in einem bestimmten Zeitraum, ob nun in einem ländlichen oder städtischen Rahmen. Er gibt die Termine im Sinne einer Logistik ganz genau bekannt. Aber es ist nicht nur die Logistik, die dabei eine Rolle spielt, sondern auch die Tatsache, dass er die Öffentlichkeit darauf einstellt, etwas sei nur zu einer bestimmten Zeit zu sehen. Das funktioniert ähnlich wie die von den Medien geschürte Erwartung der Sonnenfinsternis, der alle am 11. August 1999 entgegenfieberten. Wichtig ist, dass ausschließlich in einem bestimmten Zeitraum etwas oder nichts mehr passiert. Insofern sondert er ein Stück wie im Bilderrahmen aus und sagt quasi: In dem Moment, wo ich ihn wie einen Eisberg verhüllt habe, so dass er herausgehoben ist, werdet ihr den Reichstag erst richtig sehen. Das war das Unglaubliche, das er geschafft hat, dass der Reichstag anders und nicht mehr verdeckt durch alle möglichen politischen und künstlerischen Untaten, durch Bombardierungen, Fotografien und vieles mehr gesehen wurde. Erstaunlicherweise ist genau das eingetreten. Christo hat ein deutsches Symbol, also etwas geschaffen, was keinem deutschen Staatsmann seit 1945 gelungen ist. Das ist eine Leistung, die einem Künstler selten gelingt. Ganz folgerichtig hat der Umbau des Reichstags dazu geführt, dass er prompt zum Symbol der Berliner Republik wurde. Christo ist ein extrem zeitbezogener und zeitbesessener, ja ein Mensch mit Uhren und Helicoptern, mit Überwachungen und genau eingeteilten Arbeitsschritten. Es geht nichts schief. Alles ist genau geplant, um einen Moment der Zeitenthobenheit zu erreichen. Gleichzeitig denkt man auf Zeit. Also ein nicht bleibendes Denkmal. Ist da nicht auch eine utopische Zeit am Werk, da am Anfang das Gelingen von etwas noch nie Gemachtem gewährleistet ist. Ich denke jetzt vor allen an seine Surroundet Islands. Die Inseln, ja. Er hat sicher ausprobieren müssen, wie viel er packen kann. Es sind auch Dinge schiefgegangen, als er damals die Vorhänge durch die kalifornischen Täler zog. Vor einiger Zeit sah ich einen Film, der darüber berichtete, wie ein Raumtransport nicht klappte und der Fallschirm um das Ding herumflatterte. Das sieht ungeheuer toll aus und ist künstlerisch viel reizvoller, als wenn alles gelingt. Im Laufe der Zeit haben sich Christos Anliegen von einem Überflug wie in Miami oder einer Wanderung, wie in Japan und Kalifornien, auf städtische Punkte wie Pont Neuf in Paris, Reichstag in Berlin und den Gasometer in Oberhausen konzentriert. Er arbeitet vom Gehen, vom Weg und vom Ablauf auf das Monument hin, also auf das Heraustrennen eines Augenblicks, den man zum Stehen bringt, wodurch er eine gewisse Ewigkeit auf Zeit erreicht. Ich finde, hier wäre ein guter Schluss, denn ewig kann unser Gespräch nicht dauern.