Wo befindet sich die Lehre von Reinkarnation und
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Wo befindet sich die Lehre von Reinkarnation und
Wo befindet sich die Lehre von Reinkarnation und Karma? von: Wolf-Ulrich Klünker aus: die Drei – Ausgabe Mai 2003 Ein Problem begleitet das Verständnis und das Erleben von Reinkarnation und Karma von Anfang an (zumindest im Christentum): Wie ist das Verhältnis von seelischem Selbsterleben einerseits, Geist und Kraft als den wirkenden karmischen Faktoren andererseits? Schon Origenes (etwa 185-254), ein sehr früher und auch sehr einsamer Vertreter des Reinkarnationsgedankens, sah sich mit diesem Problem konfrontiert.1 Er bringt zum Ausdruck, dass dort, wo von einer geistigen Kraftwirkung gesprochen wird, eigentlich nicht die Reinkarnation eines seelischen Wesens gemeint sein könnte. Auch spätere Vertreter des Reinkarnationsgedankens stimmen mit Reinkarnation oder Origenes überein, sofern sie ernsthaft menschenkundlich und nicht nur geistige Kraft weltanschaulich Karma begreifen wollten. Bedeutet Reinkarnation, dass die Seele sich mit einem neuen Leib bekleidet, das seelische Erleben aber im Prinzip eine Kontinuität besitzt? Dem scheint zu widersprechen, dass sich die Seele unter den neuen Lebens- und Leibesbedingungen an ihre frühere Existenz normalerweise nicht erinnert. Was heißt aber Reinkarnation, wenn ein Ich als geistiges Wesen wiederkommt, das unter völlig anderen Erdenbedingungen und Leibesvoraussetzungen auch ein vollkommen verändertes seelisches Selbsterleben besitzt? Was ist dann dieses geistige Ich, und wer reinkarniert sich eigentlich, wenn die Kontinuität des seelischen Selbsterlebens gar nicht gegeben ist? Wenn dieses Ich aber ein geistiges Wesen ist, das im seelischen Selbsterleben unterschiedlicher Menschen wirkt, worin besteht dann in dieser Abfolge von Menschenleben der rote Faden, der als lnkarnationsabfolge angesehen werden könnte? Denn wenn derselbe Geist in unterschiedlichen Menschen wirkt, dann kann zwar dieser Geist mit sich selbst identisch sein, über die Identität der von ihm belebten oder inspirierten Menschen ist damit aber noch nichts ausgemacht. In der Tat kann in Vorstellung und auch Erfahrung leicht das Missverständnis entstehen, als hätte ein rein seelisches Selbsterleben einfach »den Leib gewechselt«2 und wäre unter einem anderen Namen wiedererschienen. Was ist dieses menschliche Ich als geistiges Wesen, das sich reinkarniert? Ist es noch derselbe Mensch, wenn durch veränderte Leibesvoraussetzungen und gewandelte historische Vgl. Origenes: Kommentar zum Lebensbedingungen ein völlig anderes Ich-Erleben entsteht? Wie ist 1Johannes-Evangelium VI (X). In: sicherzustellen, dass auch ein intensiver Erfahrungseindruck (ich war Origenes: Über das Gebet. Teil 2: und Kommentar. dieser Mensch in einer vorangegangenen Inkarnation) nicht illusionär Übersetzung Hrsg. Von Wilhelm Maas. ist, vergleichbar mit intensiven Selbsterlebnissen der eigenen Jugend, Stuttgart 1997 (Freie Hochschule Christengemeinschaft), S. 121 die inzwischen längst revidiert werden mussten? Insgesamt stellt sich der ff. die Frage, wie unter den geschilderten Bedingungen eine Bewusstseinskontinuität über verschiedene Erdenleben hinweg 2 Ebenda, S. 124. herzustellen ist. Das Ich wirkt als verbindendes Glied und als geistige Kraft, nicht unbedingt als bewusstseinsfähiges Selbsterleben. Diese geistige Kraft wäre so individuell erfahrbar zu machen, dass das Selbsterleben sich in ihr wiedererkennen kann. Rudolf Steiner hat in Vorträgen vom 4. und 9. Mai 1924 zwei Übungen entwickelt, die zu direkten karmischen Einsichten führen können (GA 238). Bestimmte aktive Konzentrationsübungen, die konsequente Anwendung von geistiger Kraft im Vorstellungsbereich, soll in ihren seelischen und leiblichen Resonanzwirkungen eine wirklichkeitsfähige Erlebnisebene vorangegangener Inkarnationen aufbauen helfen. Die Übung vom 4. Mai 1924 ist dabei eher auf Erfahrungen mit anderen Menschen gerichtet, diejenige vom 9. Mai besitzt eher Selbsterkenntnischarakter; über die letztere soll nachher noch ausführlicher gesprochen werden. - Über Jahre gesammelte seminaristische Erfahrungen zeigen, dass immer wieder ein großes Bedürfnis besteht, über die so genannten »Karmaübungen«, insbesondere die »große« vom 9. Mai 1924, zu sprechen, dass aber die nach Monaten wiederholte Nachfrage, ob die Übung auch durchgeführt worden sei, abschlägig beantwortet wird. Haben sich die Lebensvoraussetzungen in den vergangenen 80 Jahren so stark geändert, dass die Übungen nicht mehr praktisch werden können? Sind vielleicht beide Übungen so gehalten, dass man sich nur auf sie einlassen kann, wenn bereits eine gewisse Schwellenfähigkeit gegeben ist; bzw. dass die Schwellenfähigkeit durch den Schweregrad der Übungen hergestellt wird, so dass implizit eine hohe Barriere der Realisierung gegeben ist? Im Verlauf des 20. Jahrhunderts hat es ungeheure schicksalsprägende In veränderter zivilisatorische Entwicklungen gegeben. Gerade die Ereignisse der 30er Zeitlage und 40er Jahre haben in den Existenzformen der Menschen (zumindest in Mitteleuropa) die Voraussetzungen entscheidend geändert; ihre Nachwirkungen sind gerade in karmischer Hinsicht noch immer virulent. Die Einschnitte in Völker-, aber auch Individualschicksale sind bis heute kaum überschaubar, geschweige denn karmisch klärbar geworden. Neben den unterschiedlichsten Betroffenheiten im persönlichen Karma muss ins Auge gefasst werden, dass sich die spirituelle Atmosphäre insgesamt durch diese Ereignisse verändert hat. Schockerlebnisse, Gewalteinwirkung, aber auch problematische weltanschauliche Orientierungen bringen eine Verdichtung in demjenigen Bereich hervor, der in der esoterischen Überlieferung als sublunarisch bezeichnet wird. Sublunarisch ist eine noch seelische, erdnahe Sphäre der geistigen Welt. Die menschliche Entwicklung nach dem Tod vollzieht sich in diesem Bereich, bis die erdgebundenen Erlebnisweisen des Menschen »abgearbeitet« sind. Ist eine seelisch-geistige Verarbeitung der Erdenerfahrungen nicht möglich, so kann der Übergang in das eigentliche Geistgebiet nicht vollzogen werden. Dadurch entstehen »Verdichtungen« in der sublunarischen Sphäre, die auch für lebende Menschen den Zugang zur Geistwelt, der das Ich als geistiges Wesen angehört, erschweren können. Das grundlegende michaelische Missverständnis der Ideologie der 30er und 40er Jahre und auch mancher individueller Gemütsstimmung ist unübersehbar: der michaelische Geistes»kampf« wurde militärisch missverstanden, die Individualität verkannt und in der Nationalität auch aufgelöst. Daraus entstehende ungelöste Schicksalssituationen führten zu karmischen Verstrickungen. Vor einiger Zeit stand der Verfasser vor einem Grab, auf dem Eltern 1943 zum Ausdruck gebracht hatten, dass ihr einziger, innigst geliebter Sohn »an der Spitze seines Zuges« auf Kreta für Großdeutschland gefallen sei. Karmische Verstrickungen, die Notwendigkeit innerseelischer Einbindung und Interpretationen schufen in sehr vielen Fällen die Unmöglichkeit, individuelle Entwicklungswege in angemessener Art zu vollenden: Dies alles führt auch im Verhältnis zwischen irdischer und geistiger Wirklichkeit zu einer neuen, erschwerten Situation. Ist geistige Wirklichkeit seither durch eine sublunarische seelische Schicht gleichsam so abgedichtet, dass ein Zugang nur mit enormen Kraftanstrengungen möglich wird? Wie sind Störungen in der empfindlichen Verbindung zwischen irdischer und geistiger Individualität zu bewerten, die nach wie vor aus einem karmisch ungeklärten Bereich der Vergangenheit strömen? Hinzu kommt ein weiterer Aspekt: Traditionswirkungen erstrecken sich über einen Zeitraum von ungefähr sieben Jahrzehnten. Das gilt für den weltpolitischen Zusammenbruch der marxistischen Ideologie, aber auch anderer Veranlagungen und Positionen. Beispielsweise waren direkte und nicht nur historische Folgen des deutschen Idealismus und des Goetheanismus zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch spürbar. Auch Rudolf Steiner und die Anthroposophie fußen auf solchen Voraussetzungen, die im kulturellen Milieu durchaus noch gegeben waren. Diese Voraussetzungen sind für einen heutigen Umgang mit geistigen Fragestellungen längst nicht mehr existent - das Verhältnis zum geschriebenen und gesprochenen Wort und zum geistigen Inhalt hat sich bis hin zum elektronischen »Informations«-Verständnis verändert, und damit ist das menschliche Selbsterleben bis in die leiblich-seelischen Grundlagen hinein modifiziert worden. Aber das Prinzip der ungefähr siebzigjährigen Wirkung wird inzwischen auch in den unterschiedlichen Existenzformen der Anthroposophie und ihrer Praxisgebiete spürbar. Was vor 10 bis 20 Jahren noch selbstverständlich aus der Rezeption des Werkes Rudolf Steiners und im Anschluss an die Tradition von Geisteswissenschaft und praktischer Anthroposophie tragfähig war, verliert nach und nach jede Selbstverständlichkeit. Die Verunsicherung ergreift auch die Grundlagen geisteswissenschaftlicher Auffassungen von Reinkarnation und Karma. Diese Tendenzen zeigen sich beispielsweise in dem Bedürfnis, die anthroposophische Reinkarnationsanschauung auf andere spirituelle Ansätze zu beziehen, deren Anregungen aufzunehmen und insgesamt eine spirituelle und kulturelle Öffnung herzustellen. Der Diskurs, der in diesem Sinne gesucht wird, erstreckt sich auf die Gebiete der Anthropologie und Psychologie, aber auch auf überlieferte religiöse Anschauungen, etwa den Buddhismus. Das Klima des Diskurses, aber auch eine latente Gefahr von Entgrenzung und Vermischung kulminierte schließlich in derjenigen Stimmung des »Neuen Zeitalters«, in der Reinkarnation und Karma zu einer nahezu kulturfähigen Weltanschauung wurde, die in den öffentlichen Medien diskutiert werden konnte. - Hat die geisteswissenschaftliche Lehre von Reinkarnation und Karma, die unter völlig anderen anthropologischen und zeitgeschichtlichen Bedingungen entstanden ist, hier noch eine angemessene Gestalt? Diese Frage erscheint heute auch deshalb sinnvoll, weil inzwischen selbst auf die eben angedeuteten Entwicklungen bereits wieder historisch zurückgeblickt werden kann. Lessing forderte im Jahr 1777 einen »Beweis des Geistes und der Kraft«, denn der Bericht von Wundern und geistigen Wirkungen (im Neuen Testament) könne deren unmittelbares Erleben nicht ersetzen: » ... ich leugne, dass diese Wunder, seitdem ihre Wahrheit völlig aufgehöret hat, durch noch gegenwärtig gangbare Wunder erwiesen zu werden, seitdem sie nichts als Nachrichten von Wundern sind (mögen doch diese Nachrichten so unwidersprochen, so unwidersprechlich sein, als sie immer wollen), mich zu dem geringsten Glauben an Christi anderweitige Lehren verbinden können und dürfen.«3 Die Überlieferung allein kann auf Dauer nicht zur Überzeugung und zur Kraftwirkung führen. Lessing gibt auch an, was trotzdem wirksam sein kann: »Was kümmert es mich, ob die Sage falsch oder wahr ist; die Früchte sind trefflich.«4 - In einer ähnlichen Lage befindet sich gegenwärtig die Lehre von Reinkarnation und Karma: Wo nur auf Bericht und Überlieferung verwiesen werden kann, verliert sie an Überzeugungskraft. Andererseits sind die »Früchte« der »alten« Anschauung, von der berichtet wird, nicht unumstritten. Das zugleich nach einem unmittelbaren Erleben, nach Empfindung und Einsicht verlangt wird, die an die Stelle der überlieferten Theorien treten sollen, ist nachvollziehbar. Aber auch Lessing beantwortet nicht die Frage, wie die Wahrheit der »Früchte« bzw. des Erlebens überprüft werden kann. Wir sind inzwischen in einer Situation, die selbst schon auf Erlebnisverhältnisse zu Reinkarnation und Karma mit einer gewissen Ernüchterung zurückblicken lässt. Was noch vor drei, vier oder fünf Jahren publiziert, heiß diskutiert, aber auch emotional erlebt und erlitten wurde, scheint sich weitgehend wieder beruhigt zu haben. Die Wogen haben sich geglättet, viele Erlebnisattitüden mussten den Weg in den Alltag finden, und die Wahrheitsfrage musste doch in mancher Hinsicht offen bleiben. Nur ein Effekt ist mit Sicherheit erreicht, nämlich dass es keine Rückkehr zu einer Theorie oder zum bloßen Begriffszusammenhang von Reinkarnation und Karma mehr geben kann. So erscheint ein gewisser Rückblick auf anthroposophische Forschungs-, Lebens- und Erlebensergebnisse zu dem in Frage stehenden Thema sinnvoll. Wo stehen wir heute? Welche Ergebnisse sind über die Darstellungen im Werk Rudolf Steiners hinaus gewonnen worden, welcher Lebenseffekt hat sich für einzelne Menschen oder auch für die anthroposophische Bewegung und ihren Umkreis ergeben? - Eine solche Frage kann naturgemäß nicht generalisierend beantwortet werden, sie kann nur den Einzelnen begleiten. Allerdings birgt sie in sich die Möglichkeit, dass bei ernsthafter Betrachtung ein Effekt entsteht, der die Voraussetzung zu einer vertieften geistigen Perspektive darstellt: das Erleben einer Erkenntnisgrenze, das Gefühl der Undurchdringlichkeit und auch einer gewissen Resignation. Die Zukunftschancen eines wahrheitsbezogenen Verhältnisses zu Reinkarnation und Karma werden zwar nicht allein, aber davon abhängen, wie es gelingt, die Finsternis der Erkenntnisgrenze auszuhalten und in ihr bestimmte Empfindungen auszubilden, die ihrerseits zu einem Wahrnehmungsorgan für geistige Wirklichkeit werden könnten. 3 Gotthold Ephraim Lessing: Über den Beweis des Geistes und der Kraft. In: Die Erziehung des Menschengeschlechts und andere Schriften, Stuttgart 1980, S. 37. 4 Ebenda. Für den Einzelnen, aber auch für eine über ihn hinausgehende geistige Reinkarnation auf der Milieubildung wäre zu klären, worin wahrheitsfähige karmische Lebensebene Erfahrung heute bestehen könnte. Denkbar wäre, dass die Identifikation von karmischen Eindrücken schwieriger geworden ist, weil sie eher auf der Lebens-, als auf der Erkenntnisebene anzusiedeln sind. Das bedeutet selbstverständlich nicht, dass Erkenntnisbemühung ausbleiben könnte und die karmische Dimension sich von selbst darstellen würde. Dennoch ist ein christliches Metamorphoseprinzip zu beachten. Als christliches Entwicklungsmotiv kann gelten, dass eine geistige Wirklichkeit dem Weg des Christus folgt und eine zunehmende Vermenschlichung durchmacht. Geistige Wirklichkeit wird immer mehr irdisch, wird im Sinne des Prologs zum Johannes-Evangelium im Menschen »Fleisch«. In diesem Sinne sind auch die Zusammenhänge von Reinkarnation und Karma »tiefer«, d.h. auf den verschiedenen Lebensebenen (und nicht nur in Erkenntnishöhen) angekommen. Ich werde nur das karmisch wahrnehmen und erkennen können, worin ich mich lebensbezogen (»existenziell«) befinde - und wenn es mir gelingt, in den Lebenszusammenhängen diejenige Sphäre zu empfinden, die geistig aussagefähig ist. Ob mir beispielsweise ein karmischer Zusammenhang mit einem Menschen deutlich werden kann, ist davon abhängig, welche Willens und Lebensrealisierungen es zwischen mir und diesem Menschen gibt. Erkenntnisse und Lebensprozesse sind immer stärker aufeinander bezogen; das gilt auch für die Einlösung und Überzeugungskraft der Anthroposophie - allerdings ist deren Lebensprozess nicht ohne ideelle und begriffliche Klärung, ohne dezidierte Wahrheitsorientierung denkbar. Es ist Kennzeichen des Michael-Zeitalters, dass Karma direkt wirkt. Seelische, leibliche und soziale Verhältnisse sind unmittelbar vom eigenen geistigen Herkommen (und seinen Verwicklungen) bestimmt. Leibliche und seelische Gesundheit bzw. Krankheit, zwischenmenschliche Begegnungen und Lebensvollzüge konnten vormichaelisch noch stärker karmafremd beeinflusst sein, beispielsweise durch lediglich vererbte Dispositionen. Die Schwierigkeit besteht nun darin, die heutige unmittelbare karmische Bestimmung gerade in dem wahrzunehmen, was sich im Element des Lebens, nicht unmittelbar im geistigen Element zeigt. Aber selbst weltpolitische Ereignisse weisen eine Signatur auf, deren Verursachung und Substantialität sich besser erschließt, wenn geisteswissenschaftliche Gesichtspunkte zu Hilfe genommen werden, wenn diese zunächst weitab zu liegen scheinen. So können beispielsweise die gegenwärtigen Ereignisse im Irak durch das von Rudolf Steiner so vorrangig geschilderte karmische Problem erhellt werden, das in den so genannten Karma-Vorträgen des Jahres 1924 als Schicksal des arabischen Aristotelismus dargelegt wurde. Durch eine solche Betrachtung werden die Ereignisse in ihrer Ursächlichkeit nicht »einfacher«; auch darf nicht erwartet werden, dass ein philosophiegeschichtliches Problem der Vergangenheit (wie das aristotelische Denken über die arabische Philosophie ins christliche Mitteleuropa gelangt) erklärt oder gar ersetzt werden können. Aber es kann in einem solchen Gesichtswinkel doch deutlich werden, wie Lebensereignisse und Schicksalsentwicklungen geistig verursacht sein können. Das gilt auch für das individuelle Schicksal; die Karma-Vorträge Rudolf Steiners zeigen nicht nur karmische Zusammenhänge als Abfolge von Inkarnationen. Sie machen zugleich auch deutlich, dass der Übergang von einem in ein nächstes Erdenleben nur zu verstehen ist, wenn der geistige Gesichtspunkt eingenommen werden kann. Die persönliche Schicksalsentwicklung hängt eben bis in Alltagsbereiche hinein von der eigenen geistigen Situierung in der Vergangenheit ab, die ihrerseits nur geistig aufgefasst werden kann. Das Verständnis von Aristotelismus und Platonismus im Mittelalter (als damals philosophisches Existenzialproblem) bildet die Voraussetzung, um heutige, vielleicht sehr profane Lebensverhältnisse ursächlich begreifen zu lernen. Der karmische Zusammenhang von Platon und Roswitha von Gandersheim wird nicht durch persönliche Lebensverhältnisse und Schicksalsumstände, sondern nur aus der Perspektive nachvollziehbar, dass der Platonismus sich ungeheuren Schwierigkeiten ausgesetzt sah, im Christentum eine ihm angemessene Gestalt zu finden. Der Mensch Roswitha von Gandersheim und ihr geistiges Wirken wird verständlich, wenn nachvollzogen werden kann, wie Platon in der Existenz nach dem Tode um Realisierungschancen seines Denkens im christlichen Zusammenhang ringen musste.5 Ähnliche geistige Ursachenzusammenhänge sind im »verkleinerten« Maßstab für alle Menschen vorauszusetzen, die ihre gegenwärtige Inkarnation aus einem geistigen Motiv heraus vorbereitet haben. Dies gilt auch für die von Rudolf Steiner angekündigte Lebenssituation der Anthroposophie am Ende des 20. Jahrhunderts, also für das Zusammentreffen der so genannten Aristoteliker und Platoniker.6 Zu fragen ist, ob diese Verhältnisse deshalb so schwer identifiziert werden können, weil auch sie im Sinne des christlichen Entwicklungsprinzips inzwischen Stufen »tiefer« angelangt sind, also in Bereichen sich vollziehen, die sich nicht geistig-philosophisch (oder anthroposophisch), sondern längst lebensbezogen darstellen. Durch eine solche Betrachtung darf nicht vergessen werden, dass auch die Einlösung der Voraussage zur Verbindung von Aristotelikern und Platonikern nicht selbstverständlich ist, sondern, wie von Rudolf Steiner auch betont, von der Willensrealisierung der betreffenden Menschen und damit von freier den Vortrag Rudolf Steiners Entscheidung abhängt. Zudem ist Anthroposophie nicht nur dort anwe- 5vomVgl.23.09.1924, in: Esoterische send, wo der entsprechende Name verwendet und die dazugehörigen Betrachtung karmischer Zusammen(GA 238), 4. Bd., Dornach Begriffe gesprochen und geschrieben werden. Aufschlussreich könnte es hänge 1991. beispielsweise sein, in der wirtschaftlichen, technologischen und auch Vgl. dazu beispielsweise den politischen Entwicklung, insbesondere in den jeweiligen Forschungs- und 6Vortrag vom 12.09.1924, in: Innovationsbereichen darauf zu achten, ob neue Wege aus Tradition und ebenda. »Geisterinnerung« (d.h. eher »platonisch«)7 gefunden werden oder ob 7 Platon hat seine Erkenntnislehre Erkenntnis aus einer gewissen Erfahrungsorientierung, verbunden mit u.a. in dem Dialog Menon Dort führt er aus, dass Risikobereitschaft hervorgeht (»aristotelisch«). Thomas von Aquin hat im dargestellt. jede Erkenntnis von Neuem nur in 13. Jahrhundert die aristotelische Erkenntnishaltung als irdische Er- einer Wiedererinnerung an geistig dem Vorgeburtlichen fahrung von Neuem gegenüber der platonischen Auffassung abgegrenzt.8 aus Mitgebrachtes besteht. Bedeutsam ist in beiden Fällen, dass das Erkenntnis- und Vgl. beispielsweise Thomas' Lebensverhältnis durch Bewusstheit gekennzeichnet sein soll. Instinktive 8Ausführungen in der Summe der Erkenntnis aus geistiger Vergangenheit oder zufällige, also blinde Effekte Theologie I, 87-89. der Lebensentwicklung wären von beiden Richtungen abgelehnt worden. Im Zentrum steht der bewusste, erkennende Mensch. Es gibt eine seelische Perspektive des Karmaverständnisses. Bereits Wirkt Karma nur Origenes hat sie in dem eingangs erwähnten Zusammenhang seelisch? charakterisiert: Ein und dieselbe Individualität belebt in einer nächsten Inkarnation einen neuen Leib, dessen Beziehung zu der alten Leiblichkeit noch genauer erforscht werden müsste. Auf einen solchen Gesichtspunkt wird der Bereich karmischen Erlebens und Erkennens oftmals beschränkt. Die eigene karmische Situation (oder die anderer Menschen) soll sich über einen ursächlich, zumindest jedoch konsekutiven Zusammenhang der folgenden mit der vorangegangenen Inkarnation ergeben und sich in geistigen, seelischen, leiblichen oder auch sozialen Zuständen zeigen. Einer solchen Perspektive entgehen weitere Dimensionen von Schicksalsrealisierungen. Eine sehr weitreichende hat Rudolf Steiner im Leitsatz 62 angesprochen: »Die Sinneswelt trägt in den Sinneswahrnehmungen nur einen Teil des Wesens an die Oberfläche, das sie in ihren Wellentiefen birgt. Bei eindringlicher geistgemäßer Beobachtung zeigt sie, dass in diesen Tiefen die Nachwirkungen dessen sind, was Menschenseelen noch in lang vergangenen Zeiten gewirkt haben.«9 Nicht nur die eigene seelisch-geistige und leibliche Existenz ist karmisch bestimmt, sondern die gesamte Erscheinungswelt, die sich den Sinnen darstellt. Dem Karma begegnet man in der Welt; in der Natur, aber auch in all demjenigen materiell Festen, Äußeren und Objektiven, das die menschliche Lebensumgebung ausmacht, ohne natürlich zu sein. Die festgewordene Außenwelt ist die geronnene Vergangenheitsform von menschlicher Seelenexistenz! Die Welt, in der wir leben, die uns trägt und auch bedrängt, stellt unter karmischem Gesichtspunkt eine seelische Realität der Vergangenheit dar: die Sinneswelt als Nachwirkung menschlichen Erlebens und Handelns, nicht als eine vom Menschen abgelöste Wirklichkeit. Der Verbindungspunkt ergibt sich, wenn man sich verdeutlicht, dass auch in der Sinneswahrnehmung ein menschliches Erleben des Wahrnehmenden vorliegt. Man ist nur im Wahrnehmungsgeschehen geneigt, die Objektivität des Inhalts gegenüber der Subjektivität des Empfindenden zu betonen. Dagegen wird im Gefühl und meist auch im Denken eher die Subjektivität des eigenen Gestimmtseins bzw. der eigenen Tätigkeit hervorgehoben. Aber auch die menschliche Wahrnehmung ist nicht ein optisches oder akustisches Aufnahme- und Speicherverfahren, sondern ein Prozess des Bewusstwerdens durch bestimmte Empfindungsqualitäten. In dieser Empfindung stellt sich nicht nur äußere Natur dar, vielmehr wird vom Naturzusammenhang genau das und so viel in die Wahrnehmung gelangen, wie ich selber in die Empfindung aufnehmen kann. Sensibilität und Aufmerksamkeit, seelische und geistige Vorbereitung und Interesse bestimmen den Umfang dessen, was an »objektiver« Wirklichkeit zur Erscheinung kommt. Sobald es gelingt, die eigene Beteiligung als ein Darinnenstehen zu erleben, in dem Subjektivität und Objektivität untrennbar verbunden sind, beginnt sich die karmische Dimension der wahrgenommenen Umgebung zu erhellen. Dies gilt insbesondere für die Beziehung zur landschaftlichen Umgebung, Karma und Elemente die Rudolf Steiner als äthergeographisch charakterisiert hat.10 Der Blick auf karmische Verhältnisse kann sich ungeheuer schulen, wenn die Landschaften der Lebensumgebungen in der eigenen biografischen Entwicklung betrachtet werden. Hier zeigt sich die Schicksalsdimension bezeichnenderweise an einer eigentümlichen Grenze zwischen innen und Rudolf Steiner: Anthroposoaußen. Die (vielleicht wechselnden) landschaftlichen Umgebungen der 9phische Leitsätze (GA 26), Dornach eigenen Lebensentwicklung bilden zwar das Außen der Biografie; aber 1982, S. 46. sie haben doch, mehr oder weniger bemerkt, das seelische Innen 10 Vgl. beispielsweise Rudolf mitgeprägt: als Lebensgefühl, das immer stark umgebungs- und Steiner: Individuelle Geistwesen ihr Wirken in der Seele des witterungsabhängig ist. Hier zeigt sich, dass die Welt der Elemente zu und Menschen (GA 178), Dornach 1992, den schicksalsprägenden Kräften gehört - und ihrerseits aus der Kraft der Vortrag vom 16.11.1917. individuellen Schicksalsgestaltung heraus geprägt wird. Die vorgeburtliche Konzentration ätherischer Kraftströme bezieht sich nicht nur auf das Entstehen der neuen Leibesorganisation, sondern auch auf die natürlich-landschaftliche Umgebung dieses Leibes. Die tieferen Beziehungen zu den biografischen Gegenden stellen sich für das Bewusstsein oft erst in späteren Jahren her, beispielsweise wenn der Ort der Kindheit im Erwachsenenalter noch einmal besucht wird. Sich hier auf eine elementare Erlebnisebene einzulassen und weder die Umgebung zu objektivieren noch das subjektive Erleben überzubewerten, ergibt in der Sphäre der Elemente ein Schulungsgebiet für die schicksalsbezogene Empfindung. Die elementare Wirklichkeit ist an der Grenze zwischen Erleben und Leben, zwischen Bewusstsein und Sein, seelischer Empfindung und naturhafter Objektivität anzusiedeln. Gerade in dem äthergeographischen Naturund Landschaftsbezug begegnet man einer Erlebnisform, die die ähnlich grenzbezogenen Verhältnisse zwischen der Subjektivität der eigenen Schicksalsempfindung und der Objektivität der eigenen karmischen Vergangenheit widerspiegelt. Diese Entsprechung macht es möglich, mir selbst in dem ganz Anderen zu begegnen und in mir selbst das ganz Andere zu entdecken, also eine Art Gleichgewicht zwischen dem Subjekt und dem Objekt des eigenen Seins herzustellen. Das Subjekt der eigenen Existenz begegnet nicht nur im inneren Erlebnisaspekt, das Objekt nicht nur in der Außenwelt. Vielmehr handelt das Ich als Subjekt des Schicksals durch die inneren und äußeren Seinsverhältnisse hindurch.11 Ein zweiter Gesichtspunkt zur Sensibilisierung betrifft das ange- Geist, Seele, Leben sprochene christliche Metamorphoseprinzip: im Zuge der »Fleischwerdung« des Geistes wird ein geistig-seelisches Merkmal von vorangegangenen Inkarnationen sich gegenwärtig eher auf einer tieferen Lebensebene wiederfinden lassen - wo es aber oft versteckt bleibt, weil es dort nicht vermutet und somit auch nicht wahrgenommen wird. Eine Leitfrage zum Erschließen dieses Bereichs könnte lauten: Welche möglichen Defizite einer vorangegangenen Erdenexistenz könnten durch die gegenwärtige Lebenssituation (einschließlich des Lebensgefühls und der Lebensproblematik) überwunden werden? In dieser Perspektive gilt das Prinzip, dass liegengebliebene geistige Probleme der Vergangenheit zu seelischen oder leiblichen Problemstellungen der Gegenwart werden, also nicht mehr auf der geistigen Ebene anzutreffen sind. Umgekehrt ist es sinnvoll, die Schwierigkeiten der gegenwärtigen Lebenssituation daraufhin zu betrachten, ob sich in ihnen, bei aller Existenzialität und Intensität ihres Auftretens, vielleicht eine geistige Fragestellung verbirgt, die sich jetzt allerdings nicht mehr im Element der Freiheit, sondern unter dem Druck von Lebensverhältnissen artikuliert. Auch bei dieser Blickrichtung wird eine im Erleben seelische Dimension gleichsam zum Geist hin transzendiert, ähnlich wie dies im Hinblick auf die äthergeographische bzw. elementarische Umgebung im zuvor 11 Der hier nur angedeutete Besprochenen der Fall war. Allerdings darf die gegenwärtige seelische, Zusammenhang von Schicksal, und äthergeographischer leibliche oder (Lebens-) Situation nicht nur so angesehen werden, als Natur Umgebung wird ausführlich handele es sich dabei um eine Metamorphoseform des Geistigen, weil dargestellt in einem Buch des das im Herbst 2003 im eine geistige Orientierung der Vergangenheit nicht eingelöst werden Verfassers, Verlag Freies Geistesleben konnte. Zu beachten ist vielmehr, dass die Lebensebene auf jeden Fall erscheinen soll: Die Erwartung der Der Mensch als neue auch eine Vertiefung einer zuvor geistigen Orientierung darstellt. Engel. Hierarchie. Vgl. hier insbesondere Beispielsweise könnte man daran denken, dass eine gewisse das Kapitel I. Erkenntnishöhe, die in der Vergangenheit nicht den eigenen Lebensvoraussetzungen entsprach, durch eine entsprechende seelische Problematik nun mit den eigenen Wesenszügen in Einklang gebracht wird. Dadurch verliert der ehemals geistige Kontext selbstverständlich seinen Glanz und seine Idealität, vielleicht sogar seine Überzeugungskraft; es käme nun darauf an, dennoch den Entsprechungspunkt aufzufinden. Eine weitere Blickrichtung ist schwieriger zu charakterisieren. Denn in ihr tritt diejenige Dimension der Lebensführung ins Bewusstsein, die im Hinblick auf das Kind früher als der Schutzengel, im Hinblick auf den Erwachsenen als der das Leben begleitende Engel bezeichnet wurde. Die geistige Emanzipation des Menschen birgt die Gefahren, das selbstgesuchte Geistesleben zu verfehlen oder auf alte Grundlagen zu stellen. Schon Thomas von Aquin sprach im letzten Drittel des 13. Jahrhunderts von einer gefährlichen Wendung im Verhältnis zwischen dem Menschen und dem ihn begleitenden Engel; sie entsteht, wenn es der Mensch versäumt, zum »Mitregierenden« (conregnans) des Engels zu werden.12 Die versäumte geistige Emanzipation degradiert den ehemaligen lebensbegleitenden Engel zu einem dämonischen Wesen, das Thomas zufolge den Menschen in der Hölle quält. Modern formuliert bedeutet diese Aussage, dass der Mensch, dem es nicht gelingt, von Angesicht zu Angesicht mit dem Engel dessen geistige Ebene, also die Lebensorientierung im Geistselbst zu erreichen, mit problematischen Wirkungen einer früheren Engelkraft konfrontiert wird. Dementsprechend ist gerade bei vermeintlich geistigen Orientierungen, Einsichten und Lebensgestaltungen zu überprüfen, ob es sich um wahrhaft individuelle und menschliche Formgebungen handelt - oder ob eine Überformung durch ein geistiges Prinzip vorliegt, das vom Menschen noch gar nicht individualisiert wurde. Bezogen auf die hier zu behandelnde karmische Problemstellung ergibt sich also die Frage, ob die eigenen geistigen Bemühungen, Gewohnheiten und Intentionen auch den persönlichen Voraussetzungen entsprechen. Es ist nicht selbstverständlich, geistige Überlieferungen, aber Übung und Studium so zu gestalten, dass der Geist im Sinne der Fleischwerdung des Wortes vermenschlicht und individualisiert, nicht aber das Individuum geistig substituiert, also zum falschen Engel wird. Damit ist eine leicht zu unterschätzende Dimension der Sensibilisierung für die eigene karmische Situation angesprochen. Denn gerade in der Beziehung zur Spiritualität, Esoterik, aber auch zur Intellektualität und Philosophie verlangt eine der Bewusstseinsseele entsprechende Herangehensweise die Berücksichtigung der individuellen Möglichkeiten und Entwicklungsbedingungen. Die karmische Signatur der Bewusstseinsseelenzeit umfasst den eigenverantwortlichen Zugang zu einem Geistesleben, das früher durch Überlieferung adaptiert und in gewisser Hinsicht auch garantiert werden konnte. Werden die geistig wirksamen Kräfte der Tradition und, wie die Warnung des Thomas zeigt, auch der Hierarchien nun aber in einer Weise zur Wirksamkeit gebracht, dass sie die Individualität des Menschen eher gefährden statt stärken, so kommen Ich-Entwicklung und Geist-Selbst-Ausbildung in einen Widerspruch, der die Zukunft des menschlichen Ich bedroht. Es besteht nicht nur die Gefahr, dass die Betonung des Ich-Erlebens geistige Kraftwirkung nicht zur Geltung kommen lässt; umgekehrt muss auch vermieden werden, dass stark wirksame geistige Kräfte den Keim geistiger Ich-Entwicklung 12 Thomas von Aquin: Summe der Theologie I, 113,4. verbrennen. Diese Betrachtung führt zu einer vierten Dimension in der Bemühung um Geistige Kraft karmische Selbstvergewisserung. Sie ist orientiert an der Frage, woran (die eigene, aber auch »fremde«) geistige Individualität zu erkennen ist. Hier kann versuchsweise ein Weg der Sensibilisierung für feinere Kraftwirkungen beschritten werden. Gemeint ist damit die Wahrnehmung von Auswirkungen des eigenen Verhaltens und Denkens in Bereiche, bei denen zunächst kein Zusammenhang mit den wirkenden Ursachen bzw. Kräften zu vermuten ist. In der älteren Überlieferung, aber auch im ersten Mysteriendrama Rudolf Steiners werden diese Kraftwirkungen als Resonanz der elementarischen Welt auf seelisch-geistige Ausrichtungen und verbale Ausformungen des Menschen charakterisiert.13 Gerade Handlungen und Aussagen, die eigentlich der eigenen Urteilsbildung widersprechen, haben Wirkungen in einen Kräftebereich, auf den sie sich vielleicht gar nicht beziehen. Diese Resonanzwirkungen werden oftmals deshalb nicht bemerkt, weil die betreffenden Ereignisse zu der Handlung oder der Aussage gar nicht in Beziehung gesetzt werden, etwa wenn sie sich in einem völlig anderen Bereich vollziehen. Vorstellbar ist etwa, dass sich soziale Verkomplizierungen, zwischenmenschliche oder sachliche Probleme auf einem ganz anderen Sektor ergeben können, die man zwar begründen, aber nicht wirklich ursächlich herleiten kann. Die karmische Sensibilisierung würde nun darin bestehen, diesen Wirkungszusammenhang auch dann zu bemerken, wenn er räumlich, zeitlich oder sachlich »versetzt« erscheint. Der Aufmerksamkeitsbogen wäre also dorthin zu spannen, wo für das alltägliche Urteilsvermögen gar kein Ursachenzusammenhang besteht. Es handelt sich dabei letztlich um die Ausbildung einer Geistesgegenwart, die aus einer gewissen Selbsterkenntnishaltung hervorgeht. Diese besteht darin, dass die feinen Nuancierungen der Inkonsequenz gegenüber eigener Urteilsbildung, des untergründig unwahrhaftigen Verhaltens, des oberflächlichen Sprechens etc. bemerkt werden und ihre ursächliche Wirkung dann ins Bewusstsein tritt, wenn sie unter Bedingungen des Alltagsbewusstseins schon längst vergessen wären oder gar nicht als relevant gelten würden. Diese Ausrichtung karmischer Sensibilisierung ist nicht auf die Schicksalsvergangenheit, sondern auf die eigene karmische Zukunft bezogen. Denn die Zukunft wird durch die angesprochenen Verhaltensweisen gestört, und die Störung bleibt nicht folgenlos, sondern äußert sich in demjenigen Bereich, der in der Überlieferung als »Elementarwelt« galt und seine Kräfte wiederum in einem weiteren Bereich, beispielsweise als sozial wirksame Störung, wirken lässt. Über den zuletzt genannten Kraftbereich wirkt die Kräftekette dann wieder auf den Verursacher zurück. Dieser fühlt sich unter Umständen beunruhigt oder gar attackiert, ohne sich selbst als verursachenden Ausgangspunkt des Wirkungszusammenhangs wahrzunehmen. Aus dem bisher Gesagten ergibt sich, dass Karmaerkenntnis sich nicht in der Weise vollzieht, dass eine vorliegende karmische Wirklichkeit in der Empfindung oder im Denken abgebildet wird. Karmaeinsichten sind nur dort real, wo es gelingt, in den Kraftbereich selbst hineinzuwirken, nicht im Abbild zu verbleiben. Allerdings muss es sich um einen Zugang zur 13 Vgl. Rudolf Steiner: Die Pforte Einweihung (1911; GA 14), Kraft handeln, der bewusstseinfähig ist - Bild und Kraft fallen der viertes Bild: Die Seelenwelt, zusammen, Bewusstsein und Sein verbinden sich zu einer Einheit. Dornach 1981, S. 68 ff. Karmaerkenntnis hätte auch dann einen problematischen Abbildcharakter, wenn Geschehnisse einer vergangen Inkarnation in ungeheurer, kraftvoller Erlebnisintensität empfinden würden. Entscheidend ist nämlich nicht die Empfindung von (innerer) Kraft, sondern das Hervorbringen einer Kraftwirkung, die nicht nur im inneren subjektiv, sondern auch in der äußeren (objektiven) elementarischen Außenwelt wirksam ist. Reine Erlebnisintensität reicht dazu nicht aus, selbst wenn sie sich ungeheuer existenziell darstellt. Es gilt das Prinzip, dass die Intensität eines Erlebens über seine Realität nicht aussagefähig ist obwohl üblicherweise die Erlebniskraft zugleich als Erweis der Erlebniswirklichkeit gilt. Diejenige Kraft, die auch in der elementarischen Außenwelt wirksam ist, kann sich im Innenerleben zunächst als sehr fein, kaum wahrnehmbar darstellen. Das Problem besteht dann darin, sie zu bemerken. In eine ähnliche Richtung weist auch die so genannte große Kar- Übung, Erfahrung, maübung Rudolf Steiners aus dem Vortrag vom 9. Mai 1924. Ihr Erkenntnis Ausgangspunkt besteht darin, ein gegenwärtiges Erlebnis mit aller Willens- und Bewusstseinskraft auszugestalten. Es geht also nicht darum, die Begebenheit nur zu erinnern und möglichst getreu abbildhaft wiederzugeben, sondern sie in der Phantasie mit alldem auszustatten, was zu ihr gehört, aber vielleicht gar nicht im Wahrnehmungsfeld lag und somit auch in der Erinnerung nicht vorkommt. Es sind hier produktive, vom Willen geführte, aber nicht phantastische Bewusstseinskräfte gefordert. Von ihnen hängt ab, ob ein Kraftschluss auf den folgenden Ebenen gelingt. Zunächst kommt es zu einer Intensivierung auf der Erlebnisebene. Die aufgebrachte Kraft der Gestaltung, die das Bild des betreffenden Ereignisses oder Erlebens geschaffen hat, verändert das Gefühl; die Kraftwirkung ist also in der astralischen Organisation angekommen. Von dort aus wirkt die Kraft weiter in einen objektiven Bereich hinein: Es kommt durch sie, während der Mensch schläft, zu Veränderungen im äußeren ätherischen Zusammenhang. Von dort aus wirkt die Kraft weiter zunächst in die ätherische, dann auch in die physische Organisation des Menschen hinein. Der physische Leib als substanziell-geistige Wirklichkeit kann dann das durch Bewusstseinskraft gestaltete und auf den verschiedenen Ebenen erlebte Bild seinerseits so modifizieren, dass sich aus ihm der bewusstseinsfähige Eindruck der verursachenden karmischen Situation aus einem vergangenen Erdenleben ergibt. Insgesamt lässt sich an der Übung erkennen, dass karmische Erkenntnis nicht darin besteht, wirkende Kräfte ins Bild zu bringen, sondern aus Individualkraft heraus Bilder zu gestalten, die selbst kraftfähig werden - 14 Insgesamt beschreibt der auch durch die Willenskonsequenz, immer wieder auf das selbst Leitsatz 98 das Verhältnis von Gegenwart und hervorgebrachte Bild zurückzukommen und es weiter auszuarbeiten. Das Vergangenheit, Zukunft im Hinblick auf ein neues Bild qualifiziert sich für den Kraftbereich durch die Willenskraft, mit der Verständnis des Karma: „Das Fühlen und Wollen des es gelingt, den Gestaltungsvorgang zu betreiben. Gedankenlebens enthalten das Der anthroposophische Leitsatz 98 macht deutlich, dass die eigene karmische Ergebnis voriger Das Denken und karmische Vergangenheit zugänglich wird, wenn der Willens und Erdenleben. Wollen des Gefühlslebens Gefühlsaspekt, also die Kraftseite des eigenen Gedankenlebens bestimmen auf karmische Art den Das Denken und Fühlen bewusstseinsfähig wird: »Das Fühlen und Wollen des Gedankenlebens Charakter. des Willenslebens reißen das 14 enthalten das karmische Ergebnis voriger Erdenleben.« Die gegenwärtige Erdenleben aus dem Zusammenhang Aufmerksamkeit wird auf diejenigen Individualkräfte gerichtet, die das karmischen heraus.“ Aus: Anthroposophische Bewusstseinsbild, den Denkinhalt, begleitet. Allerdings ist das Fühlen Leitsätze, S. 74. des Gedankenlebens nicht die Vorstellung eines Gefühls, sondern dasjenige gefühlsartige Erlebnis, das die eigene Gedankenbildung begleitet. Das Wollen des Gedankenlebens meint entsprechend nicht die Vorstellung einer eigenen Intention, sondern diejenige Willenskraft, mit der die eigene Gedankenbildung und Urteilsfindung durchgeführt werden kann. Werden beide in der Weise für das Bewusstsein durchsichtig, dass sie sich zu einem Eindruck verdichten können, so begegnet man sich selbst als diejenige Individualität, die sich auch unter ganz anderen Persönlichkeitsbedingungen einer vorangegangenen Inkarnation ausgelebt hat. Es liegt auf der Hand, dass in dieser Erkenntnis- und Erlebnishaltung nach und nach unterschiedliche karmische Eindrücke entstehen können, weil die geistige Individualität sich nicht nur an einem einzelnen Erlebniszusammenhang, sondern in ihrer gedanklichhabituellen Gesamtausrichtung wahrnehmen lernt. Die gegenwärtige Zeitepoche ist gekennzeichnet durch die Wirkungen des 20. Jahrhunderts; zu ihnen gehört auch die Anthroposophie als diejenige geistige Strömung, die Karmaerkenntnis in der heute angemessenen Weise ermöglichen kann. Die Wirkungen des 20. Jahrhunderts können jedoch diejenigen der Anthroposophie zeitgeschichtlich wie individuell überlagern. Ein Missverständnis des Wirkens Michaels als Zeitgeist wird sich überall dort zeigen, wo der Drachenkampf Michaels nicht geistig und in Beziehung zur IchIndividualität, sondern interessen- und gruppenbezogen empfunden und ausgelebt wird. Eine untergründige, kaum bewusstseinsfähige Wahrnehmung michaelischer Kraft ist in der Zivilisationsstimmung zu spüren. Aber bis in die jüngsten kriegerischen Begegnungen zwischen Christentum und Islam hinein wird der michaelische Kampf in eine wirtschaftliche und weltanschauliche Dimension verdrängt, die ihn bis zur Unkenntlichkeit entstellt. Michael aber ist die karmisch bestimmende Macht. Das Verhältnis zu ihm qualifiziert auch das Einzelschicksal und kann über die Zukunftsfähigkeit der eigenen karmischen Entwicklung entscheiden. Rudolf Steiner hat, beispielsweise in den Vorträgen des Jahres 1917, vor dem Wirken der Gespenster des 19. Jahrhunderts gewarnt.15 Heute, zu Beginn des 21. Jahrhunderts, treten die Gespenster des 20. Jahrhunderts auf: die globalen Zöglinge und Effekte eines vor der Mitte des vorigen Jahrhunderts mitteleuropäisch situierten Fundamentalismus, Anti-Individualismus und Anti-Spiritualismus (einschließlich der Gegnerschaft zum Träger der Individualität, nämlich der Intellektualität und ihrer Perversion im seelischen Technizismus). Die geistigen, kulturellen und zivilisatorischen Versäumnisse und Folgewirkungen des 20. Jahrhunderts zeigen schon zu Beginn des 21. Jahrhunderts eine Signatur von dessen weiteren Verlauf, die in einem äußerst negativen Sinne für jeden Mensch karmabestimmend sein kann. Zur Selbstverantwortlichkeit und Freiheit in der eigenen karmischen Gestaltung gehört auch, diese Kraftwirksamkeiten zu bemerken und der Gefahr zu begegnen, die daraus entsteht, dass solche Kräfte geeignet sind, die Individualität von dem ihr eigenen karmischen Entwicklungsverlauf abzulenken. 15 Vgl. vor allen Dingen die Themenbereiche, die in dem GABand 178 zusammengefasst sind. Autorennotiz: WOLF-ULRICH KLÜNKER, 1955 in Holzminden geboren. Begründer der DELOS-Forschungsstelle für Psychologie (Berlin), Leiter der Turmalin-Stiftung (Rondeshagen bei Lübeck) und Vorstandsmitglied der Anthroposophischen Gesellschaft in Deutschland. Vortragstätigkeit, Forschungen und Veröffentlichungen auf den Gebieten Geistesgeschichte, Psychologie und therapeutische Menschenkunde. Im Verlag Freies Geistesleben liegen vor: Johannes Scotus Eriugena. Denken im Gespräch mit dem Engel; Selbsterkenntnis der Seele. Zur Anthropologie des Thomas von Aquin; Alanus ab Insulis; Selbsterkenntnis – Selbstentwicklung. Zur psychotherapeutischen Dimension der Anthroposophie; Christus und das Schicksal des Menschen. Im Herbst 2003 erscheint: Die Erwartung der Engel. Der Mensch als neue Hierarchie. Adresse: DELOS-Forschungsstelle, Dr. Dr. Wolf-Ulrich Klünker, Stubenrauchstr. 77, 15732 Eichwalde.