Neue Bücher - Instytut Książki
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Neue Bücher AUS POLEN 62. N0 JACEK DUKAJ JACEK DEHNEL JULIA FIEDORCZUK ZIEMOWIT SZCZEREK MACIEJ HEN WERONIKA MUREK JAKUB ŻULCZYK ŁUKASZ ORBITOWSKI MAŁGORZATA SZEJNERT WOJCIECH JAGIELSKI MAGDALENA GRZEBAŁKOWSKA ANNA JANKO MAGDALENA KICIŃSKA BEATA CHOMĄTOWSKA ROBERT RIENT EWA WINNICKA MAREK BIEŃCZYK MAREK BEYLIN MARCIN WICHA DAS POLNISCHE BUCHINSTITUT INSTYTUT KSIĄŻKI ul. Wróblewskiego 6 PL 31-148 Kraków Tel: +48 12 61 71 900 Fax: +48 12 62 37 682 office@bookinstitute.pl bookinstitute.pl Warschauer Filiale des Polnischen Buchinstitutes Pałac Kultury i Nauki Pl. Defilad 1, IX piętro, pok. 911 PL 00-901 Warszawa Tel: +48 22 656 63 86, Fax: +48 22 656 63 89 warszawa@instytutksiazki.pl Warszawa 134, P.O. Box 39 AUSGEWÄHLTE PROGRAMME DES BUCHINSTITUTS DAS ÜBERSETZUNGSPROGRAMM ©POLAND ÜBERSETZERKOLLEGIUM Ziel des Programms ist es, Übersetzungen polnischer Literatur zu fördern und ihre Präsenz auf den ausländischen Buchmärkten zu stärken. Das Programm umfasst insbesondere Belletristik und Essayistik, Kinder- und Jugendliteratur, Sachbücher. Das Programm richtet sich an Übersetzer polnischer Literatur, die Belletristik, Essayistik, Dokumentarliteratur oder geisteswissenschaftliche Literatur im weitesten Sinne übertragen und bietet ein- bis dreimonatige Stipendienaufenthalte in Krakau. Angebote können von allen Verlagen abgegeben werden, die ein in polnischer Sprache geschriebenes Buch in eine fremde Sprache übersetzen lassen und herausgeben wollen. Im Rahmen des Programms können u.a. folgende Kosten finanziert werden: •bis zu 100 % der Kosten des Lizenzerwerbs •bis zu 100 % der Übersetzungskosten eines Werkes aus dem Polnischen. TRANSATLANTIK Transatlantik ist der alljährlich von dem Buchinstitut vergebene Preis für Persönlichkeiten, die sich für die Verbreitung der polnischen Literatur im Ausland einsetzen. Der Preis, dotiert mit 10.000 Euro, kann u. A. an Übersetzer, Verleger, Literaturkritiker, Polonisten verliehen werden. SAMPLE TRANSLATIONS ©POLAND KONTAKT: Das Ziel dieses Programms – es richtet sich an Übersetzer polnischer Literatur – ist es, im Ausland für polnische Literatur zu werben, indem man Übersetzer ermutigt, polnische Bücher ausländischen Verlegern zu präsentieren. Das Polnische Buchinstitut ul. Wróblewskiego 6 PL 31-148 Kraków E-mail: office@bookinstitute.pl Phone: +48 12 617 19 00 www.bookinstitute.pl Bezahlt werden 20 Seiten einer Probeübersetzung. Die Bewerbungsformulare beider Programme können von der Website www.bookinstitute.pl heruntergeladen werden. Direktor des Polnischen Buchinstituts: Grzegorz Gauden ADRESSEN DER VERLAGE UND AGENTEN AGORA KARAKTER ŚWIAT KSIĄŻKI ul. Czerska 8/10 00-732 Warszawa katarzyna.kubicka@agora.pl www. wydawnictwoagora.pl ul. Grabowskiego 13/1 31-126 Kraków T: +48 511 630 317 redakcja@karakter.pl www.karakter.pl ul. Hankiewicza 2 02-103 Warszawa T: +48 22 460 06 10 joanna.laprus-mikulska@swiatksiazki.pl www.wydawnictwoswiatksiazki.pl CZARNE MARGINESY WIELKA LITERA Wołowiec 11 38–307 Sękowa T: +48 18 353 58 93, +48 515 274 298 F: +48 18 352 04 75 redakcja@czarne.com.pl www.czarne.com.pl ul. Forteczna 1a 01-540 Warszawa T: +48 22 839 91 27 a.pluszka@marginesy.com.pl www.marginesy.com.pl ul. Kosiarzy 37/53 02-953 Warszawa T: +48 22 252 47 52 wydawnictwo@wielkalitera.pl www.wielkalitera.pl DOWODY NA ISTNIENIE OD DESKI DO DESKI WYDAWNICTWO LITERACKIE ul. Gałczyńskiego 7 00-362 Warszawa T: +48 22 828 49 98 julianna.jonek@instytutr.pl www.instytutr.pl ul. Puławska 174/11 02-670 Warszawa T: +48 608 511 478 a.sekielska@oddeskidodeski.com.pl www.oddeskidodeski.com.pl ul. Długa 1 31-147 Kraków T: +48 12 619 27 40 F: +48 12 422 54 23 j.dabrowska@wydawnictwoliterackie.pl www.wydawnictwoliterackie.pl GRUPA WYDAWNICZA FOKSAL POLISHRIGHTS.COM ZNAK ul. 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Seine Bücher wurden bisher ins Englische, Deutsche, Russische, Italienische, Ungarische, Tschechische und Slowakische übersetzt. Jacek Dukajs neuestes Werk ist ausschließlich als E-Book erhältlich. Vertrieben wird es über die größte polnische Plattform für Internethandel, die damit nach eigener Aussage „eine neue Dimension des Buches“ eröffnen und „neue Leseerfahrungen“ ermöglichen möchte. Das sind natürlich Marketingparolen, denn in Wirklichkeit ist Der alte Axolotl eine klassische Cyberpunkt-Erzählung, die – auf der reinen Gebrauchsebene – um einige technische Elemente wie Grafiken und Hyperlinks angereichert wurde. Im Gegensatz zur innovativen, progressiven „Verpackung“ ist Dukajs Kurzroman in Form und Thematik traditionell gehalten. Letztlich handelt es sich um eine weitere postapokalyptische und zugleich posthumanistische Zukunftsvision, wobei Dukaj diese Zukunft in der Exposition seines Romans recht nah an unserer Gegenwart ansiedelt. Die Erde wird von einer Katastrophe in Gestalt tödlicher kosmischer Strahlung heimgesucht, bei der „keine organische Verbindung überlebte“. Bevor jedoch alle bisherigen Formen biologischen Lebens komplett aussterben, gelingt es einigen Menschen, ihr Bewusstsein zu kopieren und prophylaktisch auf online vernetzte Computer zu übertragen. Die wenigen Überlebenden sind hauptsächlich exzellente Programmierer und erfahrene Computerspieler. Einer von ihnen ist Grześ, der in der IT-Abteilung eines nicht näher benannten Konzerns arbeitet. Nachdem mit einem Schlag alle Staaten und sonstigen uns bekannten sozialen Strukturen ausgelöscht wurden, wird die virtuelle Welt PostApo von Vereinigungen von OnlineComputerspielern (Gildies) und übergeordneten Organisationen (Allianzen) beherrscht. Die posthumanen Existenzen kämpfen unablässig um den Zugang zu den wenigen aktiven Servern und Elektrizitätsquellen. Weil interessanterweise das Internet auch in der PostApo-Realität noch funktioniert, haben Grześ und andere Transformer unbeschränkten Zugang zu den großen Wissensarchiven. Auf dieser Basis entstehen Überlegungen zu einer möglichen Rekonstruktion der Zivilisation vor der globalen Katastrophe sowie – weitergehend – zur Entwicklung einer neuen Gattung, die den Menschen ersetzen könnte. In diesem Kontext erscheint die Titelmetapher des Axolotl, das heißt einer Lebensform, die wie die vom Aussterben bedrohte Amphibie nie das Reifestadium erreicht, sondern im Larvenstadium verharrt. Dukajs Denken scheint in diese Richtung zu gehen: Das Ende des biologischen Lebens und insbesondere der Menschheit, wie wir sie kennen, markiert den Beginn eines anderen Lebens, das wir meist als virtuelles bezeichnen. Freilich kann dieses neue Leben nicht als Endpunkt, als absolut reife Form verstanden werden. Damit überschreitet Dukaj die Grenzen traditioneller CyberpunkLiteratur. Ihn interessiert weniger die PostApo-Wirklichkeit als die Frage, was aus dieser Wirklichkeit hervorgehen könnte – natürlich immer im Rahmen der hier durchaus gelungen dargestellten literarischen Fiktion. Wie jede bessere Cyberpunk-Geschichte speist sich Der alte Axolotl aus ganz aktuellen und keineswegs an den Haaren herbeigezogenen Ängsten, von denen die Sorge, intelligente Maschinen und mit einem Bewusstsein ihrer selbst ausgestattete Computerprogramme könnten sich bald emanzipieren und die Kontrolle über unsere Welt übernehmen, nicht einmal die wichtigste ist. Im Zentrum von Dukajs Kurzroman steht schließlich dessen Hauptfigur mit ihren Empfindungen und Stimmungen, zumal ihrer Trauer oder auch ihrer ergreifenden Melancholie. Grześ (nie Grzegorz!) erlebt das Ende der Welt – das in Der alte Axolotl wohl nicht zufällig mit dem polnischen Wort für Shoah (‚Zagłada’, wörtlich ‚Vernichtung’) benannt wird – sehr persönlich, fast schon intim. Wie er die Vernichtung überlebt, klingt beunruhigend vertraut: Er schlüpft in den Körper eines humanoiden Roboters und beginnt mit einer Umgestaltung der von Programmierern und früheren Visionären, allen voran die Schöpfer von Blade Runner, geschaffenen Räume. Ganz so wie viele unserer Zeitgenossen, die nach Erlösung in Welten suchen, die nicht existieren, die ihnen aber aus den verschiedensten Gründen besser erscheinen als die Welt vor ihrer Haustür. Dariusz Nowacki JACEK DUKAJ STAROŚĆ AKSOLOTLA ALLEGRO, 2015, E-BOOK ISBN: 978-83-9410-571-6 TRANSLATION RIGHTS: POLISHRIGHTS.COM FOREIGN PUBLICATIONS: ENGLISH (ALLEGRO) „SÜßE MELANCHOLIE.“ DER ALTE AXOLOTL „Manga blues, Baby, manga blues.“ Manga blues, sie sitzen auf der Terrasse des Kyōbashi Tower mit Blick auf die nächtliche Ginza, nur jede zehnte Reklame leuchtet, jeder zwanzigste Bildschirm, und auf dem Bildschirm direkt über ihrer Terrasse läuft eine ironische Endlosschleife: die Szene aus Blade Runner mit dem vom Regen triefenden Rutger Hauer und dem melancholischen Neonlicht. Und sie, traurige Roboter, sitzen hier, stehen oder trippeln umher in einer Karikatur von Kaffeehausplauderei. „Noch einen Wodka?“ „Ja, bitte.“ Stählerne Greifer packen mit chirurgischer Präzision das zarte Glas. Es gibt spezielle Programme zur Unterstützung der Feinmotorik beim Wodkatrinken. Natürlich trinken sie keinen Wodka, die Getränke sind Attrappen. Sie trinken nichts, sie essen nichts, die fünf Zentner schweren Mechs in der Bar Chūō Akachōchin, sie können bloß diese Lebensgesten nachahmen, mühsam die Gepflogenheiten einer untergegangenen Biologie reproduzieren. Der Barmann in der Hülle eines mechanischen Barmanns gießt Smirnoff nach. Der dreigelenkige Arm streift den Polymerhandrücken eines Transformers, der nicht weniger verzweifelt einen Bargast mimt. Das Knirschen übertönt sogar Hauers Monolog. Das ist der eigentliche Fluch, denkt Grześ. Metal on metal, heart on heart, und jede Ungeschicklichkeit, jedes Einsamkeitsdrama werden tausendfach vervielfältigt. Wie unter einem Mikroskop. Wie eine Projektion auf einer hundert Hektar großen Leinwand. Wir sind monströser schattenhafter Menschenschrott, ein Molibdän-Abbild der Verzweiflung leerer Herzen. Manga blues, sie sitzen unter den letzten roten Lampions auf der Terrasse des Chūō Akachōchin, traurige Roboter, und erzählen sich Legenden. Die erste Legende handelt vom Menschen. „Von den Flügeln hätte jeder Schmetterling geträumt“, sagt Dagenskyoll, und sein Schulterlautsprecher rasselt leicht bei den Zischlauten. „Und wenn die Propeller sich drehten, sahen sie aus wie blaue Regenbogen. Der Dawntreader XII, ganz aus Nano- und Carbonfasern gebaut“, sagt Dagenskyoll, und auf seinem Brustmonitor erscheinen aus Google-Caches stammende Skizzen und Baupläne eines Flugzeugs. „Flügelspannweite: 78 Meter. Gewicht: 1,64 Tonnen. Er kam gerade aus der Inspektion und stand in einem Hangar auf dem Flughafen in Dallas, als der Strahl die gegenüberliegende Erdhalbkugel traf. Also hatten sie hatten genug Zeit, um ihre Familien, Vorräte und Ausrüstung hineinzupacken. Sie starteten mit einigen Stunden Vorsprung vor dem Meridian. Die Erde dreht sich mit einer Geschwindigkeit von 1.674 Kilometern pro Stunde, aber das gilt für den Äquator. Der Dawntreader schafft maximal 300 Stundenkilometer, um also den Abstand zum Todesmeridian zu halten, mussten sie oberhalb des achtzigsten Breitengrads bleiben. Von allen Solarflugzeugen war dazu nur der Dawntreader in der Lage.“ – Dagenskyoll zeigt die Anordnung der Solarzellen, die Flügel und Rumpf des Flugzeugs bedecken. Auf den Aufnahmen schimmern sie tatsächlich schmetterlingshaft in der Sonne. – „Bei der zweiten Umkreisung überflogen sie schon eine Erde, auf der alles organische Leben komplett ausgelöscht war, auf ihre Funksprüche reagierten nur noch Maschinen, automatische Systeme von Flughäfen oder Militärbasen. Als nach 177 Stunden der STRAHL erlosch, konnten sie auch dies nur aus automatisch übermittelten Informationen von der anderen Halbkugel erschließen. Sie nahmen keinen Kontakt zu Transformern auf, sie gingen nicht ins Netz. Sie flogen weiter. An Bord des Dawntreader wurde abgestimmt: Landen oder nicht? Kurz landen, Vorräte auffüllen und weiterfliegen oder warten und herausfinden, ob der STRAHL tatsächlich erlosch? Schließlich teilten sie sich auf. Ein Teil der Gruppe hatte nach zwei Wochen die Nase voll, also landeten sie im Norden Grönlands auf einer Landebahn unweit einer Ansiedlung auf dem Eis, luden Wasser und Lebensmittel ein, ließen die Unwilligen zurück und setzten ihren Flug fort.“ – Dagenskyoll hebt einen seiner vier skeletthaften Mosaikarme und deutet auf den Zenit des sternlosen Tokioter Himmels. – „Sie fliegen noch immer dort oben in transozeanischen Höhen.“ Und jetzt weiß jeder sicher, dass es sich um einen Legende handelt. Grześ sitzt am äußersten Rand der Terrasse, sein sentimentales Requisit ist eine leere, mit grellen KatakanaZeichen bedruckte Budweiser-Dose. [...] Wir sind alle nur Spielzeug, denkt er. In der Ferne, schleudert der Wind auf Höhe des vierzigsten Stockwerks ein losgerissenes Kabel hin und her, und immer wieder sprüht ein elektrischer Funkenregen auf das dunkle Tokio hinab. Grześ überlegt kurz, wieviel Strom den königlichen Kraftwerken auf diese Weise verloren geht. Dann denkt er an Feuerwerke und Hollywood-Spezialeffekte. Die Luft ist kalt, aber das Metall spürt den Wind nicht. Das Metall spürt nichts. So verbringen sie ihre Abende, so verbringen sie ihre Nächte. Fremd im eigenen Land. […] „Anyway.“ Die zweite Legende handelt vom Paradies. „Sie haben es geschafft. Sie haben es wirklich hinbekommen. Auf den Servern eines der großen Studios in Kalifornien haben sie mit Hilfe fertiger Scans auf der anderen Seite des Uncanny Valley die Welt wiedererschaffen. Oder wenigstens Haus, Garten und Körper. Und sie haben einen absolut sicheren Zugang geschaffen, so dass du dich endlich direkt ins Netz einloggen kannst, mind-to-mech oder sogar mind-to-mind, und keine Malware bricht deinen Speicher auf und infiziert dein Bewusstsein. Sie loggen sich also dort ein, auf der anderen Seite, und haben wieder weiche, warme, feuchte Organismen, wunderbar sinnlich im direkten Kontakt, sie haben wieder einen Tastsinn, können wieder riechen und schmecken.“ – Dagenskyoll kommt in Fahrt, und die kantigen Roboter im Kreis der konzentrierten Zuhörer rücken noch näher und beugen sich vor, sie fahren ihre Zungen-Mikrofone und Scanner-Barthaare aus. – „Sie können schmecken, und sie trinken, und essen, und trinken…“ – Er hebt sein Wodkaglas und ringsum ertönt ein langanhaltendes Rasseln, krrrschachrrr, eine Interferenz von Lautsprechern und Mikrofonen oder vielleicht das Aufseufzen einer schamhaften Maschine. – „… und sie trinken, trinken und schlafen, selbst wenn sie nicht träumen, und laufen über das Gras und wärmen sich in der Sonne.“ […] Ein schwarzer Mech-Medicus brüllt Dagenskyoll aus seinem übersteuerten Lautsprecher direkt in den Stirnmonitor: „ABER WO! WO IST ES!“ „Kalifornien, House of the Rising Sun.“ Eine Legende, zu schön, um wahr zu sein. Inzwischen hat sich Johnny zu Grześ gesetzt. Johnny hat seinen Vorführ-Mech-Terminator verschrottet und läuft jetzt in demselben Sexbot herum wie die meisten Transformer in Japan: Weibliche Version, Gesicht vom Fließband, Geisha V oder VI. „Jemand sucht dich.“ „Wer?“ Johnny zeigt das Bild eines gelb-schwarz gestreiften Roboters mit großem Schultergürtel. „Nie gesehen, vermutlich ein Bastard aus dem Recycling“, wundert sich Grześ. […] Die dritte Legende handelt vom Bösen Gott. „…und dann drückte er auf RESET, und alles Leben begann zu sterben…“ Grześ berührt mit dem Ende seines Finger-Greifers die Dose und sieht zu, wie das Budweiser vor ihm nach links und rechts kreiselt. Ein Mech kann reglos verharren wie kein lebender Organismus, die Bewegung ist es, die dem Mech Leben verleiht. Ein Roboter, der nicht arbeitet, ist ein Haufen Schrott, nichts weiter. Grześ und Johnny, wie zu Stein erstarrt, betrachten die tanzende Bierdose. Auf dem großen Bildschirm über ihnen leuchtet mit Millionen Lichtern die nächtliche Stadt von Blade Runner – ein prächtiges Lichtspiel vor dem düsteren Hintergrund von PostApo-Tokio. Gleichsam im Rhythmus der wippenden Dose jagen und wiegen sich die aus Metall und Plastik bestehenden Körper zweiter Sexbots, die auf der Bühne im Inneren der Bar eine grausige Parodie des menschlichen Geschlechtsakts aufführen. Geisha und Geisha, zwei weibliche Mechs von unbekannten Transformern, simulieren mit der Präzision und Empfindsamkeit gehärteten Stahls lesbische Küsse und Liebkosungen von Brust und Schenkeln, Panzerfinger in Panzerschößen, ein im kalten Ritual der Maschinen monströs verunstalteter Tanz animalischen Begehrens im Laserlichtgewitter zu soldatischer Striptease-Musik. Grześ sieht zu, er sieht zu und emotet atemlose Verlegenheit. So viele Ebenen von Künstlichkeit, so viele Schichten von Anführungszeichen – er kommt durcheinander, als er versucht ihre Zahl zu bestimmen. Sie können sich nicht betrinken, sie haben keine Programme, die einen Rausch simulieren. Sie können keinen Sex haben, sie haben keine Programme für Erotik und sexuelle Erregung. Das Einzige, was sie noch haben, ist das trockene Sex-Theater dieser Roboter, die zur erotischen Befriedigung echter, organischer Menschen konstruiert wurden. Der zur Salzsäule erstarrte Grześ betrachtet das Schauspiel zweihundertsiebenundachtzig Sekunden, dann hält er es nicht mehr aus und erhebt sich mit quietschenden Sehnen. Das Maß der Tokioter Bitternis ist übervoll. „Süße Melancholie, Melancholie Mikado …“ Aus dem Polnischen von Bernhard Hartmann JACEK DEHNEL MUTTER MAKRYNA © Krzysztof Dubiel / The Polish Book Institute Jacek Dehnel (geb. 1980) – Dichter, Romancier, Übersetzer und Feuilletonist. Verfasser von Lyrikbänden, Romanen und Erzählungen. Träger zahlreicher Literaturpreise, darunter der Preis der Kościelski-Stiftung (2005) und der „Paszport“ der Wochenzeitung „Polityka“ (2006). Seine Romane wurden in zwölf Sprachen übersetzt. Mutter Makryna wurde 2015 für den Literaturpreis Nike und den Mitteleuropäischen Literaturpreis Angelus nominiert. Mit der Gestalt der Makryna Mieczysławska hat Jacek Dehnel eine authentische historische Figur entstaubt und neu in den kulturellen Diskurs eingebracht, der eine der europaweit größten Täuschungen des neunzehnten Jahrhunderts gelang. Die Geschichte der falschen Nonne, die erst fünfzig Jahre nach ihrem Tod als Hochstaplerin entlarvt wurde, ist schon für sich genommen ereignisreich genug. Im September 1845 taucht in Paris eine nicht mehr ganz junge Frau auf, die sich als Oberin des Minsker Basilianerinnenklosters ausgibt, das elf Jahre zuvor von der russischen Obrigkeit aufgelöst worden war. In der französischen Hauptstadt wird Makryna von führenden Persönlichkeiten der sogenannten Großen Emigration empfangen, allen voran Adam Czartoryski. Überaus gern hört man ihre erfundenen Geschichten über das Leiden für Katholizismus und Polentum. Makryna behauptet, sie und ihre Ordensschwestern seien jahrelang gefangen gehalten und grausam gefoltert worden. Man habe sie hungern lassen und zu schwerer Arbeit gezwungen, und das alles nur, weil sie sich geweigert hätten, zum orthodoxen Glauben überzutreten. Interessanterweise glauben ihren Schauergeschichten nicht nur die polnischen Exilanten, sondern auch das europäische Publikum – französische und britische Zeitungen berichten ausführlich über Makrynas Leidensweg und die Grausamkeit der Russen, Bischöfe erwähnen ihr Märtyrertum in Hirtenbriefen. Schließlich wird sie sogar von Papst Gregor XVI. empfangen, und auch dessen Nachfolger Pius IX. hat eine Schwäche für sie. Dehnel fragt mit unverkennbarer Faszination für die ungewöhnliche Hochstaplerin vor allem danach, wie dieser unerhörte Betrug gelingen konnte; er zeigt, inwiefern Makrynas Lügen politisch nützlich waren. Aufmerksame Zuhörer merkten bald, dass Makryna eine Lügnerin und Mythomanin war, doch wollte man das Bild der heiligen Märtyrerin aufrechterhalten. Es siegte weniger die Naivität als vielmehr der Zynismus. Erzählt wird die Geschichte der Makryna Mieczysławska in zwei ineinander verflochtenen Monologen der Titelfigur. Der erste, gleichsam offizielle Monolog ist eine literarische Bearbeitung der historisch dokumentierten Berichte über das Leiden für Glauben und Vaterland, die Makryna in Posen, Paris und Rom erstattete. Der zweite, im Stil einer Beichte gehaltene Monolog enthüllt die wahre Geschichte der Hauptfigur, und vor allem er weckt die Phantasie und die Emotionen des Lesers. Hier lernen wir die Biographie der Irena Wińczowa kennen, einer armen Jüdin Frau aus Wilna, die immer neue fiktive Identitäten annehmen musste, um in einer grausamen Welt zu überleben. Als in den katholischen Glauben verliebte Konvertitin träumt sie davon, in ein Kloster einzutreten, aber sie wird Dienstmagd. Die hübsche Jula (früher Juta) fällt dem russischen Offizier Wińcz ins Auge. Zu Irena wird sie durch einen zweifachen Verrat: die Konversion zum orthodoxen Glauben und die Ehe mit einem Russen, also einem Vertreter der verhassten Teilungsmacht. Der trägt sie zunächst auf Händen, aber als sich herausstellt, dass Irena keine Kinder bekommen kann, wird er zum unerbittlichen Folterknecht. Die zahlreichen Wunden, die Irena in Paris und Rom als Beweis für die Grausamkeit der Moskowiter vorzeigt, stammen von ihrem sadistischen alkoholkranken Ehemann. Nach Wińczs Tod steht Irena mittellos da (ihr Mann hat alle Habe vertrunken). Sie kommt als Dienstmagd in einem Wilnaer Kloster unter. Dort begegnet sie Basilianerinnen, die aus Minsk vertrieben wurden. Deren Erzählungen malt Irena aus, sie wechselt ein weiteres Mal die Identität und wird zu Mutter Makryna. Dehnel präsentiert die Geschichte so, dass der Leser mit der Protagonistin mitfühlen, womöglich sogar sympathisieren kann; er macht uns klar, dass Makrynas erdachte Leiden gar nicht weit von ihrem wirklichen Leid entfernt sind. Bevor sie sich aufmacht, als falsche Nonne die Welt zu erobern, charakterisiert sie sich folgendermaßen selbst: „Erstens Witwe. Zweitens arm. Drittens alt. Viertens Weibsbild. Fünftens jüdische Konvertitin. Sechstens hässlich – mit Runzeln und Narben im Gesicht, alten und einigen noch ganz frischen, mit Buckel und geschwollenen Beinen und einem kurzen Atem, wenn es die Treppe hinaufgeht.“ Das war ihr negatives Ausgangskapital, aus dem sie doch das Beste machte: Bis ins hohe Alter lebte sie in Rom in einem ihr gestifteten Kloster, bis zuletzt umgab sie die Aura der heiligen Märtyrerin. Dariusz Nowacki JACEK DEHNEL MATKA MAKRYNA GW FOKSAL / W.A.B. WARSZAWA 2014 123 × 195, 320 PAGES ISBN: 978-83-2800-928-8 TRANSLATION RIGHTS: GW FOKSAL / W.A.B. Im Namen MUTTER MAKRYNA des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes, ich werde die Wahrheit schreiben, nichts als die Wahrheit, so wahr mir Gott im Himmel und alle Seine Heilgen helfen, Amen. Kaum dass ich in Posen bei Erzbischof Przyłuski angekommen war und mich ihm zu Füßen geworfen hatte, sah ich mit verweinten Augen zu ihm auf und sagte: Berichtdermakrynamieczysławskaäbtissinderminskerbasilia nerinnenüberihresiebenjährigeverfolgungalsglaubenszeugen. Siemaszko sagte zu mir, ich erinnere mich, als ob es heute gewesen wäre, ich sehe ihn vor mir wie diese Fransen am Bischofsstuhl, wie die Troddeln an diesem Vorhang, er blieb nicht weiter als eine Armlänge entfernt von mir stehen und sagte: Wartet nur, bis ich euch mit Ruten die Haut, in der ihr geboren wurdet, vom Leib schlagen lasse. Wenn euch dann eine neue nachwächst, werdet ihr schon ein anderes Liedlein singen, genau das und nichts anderes sagte er, als er in unserem Kloster stand mit seinen Mordgesellen, die schon Unseren Herrn Jesus Christus am Ölberg gefangengenommen haben, nur dass sie damals in einer kalten Frühlingsnacht im März oder April vor dem Osterfest kamen, zu uns aber bei Tagesanbruch und mitten im Sommer. Genau das und nichts anderes sagte Siemaszko zu uns, und ich stand da im Gewand der Oberin des Basilianer-Frauenklosters, mit Ring und Hirtenstab, und um mich herum standen meine Mitschwestern: Krystyna Huwaldówna, Nepomucena Grotkowska und auch Euzebia Wawrzecka, die später mit mir aus der Moskauer Gefangenschaft floh, nachdem wir die Fesseln aufgebrochen hatten, und die ich seitdem nicht mehr gesehen habe, weil wir uns aufteilten, um mit Gottes Hilfe den Verfolgern zu entkommen wie die Heilige Familie auf der Flucht vor den Schergen des Herodes. So stand Siemaszko da, mit seinen feinen Schuhen stand er auf der Tür, gegen die seine Moskowitersöldner und Jägern solange angerannt waren, bis die Eisenhaspeln und Scharniere allesamt wie dürre Reisigstäbe brachen, und ergötzte sich an seiner Stärke, an seiner teuflischen Macht, als wäre er Unser Herr Jesus Christus in der Höllenpforte, dabei tat er genau das Gegenteil, denn er griff die Heilige Kirche an und demütigte und bedrohte uns, die wir Gott dienten; es war schon voller Sommer und dem fein herausgeputzten Zivilgouverneur Uschakow lief der Schweiß in Strömen über die rote, fette Visage, aber Siemaszko blieb trocken, trocken wie ein von höllischen Wüstenwinden ausgedorrter Teufel, und uns, Gottes Dienerinnen, und mir rief er zu: Du polnische Hündin, du Warschauer Hündin – denn er wusste ja, dass ich hoher Abstammung bin und in meiner Jugend oft in unser alten, seit Mieszko-Mieczysławs Zeiten polnischen Hauptstadt weilte, Warschauer Hündin, rief er also, ich will dir die Zunge aus dem Mund reißen, ich will sie packen und ziehen und zerren, bis das Blut herausspritzt, und dann werfe ich sie den Hunden zum Fraß vor – bis ihm trockener, bitterer Schaum vor den Mund trat, ich habe es ganz von Nahem gesehen, denn er beugte sich, und jedes Wort wehte mich gleichsam an wie ein bitterer Wind. Ha, dachte ich, aus Mieczysław ging Chrobry hervor, die Mieczysławska aber wird zum Stein in Davids Schleuder; soll er es nur versuchen, soll er mich schlagen, soll er mit einer Frau kämpfen. Es hatte gerade erst gedämmert, wir waren gerade unterwegs in den Chor zur Andacht, sie hatten uns aus dem Gebet gerissen wie aus dem Mutterschoß. Es schlug fünf, ich bat den Gouverneur, er möge uns erlauben, die Kirche zu betreten, in der wir so viele Jahre Gott gedient hatten, doch Siemaszko funkelte geradezu mit den Augen, er schien Funken zu sprühen, und ich schaute und wartete nur darauf, dass die Abtrünnigensoutane an seinem Leib in Schwefelflammen auflodern würde; als ich aber den lieben Rosenschwestern Irena Pomarnacka und Liberata Korminówna auftrug, unser silbernes, mit Edelsteinen besetztes Kreuz mit den Reliquien des heiligen Basilius aus der Schatzkammer hervorzuholen, da entrissen es uns die frevlerischen Hände, dass der Schwester Liberata das Blut von den Händen floss, gleich wie ein Omen dessen, dass sie später zu Tode gemartert und in Stücke gerissen werden sollte, doch sie stöhnte nur leise auf und gab sich in die Hand der Vorsehung. Zum Glück sind die Moskowiter nur auf Metall und Steine aus, sie wollten nur die Reichtümer, nicht das Kreuz selbst – sie plünderten übrigens die Schatzkammer und raubten viele wertvolle Gewänder, Altäre und auch meine Mitgift, zweimal hundertausend polnische Złoty, die ich mit ins Kloster gebracht und die ich ganz zu seiner Verschönerung bestimmt hatte. Doch die Schätze, die Popen und Soldaten an sich rissen, sind nicht wichtig. Wichtig sind die Seelen. Man erlaubte uns, ein einfaches Holzkreuz mitzunehmen, denn unter diesem Zeichen wollten wir den Weg zum Martyrium antreten. Dass es ein Martyrium werden würde, hatte man uns nämlich schon offenbart; ich nahm also ein hartes, kantiges Kreuz und legte es mir auf die linke Schulter, die Schwester Pomarnacka stand mir als mein Simon von Cyrene bei, manchmal auch andere Schwestern, die aber, wenn sie mir helfen wollten, sofort von den Jägern mit dem Pallasch geschlagen oder dem Bajonett malträtiert wurden. So begann unser Golgotha – und sobald wir das Kloster verlassen hatten, durch das Tor gegangen waren, das ich so oft aus dem Fenster meiner Zelle betrachtet hatte, suchte ich mit dem Blick nach Wagen, die uns in die Verbannung bringen sollten; schnell begriff ich aber, dass wir, umringt von einer Bande Bewaffneter, den Weg zur Räuberhöhle auf eigenen Füßen würden zurücklegen müssen. Da hörten wir die Kinder schreien. Denn unser Kloster war nicht nur ein Ort, an dem wir Gott preisen konnten, es sollte auch den Menschen dienen. […] Und als wäre all dies für unsere schwachen Hände nicht schon genug, lebten noch sechzig Waisenkinder bei uns. Wie der Soldat des Herodes auf Gemälden die schwere eisenbewehrte Hand gegen das Kind erhebt, so liefen die Jäger mit ihren Bajonetten umher und drohten den unschuldigen Kleinen. Und die Kleinen fingen an zu schreien, zu weinen, sie schauten hilfesuchend aus den Fenstern, ich sehe es heute noch vor mir: die kleine, durch ein Kreuz geteilten quadratischen Fenster, und hinter jeder Scheibe ein entsetztes, verweintes Kindergesicht, die jüngeren unten, die älteren oben; manche öffneten die Fenster, streckten ihre kleinen Hände hinaus und schrien: Sie entführen unsere Mütter, sie entführen unsere Mütter!, andere trampelten mit ihren kleinen Füßen die Treppe hinunter, sie kamen zu uns gelaufen und klammerten sich an unsere Habite, bis die Moskauer Jäger sie mit den Gewehrkolben fortstießen, dann warteten sie, als ob ihr Leben davon abhinge, bis die Jäger in eine andere Richtung schauten und kamen wieder zu uns gelaufen. Die ältesten und klügsten aber, so wie sie sich manchmal für saure Äpfel in den Garten schlichen, so schlüpften sie jetzt durch die Mauer, weil die Moskowiter das Tor bewachten, und liefen durch die Stadt, schlugen an die Türen und schrien so laut sie konnten: Sie entführen unsere Mütter, sie entführen unsere Mütter! Davon wurde die ganze Stadt wach, die Leute sprangen aus den Betten, der eine stürzte nur im Hemd aus dem Haus, dem anderen warf die Ehefrau noch den Rock über die Schulter, noch ein anderer schnappte sich einen Stab, und alle eilten sie zu uns, aber sie holten uns erst beim Gasthaus Zur schönen Rast ein, eine viertel Meile vor der Stadt, niemand hat also gesehen, wie uns die Moskowiter zum letzten Mal durch das Klostertür führten. Ich mit dem Kreuz voran, wie unser Herr Jesus, die Schwester Pomarnacka als Simon von Cyrene an meiner Seite, ich dachte nur an das Leiden unseres Herrn, während ich meinen Arm betrachtete – auch er musste eine solche Verletzung an dem Arm gehabt haben, auf dem er das Kreuz trug, drei Knochen schauten aus der offenen Wunde heraus, und an Christi Leiden zu denken statt an meines half mir auf unserem Marsch; andere von uns, besonders die Älteren und Kränkelnden, stürzten immer wieder, und die Soldaten stießen sie mit ihren Gewehrkolben, ohne auf das Blut zu achten, das ihnen aus Mund, Nase oder Beinen floss. Beim Gasthaus Zur schönen Rast, das wohl uns zum Hohn so hieß, denn eine unschönere Rast hätte man sich schwerlich vorstellen können, ließ Siemaszko unseren Zug anhalten. […] Am liebsten wäre er ja nach Petersburg gefahren, in der Hofkapelle des Zaren zu den Schismatikern übergetreten und hätte im Rang eines Bischofs dann ein Projekt zur gewaltsamen Bekehrung aller Unierten vorgelegt und seine Machenschaften gegen uns gerichtet. Am ersten Tag unseres Martyriums, als er uns mit Uschakow, dem Gouverneur, überfiel, kam er im Vis-à-vis. Er ließ das Gespann anhalten, stellte sich im Vis-à-vis hin wie auf der Kanzel und wollte wohl eine Rede halten, aber er schaute nur, winkte ab, nickte einem seiner Jäger zu und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Es entstand ein Durcheinander, die Schergen liefen in den Hof der Gasthauses, wo vorher Kisten standen, sie schleppten eine nach der anderen auf die Straße, öffneten sie, und im Inneren erblickten wir – Hand- und Fußeisen. Und sie schmiedeten uns in diese Eisen, immer zwei zusammen. Wir mussten unsere Füße und Hände auf einen Baumstumpf legen, die Hämmer dröhnten, das Blut floß von den zerschlagenen Gesichtern und geschundenen Rücken und sickerte in die Erde. Die Kinder weinten: Sie legen die Mütter in Ketten, sie legen die Mütter in Ketten!, das Volk weinte mit ihnen und immer wieder traten Frauen, denen wir Gutes getan hatten, Bettler oder fromme Bürger aus der Menge hervor und erbaten unseren Segen, jeder von der Schwester, die er kannte und die ihm die liebste war, aber die Söldner kannten kein Mitleid und trieben das Volk und die Kinder mit ihren Gewehrkolben auseinander. Endlich verstummte der letzte Hammer, das letzte Schwesternpaar war aneinander geschmiedet, die weinende Menge in alle vier Winde auseinandergejagt, und wir brachen auf, zu großem Tempo angetrieben, mal auf festem Boden, mal durch Morast und Schlamm, bis nach Witebsk. Aus dem Polnischen von Bernhard Hartmann JULIA FIEDORCZUK SCHWERELOSIGKEIT © Krzysztof Dubiel / The Polish Book Institute Julia Fiedorczuk (geb. 1975) – Dichterin, Schriftstellerin, Übersetzerin, Dozentin mit Schwerpunkt amerikanische Literatur des 20. Jahrhunderts. Verfasserin mehrerer Lyrikbände, Erzählsammlungen und zweier Romane. Trägerin des österreichischen Hubert-Burda-Preises. Ihre Gedichte wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt, u. a. ins Isländische, Walisische und Japanische. Schwerelosigkeit ist einer der besten polnischen Frauenromane der letzten Jahre: universell, vielsinnig und offen für unterschiedliche Interpretationen. Wie in Fiedorczuks früheren Erzählbänden sind auch in diesem Roman die Hauptfiguren Frauen. Wir folgen den drei Protagonistinnen von der Kindheit in einem kleinen Ort unweit von Warschau bis ins Erwachsenendasein in der Großstadt. Jede von ihnen – auch das ein häufiges Motiv bei Fiedorczuk – entstammt einem anderen sozialen Milieu, doch sind sie durch ihre mädchenhafte Sensibilität, ihre Weltwahrnehmung und ihr Verhältnis zur Umgebung miteinander verbunden. Jede von ihnen wird mit ihrem Körper, mit der Gleichgültigkeit der Eltern und mit männlicher Gewalt konfrontiert. Zuzanna ist die Tochter eines Universitätsdozenten, der sie zu Kunstkursen schickt. Die erwachsene Zuzanna ist reich, gebildet und weltgewandt. Eine typische Vertreterin der Mittelklasse: einsam, selbstbezogen, auf der ewigen Suche nach einer besseren Version ihrer selbst. Anders ihre Kindheitsfreundin Helena. Ihre Mutter war Näherin, und auch sie übt als Zimmerfrau in einem Hotel eine körperliche Tätigkeit aus. Außerdem zieht sie zwei Töchter auf und besucht ihre sterbende krebskranke Mutter im Krankenhaus. In diametralem Gegensatz zu den beiden steht der Lebenslauf ihrer Schulfreundin Ewka. Sie wurde von der Müllsammlerin Maria geboren und in eine Sonderschule in Warschau gegeben. Die erwachsene Ewka ist obdachlos, lebt auf der Straße und verwendet ihre ganze Energie darauf, ihre tägliche Dosis Alkohol und einen warmen Schlafplatz zu finden. Schwerelosigkeit ist ein soziologischer Roman über Frauenfiguren, die unfähig sind, die durch ihre soziale Herkunft bestimmten Grenzen zu überwinden. Intelligenz, Ehrgeiz, Sensibilität und Interessen sind ohne Belang – alle drei Frauen sind dazu verurteilt, das Schicksal ihrer Mütter zu reproduzieren. Darüber hinaus bietet Julia Fiedorczuks Roman dem Leser aber weitaus mehr, denn die titelgebende Schwerelosigkeit hat auch einen metaphysischen Aspekt, sie bezieht sich auf die Unmöglichkeit, im eigenen Leben Fuß zu fassen und Wurzeln zu schlagen. Alle drei Frauen versuchen auf ihre Weise, ein vertrautes Verhältnis zu ihrem Körper, ihrem Schicksal und dem Ort, an dem ihnen zu leben bestimmt ist, zu entwickeln. Immer wieder aber erweist sich der Körper als unbekannt, die eigene Biographie als fremd und unverständlich, die Familie als Ansammlung von Fremden. Jeden Tag ringen daher die Frauen darum, sich in ihrer Umgebung zurechtzufinden und ihr eigenes Dasein zu bestätigen. In dieser Konfrontation von soziologischer Beobachtung und metaphysischer Dimension liegt der größte Wert von Fiedorczuks Roman, denn gerade sie verleiht dem Text eine neue Qualität. Die Autorin gelingt es nämlich, ihre Erzählung aus paradoxen Konstellationen heraus zu entwickeln, die Komplexität des vermeintlich einfachen Lebens zu zeigen und die Frau ohne sentimentale Ausschmückungen als Mensch zu zeigen. In Schwerelosigkeit wird der Kampf gegen den Staub in den Rang einer philosophischen Tätigkeit erhoben (eine Spur in der Welt hinterlassen), die Suche nach dem Selbst vollzieht sich in alkoholisierten Traumvisionen. Fiedorczuk zeichnet die Mädchen als ebenso sensible wie extrem grausame Wesen, die in ihrer Welt die Verhältnisse nachbilden, die sie zwischen den Erwachsenen beobachten. Zuzanna sagt zu ihrer Puppe „Hör endlich auf zu heulen“, Ewka schlägt den sich an sie schmiegenden Hund. Auch als erwachsene Frauen bleiben sie ambivalent: Sie verabscheuen die männliche Dominanz, aber sie unterwerfen sich ihr und nutzen sie aus, sie sprechen nicht über die Gewalt, die ihnen widerfährt. Paulina Małochleb JULIA FIEDORCZUK NIEWAŻKOŚĆ MARGINESY, WARSZAWA 2015 123 × 197, 288 PAGES ISBN 978-83-64700-68-2 TRANSLATION RIGHTS: JULIA FIEDORCZUK CONTACT: JUSTYNA CZECHOWSKA, JUSTYNACZE@GMAIL.COM Ewka wusste SCHWERELOSIGKEIT auch ohne Uhr, dass die Kleingartenanlage bald abgeschlossen würde. Der Stand der Sonne verriet es ihr. Oder genauer gesagt, nicht der Stand der Sonne, sondern die Farben. Der Himmel blasste langsam aus, alles andere wurde dunkler und gewann an Kontur. Nun musste Ewka versuchen, sich unbemerkt vom Hausmeister in die Anlage zu schleichen. Das Tor quietschte leise. Ewka schloss es sorgfältig hinter sich und schaute sich um. Niemand zu sehen, keine Menschenseele. Sie ging los. Langsam, aber würdevoll, unter dem Arm eine Plastiktüte mit der Aufschrift Triumph. Sie folgte ihrem Instinkt. Und der Vision eines verlassenen Gartenhäuschens in einem der Schrebergärten. Dem Traum von einem bequemen Schlafplatz. Der Tag war lang gewesen, sie hatte es geschafft, sich zwei Mal zu betrinken und zwei Mal auszunüchtern. Das Gartenhäuschen war ein glühender Punkt auf dem Stadtplan, der bei Ewka an einer weitaus beständigeren Stelle als dem Gedächtnis abgespeichert war, ein pulsierender Lichtfleck, der sie anzog. Sie bog in den nächsten Weg ein. Gleich hinter der Ecke waren in einem der gepflegteren Gärten fröhliche Menschen am Grillen. Der Geruch von gebratener Wurst war eine Qual, aber er beeindruckte Ewka nicht, denn sie war Qualen gewohnt. Sie richtete sich auf, ging weiter, als ob nichts wäre, als hätte auch sie ein Recht darauf, abends zwischen Fliederbüschen über die Aleja Kota zu spazieren. Sie schaute nach vorn. Die Gespräche am Grill verstummten kurz und dann, als sie schon ein Stück weiter war, hörte sie eine laute Lachsalve. Sie brummte einen Fluch, aber ohne Leidenschaft. Sie war so müde, dass sie noch nicht einmal mehr fluchen mochte. Doch das verlassene Gartenhäuschen war offenbar nicht mehr weit, das Licht pulsierte immer stärker und gab Ewka Kraft. Geleitet von diesem unsichtbaren Leuchtturm bog sie wieder ab, diesmal in einen etwas breiteren Weg, der die Kleingartenanlage der Länge nach durchschnitt. Sie ging genau auf die untergehende Sonne zu. Vor der Sonne, noch weit genug entfernt, erkannte sie den Schatten des Hausmeisters auf seinem Fahrrad. Es war einer der wenigen Momente, in denen sie schnell reagierte. Sie drehte reflexartig um und zog sich in die Aleja Kota zurück. Die Gespräche am Grill verstummten diesmal nicht. Sie blieb am Tor gegenüber stehen, stellte die Plastiktüte ab und tat so, als werkele sie am Schloss. Eine Frauenstimme sagte: „Achja, man wird wohl das Vorhängeschloss wechseln müssen…“ Aus den Augenwinkeln sah Ewka, wie der Hausmeister die Kreuzung überquerte und weiterfuhr. Sie kehrte auf den Hauptweg zurück und schaute aufmerksam um sich – er war verschwunden. Das Licht aber flackerte noch immer. Noch… dort und dort entlang, dachte Ewka. Dort. Hinter dem Jasmin nach rechts. Sie war schrecklich müde, aber das Wissen, fast am Ziel zu sein, verlieh ihr zusätzliche Kraft. Diesmal lugte sie, bevor sie abbog, vorsichtig um den Zaun, um zu sehen, ob die Luft rein war. Sie war rein. Auf dem schattigen Weg war niemand zu sehen. Sie bog ab. Es war der weniger gepflegte Teil der Anlage, zugewachsen von alten Bäumen und Sträuchern. Auf einigen Parzellen war lange kein Gras gemäht worden. In diesem Meer von Grün, im Schatten, wurde es Ewka plötzlich kalt. Ein Schauer überlief sie. Doch es war nicht mehr weit. Das Licht pulsierte. Nur noch… dort herum, dachte sie. Nur noch einmal abbiegen. In Richtung der untergehenden Sonne. Die Vorstellung, wie gemütlich sie es gleich haben würde, schmerzte fast. Auch wenn da wieder wer hingeschissen haben sollte. Na wenn schon. Nawennschon nawennschon. Genau in diesem Moment stand plötzlich und völlig unerwartet, wie aus dem Nichts, eine Frau mit einem großen Weißfliederstrauß in den Händen fast vor ihrer Nase. Ewka sah zuerst nur die üppigen, schweren weißen Dolden. Und der Blütenduft hätte Ewka erdrückt, wenn nicht ihr eigener strenger Geruch wie eine undurchlässige Sperre gegen alle anderen Gerüche gewirkt hätte. Die Frau kam aus einem der wilderen Gärten und schloss gerade das Tor hinter sich. Sie war unmittelbar vor Ewka aufgetaucht. So plötzlich und so nah, dass sie sich unwillkürlich in die Augen sahen, die Frau und Ewka, obwohl es normalerweise nicht vorkam, dass jemand Ewka in die Augen sah. Die Frau, eine ältere Dame in einem leichten hellen Mantel und mit rötlichen, sorgfältig gelegten Locken, erstarrte. Und Ewka wusste, das war’s. Schluss. Aus. Vorbei. Sie standen einen Moment da und maßen sich mit Blicken, Ewka und die Frau, bis letztere sagte: „Aber Sie… können hier nicht…“ „Warum denn nicht, verdammte Scheiße?“, fragte Ewka geistesgegenwärtig. „Es war offen, also bin ich reingekommen.“ „Wie reden Sie denn mit mir?“, empörte sich die Frau. „Warum denn diese Kraftausdrücke?“ Ewka zuckte die Schultern. Das Licht erlosch wie ein ausgeblasenes Streichholz, es wurde noch kälter. Ein Schauer überlief sie. „Wir schließen hier nachts ab“, fuhr die Frau fort. „Nachts dürfen hier nur die Besitzer…“ Sie schloss das Gartentor und stand jetzt in der Mitte des Weges und versperrte Ewka den Durchgang. „Wir müssen hier alle eine gewisse Ordnung halten“, erklärte sie, als hoffe sie auf Ewkas Verständnis. Aber Ewka zeigte keinerlei Verständnis. Ganz im Gegenteil, in einer jähen Willensanstrengung ging sie los. Direkt auf die gepflegte Ordnungshüterin zu. Und auf ihren großen Fliederstrauß. „Was tun Sie?“, protestierte die Frau, aber sie musste beiseite treten, denn Ewkas Haltung verriet wilde Entschlossenheit. Ewka ging weiter. Ohne sich umzusehen. „Aufsicht!“, schrie die Frau. „Aufsicht!“ Ewka ging weiter. Nur noch ein paar Schritte, und sie würde in Richtung der untergehenden Sonne abbiegen, und das wäre endlich die letzte Kurve, denn kurz dahinter, wortwörtlich ein paar Gärten weiter, stand der leere Holzpalast für die Königin Ewa, in dem sie, die Königin Ewa, heute Nacht schlafen würde. „Aufseher!“, schrie die Frau. Nur ein paar Schritte noch. Nur ein paar. „Was ist los?“, fragte eine raue Männerstimme. Ewka hörte das bremsende Fahrrad. Sie ging weiter. „Sehen Sie nur, sie hätte mich fast umgerannt!“, klagte die Frau. „Heda!“, rief der Hausmeister Ewka nach. Ewka ging weiter. „He, wo willst du hin?!“, brüllte er. „Sie hätte mich fast umgerannt“, wiederholte die ältere Frau. Ewka ging weiter. Langsam und würdevoll schritt sie auf ihren Palast zu. Sie kam zur Kreuzung. Und bog ab. Das war die letzte Kurve. Am Himmel hing orangefarben die Sonne, auf die ging sie zu. Nur ein kleines Stück noch. Ein kleines Stück nur. „Halt!“, bellte der Hausmeister. Doch Ewka ging weiter. Kurz darauf hörte sie wieder die Fahrradbremse, nun dicht hinter sich. Jemand packte sie an der Schulter. „He, verpiss dich von hier“, sagte der Hausmeister. „Hier wird nicht übernachtet.“ Sie blieb stehen. Die Sonne war groß und schwer und brannte in den Augen. Es schüttelte sie. „Verpiss dich“, sagte er etwas sanfter. Die Frau mit dem Fliederstrauß war herangekommen. „Aber mein Herr, so redet man nicht“, japste sie. „Sie haben mich doch selbst gerufen“, erwiderte er. „Also was wollen Sie?“ „Ja, aber… Das ist doch auch ein Mensch.“ Die Frau deutete mit dem Strauß auf Ewka. „Vielleicht ein Notasyl…“ Der Hausmeister zuckte die Schultern. „Hören Sie“, wandte die Frau sich an Ewka, die sich nicht rührte. „Vielleicht gehen Sie über Nacht in ein Notasyl? So etwas gibt es, ich habe es oft im Fernsehen gesehen…“ „Jetzt fangen sie an zu beratschlagen“, brummte der Hausmeister. Ewka machte einen Schritt nach vorn. „He“, blaffte er. „Sehr verehrte Damen, dort ist der Ausgang.“ Er zeigte in die Richtung, aus der Ewka gekommen war. „Und wenn ich dich noch einmal hier sehe, rufe ich die Polizei.“ „Ich begleite sie zum Tor“, bot die Frau an. „Und wenn ich dich noch einmal hier sehe, hole ich die Polizei“, wiederholte der Hausmeister. Ewka blinzelte; die Sonne schien wirklich kräftig, und zwar rot. Nur Wärme spendete sie überhaupt nicht. Vielleicht lag es aber auch am Schatten. Vielleicht an der Kühle der Bäume. Vielleicht an der Feuchtigkeit der Bäume. „Na, lassen Sie uns gehen“, sagte die Frau. Ewka wandte sich um und ging, ohne auf ihre Begleiterin zu warten, zurück in die Richtung, aus der sie gekommen war. Es war ein wenig so, als spule jemand unter Überwachung einen Traum zurück. Diesen Traum anzuschauen war eine Qual, was aber Ewka wenig beeindruckte, denn Ewka war Qualen gewohnt. Sie hatte die Sonne jetzt im Rücken. Sie fühlte sich schrecklich müde. Doch sie wusste, sie würde keine Ruhe finden, solange sie nichts tränke. Auf gar keinen verdammten Fall. Die Frau trippelte ihr hinterher. Sie war kleiner als Ewka und machte sehr kleine Schritte, deswegen musste sie fast laufen, um nicht abgehängt zu werden. „Vielleicht ein Notasyl?“ wiederholte sie atemlos. „Und warum leben Sie auf der Straße? Warum arbeiten sie nicht?“ Ewka ging weiter. Sie befand sich auf dem Hauptweg, nur dass sie sich jetzt von der Sonne entfernte, die ohnehin langsam hinter den Bäumen verschwand. Ewka sah das nicht, sie spürte nur, wie die oberflächliche Wärme, die von ihr ausging, nachließ. Es wurde noch kälter. Ewka bog in die Aleja Kota ein. Der Bratwurst-Geruch überfiel sie noch brutaler als zuvor. Die Leute am Grill amüsierten sich prächtig. Ein Kind schrie, aber niemand schenkte ihm Beachtung. Genau so wenig wie dem vorbeiziehenden zweiköpfigen Trauerzug. Aus dem Polnischen von Bernhard Hartmann ZIEMOWIT SZCZEREK DIE SIEBEN © Sebastian Frąckiewicz Ziemowit Szczerek (geb. 1978) – Schriftsteller, Journalist, Experte für Mittelosteuropa. Ausgezeichnet mit dem Paszport-Preis der Polityka 2013 für das Buch Przyjdzie Mordor i nas zje [Mordor kommt und frisst uns auf], der Motive der Road Novel mit einer Reportage im GonzoStil kombiniert. Schreibt für Polityka, Ha!art und Nowa Europa Wschodnia. Siódemka [Die Sieben] war nominiert für den Mitteleuropäischen Literaturpreis Angelus 2015. Die titelgebende Sieben ist die polnische Landesstraße Nr. 7, einer der wichtigsten Verkehrswege, der von Danzig im hohen Norden bis hinunter zur slowakischen Grenze führt. Paweł, der Protagonist in Ziemowit Szczereks Roman, ist in der Gegenrichtung unterwegs: Der Journalist bricht von Krakau, wo er lebt und arbeitet, nach Warschau auf, weil er dort „ein sehr wichtiges Treffen“ hat. Seine fantastische, abenteuerliche Reise beginnt am 1. November, an Allerheiligen, dem „schönsten polnischen Feiertag“, der „sich ästhetisch wunderbar einfügt in die halbjährige Zeit der Dunkelheit“; ein derart polnischer Tag, dass man sich fragt, weshalb er nicht längst zum Nationalfeiertag erklärt worden ist. Überhaupt ist alles hier, eingeschlossen die Sieben, die „Königin der polnischen Straßen“, erzpolnisch. Erzpolnisch karikiert, versteht sich, geht es doch um das Polen, das polnischen Liberalen zutiefst verhasst ist – das hässliche Lotterpolen der ungehobelten Fortschrittsverweigerer und Hohlköpfe, die sich an der eigenen Geschichte berauschen. Dieses Polentum übelster Ausprägung findet sich freilich in der Provinz, zumindest in den Siedlungen und Kleinstädten, denen der Protagonist einen Besuch abstattet. Dabei zeigt sich das Übel sowohl in der abstoßenden Architektur dieser Ortschaften, als auch in der unerträglichen Mentalität ihrer Einwohner. So macht Paweł die „sieben Wunder der Sieben“ aus, besonders finstere Orte, die in seinen Augen das spezielle Aroma am genauesten wiedergeben und symbolisch für die dort vorherrschenden Ambitionen und Träume stehen können. Zum Beispiel die aus Hohlziegeln und Gipskarton errichtete „Altpolnische Ritterburg Warownia“, die Realität gewordene kranke Machtfantasie eines ortsansässigen Geschäftsmannes und glühenden Patrioten mit einer Schwäche für das Sarmatentum. Das Restaurant Akropol an der Ortsausfahrt von Radom ist eine ähnlich schauerliche Ausgeburt provinziellen Designs – ein Flügel wurde auf griechischen Tempel getrimmt, der andere auf polnischen Landhausstil. Szczereks Protagonist katalogisiert mit masochistischer Leidenschaft, wie bereits angedeutet, nicht allein die unterschiedlichsten baulichen Missbildungen in Polens Provinz, sondern auch diverse Menschentypen. Dabei handelt es sich um Personen, denen Paweł während der Fahrt begegnet: Prolls und Hipster, Schnurrbartträger und Korwin-Mikke-Anhänger, Dorfmystiker und Brummifahrer, sogar eine Litauerin und ein Polnisch sprechender Deutscher sind darunter. Die Sieben ist eine effektvolle Fantasmagorie, gespickt mit dämonischen Zeichen und Figuren aus ganz unterschiedlichen Registern, wenn auch mit einer gewissen Dominanz der popkulturellen Bilderwelt (insbesondere des Hollywoodfilms). Die meisten Reiseerlebnisse sind fantastisch motiviert; schon bald können wir nicht mehr unterscheiden, was Halluzinationen oder Rauschbilder sind (Paweł trinkt mysteriöse Elixiere) und was ihm „wirklich“ widerfährt. Aber das wesentliche Moment ist ohnehin das kollektive Unterbewusstsein, die Summe der polnischen Ängste und Träume. Von dieser Warte aus liest sich Szczereks Roman als brandaktuelles Statement. Man denke nur an die anklingenden jüngsten Befürchtungen vor einem Krieg mit Russland. Aber der Autor geht noch weiter – im Schlussteil des Romans malt der Protagonist sich aus, wie das Land unter russischer Besatzung aussehen wird und wie der Partisanenkampf vonstatten geht („Skins, Metaller und eine Handvoll Hipster werden mit erbeuteten Gewehren durch die Wälder streifen, in Outdoorstiefeln, Sweatshirts und Daunenjacken aus den Einkaufszentren und auf die russischen Drohnen über den Bäumen feuern“). Das „siebte Wunder der Sieben“, das Hotel Lordzisko in Warschau, wird Paweł jedoch nicht mehr erreichen. Hätte er es bis in die Hauptstadt geschafft, hätte er diese genauso kritisch in den Blick nehmen müssen wie die vorherigen Städte und Gemeinden. Schließlich ist Warschau das „Radom Europas“, die größte Stadt in „katholisch Talibanien und der Tatarei“, die Hauptstadt „des Landes, das sich niemals mit sich selbst abfinden wird“. Zitieren wir weiter: „aber nicht, weil es so hohe Ansprüche hätte, sondern weil es nicht ist, was es gerne wäre – ein ganz normales Land.“ Dariusz Nowacki ZIEMOWIT SZCZEREK SIÓDEMKA HA!ART KRAKÓW 2015 125 × 200, 256 PAGES ISBN: 978-83-64057-52-6 TRANSLATION RIGHTS: HA!ART DA SITZT DU DIE SIEBEN also in deinem Vectra, Paweł, sitzt und fährst durch das verkaterte, kaputte Krakau, du selber genauso verkatert und kaputt, fährst aus Krakau hinaus, fährst nach Warschau und steckst im Stau Richtung Landesstraße Nr. 7, der Sieben, der Königin der polnischen Straßen, morgen früh hast du in Warschau ein wichtiges Treffen, also musst du da sein, nichts zu machen. Schon kommst du am Rakowicer Friedhof vorbei, ach, du liebst diesen Rakowicer Friedhof, die Quintessenz Krakaus, auf jedem Grabstein, vor jedem Namen ein Titel: hier ein Magister, dort ein Ratsherr, hier ein Doktor, dort ein Advokat, und wenn es so gar nichts gab, dann haben sie ein „Bürger der Stadt Krakau“ eingraviert, und alles war gut. Du ziehst die Nase hoch und riechst Stearin, siehst den Schein der Grablichter auf dem Friedhof und atmest genüsslich ein, Paweł, denn du magst den Geruch von Stearin über dem Friedhof, du magst überhaupt Allerheiligen, und heute ist Allerheiligen. Geister und verblichene Ahnen kriechen aus ihren Höhlen, kommen aus ihren Sphären und nehmen Polen für ein halbes Jahr in Besitz. Uuuuu-huuuu. Dir ganz persönlich, Paweł, gefällt diese Dunkelheit und dieses Geistergeschmatze, die Zeit, in der die zerlumpten slawischen Gottheiten und die verlotterten slawischen Dämonen der Erde am nächsten sind, und Polen, dein Heimatland, außer Stande ist, das dunkle Geschmatze, so ist es doch, zu bändigen. „Im Dauerdunkel schmatzt das Assipack“, um mit einem Quasi-Klassiker zu sprechen. Polen hat sich ja selbst noch nie bändigen können. Noch nie, dein Gedanke, konnte es sich eine Form geben, ein Erscheinungsbild. Und deshalb magst du das polnische Allerheiligen, Paweł, als eine der wenigen Errungenschaften der polnischen Kultur, die sich ästhetisch wunderbar einfügt in die halbjährige Zeit der Dunkelheit, die eben in Polen wieder anbricht. Der schönste polnische Feiertag. Inzwischen hast du das Fenster geöffnet, um mehr von diesem Stearinduft einzuatmen, und im Radio laufen die Nachrichten. Der Sprecher berichtet erregt, Russland ziehe seine Truppen an der polnischen Grenze zusammen, im Kaliningrader Gebiet, und du betrachtest dein Bild im Spiegel, siehst deine verkaterten Augen, denn wenn heute Allerheiligen ist, war gestern Halloween, und ganz Krakau – in dem du wohnst, weil du dich hier vor Polen versteckst, denn Krakau ist einer der wenigen Orte in Polen, in denen man sich vor Polen verstecken kann – hat sich die Kante gegeben. Ist ja auch ein Anlass: Halloween. Kürbisse, Horrorschocker im Fernsehen, in jeder Kneipe läuft Soul Dracula, in den Theatern die Dziady in immer neuen Inszenierungen. Aber hauptsächlich wird gesoffen. Nicht, dass Krakau einen besonderen Anlass bräuchte, sich die Kante zu geben, aber so war es eben. * Du sitzt also am Steuer, trommelst mit den Fingern aufs Lenkrad, trommel-trommel, dein Vectra steht im Stau, und du rufst dir ins Gedächtnis, was denn da gestern so los war, wegen dieses ganzen Halloween, denn du warst auch mit deinen Kollegen unterwegs, den Leuten vom OnlineInformationsportal Światpol.pl, wo du als Redakteur arbeitest, die Startseite redigierst und dir klickfähige Titel einfallen lässt. Damit der unique user klickt, dass es reinhaut, für die Klickung (lat. clicalitas). Wenn es zum Beispiel polnisch-deutsche NATO-Manöver bei Stettin gibt, und die Soldaten eine Flussüberquerung trainieren, titelt ihr in der Redaktion: Deutsche Armee überschreitet auf Pontonbrücken die Oder. Eins A. Haut rein. Oder wenn es heißt, ein gänzlich unbekannter Abgeordneter irgendeiner Splitterpartei hätte im Suff vor dem Mickiewicz-Denkmal sein Wasser abgeschlagen, bringt ihr händereibend ein Prominenter Politiker pinkelt auf großen Polen. Und wie das reinhaut! Klicks ohne Ende! Die Clicalitas explodiert! Übrigens, wenn in irgendeiner Schlagzeile die Fügung „prominenter Politiker“, „berühmter Schauspieler“ oder „bekannter Musiker“ vorkommt, dann kennt diesen Politiker, Musiker oder Schauspieler kein Schwein, weil wenn er wirklich so bekannt wäre, würde er im Aufmacher mit Namen erscheinen, mit vollem Namen. Grzegorz, sagen wir mal, Schetyna, wird dabei gefilmt, wie er beim Abendessen im Élysée-Palast ein kostbares Tafelservice in seiner Tasche verschwinden lässt, Jarosław, zum Beispiel, Kaczyński, springt im Suff in der ulica Nowowiejska in Warschau wie ein Berggorilla von einem Autodach zum nächsten. So wäre das. Oder, sagen wir, in Tschechien ist Nationalfeiertag und Militärparade, und jetzt, hopp, mach daraus den Eyecatcher. Tschechien: Militärparade am Nationalfeiertag? Gottes Willen, da kriegst du vielleicht zwei Klicks für, zwei lumpige Klicks, aber du, zack, und: Bewaffnete Soldaten in den Straßen von Praga. Das haut so was von rein, geht ab durch die Decke. Und der Witz ist auch, dass keiner kapiert, ob es um Tschechien oder das Warschauer Praga geht, oder wenn in der Slowakei die Regierung stürzt, dann schreibt ihr nicht, dass in der Slowakei die Regierung gestürzt ist, sondern ihr schreibt Nachbarland Polens am Abgrund, weil wenn ihr schreibt, dass dieses Nachbarland Polens die Slowakei ist, dann interessiert sich kein toter Hund dafür, weil das, was in der Slowakei passiert, nur Studenten der Slowakistik und ein paar Tschechophile interessiert, die ihre Tschechophilie slowakisch erweitert haben. Aber so: „Nachbarland Polens“, und schon – etwa Deutschland? – überlegt sich da der unique user – na bitte, hat er endlich ausgeschissen, der Szkop, so ein schönes Land, he, he, grade Straßen, hübsch angemalt, schade drum. – Oder etwa Russland? – denkt der unique user – na also, ist es aus mit dem Kazap, tja, wer andern Gruben gräbt. – Oder etwa Tschechien? – grübelt der User weiter – auch nicht übel, die eingebildeten Pepíčeks, gebt uns das Teschener Schlesien zurück, statt in der Hospoda zu sitzen und Bier mit zwei Finger breit Schaum zu trinken. Jaja, das ist diffizile Feinarbeit, dieses Schlagzeilentexten. Am besten gehen natürlich Apokalypse, Holocaust, Weltuntergang mit Schwerpunkt Polen, ja, der Untergang Polens ist ein Clicalitas-Paradies, klar, alle Asteroiden, die auf Polen zurasen, hauen rein, alle Epidemien, Godzillas, Marsattacken, Viren, Putins – haut alles rein. Putin haut rein, aber wie, vor allem in letzter Zeit. Da muss man nicht mal den Titel besonders anspitzen. Na ja, ein bisschen Spitze ist immer gut. Russland droht Polen: Gebt den Korridor ab, sonst … Gefährliche Russische Raketen an der polnischen Grenze Putin donnert: Polen soll sich einkriegen, sonst … Überraschende Manöver der Russen unmittelbar hinter der polnischen Grenze Schockierende Nachricht der NATO-Dienste: Russland nimmt Polen ins Visier … Das waren so die Titel der vergangenen Tage. * Na ja, und gestern Abend dann Halloween. Freaks mit geschminkten Totenschädeln sind durch die Stadt gehirscht, als Vampire verkleidet, als irgendwie dämonische Hexen, Gothics und Emothics konnten endlich in voller Montur vor die Tür gehen, ohne sich zu kompletten Idioten zu machen. Eine Menge Blackmetaller mit Evil-Makeup auf ihren Schwarz-Weiß-Gesichtern war unterwegs. Auch eine Menge Ottonormalmetaller: Matte, Kutte, Patch. Zum Beispiel vor dem Asmodeusz in der Starowiślna, standen im Kreis und ließen die Matten wirbeln wie Windmühlenflügel, und auf dem Boden, mittendrin, lag ein kleiner MP3-Player mit eingebautem Lautsprecher und brüllte wie ein Bär. „Wor-sou sitti ät wor“, brüllte er. „Woises fromm andergrand“, brüllten die Metaller. „Vispers of friedem!“ „Nein-tien-forti-for...“ „Hełp det näver käm!“ Dann vereinigten sie sich zu einem hysterischen, fast schon am Falsett kratzenden Schrei: „Warszawo, waaaalcz!“ Sie trugen Nietenarmbänder. Iron Maiden- und Sepultura-Aufnäher wechselten mit Aufnähern der Untergrundkämpfer und der Kotwica ab. Mehrere Abarten der Addams-Family waren unterwegs, und an der Ecke Planty/Szewska stand ein Verrückter mit Kreuz und Fiat-Multipla-Gesicht – soll vorkommen –, einen durchgestrichenen Halloweenkürbis ans Kreuz geschlagen und brüllte, wir sollten nicht Kürbisse und die amerikanische Kultur anbeten, der Kürbis sei des Teufels, Harry Potter sei auch des Teufels, aber der Kürbis noch mehr, und wir sollten unverzüglich davon ablassen, weil wir die eigenen Traditionen kultivieren müssten, anstatt fremde zu kopieren. Auf der Szewska hatte sich ein Typ als Werwolf verkleidet: mit Wolfsmaske über der oberen Gesichtshälfte, den Pelzmantel offenbar von Oma, als Schwanz hinten einen Fuchskragen angebunden (inklusive Kopf, Pfoten und so weiter). An den Füßen trug er Puschen im Hundepfoten-Look. Er war ziemlich dicht. Der Typ ging auf den Verrückten mit dem Kreuz zu, sah ihm ins Gesicht und sagte: „Du hast eine Fresse wie ein Fiat Multipla.“ Aus dem Polnischen von Thomas Weiler MACIEJ HEN DIE SOLFATARA © Krzysztof Serafin Maciej Hen (geb. 1955) – Schriftsteller, Übersetzer, Journalist. Er hat an der Staatlichen Hochschule für Film, Fernsehen und Theater in Łódź Kamera studiert und war als Kameramann, Regisseur von Dokumentarfilmen, als Drehbuchautor und Schauspieler tätig. Im Jahr 2004 erschien unter dem Pseudonym Maciej Nawariak sein literarisches Debüt, der Roman Według niej [Ihrer Meinung nach]. Danach schrieb Hen seinen zweiten Roman Solfatara [Die Solfatara], der 900 Seiten umfasst. Die Solfatara von Maciej Hen ist ein wunderbarer historischer Roman, absolut ungeeignet für zeitgenössische Moden und ideologische Streitigkeiten. Das hier ist ausgezeichnete, elegante, in sich schlüssige Literatur, deren Lektüre eine Menge Freude bereitet. Ihr kultureller Bezugspunkt liegt weit in der Vergangenheit, in Zeiten, als die Tradition des weltlichen Abenteuerromans entstanden ist, sprich in der Epoche von Lazarillo de Tormes, Miguel Cervantes und Daniel Defoe. Deshalb ist Die Solfatara ein regelrecht dreistes Unterfangen, weil es in gewisser Weise ein Traktat über das Schreiben von Romanen im 17. Jahrhundert ist, aber ein praktisches Traktat, das ohne Fußnoten und Kommentare auskommt und als fertiger Text dieses Buch hervorgebracht hat. Es gibt hier keinerlei postmoderne Ironie, keine Anführungsstriche, keine Klammern und kein Augenzwinkern für den Leser – wenn sie vorkommen, dann außerhalb der Geschichte selbst, schlau platziert in der Definition der Situation, in der wir einen italienischen Roman des 17. Jahrhunderts lesen, der von einem 1955 geborenen polnischen Autor verfasst wurde. Im Juli 1647 bricht in Neapel der Eisaufstand aus. Ursache sind die hohen Steuern und der Zoll, die der Stadt von den damaligen spanischen Behörden auferlegt wurden. Doch der Aufstand entwickelt sich schnell zu einem chaotischen Angriff der Straße auf sowohl die Spanier als auch die lokale Aristokratie. Die Revolte wählt spontan einen Anführer, den örtlichen Fischer Tommaso Aniello, genannt Masaniello. Die Karriere dieses Anführers – für die einen ist er ein gerechter Held, für die anderen ein Unmensch und Wahnsinniger – dauert kaum zehn Tage, nach denen aufgrund einer neuen Intrige auch sein Kopf fällt. Diese zehn Tage beinhalten auch die Handlung von Die Solfatara, die von dem Hauptprotagonisten und Erzähler, Fortunato Petrelli, einem alternden lokalen Journalisten, in seinen Aufzeichnungen dargestellt wird, die er laufend ergänzt. Petrelli gerät, wie es sich für den Protagonisten eines Abenteuerromans gehört, in die verschiedensten Schwierigkeiten: Er versucht, die Identität einer entzückenden Prostituierten festzustellen, die sich ihm im Halbdunkel hinzugeben pflegt; er rettet auch einer schönen Adligen das Leben, erfährt dann allerdings, dass diese seit sechs Jahren im Grab liegt. Hen bedient sich in Die Solfatara vortrefflich eines der Trümpfe der alten Literatur – der Verschachtelung. Immer wieder wird der Leser in die farbige Retrospektive von Petrellis Leben entführt, tritt in die Geschichten neuer Figuren ein, denen Petrelli begegnet, und sogar in Geschichten innerhalb von Geschichten. Erst diese ganze gelehrte mehrstöckige Konstruktion, die eine Art „Handschrift von Saragossa“ von Jan Potocki ist, fügt sich zu einer richtigen Erzählung über Freundschaft, Eifersucht, Verrat und künstlerische Ambitionen. Erwähnenswert ist die Sprache des Romans – sie ist einfach, aber geschmackvoll archaisiert, entbehrt jedoch jeglichen Pathos’ und überflüssiger Verzierungen. Das ist polnische Sprache der höchsten Qualität, schön und saftig. In Die Solfatara pulsiert nicht nur das literarische Element, sondern auch die Energie der neapolitanischen Straßen. Schließlich ist Neapel eine Stadt, die seit über dreitausend Jahren durchgängig besiedelt war – Revolutionen, Steuern, Mafia und Krieg schrecken sie nicht. Wenn sie sich vor etwas fürchtet, dann allein vor dem Vulkan, in dessen Schatten sie liegt. Piotr Kofta MACIEJ HEN SOLFATARA GW FOKSAL / W.A.B. WARSZAWA 2015 123×194, 800 PAGES ISBN: 978-83-2802-081-8 TRANSLATION RIGHTS: GW FOKSAL / W.A.B. Sonntag, 7. Juli 1647 DIE SOLFATARA Ob ich aus diesem Chaos wohl lebend herauskomme? Man muss guter Dinge sein, obwohl es eigentlich keinerlei Garantie dafür gibt. Es würde mich nicht wundern, wenn das Neapels Ende wäre. Bekannter Weise ist ja nichts auf der Welt ewig. Dabei wünscht man sich doch, eine Spur zu hinterlassen. Deshalb verfluche ich dich, wer auch immer du bist, der diese Papiere in der Hand hält: bevor du sie ins Feuer wirfst, versuche, meine im Dunkeln dahin geschmierten Notizen zu entziffern, weil ich in deine Hände meine Erinnerung an dich und an alle anderen gebe, die ich auf diesen Seiten in der Zeit, die mir gegeben sein wird, unterbringen konnte. Sicherlich wäre das auch ohne meine Person gegangen, da ich, Fortunato Petrelli, weder jemand besonderes bin noch in diesen wilden Vorfällen irgendeine Rolle spiele. Vielleicht aber wirst du in der Lage sein, leichter zu beurteilen, inwieweit man meinen Berichten Glauben schenken kann, wenn du weißt, wer zu dir spricht. Wisse deshalb, dass ich seit über dreißig Jahren täglich in der hier jedem bekannten Zeitung „Neapolitanische Nachrichten“ alles beschreibe, was in unserer Stadt geschieht. Ich habe mir alle möglichen Verbrechen, Exekutionen, Kämpfe des Pöbels, Stammeszwistigkeiten und Brände aus nächster Nähe angesehen. Ich war sogar am Fuße des Vesuvs während des großen Ausbruches vor sechzehn Jahren – doch etwas wie das, was jetzt hier veranstaltet wird, hat man in dieser Gegend wohl noch nie gesehen. […] In den letzten Tagen habe ich mir mit besonderer Unruhe die Vorbereitungen zu den Feierlichkeiten des bevorstehenden Feiertags der Gottesmutter mit dem Skapulier angesehen, und wie sich herausgestellte, hat mich meine Vorahnung nicht getäuscht. Es gibt in Neapel den Brauch, dass das Volk alljährlich auf dem Platz vor der Basilika der Karmeliter ein Schlösschen aus morschen Brettern, alten Papieren und Lappen aufbaut, wonach es am Tag des Festes zu einer großen Schlacht kommt, bei der die einen mit Stöcken die Festung verteidigen, und die anderen sie stürmen. Mehr Freiwillige gab es immer unter der Fahne der Angreifer, sicherlich weil die Festung so oder so erobert werden musste, und keiner Lust hatte, für eine von vornherein verlorene Sache zu kämpfen. Hinzu kommt, dass die Neapolitaner die Maskerade lieben, und diese Angriffsarmee tritt immer mit Turbanen und Fesen verkleidet auf, die Gesichter schwarz gefärbt mit Ruß oder rot von zerbrochenen Ziegelsteinen. Diese wunderlichen Krieger werden seit eh und je Alarben genannt, was sicherlich von „Arabern“ stammt, allerdings ist es mir, obwohl ich bereits seit fast vierunddreißig Jahren in Neapel lebe, nicht gelungen, in Erfahrung zu bringen, auf welche Ereignisse dieser Brauch anspielt und was er bedeutet. In diesem Jahr hat die Rekrutierung für die Armee der Alarben vor einigen Tagen begonnen, sprich mit langem Vorlauf, schließlich ist der Feiertag erst am 16. Juli. Am Freitag war ich am Nachmittag auf der Piazza del Carmine, wo die Manöver dieser Bettlerarmee stattfinden, weil ich gehofft hatte, dort vielleicht auf etwas zu treffen, was die Leser meiner Zeitung unterhaltsam finden könnten. Auf dem benachbarten Piazza del Mercato, genauer gesagt in dem Teil ohne Stände, wo dienstags und donnerstags der Pferdemarkt stattfindet, wurde auf der Seite der Kirche des Heiligen Eligius ein Marmorpostament errichtet, auf dem sich auf einem aus festen Balken gezimmerten Gerüst der Galgen erhebt, an dem die stinkenden Kadaver der Bösewichter baumeln. Sie werden selten weggeräumt, denn in dieser Gegend geht der Leichengeruch sowieso im allgemeinen Gestank der überall herumliegenden Abfälle von den Fisch- und Fleischständen unter, die von Hunden und Katzen ausgewalzt werden. (Anders war es, wie ich gehört habe, zu Zeiten des berühmten Vizekönigs Don Pedro de Toledo, als zehn Verurteilte täglich gehenkt wurden, jeder an einem frischen Seil, dank dessen die Taumacher für ihre Ware gesicherten steten Absatz hatten). Dieses Mal jedoch waren zwei Haken des querliegenden Galgens frei. Als ich auf den Platz kam, sah ich die hin- und her marschierenden, bunt gekleideten „Mauren“, die zackig mit den Stöcken fuchtelten und in Bastlatschen im Takt stampften, so dass von dem angetrockneten Schlamm Staub aufstieg. Ich muss gestehen, es war zu sehen, dass sie das Zeug zum Militärhandwerk hatten: wie sie auf jedes Kopfnicken des Befehlshabers flott marschierten, geradeaus, nach links, dann wieder nach rechts, und auf ein verabredetes Zeichen, ohne die geschlossene Formation zu verlieren, eilig zum gelingenden Angriff auf den Galgen rannten, die Stöcke wie Degen vorgestreckt, dann wieder über den Kopf gehoben wie Säbel. Zu denken gab mir dennoch, warum sie so hartnäckig übten, dass ihr Schweiß in alle Richtungen spritzte wie von einem Hund das Wasser, wenn dieser sich nach einem Tümpelbad schüttelt, wenn das doch alles nur eine billige Vorstellung sein sollte. Hatte sich der zerzauste Bursche mit dem aschfahlen Schnurrbart, der diese Menschen befehligte, vorgenommen, alle Angriffe der Alarben, die in der menschlichen Erinnerung gespielt worden waren, in den Schatten zu stellen? Und was würde er davon haben? Ich hatte den Eindruck, dass ich diesen Menschen schon einmal irgendwo gesehen hatte. Ich blieb an einer Bude stehen, an der heiße Schokolade verkauft wurde, bestellte eine Tasse und als ich mich auf die Bank setzte, ließ ich mich auf einen Plausch mit denen ein, die sich gemeinsam mit mir an dem duftenden süßen Trunk labten. Unter irgendeinem Vorwand lenkte ich das Gespräch auf den Anführer der Alarben und brachte auf diese Weise seinen Namen in Erfahrung. Als er dann seinen Untergebenen eine Übungspause ankündigte, ging ich zu ihm, lüftete höflich meinen Hut und fragte, ob ich das Vergnügen mit Herrn Tommaso Aniello d'Amalfi habe. „Wieso?“, antwortete er barsch, ohne mich eines Blickes zu würdigen. Als ich mich jedoch mit vollem Namen vorstellte und hinzufügte, dass ich Herausgeber der „Nachrichten“ sei, und sogleich fragte, wie die Vorbereitungen auf den Angriff liefen, heiterte sich sein Gesicht auf, zeigte er mir grinsend seine kaputten Zähne und fuchtelte zackig mit dem Arm neben seinem Ohr. „Aha, der Herr selbst!“, rief er. „Dass ich Sie nicht gleich erkannt habe, Don Fortunato, ich verneige mich tief! Oh, ehrwürdiger Herr“, seufzte er lachend. „Mir hat wohl der Herrgott den Verstand geraubt, dass ich wieder so eine Last auf mich genommen habe. Im letzten Jahr ist es nicht schlecht gelaufen, da hat man mich auch in diesem dazu bestimmt. Naja und es hat mich gereizt, ich Dummkopf, es dieses Mal noch schöner zu machen. Zuhause herrscht Armut, die Kinder weinen, da ist nichts, womit man ihnen die Mäuler stopfen könnte, das Weib ist toll wie ein Wespenvolk, und ich, mein Herr, spiele hier Krieg.“ „Heißt das, dass Ihr kein Militär seid?“, fragte ich, Verwunderung vortäuschend. „Ich?“ Er lachte und straffte sich gleich vor Stolz und schlug sich mit beiden Händen vor die magere Brust. „Ich bin Fischer! Ein echter neapolitanischer Fischer seit Urväterzeiten!“ „Ach ja? Ich dachte, Sie kämen aus Amalfi.“ „Woher denn, das ist nur ein Beiname vom Vater. Ich war nie dort. Ich bin von hier, jeder hier kennt mich! Masaniello, Fischer von der Vico Rotto.“ Gleich aber wurde er verdrießlich, spuckte aus, schaute auf den Boden und gestand finster: „Was bin ich eigentlich für ein Fischer? Das Boot, das ich von den Vätern geerbt hatte, musste verkauft werden, und zwar für ein paar miese Carlinos, weil es schon fast auseinander fiel. Jetzt handle ich ein bisschen mit altem Papier zum Verpacken von Fischen. Aber“, fügte er hinzu und zwirbelte draufgängerisch seinen riesigen Schnurrbart, „wenn es gelingt, etwas beiseite zu legen, dann kaufe ich mir ein neues Boot und kehre zur Fischerei zurück.“ Nach diesen Worten erinnerte ich mich daran, dass ich ihn tatsächlich schon vorher vom Sehen gekannt hatte. Von Zeit zu Zeit war er in der Druckerei meiner Zeitung aufgetaucht, wo er die Druckpapierabfälle, die wir wegwerfen wollten, erbat oder buchstäblich für ein paar Cavallos aufkaufte. Jetzt lächelte er plötzlich breit, wobei er mir alle Löcher in seinen Zähnen zeigte. „Wenn man erst einmal etwas gegen diese Betrüger findet, werde ich leben wie ein König!“, fügte er hinzu und deutete mit dem Kinn auf die Bude der Zöllner, die rechtmäßig die Gebühren von allen Waren einkassierten, die auf dem Markt verkauft wurden. Damals kam mir nicht in den Sinn, dass hinter den Worten des Mannes, der mit Verpackungspapier für Fische handelte, mehr stecken könnte als ein frommer Wunsch. Aus dem Polnischen von Antje Ritter-Jasińska WERONIKA MUREK DER ANBAU VON SÜDPFLANZEN NACH DER MITSCHURIN-METHODE © Anna Mika Weronika Murek (geb. 1989) – Verfasserin eines der meistdiskutierten Debüts des Jahres 2015. Trägerin des Gdingener Dramenpreises, der wichtigsten polnischen Auszeichnung für Dramatiker, sowie Preisträgerin der polnischen Ausgabe des Wettbewerbs für europäische Flash Fiction. Absolventin der Fakultät für Recht und Verwaltung der Schlesischen Universität. Lebt in Katowice. Der russische Genetiker Iwan Mitschurin befasste sich mit der Kreuzung von Pflanzen, um Arten zu züchten, die auch unter widrigen klimatischen Bedingungen wachsen. Er erscheint in den Erzählungen von Weronika Mureks Debütband nicht als Person, sondern nur mit einem Zitat, das dem Buch als Motto vorangestellt ist: „Wir können nicht warten, bis uns die Natur ihre Gunst erweist. Unser Ziel ist es, uns diese Gunst von ihr zu nehmen.“ Die Erzählungen des Bandes Der Anbau von Südpflanzen nach der Mitschurin-Methode sind de facto literarische Experimente, in denen die Autorin unter anderem zwei Perspektiven kreuzt – eine sehr nahe und eine sehr ferne. Sie arbeitet Details heraus und verankert die Narration in einem unwirklichen Raum, in den Wolken (oft wortwörtlich, denn religiöse Motive oder das Jenseits als Handlungsort spielen in den Erzählungen eine wichtige Rolle). Die Autorin belebt Devotionalia, schöpft aus der Volkskunst und stellt nicht selten Sakrales in sehr konkrete körperliche Kontexte (an einer Stelle stört sich ein Engel daran, dass ein anderer Engel geräuschvoll an einem gezuckerten Rhabarberstengel knabbert; an einer anderen Stelle heißt es, die Muttergottes habe einen Butterkeks aus der Tasche ihres Morgenmantels gezogen, „sie steckte ihn sich in den Mund und schmatzte drauflos“). Weronika Murek lässt Stile aufeinanderprallen und entwirft ein Mosaik aus kindlichem, volkstümlichem und journalistischem Erzählen: mal voller Grausamkeit, mal voller Poesie, mal voller Absurdität. Jedes Mal aber senkt sie schnell wieder die Stimme, als wolle der Erzähler vor dem Leser fliehen. Unter anderem deshalb sind Weronika Mureks Erzählungen anspruchsvolle Literatur, eine Art Scharade – der Leser muss hochkonzentriert sein, um dem Erzähler folgen zu können. Die Zusammenführung verschiedener Stile sorgt für Überraschungseffekte. Auf ihnen beruht der Humor von Weronika Mureks Buch. In einer Erzählung kündigt im Rahmen der Vorbereitungen zu einer Silvesterparty für Nervenkranke die Gastgeberin eine Lotterie an: „Jedes Los wird gewinnen. Wir haben eine Kiste mit Schuhen im Keller. […] Uns passen sie nicht, man kann sie den Kranken geben.“ Weronika Murek sagt zu ihren Vorlieben und literarischen Techniken: „Wenn ich jeden Tag durch die Ulica Stawowa in Katowice laufe, dann möchte ich beim Schreiben nicht durch diese Straße laufen. Wenn ich meine, dass in dieser Straße nichts Interessantes geschieht, dann kann ich sie mit Luken und Löchern ausstatten, die eine zusätzliche, andere Atmosphäre dieser Straße erfahrbar machen – keine andere Wirklichkeit, eine andere Atmosphäre.“ Die Erzählungen ihres Debütbandes sind genau das: ein Spiel im Raum, das eine andere Atmosphäre erfahrbar macht. Agnieszka Drotkiewicz WERONIKA MUREK UPRAWA ROŚLIN POŁUDNIOWYCH METODĄ MICZURINA CZARNE, WOŁOWIEC 2015 125 × 195, 144 PAGES ISBN: 978-83-8049-024-6 TRANSLATION RIGHTS: POLISHRIGHTS.COM RIGHTS SOLD TO: FRANCE (ÉDITIONS DO) A B JETZT N U R DER ANBAU VON SÜDPFLANZEN NACH DER MITSCHURIN-METHODE noch so und nie wieder mehr als das, dachte sie, als sie die Straße überquerte, sie sah in den Briefkasten, niemand hatte geschrieben. Wenn es stimmt, was die Leute reden, sagte sie zu sich selbst, dann wird es so bleiben und ich werde mich langsam damit abfinden müssen: immer neue, zunehmend durchsichtige Momente, die leicht über das Band der Stunden gleiten, eigentlich ohne Zweck, hinauf zu höheren Tagen und Wochen, reflexartig angetrieben von nichts anderem als der Macht der Gewohnheit – so wird es von nun an sein. „Da bitte nicht reingehen“, hörte sie eine Stimme hinter sich sagen. Die Wohnungstür stand weit offen, ringsum roch es nach Wischlappen und Zitrusreiniger. „Hier ist jemand gestorben, ich habe gerade geputzt. Alles ist noch nass.“ „Schon gut, schon gut“, erwiderte Maria, „ich will gar nicht hineingehen, ich schaue nur.“ Sie machte eine kurze Pause. „Das ist meine Wohnung, wissen Sie? Vielleicht, wenn ich die Schuhe ausziehe und nur auf Socken?“ Sie beugte sich vor und begann die Schnürsenkel zu lösen. „Hat man von hier aus angerufen?“ „Was?“ Sie hielt mit der Fußspitze die Ferse des anderen Schuhs fest und zog den Fuß ein wenig heraus, dann kickte sie ihn Richtung Wand und beugte sich wieder vor. „Wegen der Desinfektion“, sagte die andere. „Nein“, erwiderte Maria, „von hier hat niemand angerufen.“ „Irgendwer muss aber angerufen haben, Sie wissen es bloß nicht. Man muss sich schon um seine Angelegenheiten kümmern. Ich komme jetzt mit dem Wasser, und Sie bleiben bitte draußen. Hören Sie? Sie müssen warten, so leid es mir tut. Sonst gibt es hinterher Flecken. Sie müssen einen Moment warten.“ „Schon gut, schon gut“, antwortete Maria. „Ein paar Augenblicke mehr oder weniger…“ Die Frau entfernte sich langsam. Bevor sie hinter der Treppenbiegung verschwand, drehte sie sich noch einmal um und warf Maria einen misstrauischen Blick zu. So schnell, dachte Maria, sie desinfizieren so schnell, als ginge es darum, Spuren zu verwischen. Plötzlich packte sie die Wut, so jäh und so heftig, als wäre eine Luftblase gegen ihren Kopf geprallt und zerplatzt. Sie zog die Schuhe an, schnürte sie sorgfältig und mit großer Genugtuung, dann ging sie in die Wohnung. Man hatte die Gardinen und Vorhänge abgenommen, und mit einem Mal wirkte die Wohnung viel geräumiger als in ihrer Erinnerung. Im Wohnzimmer hatte man die Schlafcouch an die Wand geschoben und Plastiksäcke darübergeworfen, außerdem hatte man den Schrank geleert und die Bücher aus den Regalen auf den Fußboden geräumt. „Nanana“, sagte die Frau, die plötzlich direkt hinter ihr in der Tür stand, „jetzt sind Sie doch reingangen, das gibt Spuren.“ „Dann gibt es halt Spuren“, erwiderte Maria. „Davon geht die Welt nicht unter.“ Sie ging zur Couch und sah in einen der Plastiksäcke. „Meine Sachen“, sagte sie. „Das grüne Kleid. Das dürfen Sie doch nicht.“ „Desinfektion“, sagte die Frau. „Alles muss desinfiziert werden.“ Und nach einer Pause: „Man sollte vielleicht die Fenster öffnen, dann gibt es Durchzug und der Boden trocknet schneller.“ „Desinfektion“, wiederholte Maria. „Ich habe doch sauber gelebt.“ „Die Wohnung soll verkauft werden“, erwiderte die Frau. Sie ging zum Fenster und öffnete erst eines, dann ein zweites. Jetzt im hellen Zimmer kam sie Maria jünger vor – sie hatte zwar ein faltiges Gesicht, aber überraschend dichtes und dickes glänzendes Haar, das hinten zu einem lockeren Dutt gebunden war. Vom Haaransatz an der Stirn bis zum Haarknoten im Nacken verlief ein schmaler, penibel geflochtener Zopf, der sich von der glatten, leuchtenden Halbkugel abhob wie eine frische, schräg vernähte Narbe. Sie griff in die halbrunde Tasche, zog ein Blatt Papier hervor, faltete es ein paar Mal und schob es geschickt unter den Fensterrahmen. „Es spielt keine Rolle, ob Sie sauber gelebt haben oder nicht. Die Wohnung soll verkauft werden und muss desinfiziert werden, das ist ganz normal. Das ist Vorschrift.“ „Aber sehen Sie, ich lebe ja noch.“ „Aha“, erwiderte die andere teilnahmslos, ging zu den Säcken und begann sie zu verschnüren. „Das ist gut. Sie müssen sich vor mich nicht rechtfertigen. Weshalb auch? Sie sind erwachsen, und sie haben es so gewollt. Kein Grund, sich zu schämen.“ Auf dem Schreibtisch lagen verstreute Blätter. Maria überflog sie flüchtig: Jemand war in ihr Email-Konto eingedrungen, hatte Nachrichten ausgedruckt und gelesen und die intimeren Stellen mit Schlangenlinien unterstrichen. Jemand hatte auch ihr Tagebuch gefunden und auf einer Seite mit Einträgen vom März 2000 offen liegen lassen. Jemand hatte mit rosa Filzstift das Kennwort ihres Kontos und ihre Identifikationsnummer quer über die Seite geschrieben. „Jemand ist in mein Email-Konto eingebrochen“, sagte Maria. „Jemand hat meine Notizen gelesen.“ „Vielleicht dachte er, er würde etwas Interessantes finden“, erwiderte die Frau, beugte sich vor und fing an, die Bücher in Kisten zu packen; im Rhythmus ihrer Bewegungen glitt ein goldener Lichtstreif über ihr Haar. Gleich neben den Blättern und dem Notizbuch lag ein bunter Staubwedel, daneben stand eine Flasche mit einer grünen Flüssigkeit. Maria, die ihre Gedanken sammeln und nicht antworten wollte, nahm die Flasche und tat, als lese sie das Etikett, auf dem versichert wurde: „Wir machen feuchte Wohnungen und Keller wieder trocken.“ Was für ein Leben, dachte sie mit einem plötzlichen Gefühl von Wut, jeden Tag aufstehen und sich den Zopf flechten. Früher aufstehen, um in Ruhe den Zopf flechten zu können und ihn sorgfältig zu flechten, auch wenn man den Rest des Tages ein bescheidenes Dasein führt, über den Putzeimer gebeugt, und Präparate verwendet, die feuchte Wohnungen wieder trocken machen. Und vor allem sich damit abfinden, dass man von kaum jemandem beachtet wird, und wenn doch, dass dieser Jemand über den ungewöhnlichen Luxus eines Zopfes schnell zur Tagesordnung übergeht und den vergeudeten Augenblick von sich abschüttelt. Aber ihr macht das nichts aus, dachte sie wütend weiter, sie steht morgens auf und flicht ihren Zopf; geweckt von der Sorgfalt, die sie, Maria, nie hatte, von der Treue zur weiblichen Akkuratesse. Und hätte Maria ähnlich oder sogar genauso gelebt, dann wäre sie vielleicht nicht gestorben, und wenn doch, dann nicht jetzt und nicht so, sondern zu einer passenderen Zeit und besser. Auf der Treppe erklangen Schritte, der Fußboden knarzte: Man hörte, wie jemand näherkam, in der Tür stehenblieb und sich jetzt die Schuhe auszog. Das dauerte ein wenig; ins Zimmer trat ein älterer Mann mit einem in ein Handtuch gewickelten Topf in der Hand. „Mittagessen“, sagte er. „Die Suppe ist noch warm.“ „Gut“, erwiderte die Frau. „Diese Dame vom Tod ist vorbeigekommen.“ „Weil es meine Wohnung ist“, antwortete Maria. „Weil ich noch lebe.“ „Aha“, sagte der Mann und stellte den Topf auf den Tisch. Er wickelte das Handtuch ab und hob den Deckel. „Das ist gut. Noch warm.“ „Alle haben es gelesen“, sagte Maria und deutete auf den Schreibtisch. „Nicht wahr? Sie auch?“ „Ja“, gab die Frau zurück, „wir haben es auch gelesen. Hörst du, Alter, wir haben es gelesen, nicht?“ „Wir lesen immer alles“, sagte der Mann. „Vielleicht gibt ja es etwas zu Lachen. „Aber vor allem die Familie. Die unmittelbar Betroffenen.“ „Wir haben alles nur durchgeblättert. Wir haben nicht mehr die Zeit, müssen die Brillen suchen, es macht einfach keinen richtigen Spaß mehr. Aber manchmal, zur Abwechslung… Immer nur arbeiten, leere Wohnungen putzen, wer würde das aushalten? Wie gesagt, zur Abwechslung …“ Er nickte Maria zu, dann fügte er an: „Haben Sie das Bett gesehen? Was soll man damit anfangen, wie soll man das nur sauber kriegen?“ Er brach ab und wandte sich an die Frau: „Iss, iss, meine Liebe, sonst wird es kalt.“ „Was haben Sie da gesagt?“, fragte Maria. „Es hieß doch, in der Wanne.“ „Nein“, widersprach die Frau. „Nicht in der Wanne. Im Bett. Das wurde ganz deutlich gesagt.“ „Wir haben unsere Richtlinien, nach denen gehen wir vor“, sagte der Mann auf dem Weg ins Nebenzimmer. „Manches wird sortiert, manches den Armen gegeben, manches verbrannt.“ „Ich nehme das alles mit“, ließ Maria verlauten, die ihm folgte. „Na, ich weiß nicht, die Vorschriften sind eindeutig“, sagte er. „Sehen Sie den Fleck?“ Er stand am Bett: Bettwäsche und Decke waren schon abgezogen, übrig war nur eine braune Matratze mit einem dunklen, schmalen Fleck, der an die Hülse einer Johannisbrotbaumfrucht erinnerte. Aus dem Polnischen von Bernhard Hartmann JAKUB ŻULCZYK GEBLENDET VOM LICHT © Zuzanna Krajewska Jakub Żulczyk (geb. 1983) – Schriftsteller und Feuilletonist, gilt als einer der besten polnischen Autoren der jungen Generation. Er debütierte 2006 mit dem Roman Zrób mi jakąś krzywdę [Tu mir irgendetwas an]. Bis heute sind fünf weitere Romane des Autors erschienen. Er moderierte verschiedene Fernsehsendungen und schrieb für die Zeitschriften „Elle“ und „Przekrój”. Seit einigen Jahren lebt er in Warschau und hat der Hauptstadt sein neuestes Buch gewidmet: Ślepnąc od świateł [Geblendet vom Licht]. Nichts erfreut den Markt so sehr wie die unbefriedigten Bedürfnisse seiner Konsumenten, das Verlangen, hoch und noch höher aufzusteigen. Sich besser zu fühlen als die anderen. Der Markt bietet gegen dieses Fieber, neben Millionen von Gadgets wie Kleidung, Uhren, Autos und Wohnungen, ein Allheilmittel an. Kokain, weißer Stoff, der dir eine zynische Klarheit über deine Wünsche und Ziele verschafft und dich für einen kurzen Moment zum Übermenschen macht. Ein geselliges Pulver, gesellschaftlich nützlich, verspricht das Dazugehören zur Elite. Kokain, dieses seltsame Gold, das man nicht wirklich besitzen kann, spielt eine wichtige Rolle in Geblendet vom Licht von Jakub Żulczyk, einem der besten polnischen Prosawerke des vergangenen Jahres. Żulczyk, ein junger Autor (Jahrgang 1983) mit bereits beachtlichen Verdiensten, hat sich schon an verschiedenen populären literarischen Gattungen wie Jugendliteratur, Horror und Fantasy versucht. Dieses Mal wendet er sich dem Roman noir zu. Geblendet vom Licht wurde zwar nicht bewusst als düsterer Kriminalroman der Großstadt geschrieben, doch das Buch erfüllt nicht nur alle Gattungsmerkmale, sondern beschreibt darüber hinaus eine packende Vision Warschaus als eines von Sündern überfüllten, lodernden Höllenfeuers. Die Rolle des Vergil spielt hier der Drogendealer Jacek, Fachmann für Kokain. Jacek selbst zumindest hält sich nicht für einen in Diensten der Mafia stehenden kriminellen Dealer, sondern für einen Geschäftsmann. Er ist stolz auf seinen Arbeitseifer, seine Professionalität und seinen Perfektionismus. Obwohl er den Justizorganen nie in die Hände gefallen ist, scheint etwas anderes noch wichtiger zu sein: Jacek hat eine weiße Weste, er macht sich nicht die Finger schmutzig wie seine verzweifelten Kunden, er teilt ihre Aufstiegsambitionen nicht und wird nicht zum Opfer ihrer spektakulären Misserfolge. Wie tausende andere Bewohner des heutigen Warschaus kommt auch er aus der Provinz, stürzt sich jedoch nicht in das Chaos der Großstadt, sondern verbleibt in der Rolle des distanzierten Beobachters. Die eisernen Regeln des Drehbuchs sind unvermeidlich – diese Illusion hat kein Recht auf Fortbestand. Und sie löst sich auf. Dreh- und Angelpunkt im Roman Żulczyks ist die Geschichte des Erzählers, der immer tiefer im Abgrund versinkt. Eigentlich wissen wir von Beginn an, dass die Stadt ihn auffressen und ihm das Kreuz brechen wird. Wir wissen nur nicht, wann und wie. Der Autor meistert diese Herausforderung, indem er eine raffinierte und überzeugende Kriminalintrige konstruiert, die jedoch niemals richtig in den Vordergrund tritt – der Machtkrieg der Mafia (in dem Jacek nur ein unwissender kleiner Fisch ist) spielt sich irgendwo im Hintergrund ab. Żulczyk fühlt sich sehr wohl in der Welt der düsteren Ästhetik – seine Dialoge glänzen mit ironischen Wortspielen, die Frauenporträts schwanken zwischen der Darstellung einer Straßenhure und einer Heiligen, die Polizisten sind müde und die Verbrecher eigensinnig. Das Pathos schwingt hier in überraschender Groteske, aber die Nacht endet im Grunde genommen niemals. Die ganze Handlung spielt in einem winterlichen, eisigen und unfreundlichen Umfeld, Albträumen gleich, aus denen man nur schwer wieder erwacht. Doch Geblendet vom Licht ist nicht nur l’art pour l’art, sondern ein ausgefeilter Roman über verschiedene Prothesen des Glücks. Hier und jetzt, in dieser Stadt und inmitten dieser Menschen ist das Glück unerreichbar, gleichwohl kann man versuchen, natürlich mit prall gefüllter Geldbörse, entsprechenden Ersatz dafür zu finden. Die einen finden Trost im zwanghaften Essen und Trinken, andere im Sex. Manche ziehen eine endlose Line Koks, es gibt auch solche Menschen wie Jacek, denen das Gefühl reicht, alles unter Kontrolle zu haben. Sie alle werden dem unersättlichen Drachen geopfert – Warschau. Piotr Kofta JAKUB ŻULCZYK ŚLEPNĄC OD ŚWIATEŁ ŚWIAT KSIĄŻKI WARSZAWA 2014 222 × 148, 520 PAGES ISBN: 978-83-7943-614-9 TRANSLATION RIGHTS: SYNDYKAT AUTORÓW 15:00 GEBLENDET VOM LICHT Diese chinesischen Fast-Food-Bistros gibt es wirklich. Sie sitzen dort ununterbrochen, von morgens bis abends, im Wechsel. Sie essen nur das, als ob ihre Mägen bereits nichts anderes mehr vertragen könnten, nur zerkochten Reis und stinkendes altes Fleisch in süßer Soße. Dieses Bistro liegt unweit der Metrostation Marymont, hinter der Halle, zwischen die Blöcke gequetscht. Es ist so groß wie ein kleines Zimmer. Weiße Wandverkleidung. Die Aufschrift XIANG BAO aus selbstklebenden Buchstaben. Ein Kalender mit dem asiatischen Tiger, Vasen aus dem Chinamarkt. Groß genug, um hier Geld zu waschen aus Geschäften mit Heroin, Mephedron, Frauen, was auch immer. Drinnen stinkt es, beim Hereingehen muss ich mir die Nase zuhalten; es stinkt nach Fett und nach altem, verklebtem Zucker, der die Wände in dicken Schichten bedeckt. Er sitzt mittendrin, isst Frühlingsrollen und schmatzt. Auf den ersten Blick sieht er nicht aus wie ein Bulle. Er trägt Bart, Hemd, ein Basecap, eine bunte Jogginghose, sieht eher aus wie jemand, der sich vor Unterhaltszahlungen drückt und sich deshalb als gammliger Teenager verkleidet hat. Er könnte genausogut Kameramann beim Fernsehen sein. Er isst langsam und trinkt Cola. Der Gestank scheint ihn nicht zu stören, aber die Typen von der Polizei, vor allem die von der Kripo, stören sich ja an üblen Gerüchen sowieso nicht. „Setz dich”, sagt er. Die geben immer Befehle, selbst wenn es nicht nötig ist. Sie haben das im Blut. Sie können nur im Befehlston sprechen. Er ist 40 Jahre alt. Vorname Marek. Wohnt ganz in der Nähe, in Stary Żoliborz. Er hat gut geheiratet, ein Mädchen aus einer Ärztefamilie. Arbeitet bei der Kripo, Unterkommissar, und weiter wird er wohl auch nicht kommen, er hat die gläserne Decke erreicht. Zwei Kinder. Fährt einen zehn Jahre alten Volvo. Raucht und trinkt viel, mehr, als er seiner Frau erzählt, weniger als ein Durchschnittsbulle. Ich weiß praktisch alles über ihn. Sonst würde ich kein Wort mit ihm wechseln. Unser Deal ist einfach. Er denkt sich seinen Teil und braucht Kohle. Er hat sein kleines, heimliches Hobby, und dieses Hobby verlangt nach alternativen Finanzierungsquellen. Er mag Roulette und Spielautomaten. Bei einigen Jungs stand er deswegen schon in der Kreide, sie haben also kein Problem damit, in dieser Sache nächtliche, höfliche Anrufe zu tätigen. Er tut alles, um Frau und Kinder davon fernzuhalten. Bekäme sie davon Wind, dann würde sie ihm wohl schon nach fünf Minuten die Sachen vor die Tür stellen. Außerdem ist er doch nicht dumm. Er säuft zwar viel, aber nicht soviel wie seine Arbeitskollegen. Er hält sich im Hintergrund, ist bedächtig. Sicherlich hat er sich deshalb mit der gläsernen Decke abgefunden; er weiß, noch weiter nach oben könnte ihn den Kopf kosten. „Willst du was essen?“, fragt er. Den Rest der Frühlingsrolle tunkt er in die Soße, säubert damit den Teller. Ich schüttle mit dem Kopf. „Was ist los?”, fragt er wieder. „Mein Kunde hat ein Problem. Ich muss wissen, inwieweit das mein Problem ist”, antworte ich. Er bricht in Gelächter aus. Wischt sich den Mund sorgsam mit einem Taschentuch ab. Schaut mich an, auf eine mich rasend machende, belustige Art, wie ein Fußballer, der gerade den Ball bekommen hat und sieht, dass er allein vor dem Torwart steht. „Wie gehts den Kindern?”, frage ich. „Gut”, antwortet er, „sehr gut. Vor ein paar Wochen gab es Probleme mit dem Kleinen. Krankenhaus, Fieber, Verdacht auf Blutvergiftung. Aber alles hat sich wieder eingerenkt. Danke der Nachfrage.” „Das ist gut.”, antworte ich. „Du siehst schlecht aus.”, bemerkt er. „Ich kann nicht schlafen.”, sage ich und füge hinzu: „Hier stinkt es schrecklich.” „Es stinkt nicht nur, es riecht einfach bestialisch nach Scheiße”, antwortet er. Er trinkt einen Schluck Cola und schlürft dabei. Eine junge, dünne Vietnamesin kommt an den Tisch und schnappt ihm unvermittelt den Teller vor seiner Nase weg. Er schmatzt noch leise, wohl absichtlich, um mir damit auf die Nerven zu gehen. Er putzt sich die Nase. Sieht mich sehr aufmerksam an. „Ich kann dir nicht viel erzählen”, sagt er. Ich lange in die Hosentasche, und er fügt hinzu: „Das ist der Moment, in dem du mir ein Geschenk überreichst. Ich danke dir dafür. Aber deswegen werde ich dir nicht mehr erzählen, verstehst du.” „Blutvergiftung, sagtest du? Das ist doch eine sehr ernste Krankheit”, sage ich. Ich lege zehntausend auf den Tisch. Schiebe es zu ihm rüber. Er räuspert sich, steckt es in die Jackentasche und versucht, nicht auf das Geld zu schauen. „Ich hab dir schon gesagt, jetzt ist alles in Ordnung.”, antwortet er. Ein witziger Versuch. Das heißt, er hält sich selbst für noch klüger und noch witziger, aber das ist verständlich, er funktioniert in einem Umfeld, in dem die Mehrzahl der Menschen an Hirnerweichung leidet. Er muss sie managen, muss ihren Anweisungen Folge leisten. Wodka mit ihnen trinken. Stümperhafte Berichte in Computer eintippen, die deutlich älter sind als die eigenen Kinder. Niemand weiß, dass ich mit ihm spreche. „Komm, wir gehen in mein Auto”, sagt er. Ich nicke. Wir stehen auf, gehen raus auf den Parkplatz; immer noch hält er die Hand in der Jackentasche, wo das Geld ist. Er raucht eine Zigarette. Wir steigen ins Auto. Er raucht auch im Auto, man kann das riechen; in seinem Auto stinkt es noch mehr als in diesem Bistro. Ein Saustall. Gepolsterte Ledersitze. Radio mit Kassettenteil. Überall leere Dosen, Energy-Drinks, McDonald's-Verpackungen, Hefter. Hinten ein schmutzig-rosafarbener Kindersitz, festgeschnallt mit dem Gurt. „Wir verbringen das ganze Leben im Auto, oder?”, fragt er. „Sprich über uns nicht im Plural”, antworte ich. „Ist schon gut. Wir machen das hier gemeinsam. Wir sitzen im selben Boot. Unsere Vorgesetzten kennen sich seit Jahren, sie sind wie Sandkastenfreunde”, sagt er. „Sie laden sich gegenseitig zu den Hochzeiten ihrer Kinder ein.” Ich weiß nicht, warum er das überhaupt erwähnt. Ich werde langsam ungeduldig. Ich habe den Verdacht, er quatscht hier erst eine Stunde über Belanglosigkeiten und dann wird er mir etwas verraten, was ich sowieso schon weiß. „Problematisch wird es, wenn Trockenheit herrscht. Wenn es ein, zwei Monate nicht geregnet hat”, sagt er und zündet sich eine neue Zigarette an der fast aufgerauchten an. „Dann muss ein Opfer gebracht werden. Irgendeine Jungfrau.” „Ich habe dich für etwas bezahlt”, erinnere ich ihn. „Denk bloß nicht, ich behandle dich hier wie einen Geschäftspartner”, antwortet er, „aber wir helfen uns gegenseitig, das steht außer Frage.” „Dann hilf mir”, sage ich. Er macht Musik an, uralten Rock, klingt wie Red Hot Chili Peppers, schaltet sein Telefon aus. Ich schaue ihn aufmerksam an. „Ich stecke in dieser Sache mit drin”, sagt er. „Viele Jungs stecken jetzt in dieser Sache mit drin, aus offensichtlichen Gründen. Das Fernsehen liebt die Masse. Ich weiß nicht, auf was für einen Deal er sich eingelassen hat, ich weiß nicht, was sein Anwalt vorgeschlagen hat. Das ist nicht mein Problem. Ich weiß, dass die Ware bei uns im Lager angekommen ist und dass sie zumindest so tun werden, als ob sie versucht hätten, herauszufinden, woher er sie hat.” „Ich will wissen, ob er mich verraten hat.”, sage ich. „Du willst wissen, ob er weiß, wo du zu finden bist?”, fragt er. Ich nicke. „Ich sehe, du bist schlau”, sagt er. „Und wenn du schlau bist, macht das nichts, was du hast, ist nicht auf deinen Namen.” „Nicht auf mich”, antworte ich wahrheitsgemäß. Ich bin in Olsztyn gemeldet, bei meiner Oma, in der Wohnung lebt jetzt mein Cousin mütterlicherseits. Ich bin dort als Arbeitsloser beim Amt gemeldet. Die Wohnung, in der ich lebe, habe ich bar bezahlt; sie ist Eigentum einer Person, die es nicht gibt. Die Bruchbude, in der ich die Ware gelagert habe, gehört offiziell einer Schwester von Pazina. Ich fahre ein Auto, das von der Firma meines Großhändlers geleast wird, sie vertreibt im Internet Handyzubehör. Für alle meine Handys verwende ich Prepaid-Karten. Ich besitze verschiedene Personalausweise und verschiedene PESEL-Nummern. Niemand weiß, wie ich wirklich heiße, mein richtiger Name hat seine Bedeutung verloren. Er ist verschwunden, hat sich verflüchtigt. Mit Geld kannst du untertauchen. Wenn du willst, kannst du mit Geld untertauchen. Es hat mich sehr viel gekostet, war aber meine beste Investition überhaupt. Aus dem Polnischen von Christian Prüfer ŁUKASZ ORBITOWSKI DIE ANDERE SEELE © Matys Studio / Od Deski Do Deski Łukasz Orbitowski (geb. 1977), Schriftsteller und Publizist, er gilt derzeit als einer der besten Autoren von Horrorliteratur in Polen. Neben unzähligen Erzählungen gehen ein gutes Dutzend Bücher auf sein Konto, mit denen er für polnische Literaturpreise nominiert wurde (Paszport Polityki, NIKE). Er ist auch Feuilletonist der Tageszeitung Gazeta Wyborcza und der Zeitschrift Nowa Fantastyka. Zu schreiben, dass Łukasz Orbitowski mit dem großartigen Buch Inna dusza [Die andere Seele] ein neues Kapitel in seinem künstlerischen Schaffen aufgeschlagen hat, verrät noch gar nichts. Denn die Sache ist ein wenig komplizierter. Man muss mit der Entstehungsgeschichte des Buches beginnen: Die Reihe „Na F/Aktach“ [Auf F/Akten], in der Die andere Seele als eines der ersten Bücher erschienen ist, soll, dem Herausgeber zufolge, „auf der Grundlage von Dokumenten, Anschuldigungen und Aussagen vor Gericht sowie Presseartikeln […] bekannte Verbrechen, die in den zurückliegenden Jahrzehnten begangen wurden, in Form von ausgeschmückten Geschichten präsentieren“. Orbitowski sah diese Ausgangssituation als künstlerische Herausforderung – und gewann auf ganzer Linie. Die andere Seele handelt von einem minderjährigen Mörder, einem Jungen aus gutem Hause und gescheiterten Konditor, der Mitte der 1990er Jahre im düsteren Bydgoszcz seinen Cousin und ein paar Jahre später seine junge Nachbarin ermordete. Für die Verbrechen gab es keine eindeutigen Motive – was, wie Orbitowski betont, entscheidend für ihn war, gerade diesen Fall zu wählen. Angeblich hat der Mörder, der in dem Roman als Jędrek auftritt, ausgesagt, dass ihn eine „andere Seele“ beherrscht habe und er habe tun müssen, was er getan hat. Die Handlung von Orbitowskis Roman erstreckt sich über mehrere Jahre, doch alle Episoden sind im Präsens geschrieben – ein großartiger stilistischer Kunstgriff, der der Erzählung Dynamik verleiht und Spannung erzeugt –, was nicht leicht ist, weil es kein Ermittlungsverfahren gibt, weil klar ist, wer der Mörder ist, und ebenfalls bekannt ist, dass er eine langjährige Gefängnisstrafe absitzt. Da die Motive für Jędreks Taten unbekannt sind, rekonstruiert Orbitowski die Begleitumstände, Szenerie, Topografie, das mutmaßliche Familienleben des Mörders, den mentalen Hintergrund jener Jahre in dem düsteren Bezirk einer düsteren Stadt. Das tut er, wie ich meine, meisterhaft, und zeichnet das Bild eines gewöhnlichen, hoffnungslosen Lebens, in dessen Zentrum das Verbrechen steht, ohne dass man wüsste, was der Grund dafür ist. Wenn man Orbitowski liest, kann man sich überlegen – und das verleiht dem Buch zusätzliche Spannung – welche Ereignisse auf Fakten beruhen und welche der Autor vermutet oder erfunden hat. Mit Sicherheit erfunden ist einer der Erzähler, Krzysiek, ein enger Freund von Jędrek, der eine Vermutung hat, wer das Verbrechen begangen haben könnte – und dessen ekelhafte Familie, in der der Vater, ein unheilbarer Alkoholiker und Mythomane, den der Autor überaus überzeugend skizziert, die erste Geige spielt. Bei dieser Gelegenheit greift Orbitowski zum wiederholten Male sein wichtigstes Thema auf: die Pubertät, das Ins-Leben-Treten von Jungen im frühkapitalistischen Polen. Und – sagen wir es noch einmal – er macht das wirklich großartig. Die andere Seele halte ich für ein außerordentliches Buch, an das man sich für lange Zeit erinnert. Ich meine auch, es ist ein neuer Beweis für die immer ausdrucksstärkere schriftstellerische Kunstfertigkeit Łukasz Orbitowskis. Marcin Sendecki ŁUKASZ ORBITOWSKI INNA DUSZA OD DESKI DO DESKI WARSZAWA 2015 145 × 210, 432 PAGES ISBN: 978-83-6515-700-3 TRANSLATION RIGHTS: OD DESKI DO DESKI Malwinas Geist DIE ANDERE SEELE verflüchtigt sich deutlich vor zehn Uhr und hinterlässt eine andere Art Gespenst: Langeweile. Nicht einmal Jędrek ist am Monitor – er hat sich auf den Boden plumpsen lassen, sitzt im Schneidersitz und sieht sich den Schrott dort unten an, sammelt die Disketten, Hefter, zerbrochenen Kugelschreiber zusammen und wirft sie auf einen Haufen an der Wand. Darek hat es aus einem anderen Grund gut gemacht. Hier wird nichts passieren. Wir werden so bis zum ersten Bus hier sitzen, die Jacken bis zur Nase zugezogen. Das Haus ist ungeheizt, die Fenster sind nicht dicht, aber es kommt noch schlimmer. Ich frage Jędrek, woher er von der Frau wusste, die mit dem Kabel von einem Bügeleisen erwürgt wurde. „Man spricht davon, und basta.“ Jędrek hat etwas Verpackungsfolie gefunden und lässt die Luftblasen knallen. Ich würde ihn bitten, dass er mir ein Stück gibt, aber das ist peinlich. „Die Leute erzählen verschiedene Dinge, wenn ihnen langweilig ist. Ich habe gehört, dass es noch ein wenig anders war, dass diese Tante einfach verschwunden ist. Ihr Kerl hat gesagt, dass sie mit jemandem abgehauen ist, aber in Wirklichkeit hat er sie mit diesem Kabel erledigt und im Keller eingemauert. Später ist er davon verrückt geworden, von dem Geist. Und sitzt überhaupt nicht im Gefängnis, sondern ist in einer Zwangsjacke losgelatscht, nach Świecie.“ Er rutscht auf dem Boden ein Stück weiter zu den durcheinander liegenden Kabeln. Eins nach dem anderen zieht er heraus. Ich frage, ob er das ernst meint oder ob er versucht, mir einen Schrecken einzujagen. Er zögert mit der Antwort. Ich wiederhole meine Frage. Jędrek legt das Kabel zurück und senkt den Blick zu Boden. Jedes Wort bereitet ihm Schwierigkeiten: „Ich bin zu dumm für solche Sachen. Ich meine nicht, dass ich überhaupt dumm bin, nur zum Nachdenken über solche Sachen bin ich nicht geeignet. Solche Geister, die sich auf Friedhöfen rumtreiben, gibt es bestimmt nicht. Die hätte jemand gefilmt, oder? Aber es gibt wahrscheinlich andere Geister, weißt du, solche, die in den Menschen leben neben unseren Seelen, den gewöhnlichen. Und sie wollen dort etwas. Manche sind still, andere laut. Sie brüllen und machen Lärm. Das ist nicht zum Aushalten. Das heißt, es scheint mir, dass das Leben mit einem solchen Geist in sich drin sehr schwer ist, besonders wenn er etwas will, auf was du keine Lust hast.“ Er wendet sich wieder seinem Schrott zu. Er sieht jetzt wie jemand aus, der Gegenstände eines ihm Nahestehenden ansieht, der kürzlich verstorben ist. Ich würde gern fragen, ob Wodka so ein Geist ist. Jędrek lehnt sich abrupt nach vorn. Er hebt einen Stahlstab auf, einen halben Meter lang. Wahrscheinlich stammt er von einem Zaun. Ich verstehe nicht, was vor sich geht. Jędrek ist schon auf den Beinen und geht zu der mit einem Vorhängeschloss gesicherten Tür. Er kommt nur noch einmal zurück, um seinen Rucksack zu holen. *** Ich weiche dem aufgebrochenen Vorhängeschloss aus, als würde es stinken, und lande nach Jędrek in dem zuvor abgeschlossenen Zimmer. Es ist dort schwül und sauber. Am Fenster steht ein Schreibtisch mit einer kleinen Lampe, daneben eine Autobatterie und ein Drehstuhl. Die Bretter des Regals sind leer, abgesehen von ein paar Fotoalben, die so weit oben stehen, dass ich mich auf die Zehenspitzen stellen müsste, um an sie heranzukommen. Auf dem Klappsofa finde ich eine Decke und ein Kopfkissen ohne Bezug. Die Wände riechen frisch. Ich schalte die Lampe an, unterdessen flitzt Jędrek zur Loggia und plagt sich mit der Tür ab. Als sie nachgibt, laufe ich durchs Zimmer und versuche zu ergründen, wozu es dient. In der Schreibtischschublade finde ich einen Stapel Papiere, obenauf einen Kreditvertrag. Die Kreditfirma Fortuna leiht einem gewissen Wacław Korczyński 7.000 Złoty und erläutert in langen Absätzen die Rückzahlungsmodalitäten. Ein Geleitbrief von Ganoven sieht daneben bestimmt aus wie ein Liebesbrief. Jędrek treibt sich währenddessen in der Loggia herum. Er lehnt sich an eine Säule und blickt in die Nacht. Ungewöhnlich sanft, als würde er sich gleich in Luft auflösen. Ich lege den Vertrag zurück. Die anderen Schubladen sind leer. Rund um das Bett liegen Taschentuchpackungen, jede Menge Taschentücher sind im Mülleimer, benutzt und verklebt. Unter der Decke, die in eine Vertiefung gedrückt ist, liegt Aloe-vera-Öl in einer kleinen Flasche aus weichem Plastik. Ich verstehe das nicht und rufe Jędrek, aber der rührt sich nicht. Es sind nur noch die Fotoalben übrig. Ich nehme das erste, schlage es auf. Diesmal kommt Jędrek sofort angelaufen. Jungen. In unserem Alter, viele jünger, sorgfältig hinter Folie geschoben. Halbnackt, beim Turnunterricht oder beim Baden. Ausgeschnitten aus Westzeitungen. Am Schluss finde ich ein einzelnes Polaroid-Foto, von oben aufgenommen. Mein Altersgenosse liegt auf einem Kissen, bunter Bettwäsche. Seine Augen sind wie dreckiges Wasser, sein Lächeln angespannt. Das ist die letzte Seite. Jędrek nimmt das Album, setzt sich auf das Sofa und sieht es sich an. Er geht mit seinem Gesicht nah an die Fotos und blinzelt, als wollte er jedes Detail erkennen: die vorstehenden Rippen, den Flaum auf dem Unterbauch. Das Zimmer beginnt zu wirbeln, gleich drücken die Wände meinen Kopf zusammen. Auf der Treppe hallen Schritte. *** Ich hätte schwören können – ein riesiger Kerl. So laut schallt es. Ich greife nach der Balkontür. Jędrek hebt träge den Kopf. Er legt das Album aufs Sofa. Nimmt den Rucksack und kramt darin rum. Er steht mit dem Rücken zu mir, also weiß ich nicht, was er hervorgezogen hat – obwohl ich es doch weiß, nur möchte ich es lieber nicht wissen. Ich stürze auf die Loggia und schätze die Höhe ab. Unten sind Büsche. Das Geräusch der Schritte wird lauter. Wer auch immer gekommen ist, ist schon im ersten Stock und sieht gleich, jeden Moment, die offene Tür zu seinem Rückzugsort. Ich zische Jędrek zu. Pfeife, damit wir abhauen, aber er rührt sich nicht. Schließlich kann ich ihn nicht allein lassen. Ich will aber auch nicht Zeuge dessen werden, was gleich geschieht. Ich springe ins Zimmer und reiße Jędrek am Ärmel. Er dreht sich plötzlich um, bleckt seine Zähne und macht eine Miene, als würde er mich nicht erkennen. Das dauert nur einen Moment. Er setzt den Rucksack auf, schließt den Gurt und gemeinsam springen wir vom Balkon, genau in dem Moment, als ein Typ in Lederjacke, mit Zigarette und prall gefüllter Plastiktüte in der Tür steht. Ich hechte ins Unkraut ohne mich umzusehen. Jędrek jagt zum Tor und ich hinterher. Ich fliege beinahe über den Zaun. Erst auf dem Weg erlaube ich mir einen Blick zurück. Herr Korczyński hat die Tüte fallen lassen. Eine Hand klammert sich ans Geländer der Loggia, die andere hat er in ohnmächtiger Wut erhoben, aber sein Gesicht ist nicht zu erkennen, es verschmilzt mit dem Haus. Wir halten nicht an der Wendeschleife an, sondern erst einen Kilometer weiter. Das Dickicht bietet uns Schutz. Ich halte mich an einem Stamm fest und keuche, Jędrek schnauft auch. Ich weiß nicht, was ich sagen soll, also sage ich irgendwas. Sofort, gleich die Polizei. Sollen sie ihn einlochen. Jędrek hat keine Lust zu sprechen, er schüttelt nur den Kopf, spuckt aus, beugt sich vor und stützt seine Hände auf die Oberschenkel. Wir verharren so ein paar Minuten, Dampf steigt aus unseren Mündern auf. Wir hören Motorenlärm, auf dem Weg blitzen die Lichter eines Autos auf. Wer auch immer damit fährt, er hat jedenfalls keinen Bleifuß. Wir pressen uns auf die Erde und die Lichter fahren langsam an uns vorbei. Ich kann nicht erkennen, wer der Fahrer ist, die Automarke auch nicht. Die nächsten schweren Augenblicke verbringen wir hockend, verborgen hinter Bäumen, bis Jędrek das Zeichen zum Aufbruch gibt. Ich blicke mich nicht einmal um. Wir laufen Richtung Bydgoszcz, es ist dunkel und ruhig. Jedes Mal, wenn wir ein Auto hören, verstecken wir uns im Gestrüpp oder auf einem Hof. Wir tauschen Blicke, hören unseren eigenen Atem. Ich würde mich gern hinter Jędrek verstecken. Ich würde hinter seinen gewaltigen Ausmaßen verschwinden, aber ich würde ihn auch verteidigen, wenn das notwendig sein sollte. Anfangs geht Jędrek gebeugt, mit weichen Knien. Als der Lichtschein der Stadt in ein Gewimmel von Lichtpunkten, Nachtbussen, Tankstellen und Nachtschwärmern zerfällt, wird Jędreks Schritt wieder kraftvoll. Wir verstecken uns nun nicht mehr am Straßenrand, weil Jędrek stark ist und ihn nichts vom Weg abbringt. *** Es ist bald drei Uhr. Jędrek verabschiedet sich, springt aus dem Nachtzug und läuft mit schnellen Schritten durch Bydgoszcz-Fordon, ohne auf den Boden zu blicken. Die Stille des Hauses, in dem sie waren, begleitet ihn bis hierher. Jędrek senkt den Kopf und wird noch schneller. Er joggt auf die Gordon-Straße, nur um sich auf eine Bank fallen zu lassen. Er starrt auf das Fenster seines eigenen Zimmers, knöpft die Jacke zu, versucht den Kragen über die durchgefrorenen Ohren zu ziehen, doch dabei entblößt er seinen Bauch. Er schiebt sich also das Sweatshirt in die Hose. Anstatt nach oben zu gehen, zu sich, nimmt er die Treppen nach unten in den Keller. Den Zugang dorthin verweigert ihm eine Stahltür, die Jędrek nicht öffnen kann. Er rüttelt an der Klinke und setzt sich in den Vorraum unter ein hoch gelegenes Fensterchen. Den Wecker in seiner elektronischen Armbanduhr stellt er auf sieben Uhr. Er schiebt sich die Hände unter den Kopf und schläft sofort ein. Aus dem Polnischen von Benjamin Voelkel MAŁGORZATA SZEJNERT BERGE AUFSCHÜTTEN. GESCHICHTEN AUS POLESIEN © Tadeusz Poźniak / Reporter Małgorzata Szejnert (geb. 1936) – Reporterin, Autorin und Koautorin von gut einem Dutzend Non-Fiction-Büchern, Mitbegründerin der Gazeta Wyborcza, in der sie 15 Jahre lang das ReportageRessort leitete. Finalistin des Literaturpreises NIKE, des Gdynia-Literaturpreises und des Mitteleuropäischen Literaturpreises „Angelus“. Der Untertitel gibt Form und Charakter des jüngsten Werkes von Małgorzata Szejnert gut wieder. Denn Usypać góry [Berge aufschütten] ist keine historisch-politische Monografie über Polesien, keine umfassende Abhandlung über Geschichte und Kultur dieser Region; es ist eine Sammlung verschiedener Geschichten und Anekdoten, die mit der Gegend am PrypjatFluss zusammenhängen. Sie sind hochinteressant, informativ und unterhaltsam. Polesien hat Reisende und Ethnografen schon seit langem fasziniert. Da erstreckt sich im geografischen Herzen Europas eine weitläufige Tiefebene, bedeckt von einem dichten Netz aus Seen und Flüssen, berühmt für ihre undurchdringlichen Sümpfe und ihren sehr alten Urwald, die die Menschen aus dem Westen mit ihrer zivilisatorischen Rückständigkeit in den Bann zieht. Der Archaik und „Wildheit“ Polesiens wollte Louise Boyd begegnen, eine amerikanische Millionärin und Arktisforscherin – an deren Expedition im Jahr 1934 erinnert Szejnert zu Beginn. Doch sie geht schnell zur Frage der Identität über, die in diesem Buch eindeutig überwiegt. Die grundlegende Frage lautet: Wer waren die Einwohner Polesiens bis vor kurzem und wer sind sie heute? Über viele Jahrhunderte sprach man von der nationalen Vielfalt der Region, der polnisch-weißrussisch-litauisch-jüdischen Mischung. Am interessantesten schienen jene Menschen zu sein, die die üblichen Rahmen der Identität sprengten, die selbst eine einfache Identifikation vermieden. Es waren „Hiesige“, die einst, wenn wohl auch irrtümlich, Poleschuken genannt wurden. Irrtümlich, weil sie nie eine größere ethnische Gruppe darstellten; die Identität der „Hiesigen“ fußte auf ihrem lokalen Dialekt, der sich manchmal auf wenige Dörfer und Weiler beschränkte. Szejnerts anthropologischer Blick ist durchsetzt mit historischen Reflexionen. Die Besonderheit des Landstrichs, durch den uns die Autorin führt, ist seine politische Wandelbarkeit und das Fehlen einer dauerhaften Verwurzelung. Polesien gehörte nacheinander zum Großfürstentum Litauen, zur Republik Polen-Litauen, zum zaristischen Russland, dem Polen der Zwischenkriegszeit, der UdSSR und seit fast einem Vierteljahrhundert zum souveränen Staat Belarus. Es handelt sich also um ein Gebiet, in dem soziale, kulturelle und religiöse Konflikte ausgetragen wurden. In Bezug auf diese religiösen Fragen erklärt Szejnert unter anderem auf sehr spannende Weise, wie es dazu kam, dass sich die Pfingstbewegung zur drittgrößten Religion in Belarus entwickelte. Überhaupt sind die Erzählungen über das heutige Belarus außerordentlich interessant, und ganz nebenbei ruft die Reporterin dem polnischen Leser ins Bewusstsein, dass dieser kaum etwas über das Nachbarland weiß, zumal er normalerweise der hiesigen Propaganda ausgeliefert ist, die sich gegen das diktatorische Regime von Alexander Lukaschenko richtet. Aber das ist nicht die einzige Korrektur, die die Autorin in ihrem imponierenden Buch vornimmt. Sie ermuntert uns ebenfalls, einen frischen Blick auf den Mythos des „Verlorenen Landes“ zu werfen, legt uns nahe, dass es angebracht sei, endgültig die Phantasie eines „ostpolnischen Paradieses“ aufzugeben, in dem die Völker und Religionen angeblich friedlich zusammenlebten. Außerdem versucht die Reporterin – unauffällig und klug –, uns eine postkoloniale Sensibilität zu vermitteln, indem sie sich kritisch äußert über Maßnahmen, die einer Polonisierung Polesiens dienen sollten. Małgorzata Szejnert interessiert sich wie eh und je für die Schicksale einzelner Helden – eigentlich erzählt sie die Geschichten aus Polesien nur aus dieser Perspektive. Dabei zeigt sich ihre außergewöhnliche Wissbegierde. Was hat den britischen General (Adrian Carton de Wiart) dazu bewogen, sich in der Einöde Polesiens niederzulassen? Warum hat Fjodor Klimtschuk die Übersetzung der Bibel in die Sprache seines Heimatdorfes Symonowicze auf sich genommen? Die gleiche, fast schon detektivische Wissbegierde betrifft die Schicksale außergewöhnlicher Persönlichkeiten, die mit Polesien zu tun haben, etwa Napoleon Ordas, eines belarussischen Grafikers, der im Alleingang die Schönheit der Landschaft und Architektur der einstigen Ostgebiete festhielt. Es ist schwer, nur ein einziges unter den 17 Kapiteln der Geschichten aus Polesien auszuwählen. Manche von ihnen erscheinen, obwohl sie den Fakten treu sind, schlicht sensationell. Zum Beispiel die Erzählung von der polnischen FlussFlotte, die, wie wir lesen, „aus großer Sehnsucht nach dem Meer geboren wurde zu einer Zeit, als Polen nicht mal einen kleinen Küstenstreifen sein Eigen nannte“ (erste Jahre der Zweiten Polnischen Republik). Auch der Titel des Buches geht auf eine Sehnsucht zurück. Vom Aufschütten eines Berges ist in dem Gedicht des jungen ukrainischen Dichters Uladsja Lankewytsch die Rede, der eine walisische Legende aufgriff. In ein gewisses tief gelegenes Dorf kamen englische Kartografen, die die örtliche Anhöhe nicht als Berg anerkennen wollten, was die Waliser zur Arbeit mobilisierte. Der Dichter meint, dass die heutigen Belarussen, metaphorisch gesprochen, vor derselben Aufgabe stehen; natürlich geht es ihm nicht um den Berg, sondern um den Nationalstolz. Da gibt es noch viel „aufzuschütten“. Dariusz Nowacki MAŁGORZATA SZEJNERT USYPAĆ GÓRY. HISTORIE Z POLESIA ZNAK, KRAKÓW 2015 165 × 235, 416 PAGES ISBN: 978-83-240- 3287-7 TRANSLATION RIGHTS: ZNAK RIGHTS SOLD TO: BELARUS (LOHVINAU) Louise Arner Boyd, BERGE AUFSCHÜTTEN. GESCHICHTEN AUS POLESIEN die von amerikanischen Reportern Eiskönigin oder Diana der Arktis genannt wird, fährt in einem Packard und mit eigenem Chauffeur nach Polesien. Den Wagen und den Chauffeur Percy Cameron, der seit 20 Jahren für sie arbeitet, nimmt sie aus der Familienresidenz bei San Francisco mit sich. Es ist das Jahr 1934. Ob Boyd wusste, welche Wege auf sie warteten? Ich fahre in das Globetrotter Geschäft in Warschau, um alte Karten von Polesien zu kaufen. Sie ließen Cameron keine große Wahl. Das bestätigte mir der Reiseführer Dr. Michał Marczaks aus dem Jahr 1935: Es gibt 710 Kilometer befestigte Straßen in der Woiwodschaft Polesien, aber in den drei östlichen Landkreisen Pinsk, Luninez und Stolin überhaupt keine. Die Autoren eines Berichts der Gesellschaft für die Entwicklung der Ostgebiete warnen davor, dass Polesien, falls die Investitionen in die Straßen nicht ausgeweitet werden, 140 Jahre wird warten müssen, bis es über ein Netz befestigter Straßen von einer Dichte wie in Zentralpolen verfügt. Louise Boyd möchte in Pinsk eine Basis für ihre Expeditionen errichten. Zu Recht! Der erwähnte Reiseführer verzeichnet, dass es dort 13 Hotels und 5 Unternehmen mit möblierten Zimmern gibt. Beachtenswert sind das Englische Hotel in der Kościuszko-Straße 2, das Hotel Warschau in der Kościuszko-Straße 35 und das Hotel Venedig in der Nabrzeżna-Straße 62. Aus andern Quellen ist bekannt, dass das Englische Hotel über Badewannen verfügt. Das Wasser wurde gewiss vom Brunnen herbeigetragen. Und was, wenn Percy im unwegsamen Gelände den Packard beschädigt? In Pinsk kann man ihn in die Werkstätten der Kriegsmarine abschleppen. In Prużana führt der Schlosser und Mechaniker Stanisław Mącziński Reparaturen aus (er hat einen Apparat zum Schweißen von Metall), und in Bereza Kartuska muss man sich bei Kalman melden, in der Marktgasse. * Über Louise Boyd wurde jede Menge geschrieben. Manche Texte sind feministisch gefärbt. In San Rafael bei San Francisco, im Gate House, das zu den Gütern ihrer Familie gehörte, wurde ein Museum eröffnet; es beantwortet bereitwillig meine Mails. Die Objekte, die einst Boyd gehörten, sind hübsch zusammengestellt: Neben einem Opernglas, verziert mit Gold und Perlmutt, liegt ein schwarzer Feldstecher, neben einem PicknickService aus Silber mit eingraviertem Monogramm eine schwere Reisetruhe. In der Nationalbibliothek in Warschau ist ihr Buch Polish Countrysides. Photographs and Narrative (Polnische Landschaften. Fotografien und Beschreibungen) erhalten geblieben, das 1937 in New York von der American Geographical Society herausgegeben wurde. Es enthält eine Reisebeschreibung, etwa 500 Fotos, thematische und geografische Kommentare, Karten und ein Register. Niemals ist es in Polen in Gänze publiziert worden, es ist eine bibliothekarische und antiquarische Rarität. * Ich sammelte Informationen über Louise Boyd und las immer mehr über Polesien Mitte der dreißiger Jahre des vergangenen Jahrhunderts, als sie dort war. Ich begann in Bibliotheken und Archiven Kopien interessanter Drucke, Handschriften und Dokumente zu bestellen, die sich auf weit zurückliegende Zeiten bezogen oder auch von heute stammten. Ich fotografierte Zeitungen auf Mikrofiches, auch wenn der schräge Bildschirm des Lesegeräts das Bild verzerrte. Diese Informationen hatten nichts mehr mit Boyds Expedition zu tun. Von Polesien begeisterte Heimatkundler ermunterten beispielsweise dazu, Ovids Grab zu besuchen. Der glücklose, aus Rom verbannte Dichter soll in einem Grabhügel bei der Mündung der Zna in den Prypjat, nahe Kożangródek (Kaschan-Haradok) ruhen, obwohl er zahlreichen historischen Quellen zufolge in Tomis, dem heutigen Constanța am Schwarzen Meer, bestattet wurde. Dort ist ihm auch ein Denkmal errichtet worden. Die Legende über Ovids Grab an der Zna wiederholte sich so beharrlich, dass sie mich ins Grübeln brachte – vielleicht wollte Polesien dem Verbannten und Tyrannenopfer eine Ehre erweisen, wie sie nicht vielen Bewohnern der Region vergönnt war, die verbannt wurden, fielen, ermordet wurden oder einfach verschwanden. Den Heimatkundlern zufolge hatte Herodot über das Polesische Meer geschrieben und die Völker an seinen Ufern erwähnt: Die Budinoi, Geten und Neurer. Ich fand die betreffende Stelle in den Historien. Die Budinoi hatten sehr blaue Augen und feuerrotes Haar. Sie errichteten Bauten aus Holz. Die Geten glaubten an die Unsterblichkeit der Seele, aber sie ließen sich leicht vom mächtigen König der Perser unterwerfen. Die Neurer waren Zauberer. Einmal im Jahr verwandelte sich jeder von ihnen für einige Tage in einen Wolf, dann nahm er wieder seine frühere Gestalt an. Zwar glaube er nicht an diese Märchen, versichert Herodot, nichtsdestoweniger behaupteten sie das und beschwüren es. * […] Mein Interesse, das anfangs Louise Boyd galt, wurde immer breiter. Doch wenn ich nun einmal mit der Amerikanerin begonnen habe, so folgen wir ihr nach Kudrycze. Louise Boyd war ambitioniert, mutig, ja sogar verrückt, aber bestimmt nicht sentimental. Ihr liebevollstes Foto aus Polesien zeigt ein in Kudrycze auf einem Kohlblatt gebackenes Brot. Auf der Unterseite des Brotlaibs zeichnen sich Äderchen und Wülste ab. Die Arme, die es mit dem gebührenden Respekt halten, sind schwer und abgearbeitet. Das Dorf Kudrycze liegt 25 Kilometer von Pinsk entfernt, dort wo sich vor dem Krieg eine weite Sumpffläche erstreckte und keine andere Fortbewegung als auf dem Wasser möglich war. Dr. Marczak zitiert in seinem Reiseführer Prof. ������ Stanisław������������������������������������������������� Kulczyński, einen berühmten Botaniker und Erforscher der polnischen Flora: Südöstlich von Pinsk, im Herzen Polesiens, beim Zusammenfluss der Flüsse Prypjat, Pina, Styr und Jasselda, liegt eins der größten Moore Polesiens, das sogenannte Pinsker Meer. Diese unendliche Ebene, die sich über etwa 250.000 Hektar erstreckt, wird durchzogen von einem verworrenen Geflecht aus Flüssen und Flüsschen, auf denen nur ein von hier stammender erfahrener Fischer den Weg zu finden vermag. Im Frühling bedecken die angeschwollenen Flüsse diese Ebene mit einem gleichmäßigen Wasserspiegel, im Sommer erscheinen auf dem Pinsker Meer unermessliche Schilf- und Röhrichtfelder. Die Eintönigkeit der Landschaft und ihre Weite in Verbindung mit den unüberwindbaren physischen Hindernissen, denen sich der Wanderer ausgesetzt sieht, der versucht sich durch dieses Gewirr aus hohen Gräsern und Röhricht voller sumpfiger Stellen zu kämpfen, zeigen nicht nur ihre Schönheit, sondern wecken auch das nackte Grauen. Das Trockenlegen der Moore, die nach dem Krieg in Weißrussland mehr als eineinhalb Millionen Hektar bedeckten (von knapp drei Millionen Hektar Landesfläche), bewirkte, dass man heute – einer aktuellen Karte zufolge – auf Rädern nach Kudrycze fahren kann. Im Norden des Dorfes fließt die Jasselda mit ihren unzähligen Bögen und Windungen; einen ähnlich verrückten Lauf haben der Styr und der Prypjat. Die heutige Karte zeigt weder eine Brücke noch eine Überfahrt, als würde hinter der Jasselda die Welt aufhören. * Wir sind mit dem alten Auto von Wital Jautuchowitsch unterwegs, der sich hervorragend auskennt. Er fährt mich manchmal. Fürsorglich und neugierig wie er ist, hat er auch selbst ein Interesse an unseren Ausflügen – er beobachtet die Felder und die Landarbeit. Er weiß, welche Gebiete vielversprechend sind. Wenn dort gerade ein Kolchostraktor pflügt, kehrt Wital ein paar Tage später zurück und sieht sich die Furchen an. Mit Freude zeigt er mir die Fundstücke. Wir fahren an feuchten Wiesen mit vielen gelben Blumen, runden Grasbüscheln und bunten Gräsern vorüber. Ich denke, dass wir langsam fahren, um hinauszusehen, aber es ist Witals Wagen, der die Zusammenarbeit verweigert. Er kann jeden Moment ganz stehenbleiben, doch der Weg ist leer und niemand wird uns ins Schlepptau nehmen. Im Jahr 1934 hat Louise Boyd flüchtig den Verkehr in Polesien untersucht. Auf der belebten Straße zwischen den Orten Różana und Prużany zählte sie innerhalb einer Stunde, zwischen ein und zwei Uhr am Mittag, 52 Fußgänger, 82 Pferdewagen und fünf Fahrräder. Eine Stunde später untersuchte sie den Verkehr auf dem darauffolgenden Streckenabschnitt, nordwestlich von Prużany. Dort zählte sie 57 Fußgänger, 66 Pferdewagen, 16 Fahrräder, ein Auto und ein Motorrad. Percy lenkte das Auto vorsichtig, doch schon allein der Anblick des Packard scheuchte die Menschen und Pferde auf, und das umso stärker, je weiter die nächsten Städte entfernt lagen. Zunächst fürchteten sich die Menschen, dann wurden sie neugierig. Die Pferde flohen vom Weg aufs Feld, die Fuhrwerke hinter sich herziehend, oder sie bäumten sich über der Motorhaube auf. Nach ihrer Rückkehr nach Amerika notierte Louise folgende statistischen Daten: Im Jahr 1935 kamen in Polen auf tausend Einwohner 0,7 Autos, in Schweden waren es mehr als 22, in Deutschland knapp 12, in der Tschechoslowakei fast 7,5 und in Rumänien fast zwei. Auf den Straßen Polesiens fühlte sie sich wie in den USA zu Beginn des Jahrhunderts. Das war sogar angenehm. Aus dem Polnischen von Benjamin Voelkel WOJCIECH JAGIELSKI LARAS KRIEGE © Krzysztof Dubiel / The Polish Book Institute Wojciech Jagielski (geb. 1960), Schriftsteller und Reporter mit den Spezialgebieten Afrika, Zentralasien und Kaukasus. Er arbeitete viele Jahre lang für die „Gazeta Wyborcza“. Jagielski wurde bereits mit zahlreichen Literatur- und Journalismuspreisen ausgezeichnet. Seine Bücher wurden u.a. ins Englische, Spanische, Niederländische und Italienische übersetzt. Ein Verhängnis schwebt über dieser Geschichte. Es schwebt über Lara, der Hauptfigur in Wojciech Jagielskis neuestem Buch, und über den Menschen, die sie vor ihm bewahren möchte. Denn, sagt Lara, die Völker sind zu hundert Jahren Einsamkeit verurteilt und haben keine zweite Chance mehr auf Erden. Das Volk, aus dem Lara stammt, sind die Kisten, „Menschen aus dem Land der Pforten“, obwohl sie selbst die Türen gar nicht wirklich kennen, in deren Schatten sie leben, die kaukasischen Bergbewohner aus dem ostgeorgischen Pankissi-Tal. Sie sprechen eine Sprache, die dem Tschetschenischen ähnelt, bekennen sich zum Islam, es gibt Sufis, sie beten hin und wieder aber auch in einer orthodoxen Kirche. Jahrhundertelang haben sie so gelebt in ihrem Grenzgebiet, weit entfernt von den Ereignissen der Welt. Und den Kriegen. Aber auch hier hat sich das Verhängnis schließlich zusammengebraut, und es hat Tal und Bewohner unwiderruflich verändert. Dieses Mal ist nicht Wojciech Jagielski selbst, der langjährige Kriegsreporter und Reportage-Autor, in ein Kriegsgebiet gefahren. In den Krieg gezogen ist Lara – „nicht mehr junges Mädchen, noch nicht alte Frau“ –, aufgewachsen in einem Dorf im Pankissi-Tal, als Erwachsene umgezogen in eine große Stadt, wo sie Lehrerin oder Schauspielerin werden wollte. Doch das Leben beschloss, unmerklich für sie, seine Richtung zu ändern: Sie wurde Ehefrau, Mutter zweier Söhne, Schamil und Raschid, und dann, weil der Krieg schlussendlich auch zu den Kisten kam, Schutzsuchende auf der Flucht vor ihm. Jagielski schildert Laras Leben, flicht in ihre Biografie die Geschichte des Tales ein, die Geschichte der – früheren und heutigen – Georgier und Tschetschenen, der Völker des Kaukasus, die in so viele Kriege verstrickt sind, und auch die Geschichte der Menschen, die diese Kriege ausgerufen haben und für sie lebten. In der Erzählung der Frauen erreicht der Krieg eine ganz andere Dimension, ist eine Geschichte von Angst um die Nächsten und von der Kraft, die aus dieser Angst erwachsen kann. Diese Kraft ist es, die Lara zu ihrer Reise trieb, aus ihrem Heimatdorf geradewegs in die Trümmer von Aleppo und die größte humanitäre Katastrophe der letzten Jahre – den Konflikt in Syrien. Sie ist hingefahren, um Schamil zu retten, ihren Erstgeborenen. Als sie nach dem Krieg mit ihren Söhnen in das Tal zurückkam, wurde ihr schnell bewusst, dass es ihr unter all den Kriegern, Partisanen und bei den überall spürbaren Spannungen nicht möglich sein würde, sie zu schützen. Dass auch sie würden kämpfen wollen. Sie schickte die beiden nach Europa, wo das bessere Leben, der Frieden, die Normalität warten sollten, nach denen sie sich für sie sehnte. Es schien ihr, als seien sie gut dort angekommen, wenn sie in ihren Telefongesprächen über das Internet hörte: „bei uns in Europa“. Nach einiger Zeit begann sie unruhig zu werden, weil ihre Söhne doch wieder häufiger „sie“ sagten als „wir“, Koranverse zitierten, sich die Bärte immer länger wachsen ließen. So musste Lara in den Krieg ziehen – den heiligen Krieg, dem beide Söhne sich als Mudschaheddin angeschlossen hatten –, um ihnen zu sagen: „Leben soll man, nicht sterben“, die entscheidenden Worte, die man, das glaubte sie fest, begreifen muss, die wichtigste Botschaft, der sie zuwiderhandelten, obwohl sie sie nicht so erzogen hatte. Gehorsam sollten sie sein, sagt Lara. Es einmal besser haben als sie selbst. Das zu schätzen wissen und nicht verschmähen. Und schon gar nicht, um stattdessen zu kämpfen, vor dem Krieg hatte sie die beiden schließlich bewahren wollen. Gegen diesen Krieg führte sie ihren eigenen. Laras Kriege ist ein Buch, das sich starren Gattungszuweisungen entzieht. Vom Aufbau her kommt es einem Roman nahe, mit der Narration der Titelfigur als Achse, scheut jedoch auch keine Fakten, sie sind lediglich nicht sein Ausgangspunkt. Sie sind die Substanz dieses Buches, auf die es konsequent zurückkommt; sie sind der Inhalt, von dem die Geschichte lebt. Aus einem kaukasischen Dorf nimmt diese Geschichte uns mit in die Trümmer des syrischen Krieges und zeigt, wie nah diese beiden Orte beieinanderliegen. Jagielski erweitert die Grenzen der Reportage – oder eher: bereichert die Reportage – durch seine eigene, sehr persönliche Methode, vom Leben anderer zu berichten. Es ist ein schmerzhaft authentischer Bericht, verfasst mit Sensibilität und literarischer Kunstfertigkeit. Magdalena Kicińska WOJCIECH JAGIELSKI WSZYSTKIE WOJNY LARY ZNAK, KRAKÓW 2015 140 × 205, 240 PAGES ISBN: 978-83-240-3875-6 TRANSLATION RIGHTS: ZNAK ALS DER LOTSE LARAS KRIEGE sie am nächsten Morgen abholen kam, saß Lara auf der Matratze, längst angezogen, mit gepackten Sachen, wegbereit. So sehr sehnte sie den Moment herbei, dass sie die Hitze gar nicht spürte, die gleich nach Sonnenaufgang einsetzte. Auch Erschöpfung und Schlafmangel nahm sie nicht wahr. Sie hatte sich geschworen, geduldig und stark zu sein, doch dieses Warten, das sich in die Länge zog, ging über ihre Kräfte. Sie hatte Angst, Zeit zu verlieren, und jede Verzögerung bedeutete eine Gefahr, dass die Dinge schiefgehen und wieder etwas sie aufhalten könnte. Sie gingen ein Stockwerk tiefer in den Computerraum, in dem Lara am vorigen Tag gewartet hatte. Seit dem frühen Morgen wimmelte es hier von Menschen, und die arabischen Mudschaheddin registrierten die Neuankömmlinge. Wieder hatte sie den Eindruck, etwas zu erleben, was sie schon einmal mitgemacht hatte. Und dass es nun immer so weitergehen würde, dass sie nie mehr aus dieser Zeitschleife hinauskäme, nie zu Schamil gelangen, ihn nicht vor dem Tod bewahren könnte, und dass auch sie selbst niemand wiederfinden würde, sie für immer hierbleiben müsste. „Schischani, Schischani“, hörte sie und wandte den Kopf. Ein Araber in grauer verschlissener Tunika zeigte mit dem Finger auf ein paar junge Männer, die im Flur auf ihre Registrierung an den Computerplätzen warteten. Vertieft in ihre eigenen Zwiespälte und Ängste hatte sie gar nicht bemerkt, dass die Männer – fünf waren es, sie sahen aus wie Jugendliche – sie verstohlen beobachteten, als wollten sie sie ansprechen, trauten sich aber nicht und warteten auf eine Aufforderung von ihr. „Seid ihr aus unserer Gegend?“, fragte sie auf Tschetschenisch. Sie bejahten freudig, betrachteten das als Einladung und kamen näher, musterten sie mit unverhohlener Neugier. „Aus Gudermes“, erklärte der Kleinste, er sah älter aus als die anderen. „Stimmt es, dass Sie Abu Mohammeds Mutter sind?“, fragte er gleich darauf. „Ihr kennt meinen Sohn?”, fragte sie erstaunt zurück. „Abu Mohammed? Wer kennt ihn nicht!”, wunderte sich der Tschetschene. Sie kannten Schamil aus den Filmen, die die Mudschaheddin auf ihren Internetseiten platziert hatten. Darin erzählten Partisanen vom Krieg in Syrien und ermunterten Interessierte, sich für das Partisanenheer anwerben zu lassen. Andere Mudschaheddin hielten ihre Gesichter bedeckt, wenn sie über den Krieg sprachen, damit keiner sie erkannte. Abu Mohammed sprach als einer der Wenigen offen, er verbarg sich vor niemandem. „Mein Schamil?“ – Sie konnte es nicht glauben. „Abu Mohammed“, verbesserte sie der Tschetschene unsicher. „Den anderen haben wir nicht vertraut, aber Abu Mohammed haben wir jedes Wort geglaubt.“ Sie wollten wissen, ob sie tatsächlich unterwegs nach Syrien sei, um ihren Sohn zu sehen, und als sie bejahte, nickten sie anerkennend. „Ich fahre ihn nicht besuchen, sondern hole ihn aus dem Krieg nach Hause“, sagte sie. Die Jungen lachten, als hätte sie etwas Lustiges gesagt. Das brachte sie aus der Fassung. „Und ihr, was sucht ihr dort?”, fragte sie zornig. „Wissen eure Mütter und Väter, dass ihr hier seid?“ Wieder lachten sie. Der Kleinste, Älteste, der mit ihr gesprochen hatte, erwiderte, er habe seiner Familie gesagt, er fahre in die Türkei, Arbeit suchen. Sie hatten ihm geglaubt. Er war zwanzig Jahre alt, und seine Eltern hatten ihn kürzlich, ohne ihn nach seiner Meinung zu fragen, mit einem Mädchen aus dem Nachbardorf verlobt. Seinem Vater war nicht einmal in den Sinn gekommen, er könnte sich seinem Willen widersetzen. Darüber, sich für den Krieg in Syrien anwerben zu lassen, hatte er schon länger mit seinen Freunden gesprochen. Es waren doch wohl genug tschetschenische Jungs hingefahren? Und von denen wussten sie, was im Krieg zu erwarten war. Er sagte, für andere wolle er nicht sprechen, wisse aber, dass viele aus Glaubensgründen nach Syrien fuhren. Sicher sei es gut, einer guten Sache zu dienen, aber er selbst fahre, das gebe er ehrlich zu, um etwas Bedeutendes zu erleben, und natürlich in der Hoffnung, Geld zu verdienen. Er habe gehört, dass die Partisanen im Syrienkrieg Beute machen dürften, und viele täten das auch. Später nahmen sie die Güter mit in die Türkei, verkauften sie und fuhren dann mit barer Münze in den Kaukasus zurück oder konnten Geld nach Hause schicken. [...] Der zweite Tschetschene, ein jüngerer, hatte zu Hause gesagt, er bräuchte Geld, um zum Studium nach Europa zu gehen. Die Familie legte ihre Dollar zusammen, und er kaufte sich davon ein Flugticket nach Istanbul. Er sagte ihnen nicht die Wahrheit, denn sonst hätten sie ihn aufzuhalten versucht, den Pass abgenommen, dabei fand er, die Beteiligung an einem Krieg wie in Syrien sei die heilige Pflicht eines Muslims. Dasselbe sage übrigens ihr Sohn Abu Mohammed in den Partisanenfilmen. Er wollte auf der Seite seiner muslimischen Brüder und Schwestern gegen den gottlosen Baschar al-Assad aus Damaskus und seine Armee kämpfen. „Und hat einer von euch an seine Mutter gedacht?“, sie hörte einen bittenden Tonfall in ihrer Stimme mitschwingen, und das machte sie wütend. „Sie haben euch zur Welt gebracht. Ihnen seid ihr Gehorsam schuldig, nicht den Emiren. Gott wird euch strafen für das Leid, das ihr ihnen antut. Er wird dieses Opfer alles andere als gern sehen.“ Sie wollte noch sagen, dass der Koran selbst es verbiete, Mütter so zu behandeln, hielt sich aber gerade noch rechtzeitig zurück. Sie kannten das Heilige Buch wahrscheinlich in- und auswendig, ganz bestimmt aber besser als sie. Deswegen sagte sie nur noch, nicht auf seine Mutter zu hören sei eine schwere Sünde, dann riss das Gespräch ab, weil die Araber an den Computern die Tschetschenen aufriefen. Die jungen Männer gingen hin und setzten sich an die Tische, um Formulare auszufüllen, und danach stellten sie sich mit den Mudschaheddin zum gemeinsamen Foto auf, als Beweis für die geglückte Anwerbung. Später erfuhr sie, dass die Anwerber für jedes Foto mit einem neuen Rekruten Geld bekamen. Einer der Araber kam zu Lara und reichte ihr wortlos ein Handy. „Hier ist Schamil. Gleich bringt dich jemand zu mir”, hörte sie eine Stimme im Hörer. Die arabischen Mudschaheddin nahmen Lara und die fünf Tschetschenen mit hinaus auf die Straße, wo ein Minibus mit Fahrer wartete. Sie sollten alle ihre Sachen mitnehmen. Nach einer halbstündigen Fahrt hielten sie an und stiegen auf Anweisung der Araber in zwei Personenwagen um. Noch eine Viertelstunde, vielleicht auch länger, und sie machten wieder Halt. Diesmal sollten sie aussteigen und ihr Gepäck mitnehmen. „Hier ist schon die Grenze“, flüsterte einer der Tschetschenen schnell. Sie wurden zu einer niedrigen Baracke geführt. Bevor sie eintraten, trennte man sie. Die Tschetschenen mussten in ein weiteres Auto einsteigen, das sofort abfuhr. Auf Lara kam ein dunkelhäutiger Mann zu, der ihr sagte, sie solle in die Baracke gehen und warten, bis er käme. Wieder war sie alleine, Unsicherheit und Angst kehrten zurück. Als sie aus dem Auto ausstiegen, hatten die Tschetschenen auf eine Absperrung aus Maschendraht gezeigt. Nur noch so viel, ein paar hundert Meter trennten sie von dem Ort, wo Schamil auf sie wartete. In der Baracke herrschte Halbdunkel, doch sie bemerkte an einer Wand eine hölzerne Bank und darauf eine Frau. Sie sah aus wie eine Tschetschenin. Auf dem Kopf hatte sie ein geblümtes Tuch, das so gebunden war, wie es die kaukasischen Dorffrauen gewöhnlich trugen. „Zu Ihrem Sohn?“, fragte die Frau auf Russisch. „So ist es“, seufzte Lara. „Dürfen Sie rein?“ „Sieht so aus, er hat angerufen und wartet.“ „Da haben Sie Glück. Meiner will mich nicht sehen. Ich warte hier jetzt schon den neunten Tag, und er ruft jeden Tag an, dass sie mich nicht reinlassen sollen.“ In der Tür erschien der dunkelhäutige Araber, nickte Lara zu und bedeutete ihr mit einer Handbewegung, dass sie allein weitergehen solle, immer geradeaus. „Geh, geh, bevor deiner es sich anders überlegt“, rief die Frau ihr nach. Ihr schweres Gepäck hinter sich her ziehend, schleppte Lara sich auf die syrische Grenze zu, die immer näher kam und deutlicher zu sehen war. Sie erkannte bereits nicht mehr nur den Maschendraht, sondern auch die Menschen dahinter. Und ein schweres eisernes Tor, durch das der Weg nach Syrien führte. Von ihrem Ziel trennte sie nur noch ein letzter Wachposten, an dem uniformierte Soldaten Reisedokumente prüften. Sie reichte ihnen ihren Pass, und der Soldat blätterte langsam die Seiten durch. Dann hob er den Blick und fragte etwas. Sie verstand ihn nicht. Er wiederholte seine Frage, jetzt schon ungeduldig. „Schischani, Schischani“, murmelte sie unwillkürlich. Er bellte wieder etwas, fuchtelte ihr mit dem Pass vor der Nase herum. „No visa“, zischte er schließlich und warf den Pass auf den Boden. Sie hob ihn auf und reichte ihn ihm beflissen noch einmal. Wieder schmiss er den Pass auf den Boden und machte Lara ein Zeichen, dass sie gehen solle, dass er sie nicht durch das Tor hereinlassen würde. Aus dem Polnischen von Lisa Palmes MAGDALENA GRZEBAŁKOWSKA 1945. KRIEG UND FRIEDEN © Renata Dąbrowska / Agencja Gazeta Magdalena Grzebałkowska (geb. 1972) – eine der namhaftesten polnischen Sachbuch-Autorinnen der Gegenwart, auf deren Konto bereits mehrere Reportagebestseller und Biografien gehen. Bekannt wurde sie mit dem Doppelportrait, einem Buch über Zdzisław und Tomasz Beksiński. Mehrere Jahre arbeitete sie für die „Gazeta Wyborcza“. Grzebałkowska wurde mit dem Journalismuspreis „Grand Press“ ausgezeichnet. Sie lebt in Sopot. 1945. Krieg und Frieden ist ein hervorragender Reportageband über das Ende des Zweiten Weltkriegs in Polen. Die insgesamt 12 Reportagen sind unterschiedlichen Problematiken der Nachkriegszeit und Folgen der Kriegshandlungen gewidmet: Umsiedlung, Exhumierung, Wiederaufbau, Machtübernahme durch die Kommunisten, Festlegung neuer Grenzen, Betreuung von Kriegswaisen. Zugleich jedoch erzählt das Buch von den Menschen, die um ihr Überleben kämpfen, für ein besseres Dasein, für die Rettung ihrer Familien – und die deswegen auf Plündertour gehen, Handel treiben, zur Waffe greifen, in die Miliz eintreten, ihre Kinder in die Obhut Fremder geben, ihre Namen ändern. Die Hauptfiguren sind hier Bewohner von Lwów, die nach Wrocław und Szczecin umgesiedelt werden, ehemalige Zwangsarbeiter auf der Heimkehr aus Deutschland, nach Deutschland umgesiedelte Schlesier, Kleinbauern, Männer, die unter Zwang in Ämtern eingesetzt werden, Mütter auf der Suche nach den Leichnamen ihrer im Warschauer Aufstand gefallenen Söhne, obdachlose Kinder, deren Eltern bei Kriegsende nach Warschau zurückkehren. Vor dem Chaos, das ein derart weit gefasstes Thema mit sich bringt, bewahrt sich die Autorin durch eiserne Disziplin: Sie ordnet die 12 Kapitel nach Monaten an, ein Verfahren, das ihr erlaubt, über unterschiedliche Begebenheiten aus dem ganzen Jahr 1945 zu schreiben. Jedes Kapitel ergänzt sie um eine Einleitung, die sich aus Bruchstücken von Kleinanzeigen aus der damaligen Presse zusammensetzt. Aus ihnen geht hervor, wie sich das gesellschaftliche Leben veränderte, welche Schwierigkeiten die Zivilbevölkerung plagten und wie Institutionen versuchten, sich wieder einzurichten. Grzebałkowska hatte ihre Reportage als optimistischen Schlusspunkt einer Leidensgeschichte, als Happy End eines schrecklichen Krieges geplant. Doch dann hat sich gezeigt, dass ihre Protagonisten das Jahr 1945 ganz anders in Erinnerung haben: als endlose Reihe neuer Nöte, Zeit der Abrechnung, erneuter Kämpfe: „Und Sie fragen mich, ob mir 1945 irgendein Glück widerfahren ist. Ich kann Ihnen nur sagen: Es war ein Glück, dass in dem Jahr keiner aus meiner Familie gestorben ist.“ Ein Krieg endet nicht von heute auf morgen; wenn die Hitlersoldaten verschwunden sind, füllt sich die Lücke alsbald wieder mit neuen Konflikten: Die Russen setzen eine neue Regierung ein, die Polen errichten Lager für Deutsche, der Krieg mit den Ukrainern verschärft sich, es gibt kein Brennmaterial, aber dafür überall Waffen, Epidemien breiten sich aus. Das Wertvollste für mich ist hier die Vieldimensionalität des entstehenden Bildes – es gibt keine offensichtlichen Geschichten, obwohl es nach 70 Jahren, die jetzt schon über diesen Krieg geschrieben wird, schwer ist, etwas Neues darüber zu sagen. Grzebałkowska schafft es dennoch: Die Ereignisse von 1945 erweisen sich bei ihr nämlich als sowohl bekannte, zugleich aber auch vollkommen neue Bilder, als polnische und gleichzeitig universale Geschichten. Dieser fließende Wechsel der Ebenen von der Geschichte eines bestimmten Volkes zur Geschichte über den universellen Krieg gelingt Grzebałkowska dank eines einfachen Kunstgriffs, der das Spezielle der polnischen Reportage ist: Sie bezieht sich jedes Mal auf den Bericht eines realen Menschen, auf die individuelle Erfahrung, den konkreten Augenzeugen. Große Zahlen und Institutionen kommen hier kaum vor, dafür aber viele Erinnerungen: an die Flucht über das zugefrorene Frische Haff, an die Mutter, die vor der Flucht Brot einpackt, an die Angst des jungen Fahnenflüchtigen vor einer Kontrolle im Zug, an tagelanges Warten auf dem Bahnhof, in Dreck und Staub, eingepfercht zwischen Tierkäfigen. Die Autorin besitzt noch eine außergewöhnliche Fähigkeit, die ihre Erzählung so spannend macht – das Talent, die Sachverhalte so geschickt gegenüberzustellen, dass ein plastisches Bild entsteht. Durch ihre Vieldimensionalität, Plastizität, Detailliertheit und persönliche Verbundenheit hebt diese Erzählung sich von vielen anderen, zuletzt in Polen erschienenen Kriegsberichten ab. Paulina Małochleb MAGDALENA GRZEBAŁKOWSKA 1945. WOJNA I POKÓJ AGORA, WARSZAWA 2015 165 × 240, 420 PAGES ISBN: 978-83-268-2215-5 TRANSLATION RIGHTS: AGORA Ende Juni 1945, 1945. KRIEG UND FRIEDEN an einem heißen Warschauer Nachmittag, kletterte die 49-jährige Wanda Melcer auf die Ladefläche eines Lkw. Vor dem Krieg war sie eine bekannte Dichterin, Schriftstellerin und linke Journalistin gewesen. Bekanntheit verschafft hatte ihr einerseits ihre Reportage „Der schwarze Kontinent – Warschau“ (1936) über das Leben der jüdischen Gemeinschaft in der Hauptstadt, andererseits die Ehe mit dem berühmten Athleten Teodor Sztekker, mit dem sie, für damalige Zeiten, ein Leben im Starrummel geführt hatte. Nach ihr stiegen sieben Männer auf: Journalisten, Vertreter des Verbands bildender Künstler, des Literatenverbands und Mitglieder von Repatriierten-Organisationen. Sie alle erwartete eine Reise durch Dörfer und Städte des südlichen Ostpreußens, Westpommerns, Brandenburgs (entlang von Oder und Neiße) und Schlesiens, die eben noch zu Deutschland gehört hatten und jetzt das polnische Warmia, Mazury, Pomorze, Ziemia Lubuska und Śląsk sein sollten. Lkw und Passierscheine hatte der Zentralverband der Umsiedler für sie besorgt. Sie bekamen auch eine konkrete Aufgabe: hinfahren, die Gegend genießen und dann die Polen überzeugen, sich stärker dort anzusiedeln, denn das ging noch sehr stockend vonstatten. Sie wussten nicht, was sie erwartete, waren nicht einmal sicher, ob es dort etwas zu essen gab. Für alle Fälle hatten sie also ein paar Körbe Eier mitgenommen. In Warschau kamen sie drei Wochen später wieder an und konnten kein Rührei mehr sehen. Kurz darauf erschien bei der Sozial-Wissenschaftlichen Bibliothek ein dünnes Bändchen zum Preis von 20 Zloty, „Expedition in die Wiedergewonnenen Gebiete. Eine Reportage“ von Wanda Melcer. Im August 2014, an einem bewölkten Morgen, begab ich mich auf die Spur des Lkw, der fast 70 Jahre zuvor die Gruppe Journalisten in die Wiedergewonnenen Gebiete gebracht hatte. Damit es sich besser reiste, nahm ich meinen Mann Robert und unsere siebenjährige Tochter Tośka mit. Wir fahren seit Jahren gern zusammen weg, und selbst Tosias hundertmal gestellte Frage: „Wann sind wir endlich da?“ finden wir im Nachhinein nur lustig. Wir sind die Nachkommen von Siedlern. Roberts Großeltern zogen nach dem Krieg aus Łęczyca und der Kielcer Gegend in die Kleinstadt Jasień bei Zielona Góra. Ich bin die Enkelin von Umsiedlern aus Lwów und aus Warschau. 27 Jahre nach dem Krieg kam ich in den Wiedergewonnenen Gebieten zur Welt. Von den Deutschen stammten die Häuser in meiner Stadt, die Sessel in Omas Zimmer, die landszaft über ihrem Tisch, die Kristallkaraffe. Die Wasserhähne in unserer Sopoter Wohnung trugen die Beschriftung kalt und warm. Auf dem ehemals evangelischen Friedhof in der Nähe beerdigten wir unsere Verstorbenen zwischen Grabsteinen mit Schwabacher Schrift. Das erste deutsche Wort meines Lebens – Fleischermeister – habe ich von einem solchen Grabstein gelernt. Als Kind machte ich mir immer Sorgen, dass die Dinge, waren sie doch „ehemals deutsch“, irgendwann auch „ehemals polnisch“ sein könnten. Ich hatte unbewusst in meinen Genen die Angst meiner Vorfahren, der Siedler, übernommen, dass der Ort, an dem ich lebte, uns nur für gewisse Zeit gegeben sein würde. Ich ging davon aus, auf meinem Weg durch die Wiedergewonnenen Gebiete Menschen zu begegnen, die wie meine Großeltern an einem fremden Ort ein neues Leben hatten beginnen müssen. Ich war neugierig, ob die Gebiete, in die sie gekommen waren, ihnen immer noch fremd erschienen. Waren ihre Herzen für immer da geblieben, wo sie geboren wurden? Oder fühlten sie sich schon zu Hause, und falls ja, seit wann? Wie waren ihre Nachkommen? War bei ihnen die Angst schon vergangen, von der ich mich nicht befreien konnte? Candien, also Kanigowo – ich finde ein kleines Mädchen Wo in drei Teufels Namen ist Hańkowo, fragte ich mich verärgert, als ich über einer Polenkarte brütete. Das war der erste Ort auf dem Weg von Wanda Melcer und ihren Gefährten. Ein Stück hinter Mława, vier Kilometer hinter der alten Grenze, schon in Ostpreußen. Ein „wohlhabendes und großes Dorf“, wie die Reporterin schreibt, konnte wohl kaum völlig von der Landkarte verschwunden sein. Nicht aufzufinden. Ich zog die Korrespondenzen eines Journalisten von „Życie Warszawy“ hinzu, der mit demselben Lkw gefahren war. Sieh einer an, der wiederum schreibt von Kanikowo, wo schon seit ein paar Wochen 80 Siedler wohnen. Solche Schwierigkeiten mit Dorf- und Städtenamen werden mich bis ans Ende meiner Reise begleiten. 1945 herrschte noch Namenschaos. Einer der Siedler erinnerte sich: „Vor Ort änderten wir selbst die Namen der Dörfer in polnische um. Kleefeld z.B. benannten wir nach dem Schultheiß Klemeński – Klementów.“ Später wurde der Name von amtlicher Seite in Trzcinna Góra geändert. Die Kommission für die Vergabe von Ortsnamen, die zum Verwaltungsministerium gehörte, gab es damals noch nicht lange. Manchen Ortschaften würde sie die früheren slawischen Namen zurückgeben (Breslau – Wrocław), anderen die alten polonisierten Bezeichnungen (Zoppot – Sopot), wieder anderen neue Polonisierungen (Hirschberg – Jelenia Góra) oder ganz neue Namen (Drengfurth – Srokowo, zu Ehren Prof. Stanisław Srokowskis, einem Mitglied der Kommission). […] Sie hatten kaum angehalten, als auch schon das ganze Dorf um den Lkw zusammenlief. Die Menschen wollten nur eines von den Warschauer Reportern: die Bestätigung, dass sie ganz sicher dableiben durften. „Sie fragen vorsichtig, ob wir glauben, dass sich nichts mehr ändert. Ob es keinen neuen Krieg, Überfälle, Umsiedlungen, Rauswürfe mehr geben wird“, notierte Melcer. Also schworen sie den Siedlern, dass es dabei bleiben würde, obwohl die Potsdamer Konferenz noch nicht einmal begonnen hatte. Schnell wurden frisch gebackenes Brot, Kartoffeln und Milch aufgetischt. Der Wagenmacher Jan Nowicki und seine Frau, die Gastgeber, die die Journalisten beherbergten, hatten in Polen acht Morgen Land (ungefähr 2 Hektar) besessen, hier bekamen sie 40 Hektar. Ihr Haus in Kuklino war abgebrannt, und eines ihrer Kinder, das sieben Wochen alt gewesen war, hatten die Deutschen getötet, indem sie in die Wiege schossen. Die Reporterin ist begeistert von dem Hof, den die beiden bekommen haben: „Ja, das ist ein Haus, ein großes Haus, ganz anders als diese Hütten, an die wir gewöhnt sind in den armen Dörfern unserer überladenen Landkreise. Ein gemauertes Haus mit roten Dachziegeln, großen Fenstern mit doppelten Scheiben, durch die viel Licht fällt, einer Tür wie bei einem Stadthaus und einer steinernen Veranda.“ Den Hof bewachte ein kleiner Hund an dicker Kette, auf dem Gehöft half eine Deutsche mit. In der Küche hatten die Deutschen Töpfe und Teller hinterlassen, Kartoffelstampfer, Fleischklopfer, Sieb und sogar ein besticktes Küchentuch, das die Vorteile frühen Aufstehens preist. In den Zimmern gab es deutsche Federbetten und Kissen, im Schuppen landwirtschaftliche Geräte, im Stall einen betonierten Fußboden und eine Apparatur zur mechanischen Säuberung der Futterkrippen. Ich fand das Haus von Wagenmacher Nowicki. Das war nicht schwer, die Leute im Dorf haben es mir gezeigt. Man musste nur geradeaus gehen, die gepflasterte Straße entlang, an der ehemals deutschen evangelischen Kirche vorbei, in sich der bis zum Ausbruch des Krieges jeden Sonntag die 407 Einwohner von Candien zum Gebet versammelt hatten (2010 wohnten hier 281 Menschen), und dann noch links einbiegen. Es stand an der Straßenecke. Ein gemauertes Haus mit roten Dachziegeln, wie von Wanda Melcer beschrieben. Nur an einer Seite war ein neues, kleineres Haus angefügt worden. Eine Mauer aus Betonguss umgab das Gehöft, der mit Pflastersteinen ausgelegte Hof war ordentlich gefegt, im Garten stand ein Trampolin. Ein Zeichen, dass hier Kinder wohnten. Die Nowickis von 1945 hatten auch eine Tochter. Wanda Melcer schreibt: „Ich streiche dir übers Haar, kleine Marianna, du bist so mutig, so forsch blicken deine schwarzen Augen [...], so gut geht es dir hier, du fünfjährige Siedlerin.“ Sie mussten mich durchs Fenster des neuen Hauses gesehen haben, denn nun kam erst eine junge Frau mit Yorkshireterrier auf dem Arm auf die Veranda und gleich darauf noch eine andere, mit Schürze, etwas älter. Sie waren gern bereit zum Gespräch, beide waren verwandt mit dem Wagenmacher, der bereits gestorben war. So wie seine gastfreundliche Frau. Aber weiterhelfen konnten sie mir nicht, sie kannten die Lebensgeschichten ihrer Vorfahren, der Siedler, nicht. „Und Marianna?”, fragte ich. „Ein Mädchen, das um 1940 geboren sein muss, ihre Schwester ist von den Deutschen getötet worden. Wissen Sie etwas über sie?“ „Tante Maria!“, riefen sie gleichzeitig aus wie eingespielte Chorsängerinnen. „Die wohnt in der Stadt, nicht weit von hier.“ Aus dem Polnischen von Lisa Palmes ANNA JANKO DIE KLEINE APOKALYPSE © Wydawnictwo Literackie Anna Janko (geb. 1957), Schriftstellerin, Dichterin, Feuilletonistin und Literaturkritikerin. Sie wurde für viele prestigeträchtige Auszeichnungen nominiert, unter anderem die Literaturpreise NIKE und Angelus, und arbeitet mit mehreren Zeitschriften und dem Polnischen Radio zusammen. Ihr jüngstes Werk Mała zagłada [Die kleine Apokalypse] ist ein autobiografisches Buch. Das Dorf hieß Sochy. Es lag unweit von Zamość. Das Mädchen hieß Renia. Es hatte Mutter und Vater, Schwester und Bruder. Dann war Krieg. Sie kamen, brannten das Dorf nieder und töteten die Eltern. Alles vor seinen Augen. Viele Jahre später bekam Renia eine Tochter. Aber sie selbst blieb ein kleines Mädchen. Die Tochter heißt Anna Janko. Sie ist eine erwachsene Frau, Dichterin, Romanautorin und Feuilletonistin. Sie ist erfolgreich. Sie hat Bücher publiziert wie Dziewczyna z zapałkami [Das Mädchen mit den Zündhölzern] oder Pasja według św. Hanki [Leidenschaft aus Sicht der hl. Hanka], erhielt Preise und Auszeichnungen. Erst jetzt, im Alter von 57 Jahren, hat sie sich entschlossen darüber zu schreiben, was ihrer Mutter widerfahren ist. Oder eigentlich – was ihr selbst widerfahren ist. Ausgehend von der eigenen Familiengeschichte nimmt sie es in diesem Buch mit der Frage auf, wie das Trauma von den Überlebenden an die nächsten Generationen weitergegeben wird. Es ist ein wichtiges Buch und ein bedeutsames Thema – denn jeder, der meint, der Krieg sei lange vergangen und betreffe uns heute nicht mehr, irrt sich. Es war der 1. Juni 1943. Auf dem Friedhof in Sochy ist dieses Datum auf etwa 200 Grabsteinen zu sehen – von Säuglingen bis zu Alten. Der 1. Juni, das heißt der Kindertag? Er wurde damals noch nicht begangen, aber es gibt wohl kaum ein symbolischeres Datum. Janko schreibt in ihrem Buch Folgendes: „In Kriegszeiten sollte es keine Kinder geben. Sie sollten den ganzen Krieg über rund um die Uhr im Kindergarten sein, hinter irgendeinem Buntdraht, hinter einer sagenhaft dicken Mauer, am besten auf einem anderen Planeten. Und warten. Wenn alles vorbei wäre, würden sie allmählich abgeholt werden...“ Zuvor erzählt sie davon, dass sie quasi zwei Mütter hatte. Die eine war eine erwachsene Frau, nach der sie sich sehnte, wenn diese zum Einkaufen ins Geschäft ging, und vor der sie sich fürchtete, wenn sie in Zorn geriet. Die andere war ein erschrockenes neunjähriges Mädchen geblieben, das einen ganzen Tag lang weinen konnte – von früh bis spät. Wenn man unter der Obhut eines Menschen in einem solchen Zustand aufwächst, kann das nicht ohne Auswirkung auf die Psyche des Kindes bleiben, denn es muss unvermeidlich zu einem gewissen Rollentausch führen. Und diese psychoanalytische Begründung der generationsübergreifenden Weitergabe eines Traumas ist wohl überzeugender als die Konzeption seiner genetischen Vererbung – die mit Leichtigkeit von jedem zweiten Wissenschaftler infrage gestellt wird. Es sei daran erinnert, dass die Generation der nach dem Krieg geborenen Kinder in ununterbrochenem Schrecken vor diesem lebten. Janko erinnert sich, wie sie den Schrank öffnete und die Flucht plante. Sie überlegte sich, was sie mitnehmen muss und ohne was sie zurechtkommen kann. Sie wägte ab: Ist es besser, eine Tochter oder einen Sohn zu haben? Eine Tochter vergewaltigen sie, aber den Sohn ziehen sie zur Armee ein. Sie versuchte alles zu erledigen, bevor das Unabwendbare eintreten würde. Und wie ihre ganze Generation hörte sie fast jeden Tag, sie habe keine Ahnung, was Hunger, Kälte und Armut wirklich seien… Kaum möglich, dass ihre Kinder nichts von dieser Unruhe mitbekamen. Die wahre Zahl an Opfern des Zweiten Weltkriegs bleibt unbekannt – zu viele von ihnen sind erst Jahrzehnte nach Beendigung des Konfliktes auf die Welt gekommen. Małgorzata I. Niemczyńska ANNA JANKO MAŁA ZAGŁADA WYDAWNICTWO LITERACKIE KRAKÓW 2015 130 × 205, 264 PAGES ISBN: 978-83-08-05420-8 TRANSLATION RIGHTS: WYDAWNICTWO LITERACKIE Ich habe DIE KLEINE APOKALYPSE das schon alles einmal gewusst, zunächst aus deinen Erzählungen… Du hast mich im Jahr ’57 auf die Welt gebracht (das Haus in Sochy hatte die Nummer 57…). Unsere Wohnung in Rybnik war dein erstes Haus – nach jenem verbrannten. Du hattest wieder eine Familie – eine ziemlich neue. So wie einst Hiob. Du hast das zurückbekommen, was du verloren hattest, nur in anderer Form und anderer Konstellation: Nun warst du die Mutter, nicht das Kind. Ein sehr seltsames Glück. Es ist schwierig, sich sofort daran zu gewöhnen. Es erscheint einem fremd und unbeständig. Immer, wenn ich das Buch Hiob las, hatte ich den Eindruck, dass Hiob nur so tat, als würde er sich über das neue Leben freuen, schließlich war ihm nichts im wörtlichen Sinne zurückgegeben worden… Ein neues Haus, neue Kinder… Wie viel Zeit braucht man, bis man eine Einheit mit ihnen bildet? Können sie jene Toten ersetzen? Lässt sich der Abgrund der Verzweiflung zuschütten? Es ist, als würde man jemandem die Erde unter den Füßen wegziehen, ihn durch die Hölle schleifen und ihn dann auf den Mond stellen und sagen: Vergnüg dich schön weiter, es hat sich nichts verändert. Aber alles hat sich verändert! Einschließlich dessen, dass der irdische Hiob gestorben ist und ein Mond-Hiob geboren wurde. Der Hiob vom Mond bekundete eine Freude, die vom Mond stammte. Im Grunde war sie eine Maske für die Trauer um sich selbst. Als du das neue Haus von Gott bekamst, warst du zweiundzwanzig Jahre alt, in Wirklichkeit aber immer noch neun. Man könnte das als Bruchzahl schreiben oder mit einem Schrägstrich, etwa so: 22/9. Zweiundzwanzig zu neun, als du geheiratet hast, nachdem du Papa drei Monate kanntest, blitzschnell. Dann 23/9, dreiundzwanzig zu neun, als ich auf die Welt kam, am 27. August (das war unsere Hausnummer in Rybnik…). Als du dreiunddreißig zu neun Jahre alt warst, hattest du einen Blutsturz und wurdest in einem Warschauer Krankenhaus operiert (dein Vater starb im Alter von dreiunddreißig Jahren). Vor der Operation bandest du dir zwei Zöpfe, denn falls etwas schiefgehen sollte, wolltest du als Mädchen ins Jenseits gelangen. Immer noch der gleiche Nenner. Die verstreichenden Jahre beschränkten sich auf diesen Nenner mit dem Zahlenwert neun. Das, was über dem Strich stand, war veränderlich, reagierte auf den Kalender, neue Ereignisse und aktuelle Emotionen. Das, was unter dem Strich stand, blieb unverändert. Als ich in deinem Leben auftauchte, war ich irgendeine Lösung, ich war schließlich von dir. Du konntest mich unter den Strich ziehen und von Mädchen zu Mädchen mit mir sprechen. Ich war auch deine Fortsetzung. Zu der es durch irgendeinen Zufall auf dem Mond kam. Du hattest überlebt. Alle Überlebenden müssen Zeugnis ablegen. Zurückgelassen zwischen den Welten, in einem Riss zwischen dem alten und dem neuen Leben, bauen sie eine Brücke aus Worten, eine Mondautobahn… Und dort wohnen sie; selbst wenn sie eine andere, konkretere Adresse, Telefonnummer, Arbeit und familiäre Beziehungen haben, befinden sie sich trotzdem in einem Zwischenraum, ohne Rückhalt. Du hast vor mir Zeugnis abgelegt. Und als du dreiunddreißig Jahre alt warst, also fast ein Vierteljahrhundert nach der Pazifizierung, überlebtest du wohlbehalten jene Operation, löstest die geflochtenen Zöpfe und begannst Gedichte über die damaligen Ereignisse zu schreiben. Und ich? Ich hatte durch all das quasi zwei Mütter. Die erste: eine erwachsene Frau, nach der ich mich sehnte, wenn sie ins Geschäft einkaufen ging, vor der ich mich fürchtete, wenn sie in Zorn geriet, auf die ich stolz war, weil niemand vom ganzen Hof eine schönere Frau zur Mutter hatte. Und ich hatte eine zweite Mutter: ein kleines Mädchen, dessen Eltern im Krieg gestorben waren, es war immer noch erschrocken und einsam, hatte einst gehungert und musste bei einer bösen Tante arbeiten, die es schlug und ihm befahl, Wassereimer den Berg hinaufzutragen. Als es nach dem Krieg ins Kinderheim kam, war das, welch Paradox, das größte Glück für das Mädchen. Es war genau dieses Mutter-Mädchen, das sich des Öfteren am Tag auf das Sofa legte und weinte, ohne dass man wusste, warum. Stell dir vor, das Kind sieht das. Das Kind sieht seine Mutter, die immer noch weint. Sie ist sehr beschäftigt, sieht nichts, hört nichts, weil sie sehr beschäftigt ist mit Weinen. Sie hat ein dunkles und nasses Gesicht und geschwollene Augen, sie spricht mit dem Kind nicht wie mit einem Kind, sondern wie mit einem Erwachsenen: „Sag mir, sag, was ich tun soll? Was soll ich tun?“ Oder sie entschuldigt sich: „Ich bin krank, ich bin so krank, aber das geht vorbei...“ Oder sie wendet sich ab und blickt zur Wand, und dann ist das Kind ganz allein auf der Welt. Immer hat dir etwas wehgetan. Du warst schnell müde, in jedem Geschäft war es dir zu heiß, du hast irgendwas gekauft, Hauptsache es ging schnell, und ich klagte darüber, dass ich nicht dieses Kleid haben wollte, nicht diese Schuhe, sondern die anderen, die weiter oben im Regal standen… Aber sie sind schon bezahlt, schon gehen wir, du hältst es keine Minute länger aus, weil es hier keine Lüftung gibt. Ich konnte diese Kleidung nicht ausstehen, diese Einkäufe und diese meine Mädchen-Enttäuschungen. Ich war fünfzehn Jahre alt, als ich lernte mit der Nähmaschine umzugehen, dann fand die ästhetische Qual ein Ende… Bis du die Herzkrankheit bekamst, endlich war klar, dass es einen konkreten Grund für das Unwohlsein gab, und der lag im Herzen. Obwohl für die Ärzte diese Krankheit „von unbekannter Ätiologie“ war… Wir zu Hause wussten aber, dass die Ursache in Sochy lag, dem 1. Juni. Dort ist dein Herz stehen geblieben, und später, als es wieder schlug, war es nicht mehr gesund. Meine kleine Mama, öfter habe ich dich in Gedanken so genannt. Ich war Mutter meiner eigenen Mutter. Oft spürte ich, dass du einer besonderen Fürsorge bedurftest. Erinnerst du dich, wie ich drohte, dass ich, wenn ich groß bin, die Böse Tante finde, die dir befohlen hatte, Wasser den Berg hinaufzutragen, ich finde sie und zünde ihr den Rock an? Mehr als du hasste ich die Deutschen, ich spürte in mir die Bereitschaft zu kämpfen. Beim Spielen war ich immer der Ritter mit dem langen Lineal als Schwert, der Partisan mit dem Stock-Gewehr, der Indianer mit dem Kleiderbügel-Bogen. Ich war ganz aufgekratzt vor Tapferkeit. Ich versprach, ich würde einmal ein Buch mit dem Titel Unsere Mutter ist ein Waisenkind schreiben, damit alle Kinder es erfahren. Das waren die offensichtlichen Emotionen. Doch darunter gab es etwas nicht Offensichtliches, das sich in die entgegengesetzte Richtung bewegte und Reibereien, Behinderung und Widerstand auslöste. Ich verstand das nicht, ich wusste nicht, was ein psychischer Konflikt ist, ein Selbstwiderspruch. Ich war ein von der Mutter abhängiges Kind, ich musste ihr gehorchen, und zugleich bemutterte ich sie und war größer als sie. Ich fühlte mich ständig, als müsste ich bergauf laufen in dieser Liebe. „In die andere Richtung singt das Wiegenlied nicht“, schrieb ich in einem Gedicht, als ich schon die Oberschule besuchte, eigene schöpferische Versuche unternahm und das innere Auge im Dienste der Selbstanalyse tätig zu werden begann… Wie soll denn auch ein Kind das Kind in der Mutter trösten? Wie soll es sich in dieser Situation verhalten, wie die Arme halten, welche Fragen stellen? Stell dir ein Kind vor, das seine Mutter anschaut, die immer noch weint… Ich habe mich ans Bett direkt neben dein nasses Gesicht gekniet, das mir plötzlich viel größer vorkam, und habe dir ungelenk über die Haare gestreichelt, habe gesagt: „Na, weine doch nicht, weine nicht mehr“, und habe dabei bedauert, dass du keine Puppe warst. Wie viel leichter wäre es mit einer Puppe gewesen! Mama war lebendig, aber irgendwie fremd, ihre Tränen waren unerklärlich und dickflüssig wie Quecksilber. Und schwer. Die Tränen der Mutter sind für ein Kind zu schwer. Kinder sollten sie nie sehen, wenn einem daran gelegen ist, dass sie ein Gefühl der Sicherheit haben. Das, was man dabei fühlt, ist entgegen dem gewöhnlichen Lauf der Dinge, ist unnatürlich, unangenehm, peinlich, es löst eine existenzielle Schwäche und blanke Angst aus. In die andere Richtung singt das Wiegenlied nicht. Manchmal spüre ich dich in meinem Körper. Die Gene sind schließlich wie ein Depot, das von einer Generation an die nächste weitergegeben wird. Ich habe also vielleicht einen neuen Körper, aber die Nähte, die Art des Stichs, das Futter und die Innentaschen sind „jene“. Es kommt vor, dass ich meine eigene Mutter bin, dass ich du bin, im Spiegel erkenne ich, wenn ich rasch daran vorbeilaufe, aus dem Augenwinkel deine Figur und deinen Blick. Ich erstarre für den Bruchteil einer Sekunde, weil mich deine Existenz in mir wie ein Schauder durchläuft. Es ist also kein Wunder, dass diese neunjährige Renia, die immer noch in dir lebt, unser beider gemeinsame Waise ist. [...] Du wolltest nicht dorthin zurückkehren, also sind wir nie zu den Gräbern der Großeltern gefahren wie normale Leute. Du hättest dich nicht einfach in den Zug setzen und zu Allerheiligen nach Sochy fahren können. Nicht hinfahren und damit beginnen können, das Grab herzurichten, Unkraut zu jäten und das Kreuz zu säubern… Ich kann mir nicht einmal vorstellen, dass du dich mit einem Lappen bücken könntest, um den Stein zu wischen, der kleinen Tafel mit den Namen ein frisches Aussehen zu verleihen, dass du dich dann aufrichtest, um in den Himmel zu schauen, in die kleine Novembersonne, die so fahl scheint wie durch einen Strumpf. Und dich dann wieder arbeitsam hinunterbeugst. Ich kann mir das nicht vorstellen. Ich sehe nur das Mädchen, das du damals warst, als deine Eltern starben, kurz nacheinander, was du mit angesehen hast. Und dann hast du deinen jüngeren Bruder und deine noch jüngere Schwester an der Hand genommen und gesagt: „Wir sind jetzt Waisen.“ Aus dem Polnischen von Benjamin Voelkel MAGDALENA KICIŃSKA FRAU STEFA © Mikołaj Grynberg Magdalena Kicińska (geb. 1987) ist Reporterin; sie kann bereits auf mehrere Veröffentlichungen in Reportage-Anthologien zurückblicken und arbeitet regelmäßig mit vielen anerkannten Zeitschriften wie z.B. „Polityka“, „Przekrój“, „Wysokie obcasy“ zusammen. Kicińska war für den TeresaTorańska-Preis der Zeitschrift „Newsweek Polska“ nominiert und erhielt das Ryszard-KapuścińskiStipendium für Nachwuchsreporter. Frau Stefa ist ihr erstes Buch. „Ich dachte oft: Woher weiß sie, wo sie sein muss? Wenn ich etwas angestellt hatte, war sie die Erste, die es merkte. Wenn ein Kind eben erst traurig werden wollte, fragte sie schon, was passiert war. Aus ihren Taschen förderte sie verlorene Sachen zutage und wischte einem noch mit einem Tuch die Rotznase [...]. Sie lebte so, dass wir fast nichts über sie wussten, sie war so... so... als ob sie nicht da wäre. Nichts ist von ihr geblieben, als hätte es sie nie gegeben.“ Stefania Wilczyńska wurde 1886 in Warschau in einer recht wohlhabenden Familie assimilierter Juden geboren. Von 1906 bis 1908 studierte sie in Genf und Lüttich Naturwissenschaften und Medizin, zusätzlich schloss sie Kurse in FröbelPädagogik für angehende Erzieherinnen ab. 1909 ging sie nach Warschau zurück, fragte in einem Heim für jüdische Kinder in der Franciszkańska-Straße 2 um eine „Arbeitsstelle ohne Entlohnung“ an. Dort lernte sie Dr. Henryk Goldszmit kennen, der häufig in die Franciszkańska kam. Er interessierte sich für verschiedene Erziehungsmethoden, arbeitete damals als Kinderarzt im Behrson-Bauman-Kinderhospital. Seine Arbeiten veröffentlichte er unter dem Pseudonym Janusz Korczak. Wilczyńska und Korczak hatten ähnliche Ansichten über die Kindererziehung; Kindern stünden Achtung, Vertrauen und auch Freiheit zu, die jedoch dort endete, wo sie anderen Menschen Schaden zufügte. Im Haus der Waisen gab es feste Regeln, ein Gesetzbuch und verschiedene Pflichten für Kinder und Erzieher sowie eine Selbstverwaltung und ein Kindergericht. Auf Ordnung achtete Wilczyńska – sie sorgte dafür, dass die Kinder saubere und heile Kleidung trugen, gesundes Essen bekamen, früh genug aufstanden, um sich vor der Schule zu waschen und zu frühstücken, danach ihre Hausaufgaben machten, usw. Ihre Zöglinge hatten Stefania Wilczyńska als eine geräuschlose, strenge, immer schwarz gekleidete Frau mit dunklem, kurz geschnittenem Haar und dem unvermeidlichen dicken Schlüsselbund in Erinnerung. Samuel Gogol: „Ich glaube nicht, dass sie eine kalte Person war. Das Haus hätte ohne diese außergewöhnliche Frau mit dem ernsten Gesicht gar nicht bestehen können. Nicht die kleinste Kleinigkeit entging ihr. Der Doktor gab sich nicht mit Dingen wie Kleidung, saubere Hände, Ordnung ab. Ich denke, sie ersetzte uns sowohl Mutter als auch Vater, schließlich musste jemand uns mit fester Hand leiten. In meiner Erinnerung ist das Haus der Waisen Frau Stefa, und Frau Stefa ist das Haus der Waisen.“ Sie lebte in Korczaks Schatten. Und aus diesem Schatten ist sie nie herausgetreten. Nach Korczak sind unzählige Straßen, Plätze, Kinderheime, Schulen benannt, es gibt zahlreiche Denkmäler. Alle stellen Korczak dar, wie er an der Spitze einer Reihe Kinder geht, die (so kann man vermuten) auf dem Weg zum Umschlagplatz sind, um dort in Viehwaggons gepfercht zu werden, die sie ins Vernichtungslager bringen, wo sie in der Gaskammer umkommen. Stefania Wilczyńska ist nicht dabei, obwohl allseits bekannt ist, dass sie in Wirklichkeit dabei war. Im Mai 1978 wurde im ehemaligen Lager in Treblinka feierlich ein Stein zu Ehren Janusz Korczaks und der Kinder enthüllt. Von den 17.000 Steinen, aus denen sich das Mahnmal zusammensetzt, ist dieser Stein der einzige, in den ein Name eingemeißelt ist. Warum darauf kein Platz für das Gedenken an Stefania Wilczyńska war? Das weiß niemand. Katarzyna Zimmerer MAGDALENA KICIŃSKA PANI STEFA CZARNE, WOŁOWIEC 2015 133 × 215, 272 PAGES ISBN: 978-83-8049-087-1 TRANSLATION RIGHTS: POLISHRIGHTS.COM Das Wort FRAU STEFA „Vergnügen“ kommt nicht vor, wenn sie von Stefania Wilczyńska reden. Vergnügen würde Lächeln bedeuten, und das, finden sie, passt genauso wenig zu ihr. „Es war nicht so, dass sie nicht gelächelt hätte“, erklärt Szlojme. „Sie hat manchmal gelächelt, sie hat auch gelacht. Doch dieses Lachen war bei ihr nicht zu Hause. Es war bei Stefa wie ein Gast, der von weither kommt und nichts mit sich anzufangen weiß.“ Es war seltsam, sie lachen zu sehen. Es war gut, sie lachen zu sehen. „Versteh doch: diese großen, tiefliegenden Augen, die große Nase, faltige Wangen, kurze Haarsträhnen, die das Gesicht umrahmen, ein dunkler Leberfleck, die Brauen gerunzelt. Groß, stämmig, schwarzes Kleid. In der Hand immer den schweren, rasselnden Schlüsselbund.“ Kein Eindruck, der den Gedanken an „Vergnügen“ aufkommen lässt. Aber eines Tages ruft Szlojme an, hörbar erfreut. „Da gibt es doch etwas! Diese Mikroskope, von denen ich dir erzählt habe. Eines Abends sah ich, wie sie eines davon die Treppe hinauftrug, in ihr Zimmer. Sie blickte mich beschämt an, und von da an teilten wir ein Geheimnis.“ Es macht ihr Freude, den Kindern Lehrbücher zur Botanik mit großen Abbildungen zum Lesen zu geben. Es macht ihr Freude, von Darwins Entdeckungen zu berichten. Oder, als 1921 in Gocławek (damals noch Warschauer Vorort) das Sommerlager „Różyczka“ eröffnet wird und sie die Kinder auf Spaziergänge mitnehmen kann, ihnen eine Wiese zu zeigen und zu sagen: „Hier weiden tagsüber die Kühe“ (ein Mädchen empört sich über das Wort „Kuh“: „Ich bringe Sie vor Gericht!“). Also erklärt sie noch, was eine Kuh ist, ein Fluss, ein Wald. Manche Kinder sehen zum ersten Mal in ihrem Leben so viele Bäume auf einem Fleck. Angeblich spricht sie auch gern französisch, und wenn sie sich ärgert, schimpft sie leise in dieser Sprache vor sich hin, damit die Kinder sie nicht verstehen. (Vielleicht, wenn sie die Ausgaben plant und sieht, wie die Mittel von der Stadtverwaltung dahinschmelzen?) Anfang der zwanziger Jahre fragt der „Waisenhilfe“Verein bei der Stadtverwaltung um Unterstützung an; er will sich nicht länger nur dank Spenden und dem Wohlwollen von Gönnern über Wasser halten. Man sucht nach neuen Möglichkeiten, an Geld zu kommen. Das Ferienlager können andere Einrichtungen gegen Bezahlung nutzen. Auf einem zusätzlichen Stück geerbten Landes wird ein Bauernhof angelegt. Nach einigen Jahren entsteht dort ein Internat für Kinder, die auf einen Platz im Haus der Waisen warten, und für Schüler, die im Unterricht hinter den anderen zurückgeblieben sind; 1928 kommt ein Kindergarten dazu (geleitet von der ehemaligen Internatsschülerin Ida Merżan). […] * Szlojme: „Sie verlangte von allen viel, und von sich selbst am meisten.“ Sara Kramer, eine Bewohnerin des Hauses der Waisen, erzählte Betty Lifton: „Ich habe mich immer sehr nach meiner Mutter gesehnt. Wenn ich sie an den Samstagen besuchte, fiel es mir furchtbar schwer, nachher wieder ins Waisenhaus zurückzugehen. Mama war natürlich immer Mama, aber wenn ich bei ihr geblieben wäre, wäre mein Leben anders verlaufen. Ich hätte von ihr nicht das bekommen, was ich von Stefa bekommen habe.“ Auch Hanna Dembińska lebte im Haus der Waisen. Über Stefa meinte sie: „Was sie auch für mich getan hat, sie war doch nicht meine Mutter. Ich glaube, sie war deswegen eifersüchtig.“ Seweryn Nutkiewicz: „Korczak und Stefa waren weniger als Eltern und mehr als Eltern. Sie waren Erzieher. [...] Ein Vater betrachtet sein Kind subjektiv, [...] ein Erzieher [...] objektiv. Sie haben uns nicht von Anfang an und nicht bis zum Ende begleitet. In einer Familie kommt ein Kind jeden Tag mit dem realen Leben in Berührung. Das Waisenhaus in der Krochmalna-Straße war eine Welt für sich.“ Eine Erinnerung ohne Unterschrift: „Korczak taucht immer nur kurz auf, die Kinder rennen zu ihm hin und wollen alles Mögliche wissen, wollen mit ihm spielen, und er macht mit. Stefa war die Mutter des Hauses, sie war häufig streng, weil es notwendig war, und so ist es leicht zu verstehen, dass von 107 Schützlingen sicher manch einer ihr etwas übelnimmt. Sie war hart, und es kam vor, dass sie jemanden ungerecht bestrafte. Sie gaben uns Wärme, aber es war nur die Wärme eines Erziehers, mehr nicht. Vater oder Mutter sein kann jeder. Fremde Kinder erziehen können nur wenige.“ Ida Merżan erinnerte sich: „Als mich einmal jemand fragte, wie viele Kinder Frau Stefa habe, habe ich im Scherz gesagt: 50 Mädchen, ebenso viele Jungen, 20 Internatsschüler und ein älteres, schwieriges Kind, das seine eigenen Wege geht – Korczak.“ Jochewed Cuk: „Korczak war der heißgeliebte Papa und Stefa die böse Mama, die immer da war, 24 Stunden am Tag.“ Samuel Gogol: „Ich glaube nicht, dass sie eine kalte Person war. Das Haus hätte ohne diese außergewöhnliche Frau mit dem ernsten Gesicht gar nicht bestehen können. Nicht die kleinste Kleinigkeit entging ihr. Der Doktor gab sich nicht mit Dingen wie Kleidung, saubere Hände, Ordnung ab. Ich denke, sie ersetzte uns sowohl Mutter als auch Vater, schließlich musste jemand uns mit fester Hand leiten. In meiner Erinnerung ist das Haus der Waisen Frau Stefa, und Frau Stefa ist das Haus der Waisen [...]. Mit den materiellen Dingen befasste hauptsächlich sie sich. Dass ich Hosen hatte, dass ich Schuhe anzog, dafür sorgte Frau Stefa. Darüber wurde nicht gesprochen, das verstand sich von selbst.“ * In einer anonymen Umfrage von Ada Poznańska-Hagari in den 1980er Jahren hieß es außerdem: „Sie war wie eine Mutter, aber eine, die ihre Kinder am straffen Zügel hält.“ „Manchmal schrie sie ein Kind so laut an, dass es erschrak.“ „Als Kind fand ich den Doktor besser, aber aus heutiger Perspektive denke ich, Stefas Anteil an meiner Erziehung war nicht geringer.“ „Der Doktor war empfindsamer, sanft. Sie musste hart sein.“ „Korczak war wie eine Mutter, der Vater war Stefa.“ „Wenn sie böse auf mich war, redete sie nicht mehr mit mir und gab mir auch keine Antwort. Ich verstand, dass sie böse war, aber weswegen, das verstand ich nicht.“ „Wenn die Mädchen ihre erste Monatsblutung bekamen, kümmerte sie sich besonders um sie. Man durfte einmal zusätzlich baden. Dann gab es ein Gespräch. Ich habe mich geschämt. Stefa erklärte mir genau, wie das alles vor sich geht.“ „Manche Kinder mochte sie nicht. Mich hat sie ohne Grund aus dem Haus geworfen.“ „Warum liebte sie mich so, ich war doch unausstehlich?“ „Als ich sieben wurde, hat sie eine Geburtstagsfeier für mich veranstaltet, obwohl so etwas bei uns eigentlich nicht üblich war. Sie fragte mich, wen ich mag, und lud diese Kinder ein. Es gab etwas zu essen, wir sangen Lieder. Ich hatte einen wunderbaren Geburtstag.“ „Wir waren krank, lagen in unseren Betten. Korczak untersuchte uns und sagte, wir seien wieder gesund. Wir blieben trotzdem im Bett und warteten, bis Frau Stefa kam und uns erlaubte, aufzustehen.“ „Ich traf mich heimlich mit einem Jungen. Einmal kam Stefa und machte das Licht an. Danach kam sie immer, um nachzusehen, ob ich in meinem Bett war. Wenn Stefa wie eine Mutter war, warum hat sie mir dann nicht geglaubt?“ „Sie sagte: Ich weiß, dass diese Methode fehlerhaft ist. Ein direkter Kontakt mit dem Kind ist besser. Trotzdem hat sie nichts geändert.“ „Einmal habe ich eine Ohrfeige von ihr bekommen, ich weiß nicht mehr, warum. Wir waren allein. Ich sagte: Ich habe auch Hände und kann austeilen. Da sah sie mich erstaunt an und – umarmte mich. Entschuldigt hat sie sich nicht, aber sie hat mich umarmt, weil sie wusste, dass sie einen Fehler gemacht hatte.“ „Mit ihr gab es keine Diskussionen.“ „Ich mochte sie nicht.“ „Ich habe sie geliebt.“ [...] * Ein Brief, den Wilczyńska Ende der dreißiger Jahre an eine ehemalige, inzwischen erwachsene Heimbewohnerin schrieb (ihr Name ist nicht erhalten): Mein liebes Kind, ich kann Dich weder aufmuntern noch Dir gut zureden. Es wird Dir auch nicht helfen, dass Julek mit Dir trauert oder dass andere Dich bemitleiden. Nichts und niemand kann in so einem Fall Trost bringen. Nur die Zeit und die Arbeit tun das Ihre. Das sehen wir an den anderen um uns herum, die bereits solche Verluste überwunden haben. Ich weiß es aus eigener Erfahrung, ich habe schon mehrere mir nahestehende Menschen auf den Friedhof begleitet. Andere Menschen können einem nicht helfen. Jeder ist mit seinem Schmerz allein. Und den kann keiner von ihm nehmen, keiner kann ihn trösten, und liebt er ihn auch noch so sehr. Es ist schwer, was ich Dir sage, geliebtes Kind, aber so ist es. Und selbst der Gedanke, dass Du schließlich irgendwann wieder ein Kind haben wirst, kann Dich jetzt nicht trösten. Es ist nur gut, dass Du Deinen Julek an Deiner Seite hast, und dass er Dich hat. Ich möchte Dich sehr gerne sehen, aber ich weiß wirklich nicht, wie das sein wird. [...] Ich umarme und küsse Dich ganz fest, wie früher, wenn Du Kummer hattest. Aus dem Polnischen von Lisa Palmes BEATA CHOMĄTOWSKA DER PALAST. EINE INTIME BIOGRAFIE © Mariusz Grzelak / Reporter Beata Chomątowska (geb. 1976) ist Schriftstellerin, Journalistin und gesellschaftliche Aktivistin – und besitzt ein außerordentliches Talent, faszinierend von ihrer Wahlheimat zu erzählen, der Stadt Warschau. Zu ihren bisherigen Titeln gehören u.a. Stacja Muranów [Station Muranów], eine von Kritik und Lesern begeistert aufgenommene geschichtliche Reportage über einen Warschauer Stadtbezirk, in dem vor dem Zweiten Weltkrieg vorwiegend Juden lebten, sowie die Biografie Lachert i Szanajca. Architekci awangardy [Lachert und Szanajca. Zwei Architekten der Avantgarde]. Chomątowska arbeitet für die Zeitungen „Tygodnik Powszechny” und „Gazeta Wyborcza” sowie für das Museum für die Geschichte der polnischen Juden. Mit Der Palast. Eine intime Biografie ist Beata Chomątowska ein weiteres außergewöhnliches Buch gelungen, das den Leser lehrt, die Stadt zu lesen: Es macht ihn nicht nur empfänglich für architektonische Details und für historische, politische, anthropologische und gesellschaftliche Kontexte, sondern auch für das emotionale Gewebe der Stadt und die Geschichten von Menschen, Tieren, Pflanzen und Dingen. Die Autorin vereint umfassendes Wissen mit schriftstellerischer Leichtigkeit und Temperament, mit Schwung und der Gabe, den Leser zu berühren. Die intime Biografie des Kulturpalasts ist ein Geschenk zu dessen 60. Geburtstag – an alle, die ihn kennen und fasziniert von ihm sind, aber auch an Leser, die ihn bisher nur auf einer Postkarte gesehen haben. Bücher mit einer solchen Reichweite sind selten zu finden. Der Palast ist so fesselnd, weil die Autorin bei der Betrachtung von Ort und Phänomen eine Vielzahl unterschiedlicher Perspektiven einnimmt. Der Leser lernt manches über die Genese der sowjetischen Gedenkpaläste, er betrachtet die vergangenen 200 Jahre des Warschauer Stadtteils, in dem der Palast steht, beschreitet zusammen mit berühmten Persönlichkeiten dessen Gänge, erfährt, wie die Erbauer des Palasts lebten und was sie aßen, bekommt Anekdoten der Palastchronikerin Hanna Szczubełek und Briefe an den Palast selbst zu lesen (in denen um Übernachtungen, um Schlichtung in Nachbarschaftsstreits, um Arbeit angefragt wird), und lernt darüber hinaus die Geschichten der Lebensmüden kennen, die von seiner Aussichtsterrasse gesprungen sind. All das betrachtet Chomątowska mal aus nächster Nähe, sodass der Leser das Mauergestein der Innenwände zu berühren glaubt, und dann wieder ganz von fern, mit einem Blick auf den Palast aus der Vogelperspektive, ergänzt durch einen anthropologischen Kommentar: „Der Palast entspricht, ganz wie es seine Erbauer wollten, dem Schema der ‚heiligen Säule‘ [...], er ist nicht einfach ein Bauwerk, sondern ‚ein Ort, der den Anfang einer neuen, idealen Stadt bilden‘ sollte, der Musterhauptstadt eines sozialistischen Landes. Eine Art weltliche Kathedrale, ein Symbol für neue Ideen, aber auch ein Muster an Schönheit.“ Der Palast ist als Quadrat angelegt (als Symbol für die Ordnung der Erde), doch sein Grundriss enthält auch einen Kreis (als Symbol für die Ordnung des Himmels): den Kongresssaal. Beata Chomątowska zitiert: „[...] der Architekt Jan Minorski, ein überzeugter Ideologe des Sozialismus, schrieb geradeheraus: ‚Was wir optimalerweise [...] von Architektur verlangen, ist, dass sie den Kern unserer Absichten ausdrückt. Die Architektur römischer oder orthodoxer Kirchen erfüllte eine so verstandene Aufgabe gut. Und beim Palast soll es genau so sein.‘“ Zwar war einer der für den Palast vorgeschlagenen Standorte das Weichselufer im Stadtteil Praga, doch errichtet wurde er ‚in einem zurechtgestutzten heiligen Hain‘, also auf den gerodeten Resten der kapitalistischen Stadt des 19. Jahrhunderts, deren Gegenteil er sein sollte. [...] ‚Sprachen die Altbauten der Bourgeoisie von der Privatisierung des bürgerlichen Lebens – von seiner Parzellierung in einzelne, kleine, persönliche Aspekte hinter verzierten Fassaden –, so verkündete der Palast die Eliminierung alles Privaten‘“, zitiert die Autorin den Historiker Adam Leszczyński. Chomątowskas Blick auf den Palast ist voller Wärme; besonders berührend ist das Kapitel über die Palastkatzen und deren Fürsprecherin Elżbieta Michalska, die sie seit Jahren versorgt. Auch an subtilem Humor fehlt es nicht – beispielsweise, wenn die Autorin Gustaw Morcin zitiert, der die Silhouette des Palasts mit einer „Erscheinung“ vergleicht, „der Nike aus dem Pariser Louvre“. Der Palast. Eine intime Biografie ist ein präzise und schön komponiertes Buch, konkret wie ein konstruktivistisches Kunstwerk. Die Leidenschaft der Verfasserin teilt sich den Lesern mit und macht die Lektüre zu einem Vergnügen. Bei Beata Chomątowskas klarem Denken, Talent und Fleiß ist davon auszugehen, dass in ihrer Bearbeitung jedes Thema zu einer faszinierenden Erzählung wird. Agnieszka Drotkiewicz BEATA CHOMĄTOWSKA PAŁAC. BIOGRAFIA INTYMNA ZNAK, KRAKÓW 2015 150 × 235, 416 PAGES ISBN: 978-83-240-3494-9 TRANSLATION RIGHTS: ZNAK IN DER AUSSCHREIBUNG DER PALAST. EINE INTIME BIOGRAFIE für seinen Entwurf hieß der Palast der Sowjets umständlich „Verwaltungs- und Kongresszentrum beim Zentralkomitee der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken“. Dass es um ein Gebäude ganz anderen Kalibers ging, wurde im Dezember 1922 klar, als der verdiente Bolschewist Sergei Kirow auf dem Sowjetkongress die Versammelten mit der Forderung nach einem repräsentativen Prachtbau verblüffte, der die Residenzen der Bourgeois und Aristokraten in den Schatten stellen sollte und die Delegierten sämtlicher Republiken des wachsenden Staates würde fassen können. „Der Palast der Sowjets soll nicht einmal von außen den Parlamentsfassaden der schwindenden Welt ähneln. Er soll die Rache der Herrschaft der verachteten, ehemals rückständigen Arbeiter und Bauern am großbürgerlichen Westen sein, ein Bauwerk, wie es sich unsere Feinde nicht einmal im Traum vorstellen können! Das Gebäude soll ein sichtbares Zeichen der zukünftigen Macht, des triumphierenden Kommunismus sein – nicht nur bei uns, sondern auch im Westen! Der Palast der Sowjets muss gebaut werden, um genau dort die letzte Republik in die Sowjetunion einzugliedern!“, rief er überschwänglich, und die Genossen belohnten ihn mit Applaus. Die Entscheidung für den Standort fällt ohne Gegenstimmen. Alle sind sich einig, dass sich aus symbolischer Sicht der Platz direkt beim Kreml am besten eignen würde, dort, wo Zar Alexander I. die gigantische Christ-ErlöserKathedrale als Dankesgabe für die Errettung des Landes vor Napoleon hatte errichten lassen. Dieses geistige Zentrum des Zarenreichs, manchmal spöttisch „Riesen-Samowar“ genannt, muss nun nach dem Willen Stalins einem Palast der Sowjets weichen, dem Zentrum eines Proletarierstaates. Die Kathedrale war von den begnadetsten Künstlern gestaltet worden, ihr Bau dauerte vierzig Jahre. Sie in die Luft zu sprengen dauerte eine halbe Minute, auch wenn sie sich nicht kampflos ergab – erst die zweite Explosion ließ ihre dicken Mauern einstürzen, die vorher von allem befreit worden waren, was irgendeinen Wert besaß. Die Trümmer wegzuschaffen sollte fast ein Jahr dauern. Die sowjetischen Herrscher tun, was sie können, damit die Nachricht vom Wettbewerb um die ganze Welt geht und ein angemessenes Echo findet. Grzegorz Sigalin, ein in Warschau beliebter, weltweit jedoch völlig unbekannter Architekt, muss gewusst haben, an was er sich heranwagte. Seine Rivalen im Kampf um den Palast würden nicht mehr nur die Kollegen vom berühmten Fachbereich Architektur des Warschauer Polytechnikums sein, sondern die internationale Crème de la Crème der Architektur. Keiner von ihnen stört sich daran, möglicherweise zum weltweiten Triumph des Kommunismus beizutragen. Auch Grzegorz kümmert das wenig. 1920, mit 18, hatte er Bolschewist sein wollen und war zusammen mit seinem Bruder in ein Flugabwehrbataillon eingetreten. Das Bataillon hatte auf dem Mokotów-Feld auf die Bolschewisten gewartet, doch die hatten es nicht bis nach Warschau geschafft. Als Erwachsener sympathisiert er mit der Linken, wie viele vom Modernismus faszinierte Architekten der Warschauer Avantgarde. Im Dreigespann Allein wagt Sigalin sich jedoch nicht an den Palast. Den Entwurf erstellen sie zu dritt – unter dem Zeichen der Troika und französischer Flagge. Der zweite ist Sigalins Kollege Henryk Blum, auf Warschauer Boden ein Konkurrent, der zusammen mit Lucjan Korngold Luxusbauten für reiche Investoren entwirft. Bei einer Herausforderung dieser Art ist es dennoch sinnvoll, mit vereinten Kräften anzutreten und die heimatlichen Geschäfte außer Acht zu lassen. Der dritte, Bertold Lubetkin, übernimmt die führende Rolle. Bevor er Gebäude für Menschen baute, wurde er für seine Tierbehausungen berühmt – so durfte er dank Sir Julian Huxleys Unterstützung, des Bruders von Aldous Huxley, das Gorillahaus im Londoner Zoo entwerfen. Die Konstruktion ist nach einem kreisförmigen Bauplan errichtet worden – denn trotz seiner Begeisterung für die geraden Linien des unübertroffenen Le Corbusier liebt Lubetkin das Runde. Er stammt aus dem Osten, macht aber nun im Westen Karriere. Obwohl erst knapp über dreißig, hat er sein eigenes Architekturbüro in London und kann sich eines Praktikums bei Auguste Perret sowie der Bekanntschaft mit Wilhelm Worringer rühmen, einem einflussreichen Kunsthistoriker, der als Corbus größter Mentor gilt. Wahrscheinlich hat einer dieser Förderer den jungen Künstler ermuntert, beim russischen Ringen mitzumachen – denn selbst wenn er nicht gewinnt, kann er sich doch im Wettstreit mit anerkannten Architekten beweisen. In Tiflis in einer wohlhabenden Familie assimilierter Juden geboren, findet Lubetkin schnell eine gemeinsame Sprache mit seinem Altersgenossen Grzegorz Jakub Aaron Sigalin, einem Nachkommen der unternehmerischen Kaukasierin Klaudia Sigalina. Sie kennen sich aus dem Studium: Auf seiner Reise durch Europas Universitäten und Ateliers verbrachte Bertold zwei Jahre am Warschauer Polytechnikum. Außerdem fühlt auch er sich als Kommunist. Er glaubt fest daran, dass der geplante Bau ein Werkzeug zur gesellschaftlichen Verbesserung sein sollte, ein Mittel, um einen Staat zu schaffen, in dem – wie Bolschewisten-Berater Bill Haywood zu sagen pflegt – „nichts zu gut ist für die Arbeiterklasse“. Unter Stars Ausländische Architekten reichen 24 von den insgesamt 160 Palastentwürfen ein. Stalin darf zufrieden sein – zur Teilnahme am Wettbewerb sind sich auch Größen wie Walter Gropius, Auguste Perret, Erich Mendelsohn und Hans Poelzig nicht zu fein. Le Corbusier ist sich seines Sieges so sicher, dass er seine Idee präsentiert wie eine echte Show: Zwei Mitarbeiter tänzeln herbei und lüften das Laken über dem Tisch mit dem Modell, während er, der Musikliebhaber, zur Untermalung Kontrabass spielt. Auch wenn Corbu nicht an den Kommunismus glaubt, hat er doch eine Phase der Faszination für die Sowjetunion und ihre Hauptstadt durchlaufen, über die er schreibt, sie sei eine „Fabrik der Pläne, das Gelobte Land der Techniker“. Er ist der einzige westliche Architekt der Moderne, den die sowjetischen Genossen nach Moskau eingeladen haben, um den Bau des von ihm entworfenen Zentrosojus-Hauses zu leiten. Und mehr noch: Sie haben beschlossen, die Meinung des Meisters zu einem Komplettumbau der Stadt einzuholen. Die Zeitung „Prawda“ verkündet Corbusiers Ankunft als Aufmacher auf der Titelseite („Besuch vom begabtesten Repräsentanten des fortschrittlichen Architekturgedankens Europas“), Menschenmengen wollen unbedingt seinen Vortrag hören – all das schmeichelt der Eitelkeit des Schweizers, hat er doch gerade erst eine bittere Pille schlucken müssen: Die Jury im Wettbewerb um den Entwurf des Palais’ für den Völkerbund in Genf hat seinen Vorschlag zugunsten eines konservativeren Entwurfs zurückgewiesen. „Meine Arbeiten haben eine Blockade überwunden. Ich bin berühmt, ich bin bekannt!”, notiert er nun triumphierend in seinem Tagebuch. Er drückt Offiziellen die Hand, verbrüdert sich mit Architekten vor Ort, besichtigt Moskau und Umgebung, natürlich assistiert von den Gastgebern. Die musikalisch-technische Darbietung ruft großes Echo hervor. In der ersten Wettbewerbsrunde lässt sich kein Gewinner ermitteln, doch Wohlgesinnte tragen Corbu zu, sein Entwurf habe gewaltigen Eindruck hinterlassen. Ein gigantisches Ausmaß, das den Ambitionen des Sowjet-Imperiums entspricht und für dessen Erzielung der Architekt ohne zu zögern auch noch die Hälfte des Stadtteils niederreißen würde: großer Hörsaal für 15.000 Leute, kleiner Hörsaal für 6.500, Außenplattform für 50.000. Perfekt ausgeklügelte Akustik. Die beiden wichtigsten Objekte lassen im Modell an aufgeschnittene Streichinstrumente denken: Die Plattform umgibt ein parabelförmiger Bogen, er soll als Fußgängerrampe dienen, die herausführenden Stäbe – die Saiten – halten das Dach. Keine Treppenaufgänge! Der Urheber nimmt die Nachricht von der allgemeinen Begeisterung auf, als läge sie völlig auf der Hand, und sieht sich schon in Runde zwei – wenn nicht als Sieger, so doch wenigstens unter den Finalisten. Als am 28. Dezember 1932 das Ergebnis verkündet wird, traut er wohl seinen eigenen Ohren nicht – vor allem, weil die Entscheidung ähnlich ausfällt wie beim Wettbewerb um das Palais für den Völkerbund. Die Jury – formell steht ihr Gleb Krzyżanowski vor, ein verdienter polnischstämmiger Bolschewist, allerdings weiß jeder, dass das wichtigste Mitglied „Diktator Stalin“ ist, wie ihn die Wochenzeitung „Time“ nennt – hat nicht einen einzelnen, besten Vorschlag ausgewählt, sondern gleich drei Entwürfe: von Boris Michailowitsch Iofan, von Iwan Scholtowski und von Hector Hamilton, einem 28-jährigen britischen Architekten aus New Jersey, den das Urteil nicht weniger überrascht als Corbu. Alle ausgewählten Entwürfe sind traditionell im Ausdruck, klassizistisch wie in den Goldenen Zeiten des ehemaligen Zarenreichs. Wie es weitergeht, ist leicht zu erraten – entweder gibt es eine dritte Runde oder eine staatliche Intervention, einen Kompromiss, bei dem eine Entscheidung für die Skizze fällt, die am wenigsten Kontroversen weckt. Die Durchschnittlichen siegen, genau wie in Genf. Le Corbusier ärgert sich über Moskau. Aber Moskau braucht ihn schon nicht mehr. Aus dem Polnischen von Lisa Palmes ROBERT RIENT DER ZEUGE © Grzegorz Wełnicki Robert Rient – Schriftsteller, Journalist, Personal Trainer. Er publiziert in Magazinen wie „Charaktery“, „Coaching“, „Przekrój“, „Wysokie Obcasy“ und anderen. 2013 debütierte er mit dem Roman Chodziło o miłość [Es ging um die Liebe]. Sein neustes Buch ist eine Reportage in eigener Sache, die das Leben in einer Religionsgemeinschaft und den Ausschluss aus dieser beschreibt. Sie klopfen an die Tür. „Guten Tag. Wir sind zu Ihnen gekommen, um mit Ihnen über die heutige Weltsituation zu sprechen“, sagen sie, als wir ihnen öffnen. In der Hand halten sie Flyer, die Antworten auf Fragen versprechen, die die Menschheit seit Jahrhunderten quälen. Wir kennen das alle: die Zeugen Jehovas. Nur dass die nahe Realität in Wirklichkeit weit weg ist – wir wissen nicht viel über sie, normalerweise schließen wir nach dieser Begrüßung die Tür. Robert Rient, ehemals Mitglied dieser Religionsgruppe, zeigt in seinem Buch Der Zeuge ihre hermetische Gemeinschaft. Doch die Religionsgemeinschaft ist – und das soll vorweggenommen werden – nicht sein Hauptthema. „Wie kann man die Familie, seine Umgebung, die seit der Kindheit aufgesogenen Wertvorstellungen zurücklassen ohne verrückt zu werden?“, schreibt Mariusz Szczygieł auf dem Umschlag. Tatsächlich ist das eigentliche Thema von Der Zeuge der Kampf um die innere Freiheit. Das ist eine Geschichte über die typische Aufgabe der Gegenwart – wie sich selbst kreieren, die eigene Identität, dem entgegen, was uns zu glauben befohlen wurde, was Teil verschiedenster, von oben aufgezwungener Ideologien ist? In einem gewissen Maße müssen wir alle damit zurechtkommen, aber der Protagonist in Der Zeuge hat es aus bestimmten Gründen schwerer. Er muss nicht nur sein eigenes „Ich“ kreieren, sondert ihm stehen spezifische Komponenten zur Verfügung: manche von ihnen versucht er anzunehmen, andere lehnt er ab. Den „Zeugen“, sprich alles, was mit der Zugehörigkeit zur Versammlung verbunden ist, will er loswerden; akzeptieren aber will er seine Homosexualität, die er gerade entdeckt hat. Die Geschichte über das Leben unter den Zeugen Jehovas, deren Glaube in Polen als Katzenglaube bezeichnet wird, in Verbindung mit Problemen, die mit der sexuellen Orientierung zusammenhängen, ergibt eine heftige Mischung. Man könnte den Autor glatt der billigen Sensationsmache verdächtigen, aber dies ist kein solches Buch. Robert Rient gelingt es, Aufrichtigkeit und Authentizität zu erhalten, und Bewunderung hat vor allem sein Mut verdient. Der Zeuge ist schließlich eine Geschichte über ihn selbst. Der Autor macht sich selbst zum Protagonisten seines Buches, er erzählt von seinem eigenen Schicksal, und er tut dies so, dass es kaum möglich ist, das Buch einer Gattung zuzuordnen – wir haben es hier sowohl mit Erinnerungen als auch mit einer Reportage in eigener Sache zu tun. Der Protagonist ist zwei Personen, eigentlich aber eine: Łukasz und Robert – vor und nach der Wandlung. Łukasz glaubt an das Armageddon und an die Wiederauferstehung, er lehnt Bluttransfusionen ab. Er erkennt keine Standarten, Wappen und auch sonst keine staatlichen Symbole an. Tag für Tag geht er von Haus zu Haus und verkündet die frohe Botschaft. Er nimmt am Leben der Versammlung teil, fährt in Camps. Er liebt Jehova. Robert verwirft die alten Lehren, obwohl ihm das nicht leicht fällt, denn „die hinter dem fehlenden Glauben stehende Leere ist erschreckender als der Tod“. Er hat Selbstmordgedanken, er entdeckt seine homosexuellen Neigungen. Er versucht Drogen, schließt sein Studium ab, beginnt ein Leben auf eigene Rechnung, kommt irgendwie zurecht mit der Abwendung der Familie, die ihm nicht verzeihen kann, dass er die Gemeinschaft verlassen hat. Zum Glück überlebt Robert. Dem Autor und Protagonisten dieses Buches, der sich der eingetretenen Wandlung bewusst ist, gelingt es, den mühevollen Kampf um das eigene „Ich“ überzeugend darzustellen. Patrycja Pustkowiak ROBERT RIENT ŚWIADEK DOWODY NA ISTNIENIE WARSZAWA 2015 135 × 205, 180 PAGES ISBN: 978-83-9381-129-8 TRANSLATION RIGHTS: POLISHRIGHTS.COM RIGHTS SOLD TO: OUTPOST 19 (USA) Ich wurde DER ZEUGE am ersten Tag des letzten Monats des Jahres 1980 geboren. Ich sollte ein Mädchen werden, Marta, oder zumindest ein Hund, was sich mein älterer Bruder wünschte. * Abends mache ich im Bad einen Test. Ich lege meine rechte Hand auf mein Gesicht, mit Daumen und Zeigefinger halte ich mir die Nase zu. Mit der linken Hand drücke ich meinen rechten Unterarm. Ich schließe die Augen, lehne mich leicht zurück. Ich kann es kaum erwarten. Seit einem Jahr bin ich bereit. In dieser Zeit trafen sich die Ältesten der Versammlung mit mir und stellten mir ein paar Hundert Fragen: „Wer ist der wahre Gott? Wann findest du Zeit zum Beten? Wie kann man sich vor dem Einfluss des Satans und der Dämonen schützen? Was ist eine Sünde? Wie sind wir alle zu Sündern geworden? Was ist der Tod? Wer wird nicht von den Toten erweckt und warum? Was ist die einzige biblische Grundlage für eine Scheidung, die das Recht zu einer neuen Eheschließung gibt? Welche lokalen Lebensmittelprodukte oder medizinische Praktiken wirst du als Christ ab jetzt meiden? Welche Haltung sollte ein Christ annehmen, dem man einredet, dass für die Rettung seines eigenen Lebens oder das eines Nächsten eine Bluttransfusion notwendig ist? Wie beweist du, dass du Jehova aus ganzem Herzen, mit Verstand und aus deiner ganzen Seele und Kraft liebst? Wie stehen Christen zur Trunksucht? Was sagt die Bibel zu Ausschweifungen, Fremdgehen, Geschlechtsverkehr mit anderen Personen des gleichen Geschlechtes (Homosexualität) und über andere Vergehen im Bereich des Geschlechtslebens? Welchem Druck und welchen Versuchungen musstest du dich widersetzen, um gute Beziehungen mit Jehova aufzunehmen und aufrecht zu erhalten? Wer ist nach Gottes Beschluss der Kopf einer verheirateten Frau? Warum solltest du gern allen Bewohnern des dir zugeteilten Gebietes die frohe Botschaft verkünden?“ All diese Fragen stammen aus einem für den internen Gebrauch der Zeugen Jehovas bestimmten Buch „Organized to accomplish our ministry“, das 1990 erschienen ist. Jede Antwort soll mit einem Bibelvers belegt werden. Die Glaubensprüfungen sind schwer, besonders wenn das Wissen von Papa und Opa geprüft wird. Sie sind die einzigen Ältesten der Versammlung in der Stadt. Ich übe mich darin, meine Scham zu ignorieren. Wir treffen uns alle paar Wochen für einige Stunden. Ich will ihnen von dem Dorn im Fleisch erzählen, von den Satansengeln, aber dieser Wunsch dauert nur kurz und verschwindet, und mit ihm das Grauen, das er geweckt hat. Ich drehe mich weg, blinzle mit den von der Sommersonne geblendeten Augen und schaue mich in den Stadionsektoren um auf der Suche nach meinen Eltern. Ich sehe den gelben Schirm. Ich stehe auf für das Lied, dann senke ich den Kopf zum Gebet. Das Gleiche machen etwa zweihundert Personen mit mir. Gleich werden wir alle getauft. Es regnet nicht, so wie ich es mir vorgestellt hatte. In den Sektoren sitzen über zehntausend Brüder und Schwestern. Sie haben sich vor der sengenden Sonne unter Pavillons, großen und kleinen Schirmen versteckt. Einmal im Jahr finden in einem Dutzend von Großstädten Polens dreitägige Versammlungen statt. Ein fester Programmpunkt ist die Taufe. Empfangen wird sie vor allem von den Kindern der Zeugen Jehovas, von entfernteren Familienmitgliedern und von Personen, die Leid erfahren oder Krankheiten, zuweilen Traumata und Probleme mit Süchten haben. Die, die ein System und Instruktionen dafür brauchen, was sie tun sollen, um glücklich zu werden. Der Vortrag beginnt. Der Bruder betet mit uns und erinnert daran, dass wir gleich bei Jehova ein unbeschriebenes Blatt haben werden, aber auch der Satan von unserer Existenz erfährt. Ich fürchte mich nicht vor dem Satan, vielleicht ein bisschen. Ich kann auf dem aufgeheizten Rasen des Stadions nicht stillstehen, vor Aufregung, wegen des unbeschriebenen Blattes. Das ist der wichtigste Tag in meinem Leben. Ich bin einer der jüngsten, die in der Schlange zum runden Gartenpool, der in der Mitte des Stadions aufgestellt wurde, warten. Am zweiten Pool stehen Frauen und Mädchen in Badeanzügen an. Alle haben ein Handtuch dabei. Ich schaue mir die Sektoren an – die Zeugen meiner Taufe. Ich gehe über die Leiter in den Pool, das Wasser reicht mir bis zum Hals, ich nehme die eingeübte Position ein. Ich denke an Johannes den Täufer und an Jesus, daran, wie sich der Himmel öffnete, als er aus dem Fluss Jordan stieg. Ein älterer Bruder stützt mit einer Hand meinen Rücken, mit der anderen fasst er meine Hände. Mit einer schnellen Bewegung lehnt er mich nach hinten und zieht mich einen Moment später wieder aus dem Wasser. „Wir begrüßen den neuen Bruder.“ Der Himmel öffnet sich nicht, ich spüre nichts, außer Glück und Stolz. Ich weiß schließlich, ich weiß schließlich gut, dass kein Wunder geschehen soll, dass das ein Symbol ist, aber ich hatte mit mehr als Glück und Stolz gerechnet. Ich will das weiße Blatt spüren, ich will spüren, wie Jehova alles fortnimmt, was schlecht ist, wie er den Dorn fortnimmt. Schnell greifen Hände nach mir. Die Familie, Cousins, mehrere Dutzend Personen, Brüder und Schwestern. Gratulation, Schulterklopfen. Ich bin wichtig, die Enttäuschung verschwindet. Ich bin wichtig. Von jetzt ab gehöre ich Jehova. […] Ich wurde am 2. Juli 1994 im Städtischen Stadion von Wałbrzych getauft. Ich war knapp vierzehn Jahre alt. Ich hatte es eilig. Mein Bruder hatte sich taufen lassen, als er achtzehn war. Die Eile hatte ich von meinen Eltern, den beiden Verliebten, die schon in ihren Liebesbriefen keine Phlegmatiker ertrugen. Bis heute geht Mutter nicht, sondern rennt. * Am 12. Mai 1989 wurden die Zeugen Jehovas offiziell registriert als Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas in Polen, repräsentiert von der Christlichen Versammlung der Zeugen Jehovas. Ihr Wirken ist legal geworden. Auf dem Grundstück neben dem abgebrannten Haus ist der Saal des Königreiches der Zeugen Jehovas entstanden. Innen Auslegware, von einem Kino abgekaufte Stühle, ein Podium, ein Pult, Blumen, an der Wand ein Bibelzitat, das jedes Jahr geändert wird. Keine Bilder, keine Symbole, kein Altar, kein Weihrauch. Entsprechend dem Gebot: „Du sollst neben mir keine anderen Götter haben. Du sollst dir kein Gottesbildnis machen und keine Darstellung von irgend etwas am Himmel droben, auf der Erde unten oder im Wasser unter der Erde!“ (Ex 20:3-4) Der Saal wurde von Freiwilligen gebaut, sie reisten aus ganz Polen an. Viele Jahre lang gab es in Szklarska Poręba nur einen Ältesten der Versammlung (Łukasz‘ Vater) – diese Funktion ist vergleichbar mit der eines Pfarrers in der katholischen Kirche. In der Versammlung gab es nicht mehr als fünfzig Verkünder. Sie nannten sich Brüder und Schwestern. Die ganze Stadt wusste, wer mit dem „Wachtturm“ in der Hand durch die Straßen zieht. Sie nannten es „Katzenglaube“. Bis heute treffen sie sich im Saal des Königreiches zweimal – früher drei Mal – die Woche zu den Versammlungen. Der Eintritt ist frei, außer den Gläubigen dürfen an den Versammlungen alle Interessierten teilnehmen. […] Die Zeugen Jehovas leben in einer eigenen Sprachwelt. „Die Wahrheit“ ist ihre Religion, aber auch eine Lebensweise. Man kann „in der Wahrheit“ oder „außerhalb der Wahrheit“ leben. Dieses Wort wird so häufig benutzt, mit einer solchen Natürlichkeit, dass nach ein paar Jahren in der Organisation die Frage nach der Wahrheit nicht mehr notwendig ist. Auf der anderen Seite ist „die Welt“, sprich alle außerhalb der Wahrheit. Es gibt kein Niemandsland. Die Wahrheit ist Gott, die Welt gehört dem Satan. In der Welt leben „Abtrünnige“, „Ausgeschlossene“ und Menschen aller anderen Glaubensrichtungen. Ein Mitarbeiter, eine Freundin, ein Nachbar können nette Menschen sein, aber bleiben „Weltliche“ und „Philister“, mit denen „die Brüder“ und „Schwestern“ sich nicht anfreunden sollten. „Die Philister waren eingeschworene Feinde von Jehovas Volk und eine ähnliche Haltung hat die heutige Welt Satans angenommen. Aber die Philister wurden als Volk zunichte gemacht und genau so wird Jehova bald seine zerstörerische Wut über diese Welt und ihr religiöses, politisches und ökonomisches System gießen.“ Dieses Zitat stammt aus dem „Wachtturm“ vom 1. Juli 1995, sprich aus der „Literatur“. So werden alle Publikationen genannt, die von dem Verlag Watch Tower Bible and Tract Society of Pennsylvania herausgegeben werden, gegründet von Pastor Russell. Literatur ist auch „Erwachet!“, eine Monatszeitschrift, die Themen wie Natur, Umwelt und Ökonomie aufgreift und Interessantes aus der Welt der Wissenschaft und der biblischen Rätsel enthält. […] Die Zeugen Jehovas sollen ihre Bedürfnisse nach Literatur mit ihrer eigenen Literatur stillen. Es existiert eine informelle Liste an verbotenen Büchern, zu denen auch das gehört, das du gerade liest, alle Publikationen, die sich negativ über das Thema Zeugen Jehova äußern und die, die von ehemaligen Anhängern verfasst wurden. Bekennt man sich zu ihrer Lektüre, droht einem ein „Hirtenbesuch“, eine Ermahnung, und in extremen Situationen „der Ausschluss“. Aus dem Polnischen von Antje Ritter-Jasińska EWA WINNICKA TYPISCH BRITE © Cezary Łazarewicz Ewa Winnicka – Journalistin, Reporterin und Koautorin von Drehbüchern für Dokumentarfilme. Seit vielen Jahren schreibt sie für die polnischen Magazine „Polityka“, „Tygodnik Powszechny“, „Duży Format“ und für das italienische „Magazin Internazionale“. Sie wurde für ihre Texte über gesellschaftliche Themen zweimal mit dem „Grand Press“ ausgezeichnet. Für ihr letztes Buch „Angole!“ [Typisch Brite] erhielt sie den Literaturpreis Gryfia; das Buch war auch für den Literaturpreis „Nike“ 2015 nominiert. Łukasz und László begegnen sich in der Buslinie 83. Ein Pole und ein Ungar. Beide leben seit mehreren Jahren in London. Sie fahren täglich zusammen etwa zehn Stationen. Insgesamt 25 Minuten. Genug Zeit, um sich anzufreunden und sogar, um einen Businessplan zu entwickeln. László hat mit einem englischen Mädchen ein Lied aufgenommen. Schon seit zwei Jahren feil er daran. Er ist Perfektionist. Łukasz gefällt das Lied, er will es ins Netz stellen und bei der Verbreitung helfen. Der Künstler und der Produzent. Ab sofort lesen sie im Bus über Weltstars, die auf MySpace angefangen haben. Das dauert ein halbes Jahr. Dann fährt Łukasz eine andere Strecke, weil er versetzt wird, und László geht zurück nach Ungarn und macht einen Schleiferkurs. „Wir hatten einen Trauminkubator“, sagt der Pole in Ewa Winnickas Reportage „Typisch Brite“. Seine Geschichte steht für die Geschichte der Arbeitsemigranten, für ihre Hoffnungen und Enttäuschungen. Wir kennen alle die Zahlen. Wir haben sie im Fernsehen in Diagrammen gesehen, sie im Radio gehört, in der Presse gelesen. Sie haben sich unterschieden, aber sie waren immer so hoch, dass man sie sich kaum vorstellen konnte. Ganz bestimmt mehrere Hundertausend, und vielleicht sogar zwei Millionen Polen sind in den vergangenen zehn Jahren nach Großbritannien emigriert. Das ist ein Phänomen, das nicht ignoriert werden darf. Doch die Autorin des berühmten Buches „Londyńczycy” [Die Londoner] meidet in ihrem neusten Buch Statistiken. Das Bild des Allgemeinen zeigt sie am Besonderen: anhand eines der Masse entnommenen Individuums. Es beginnt mit Anekdoten, es liest sich gut. Wie wir erfahren, geht es manchen – natürlich – gut. Sie sind erfolgreich, obwohl sie ein wenig Heimweh haben, sich manchmal fremd fühlen und sich über die kulturellen Unterschiede wundern. So zum Beispiel darüber, dass in einer englischen Familie zu Weihnachten bei der Bescherung gewartet wird, bis die anderen Familienmitglieder die funkelnden Schleifen aufgebunden, das Geschenkpapier aufgerissen und das Urteil gefällt haben: geht oder geht nicht. Wenn es nicht geht, muss man das misslungene Geschenk wieder mitnehmen und ohne Murren umtauschen. Da ist nichts Besonderes dabei. Das ist ganz normal. Andere Länder, andere Sitten. Es ist schwer zu sagen, wann der Leser das erste Mal vor den Kopf geschlagen wird. Jedenfalls passiert es nicht nur einmal. Vielleicht als er von dem Jungen liest, der wegen seines Andersseins in der Schule misshandelt wird. Vielleicht bei der Geschichte über die Frau, die auf ihrer Arbeit brutal gemobbt wird. Oder über den Mann, der zu Unrecht für Vergewaltigung verurteilt wird. Oder aber über seinen Landsmann, der ein polnisches Bestattungsunternehmen gegründet und sich jetzt darauf spezialisiert hat, die Leichen der Selbstmörderemigranten zurückzuführen. Vielleicht über die Freundin eines Polen, die „von ihrem Bruder psychisch misshandelt“ wurde. „Sie erzählte, dass sie bei ihrem kleinen Finger geschworen hatte, dass sie der Mama nichts von dem erzählt, was der Bruder macht“, erzählt Kamil in „Typisch Brite“. „Und sie hat wohl der Mutter doch etwas gesagt. Normalerweise würde ein Bruder vielleicht sagen: ,Aber du hast es versprochen!‘. Er aber nahm einen Hammer und zermalmte mit ihrem Einverständnis ihren kleinen Finger.“ Das ist wiederum sehr bezeichnend, denn so mancher von Winnickas Protagonisten lässt es widerstandslos zu, dass sein metaphorischer Finger zermalmt wird. Die Autorin lässt sie in ihrem Buch alle zu Wort kommen. Jedes Kapitel ist eine unabhängige Geschichte. Winnicka vermeidet einfache Verallgemeinerungen, sie überlässt es dem Leser, seine Schlussfolgerungen zu ziehen. Der kann sich diese vielleicht sogar leisten, wenn er nach der Lektüre zu weinen aufhört. Das werden jedoch keine soziologischen oder kulturwissenschaftlichen, sondern eher existenzielle Schlussfolgerungen sein. Denn Winnickas Buch ist eine überraschend universelle Geschichte über die in der menschlichen Natur steckende Sehnsucht nach einem Ort, an dem sich auf magische Weise alle unsere Probleme von selbst lösen. Und über die Traurigkeit die sich breit macht, wenn sich herausstellt, dass es einen solchen Ort nicht gibt. Małgorzata I. Niemczyńska EWA WINNICKA ANGOLE CZARNE, WOŁOWIEC 2014 133 × 215, 304 PAGES ISBN: 978-83-7536-836-9 TRANSLATION RIGHTS: POLISHRIGHTS.COM L A DIES TYPISCH BRITE and Gentlemen. Diese Gebiete haben eine ähnliche Invasion bisher nur einmal erlebt. Im 11. Jahrhundert hatten wir hier Wilhelm den Eroberer. Im Jahr 1066 fand hier die über das Schicksal der Inseln entscheidende Schlacht bei Hastings statt, nach der die Normannen England überfluteten. Danach herrschte relative Ruhe, denn die fünfzigtausend Hugenotten, die 1670 kamen, und die vielleicht hunderttausend russischen Juden, die sich zwischen 1881 und 1914 ansiedelten, sind nicht erwähnenswert. Ja, das 20. Jahrhundert war für uns eine Herausforderung. Wir hatten die Schotten und Iren hier, aber eigentlich waren sie so lange Teil von England gewesen, dass die Mehrheit wusste, wie sie sich zu verhalten hat. Ähnlich war es mit den Farbigen aus den verschiedenen Ecken des Imperiums. Alle konnten sich an unserer weltberühmten Liebe zur bürgerlichen Freiheit erfreuen. Nichts aber reicht heran an die wohl zwei Millionen Polen, die seit 2004 in der Gegend unterwegs sind, gespickt mit einer Handvoll Litauer, Russen und Ukrainer. Angeblich haben wir an ihnen zwanzig Milliarden Pfund verdient, angeblich haben sie die Lücke auf dem Arbeitsmarkt dicht geschlossen, aber dafür kann man auf den Straßen traditionell ordentlicher Städte wie Lancashire und Lincolnshire kaum noch die englische Sprache hören. Wenn du in den Fluss fällst und „help!“ rufst, kannst du nicht sicher sein, dass dich jemand versteht. Es gibt nicht den leisesten Zweifel daran, dass diese von EU-Richtlinien gesteuerte Überflutung das Bild Großbritanniens verändert. Wie sieht unser Land nach dieser Invasion aus? Was bleibt von ihm? Herr der Fliegen Rafał, 30 Jahre, Edinburgh Colin Thubron, ein bedeutsamer hiesiger Schriftsteller und Reisender, sagte mir kürzlich, dass er die größte Einsamkeit und Angst seines Leben empfunden hat, als seine wohlhabenden Eltern ihn in die boarding school gaben, eine prestigeträchtige Schule mit Internat. Später war nichts so schlimm, nicht einmal die einsame Reise nach Sibirien ohne Russischkenntnisse. Deshalb will ich mit Rafał sprechen, der die Oberstufe in der boarding school absolviert hat, und das Leben der Autochthonen der höchsten gesellschaftlichen Klasse kennengelernt haben muss. Die Jungen in seiner Schule wussten mit Sicherheit, wie man Kleider von Northcote Road trägt. Wenn prestigeträchtige Privatschulen Geldprobleme haben, lassen sie einen Ausländer in die Schulbank. Mich ließ man ins Lyzeum in Schottland. Hier haben Aristokraten ihren Abschluss gemacht, die dann Minister geworden sind, einer angeblich Premierminister, einer ein bekannter Schauspieler. Es war die Idee meiner Mutter, aber ich stimmte freudig zu. Nach der dritten Klasse im allgemeinbildenden Lyzeum in Krakau absolvierte ich die Prüfung, und meine Mutter nahm einen Kredit auf. Mein Vater lebt leider nicht mehr. Der lächelnde Dean stellte mir zwei Lehrer vor, die meine zukünftige zehnköpfige Klasse leiten sollten, und ermutigte mich dazu, unter dreißig verschiedensten zusätzlichen Angeboten unter anderem Reiten, Informatik, Militärwesen, Baseball und Polo zu wählen. Im September soll die Schule beginnen. Meine Mutter und ich fuhren mit dem Zug, und dann mit einem alten Ford, den wir von meiner Tante in Edinburgh geliehen hatten. Als ich meinen Rucksack aus dem Kofferraum nahm, merkte ich, dass hier etwas nicht stimmte. Die Engländer waren mit Cabriolets gekommen, auf den Hintersitzen stand ein Koffer, eine Art Piratenkiste, für die man mindestens zwei Personen brauchte, wollte man sie anheben. Weil ich keinen Koffer hatte, wussten meine Mitschüler, dass sie es mit einem Alien aus einer anderen Welt zu tun haben. Und als ich etwas sagte, bemerkten sie meinen Akzent. Dann war alles gelaufen. Nachmittags fuhr meine Mutter zu der Tante. Ich blieb in dem kalten Gebäude, das mich nun immer mehr an einen Horrorfilm mit einer Ordensgemeinschaft im Hintergrund erinnerte. Nur dass hier ganze Horden brüllender Jungen und Mädchen durch die Flure rannten, denn aus Sorge um die psychische Gesundheit der Jungen hatte man beschlossen, ein paar Schülerinnen aufzunehmen. Zuvor war der Vorwurf gefallen, dass die Absolventen dieser Schule keinerlei Umgangsformen Damen gegenüber hätten. Neunzig Prozent der Jungen in dieser Schule sind bestimmt seit ihrem neunten Lebensjahr hier. Selbst die, die in der Nähe wohnen, sehen ihre Eltern höchstens dreimal im Jahr. Manche haben Unterstützung in ihren Geschwistern, die ebenfalls diese Schule besuchen. Wenn du viel Geld verdienst, musst du dein Kind in eine Schule mit Internat geben. Du schickst dein Kind aus dem Haus und das ist ein echter Beweis dafür, dass du Geld hast. Nicht das Haus, nicht das Auto, sondern eine Schule mit Internat. Und in der Schule bringt man den Jungen bei, dass sie eine der höchsten gesellschaftlichen Schichten repräsentieren. Ausländer und Engländer, die keine Schule dieser Art abgeschlossen haben, gehören zur Unterschicht, mit der man sich nicht unbedingt abgeben soll, zu seinem eigenen Wohl. Dass immer häufiger Schüler weggehen, ist hingegen ein Beleg für eine Krise. Sicher haben sich die Eigentümer der Schule deshalb für Ausländer geöffnet. Es war der erste Tag. Ich ging zum Verwalter, der mich wie zuvor abgesprochen mit der Topografie der Schule vertraut machen und mir mein Zimmer im Internat zeigen sollte. Der asketische Herr bat mich, ihm nochmal den Namen des Landes mit P, aus dem ich gekommen war, zu nennen. Er rief den diensthabenden Jungen und befahl ihm, mich herumzuführen. Der Junge hieß Arthur. Als wir allein waren, schwang er den Arm und sagte: „Da ist dein Zimmer“. Dann drehte er sich auf der Ferse um und ging. Er hatte mich nicht einmal angesehen. Ich weiß nicht mehr, in welchem Moment ich mich an den Film „Herr der Fliegen“ erinnert fühlte. Über Jungen, über Kinder, die eine fürchterliche Gemeinschaft bilden. Die die Schwächsten ausschließen, diejenigen quälen, die anders sind. Von außen sieht alles elegant, glatt und fröhlich aus. Ich hatte also ein eigenes Zimmer. Eine Woche nach meiner Ankunft in der Schule komme ich in dieses Zimmer und es ist komplett leer. Alle Möbel, Kleider und Bücher stehen auf dem Flur. Da hatten sich meine englischen Mitschüler ein schönes Spiel ausgedacht. Der neue Mitschüler sollte sich nie sicher sein, was ihn abends erwartet. Sie wollten prüfen, ob er es dem Lehrer meldet oder nicht? Er sollte die Lust verlieren. Wir standen um halb sechs auf, zogen unsere Anzüge an, denn um sieben mussten wir schon am Tisch sitzen, und auf das Frühstück warten. Es gab immer Toastbrot mit Marmelade. Um halb acht fand die ökumenische Messe statt. Wenn wie durch ein Wunder ein Muslim in der Schule war, dann ging er zu dieser Messe mit der Bibel in der Hand. Dann begann der Unterricht. Und hier öffnete sich ein wahres Universum. Er wurde von echten Lehrern gegeben. Oft zwei für eine Klasse. Sie erwarteten unsere Fragen, verfolgten gern unsere Gedankengänge, empfahlen Lektüre, überprüften, ob wir verstanden hatten, passten ihre Erklärungsmethoden an jeden Schüler an. Jeder Lehrer hatte eine Passion und entwickelte diese Passion mit willigen Schülern nach dem Unterricht weiter. Der Geografielehrer war beispielsweise ein sehr lieber teddyartiger Kerl und liebte das Exerzieren. Ich liebte es nicht. Ich wollte das Fach social studies belegen. Zur Wahl stand noch das Militärwesen. Ich dachte, dass social studies den reichen Jungen sehr nützlich sein könnten, weil sie endlich etwas über die Gesellschaft erfahren würden, in der sie leben. Aber da nahmen nur Mädchen teil, kein einziger Junge. Die Jungen sagten, wer da mitmacht, wird schwul. Deshalb entschied ich mich für das Fach Militärwesen bei dem Geografielehrer. Einmal in der Woche zogen wir Uniformen an, marschierten und taten so, als veranstalteten wir Manöver. Wir stiegen in echte Autos, fuhren zu einem echten Schießplatz, veranstalteten Paraden auf dem Hof. Jeder musste einmal ins Militärlager fahren. Das war ein Erlebnis, wir zogen die Uniformen nicht mehr aus und spielten Krieg. Wir verfolgten in den umliegenden Wäldern Terroristen. Der Geografielehrer schaute den Jungen gern beim Exerzieren zu. Der Sportunterricht war das Lieblingsfach des Direktors. Man musste mehrere Disziplinen belegen, und darunter mussten obligatorisch zwei britische Sportarten sein. Beispielsweise Rugby, Kricket oder Rasenhockey. Ich wählte Kricket, aber schaffte es bis zum Ende des Kurses nicht, die Prinzipien dieses Inselspiels zu verstehen. Ich spielte auch Rugby. Einmal die Woche spürte ich während jeder Aktion auf dem Spielfeld, dass mich gleich ein Panzer überrollen würde. Und ich konnte nicht wegrennen. Ich wollte auch noch Segeln lernen, aber man sagte mir, dass nur Schwule den Segelkurs besuchen. Deshalb entschied ich mich für Basketball. Wir beschimpften uns ununterbrochen als Schwule. Für mein Gefühl gab es in der Schule einige Homosexuelle, aber keiner outete sich, weil er unaufhörlich geschlagen worden wäre. Dafür gab jeder damit an, wie viele Mädchen er in den Ferien oder auf der Toilette gevögelt hatte. Ich weiß nicht, was an diesen Angebereien dran war, weil ich als Ausländer für die englischen Mädchen unsichtbar war. Aus dem Polnischen von Antje Ritter-Jasińska MAREK BIEŃCZYK OLGAS APFEL, DAWIDS FÜSSE © Krzysztof Dubiel / The Polish Book Institute Marek Bieńczyk (geb. 1956) – Schriftsteller, Essayist, Übersetzer, Literaturhistoriker am Institut für Literaturforschung der Polnischen Akademie der Wissenschaften. Er hat bisher zwei Romane, Terminal und Tworki, sowie sieben Essaysammlungen publiziert. Für den Band Książka twarzy [Gesichtsbuch, „Face Book“] von 2011 wurde er mit dem bekannten polnischen Literaturpreis NIKE ausgezeichnet. Seine Bücher wurden bereits ins Englische, Bulgarische, Französische, Spanische und Deutsche übersetzt. „Album radikaler Verzückungen“ – so würde ich Marek Bieńczyks neuestes Buch bezeichnen. Es enthält Essays über Geschmack, Schönheit, die affirmative Rolle der Kunst. Marek Bieńczyk liest nicht nur in Texten, sondern auch in Bildern, Geschmäckern, Gesten, Körpern. Das Wesentliche in seinen Essays ist die Synästhesie – zum Beispiel, wenn er über die Darstellung des Musikhörens bei Proust schreibt oder auch über die Popularität Edward Hoppers, die unzähligen Verarbeitungen von dessen Bildern durch andere Schriftsteller: „Ich sah mit eigenen Augen, wie die literarische Bruderschaft in Hopper ihren Maler fand, der ihr erlaubte, Metaphorisches einzusaugen wie den Rauch von Selbstgedrehten, grenzenlose Meditationen über Einsamkeit, Zeit, Melancholie, das eigene, in Leere und Durchsichtigkeit und was nicht noch alles vertiefte Selbst zu entspinnen.“ Eine Rezensentin bemerkte: „Der Essay ist für uns heute geradezu unentbehrlich, da er es vermag, in diesen Zeiten von Informationsüberflutung und unnützem Wissen die ganzen herumschwirrenden Zitate aus Literatur, Philosophie, Liedern und Filmen mit unserem Leben zu verknüpfen“. Tatsächlich, Marek Bieńczyks Buch gibt dem Leser Raum – Raum, in dem er zugleich ausruhen und Neues lernen kann; die Lektüre verleiht somit das schöne und erquickliche Gefühl von emotionaler und intellektueller Entspannung und Anregung zugleich. Unter den Schätzen, die der Autor vor uns ausschüttet, befinden sich unter anderem: die „unintelligenten Waden“ – eine Bezeichnung, die die Lektorin Bieńczyk in einer Kundera-Übersetzung nicht durchgehen lassen wollte, Johnny Cashs „Bourbon-Bariton“, Zbigniew Herberts Gedicht über Dalida (die, wie der Autor schreibt, in der Volksrepublik eine ähnliche Verheißung von Luxus bedeutet habe wie Martini oder echtes Olivenöl), oder auch die Worte über den französischen Zeichner Sempé: „[E]r ist eher Schriftsteller als Karikaturist. Er ist der König der Ellipse, gibt uns also eine Chance.“ Und dieser Essay über Jean-Jacques Sempé, betitelt „Der Untröstliche und Fröhliche“, ist eine wahre Perle in dieser Sammlung: Marek Bieńczyk gelingt es, sinnliche – und nicht nur das, sondern oftmals auf den ersten Blick auch widersprüchliche – Eindrücke wie Freude und Melancholie, Begeisterung und Andacht in Worte zu kleiden. Im Universum des französischen Zeichners findet Bieńczyk eine Geschichte über das menschliche Schicksal: „Sempé ist ein Poet der Geste, ein fantastischer Beobachter des Körpers, dieses Zustands, wenn etwas in ihm heranreift, hinauswill in die Freiheit, ins Glück, in die Liebe, die Unendlichkeit, die Verzückung, aus sich heraus. [...] Sichtbar geschieht nichts, rein gar nichts Außergewöhnliches, am Strand spielt einer, er wäre ein Flugzeug, ein anderer schaut in die Weite des Meeres und lüpft anerkennend seinen Hut.“ Diese Winzigkeiten der Existenz zu bemerken, zu beleuchten, Raum um sie herum zu lassen – das ist das große Talent Marek Bieńczyks. Durch den ganzen Band schimmert wie ein Wasserzeichen Proustsche Empfindsamkeit. Proust selbst, seinen Arbeitstechniken, seiner Vision des totalen Werks, seiner Optik ist einer der Essays gewidmet: „Die gelbe Wand“, doch gegenwärtig ist Proust in Marek Bieńczyks Schreiben in jedem Moment. Da sind die meditativ-poetische Achtsamkeit für das Detail, der zurückhaltende Sinn für Humor, der Rhythmus, die das Wahrnehmungsfeld des Lesers erweitern. Proust wie Bieńczyk beschenken den Leser mit einer größeren Menge an „Leben im Leben“. Literatur, Sport, Körper, Essen, Malerei, Zeichnung – die von Bieńczyk gewählten Themen sind wesentlich, noch wesentlicher erscheint mir aber die Technik, mit der er sich ihnen nähert. Eine Technik, die sich durch Anmut auszeichnet, große Gewandtheit verlangt und aus regelmäßiger und ehrlicher Übung resultiert. Agnieszka Drotkiewicz MAREK BIEŃCZYK JABŁKO OLGI, STOPY DAWIDA WIELKA LITERA WARSZAWA 2015 215 × 130, 384 PAGES ISBN: 978-83-8032-007-9 TRANSLATION RIGHTS: WIELKA LITERA Was Besen betrifft, OLGAS APFEL, DAWIDS FÜSSE so besteht kein Zweifel, aber Zauberstäbe gibt es auch. Über anderthalb Stunden lang schoben wir uns bei neujährlichem Nieselregen im Schneckentempo zwischen den Metallbegrenzungen voran, es war kalt, und die Wartenden zogen trübselige Gesichter. Ungläubig starrte ich die Leute an, die aus dem Hôtel de Ville kamen, vor dem sich diese lange Schlange gebildet hatte. Das war eine andere Rasse, breit lächelnde Münder, Gekicher und beschwingter Schritt. Kein Zweifel, dort drinnen vollzog sich eine wunderbare Verwandlung, eine Verwandlung der Trübsinnigen in Zufriedene und Wohlgesonnene. Nein, nicht der damalige Bürgermeister der Stadt, Jacques Chirac, gab hier Champagner aus; das Pariser Rathaus hatte eine bessere Idee gehabt: eine Sempé-Ausstellung. Ich glaubte zu träumen: Also kann man den Menschen doch in engelsgleiche Verzückung versetzen. 2 Mit Sempé ist es wie mit dem Wetter oder mit Fußball; was kann man schon über ihn schreiben (deswegen tut es auch fast niemand), wo doch alle Bescheid wissen. Alle Franzosen und die halbe Welt; bei uns hingegen sind gerade mal zwei Bildbände erschienen. Ich weiß nicht, ob sie hierzulande so zum Lachen reizen wie an der Seine, wo Sempé als Meister gilt – an manchen Stellen muss man den kulturellen Kontext verstehen. Am besten geht das beim Kleinen Nick, dem der Zeichner seine Berühmtheit verdankt; die Schule, auf die der Kleine Nick geht, gibt es nirgendwo, und somit verbindet sie alle, und alle (jedenfalls alle Begeisterten) wären gern dort Schüler, denn so sollte die Welt sein: voller Lausbubenstreiche, komisch, manchmal etwas dümmlich, dann wieder gewitzt, auf jeden Fall aber süß. Der Text ist von Goscinny, Sempé sekundiert ihm eigentlich nur mit seinen Zeichnungen, was bedauerlich ist, besitzt er doch Erzähltalent. Ich bin kein großer Fan dieser Bücher, doch der Name der Hauptfigur gefällt mir. Sempé war es, der darauf gekommen ist, als er in der Métro fuhr und eine Reklame für die Weinhandlungen Nicolas sah. Den Namen hat er mitgenommen, Weine hatte er selbst – er bezog sie aus Bordeaux, wo er als junger Mann als Weinlieferant gearbeitet hatte. Einige Zeit zuvor hatte er einen Schlaganfall erlitten, von dem er sich lange nicht erholen konnte; eines Tages fing er zu zeichnen an, und wenig später sprang der Funke über; er hat sich nicht durch Worte zurück ins Leben gerettet, sondern durch Striche – etwas Ähnliches war Goya nach seinem Unfall passiert. Im jüngsten, wohl letzten abgedruckten Gespräch (mit Marc Lecarpentier) spricht er hauptsächlich und fantastisch über seine Kindheit in Bordeaux. Man sieht gut, dass es etwas zu reden gibt. Es geht um eine Zeichnung, ein Mann rennt über einen Strand und spielt Flugzeug. Er fliegt wohl sogar schon, denn seine Flügelarme oder Armflügel hat er schräg ausgebreitet. Sempé erklärt seinem Gesprächspartner: Das ist mein zwanghafter Fluchtinstinkt. Seit jeher, seit meiner Kindheit. Dutzende Male aus der Schule abgehauen, von zu Hause. Öfter von zu Hause, das der strenge Stiefvater manchmal in eine Zelle psychischer Folter verwandelte; trinken tat er natürlich auch. Sempé streunte herum, streifte durch die Straßen, tat so, als gehe er spazieren, oder, wie Tom Sawyer beim Streichen des Zauns, als habe er ein wundervolles Spiel entdeckt, sagen wir, die Bänke im Park zu zählen. Ich mag den Gedanken daran, wie ein Erwachsener den kleinen Sempé in einen Laden mitnahm und sagte: Und jetzt such dir was aus, mein Junge. Er schlug ein Fahrrad vor, ein neues, gutes Modell. Aber Sempé ist auch hier entwischt, er suchte sich eine große Schachtel Gummibänder aus; auch heute fühle er sich nicht gut, sagt er, wenn er nicht wenigstens ein paar Gummiringe in der Hosentasche habe. Die kann man immer gut gebrauchen; wozu, ist müßig zu fragen, das versteht man ohnehin nicht. Ich sehe mir also viel Sempé an, denn schon immer haben mich Figuren melancholischer Narren angezogen, Leichtsinnige, die immer eine andere Richtung einschlagen als der Rest, sich Gummiringe in die Hosentasche stecken. Die sich geheime Brücken in die Kindheit bewahrt haben, Schulschwänzer von Natur aus, Fahnenflüchtige von ihren eigenen Rollen. Und sogar von sich selbst. So meint bei Sempé auf einem Empfang, wahrscheinlich in Paris, obwohl das unbedeutend ist, eine Figur zur anderen: „Alle sagen immer nur: »Sei du selbst«. Freunde der Familie, mein Psychoanalytiker, »Sei du selbst«. Das betrübt mich: So ein Mangel an Ehrgeiz!“ Noch heute bringt man ihn am besten nicht in altehrwürdige Kreise, sicher rutscht ihm irgendwas heraus, Berufsspötter, der er ist. Kann keinen ernsthaften Satz sagen, dreht einem das Wort im Munde um, wortgewandter Wortewinder. Oder sagt nur einen ernsthaften Satz und im nächsten gleich das Gegenteil, wieder schwänzen wir Schule. Oder Arbeit. Oder den eleganten Empfang. Auf seinen Zeichnungen sind viele Erwachsene, die Reißaus nehmen, vergessen, wer sie sind und wie alt; das ist ihre beste Zeit, schießt es einem durch den Kopf. Sie vergessen, benehmen sich nicht wie sie selbst, schauen anders drein oder rennen wie verrückt durch die Gegend, schlenkern mit den Armen, lassen mit drolliger chirurgenhafter Konzentration Drachen steigen, sind wie Kinder, sind Kinder. Die Kinder wiederum (er zeichnet unzählige, übermütige oder traurige) rennen manchmal vor dem Kindsein davon, haben die außergewöhnliche Gabe, die Älteren verbal zu imitieren, ihre Körper in die Posen größerer Körper zu bringen. Sempés Helden, große wie kleine, sind häufig im Abflug, in einem an ihre Existenz grenzenden No Man’s Land, über die eigene Grenze geschoben, gehoben, vielleicht ein wenig lächerlich, doch für einen Moment zufrieden. Ob auf Pariser Straßen oder am Atlantikstrand – die Figuren, meint man, schwingen sich häufig zum Flug auf, wollen mehr. Sempé ist ein Poet der Geste, ein fantastischer Beobachter des Körpers, dieses Zustands, wenn etwas in ihm heranreift, hinauswill in die Freiheit, ins Glück, in die Liebe, die Unendlichkeit, die Verzückung, aus sich heraus. Eine kleine Handbewegung, andere Kopfhaltung, leichte Veränderung der Position. Alles kaum merklich, denn Sempé trägt nie dick auf oder brüllt vor Lachen – vielleicht bleibt er deswegen stärker in Erinnerung, zumindest in der Geschichte des Zeichnens, als viele andere, direktere Humoristen; er zeichnet einen Strich, zwei, deutet an, und den Rest muss man sich dazudenken, er ist eher Schriftsteller als Karikaturist. Er ist der König der Ellipse, gibt uns also eine Chance. Denn dazu haben wir die Gesten: um bei mangelndem Mut, Gelegenheit oder Möglichkeit das Unmögliche auszudrücken, aus uns selbst hinauszufliegen, einen Moment lang nicht wir selbst zu sein oder uns selbst zum Trotz. Sempé zeigt auf, dass all das, obwohl lächerlich und jämmerlich – wenn wir uns unerwartet in Träumereien verlieren, plötzliche Gelüste verspüren, die Arme ausbreiten oder unser Gesicht zum Himmelsgewölbe erheben – zugleich irgendwie schön, ja unschuldig ist. Leises Kichern und Akzeptanz in einem, Ironie und Wohlwollen, Spott und zugleich etwas, das ihn wieder aufhebt, lässt eine allumfassende Güte verspüren. Das Wunder der Lust. So sagt er es, wörtlich, in einem Interview, das Wunder der Lust, das Wunder plötzlichen Gefühlsüberschwangs, nur das zählt. Der Geist Rabelais’, der Geist des Westens in seiner besten Form, der großzügigsten und tolerantesten. Es gibt keine Heiligkeit, sondern im Sein an sich liegt etwas Heiliges. 3 Wahrscheinlich mag ich deswegen Sempés Zeichnungen ohne Worte am liebsten. Bei den anderen kann man sich kringeln vor Lachen, lange noch in sich hineinschmunzeln, die ohne Worte machen einen ergriffen. Sichtbar geschieht nichts, rein gar nichts Außergewöhnliches, am Strand spielt einer, er wäre ein Flugzeug, ein anderer schaut in die Weite des Meeres und lüpft anerkennend seinen Hut. Noch ein anderer kniet auf einer Wiese und beobachtet mit höchster Aufmerksamkeit, den Zigarettenstummel im Mundwinkel, Tausende von Ameisen, und seine ganze, nicht sehr wohlgeformte Gestalt drückt Faszination und Staunen aus. Einer schaut mit Bangen und Neugier in eine dunkle Allee von Bäumen, die sich oben mit dichtem Astgeflecht verschränken, Herr Meier im Wunderland. Und wieder einer geht einfach die Straße hinunter und atmet, das spürt man, aus tiefster Brust, mit plötzlicher Lust. Häufig geht einfach jemand irgendwo entlang, weiter nichts, im wahrsten Sinne des Wortes nichts; er ist – aber dieses Sein hat etwas Unwiderlegbares und Unumstößliches. Oder jemand fährt Fahrrad und grüßt mit der Hand fröhlich den Himmel: eine Szene wie aus einem Film von Tati, der Sempé verehrte – was auf Gegenseitigkeit beruhte –, da er fand, Sempé zeichne das, was er selbst filmte, die Ferien des Monsieur Hulot und andere Fälle von einfachen Menschen, welche die Logik der Welt um sie herum nicht ganz begreifen. In Polen haben wir Szenen „wie bei Mrożek“, wer Sempés Bildbände kennt, hat Szenen „wie bei Sempé“, das ist bereits in den allgemeinen Sprachgebrauch eingegangen. Nur einer Handvoll großer Meister ist es gelungen, der Wirklichkeit so charakteristisch ihren Stempel aufzudrücken, „das ist kafkaesk“, „wie bei Gombrowicz“. Kennt man Sempé, kann man nicht in der französischen Provinz und noch weniger in Paris unterwegs sein, ohne überall Situationen und Menschen „wie bei Sempé“ zu entdecken. Die Provinz bekommt ein freundlicheres Gesicht, die Stadt, gesehen „wie bei Sempé“, kehrt in alte Bahnen zurück, gewinnt an Charme, wird neu erfunden. Aus dem Polnischen von Lisa Palmes MAREK BEYLIN INBRUNST. DAS LEBEN DER ALINA SZAPOCZNIKOW © Bartosz Stawiarski Marek Beylin (geb. 1957) – Kunsthistoriker, Publizist und Kommentator der Tageszeitung „Gazeta Wyborcza“. Befasst sich mit politischen, sozialen und kulturellen Themen. Autor der Bücher Przygody Polaków z demokracją [Die Abenteuer der Polen mit der Demokratie] und Spokojnie, to tylko rewolucja [Gemach, das ist nur eine Revolution]. Ferwor [Inbrunst] erzählt vom Leben der Bildhauerin Alina Szapocznikow. Die Geschichte schildert den im Titel benannten Eifer und die Leidenschaft in einem harmonischen Erzählrhythmus. Marek Beylins Stil hat Klasse, Eleganz und Ruhe – all das, was einem Porträt guttut. Das breite Wissen aus den Bereichen Geschichte, Kunstgeschichte, Philosophie, Politik und die Fähigkeit auszuwählen, gestatten es dem Autor, das Buch mit der richtigen Menge an Informationen anzureichern, mit Einzelheiten Interesse beim Leser zu wecken, aber ihn damit nicht zu erdrücken, dem Leser nicht nur eine belletristisch verarbeitete Zeittafel anzubieten (wie es zuweilen bei biografischen Erzählungen vorkommt), sondern eine richtige Struktur, die ihn die Künstlerin verstehen lässt. So beschreibt er beispielsweise, wie die Tatsache, dass Alina Szapocznikow intellektuell und geistig im vom Existenzialismus durchtränkten Paris Ende der 40er Jahre heranreifte, ihre späteren Arbeiten und ihr Verständnis von der Kategorie „ich“ beeinflusste. Genau dieser Blick aus einer bestimmten Perspektive auf eine Reihe philosophisch-gesellschaftspolitischer Prozesse gibt die Ausdauer, die für die Lektüre der Erfahrungen einer so sensiblen Künstlerin in dermaßen intensiven Zeiten und an Orten, an denen Ideen und Ereignisse derart kumulieren, notwendig ist. Marek Beylin entführt uns auf eine Reise von Kalisz, wo Alina Szapocznikow 1926 in einer intellektuellen, jüdischen, assimilierten Familie geboren wurde, über Pabianice, dann ins Getto von Pabianice und Łódź (verwaltet von Chaim Rumkowski), nach Auschwitz, Bergen-Belsen, Theresienstadt, in das Nachkriegsprag, nach Paris, Warschau und eine Reihe von Orten, die sie bereist hat (darunter Moskau, wo ein Flugzeug mit einer Regierungsdelegation auf Szapocznikow warten musste, die sich verspätete, weil sie beim Einkaufen die Zeit vergessen hatte, oder die Côte d’Azur, wo sie sich zu Picasso zum Abendessen einlud und von ihm Geld borgte), über weitere Wohnungen und Ateliers in Warschau und Paris, bis hin zum Friedhof in Montparnasse, auf dem sie am 6. März 1973 beigesetzt wurde (sie ist früh an einer Krebskrankheit gestorben, die im Übrigen eines der Themen ihrer Werke war). Bedeutsam sind in Marek Beylins Geschichte die Einzelheiten – er lokalisiert auf der Landkarte, gibt Koordinaten an, lässt einen den Kontext schmecken, berühren und riechen. Das ist wichtig, denn in Alina Szapocznikows Leben und Arbeit waren die Sinne von enormer Bedeutung. Beylin zitiert ihre Liebesbriefe, nicht um – wie er selbst einräumt – mit Privatsphäre zu beeindrucken, sondern um ihren Umgang mit dem Körper und mit Berührung wiederzugeben, die sowohl in der Liebe als auch für ihre Arbeit so wichtig waren. Er beschreibt, wie sie mit ihrem Äußeren umging, ihrer Kleidung, ihrem Make up, dem Essen („Kaffee mit Sahne – ein Wunder“ – schreibt sie in einem Brief aus Holland), ihrer Fähigkeit, in jedem Augenblick das Fest des Lebens zu feiern – „das Leben im Getto begünstigte die Intensität der Gefühle, die Freude am Augenblick, denn im nächsten hätte es schon vorbei sein können. Aber in Alinas Verhalten war mehr – die Lebenskraft und der Lebenshunger, die sie dazu brachten, jede Gelegenheit zu nutzen, sich der Freude und dem Vergnügen hinzugeben. Selbst im Getto. Sie verwarf den Gedanken an ein anderes Leben nicht, sie hoffte, begehrte, wollte leben. Als kaum Siebzehnjährige schrieb sie in ein gelbes Büchlein: ,Die Apfelbäume blühen. Ach! Wie schön ich bin. Och! Wie unglücklich ich bin, wie glücklich, wie gefangen, geplagt, wie sehr ich die Freiheit will! Wie sehr ich hier raus will.‘“ Einzelheiten betreffen unter anderem auch die Situation der polnischen Emigranten in Paris (eine äußerst interessante Beschreibung von Gästen der Kantine in der Rue Racine, die von der polnischen Botschaft gefördert wurde) und ihre Bildhauertechnik sowie die Geheimnisse des Materials. Marek Beylin teilt in seinem Buch mehrmals seine Überlegungen und Interpretationen mit; er lässt viele Menschen zu Wort kommen, mit denen er gesprochen hat, oder deren Werke er zitiert. Vor allem aber macht er Alina Szapocznikows Stimme hörbar und lässt mit ihrem Testament, das sie wenige Monate vor ihrem Tod geschrieben und in einen Prosaband von Bruno Schulz gelegt hatte, seine Geschichte ausklingen: „Das Wichtigste Ich will, dass ihr euch daran erinnert, dass jeder herumfliegende Brief, der zu sehen ist, jeder Plunder, den man berühren kann, jeder Geschmack und Geruch oder das Rauschen des Windes wichtiger sind als alle Kunstwerke und künstlerischen ,Erfolge‘.“ Agnieszka Drotkiewicz MAREK BEYLIN FERWOR. ŻYCIE ALINY SZAPOCZNIKOW KARAKTER, KRAKÓW 2015 150 × 205, 384 PAGES ISBN: 978-83-62376-82-7 TRANSLATION RIGHTS: KARAKTER Das Atelier INBRUNST. DAS LEBEN DER ALINA SZAPOCZNIKOW von Alina Szapocznikow bei Paris 1968. Szapocznikow gießt zusammen mit ihrem Sohn Bäuche. Aus schweren Eimern kippen sie Polyurethan, Kunstharz, aus. Bei der Arbeit an großen Skulpturen benutzte Szapocznikow keine Formen, sie modellierte die Masse schnell und unter hoher Anspannung. Gemeinsam machten sie etwa fünfzig Bäuche. Sie waren in der Lage, drei am Tage zu gießen, erinnert sich Piotr, der damals ein heranwachsender junger Mann war. So haben sie auch Alinas Bauch gegossen. Häufig hat sie in ihrer Kunst ihr eigenes Gesicht, ihren Mund, ihre Brüste und ihre Beine verarbeitet. Ihren Körper hielt sie für den besten Vermittler zwischen dem, was sie ausdrücken wollte, und der Welt. Die Bäuche bilden die Werk-Serie Ventres – Expansion (Bäuche – Expansion). Bei ihrer gemeinsamen Arbeit experimentierten sie mit Farbstoffen: mit den einen wuchs die Masse mit Freon wie Teig, andere neutralisierten das Freon und die Masse ging nicht auf, es entstand eine Art unausgebackener Teig. Sie sprachen auch mit Chemikern der Firma Rhône Poulenc, die für Szapocznikow Kunstharze herstellte, und kauften Chemikalien. Kunstharze, Polyurethan und Polyester, werden schnell hart, deshalb müssen die Skulpturen blitzschnell geformt werden. Szapocznikow mochte diese hastige Arbeit, dieses Zusammenspiel von Plan und Intuition, obwohl sie immer die volle Kontrolle über das Material behalten wollte. Sie freute sich selbst daran und bereitete anderen Freude. Ihre engsten Freunde lud sie ein, am Schöpfungsakt live teilzunehmen. Den Schaffensprozess verstand sie als Performance, als eigenständiges Kunstwerk. Und als Feld für Experimente, weil nicht gänzlich vorauszusehen war, was aus einer Arbeit entstehen würde. Denn Szapocznikow war eine unnachgiebige Experimentatorin, die immer nach etwas Neuem suchte. Für Piotr bedeutete die Zusammenarbeit mit seiner Mutter, Geheimnisse zu entdecken. Als Kind schlug er oft an die Ateliertür, Szapocznikow öffnete nur ungern und deckte ihre Arbeiten zuvor zu. Nicht nur vor ihm, vor allen. Manchmal ließ sie ihn bei ihrer Arbeit zuschauen. Er erinnert sich daran, wie es ihn als Kind fasziniert hatte, wenn sie Bleiskulpturen goss. Doch die wichtigste Initiation erfuhr er Jahre später, am Ende ihres Lebens. Er wurde ihr Modell. Alina wusste, dass sie sterben würde, aber Piotrs Erinnerungen und die Fotos, die während der Arbeit gemacht wurden, zeigen eine Zeit des köstlichen Vergnügens. Sie lachen, machen Faxen. Als die Mutter den nackten Körper des Sohnes mit Gips beklebt, spielen sie auch mit dieser sittlichen Überschreitung. Nicht das Grauen des plötzlichen Todes herrscht, sondern das Fest des Lebens. *** Warschau 1956. Alina Szapocznikow und ihr Ehemann Ryszard Stanisławski gehen zum Abendessen zu einem befreundeten Ehepaar, Jan und Danuta Styczyński. Er fotografierte seit 1956 Szapocznikows Atelier, schon bald, in den sechziger Jahren, wird er als Fotograf Anerkennung finden. Sie arbeitete in einem Verlag. Es ist ein Abend wie viele andere, das gesellschaftliche Leben ist rege, die Menschen treffen sich oft, meistens zuhause. Aber dieses Abendessen wird der Gastgeberin in Erinnerung bleiben. Als Alina die Wohnung betrat, faltete die sechsjährige Tochter der Gastgeber die Hände wie zum Gebet und rief: „Wie schön Sie sind, wie die Madonna!“. Seitdem verbindet das Mädchen Szapocznikow mit der Mutter Gottes. Die Gäste brachten guten französischen Wein mit, die Gastgeberin hatte ein üppiges Abendessen zubereitet. Sie amüsierten sich gut, Alina war, wie immer, geistreich und witzig, warf mit treffenden Riposten um sich. Sie sang eine Hymne auf den Wein und auf die Lebensfreude, die in den Weintrauben eingeschlossen ist. Sie war verführerisch. Sie war dafür bekannt. Der Abend verlief fantastisch. Aber das ist nur ein Teil der Wahrheit. Denn das angenehme Beisammensein hatte einen doppelten Boden: das Schweigen. Szapocznikow hatte gut ein Jahrzehnt zuvor den Holocaust überlebt, als heranwachsendes Mädchen hatte sie das Getto, Deportationen und Todeslager durchgemacht. Nie hatte sie darüber gesprochen, was damals mit ihr geschehen war, sie sprach also auch an diesem Abend nicht davon. Stanisławski war gleich nach dem Krieg illegal aus Polen nach Paris geflohen, dann war es ihm gelungen, den legalen Status des polnischen Staatsbürgers wiederzuerlangen. Aber während des gesamten Stalinismus, als der Terror wütete, musste er befürchten, dass sein Vorgehen ans Tageslicht kommen würde, und zwar als Verbrechen gegen das politische System. Damals wurden die Menschen schon für geringere Taten bestraft. Nach der Entstalinisierung war es besser zu schweigen, denn sein Vorgehen hätte als Makel in seinem Lebenslauf gesehen werden können. Auch die Gastgeber hüteten Geheimnisse. Er hatte während der Besatzung für den Geheimdienst der Heimatarmee gearbeitet, einer streng geheimen Zelle, die auch die Kommunisten unterwanderte. Nach dem Krieg verbarg er sich aus Angst vor Gefängnis, Folter und Todesurteil in der Psychiatrie. Er simulierte Gedächtnisverlust, auch vor den Ärzten, deshalb durchlief er die volle Therapie, einschließlich Elektroschocks. […] Auch die Gastgeberin hatte etwas zu verbergen, zwar nicht vor ihrem Mann, aber vor dem Rest der Welt. Im Jahr 1939 hatte sie ihren Vater, Offizier im Verteidigungskrieg 1939, von den Sowjets festgehalten, zur Abreise begleitet. Das Ende dieser Reise war Katyn, wo der NKWD tausende polnische Offiziere ermordete, die die Sowjetunion gefangen genommen hatte, als sie zusammen mit Hitler Polen angegriffen hatte. In der Volksrepublik Polen durfte man sich nicht mit Katyn rühmen. Laut offizieller Version hatten in Katyn die Deutschen gemordet und die Entstalinisierung hat dies nicht geändert, obwohl damals viele stalinistische Verbrechen aufgedeckt wurden. […] Die Volksrepublik Polen gründete sich auf Amnesien, auf organisierten und auf spontanen. Über viele Dinge und über die eigenen Lebensläufe wurde nicht gesprochen. Über ihre Schicksale schwiegen nicht nur die Heimatarmeesoldaten, sondern auch die Schlesier, Kaschuben, Masuren, Ukrainer und die Repatriierten aus den von der Sowjetunion einverleibten ehemals polnischen Ostgebieten, die sich an ihren neuen Orten jahrelang fremd fühlten. Es schwiegen die Opfer der stalinistischen Deportationen der Jahre 1939-40 und der Gulags und die Gefangenen des polnischen Stalinismus. Die Soldaten der bewaffneten Streitkräfte im Westen ließen sich nach ihrer Rückkehr nach Polen Zeit mit biografischen Erzählungen, insbesondere die, die aus den Gulags und der sowjetischen Verbannung für die polnische Armee rekrutiert worden waren. Auch die Menschen, die aus dem Landadel und der wohlhabenden Bourgeoisie stammten, aus Gruppen, die als feindlich galten. Mit einem Wort, es bemühten sich alle die zu schweigen, deren Leben nicht zum kanonischen kommunistischen Bild der Geschichte passte. Zwar brach ab 1955 der stalinistische Terror auf, für übermäßige Redseligkeit drohte kein Gefängnis mehr, eher Schwierigkeiten am Arbeitsplatz und schwierige Karrieren, aber wer wollte schon Schwierigkeiten haben? Hinzu kam, dass allen der Stalinismus in den Knochen saß, die Angst vor der Regierung und ihren Diensten blieb bis zum Ende der Volksrepublik. Diese vom System erzwungene Amnesie betraf Millionen Menschen. Zum Teil auch Polen jüdischer Herkunft, weil das Verhältnis der Volksrepublik zu den Juden nicht eindeutig und wechselhaft war, genauer gesagt war die Intensität der antisemitischen Abneigung wechselhaft. Der Antisemitismus blieb in der Volksrepublik von Anfang an im Parteiapparat, beim Militär und bei der Miliz bestehen und gehörte zur mentalen Ausstattung eines nicht geringen Teiles der Gesellschaft. Dies hielt zahlreiche überlebende Polen jüdischer Herkunft, so wie Alina Szapocznikow, davon ab, ihre Genealogie zu bekunden. Neben den aufgezwungenen Gedächtnisblockaden wurden Erinnerungen auch spontan ausgelöscht. Für viele waren die deutsche Besatzung und insbesondere die Lager ein solcher Alptraum gewesen, dass die Erinnerung daran drohte, zur Lebensunfähigkeit zu führen. Auch diejenigen, die überlebt und zahlreiche Todesfälle in der Familie, unter Freunden und Bekannten zu verzeichnen hatten, sprachen selten darüber. Daran erinnere ich mich von Zuhause. Mein Vater, Szapocznikows Jahrgang, ein Pole jüdischer Herkunft, der sich während der Besatzung zunächst mit „arischen Papieren“ deckte, wurde, als ihm Denunziation drohte, nach Deutschland zur Zwangsarbeit deportiert. Dort überlebte er, obwohl er, wieder bedroht, mit einer Gruppe von Zwangsarbeitern in den Wald floh. Sie irrten mehrere Wochen umher, bis sie von den Amerikanern befreit wurden. Die Tanten, die ihn großzogen, überlebten die Besatzung mit gefälschten Papieren, eine von ihnen nahm am geheimen Unterricht teil. Alle waren tapfer gewesen, und diese Geschichte war für sie gut ausgegangen. Dennoch wollten sie nicht von diesem Teil ihres Lebens erzählen; und wenn es gelang, etwas aus ihnen herauszubekommen, handelte es sich um kurze Anekdoten, ohne Grauen und Entsetzen. In diesem Geiste erzählte Alina in den fünfziger Jahren einer Bekannten, der belgischen Schriftstellerin und Philosophin Françoise Collin von den Lagern: „Ich habe sehr gute Erinnerungen an die Lager. Ich war damals ein Kind und alle Erwachsenen fütterten mich, gaben mir ihre Portionen. Sie haben mich verwöhnt.“ Aus dem Polnischen von Antje Ritter-Jasińska MARCIN WICHA WIE ICH AUFHÖRTE, DESIGN ZU LIEBEN © Bartłomiej Molga Marcin Wicha (geb. 1972) – Als Grafiker gestaltet er Buchcover, Plakate und Logos. Er schreibt aber auch. Seine Texte sind unter anderem in „Autoportret“, „Literatura na Świecie“ und „Tygodnik Powszechny“ erschienen. Weiterhin ist er für die „Gazeta Wyborcza“ und „Charaktery“ tätig und hat auch einige Kinderbücher veröffentlicht. Wie ich aufhörte, Design zu lieben ist eine der interessantesten Sichtweisen auf das heutige Design. Der Autor von Wie ich aufhörte, Design zu lieben ist kein Nostalgiker der Volksrepublik Polen, doch hat er das Design seiner Kindheit ohne Zweifel mehr geliebt als das heutige. Als Kind lernte er die vom Vater gesammelten Exemplare der Zeitschrift „Ty i ja“ kennen und schätzen. Die 1974 zum letzten Mal erschienene legendäre Zeitschrift „berichtete auf 50 Seiten […] über die Welt der Kultur, der Mode, des Designs und setzte Maßstäbe für die Wünsche und Bedürfnisse der Intelligenz“. Marcin Wicha, heute Grafiker und Schriftsteller, erzählt, wie er in die faszinierende Welt des Designs eintauchte, deren zentrale Figur der Vater war – Architekt, „weltlicher Jude“ und Hauskaplan. Wie im Prosawerk von Bruno Schulz entdeckte der Junge in den leicht lädierten Ausgaben von „Ty i ja“ ein ganzes Universum. Die Mutter (wie die bodenständige Adela von Bruno Schulz!) schnitt zwar die Kochrezepte heraus, aber „sonst war dort alles. Abbildungen aus amerikanischen Filmen, Grafiken von Roman Cieślewicz, Gedichte von Velimir Chlebnikow, Mode von Grażyna Hasse, die polnische Schule der Plakatkunst in all ihren Formen und Spielarten“. Die Wohnung der Familie Wicha, voller Reißbretter, mit edlem vom Export ausgesondertem Tischgeschirr und Relikten unverwirklichter großer Ideen (wie der Plan einer Schiebewand), war ein Tempel des Geschmacks, die Behausung „virtueller Amische“, die von allgegenwärtiger Hässlichkeit belagert wurden. Das Buch ist keine verklärte Erinnerung, sondern hat eine solide stoffliche Grundlage. Der Autor beschreibt Filzstifte, Plakate, Schuhe, aber auch die in der Volksrepublik Polen unachtsam im Gebüsch versteckten Säcke mit verhärtetem Zement. Oder genial projektierte, aber mangelhaft konstruierte Bücherregale. Oder die herrliche Hundeleine, die der Vater liebte, der Hund aber nicht zu schätzen wusste. Vergangene Dinge, die an die Deutschen und Juden erinnerten, moderne und schon wieder aus der Mode gekommene. Jedes von ihnen hat seinen eigenen Stil und seinen Sinn, selbst der geschmacklose, gewöhnliche Schund, der nach dem Zusammenbruch des Systems sintflutartig hereinströmte. Marcin Wicha hat ein Fachbuch geschrieben – er kennt die Objekte und versteht sie – ein Buch, das gleichzeitig ironischphilosophisch ist, zuweilen sogar poetisch. Die Sammlung der fast aphoristischen Kurzgeschichten wird durch die Erzählung Die Urne eingeleitet – die das Begräbnis seines Vaters beschreibt. Die gefühlvollen Spötteleien über den ästhetischen Terror des Vaters durchdringt zwischen den Zeilen das Gefühl des Verlusts, eine diskrete, beinah schweigsame Besinnung der Trauer. Diese Geschichte der ästhetischen Schicksale der heute Vierzig- und Fünfzigjährigen, eine Stil- und Sachbiografie, hat viele dankbare Leser gefunden. Unter ihnen sind solche, denen wie Vater und Sohn Wicha die unpassende Farbe eines Kabelsteckers den halben Tag versauen kann. Es gibt wohl auch Leser, die sich im Labyrinth der unzähligen zeitgenössischen „Designobjekte“ verirrt haben und die gerade deswegen eine Lehrstunde ironischer Distanz dringend nötig haben. Kazimiera Szczuka MARCIN WICHA JAK PRZESTAŁEM KOCHAĆ DESIGN KARAKTER, KRAKÓW 2015 125 × 205, 264 PAGES ISBN: 978-83-62376-83-4 TRANSLATION RIGHTS: KARAKTER Die Urne WIE ICH AUFHÖRTE, DESIGN ZU LIEBEN „Bitte wählen Sie eine Durchwahl oder warten Sie, bis Sie mit dem Sekretariat verbunden werden“, und im Hörer erklingt die Stimme von Louis Armstrong: And I think to myself, What a wonderful world! Wer diesen Song wohl ausgewählt hat. Der Direktor des Krematoriums? Ein Verkäufer von Anrufbeantwortern („Ich habe hier etwas passendes für Ihr Geschäftsprofil“)? Gut möglich, dass diese süße, rauchige Standardmelodie Nummer eins auf irgendeiner Trauerplaylist ist, die beliebteste musikalische Untermalung bei Einäscherungszeremonien. In amerikanischen Komödien taucht dieses Motiv oft auf. Die Asche in der Handtasche, in einer Schachtel oder in einer Keksdose. Die sterblichen Überreste in der Vase auf dem Kamin, im Küchenschrank, auf dem Fensterbrett. „Was hast du da? – Oma.“ Und schon beginnt der Wettlauf urkomischer Überraschungsmomente. Die nächsten Gags zünden. Die Katze stößt die Urne um. Ein betrunkener Partygast vermischt die Asche mit Kokain. Endlich der Höhepunkt: die Asche wird feierlich verstreut, natürlich ist es windig, damit ein verspielter Windstoß den Trauergästen die graue Wolke direkt ins Gesicht blasen kann. Es folgt eine Nies- und Hustenorgie, die Kleidung wird abgeklopft. Wir haben zusammen viele dumme Filme gesehen. *** Ich betrat das Haus, in dem er nicht mehr war. Die Freundinnen meiner Mutter waren gekommen, es herrschte hektisches Treiben. „Auf den Warschauer Lokalseiten oder landesweit?“ „Könnte man das Personalausweisfoto nehmen?“ „Ist vielleicht noch ein bisschen Kaffeesahne da? Wenn nicht, geht auch normale Milch.“ Die Friedhofsverwaltung. Das Krematorium. Das Leben wurde in eine Reihe von abzuarbeitenden Aufgaben eingeteilt. Ein Gefühl der Ratlosigkeit überkam mich einige Tage danach, als ich im Bestattungsinstitut durch den Hochglanzkatalog mit Urnen blätterte. Jede sah aus wie eine Kreuzung aus griechischer Vase und chinesischer Thermoskanne. Sie glänzten in Brokat. Sie schimmerten in Chrom. Sie waren golden, weiß-golden, malachitfarben und schwarz. Sie hatten verzierte Henkel und Griffe. Einige glichen altmodischen Einweckgläsern mit Drahtverschlüssen. Andere sahen aus wie das Honigtöpfchen von Pu dem Bären. Die meisten waren aus Kunststoff, aber es fehlte im Angebot auch nicht an Naturstein (offensichtlich hat auch die Natur mal einen schlechten Tag). Und natürlich die Kreuze. Eingeritzt. Aufgemalt. An der Seite angeklebt. Nach oben hervorstehend (wie eine Miniatur des Giewont-Bergs). Nicht fehlen durften natürlich auch eine Dornenkrone, die Gottesmutter im Halbprofil und Christus in der Rast. Der arme Vater. Ein weltlicher Jude, der sich für religiöse Fragen überhaupt nicht interessierte, das musste völlig an ihm vorbeigehen. Die Alternative waren Blumen – eine weiße Lilie oder eine verblühte Rose. Nach Meinung der Bestattungsbranche leben in Polen zwei verschiedene Menschentypen: Christen und Anhänger einer Floristensekte. Ich durchblätterte die Seiten, die Chefin des Bestattungsunternehmens wurde langsam ungeduldig. Getrieben von ihrem Blick, entschied ich mich schließlich für irgendein Muster. […] Danach versuchte ich mir einige Stunden lang einzureden, es sei schon okay so. Aber es war nicht okay. Der Vater hätte sich mit so einem Gefäß niemals einverstanden erklärt. Es ist eine Sauerei, einfach die ästhetischen Gefühle eines anderen Menschen zu missachten, nur weil er gestorben ist. *** Der Geschmack meines Vaters bestimmte jahrelang unser Leben. Seine Urteile waren heftig und endgültig. Wir lebten in einem ästhetischen Minenfeld. Mit der Zeit lernte ich, die Fallstricke zu umgehen und in dem Maße, wie ich mehr und mehr auf sicheren Wegen ging, wuchs in mir das Gefühl der Zugehörigkeit. Wir wurden Waffenbrüder im Kampf gegen die ganze Welt. Scheußlichkeiten kamen dem Vater nicht ins Haus. Wir lebten im Belagerungszustand, wie visuelle Amische. Unser Gegner war das politische System. Die Wirtschaft. Das Klima. Einen Zentimeter hinter der Tür nahm die ölfarbene Wandverkleidung ihren Anfang, begann der Terrazzoboden. Es wartete der Aufzug mit seinen eingeschmolzenen Druckknöpfen, der Wohnblock, die spätsozialistische Landschaft. Was die Menschen betrifft, die wir liebten, so sind lakonische Diagnosen fehl am Platz. Was unsere Nächsten betrifft, sollte kompliziert und einzigartig sein. In Wirklichkeit war es einfach und typisch. Es gibt eben Menschen, denen die unpassende Farbe eines Steckers den halben Tag versauen kann. Die lieber zuhause sitzen als in einer Pension am Meer, wo die Teppiche eine scheußliche Farbe haben. Unglückliche, gequält von Werbeplakaten für Spachtelputz. Jaja, ich weiß. Geschmack ist eine Klassenkategorie. Er bestimmt Hierarchie und Unterteilungen. Spiegelt unsere Ambitionen und Ängste wieder. Gestattet, sich zu erheben, zu täuschen, zu betrügen. Und so weiter. *** Wenigstens bei der Urne habe ich meinen Kopf durchgesetzt. Im verwaisten Kalender fand ich die Telefonnummer eines Bildhauers, mit dem mein Vater mal zusammengearbeitet hatte. Ich rief an. Erklärte, worum es geht. Noch zwei Tage bis zur Beerdigung. Der Künstler hörte mir zu, ganz ohne Verwunderung. Er dachte eine Weile nach. „Ich habe mal Blumenbehälter für die Kirche in Ursynów gemacht. Man braucht bloß die Ständer abzutrennen, und es wird passen…“ Und so bestattete ich die Asche meines Vaters in einem schwarzen Granitwürfel. An der Seite waren Vorund Nachname eingraviert. Die Schriftart – Futura. Großbuchstaben. Zweimal jeweils fünf Buchstaben, elegant ausgerichtet, so wie er es mochte. […] Was ich über Design erfuhr, ohne das Haus zu verlassen [...] Das Embargo umfasste: Couchgarnituren, Glastassen mit Untersetzern, besonders die mit verzierten Metallhaltern. Jetzt, wo ich darüber schreibe, fällt mir ein, dass es zwei verschiedene Sorten von Gläsern gab, einmal die etwas bauchigeren (nicht koscheren) und dann die eckigen, mit trapezförmigem Boden, die ein Zertifikat des familiären Rabbinates erhalten hätten. Im deutschen Ferienlager gab es Glastassen, die eine entfernte Verwandschaft mit dem Bauhaus verrieten. Dort wurden auch DDR-Bluesschallplatten verkauft. Ich glaube nicht, dass sich die DDR-Regierung um die Urheberrechte scherte, also ist es gut möglich, dass wir Raubkopien von Muddy Waters in der Hand hielten, noch bevor es das Internet gab. Auf der häuslichen schwarzen Liste waren weiterhin zu finden: Regale (schon das Wort scheint mir abschreckend), Schrankwände (siehe oben), Puffsitze (siehe oben), Hausschuhe (siebe oben) sowie auch strümpfig laufen. Diese zwei letzten Verbote fielen zusammen, was eine ziemlich komplizierte Situation schuf. Zum Glück produzierte die polnische Schuhindustrie in den siebziger Jahren Holzschuhe mit Holzsohlen. Mit Preisschildern in englischer Sprache beklebt (die schwedische Flagge verwischte schnell durch die ständige Abreibung im Fersenbereich), gingen sie in den Export, irgendwohin nach Westeuropa. Es muss Konjunkturschwankungen oder zeitweilige stärkere Qualitätskontrollen gegeben haben, denn einige Holzschuhpartien gelangten auf den inländischen Markt als sogenannte „Exportladenhüter“. Nicht exakt gearbeitete Schuhe, Emailletöpfe mit einem Schreibfehler im Wort SALT, leicht bläuliche Regale der Reihe IVAR, nicht gut genug für ein ausländisches IkeaMöbelhaus – diese Ausschussware war in den polnischen Geschäften sehr gefragt. Victor Papanek pries in seinem Buch „Design für die reale Welt“ die sogenannten „trätofflor – Holzschuhe, die immer noch in der schwedischen Ortschaft Ängelholm hergestellt werden, als ausgezeichnetes Beispiel für rationales lokales Design“. Das Bild auf Seite 282 lässt keine Zweifel. Das sind sie! Das Design war lokal, aber die Produktion wurde global (und das noch bevor wir das Wort „Globalisierung“ buchstabieren lernten). Gegen Ende der Gierek-Ära stampfte meine Familie mit den Holzabsätzen wie eine Herde gutgelaunter holländischer (oder skandinavischer) Bauern. Das machte den Nachbarn das Leben zur Hölle und es verging keine Woche, in welcher der Typ von unten, Louis de Funès hätte ihn gut auf der Leinwand spielen können, nicht einen Streit vom Zaun brach. Die dünne Decke und ein Dialog per Klopfzeichen: auf provokatives Trommeln mit den Absätzen folgte mitteilsames Klopfen mit dem Besenstiel. […] *** Zum Schluss hatten es meinem Vater bunte Plastikschuhe angetan. Irgendjemand hatte sie ihm aus Israel mitgebracht, noch bevor diese farbigen Turbolatschen in jedem Kaufhaus auftauchten. Diese nahöstliche Erfindung sicherte uns dauerhaften Frieden mit den Nachbarn (worin man ein gewisses Paradox erkennen kann). Aus dem Polnischen von Christian Prüfer SOEBEN ERSCHIENEN: DER OSTEN DUNKEL, FAST NACHT ANDRZEJ STASIUK JOANNA BATOR Aus dem Polnischen von Renate Schmidgall Berlin: Suhrkamp Verlag Aus dem Polnischen von Lisa Palmes Berlin: Suhrkamp Verlag DRACH BESTIARIUM SZCZEPAN TWARDOCH TOMASZ RÓŻYCKI Aus dem Polnischen von Olaf Kühl Berlin: Rowohlt-Berlin Verlag Aus dem Polnischen von Marlena Breuer Berlin: edition.fotoTAPETA EIN DEUTSCHES TAGEBUCH BADEWANNE, KLO UND CO. STEFAN CHWIN Aus dem Polnischen von Marta Kijowska Berlin: edition.fotoTAPETA KRYSTYNA LIPKA-SZTARBAŁŁO Aus dem Polnischen von Thomas Weiler Hildesheim: Gerstenberg Verlag DIE GROSSE ANGST POLEN 1944-1947: LEBEN IM AUSNAHMEZUSTAND MARCIN ZAREMBA KOPFGEBURTEN ARCHITEKTURREPORTAGEN AUS DER VOLKSREPUBLIK POLEN FILIP SPRINGER Aus dem Polnischen von Sandra Ewers Paderborn: Verlag Ferdinand Schöningh Aus dem Polnischen von Lisa Palmes Berlin: Dom Publishers DER SCHWARZE GARTEN OSSIS UND ANDERE LEUTE MAŁGORZATA SZEJNERT BRYGIDA HELBIG Aus dem Polnischen von Benjamin Voelkel Potsdam: Deutsches Kulturforum Östliches Europa Aus dem Polnischen von Paulina Schulz unter Mitarbeit von Brygida Helbig Greifswald: freiraum-verlag DER WEG DES SATURN TUMOR LINGUAE BŁAŻEJ DZIKOWSKI EUGENIUSZ TKACZYSZYN-DYCKI Aus dem Polnischen von Paulina Schulz Greifswald: freiraum-verlag Aus dem Polnischen von Michael Zgodzay und Uljana Wolf Wien: Edition Korrespondenzen WASSERFARBEN KRONOS. INTIMES TAGEBUCH LIDIA OSTAŁOWSKA Aus dem Polnischen von Lisa Palmes Berlin: Klak Verlag WITOLD GOMBROWICZ Aus dem Polnischen von Olaf Kühl München: Carl Hanser Verlag NEUE BÜCHER AUS POLEN ©Das Polnische Buchinstitut, Krakau 2015 Redaktion: Izabella Kaluta, Andre Rudolph Texte von: Agnieszka Drotkiewicz, Magdalena Kicińska, Piotr Kofta, Paulina Małochleb, Małgorzata I. Niemczyńska, Dariusz Nowacki, Patrycja Pustkowiak, Marcin Sendecki, Kazimiera Szczuka, Katarzyna Zimmerer Übersetzung: Bernhard Hartmann, Lisa Palmes, Christian Prüfer, Antje Ritter-Jasińska, Benjamin Voelkel, Thomas Weiler Weitere Informationen über die Polnische Literatur auf www.bookinstitute.pl Eine englische Ausgabe dieses Katalogs unter dem Titel New Book From Poland Fall 2015 kann über das Buchinstitut bezogen werden. Graphik und Satz: Studio Otwarte, www.otwarte.com.pl www.bookinstitute.pl