Wir wollten uns immer die Wahrheit sagen
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Wir wollten uns immer die Wahrheit sagen
Weiterbildungskurs Palliativ‐Care 2009/2010 Wir wollten uns immer die Wahrheit sagen Hausarbeit Ricarda Haier Nanda-Herbermann-Weg 15, 48149 Münster Universitätsklinikum Münster, 26.02.2010 Inhaltsverzeichnis 1 Kurzfassung .............................................................................................................. 3 2 Kommunikation in der Kinderpalliativmedizin ........................................................ 3 2.1 Kinderonkologische Palliativmedizin ................................................................ 4 2.2 Das Wertesystem Familie .................................................................................. 5 2.3 Die Familie des palliativ kranken Kindes/Jugendlichen.................................... 6 2.3.1 Betroffene Kinder und Jugendliche ............................................................ 6 2.3.2 Eltern .......................................................................................................... 7 2.3.3 Geschwister ................................................................................................ 8 2.4 Das Recht auf Wahrheit und das Selbstbestimmungsrecht bei Kindern............ 8 3 Gespräche mit Kindern über Tod und Sterben ....................................................... 10 4 Reflexion von Lebensqualität ................................................................................. 13 5 4.1 Eigenreflexion .................................................................................................. 13 4.2 Fremdreflexion................................................................................................. 14 4.3 Bewertung durch das Behandlungsteam .......................................................... 16 4.3.1 Problem der Objektivität .......................................................................... 16 4.3.2 Persönlichkeit der Behandler bei der Bewertung ..................................... 16 Erfassung der Notwendigkeit sozialer Unterstützung ............................................ 17 5.1 Besonderheiten der Interaktionsbewertung...................................................... 17 5.2 Bisherige Erfassungsinstrumente ..................................................................... 18 5.3 Schwerpunkte für die Bewertung sozialer Betreuungsbedürfnisse ................. 19 6 Perspektiven ........................................................................................................... 21 7 Literatur .................................................................................................................. 24 8 Anhang ................................................................................................................... 27 R. Haier: Wir wollten uns immer die Wahrheit sagen 2 Kurzfassung 1 Kurzfassung In der Kinderpalliativmedizin ist die pflegerische Betreuung durch eine Reihe von Besonderheiten gekennzeichnet. Ein besonderer Aspekt ist dabei die Kommunikation mit den betroffenen Kindern und Jugendlichen über deren Erkrankung, deren Lebensqualität und deren eigene Krankheitsverarbeitung. Diese Kommunikation findet in einem Dreiecksverhältnis zwischen den Kindern, deren Eltern (und sonstigem sozialen Umfeld) und dem Behandlungsteam statt. Während die Beurteilung somatischer Aspekte der Lebensqualität bereits recht gut gelöst ist, stellt die Bewertung der Krankheitsverarbeitung, der psychosozialen Situation und des daraus resultierenden Unterstützungsbedarfs durch das Behandlungsteam noch eine große und nur teilweise gelöste Herausforderung dar. Bisher stehen valide Hilfsmittel zur Analyse dieser Interaktionen in kinderpalliativmedizinischen Situationen nur eingeschränkt zur Verfügung. Vor allem die gegenseitige Einschätzung der Lebensqualität der jeweils anderen Seite und die Bewertung der kommunikativen Interaktionen zwischen den Betroffenen und deren Umfeld werden durch zahlreiche Faktoren beeinflusst. Diese Faktoren müssen bei der Entwicklung von Messinstrumenten berücksichtigt werden. In der vorliegenden Arbeit werden die verschiedenen Ebenen der Interaktionen sowie der Reflexion von Lebensqualität erläutert und Überlegungen für deren Bewertung durch das Behandlungsteam dargestellt. 2 Kommunikation in der Kinderpalliativmedizin Ich sollte Euch immer die Wahrheit sagen, wenn Ihr mich nach etwas fragt. Ich wollte Euch immer die Wahrheit sagen, weil auch Ihr immer die Wahrheit sagt. Ihr wart doch so groß und ich war so klein und was Ihr mir sagtet, das sah ich auch ein. Ich hab Euch geglaubt und hab Euch vertraut, dass Ihr niemals lügt, darauf hab ich gebaut ... (Rolf Krenzer) Die Begleitung sterbender Kinder und von deren Familien (Eltern, Geschwistern) stellt eine hohe und anspruchsvolle pflegerische Leistung dar. Insbesondere die dabei R. Haier: Wir wollten uns immer die Wahrheit sagen 3 Kommunikation in der Kinderpalliativmedizin notwendige Kommunikation zwischen allen Beteiligten ist eine Herausforderung, die durch zahlreiche besondere Aspekte gekennzeichnet ist und über "normale" kommunikative Aufgaben in der Pflege und Palliativmedizin hinausgeht. [1] Kommunikation zwischen allen Beteiligten (betroffenen Kindern, Familie, Behandlern) findet vor dem Hintergrund statt, dass Wahrheit ganz besonders schwer fällt, Beschützer- und Helferfunktionen in Frage gestellt werden und der Sinn des Lebens in besonders intensiver Form zusammenbricht. Um hier eine adäquate Hilfestellung durch Pflegende und das gesamte Behandlungsteam geben zu können, ist ein Verständnis des Dreiecksverhältnisses und der darin ablaufenden unterschiedlichen Reflexionen von Lebensqualität, Bedürfnissen und Kommunikationshindernissen notwendig. Das Ziel dieser Arbeit ist es, eine strukturierte Bewertung der Notwendigkeit einer sozialen Unterstützung für betroffene Kinder und deren Familien zu ermöglichen. Diese Bewertungskriterien müssen die gegenwärtige Situation und die Bedürfnisse aller Beteiligten möglichst individuell abbilden und stellen dann eine Grundlage für palliativmedizinische Betreuungsangebote dar. Da palliativmedizinische Situationen im Kindes- und Jugendalter weit überwiegend bei onkologisch erkrankten Patienten auftreten, wird im Folgenden der Schwerpunkt auf diese Diagnosen gelegt. 2.1 Kinderonkologische Palliativmedizin In der pädiatrisch-onkologischen Palliativversorgung besteht die Situation, dass nur durchschnittlich 9 Wochen vor dem Tod des betroffenen Kindes die palliative Behandlungssituation durch die Betroffenen und deren Familien realisiert bzw. akzeptiert wird. [2] Gewöhnlich besteht bis dahin bereits ein enger Kontakt der Familien zu ihrem Behandlungszentrum, was vor allem durch die bereits erfolgte langfristige Betreuung, die bei onkologisch erkrankten Kindern in der Regel ca. 2 Jahre beträgt, verständlich ist. Wenn die Einbeziehung von palliativmedizinisch geschultem Personal erst in dieser Endphase einsetzt, führt das in der Regel zu fehlendem oder unzureichendem Vertrauensverhältnis und schlechter Akzeptanz der neuen "Spezialisten" gerade in der schwierigsten Phase der Palliativbetreuung. Hauptverantwortlich dafür ist die extreme psychische Belastungssituation, für deren Bewältigung ein stabiles Verhältnis zu den Behandlern und eine vertrauensvolle Kommunikation notwendig sind. Neben einer adäquaten Behandlung somatischer Symptome ist daher in der Versorgung R. Haier: Wir wollten uns immer die Wahrheit sagen 4 Kommunikation in der Kinderpalliativmedizin von onkologisch erkrankten Kindern und Jugendlichen der zeitgerechte Aufbau bzw. die Stärkung psychosozialer Ressourcen bedeutsam, um für eine möglichst hohe Lebensqualität der Patienten und ihrer Familien Sorge tragen zu können. In diesem Zusammenhang hat sich die soziale Unterstützung, die die betroffene Familie von ihrem Umfeld erhält, als ein wichtiger Faktor erwiesen. Derzeit stehen nur wenige evaluierte deutschsprachige Instrumente zur Verfügung, die zur individuellen Erhebung des Bedarfs an sozialer Unterstützung in diesen Situationen herangezogen werden können. Daneben ist weitgehend unklar, zu welchem Zeitpunkt der Erkrankung des Kindes bzw. Jugendlichen welche Art der sozialen Unterstützung von den Betroffenen (Patienten und Familien) gewünscht wird. Diese pädiatrische Palliativbetreuung umfasst eine aktive und umfassende Versorgung von Kindern und Jugendlichen, die an lebenslimitierenden Erkrankungen leiden, die physische, emotionale, soziale und spirituelle Bedürfnisse berücksichtigt. Ziel ist es, die höchstmögliche Lebensqualität für das betroffene Kind herzustellen und die umfassende Unterstützung für die Familie zu gewährleisten. [3, 4] In der pädiatrischen Palliativmedizin werden Kind und Familie als eine Einheit betrachtet, deren Mitglieder sowohl vor als auch nach dem Tod einer Unterstützung bedürfen. [5] 2.2 Das Wertesystem Familie Noch stärker als in anderen Bereichen der Palliativmedizin spielen bei Kindern und Jugendlichen mit palliativen Erkrankungssituationen das soziale Umfeld und insbesondere die Familie eine ausgeprägte Rolle bei der Krankheitsbewältigung. Obwohl das Wertesystem Familie gegenwärtig starken Veränderungen unterliegt, werden gerade in Grenzsituationen wie der lebensbedrohlichen Erkrankung eines Kindes gesunde soziale bzw. Familienbeziehungen durch eine Reihe von Merkmalen charakterisiert, die auch in heutigen Familienkonzepten akzeptiert sind. Von großer Bedeutung sind dabei vor allem: ● Fähigkeit zur offenen und direkten Kommunikation; ● Das Akzeptieren von Kindern und deren Persönlichkeiten und Bedürfnissen; ● Eine Balance zwischen Geben und Nehmen, Soll und Haben, die situationsabhängig unterschiedlich sind; ● Das Wahren und Respektieren der Grenzen zwischen den Generationen; R. Haier: Wir wollten uns immer die Wahrheit sagen 5 Kommunikation in der Kinderpalliativmedizin ● Die Anpassungsfähigkeit an sich verändernde Bedingungen; ● Die Fähigkeit, Nähe und Distanz bzw. Gemeinschaft und Individualität flexibel zu handhaben; ● Das Respektieren von gemeinsam geschaffenen Regeln für den Umgang im Alltag, bei Konflikten, in der Erziehung etc.; ● Gemeinsame ethische und moralische Grundwerte und Bezugssysteme. In der Extremsituation der palliativen Situation eines Kindes kann dieses Grundverständnis plötzlich ins Wanken geraten. Das Sterbens eines jungen Familienmitglieds vor der vorherigen, mitunter sogar vor zwei älteren Generationen werden als unnatürlich empfunden. Vor diesem Hintergrund werden die oben genannten Werte in Frage gestellt oder scheinen ihre Gültigkeit zu verlieren. Als Ergebnis dessen werden bisherige Erfahrungen in der Krisenbewältigung relativiert, kommunikative Gewohnheiten und Vertrauen erschüttert und gehen Ressourcen für den Umgang miteinander verloren. Als Ergebnis besteht gerade in der Palliativsituation eine gravierende Unsicherheit beim Umgang mit dem Gesprächsthema Tod und Sterben innerhalb der betroffenen Familie, die bis zur Tabuisierung führen kann. 2.3 Die Familie des palliativ kranken Kindes/Jugendlichen 2.3.1 Betroffene Kinder und Jugendliche Kinder wissen um ihren Zustand meist noch vor der Diagnose und der Feststellung der palliativen Situation. [6] Die Unwissenheit und Hilflosigkeit im Umgang mit dem Sterben gerade bei Kindern und Jugendlichen führt dazu, dass dem somatischen Tod oft das "soziale Sterben" durch Abbruch der Kommunikation und Interaktion mit dem sozialen Umfeld vorausgeht. Eltern und Geschwister erleben die betroffenen Kinder und Jugendlichen dabei häufig nicht als hilfreiche Ansprechpartner. Beide Seiten sind in dieser Zeit stark mit sich und ihrem Leid beschäftigt. Die Eltern und sonstigen Angehörigen verstehen in der Regel die Behütungspflicht so, dass dem Kind gegenüber Hoffnung aufrechterhalten werden muss, das Kind vor Schwerem und Leid zu schützen ist. Daraus wird oft die Schlussfolgerung gezogen, die Belastungen eines offenen und ehrlichen Gesprächs vom betroffenen Kind fernzuhalten. Das betroffene Kind R. Haier: Wir wollten uns immer die Wahrheit sagen 6 Kommunikation in der Kinderpalliativmedizin interpretiert dann seinerseits das elterliche Verhalten so, dass Gesprächsthemen um Sterben und Tod tabu sind. Außerdem empfinden die Kinder und Jugendlichen durch die Tabuisierung und verschleiernde Kommunikation einen zunehmenden Vertrauensverlust. Beide Aspekte wirken sich sehr negativ auf die Krankheitsverarbeitung aus. Wenn sich das kranke Kind als Ursache und Auslöser einer belastenden Situation für die Eltern erlebt, entsteht dadurch für die Kinder eine intensiv belastende Situation mit entsprechendem vor allem kommunikativen Vermeidungsverhalten. Palliativ erkrankte Kinder und Jugendliche ängstigen sich grundsätzlich in sehr vergleichbarer Weise wie Erwachsene vor Schmerzen, Leiden und Einsamkeit. Letzteres wird gerade im unmittelbaren sozialen Umfeld wie der Familie besonders intensiv empfunden. Gleichzeit nimmt objektiv der Kontakt zum außerfamiliären Umfeld, wie Schule und Freunde mit der Dauer und Schwere der Erkrankung rasch ab. 2.3.2 Eltern Die Eltern palliativ erkrankter Kinder und Jugendlicher durchleben mehrere, mehr oder weniger abgrenzbare und aufeinander folgende Phasen der Krankheitsverarbeitung. Dabei stehen die Zerstörung der Zukunftshoffnung und die Infragestellung des Sinns des Lebens im Mittelpunkt der Auseinandersetzung. Gleichzeitig halten Eltern für sich und das Kind Hoffnung aufrecht, glauben an ein Wunder. Es wird eine Zerrissenheit zwischen den betroffenen Kindern und der restlichen Familie erlebt, die durch Kraftund Zeitmangel hervorgerufen wird. Aussagen von Eltern bei retrospektiver Betrachtung der Palliativphase: "Die Zeit zu Hause war ganz wichtig für uns." "Die Familie ist sich in dieser Zeit näher gekommen." "Wir sind eng aneinander gewachsen." Väter ● Müssen häufig Balanceakte zwischen Beruf (Karriere, Sicherung des Lebensunterhalts) und Familie schaffen; ● Neigen häufiger zu Forderungen nach Maximaltherapie; ● Sind aber gleichzeitig oft ängstlich und überfordert. R. Haier: Wir wollten uns immer die Wahrheit sagen 7 Kommunikation in der Kinderpalliativmedizin Mütter ● Fühlen sich allein gelassen mit Pflege, Haushalt und Organisation; ● Vertreten öfter den Standpunkt, das betroffene Kind müsse alleine entscheiden, wie die Therapie fortgesetzt werden soll. Die größten Sorgen der Eltern in Bezug auf deren sterbende Kinder gelten der Beherrschung von Schmerzen und Ängsten. Außerdem werden der Wandel im Aussehen und im Verhalten der erkrankten Kinder als besonders nachhaltig und belastend empfunden. [2, 7] 2.3.3 Geschwister Geschwister treten nach außen meist scheinbar problemlos auf. Sie sind jedoch gezwungen, ihren Lebensrhythmus auf die besondere Situation einzustellen. Da sich alle Aufmerksamkeit der Familie auf das erkrankte Kind lenkt, werden ihre Bedürfnisse nicht gesehen und sie fühlen sich nicht ernst genommen. Durch diese Form der Einsamkeit ergibt sich für sie häufig der Eindruck, dass ausreichend Zuwendung nur erfolgt, wenn ein Kind krank ist. Heimlich wünschen sie sich, das der kranke Bruder/die Schwester nicht da wären, da diese als Ursache für die fehlende elterliche Aufmerksamkeit empfunden werden. Hierdurch können Schuldgefühle für die Erkrankung und den Tod der Geschwister entstehen. Sehr schnell lernen Geschwister jeder Altersgruppe die Tabuisierung des Themas Sterben und Tod. Sie verstehen oder spüren instinktiv, dass es niemand in ihrer Umgebung aushält, über diese Probleme zu reden - also reden sie auch nicht. Die Unsicherheit der Bezugspersonen und der Wunsch der Geschwister, durch Reden über die Krankheit, Sterben und Tod die Schmerzen und das Leiden der Eltern nicht noch zu vergrößern, diese nicht noch zusätzlich zu irritieren, bedeutet einen weitgehenden kommunikativen Rückzug der nicht erkrankten Geschwister. 2.4 Das Recht auf Wahrheit und das Selbstbestimmungsrecht bei Kindern Bei kinderonkologischen und kinderpalliativmedizinischen Behandlern ist allgemein akzeptiert, dass eine wahrhaftige und wahrheitsgemäße Kommunikation mit den betroffenen Kindern und deren altersentsprechende Selbstbestimmung eine wesentliche R. Haier: Wir wollten uns immer die Wahrheit sagen 8 Kommunikation in der Kinderpalliativmedizin Rolle in der palliativen Betreuung spielen. Beim Umgang mit dem Recht auf Wahrheit müssen in Palliativsituationen im Kindesund Jugendalter jedoch einige Besonderheiten berücksichtigt werden. Diese ergeben sich aus dem Konflikt zwischen Wahrhaftigkeit und der Pflicht zur Fürsorge (Wann fängt Wahrheit an zu schaden?), dem kommunikativen Dreiecksverhältnis Patient Eltern - Behandlungsteam (Wer sagt wem gegenüber was?) und der Berücksichtigung der altersabhängigen Persönlichkeitsentwicklung des Kindes. Die Fähigkeit zur Selbstbestimmung setzt voraus, dass beim Betroffenen folgende Bedingungen hinreichend erfüllt sein müssen [8]: ● Handlungsentscheidungen müssen bewusst und absichtlich erfolgen; ● Einsichts-, Urteils- und Entscheidungskompetenz müssen vorhanden sein; ● Der/die Betroffene muss verstehen, worum es geht; ● Äußere steuernder Einflussnahme dürfen nicht vorhanden sein. Bei Kindern und Jugendlichen wird diese Selbstbestimmungsfähigkeit gerade entwickelt, was alters- und persönlichkeitsabhängig unterschiedlich schnell und intensiv erfolgt. Die Entscheidungsfähigkeit eines Kindes wächst mit seiner psychosozialen Entwicklung. Die Einschätzung über diesen Entwicklungsstand ist nicht unwesentlich abhängig von der einschätzenden Person, deren Erfahrungen, Anschauungen und Wertvorstellungen, was zu unterschiedlicher Bewertung führen kann. Trotzdem ist es im deutschen Recht vorgesehen, dass auch bei Kindern der mutmaßliche Wille die Grundlage des Handelns bildet. Da das Recht auf Selbstbestimmung das Recht auf Wahrheit voraussetzt, um die obengenannte Entscheidungskompetenz zu ermöglichen, gehören beide Aspekte sehr eng insbesondere hinsichtlich der Kommunikation zusammen. Die Frage, wann Kinder entscheiden können, hängt unmittelbar mit der Frage, was Kinder entscheiden können, und dem Problem, welche Informationen sie dazu benötigen, zusammen. Kinder können einzelne Lebensbereiche bereits überblicken und hier durchaus autonom entscheiden, während andere Zusammenhänge ihnen noch nicht zugänglich sind. Letztere erfordern dann die fürsorgliche Entscheidung der Eltern. [9] R. Haier: Wir wollten uns immer die Wahrheit sagen 9 Gespräche mit Kindern über Tod und Sterben Konvention über die Rechte des Kindes (Art. 12, Abs. 1) Vereinte Nationen, 1989 „Die Vertragsstaaten sichern dem Kind, das fähig ist, sich eine eigene Meinung zu bilden, das Recht zu, diese Angelegenheiten frei zu äußern, und berücksichtigen die Meinung des Kindes angemessen und entsprechend seinem Alter und seiner Reife.“ Aufgabe einer sozialen Unterstützung durch das Behandlungsteam ist es, bei der Erkennung und Lösung dieser Konfliktsituation zu helfen und die Auseinandersetzung mit der Erkrankungssituation zu begleiten. Um das Kindswohl wirksam zu fördern, müssen überschießende Fürsorglichkeit durch die Eltern abgebaut, Wahrhaftigkeit gefördert, gleichzeitig aber stabile Bindungen und Aufrichtigkeit in den familiären Beziehungen aufrecht erhalten werden. Beeinträchtigungen bestehender Vertrauensverhältnisse, gezielte Täuschungen und Ignorieren des Kindeswillens sind dagegen unbedingt zu vermeiden. [8] (Kinder und Tod, E. Kübler-Ross) Wenn wir das tun, wobei wir innerlich ein gutes Gefühl haben, und uns nicht von anderen Leuten vorschreiben lassen, was wir einem anderen Menschen mitteilen können, dann ist die Aussicht, das wir Konflikte lösen und Schmerz und Freude miteinander teilen können, weitaus größer. 3 Gespräche mit Kindern über Tod und Sterben Argumente gegen die Aufklärung Argumente für die Aufklärung Mein Kind verträgt die Wahrheit nicht Wenn die Kinder spüren, dass sie auf ihre drängenden Fragen keine Antworten bekommen, werden sie schweigen, um nicht den Kontakt zu ihren Vertrauenspersonen zu verlieren. Das Schweigen ist eines der markantesten Merkmale im Verhalten le- R. Haier: Wir wollten uns immer die Wahrheit sagen 10 Gespräche mit Kindern über Tod und Sterben bensbedrohlich erkrankter Kinder und signalisiert die Wirksamkeit von Tabuisierungen, die in der Gesellschaft, bei Klinikpersonal, Eltern und Kind bestehen. [10] Kinder denken nicht über den Tod Wenn wir am Anfang versprochen haben, nach immer ehrlich zu sein, auch wenn die Sache noch so schlimm ist, dann kann es gar nicht anders sein, dass wir auch jetzt nicht lügen und die Wahrheit sagen. Dabei sollte uns klar sein, dass diese Wahrheit, die wir mitteilen, meistens nur eine Bestätigung dessen ist, was sie ohnehin schon wissen. [11] Das Kind möchte nicht aufgeklärt Wenn man ihnen nicht hilft zu klären, was werden sie sich vorstellen, dann steigert das Schweigen der Erwachsenen eher die phantastischen Ängste, als dass es ihnen Kummer erspart. [12] Jeder Mensch hat ein Anrecht darauf, Davon, dass wir über das Sterben reden, mit seinen Ängsten so umzugehen, wie stirbt man nicht. Wenn das Kind aber er es vermag. Wir können daher nicht sterben muss, ist es gut, darüber zu fordern, dass jeder bereit sei, sein sprechen, damit belastende und traurige Todesurteil entgegenzunehmen. [13] Gedanken nicht unter den Teppich gekehrt werden müssen. [14] Wir sind sogar heute fast im entgegen- Die Befürchtungen und die Ängste der gesetzten Extrem gelandet. Heute wird Kinder sind dabei meistens gar nicht die den Patienten zum Teil oft ohne Vor- bewussten Sterbens- und Todesängste. warnung die ganze Wahrheit überge- Viel häufiger sind es sogenannte Vorfeldstülpt. Kaum einer fragt, ob und wieviel ängste, die der Aufmerksamkeit bedürfen. der Patient eigentlich wissen will. [15] Diese sind den Sterbens- und Todesängsten zeitlich wie erlebnismäßig vorgelagert. Anlässe für diese Ängste sind die R. Haier: Wir wollten uns immer die Wahrheit sagen 11 Gespräche mit Kindern über Tod und Sterben Rätsel aus dem veränderten und für das Kind oft unerklärlichen Verhalten des Klinikpersonals und vor allem der eigenen Familie, Angst vor dem Alleingelassenwerden, vor medizinischen Prozeduren sowie Ängsten aus abgewehrten Gefühlen der Wut, des Sich-Wehren-Wollens und der Enttäuschung. Diese erlebten Ängste gilt es, mit den Kinder zu besprechen, z. B. indem man die momentane Befindlichkeit des Kindes zum Thema macht und damit signalisiert, dass man bereit ist, auf der emotionalen Ebene mit dem Kind zu kommunizieren. [10] Für ein Kind aber, dass die meiste Zeit Das, was wir Erwachsenen glauben zum zu Hause bei seinen Eltern (die selbst Schutz der sterbenden Kinder zu tun, unsicher sind, hoffen, zweifeln oder re- verursacht viel Leid für diese Kinder. Die signieren) in der gewohnten Umgebung Kinder haben Schuldgefühle den Eltern lebt, vielleicht in Kindergarten oder gegenüber und sind traurig und wütend Schule geht, ist Wissen um den wahr- über das mangelnde Vertrauen. [17] scheinlichen Ausgang seiner Krankheit eine unzumutbare Belastung [16] They (parents – A. d. V.) may also Because children know when they are experience guilt at being unable to dying and can sense the extraordinary perform the expected role of a parent in stress of their parents and doctors when protecting their child from harm. [18] death is imminent, they may feel tremendous isolation if they are not given the permission to talk openly about their illness and impending death. When given the opportunity to communicate, children can conquer their fears and express their love. [19] R. Haier: Wir wollten uns immer die Wahrheit sagen 12 Reflexion von Lebensqualität 4 Reflexion von Lebensqualität 4.1 Eigenreflexion Die Eigenreflexion der Lebensqualität palliativ erkrankter Kinder und Jugendlicher beinhaltet im Wesentlichen 2 Hauptaspekte: (a) Beherrschungsgrad somatischer Symptome und (b) Fragen der eigenen Krankheitsverarbeitung. Diese beiden Punkte sind auch bedeutsame Determinanten der Lebensqualität der Familie bzw. des sozialen Umfelds des Patienten. Im Umfeld kommt jedoch noch ein dritter Aspekt hinzu Beherrschungsgrad sozialer Probleme. Die bisherige Analysestrategie von Lebensqualität beruht im Wesentlichen auf der Einschätzung der jeweils Ich-bezogenen Lebensqualität (Eigenreflexion) auf beiden Seiten, wobei diese bei den Patienten vollständiger ist als im sozialen Umfeld. Hierzu können unmittelbare Messverfahren eingesetzt werden, die durch Fremdbewertungen (durch den Behandler) ergänzt werden können. Allerdings ist die Erfassung und Messbarkeit der Eigenreflexion bisher sehr unterschiedlich. Somatische Symptome bei den Kindern und Jugendlichen können durch eine Reihe von Messinstrumenten mit hoher Validität und Reproduzierbarkeit bestimmt werden (z. B. Schmerzskalen). Somatische Probleme im sozialen Umfeld hingegen, die sich aus der Erkrankung des Kindes ergeben, wie z. B. Erschöpfung der Eltern, Müdigkeit, Depression, Schlafentzug etc., werden derzeit nur ansatzweise valide erfasst und häufig unzureichend vom Behandlungsteam berücksichtigt. [20] Die Eigenreflexion der Krankheitsverarbeitung bei den Kindern wird ebenfalls durch Fragebögen, wie z. B. den PedQoL-Fragebogen [21], gut und standardisiert erfasst. Bezüglich der Verarbeitung der Erkrankungssituation des Kindes durch Eltern bzw. Familienangehörige gibt es in der Literatur bisher wenige und praktisch ausschließlich retrospektive Analysen, die alle die große Bedeutung der elterlichen Eigenreflexion hervorheben. [7, 22] Dabei wird einer offenen Kommunikation mit dem Behandlungsteam über die eigene Krankheitsverarbeitung eine hohe Bedeutung für die Zufriedenheit durch die Eltern beigemessen. Die Beherrschung sozialer Probleme und Folgen für die Angehörigen bzw. Familien wird in Deutschland weitgehend durch das System der medizinischen Sozialdienste sichergestellt. Hier werden sowohl Erfassung als auch Unterstützung gewährleistet. R. Haier: Wir wollten uns immer die Wahrheit sagen 13 Reflexion von Lebensqualität 4.2 Fremdreflexion Schwieriger gestaltet sich die Erfassung und Bewertung der Interaktionen zwischen Kindern und deren sozialem Umfeld, die als eigenständiger Bestandteil der Lebensqualität angesehen werden müssen. Die Einschätzung der Lebensqualität der jeweiligen Gegenseite ist bei pädiatrischen Palliativpatienten und deren unmittelbarem sozialem Umfeld durch die gleichzeitige Wirkung von verschiedenen Einflussfaktoren gekennzeichnet. Diese Einflussfaktoren sind stark altersabhängig, aber grundsätzlich bereits auch in sehr jungen Altersgruppen zu finden. [23] Einerseits spielen häufig Schuldgefühle eine Rolle. Diese können aufkommen, wenn Leiden, Trauer, Ängste usw. ausgedrückt werden, die als Belastung für die Gegenseite empfunden werden. Eine emotional durchaus verständliche Folge ist die Vermeidung dieser Gesprächsinhalte, um eben negative Gefühle beim Anderen nicht auszulösen. Andererseits wird eine realistische Fremdreflexion (Einschätzung der Situation der betroffenen Kinder durch deren Eltern) durch elterliche eigene Hoffnungen und Verdrängungen in Richtung ungerechtfertigten Optimismus gedrängt, wodurch offene Gespräche mit den Kindern als auch den Behandlern schwierig werden. [24] Fragen und Sorgen des Kindes bzw. Jugendlichen: Wie verarbeiten meine Eltern, dass es mir schlecht geht? Wie können meine Eltern mit den Sorgen umgehen? Ich möchte nicht, dass meine Eltern meinetwegen traurig sind. Versteht mich meine Familie? Wie gut können meine Eltern mit ihren eigenen Sorgen umgehen? Fragen und Sorgen der Eltern: Weiß mein Kind, dass es sterben muss? Sagt mein Kind, ob es leidet und Schmerzen hat? Hat mein Kind Angst? Wie geht mein Kind mit der Krankheit um? Merkt mein Kind, dass es mir auch schlecht geht? R. Haier: Wir wollten uns immer die Wahrheit sagen 14 Reflexion von Lebensqualität Bei der Reflexion der Lebensqualität der jeweils anderen Seite stehen Kinder bzw. Jugendliche und auch Eltern in einem häufig ausgeprägten kommunikativen Spannungsfeld. Diese Spannungen betreffen einerseits das Ausdrücken der eigenen Gedanken, andererseits das Verstehen des Gesagten des jeweils Anderen. Neben den Sachinformationen, die den scheinbaren Hauptinhalt der Kommunikation darstellen, werden in den Gesprächen zwischen Betroffenen und Umfeld (vor allem, aber nicht ausschließlich Eltern) auch Emotionen und Gefühle "zwischen den Zeilen" vermittelt. Diese stellen wesentliche Botschaften dar, die von der Gegenseite verstanden werden müssen, um "Verständnis" zu erzeugen. Außerdem werden in diesen Gesprächen häufig Appelle bzw. Handlungsaufforderungen an den Gesprächspartner mitgeschickt, deren "Verstehen" ebenfalls Bestandteil der Lebensqualität ist. [25] So wird das gegenseitige Ausdrücken und Verstehen der Lebensqualität zwischen Kind und sozialem Umfeld selber zu einem wesentlichen Faktor der Lebensqualität in der Palliativsituation. Gleichzeitig stellt die Beurteilung der Lebensqualität der Gegenseite (Fremdreflexion) eine Notwendigkeit und ein wichtiges Instrument dar, um die Interventions- und Unterstützungsmöglichkeiten zu beurteilen. [26] Die Fremdreflexion über die Beherrschung somatischer Symptome scheint überwiegend adäquat und reproduzierbar [27, 28], während die elterliche Sicht auf die Krankheitsverarbeitung der Kinder deutlichen Handlungsbedarf zeigt. [2] Die Bedeutung einer ehrlichen Kommunikation zwischen Kind und Eltern zeigt die Tatsache, dass in einer schwedischen Studie ca. 2/3 der Eltern nie mit ihren Kindern über Sterben und Tod gesprochen hatten, von denen ein Drittel dies retrospektiv bereute. [29] In einer deutschen Studie wurden mit 59% bzw. 33% sehr vergleichbare Ergebnisse erhoben. [30] Als Gründe für die nicht erfolgten Gespräche mit den sterbenden Kindern gaben die Eltern an: • Die Eltern haben sich nicht getraut, mit dem Kind zu sprechen (33%) • Das Kind oder die Eltern glaubten noch an eine Gesundung (31%) • Der Tod des Kindes wurde nicht so rasch erwartet (21%) • Das Kind hat nicht gefragt/nichts gesagt (21%) • Das Kind wollte nicht sprechen (15%) Im Gegensatz dazu schätzten 86% dieser befragten Eltern ein, dass ihr Kind geahnt bzw. gewusst hat, dass es bald sterben würde. R. Haier: Wir wollten uns immer die Wahrheit sagen 15 Reflexion von Lebensqualität 4.3 Bewertung durch das Behandlungsteam 4.3.1 Problem der Objektivität Aufgrund des Spannungskreislaufs bei der Fremdreflexion der Lebensqualität ist es häufig sehr schwer für die Betroffenen, eine Einschätzung zu erreichen, die dem Befinden des Gegenübers gerecht wird. Noch schwieriger ist die Erkennung und Anforderung von externer Hilfe in diesem Bereich. Daher kommt der Einschätzung gerade dieser Interaktionen sowie der Lebensqualität insgesamt durch "externe" Beobachter eine entscheidende Bedeutung zu. Der Einsatz von Messverfahren zur Reflexion der Lebensqualität der jeweils anderen Seite ist mit einer deutlichen Gefahr von Fehlbewertungen verbunden, die sich aus den oben genannten kommunikativen Schwierigkeiten ergibt. Daher kommt dem Einsatz von Fremdbewertungen (durch die Behandler bzw. andere "externe" Beobachter) hier möglicherweise eine größere Bedeutung zu. Diese "externen" Beobachter dürfen jedoch nicht tatsächlich außerhalb stehen, da ein intensives Vertrauensverhältnis notwendig ist, um die benötigten Informationen zu erlangen. Aus diesen Gründen wird klar, dass palliativmedizinisch geschultes Personal des Behandlungsteams bei frühzeitiger Einbindung in die Betreuung für diese Fremdbewertung der Lebensqualität und kommunikativen bzw. sozialen Interaktionen eine Schlüsselfunktion besitzt. Doch auch "Fremdbeobachter", wie z. B. behandelnde Ärzte und Pflegekräfte, können zu differenten Einschätzungen der Reflexion der Lebensqualität gelangen und sind keinesfalls als objektiver Maßstab anzusehen. [26] Wie bereits oben erläutert, ist das Ziel der Kommunikation zur Fremdbewertung einerseits die Erkennung von Unterstützungsbedarf. Gleichzeitig kann bereits die Thematisierung und Reflexion der Fragen und Interaktionen zu einem besseren Ausdrucks- und Verständnisvermögen bei den Betroffenen und deren sozialem Umfeld führen, was als eigenständiger Beitrag zur Verbesserung der Lebensqualität angesehen werden kann. Spezielle Instrumentarien zur Bewertung dieser Interaktionen fehlen bisher weitgehend. 4.3.2 Persönlichkeit der Behandler bei der Bewertung Die Mitglieder des Behandlungsteams können die Bewertung der Situation der Kinder und Jugendlichen, von deren Eltern und der Interaktion zwischen beiden Seiten nicht ohne Beeinflussung durch eigene Emotionalität, religiöse Vorstellungen, Berufser- R. Haier: Wir wollten uns immer die Wahrheit sagen 16 Erfassung der Notwendigkeit sozialer Unterstützung fahrung, Fachwissen usw. vornehmen. Gerade bei Pflegenden bestehen jedoch häufig Probleme und Ängste bezüglich der „richtigen“ Gesprächsführung [31, 32, 33]: • Unzureichendes Training mit deutlicher Verunsicherung • Angst, Emotionen zu provozieren • Nicht zu wissen, wie diese Emotionen zu handhaben sind • Die eigenen Emotionen zu kontrollieren, obwohl sie gezeigt werden dürfen • Mit dem eigenen Sterben und Tod konfrontiert zu werden • Angst, wegen Misserfolg und Scheitern bezichtigt zu werden • Überidentifikation mit dem Patienten Neben diesen kommunikativen Aspekten wirken sich bei Pflegenden auch eigene Gefühle als Mutter bzw. Vater aus. In unserer Berufsgruppe bestehen meist ein ausgeprägtes Hilfsbedürfnis sowie Unterschiede in den Patientenbeziehungen zwischen Ärzten und Pflegenden bzw. weiteren Berufsgruppen. Diese können sich ebenfalls auf die Wahrnehmung von Lebensqualität der Betroffenen, das Erleben von kommunikativen Aspekten und die Bewertung der Eigenreflexion aller Beteiligten auswirken. 5 Erfassung der Notwendigkeit sozialer Unterstützung 5.1 Besonderheiten der Interaktionsbewertung Wie die Bewertung der Lebensqualität bei Kindern und Jugendlichen muss sich die Bewertung der Interaktionen zwischen pädiatrischen Patienten und deren sozialem Umfeld mit spezifischen Fragen und Problemen auseinandersetzen. Kinder reflektieren den Begriff Gesundheit in der Regel wenig oder gar nicht. Wenn eine solche Reflexion erfolgt, werden andere Vergleichsmaßstäbe angelegt als Erwachsene das tun. [23] Emotionale und kognitive Reaktionen auf Gesundheit und Krankheit sind different. In einer längeren Krankheitsphase entwickeln sich die betroffenen Kinder und Jugendlichen physisch, emotional und kognitiv weiter. [34] Deshalb ist die Anpassung der Betreuung und der Kommunikationsinhalte und -formen von großer Bedeutung. Die Zuverlässigkeit kindlicher Aussagen in Bezug auf die erlebte Lebensqualität ist problematisch und Antworten auf diesbezügliche Fragen werden stark vom Gesprächspartner und der kindlichen Bindung zu diesem beeinflusst. Daher sind gerade bei jüngeren Kindern Fremdbewertungsverfahren noch die Regel, die von Eltern (meist R. Haier: Wir wollten uns immer die Wahrheit sagen 17 Erfassung der Notwendigkeit sozialer Unterstützung Müttern) und Mitgliedern des Behandlungsteams vorgenommen werden. Verhaltensbezogene Kriterien (stärker somatisch orientiert und besser quantifizierbar) sind dabei leichter zu beurteilen als emotionsbezogene Probleme. Insgesamt ist davon auszugehen, dass Informationen über Lebensqualität einschließlich der Einschätzung von Interaktionen im sozialen Umfeld durch „unabhängige“ Vertrauenspersonen (z. B. behandelnde Ärzte oder Pflegekräfte) unmittelbarer und zuverlässiger erhalten werden können. Das setzt jedoch geeignete, dem Alter und der Entwicklungsstufe des Kindes bzw. Jugendlichen angepasste Methodiken voraus. Hierbei sollten sich idealerweise die Eigenreflexion der Kinder, die Fremdreflexion durch die Eltern bzw. das soziale Umfeld und die Bewertung der Interaktionen zwischen beiden Seiten durch Dritte ergänzen, um zu einer möglichst realitätsnahen Einschätzung zu gelangen. 5.2 Bisherige Erfassungsinstrumente Für die Bewertung der Interaktionen zwischen betroffenen Kindern und Jugendlichen und deren sozialem Umfeld in der Palliativphase stehen bisher nur wenige valide Messinstrumente bzw. Verfahrenstechniken zur Verfügung. Im Bereich der Kinderonkologie sind einige Studien verfügbar, die sich jedoch überwiegend nicht speziell mit der palliativen Situation beschäftigen. [35, 36, 37] Außerdem machen kulturelle Unterschiede die Übertragbarkeit von Studien in den mitteleuropäischen bzw. deutschsprachigen Kulturkreis problematisch. [38, 39] Mit einem modifizierten Fragebogen nach Wolfe analysierten Hechler et al. [2] in einer retrospektiven Studie die Fremdreflexion von verwaisten Eltern über 5 Bereiche: 1) Symptome und Lebensqualität, 2) Charakteristika des Todes, 3) Erwartung des herannahenden Todes und Versorgung, 4) Entscheidungen in der Lebensendphase und 5) Auswirkungen des Todes auf die Eltern und Nachsorge durch das Behandlungsteam. Unter Nutzung eines semistrukturierten Interviews analysierten Pritchard et al. [7] die elterliche Fremdreflexion der Lebensqualität der Kinder und auch teilweise die Eigenreflexion der Eltern über deren Krankheitsverarbeitung kurz vor dem Tod der Kinder. Hervorzuheben in dieser Studie ist der Versuch, die Bewertung der Interaktion zwischen Kindern und Eltern durch das Behandlungsteam mit in die Analyse einfließen zu lassen. R. Haier: Wir wollten uns immer die Wahrheit sagen 18 Erfassung der Notwendigkeit sozialer Unterstützung Zur Kommunikation zwischen Eltern und betroffenen Kindern führten Kreicbergs et al. [29] eine quantitative Studie durch. Obwohl es sich hierbei um eine retrospektive Betrachtung des Interaktionsverhaltens nach dem Tod des Kindes handelt, steht mit dieser Studie ein strukturierter Fragebogen zur Verfügung, der durch Interviews ergänzt wurde. Aufgrund eines vergleichbaren kulturellen Hintergrunds in Schweden und Deutschland scheinen dessen Ergebnisse gut auf den deutschsprachigen Raum übertragbar zu sein. 5.3 Schwerpunkte für die Bewertung sozialer Betreuungsbedürfnisse Für die Bewertung des sozialen Betreuungsbedarfs eignet sich nach bisherigen Erfahrungen am besten die Form eines strukturierten Interviews. Aufgrund der oben erläuterten verschiedenen Formen der Eigen- und Fremdreflexion bei den betroffenen Kindern und deren Familien erscheint es sehr hilfreich, diese strukturierte Erfassung parallel und unabhängig sowohl bei den Patienten als auch deren Eltern durchzuführen. Die zu erfassenden Inhalte müssen dabei jedoch inhaltlich entsprechend bzw. unmittelbar aufeinander abgestimmt werden. Bisher stehen für diese Art von Interviews bzw. Befragungen keine speziellen Instrumente im deutschsprachigen Raum zur Verfügung. Anhaltspunkte kann der Fragebogen zur Sozialen Unterstützung (FSozU, [40]) geben, der sich auf die Erfassung einer allgemeinen sozialen Unterstützung unabhängig von dem Kontext einer Erkrankung konzentriert. Jedoch enthält dieser auf der einen Seite Fragen, die für Familien mit onkologisch erkrankten Kindern unpassend erscheinen. Andererseits fehlen in diesem Bogen Aspekte, die besonders relevant für diese Situation zu sein scheinen. (z. B. welche Form der Unterstützung besonders hilfreich ist, oder inwieweit sich die Beziehung zu vertrauten Menschen durch die spezielle Situation verändert hat.) Die Lage, in der sich Erkrankte befinden, wird spezifischer durch die Berliner Social Support Scales (BSSS, [41]) erfasst. Diese beinhalten 6 Skalen, die die wahrgenommene, erhaltene und geleistete Unterstützung, Bedürfnis und Suche nach Unterstützung sowie protektives Abfedern erfassen. Allerdings wurde dieser Fragebogen bisher ausschließlich bei erkrankten Erwachsenen und deren Partnern/ Partnerinnen eingesetzt. Skalen zur Erfassung der Lebensqualität sind hier auch ausschließlich auf die Eigenreflexion gerichtet und haben entweder mehr somatischen R. Haier: Wir wollten uns immer die Wahrheit sagen 19 Erfassung der Notwendigkeit sozialer Unterstützung Hintergrund oder richten sich auf die eigene Krankheitsverarbeitung des Betroffenen. Weitere Instrumente aus Psychologie und psychosozialen Medizin sind entweder nicht krankheitsbezogen auf die palliative Situation bei Kindern oder reflektieren nur Einzelaspekte, wie z. B., Hoffnungslosigkeit (H-Skalen). Folgende Schwerpunkte erscheinen für die Beurteilung der Notwendigkeit einer sozialen Unterstützung von essentieller Bedeutung: ● Emotionen Emotionale Äußerungen und Empfindungen können Wut, Trauer, Angst und Sorgen, aber auch durchaus Freude beinhalten. Zu berücksichtigen ist bei diesem Aspekt, dass eine Reihe von Medikamenten, diese Emotionalität und deren Wahrnehmung beeinflussen bzw. verzerren können. Bei diesem Aspekt liegt außerdem eine starke Situationsbezogenheit vor, d. h. es werden vorrangig augenblickliche Empfindungen reflektiert und kaum längerfristige Einschätzungen der emotionalen Lage wiedergegeben. ● Aktuelle Lebenssituation In diesem Fragenkomplex sind verschiedene Aspekte zu berücksichtigen. Diese umfassen u. a. Wünsche (Aspekt der Selbstverwirklichung), Freizeitgestaltung und Hobbys (Erhalt eigener Aktivitäten) sowie die Durchführung von Alltagssituation (Aspekt der erhaltenen Normalität). ● Beziehung zu Bezugspersonen Hierzu gehören Aspekte der ehrlichen und offenen Kommunikation zwischen Kind und Bezugspersonen, die von beiden Seiten auch als solche empfunden werden. Weiterhin spielen soziale Kontakte des bisherigen Umfeldes (Freunde, Bekannte) eine wesentliche Rolle für das Zugehörigkeitsgefühl zu Freundschafts- bzw. Gruppengemeinschaften und damit das Selbstwertgefühl. Insbesondere in Bezug auf den engsten Umkreis sind Geborgenheit und Geliebtwerden von entscheidender Bedeutung für die Reflexion von Lebensqualität. ● Selbstwert und Wirkung auf Andere Das Selbstwertgefühl wird durch die direkten Auswirkungen der Erkrankung (Aussehen, Therapiefolgen etc.) sowie durch das Verhältnis zu Personen der Umgebung (Beliebtheit, Vertrauen) bestimmt. Außerdem spielt die bisher erreichte Krankheitsverarbeitung in Form des Erhalts der Selbstachtung und des R. Haier: Wir wollten uns immer die Wahrheit sagen 20 Perspektiven Überwindens von Schuldgefühlen eine ausgeprägte Rolle. ● Krankheitsbewältigung Dieser Aspekt der Bewertung beinhaltet die Analyse, in welcher Phase der Krankheitsverarbeitung das Kind und die Angehörigen sich aktuell befinden (Nichtwahrhabenwollen, Wut und Verzweiflung, Depression, Annahme, Ruhe). Darüber hinaus ist hier essentiell zu erfassen, inwieweit diese Einschätzung auch für die jeweils andere Seite (Patient - Familie) in adäquater Form erfolgt. Dabei können Gespräche und Sterben und Tod, Belastungen über Verhaltensänderungen usw. Indikatorfunktion besitzen. Die Abgrenzung zwischen diesen verschiedenen Aspekten der Bewertung des sozialen Unterstützungsbedarfs ist sicher fließend. Übergreifend ist es wichtig, auch bei einer strukturierten Erfassungsform die Äußerung von Wünschen und Problemen und eine Priorisierung der Einschätzungen zuzulassen. Dabei können direkte und offene Fragen ergänzend zur geschlossenen Auswahl aus vorgegebenen Antwortmöglichkeiten helfen. 6 Perspektiven Gottschling und Koautoren [3] fordern, dass idealerweise eine kinderpalliativmedizinische Betreuung von Anfang an in die Behandlung eingebunden wird. Diese Betreuung muss auch die Erfassung der Notwendigkeit sozialer Unterstützung einbeziehen und neben den betroffenen Kindern und Jugendlichen auch deren soziales Umfeld, und hier insbesondere deren Familien, in die Versorgung integrieren. [42] Das Verständnis der kommunikativen Interaktionsebenen zwischen Patienten und deren Familien sowie die verschiedenen Formen und Aspekte der Reflexion von Lebensqualität ist dafür ein wesentlicher Faktor, der jedoch noch weiterer Forschung bedarf. [43, 44, 45] Deren strukturierte Erfassung kann ein Hilfsmittel darstellen, dass zur Steuerung des entsprechenden Betreuungsangebotes genutzt werden kann. "Zukünftige Studien sollten die Barrieren in der Kommunikation erforschen, um Entscheidungen in der Lebensendphase zu optimieren und damit die Belastung der Eltern" und betroffenen Kinder (A. d. V.) "langfristig zu reduzieren". [2] Die Erkennung eines sozialen Betreuungsbedürfnisses stellt einen ersten Schritt zur Verbesserung der Lebensqualität der betroffenen Kinder und Jugendlichen und von deren Familien dar und allein das Ansprechen dieser Fragen durch professionelle Teammitglieder kann einen Beitrag zur Verbesserung der Fremdreflexion und R. Haier: Wir wollten uns immer die Wahrheit sagen 21 Perspektiven Lebensqualität leisten. Die Art und Weise der daraus resultierenden Hilfs- und Unterstützungsangebote muss jedoch ebenfalls weiter analysiert und entwickelt werden. [46] Eine der wesentlichen Voraussetzungen für eine fachgerechte und optimierte Betreuung ist jedoch auch in diesem speziellen Zusammenhang die Kooperation zwischen allen Berufsgruppen, die an dieser Betreuung beteiligt sind. Durch die Nähe zu den Patienten und deren Angehörigen sind Pflegende gerade hier besonders gefordert. Die Bereitstellung entsprechender Instrumente und der Abbau von Ängsten können hierbei wichtige Unterstützung liefern. (Rolf Krenzer) Wir wollten uns immer die Wahrheit sagen Ich sollte Euch immer die Wahrheit sagen, wenn Ihr mich nach etwas fragt. Ich wollte Euch immer die Wahrheit sagen, weil Ihr auch die Wahrheit sagt. Ihr wart doch so groß und ich war so klein und was Ihr mir sagtet, das sah ich auch ein. Ich hab Euch geglaubt und hab Euch vertraut, dass Ihr niemals lügt, darauf hab ich gebaut. Ich sollte Euch immer die Wahrheit sagen, wenn Ihr mich nach etwas fragt. Ich wollte Euch immer die Wahrheit sagen, weil Ihr auch die Wahrheit sagt. Da wurd` ich so krank, Ihr machtet mir Mut. Ihr sagtet, sei tapfer; es wird wieder gut. Da wusst` ich nicht mehr, ob Ihr´s ehrlich meint, denn ich habe gesehn, Ihr habt heimlich geweint. Ihr wolltet doch immer die Wahrheit sagen, wenn man Euch nach etwas fragt. R. Haier: Wir wollten uns immer die Wahrheit sagen 22 Perspektiven Ihr wolltet doch immer die Wahrheit sagen, das habt Ihr mir selber gesagt. Ich fühl` mich so schlecht, mir tut alles weh und ich weiß nicht, ob ich das weiter durchsteh`. Werd ich noch gesund, ist noch Hoffnung da? Ihr lächelt mich an und nickt und sagt ja. Ihr wolltet doch immer die Wahrheit sagen, wenn man Euch nach etwas fragt. Ihr wolltet doch immer die Wahrheit sagen, das habt Ihr mir selber gesagt. Was ist, wenn man stirbt, warum gerade ich? Ihr erzählt mir vom Tod, doch schon tröstet Ihr mich. Ich weiß, dass Ihr wisst, dass ich sterben muss, doch Ihr tut so, als wäre nichts und gebt mir einen Kuss. Wir wollten uns immer die Wahrheit sagen, auch wenn´s noch so weh tut. Wir sollten uns immer die Wahrheit sagen, denn zu lügen ist jetzt nicht gut. Ich spüre, wie einsam und schwach Ihr seid, Ihr lügt, weil Ihr liebt, und das tut mir so leid. Ich hab doch nur Euch, jetzt lügt nicht zum Schluss. Sagt mir ehrlich, wie`s ist, wenn man sterben muss. Wir wollten uns immer die Wahrheit sagen, auch wenn´s noch so weh uns tut. Wir wollten uns immer die Wahrheit sagen, denn zu lügen ist jetzt nicht gut. R. Haier: Wir wollten uns immer die Wahrheit sagen 23 Literatur 7 Literatur 1 Hinds PS et al. Key factors affecting dying children and their families. J Palliat Med 2005; 8 (Suppl 1): S70-78 2 Hechler T et al. Parent's perspective on symptoms, quality of life, characteristics of death and end-of-life decisions for children dying from cancer. Klin Pädiatr 2008; 220: 166-174 3 Gottschling S et al. Palliativmedizin in der Kinderonkologie. Klin Pädiatr 2008; 220: 134136 4 Masera G et al. 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