Welle Niederrhein
Transcription
Welle Niederrhein
Markus Wöhrl Kindesvernachlässigung im Radio: Der Fall Mirco Der Referent: Markus Wöhrl Chefredakteur bei Welle Niederrhein (Krefeld) seit 2006 stv. Chefredakteur bei Radio Emscher Lippe Nachrichtenredakteur Antenne Thüringen Studium (M.A.) Publizistik- und Kommunikationswissenschaften, Politik und Soziologie Qualitäts-Management-Beauftragter Der Sender: Welle Niederrhein Sendegebiet: südl. Niederrhein Krefeld u. Kreis Viersen: 538.000 EW einer von 44 Sendern im NRW-Lokalfunksystem Rheinische Post, Girardet-Verlag als Betriebsgesellschaft) gesellschaftliche Gruppen als Veranstaltergemeinschaft (wie ein Rundfunkrat bei den öffentlichrechtlichen Sendern) 4 Redakteure, 2 Volontäre, gut 10 freie Mitarbeiter 5 Stunden selbstproduzierte lokale Sendestund 26 Nachrichtensendungen für 2 Gebiete Worum es in diesem Referat geht Wie Journalisten im Umgang mit Themen wie Kindeswohlgefährdung „ticken“. Welche Auswahlkriterien sie haben Welche ethischen Grundlagen sie haben Was sie bewirken wollen und was sie bewirken Konkurrierende Rechte in den Medien Art. 5 GG: Pressefreiheit Allgemeines Persönlichkeitsrecht Art. 2 I und Art. 1 I GG: Menschenwürde u. Recht a. freie Entf. d. Persönlichkeit Allgemeines Persönlichkeitsrecht jeder hat das Recht, selbst darüber zu bestimmen, ob und wie er das eigene Leben öffentlich machen möchte. Eine ausdrückliche Regelung gibt es nicht. Recht: – – – – – am gesprochenen und geschriebenen Wort, am eigenen Bild, auf informationelle Selbstbestimmung, auf Schutz der Privatsphäre, der persönlichen Ehre Verletzung des Persönlichkeitsrechts strafrechtliche Ansprüche – Beleidigung – Verleumdung zivilrechtliche Ansprüche – – – – Berichtigungsanspruch Gegendarstellungsanspruch Unterlassungsanspruch Schadensersatzanspruch Jugendschutz in der Berichterstattung Der gesetzliche Persönlichkeitsschutz sieht für die mediale Berichterstattung keinen gesonderten Kinder- und Jugendschutz vor. Der Unterlassungsanspruch im Bereich der Bildberichterstattung wird bei Kinder aber enger ausgelegt (Bezug auf Art. 6 GG) Aber: Auch Kinder dürfen für die Berichterstattung fotografiert werden – auf öffentlichen Veranstaltungen – NICHT im Kindergarten oder in der Schule Häufig geht es um Einzelfallentscheidungen Pressekodex (als freiwillige Verpflichtung für Print-Medien) Nicht alles, was von Rechts wegen zulässig wäre, ist auch ethisch vertretbar. Ziffer 8 – Persönlichkeitsrechte Die Presse achtet das Privatleben und die Intimsphäre des Menschen. […] Ziffer 9 – Schutz der Ehre Ziffer 11 – Sensationsberichterstattung, Jugendschutz Es widerspricht journalistischer Ethik, … Menschen in ihrer Ehre zu verletzen. Die Presse verzichtet auf eine unangemessen sensationelle Darstellung von Gewalt, Brutalität und Leid. Die Presse beachtet den Jugendschutz. 20 Jahre WELLE NIEDERRHEIN Folie 9 Landesmediengesetz NRW (als verbindliche Verpflichtung für den Rundfunk in NRW) Auszug aus den Programmgrundsätzen: § 31 (2) – Gesetze einhalten, Ehre schützen § 31 (5) – journalistische Grundsätze einhalten Damit referiert das LMG NW auch auf den Pressekodex Informationssendungen haben den anerkannten journalistischen Grundsätzen zu entsprechen. 20 Jahre WELLE NIEDERRHEIN Folie 10 Fall Mirco: Interessen und Rechte Warum ist der Fall Mirco berichtenswert? Nachrichtenfaktoren: Gesprächswert Jeder kann zu diesem Thema etwas (Meinung, Haltung, Erlebnisse) beisteuern Unterhaltungswert Neuigkeitswert Nutzwert Positionierungswert Lokalwert Auch Wut, Empörung und Trauer sind Unterhaltungswerte Es gehört zum aktuellen Tagegeschehen Hörer sollen nach Mirco suchen und auf eigene Kinder achtgeben Es passt insgesamt zur Zielgruppe Es betrifft den Niederrhein oder ist dort passiert 20 Jahre WELLE NIEDERRHEIN Folie 12 Exkurs: Wie Ereignisse sich entwickeln Tötung: punktuelles Ereignis Verschwinden/ Entführung: langgezogenes Ereignis Medieninteresse flaut ab Um die Berichterstattung „am Laufen“ zu halten, müssen immer wieder auf die hintergründig laufende Suche neue, punktuelle „Ereignisse“ gefunden werden: Hintergründe zu Familie, Stimmung im Dorf, Portrait Einsatzleiter, Reportage aus Schule… (BoulevardGefahr!) Ist das Ereignis beendet, steigt Sensibilität für ähnliche Ereignisse: „schon wieder…“ (Gefahr der MedienHysterie!) Grefrath 15.000 Einwohner in drei Ortschaften ländlich und familiär geprägt „man kennt sich“ Der Fall Mirco Freitag, 3. September 2010. Mirco ist auf einer Skaterbahn, 4 km vom Haus entfernt. um 21:30 Uhr lässt die Mutter Mirco über eine Freundin ausrichten, er solle nach Hause kommen. Mirco bringt zunächst seinen Freund nach Hause, macht sich mit seinem Rad dann nach Hause auf… Mirco kommt nie zuhause an. Größte Suchaktion Deutschlands läuft über 145 Tage. Januar 2011: Der Täter wird festgenommen und führt die Polizei zu Mircos Leiche. Die Eltern: besondere Tragik Eltern melden Mirco erst am Samstagmorgen vermisst. Mutter war früh ins Bett gegangen und hatte ihrem Mann noch gesagt, dass Mirco auf dem Nachhauseweg sei. Vater, der am Computer saß, hatte dies wohl nicht mitbekommen oder falsch verstanden. Vater ist später auch schlafen gegangen und hatte nicht mitbekommen, dass sein Sohn immer noch nicht zu Hause war. Die Suche: Unterschwelliger Verdacht WAZ, 7.9.2010 „Nett” sollen sie sein und „freundlich”. Dementsprechend groß ist die Anteilnahme der Grefrather. Manche aber stellen mittlerweile auch Fragen. Leise noch und fast entschuldigend, aber sie fragen. Warum Mirco mit seinen zehn Jahren noch so spät allein unterwegs war, zum Beispiel. Vor allem aber, warum seine Eltern ihn erst am nächsten Morgen um 10.40 Uhr als vermisst gemeldet haben, wie die Polizei bestätigt. Hartnäckig hält sich in der Stadt das Gerücht, Mircos Mutter sei eingeschlafen, während sie auf ihren Sohn wartete. Westdeutsche Zeitung, Rheinische Post und BILD haben über diese Gerüchte nicht berichtet. Info: Die WAZ (Essen) hat keine Lokalausgabe in Grefrath und Umgebung und ist „weit weg“. Die Tat: Welche Details brauchen wir wirklich? BILD (1.7.2011) Olaf H. … legt sich mit dem Jungen in den Kofferraum … . Er zieht den Jungen aus, streichelt Po und Beine, zieht sich selber aus. ... nimmt eine blaue Kunststoffschnur, … zieht sie unter dem angehobenen Kopf … bis zum Hals und knotet die Schnur, indem er die Enden kreuzt und ein Schnur-Ende durch den entstandenen Ring zieht. Dann legt er sich mit seinem ganzen Gewicht auf den Jungen und zieht solange zu bis Mirco tot ist. Um sicher zu sein, lauscht Olaf H. nach Herztönen und Atemgeräuschen. … Um ganz sicher zu sein, sticht er ihr noch mit einem Küchenmesser in den Hals. Rheinische Post (28.6.0211) Demnach soll der Angeklagte sein Opfer erst erdrosselt und dann noch einmal zugestochen haben. Aus Angst, entdeckt zu werden, soll der Familienvater Mirco dann mithilfe einer Kunststoffschnur getötet haben. Um sicherzugehen, dass der Junge auch wirklich tot sei, habe er dann noch ein Messer in dessen Hals gestoßen. Öffentliche Empörung Bei Facebook entsteht ein anonymer Trauerkult mit Standard-Betroffenheitsfloskeln (R.I.P., Mirco…). Ausdruck von Sprachlosigkeit Der Ruf nach härteren Strafen für Kinderschänder nimmt primitive Züge an Beiträge müssen gelöscht werden. Die NPD fordert über Mittelsmänner bei Facebook die Todesstrafe für Kinderschänder. „Knackpunkte“ in der Berichterstattung Nach dem Verschwinden: „Wie können Eltern nur…“ Suchaktion: Welche Details aus Mircos Leben sind relevant für die Suche? Während des Verhörs: Erklärungen des Täters sind keine Rechtfertigung. Trauerfeier: Wie viel Nähe der Öffentlichkeit brauchen wir? Im Prozess: Wie viele Details zum Tathergang brauchen wir? Welche Lösungsmöglichkeiten gibt es? Kontakt zum Umfeld aufnehmen: Was ist im Sinne der Familie? – Im Fall Mirco z.B. Kontakt zu Pfarrer und Bürgermeister Bei Suchmeldungen nur die Details nennen, die von der Polizei freigegeben sind. – Namen nur nennen, wenn nötig – Vorsicht auch bei Beschreibung von Details, die Schlüsse auf Identität zulassen Details, die keine Relevanz haben, weglassen. Suchmeldungen nach Kindern nur dann, wenn die Polizei die Suchmeldung bestätigt. Der Fall Mirco: Risiken durch Medien Die Medien-Nutzer steigern sich in Betroffenheit hinein, obwohl sie nicht betroffen sind. Die Medien-Nutzer haben das Bedürfnis, selbst inszenierte Betroffenheit „abzuladen“. Medien verstärken gleichzeitig Misstrauen: „Der Täter ist ein Einheimischer…“ Medien verstärken Angst: „Grefrather lassen ihre Kinder kaum noch alleine aus dem Haus.“ Facebook praktisch rechtliche Anarchie Täter wird zur Bestie stilisiert. (BILD, Facebook) Rechtsradikale versuchen sehr subtil, auf die Empörungs-Maschinerie einzuwirken Der Fall Mirco: Chancen der Medien Medien verstärken das Zusammengehörigkeitsgefühl: „Ein ganzes Dorf hilft suchen…“ Medien haben die Chance, das Thema „Kindeswohlgefärdung“ zu kommunizieren: „Wie mache ich mein Kind immun gegen Übergriffe.“ Medien haben die Pflicht, Risiken in Relation zu setzen: – Die meisten Straftäter sind Familienmitglieder. – „Fall Mirco“ untypisch. – Gefahr eines tödl. Autounfalls um ein Vielfaches höher. Ausblick und offene Fragen Wie schaffen Medien es, zum Thema „Kindeswohlgefährdung“ die wichtigen Hintergrundinfos rüberzubringen, für die sich niemand interessiert? Wie schaffen wir es, Nachbarn, Erzieher und Familienmitglieder dazu zu bewegen, nicht wegzuschauen? Wie schaffen wir es trotzem, eine Hysterie zu vermeiden? Wie schaffen wir es, auch bei extremen Fällen von Kindeswohlgefährdung, die Persönlichkeitsrechte der Kinder zu wahren? Bei Facebook unmöglich! Meine Vorschläge Erziehungshilfe und Journalisten müssen Berührungsängste abbauen. Erziehungshilfe muss stärker versuchen, selbst Ereignisse und Themen zu liefern. Der Fall einer Kindeswohlgefährdung ist nur punktuell interessant. Deshalb muss Hintergrundwissen bewusst platziert werden Kindeswohlgefährdung darf nicht zum „besonders spektakulären Fall“ werden. Stattdessen muss ankommen, dass es „nebenan“ passieren kann. Das war´s. Vielen Dank für´s Zuhören Kontakt: Markus Wöhrl Welle Niederrhein Uerdinger Str. 543 47800 Krefeld m.woehrl@welleniederrhein.de