0 - MitOst

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Balkanbilder in Ost und West
Mythen und Stereotypen auf der Spur
Anregungen zur Didaktik interkultureller Studienseminare
Valeska Bopp, Katharina Lampe, Andrea Schneiker (Hrsg.)
Inhalt
Grußwort
4
Einleitung 6
Willkommen in der Balkanbar! 11
Balkanbilder in West und Ost
20
Identitäten in Bulgarien zwischen Fremdbestimmung und Selbstbestimmung
27
Nationenbilder in den internationalen Beziehungen
37
Dr. Christiane Gaehtgens Valeska Bopp, Katharina Lampe und Andrea Schneiker
Eine Methode zum Einstieg in interkulturelle Seminare
Katharina Lampe
Eine Umfrage
Alexander di Leonardo
Identitätsdiskurse
Penka Angelova
Definition, Entstehung, Funktionen
Andrea Schneiker
Die Entwicklung von Diskursen
46
No comment. 61
Unter der Lupe 68
Das Bild Rumäniens und Bulgariens in der deutschen Presse unter besonderer Berücksichtigung
des Integrationsprozesses in die Europäische Union
Katharina Lampe
Karikaturen des Klausenburger Graphikers Elemér Könczey oder „Balkanbilder“ im Unterricht
Gabriella-Nóra Tar
Das Begriffsfeld des homo balcanicus
Brigitta Finta
Der Bruch zwischen ALT und NEU im gegenwärtigen rumänischen Film 72
1989 - Ein europäisches Gedächtnis?
82
Die Revolutionsereignisse in Bukarest 1989 in der Erinnerung
94
Alexandra Vlad
Eine Didaktisierung zur Arbeit mit narrativen, lebensgeschichtlichen Interviews
Valeska Bopp, Stephanie Krauch
Zeitzeugeninterview
Menschenrechte in Rumänien 98
Kurzbiographien der Autorinnen und Autoren 108
Tobias Schulmann
Grußwort
Sehr geehrte Leserinnen und Leser,
die Region „Balkan“ wird nicht nur als eine geographische Einheit angesehen. Im politischen Dialog der
westeuropäischen Staaten wird „Balkan“ als Synonym
für kriegerische Auseinandersetzungen und Instabilität verstanden, weshalb er auch „Pulverfass“ genannt
wird. Dieses Bild vom Balkan hindert den Austausch
zwischen Südost- und Westeuropa und erschwert die
Auflockerung der nachbarschaftlichen Beziehungen
in der Region auch in den friedlichen Zeiten. Langfristig können jedoch Konflikte auf dem Balkan nur dann
friedlich gelöst werden, wenn die neuen Generationen
einen Weg finden, jenseits von überkommenen Stereotypen und Feindbildern, miteinander zu kommunizieren.
Durch die so genannte Initiative „Stabilitätspakt für
Südosteuropa“ konnte seit dem Jahr 1999 mit der
Unterstützung westeuropäischer Partner die regionale und auch internationale Zusammenarbeit auf
dem Balkan aufgebaut und konsolidiert werden. Die
Hochschulrektorenkonferenz (HRK) hat sich dabei als
die Stimme der deutschen Hochschulen die Aufgabe
gestellt, durch zahlreiche Hochschulkooperationen zur
Völkerverständigung sowie zur Integration der BalkanStaaten in die europäische Hochschulstrukturen beizutragen.
Für die finanzielle Unterstützung, die der HRK dafür anvertraut wurde, ist dem Bundesministerium für Bildung
und Forschung (BMBF), dem Auswärtigen Amt (AA),
dem Bundesministerium für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) sowie zahlreichen
deutschen Stiftungen und Unternehmen zu danken.
Das Seminar „Balkanbilder in Ost und West. Mythen
und Stereotypen auf der Spur“ ist eine der Aktivitäten,
die im Rahmen der genannten Initiative durchgeführt
wurden. Diese interkulturelle Begegnung, verbunden
mit der Vermittlung sozialwissenschaftlicher Arbeitstechniken, hat zu wertvollen Ergebnissen geführt, die
in dieser Publikation dokumentiert sind.
Allen, die den balkanischen Stereotypen auf die Spur
kommen wollen, empfehle ich dieses Buch und wünsche einen angenehmen interkulturellen Austausch.
Dr. Christiane Gaehtgens
Brücke der Freundschaft über die Donau zwischen Rumänien und Bulgarien
Einleitung
„Ich habe etwas Neues über die Kommilitonen aus anderen balkanischen Ländern erfahren. Sie sind uns in
einem bestimmten Maße ähnlich, sie empfinden das
Gleiche. In Bulgarien gibt es nicht an jeder Straßenecke Rosenmarmelade, wie ich dachte. Die Straßen
sind auch nicht so schlecht, es gibt auch viele schöne
Gebäude und die Leute sind netter als ich mir vorgestellt hatte.“
„Wenn ich bisher an den Kosovo gedacht
habe, erschienen mir immer Bilder vom Krieg.
Jetzt weiß ich, dass mehr dahinter steckt.“
In diesen beiden Zitaten zweier TeilnehmerInnen des
Seminars „Balkanbilder in Ost und West – Mythen
und Stereotypen auf der Spur“ verdecken stereotype
Vorstellungen über den Nachbarn die sich dahinter
verbergende Unkenntnis. Doch nicht nur die einzelnen
Völker auf dem Balkan wissen wenig voneinander, auch
im Westen Europas sind die Kenntnisse über diese Region begrenzt und mit Vorstellungen vom „Pulverfass“,
„Gespenst“ oder „Hinterhof Europas“ verbunden. Aber
welche Länder gehören eigentlich zum Balkan? Und inwiefern ist der Balkan mehr als nur eine geographische
Größe? Diese und andere Fragen wurden im Seminar
aufgegriffen und werden in dieser Publikation diskutiert.
Angesichts des Erweiterungsprozesses der EU kommt
diesen Fragen und den genannten Bildern eine wichtige
Bedeutung zu, da an sie bestimmte Hoffnungen, aber
auch Ängste geknüpft sind. Letztere spielen vor allem
in Westeuropa eine Rolle, doch auch für die jungen Demokratien ist der Integrationsprozess in dieser Hinsicht
eine schwierige Herausforderung, da sie sich solchen
Stereotypen stellen müssen. Daher ist es wichtig, im
Sinne der Völkerverständigung existierende Klischees
bewusst zu machen und ihre Funktion aufzuzeigen, um
ihre Instrumentalisierung – insbesondere für extremistische politische Zwecke – zu vermeiden.
Vor diesem Hintergrund fand vom 2.-8. April 2006 in
Ruse, Bulgarien, ein internationales Seminar mit 30
Studierenden aus Bulgarien, Deutschland, dem Kosovo, Mazedonien und Rumänien statt. Die Teilnehmenden waren Studierende der Politikwissenschaft
an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster,
der Germanistik und der Politikwissenschaft an der
Babeş-Bolyai-Universität in Cluj-Napoca (im Folgenden
verwenden wir aus pragmatischen Gründen die deutsche Bezeichnung „Klausenburg“), Rumänien, der Ingenieurswissenschaften an der Wirtschaftsakademie
in Bukarest sowie der Europäischen Studien an der
Angel Kantschev Universität und dem Bulgarisch-Rumänischen Interuniversitären Europazentrum (BRIE) in
Ruse, Bulgarien.
Ziel des Seminars war das gemeinsame wissenschaftlich-interdisziplinäre Arbeiten über die interkulturelle
Fragestellung nach der Konstruktion von Nationenbildern aus der Innen- und Außenperspektive. Dabei
kamen unterschiedliche didaktische Methoden zum
gegenseitigen Kennenlernen und zur Einführung in die
Thematik sowie zahlreiche geschichts- und sozialwissenschaftliche Methoden zur Bearbeitung der Fragestellung zum Einsatz. Den inhaltlichen Rahmen boten
vier Workshops:
• Rumänische Balkanbilder und -Studien
• Historische Entwicklung westlicher Balkanbilder
• Ein europäisches Gedächtnis? Selbst- und Fremdbilder am Beispiel der Erinnerung an 1989
• Der europäische Integrationsdiskurs zu Rumänien und Bulgarien in der deutschen Presse
Daneben umfasste das Seminarprogramm Filmpräsentationen sowie Vorträge und Diskussionsrunden
mit Europaexperten. Außerdem blieb während einer
Stadtralley, einem Ausflug zu den Höhlenklöstern in
Ivanovo sowie der Donauschiffahrt mit der „Balkanprinzessin“ – inklusive Torte, Blasorchester und Tanz
– genügend Zeit, die balkanische Realität direkt einzufangen. Wie die beiden dieser Einleitung vorangestellten Zitate zeigen, differenzierten sich die Balkanbilder
der Studierenden während des Seminars durch persönliche Erfahrungen, aber vielleicht auch durch die in
den Workshops vermittelten Inhalte, die ihnen halfen,
sich von tradierten Bildern zu distanzieren und diese
als „Mythen“ und „Stereotype“ zu entlarven.
Entsprechend dem Seminar verknüpft diese Dokumentation inhaltliche Beiträge mit methodischen Anleitungen. Einführend stellt Katharina Lampe die Methode „World Café“ vor, mit der die Studierenden am
ersten Abend in das Seminarthema einstiegen. Das
„World Café“ hieß in diesem Falle „Balkanbar“, aber
die Umbenennung ist nicht die einzige Möglichkeit,
die Methode an verschiedene Seminarthemen anzupassen… Welche Vorstellungen westliche Studierende von der Balkanregion besitzen, fing die filmisch
dokumentierte und für das Buch verschriftlichte Umfrage von Alexander di Leonardo ein. Anschließend
sensibilisiert der in Ruse als Vortrag gehaltene Beitrag
Penka Angelovas für die verschiedenen Identitätsdiskurse Bulgariens, die zum Teil einige Jahrhunderte
zurückzuverfolgen sind. Einer davon beschäftigt sich
mit der Frage Balkan oder Europa?, da sich das Land
mit beidem identifiziert. Andrea Schneiker liefert aus
der Perspektive der Imageforschung einen allgemeinen Überblick über die Entstehung, Definition und
Funktion von Nationenbildern. Eine weitere Methode
zur Untersuchung von Nationenbildern stellt die Diskursanalyse dar, welche Katharina Lampe beispielhaft
am Integrationsdiskurs Bulgariens und Rumäniens in
der deutschen Presse durchführt. Zwei Beiträge widmen sich dem Konstrukt „homo balcanicus“: Nóra
Tar verwendet dazu Karikaturen des rumänienunga-
rischen Künstlers Elemér Könczey, Brigitta Finta filtert
die Charaktereigenschaften des „homo balcanicus“
aus einer der Seminardiskussionen unter den TeilnehmerInnen heraus. Daran anschließend erforscht
Alexandra Vlad die Darstellung der politischen und
gesellschaftlichen Umwälzungsprozesse seit Beginn
der 1990er Jahre im zeitgenössischen rumänischen
Kurzfilm. Valeska Bopp und Stephanie Krauch liefern eine Didaktisierung zur Arbeit mit narrativen, lebensgeschichtlichen Interviews, auf deren Grundlage
sie mit den WorkshopteilnehmerInnen die subjektive
Verarbeitung der jüngsten Geschichte in Osteuropa
und deren Vergleichbarkeit diskutierten. Anschließend
veranschaulicht ein Interview zweier Seminarteilnehmerinnen mit einem Bukarester Zeitzeugen der Revolutionsereignisse im Dezember 1989 die Besonderheit
des rumänischen Umbruchs. Abschließend erweitert
Tobias Schulmann den Analyserahmen mit seiner im
Anschluss an das Seminar verfassten Hausarbeit über
die Bedeutung der Menschenrechte im EU-Integrationsprozess Rumäniens. Um die Ergebnisse des Seminars sowie deren Rezeption seitens der Studierenden festzuhalten, kommen auch sie mit persönlichen
Kommentaren, Eindrücken aus dem Seminar und weiterführenden Reflexionen zu Wort.
Wir hoffen, mit diesem Buch eine erfahrungsbasierte und praxisorientierte Unterstützung für die Gestaltung interkultureller Seminare mit Studierenden unterschiedlicher Fachrichtungen zu leisten. Wenn es uns
gelingt, dem Leser nicht nur einen Blick in die Abläufe
des Seminars zu ermöglichen, sondern ihm darüber
hinaus Anregungen für die methodische und inhaltliche Gestaltung derartiger Begegnungen zu vermitteln, hat sich unser Ziel erfüllt.
Unser Dank gilt der Hochschulrektorenkonferenz und
dem Lektorenprogramm der Robert Bosch Stiftung für
Mittel- und Osteuropa für die finanzielle Unterstützung
sowie der Angel Kantschev Universität, dem BRIE
und der Internationalen Elias Canetti Gesellschaft für
die Bereitstellung der Räumlichkeiten sowie die technische und organisatorische Unterstützung. Darüber
hinaus danken wir Frau Prof. Penka Angelova und
Herrn Prof. Reinhard Meyers für ihre konzeptionelle
Unterstützung sowie Herrn Timo Köster für die praktische Unterstützung vor Ort. Des Weiteren bedanken
wir uns bei unseren MitstreiterInnen in der Seminarleitung und -gestaltung Dr. Bianca Bican, Stephanie
Krauch, Dr. Nóra Tar und Katrin Tittel für die Zusammenarbeit.
Last but not least geht unser Dank an Jens Taken für
das Lektorat und Valerie Otte für das Layout.
Valeska Bopp, Katharina Lampe und Andrea Schneiker
Bukarest, Ruse und Münster im Juni 2007
„Mir hat alles gut gefallen. Die Gruppenverteilung finde ich auch super, weil wir uns so
„Die balkanischen Leute haben wunderschöne Seele und unique sence of humor!!! Die balkanischen Leute können
einander sehr leicht verstehen, wenn sie
wollen!“
leichter kennen lernen und in das Thema vertiefen können. Nicht nur, dass wir über den
Balkan und die EU mehr erfahren, aber auch
die Art und Weise der Seminargestaltung ist
erfinderisch, einfallsreich. Bisher war alles
eine wunderschöne Überraschung: Arbeit in
Mannschaften, Gastfreundschaft, freundliche
Gesichter, neue Ideen und neue Arten, wie
man lernen kann. Am Anfang dachte ich,
dass alles strenger und strikter sein wird, aber
dann schien es wie ein Spiel voll Kreativität
und spannend wie ein wirkliches Abenteuer.“
„Ich habe bemerkt, dass die Unterschiede zwischen den Teilnehmern, die aus verschiedenen Ländern kommen, fast unspürbar
sind. Wir reden von Stereotypen,
aber zwischen uns gibt es solche
Unterschiede nicht. Das war für
mich eine angenehme Bemerkung, denn ich gebe zu, ich hatte
ein paar Vorurteile. Ich finde alle
Workshops (und alle Spiele) sehr
interaktiv. Sie fördern die Kreativität und das Mitmachen. Alles
war gut organisiert. Zwischen
den verschiedenen Events gibt
es immer ungefähr eine Stunde Luft, aber damit kann man
nichts anfangen. Es gibt nirgendwo viel Freizeit, damit wir Einkaufen gehen können, wie das
von uns zu Hause erwartet wird.“
10
„Ich habe noch nie vorher Menschen aus
Kosovo kennen gelernt, und ich hätte wahrscheinlich diese Chance nicht bekommen. Eine
Balkanbegegnung, bei der Deutsch gesprochen wird statt Englisch – das finde ich sehr
gut. Die Möglichkeit, ein neues Land zu sehen,
ist eine einzigartige Erfahrung.“
Willkommen in der Balkanbar!
Eine Methode zum Einstieg in
interkulturelle Seminare
Katharina Lampe
Die Sonne verschwindet leuchtend rot über dem rumänischen Horizont und spiegelt sich in der Donau.
Diese wird hier in Ruse, kurz vor ihrer Mündung ins
Schwarze Meer, zu einem breiten Strom, gesäumt von
einer verwilderten Uferpromenade. Jedoch lässt diese
wildromantische Abendstimmung die TeilnehmerInnen
des „Balkanbilderseminars“ völlig unberührt. Sie sind
in kleinen Gruppen um Tische versammelt, haben es
sich gemütlich gemacht, lachen, diskutieren, notieren.
Plötzlich wird die Musik lauter, Balkanpop erfüllt den
Raum und die Gruppen lösen sich langsam auf, man
versorgt sich mit Getränken und Snacks, um an einem
neuen Tisch auf andere Gesprächspartner zu treffen.
Willkommen in der Balkanbar in Ruse!
Nein, wir befinden uns nicht beim gemütlichen Ausklang
des Seminars, sondern mittendrin in der Arbeit, denn
das Konzept der „Balkanbar“ oder des „World Café“
– wie es im Fachjargon genannt wird – geht davon aus,
dass gerade in entspannter Café- oder Bar-Atmosphäre effektive Arbeitsergebnisse erzielt werden.
Welche Ziele werden verfolgt?
Es sollen „alle mit allen reden“ und „alle zusammen
denken“ (Institut Balance 2007). Dies ist die grundlegende Zielsetzung der „Cafémethode“. Im Mittelpunkt
der Methode steht der Erfahrungsschatz, den jede
Teilnehmerin und jeder Teilnehmer bereits zu dem Seminarthema mitbringt. In Kleingruppendiskussionen
bekommen die TeilnehmerInnen die Gelegenheit,
diesen mit gegensätzlichen Einstellungen zu konfrontieren oder parallele Ansätze zu entdecken. Zu komplexen Themenstellungen können so vielschichtige
Gespräche entstehen.
Neben dieser ersten Zielsetzung ist es notwendig, zu
konkretisieren, was im Rahmen des „World Cafés“ für
ein Seminar erreicht werden soll.
Wir wählten die Methode des „World Cafés“ – auf
Grund der Tageszeit und des Seminarthemas von uns
in „Balkanbar“ umgetauft – als Einstieg in das internationale Studierendenseminar, um den TeilnehmerInnen
11
Raum zu geben, sich kennen zu lernen und ihre persönlichen Sichtweisen zu dem Thema des Seminars
zu äußern:
Der Eisbrecher
Zu unserer internationalen Studierendenbegegnung
sahen wir „die Rumänen“ und „die Deutschen“ anreisen. Als solche homogenen Gruppen, nur durch ihre
unterschiedlichen Nationalitäten definiert, sollten sie
nicht wieder abreisen. Stattdessen sollten sie sich als
Persönlichkeiten kennen lernen, deren nationale Zugehörigkeiten nur eine Eigenschaft unter vielen ist. Die
Neugier auf den Nachbarn oder die Nachbarin von der
anderen Donauseite oder den deutschen Studierenden ist groß zu Beginn eines internationalen Treffens.
Trotzdem gestaltet es sich oft schwer, die Berührungsängste zwischen den Gruppen abzubauen.
Darüber hinaus waren die deutschen Sprachkenntnisse bei den TeilnehmerInnen sehr heterogen: Während
die deutschen MuttersprachlerInnen sich bei ihren
Äußerungen völlig sicher fühlten, war es für TeilnehmerInnen aus Südosteuropa weniger selbstverständlich, ihre Meinungen zu formulieren und zu verteidigen.
Zudem ist das Bildungssystem in Südosteuropa hierarchischer organisiert als in Deutschland. Eine Meinungsäußerung von Studierenden wird im Allgemeinen
nicht erwartet und ist oftmals auch nicht erwünscht.
Gerade um solche Kommunikationsschwierigkeiten zu
entschärfen, schien uns die Balkanbar-Methode besonders gut geeignet. In zufällig zusammen gewürfelten
Kleingruppen sind Gedanken leichter vorzutragen als in
der großen Runde. Die Hürde, auf jemanden zuzugehen, der einem fremd ist, wird dadurch niedriger.
1
Aufschlussreiche Einblicke in das Hochschulsystem in Osteuropa in Keith
und Umland (2006).
12
Erster Gedankenaustausch
Da TeilnehmerInnen mit unterschiedlichsten kulturellen, fachlichen sowie politischen Hintergründen in
Ruse zusammentrafen, sollte die „Balkanbar“ einen
ersten Gedankenaustausch über Bilder, Vorstellungen
und Erfahrungen bezüglich des Seminarthemas ermöglichen. Die Gespräche wurden an den verschiedenen Tischen zwar durch Fragestellungen strukturiert, es war jedoch nicht das Ziel, wissenschaftliche
Diskussionen zu führen, unmittelbare Ergebnisse zu
erzielen oder zu festen Meinungen über die Balkanregion zu kommen. Vielmehr sollten die Gespräche Tendenzen aufzeigen, die mögliche Anknüpfungspunkte
für den weiteren Verlauf des Seminars darstellten.
Das Wichtigste ist die Vorbereitung
Grundlegend für das Gelingen eines „World Cafés“ ist
eine sorgfältige Vorbereitung, die zunächst darin besteht, eine tatsächliche Caféstimmung aufkommen zu
lassen. Man benötigt dazu einen hellen Raum, der so
groß ist, dass er für die Anzahl der TeilnehmerInnen
großzügig mit 4-er Tischen eingerichtet werden kann,
so dass sich die TeilnehmerInnen in ihren Gesprächen
nicht gegenseitig stören.
Für unsere Veranstaltung fanden wir den geeigneten
Platz in einem Hotel aus sozialistischen Zeiten, dessen
Mezzanine alles bietet, was man sich für eine stilvolle
„Balkanbar“ wünschen kann: einen weitläufigen Raum
mit Blick auf die Donau, rotsamtene Sofas an kleinen
runden Tischchen original aus den siebziger Jahren.
Die Tische werden mit Papiertischdecken gedeckt und
bei ausreichendem Platz auch mit Blumen, Getränken
und Keksen oder Snacks. Alternativ kann ein Büffet
eingerichtet werden. Des Weiteren liegen auf den Ti-
schen Filzmarker und eine „Speisekarte“ auf der die
„Arbeitsfrage“ des Tisches formuliert ist sowie eine
Abbildung, die dem Tisch seinen Namen gibt. „AyranTisch“, „Schopska-Tisch“ oder „Ţuikă-Tisch“ waren
Namen der Tische in der „Balkanbar“.
Wie es funktioniert
Ein „World Café“ beginnt mit der Vorstellung der Caféregeln durch die Moderatorin oder den Moderator.
Grundsätzliche Regeln sind:
• jeder kommt am Tisch zu Wort
• die „Arbeitsfrage“ wird besprochen
• die Gedanken werden nicht nur verbal ausgetauscht, sondern auch auf den Tischdecken notiert und kommentiert
Zusätzlich sind folgende Punkte zu klären, die aber je
nach Anlass, Gruppengröße und Zielsetzung unterschiedlich gelöst werden können:
• Wie finden sich die Diskussionsgruppen zusammen? Bleiben sie während des gesamten „Cafés“
in der gleichen Konstellation oder mischen sie
sich neu?
• Ist es notwendig, dass sich die TeilnehmerInnen
vorstellen?
• Wie viele Diskussionsphasen wird es geben?
• Wie lang dauern die Diskussionsphasen und die
Pausen?
• Durch wen wird die Kleingruppenarbeit angeleitet?
• Wie werden die Ergebnisse dokumentiert?
2
Joghurt-Getränk
3
Bulgarischer Salat aus Gurke, Schafskäse, Tomate, marinierter Paprika, Pe-
tersilie und Zwiebeln. Benannt nach den Schopen. So heißen die Bauern,
welche in der Region um Sofia leben.
4
Rumänischer Schnaps
Die erste Gruppenkonstellation wollten wir nicht dem
Zufall überlassen und so ließen wir die TeilnehmerInnen
„Tischkärtchen“ ziehen, die sie bestimmten Tischen
zuordneten. In der zweiten und dritten Diskussionsrunde entschieden die TeilnehmerInnen selbst, ob sie
die Diskussion mit den gleichen Gesprächspartnern
an einem anderen Tisch vertiefen oder sich lieber
mit anderen TeilnehmerInnen austauschen möchten.
Die Tischgruppen mussten international zusammengesetzt sein und durften maximal fünf Personen umfassen. Nachdem sich die Gruppen an ihren Tischen
zusammen gefunden hatten, benannten sie selbst einen Tischmoderator oder eine Tischmoderatorin. Ihre
Aufgabe war es, die Fragestellung vorzulesen und
darauf zu achten, dass die Grundregeln des „World
Cafés“ von allen Mitgliedern respektiert werden. Um
eine stärkere Strukturierung der Diskussionen zu erreichen, können auch so genannte „GastgeberInnen“,
die während des „World Cafés“ die TeilnehmerInnen
an den Tischen in Empfang nehmen, einen Überblick
über die vorherigen Diskussionen geben und die aktuellen Diskussionen moderieren. Nach einer 20minütigen Diskussionsphase lädt der Moderator oder die
Moderatorin – in unserem Fall die „Bardame“ – die
TeilnehmerInnen ein, sich eine 15minütige Pause zu
gönnen, um sich anschließend einer neuen Kleingruppe anzuschließen. Unsere „Balkanbar“ endete mit einer kleinen szenischen Darstellung der Diskussionsinhalte. Schließlich wurden die Tischdecken mit den
Diskussionsergebnissen an den Wänden zur allgemeinen Lektüre ausgehängt.
Das Konzept ging auf: Ungefähr zwei Stunden lang
besprachen die TeilnehmerInnen in ganz unterschiedlichen Zusammensetzungen die Fragestellungen,
welche sie an den Tischen vorfanden. Das Interesse
13
miteinander zu reden war vorhanden und so verselbstständigte sich die „Balkanbar“.
Und was passiert inhaltlich?
Die Entwicklung der einzelnen Kleingruppendiskussionen wird der Seminarleitung durch die Tischnotizen
der TeilnehmerInnen zugänglich.
Die TeilnehmerInnen beschäftigten sich mit insgesamt
drei Fragestellungen:
1. „Der rumänische Bauer glaubt, dass der Staat um
den Reichtum seines Hofes besorgt sein sollte,
und dass der Präsident am besten geeignet sei,
seine Probleme zu lösen. Der Präsident sollte ein
starker religiöser und militärischer Führer sein,
14
der seine Zeit nicht mit den Wahlen verschwenden sollte.“ (Badicioiu 2006)
Diskutiert dieses Zitat, indem ihr die hier beschriebenen Vorstellungen über die Aufgaben
von Politikern mit denen in euren Gesellschaften
vergleicht.
2. „Das ist typisch balkanisch...!“
Existieren eurer Meinung nach Eigenschaften,
die man als „typisch balkanisch“ bezeichnen
könnte?
Wenn nicht, warum wird dieser Ausdruck so
häufig benutzt?
Wenn ja, was versteht ihr darunter?
3. Stellt euch Folgendes vor: Auf der internationalen Touristikmesse in Berlin 2007 sind die Länder der Balkanregion mit einem gemeinsamen
Stand vertreten.
Entwerft dafür einen Flyer, der auf der Messe
verteilt werden soll. Aus ihm soll hervorgehen,
warum die Menschen auf dem Balkan Urlaub
machen sollten.
Die Auswertung der Notizen zeigte, dass die TeilnehmerInnen die Diskussionsrunden nutzten, um
Kenntnisse über die Balkanregion auszutauschen. Dabei entstand ein Sammelsurium an Begriffen, ein vielseitiges Balkanarchiv, das mehrere Kategorien erkennen lässt: Die Studierenden nannten
Kulinarisches (z.B. „Rakia, Mici, Serbska Salata“),
kulturelle Sehenswürdigkeiten („Klöster, Akropolis,
Thessanoliki“) geographisch-natürliche Begebenheiten („Schwarzes Meer, Donau, Gebirge“) und ge5
Bulgarischer Schnaps
6
Rumänische Hackfleischrollen
7
Serbischer Salat mit Tomaten, Gurken, Paprika, Petersilie und Oliven
Seminarmethode „World Café“
Gruppengröße
Ab 15 TeilnehmerInnen
Anwendungszeitpunkt
Zu Beginn eines Seminars (Eröffnung oder erster Arbeitstag)
Anwendungsmöglichkeiten
Sowohl als Einstieg für Fachtagungen als auch für interkulturelle
Begegnungen oder Firmentreffen geeignet. Die Methode muss an das
jeweilige Publikum angepasst werden
Ziele
Erfahrungsaustausch, Ideensammlung, kennen lernen, erste
Auseinandersetzung mit dem Seminarthema
Ergebnissicherung
• TeilnehmerInnen notieren die wichtigsten Ergebnisse und präsentieren sie am Ende jeder Diskussionsrunde (kann langwierig werden)
• Nach jeder Diskussionsrunde berichten die Gesprächsgruppen und ein Visualisierungskünstler bringt die Ergebnisse auf Papier.
• Standbilder bauen (bringt die Grundidee der Diskussion zum Aus- druck, sehr amüsant)
• Tischdecken mit Notizen als Dokumentation aufhängen
Stolpersteine…
…und wie man sie umgeht!
Die TeilnehmerInnen wissen
Nicht alle Arbeitsschritte auf einmal erklären, sondern die Anweisungen
etappenweise an die TeilnehmerInnen vermitteln.
nicht was sie machen sollen.
Die Fragen regen nicht zur
Diskussion an.
Die TeilnehmerInnen verlieren
das Interesse an der Diskussion.
Die TeilnehmerInnen notieren
ihre Ideen nicht auf die Tischdecken.
Die TeilnehmerInnen wechseln
nach der ersten Diskussionsrunde nicht die Tische,
sondern diskutieren weiter.
Auf klare und konkrete Formulierungen achten. Stellen Sie offene
Fragen. Fragen müssen provokativ sein und neue Perspektiven eröffnen.
Testen Sie die Fragen im Voraus.
Das „World Café“ kann beliebig abgekürzt werden. Nichts ist Schlimmer
als die TeilnehmerInnen zu einer Diskussion zu zwingen!
Erinnern Sie die Diskutierenden daran und erklären Sie kurz, warum die
Ideen auf das Papier gebracht werden müssen.
Erinnern Sie die TeilnehmerInnen, dass Sie mit ihrer Diskussion zu einem
Ende kommen sollen. Haben die anderen TeilnehmerInnen bereits die
Tische gewechselt, dann ist es besser, die Runde beizubehalten, da
sonst die anderen Diskussionsgruppen gestört werden.
15
schichtliche Besonderheiten („Osmanisches Reich,
immer im Interesse der Großmächte“).
Bemerkenswert ist dabei, dass die Studierenden alle
Gerichte, die sonst so stolz als „typisch bulgarisch!“
oder „typisch rumänisch!“ deklariert werden, unter
dem Oberbegriff der „Balkanküche“ sammelten. Klärungsbedarf trat dabei auch auf, da beispielsweise zu
dem in Bulgarien beliebten Getränk „Ayran“ in Klammern das Rezept hinzugefügt wurde („Joghurt und
Salz und Wasser“).
Besonders reichhaltig notierten die Studierenden ihre
persönlichen Eindrücke über die Menschen und
die Lebensweisen in den Balkanländern. Während die deutschen Studierenden mehr oder weniger
eine Außensicht einnahmen, versuchten die Studierenden aus Mazedonien, Bulgarien, Rumänien und
dem Kosovo Eigenschaften ihrer eigenen Identität zu
benennen, die sich ihrer Meinung nach auf die gesamte Region übertragen lassen. Zu lesen war unter
anderem „Gastfreundschaft, Korruption, Traditions-
16
bewusstsein, Familiensinn, Balkanisches Chaos“. Die
Balkanbilder zwischen deutschen, mazedonischen,
kosovarischen, bulgarischen und rumänischen Studierenden divergierten den Notizen nach nicht. Der
Krieg im ehemaligen Jugoslawien tauchte in den Notizen nicht auf, lediglich die Bemerkungen „territoriale
Bestrebungen“ und „Nationalismus? > verbreiteter als
in Mittel und Westeuropa“ weisen auf nationale Konflikte in der Balkanregion hin. Dies ist möglicherweise
darauf zurückzuführen, dass aus Regionen, welche
direkt in den kriegerischen Konflikt im ehemaligen Jugoslawien involviert waren, lediglich zwei Studierende
(aus dem Kosovo) teilnahmen.
Die Frage, ob etwas „typisch Balkanisches“ überhaupt existiert, wurde von den Studierenden nicht
behandelt. Es ist möglich, dass die TeilnehmerInnen
tatsächlich das verbindende Moment des Balkans
sehen. In den im weiteren Seminarverlauf durchgeführten Workshops, welche unter anderem die Analyse von rumänischen Karikaturen und Filmen und die
Untersuchung des Bildes Rumäniens und Bulgariens
in der deutschen Presse zum Thema hatten, zeigte
sich aber, dass es doch das Bedürfnis gab, das einheitliche Bild des „Balkanischen“ zu problematisieren
und zu dekonstruieren. In Bezug auf die Methode des
„World Cafés“ wird hier deutlich, wie vorteilhaft ein
„Gastgeber“ oder eine „Gastgeberin“ am Tisch sein
kann, der oder die darauf achtet, dass die Fragestellung vollständig bearbeitet wird. Auch ohne „GastgeberIn“ traten die Diskussionsgruppen über die Notizen
in gegenseitige Interaktionen: Als Reaktion auf eine
vorangegangene Kleingruppe, die vorwiegend negative Besonderheiten der Balkanregion diskutierte und
notierte („Blutrache, territoriale Bestrebungen und Taschenräuber“), zählten die nächsten Diskutantinnen
an diesem Tisch unter der fett geschriebenen Überschrift „positiv“ ihre Eindrücke auf, z.B. „Selbstironie,
Improvisationstalent, Vielfalt und Gastfreundschaft“.
Besonders in den Diskussionen zur Fragestellung
1 reflektierten die TeilnehmerInnen das Verhältnis
zwischen politischer und privater Sphäre in postkommunistischen Staaten. Ihrer Meinung nach
seien für Bürger in post-kommunistischen Staaten
das Private und insbesondere die Existenzsicherung
wichtiger als das politische Mitbestimmungsrecht.
Das führte die Diskussion im Folgenden zu der Fragestellung, welche Gründe für das Desinteresse an
politischer Mitsprache auszumachen sind. In den Notizen hielten die Studierenden fest: „Bequemlichkeit,
Intransparenz“ über Mitspracherechte und Folge des
Kommunismus. Die Diskussion wurde schließlich erweitert auf das Phänomen der Politikverdrossenheit
in westeuropäischen Staaten.
Das „World Café“ diente auch dazu, neue Fragen
aufzuwerfen, da viele Diskussionsstränge in diesem
Rahmen nicht hinreichend geklärt werden konnten.
Im Zusammenhang mit der Suche nach „dem Balkanischen“ wurde beispielsweise die Frage notiert, ob
Rumänien überhaupt zur Balkanregion gehöre. Solche weiterführenden Fragen versuchten wir in den
Workshops aufzugreifen. So wurde die Frage nach
Rumänien besonders in dem Workshop zum Thema
„Rumänische Balkanbilder und Balkanstudien“ thematisiert. Ebenso wurde der Identitätsbegriff hinterfragt. Neben der Balkanidentität existieren viele andere Identitäten, z.B. eine serbische und jugoslawische.
Identitäten sind immer multipel und relativ.
Gleichzeitig wurde in der „Balkanbar“ viel gelacht. So
wurde der Balkan als Projektionsfläche westeuropäischer Sehnsüchte nach Leidenschaft, Sozialroman-
tik und Abenteuer in den Tourismusflyern entlarvt und
karikiert (siehe Abbildung S.10). Rumänische und bulgarische Bauern und Politiker wurden auf die Schippe
genommen:
Thesen:
1. Die rumänischen Bauern trinken Schnaps wäh- rend
... andere die Überschwemmungsschäden repa- rieren.
...die rumänischen Politiker von den Schäden profitieren.
2. Der bulgarische Bauer arbeitet, um ins Paradies zu kommen.
3. Aber die rumänischen Politiker sind schon da.
4. Schnaps macht glücklich.
Und da Ironie und besonders die Selbstironie bereits
ein Moment der (Selbst-)Reflexion beinhalten kann,
bekamen die TeilnehmerInnen zum Abschluss die
Aufgabe, Ihre Diskussionen in einem Standbild darzustellen. Man stelle sich hierzu einen westfälischen
Studierenden vor, der die balkanische Leidenschaft
verkörpern soll!
Weiterführende Literatur:
Badicioiu, Alexandra (2006): Cu Mioriţa prin spaţiul Schengen.
In: Cotidianul, 2. Februar 2006: http://www.cotidianul.ro/index.
php?id=3869&art=8837&cHash=90e3e70984#send (abgerufen am
2.2.2007).
Brown, Juanita et al. (2005): The World Café. Shaping Our Futures
Through Conversations That Matter. San Francisco.
Bundeszentrale für politische Bildung (Hrsg.) (2006): Großgruppenveranstaltungen in der politischen Bildung. Konzepte und Methodenüberblick Gestaltung und Moderation in der Praxis. Bonn.
17
Das World Café präsentiert. Eine kurze Einführung, um Gespräche
in Gang zu bringen. URL: http://www.all-in-one-spirit.de/pdf/cafetogo_d.pdf (abgerufen am 28.12.2006).
Keith, Thomas und Andreas Umland (Hrsg.) (2006): Geistes- und
sozialwissenschaftliche Hochschullehre in Osteuropa II. Deutsche
und österreichische Impressionen zur Germanistik und Geschichtswissenschaft nach 1990. Frankfurt a.M. et al.
Institut Balance (2007): http://institut-balance.de (abgerufen am
2.1.2007).
Osmetz, Dirk: Gemeinsame Arbeit im Caféhaus – „The World Café“,
eine neue Großgruppenmethode. URL: http://www.org-portal.org/
portal/artikel.php?did=372 (abgerufen am 2.2.2007).
Keith, Thomas und Andreas Umland (Hrsg.) (2006): Geistes- und
sozialwissenschaftliche Hochschullehre in Osteuropa II. Deutsche
und österreichische Impressionen zur Germanistik und Geschichtswissenschaft nach 1990. Frankfurt a.M. et al.
Checkliste für die Vorbereitung eines
„World Cafés“:
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18
Zielsetzung formulieren
Teilnehmerkreis benennen
ModeratorIn und eventuell TischmoderatorInnen benennen
Räumlichkeiten reservieren
Akustik des Raums testen und eventuell
Mikrophon besorgen
Kleine (runde) Tische mit ausreichender
Bestuhlung
Helle, glatte Papiertischdecken
Mehrere Filzmarker für jeden Tisch
Karten mit Abbildungen und Fragen für jeden
Tisch
Geschirr, Getränke und Snacks
“Die Diskurse im Seminar sind interessant und vielfältig und ermöglichen eine breitere Sicht bezüglich
westlicher Balkanbilder.“
„Ich denke, dass das Seminar
sehr positiv wirken wird, weil die
Studenten, die aus dem Westen
„Der Kontakt mit den Studenten und
der Austausch mit ihnen (in den Diskussionsrunden, aber auch privat) ist sehr
interessant und informativ für mich und
gut für die Bildung meines persönlichen
kommen, direkt mit der Realität
konfrontiert sind. Sie werden
verstehen, dass die Leute im Balkan zusammen leben wollen und
nicht nur Krieg führen.“
Balkanbildes. Die Informationen aus den
Workshops liefern zusätzliches Grundlagenwissen über Geschichte und Situation
der Region.“
„Mein ¸Balkanbild‘ hat sich durch
das Seminar (noch) nicht wirklich
verändert, aber es ist bereits durch
einige wertvolle Infos und Eindrücke
erweitert worden.“
19
Balkanbilder in West und Ost
Eine Umfrage
Alexander Di Leonardo
Der Balkan: für die einen Drehort der schönsten
Winnetou-Folgen, für die anderen Tatort unvergleichlicher Verbrechen. Bei vielen weckt der Begriff „Balkan“ Erinnerungen an die schönen Steinstrände der
Adriaküste oder an Cevapcici. Jeder assoziiert andere
Bilder mit diesem Landstrich.
Ebenso stark variiert die Auffassung darüber, welche
Länder auf dem Balkan liegen. Gehört Rumänien zum
Balkan oder sind damit nur die Mitgliedsländer des
ehemaligen Vielvölkerstaats Jugoslawien gemeint?
Schnell wird klar, dass es auf solche Fragen keine einfachen Antworten gibt.
Um den TeilnehmerInnen des einwöchigen Seminars
zum Thema „Balkanbilder in West und Ost“ zumindest
den Einstieg zu erleichtern, hatte ich mich spontan
dazu entschlossen, einen kleinen Film vorzubereiten.
Er sollte keine endgültigen Antworten auf oben gestellte Fragen liefern, sondern auf unterhaltsame Weise und mit interessanten Ergebnissen in das Thema
einführen. Die unterschiedlichen Aussagen der Interviewten verdeutlichen dabei gleichzeitig die Faszination und Komplexität des Balkans.
20
Methode:
Vor laufender Kamera stellte ich fünf TeilnehmerInnen
meines Rumänisch-Sprachkurses, den ich im Rahmen
meines einjährigen Auslandsaufenthaltes an der BabeşBolyai-Universität Klausenburg in Rumänien belegte,
zwei Fragen: Welche Länder gehören deiner Meinung
nach zum Balkan?
Welche Bilder assoziierst du mit dem Begriff Balkan?
Meine fünf InterviewpartnerInnen kamen aus den folgenden Mitgliedsländern der EU: Portugal, Deutschland, Frankreich, Österreich und Italien. Während die
erste Interviewpartnerin (Portugal) sich gerade mit ihrem
rumänischen Ehemann und den gemeinsamen zwei
Töchtern für ein Sabbatjahr in Klausenburg aufhielt,
waren die vier anderen Befragten allesamt ErasmusStudierende unterschiedlicher Fachrichtungen. Alle
durften in ihrer jeweiligen Muttersprache antworten, um
die Ergebnisse nicht durch eventuelle Sprachbarrieren
einzuschränken. Die Antworten wurden von mir im Anschluss an die Befragung ins Deutsche übersetzt und
in einer Powerpoint-Folie an das Ende des jeweiligen
Fragenabschnitts gesetzt.
Befragung:
A: Claudia Padrao, Portugal (Hausfrau und Mutter)
1. Welche Länder gehören deiner Meinung nach zum
Balkan?
Bulgarien, Rumänien, Republik Moldau, Kroatien,
Serbien-Montenegro, Albanien (Ex-Jugoslawien).
2. Welche Bilder assoziierst du mit dem Begriff Balkan?
Dabei fällt mir sofort die ehemalige Republik Jugoslawien ein. Wenn ich es in wenigen Worten zusammenfassen soll: Krieg, Leute, die nicht sehr locker, sehr
nervös sind. Menschen, die sehr traditionalistisch und
nationalistisch sind. „Nationalistisch“, das ist das Wort
nach dem ich gesucht habe.
21
B: Stefan Niklas, Deutschland (Kulturwissenschaftsstudent)
1. Welche Länder gehören deiner Meinung nach zum
Balkan?
Ich würde Bulgarien, Serbien, Mazedonien, Albanien
dazuzählen. Dann noch, was eben zu Serbien dazugehört: Montenegro (ob es nun dazugehört oder nicht).
Auch Bosnien würde ich intuitiv dazuzählen, und wenn
man das dazuzählt würde ich auch Kroatien dazuzählen. Bevor ich nach Rumänien gekommen bin, hätte ich
es auch zum Balkan gezählt und jetzt würde ich sagen:
Naja, vielleicht die Walachei. Bei Griechenland bin ich
mir unsicher, weil ich Griechenland als EU denke und
deshalb nicht als Balkan, aber vielleicht gehört es auch
zum Balkan.
22
2. Welche Bilder assoziierst du mit dem Begriff Balkan?
Auf jeden Fall das balkanische Chaos, das ist meine
erste Assoziation. Dann die Vorstellung von kaputten
Straßen und alle haben eine Waffe und ein Messer. Das
ist auch so eine Assoziation, der ich nicht entkommen
kann. Jedes Dorf hat seinen eigenen Schnaps und der
Balkankrieg, natürlich. Vielleicht noch der Spruch: das
Pulverfass Balkan mit der dazugehörigen Karikatur.
Das Amselfeld fällt mir dann noch ein genauso wie
Namen aus der neuesten Geschichte wie Milosevic,
Karacic und wie sie alle heißen. Wenn ich an den Balkan denke, denke ich an slawische Sprachen, aber das
ist kein wirkliches Bild…
C: Isabelle Guignand, Frankreich (Studentin der SoziC: C: Isabelle Guignand, Frankreich (Soziologiestudentin)
1. Welche Länder gehören deiner Meinung nach zum
Balkan?
Mazedonien, Albanien, Bulgarien, Kosovo, Kroatien,
Bulgarien, Serbien-Montenegro, Rumänien.
2. Welche Bilder assoziierst du mit dem Begriff Balkan?
Der Begriff Balkan sagt mir einerseits sehr viel, andererseits aber auch nicht. Der Balkan ist ehrlich gesagt
eine Weltregion, die mich aus unerklärlichen Gründen
sehr anzieht. Außerdem denke ich noch an den Kosovokonflikt in Ex-Jugoslawien. Vielleicht bin ich deshalb
so stark vom Balkan angezogen, weil ich ihn nicht kenne und ich den Eindruck habe, dass es eine besondere
Region ist. Vielleicht auch deshalb, weil ich nicht so
genau weiß, was dort eigentlich passiert ist.
23
D: Bernhard Heigl, Österreich (Geschichtsstudent)
1. Welche Länder gehören deiner Meinung nach zum
Balkan?
Serbien-Montenegro, Mazedonien, Bulgarien, Albanien, Kroatien wird schon schwer, Slowenien definitiv
nicht mehr.
24
2. Welche Bilder assoziierst du mit dem Begriff Balkan?
Als erstes auf jeden Fall die Balkankriege von ´92 herauf bis ´99 zur NATO-Intervention und die ganzen
Kontroversen, die darum geführt wurden. Dann die
ethnischen Gruppierungen im Balkan, dass doch fast
der ganze Balkan sehr nationalisiert ist bzw. diese Nationalisierung in den letzten 20 Jahren wieder aufgelebt
ist. Ein großes Gemisch an Ethnien, ein großes religiöses Gemisch, das eigentlich immer durch die Zeiten
hindurch sehr explosiv war und sich diese Sprengkraft
eigentlich bis heute hin bewahrt hat.
E: Irene Malamaci, Italien (BWL-Studentin)
1. Welche Länder gehören deiner Meinung nach zum
Balkan?
Serbien-Montenegro, Albanien, Kosovo, Bulgarien.
2. Welche Bilder assoziierst du mit dem Begriff Balkan?
Wenn ich das Wort Balkan höre, denke ich vor allem an
Bürgerkriege, Unruhen und ähnliches. Dinge, die bis in
unsere Zeit andauern. Dann denke ich noch an die daraus resultierenden Probleme, wie die wirtschaftliche
und politische Instabilität und die aus den Balkanstaaten kommenden Flüchtlingsströme in meine Heimat. Obwohl es traurig ist, eine Region nur mit solch
negativen Assoziationen in Verbindungen zu bringen,
ist es irgendwo einfach die Wahrheit. Allerdings glaube
ich, dass uns diesbezüglich auch viel von Fernsehen
und Zeitungen vorgegeben wird.
25
Analyse:
Abgesehen davon, dass die Umfrage nicht als repräsentativ gelten kann, sind die Ergebnisse doch sehr
aussagekräftig. Angesichts der Tatsache, dass es
keine eindeutige Definition für die Region „Balkan“
gibt, überraschen die Antworten der fünf Interviewten
nicht. Nur die Länder Serbien-Montenegro, Albanien
und Bulgarien wurden von allen Befragten dem Balkan zugeordnet. Der Kosovo, gegenwärtig noch Teil
Serbiens, wurde von zwei Befragten sogar zu einem
eigenständigen Land erhoben. Slowenien wurde
nicht ein einziges Mal erwähnt, was vielleicht mit der
schnellen wirtschaftlichen und politischen Annäherung an den westlichen Standard erklärt werden kann.
Die einmalige Miteinbeziehung der der Republik Moldau, nord-östlich von Rumänien gelegen, ist ebenfalls
bemerkenswert.
Auffallend ist, dass alle Interviewten fast nur negative
Assoziationen mit dem Begriff „Balkan“ haben. Dies
erklärt sich durch die in den Köpfen fest verankerten
Eindrücke des Konflikts im ehemaligen Jugoslawien.
In diesem Zusammenhang muss jedoch auch die Tatsache berücksichtigt werden, dass es sich bei den
Interviewten hauptsächlich um Studierende der Jahrgänge 1980 bis 1982 handelt, deren Jugend von den
Bildern des Bürgerkriegs und dessen unmittelbaren
Folgen wie z.B. Flüchtlingsströmen ins Heimatland
begleitet wurde. Der Begriff „Balkan“ würde bei Angehörigen älterer Generationen wahrscheinlich auch
positive Erinnerungen wie beispielsweise die an schöne Urlaube hervorrufen.
26
Identitäten in Bulgarien
zwischen Fremdbestimmung und Selbstbestimmung
Identitätsdiskurse
Penka Angelova
In seiner Erzählung „Wechselbäder“ berichtet Dimitré
Dinev von den Zeiten des Wechsels in einem Land,
das zufällig Bulgarien heißt, das aber auch ein beliebiges exsozialistisches Land hätte sein können:
„Die Zeiten waren wechselhaft. Man wechselte Fahnen, Wappen und Uniformen. Man wechselte die Namen der Städte, Straßen, Schulen und Sportplätze,
der Parks, Krankenhäuser und Fabriken, und wenn
man keinen geeigneten Namen für die Fabriken fand,
schloß man sie wieder... “ (Dinev 2005: 5)
Die zwei Hauptgestalten, ein Bulgare und ein bulgarischer Türke, wechseln mehrfach ihre Identitäten, der
eine sogar sein Geschlecht im Namen des Gewinns
und des Schwarzmarkts, werden von der Mafia erwischt und enden auf unterschiedliche Weise, der eine
wird ermordet, der andere endet im Irrenhaus bei den
Wechselbädern. Der Weg zu den Wechselbädern führt
über Wien.
Der Weg der Bulgaren nach „Europa“, nach jenem imaginären Gebilde, das in den Jahrhunderten auch sein
Image geändert hat, führte hauptsächlich über Wien.
Von seiner Heimatstadt, Ruse (Rustschuk), schreibt
Canetti am Anfang des 20. Jahrhunderts:
„Die übrige Welt hieß
dort Europa, und
wenn jemand die
Donau hinauf nach
Wien fuhr, sagte
man, er fährt nach
Europa, Europa begann dort, wo das
türkische Reich einmal geendet hatte.“
(Canetti 1994a:11)
Und wenn jetzt manche Politiker oder Reiseleiter mit
der Stadt Ruse Staat machen wollen, sagen sie gleichermaßen, es sei das Tor zu Europa, es sei die europäischste Stadt in Bulgarien etc. Ich persönlich habe
mehrere Tore zu Europa erlebt, einschließlich Edirne in
der Türkei.
Seit über einem Jahrhundert, seit der Gründung des
dritten bulgarischen Staates, ist Bulgarien in einem
Wandel begriffen, Übergänge zur eigenen Staatlichkeit an der Jahrhundertwende, zum Kapitalismus in
der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, zum Sozialismus in der zweiten Hälfte, zur Demokratie an der Jahr-
27
tausendwende. Diese Übergänge gelten als politische
Programme, auf deren Hintergrund eine Gesellschaft
mit ihren menschlichen Figurationen einen vielfach
strukturierten Wandel erlebt, in dem etwa sechs Identitätsdiskurse des Übergangs agieren, dessen Ansätze schon im Osmanischen Reich angelegt waren und
sich in diesen etwa anderthalb Jahrhunderten mit, historisch gesehen, „rasender Geschwindigkeit“ abgewickelt haben und sich immer noch abwickeln. Diese
Identitätsdiskurse können folgenderweise zusammengefasst werden:
1. Der Diskurs der Gegenüberstellung von Balkanbzw. bulgarischer Identität und europäischer
Identität
2. Der Übergang von der patriarchalen patrilinearen
Großfamilie zu der bürgerlichen Kleinfamilie und
die darauf, nicht daraus, folgende Emanzipation
der Frau.
3. Der Übergang von einer agrarischen BauernGesellschaft zu einer vorwiegend städtischen
Gesellschaft und die Herausforderungen für die
Civil Society.
4. Diese Übergänge spielen sich auf dem Hintergrund nationaler und damit verzwickter ethnischer Identitätsdiskurse
5. und der damit verbundenen religiösen Identitätsdiskurse ab.
6. Der sechste und verdecktere Identitätsdiskurs ist
der des Übergangs von der sozialistischen Kultur
zu einer bürgergesellschaftlichen demokratischen Kultur, der in den vorherigen Diskursen
aufgeht.
Diese Diskurse ergeben die Basis für eventuelle
Bruchlinien (cleavages) (Autengruber 2006), die daraus entstehen können (z.B. Stadt versus Land, Kom-
28
munismus versus Antikommunismus), je nachdem,
wie bewusst sie von den Bürgern erlebt werden. (Dass
sie zu politischen Bruchlinien werden, hängt dann von
den Strategien der Parteien ab, inwiefern sie diese Nischen benutzen können und wollen).
1. Balkan versus Europa
Wie aus den Materialien der 1998 in Ruse durchgeführten Konferenz (Angelova/Veichtlbauer 2001) hervorgeht und wie Maria Todorova (Todorova 1999,
2004) in ihrem grundlegenden Buch dargestellt hat, ist
Bulgarien vielleicht das einzige Land in Südosteuropa,
das sich mit der Bezeichnung Balkan identifiziert. Im
Sinne der von Canetti in Masse und Macht anvisierten „Massensymbole der Nationen“, die in Sage und
Lied, im Märchen und in der mündlichen Überlieferung
identitätsstiftend sind, kann der Balkan in seiner doppelten Bedeutung als DAS Balkan-Gebirge und als
Gebirge schlechthin als ein Massensymbol der Bulgaren betrachtet werden, mit dem man sich zum großen
Teil identifiziert, das eine bergende und verbergende
Macht auszuüben vermag. Von da aus gehen Sagen
und Gerüchte über „balkandjii“, also in den Bergen
lebende Menschen, die besonders mutig, heldenhaft,
freiheitsliebend, kämpferisch, mit einem Wort – stur
sind.
Balkan ist kein geographischer Begriff, Balkan ist eine
Erfindung der Politik, wie auch Maria Todorova (Todorova 1999, 2004) in ihrem Buch überzeugend dargelegt hat. Die Politisierung des Begriffes führt zu einem
1
„Kollektive Einheiten, die nicht aus Menschen bestehen und dennoch als
Massen empfunden werden, bezeichne ich als Massensymbole.“ (Canetti,
Elias 1994b: 87)
Außeinanderklaffen von Außen- und Innenansicht, so
dass die Historiker keine gemeinsam verständliche
Sprache mehr finden. Während die Außenansicht den
Balkan entweder als „Pulverfass“, dem nur „Balkanisierung“ zuzutrauen ist, darstellt, neigt die Innenansicht zu „Rettertheorien“ von der osmanischen Invasion (den Balkanstaaten gebühre Dank, weil sie die
osmanische Invasion in den Grenzen des Balkans zurückgehalten haben), oder „Opfertheorien“ der Politik
der Großmächte. Dieses Auseinanderklaffen der Ansichten zwischen West und Ost, zwischen Geographie
und Politik führte zu der Einsicht, dass die historischen
„Begriffe und Termini, die Prozesse und Theorien über
die Entwicklung der europäischen Gesellschaften“ bei
der Analyse von Geschichte, Kultur und Lebensart auf
dem Balkan „nicht immer anzuwenden“ sind, dass
„die Balkanistik einen spezifischen und wichtigen
Platz in der Europäistik“ einzunehmen hätte und eine
neue „Forschungs-Methode in Zusammenarbeit mit
Forschern aus den Balkanländern“ anzuwenden sei
(Spiridonov 2001), dass die Historiker eine gemeinsame Sprache und gemeinsame Terminologie von Innen- und Außenansicht suchen und finden sollen.
Genauso uneindeutig ist das Bild von Europa, das
ursprünglich die Züge der Bildung, des Fortschritts,
der Einfuhr von revolutionären Ideen von den im Ausland studierenden Söhnen wohlhabender Eltern im 19.
2
Unter Balkanisierung werden Kleinstaaterei und verworrene politische Ver-
hältnisse verstanden vgl. Tododova 1999: 57, wo sie Hobsbawm zitiert).
Siehe auch Duden in 8 Bänden; auch Österreichisches Wörterbuch(2001);
Dimova (2002)
3
Diese Opfertheorien wurden von einzelnen Historikern auch während der
1998 von der Internationalen Elias Canetti Gesellschaft organisierten Konferenz zum Thema „Balkan - Pulvervass. Myhos oder Realität“ thematisiert:
Jahrhundert hatte, das aber zu Zeiten des realen Sozialismus die Züge des Wohlstand bekam. Europa als
Image und als Utopie, als Entwurf und als Wunschdenken wird auch nach der Wende hüben wie drüben in
vielerlei Munde geführt. Es führt von der Behauptung
eines Politikers, der auf die Frage, wodurch er sich
als Europäer fühlt, geantwortet habe, durch seinen
europäischen Pass, bis zu der Ausbildung einer neuen Fachrichtung, der Europäistik (European Studies)
und dem Vorschlag für eine neue historische Sparte,
die die europäische Geschichte als Ganzes und nicht
als Summe der nationalen Geschichten betrachten
soll (Schmale 2002: 119). Zum Wunschdenken gehört
auch die Herausbildung eines neuen Verfassungspatriotismus, der die unterschiedlichen kulturellen Muster
der einzelnen Kulturen verbinden soll. Solche Stimmen lassen sich auch im Westen hören, etwa bei Iso
Camartin, der die europäische Identität mit dem Bild
eines Flickenteppichs vergleicht, der an jedem Ort
unterschiedlich ist. Jeder Ort trägt seine historische
Ladung und seine historische Tiefendimension und
markiert seinen eigenen Topos der Identität und der
Tradition, ein Lokus iste, („das ist der Ort“), ein Ansatz
zur Himmelsleiter – der Vergleich führt auf den Traum
von Jakob und die Jakobsleiter zurück; aber auch ein
Tor zur Höllenleiter! Das Bewusstsein dessen, dass auf
diesem alten Kontinent jeder Ort mit facettenreicher
Geschichte beladen ist und die vielen Geschichten
sich in ihm wie auf einem Palimpsest aufschichten,
dass gute und böse Zeiten ihre Spuren darauf hinterlassen und diese Spuren gelesen und nicht vergessen
werden dürfen, soll immer wieder wachgerufen werden.
Vgl. Ancev/Misev (2001). Aber auch Geschichtslehrbücher, etwa auch rumänische. Vgl. Stiftung Balkancolleges (1998).
29
Die gewöhnliche Haltung der Bulgaren in diesem
angeblichen Identitätsspagat ist die des doublebind-Verhältnisses zur eigenen Identität: nach innen
schimpft man – ein gewöhnlicher alltäglicher Ausdruck
ist „bylgarska rabota“/bulgarisches Erzeugnis, Ware,
aber auch Angelegenheit/für etwas nicht Gelungenes
oder schlecht Gemachtes – nach außen ist es ein
übertriebener nationaler Stolz auf das Bulgarentum: In
den Medien werden oft internationale Intelligenzteste
zitiert, bei denen Bulgaren die zweite oder dritte Stelle
belegt hätten. In diesem Sinne fand über mehrere Jahre in den Medienbesprechungen die Aufnahme eines
Gedichtes in den Kanon der Literaturlehrbücher der
Grundstufe ein enormes Echo: das Gedicht „Ich bin
ein Bulgare“ von Ivan Vazov, das seit Generationen
als grundlegend für die Erziehung eines bulgarischen
Nationalstolzes betrachtet worden ist. Einige Kultusminister wurden von den Medien befragt, das Gedicht
auswendig vorzutragen, es wurde die große Gefahr für
das bulgarische Selbstbewusstsein ausgemalt, wenn
das Gedicht nicht in den Kanon aufgenommen wird.
Es hatte den Anschein, dass das nationale Selbstbewusstsein der bulgarischen Kinder an der Dekanonisierung dieses Gedichtes scheitern würde.
Meine These lautet: Bildung ist Heimat. Die Geschichts- und Literaturlehrbücher spielen eine enorme
Rolle bei der Herausbildung des Selbstbewusstseins
der Bürger, sie sind grundlegend für die Herausbildung der Persönlichkeit. Deswegen ist es wichtig,
ob diese Bildung zur Völkerverständigung oder zur
Verdrängung des Anderen führen wird. Eine Untersu4
Hier gehe ich ausschließlich auf bulgarische Beispiele ein und ziehe nur ge-
legentlich andere heran. Diese Diskurse lassen sich jedoch auch am Beispiel
der anderen SOE-Länder beweisen, wie vergleichende Fallstudien gezeigt
haben.
30
chung des Bildes „des Anderen in den Geschichtslehrbüchern auf dem Balkan“ (Stiftung Balkancolleges
1998) zeigt, wie sehr die Geschichtsschreibung in
den Balkanländern politisch und nicht sozialhistorisch
orientiert ist, wie sehr ein doppelter Maßstab an die
historischen Ereignisse angelegt wird, wie sehr das
Bild des Anderen ein Feindesbild darstellt und das
nationale Selbstbild als Opfer, Retter der (evtl. christlichen) Zivilisation oder friedliebendes Objekt nachbarlicher Kriegsgelüste hingestellt wird, manchmal
auch alles in einem. Die Geschichtslehrbücher sind
so geschrieben, dass man den Eindruck bekommen
könnte, dass Kriege die einzige Kommunikation unter
den Völkern gewesen sind.
Als nationaler Staat, in dem die eine Ethnie sich als
die führende Mehrheit versteht, werden die anderen
Minderheiten nur toleriert. Die wichtigsten identitätsstiftenden Faktoren in Bulgarien sind die Schulen, vor
allem der Geschichts- und Literaturunterricht, und
die familiäre Tradition. Das sind die ersten Sozialisierungsinstanzen, bei denen Lebenswelt entworfen
wird. Die Hinterfragung des Literaturkanons und der
historischen Werte (Stiftung Balkancolleges 1998), die
vermittelt werden, ergibt, dass nationales Bewusstsein, Nationalstolz und Rückbeziehung auf eine leidensvolle aber ruhmreiche Geschichte einen besonderen Schwerpunkt des Unterrichts ausmachen. Da
aber zunehmend die Eltern aufgrund ihrer Arbeitsbelastung zu wenig Zeit für die Kindererziehung haben,
wird diese Aufgabe den Großeltern und der Schule
überlassen. Hier wäre es an der Zeit, dass die alten
Kanons durchbrochen werden und die orthodox beeinflusste autoritäre Bildung modernisiert wird. Das
lässt aber noch auf sich warten.
des Mannes für die als weiblich geltenden Sphären
des Alltags, was zu einer Doppel- und Dreifachbelastung der Frau und zu einer Abneigung gegen diese
falsch verstandene Emanzipation führte. Andererseits
gehörte die allgemeine Beschäftigungspolitik zum
Die Modernisierung der Familie ist wie üblich mit der kommunistischen Projekt, wobei die kindererziehenArbeitsteilung und der Industrialisierung verbunden. den Funktionen vom Staat übernommen wurden.
Der patriarchale Staat ist von dem kommunistischen Einen interessanten Vergleich zwischen dem kom„Väterchen Staat“ abgelöst worden, der die patriar- munistischen und dem parlamentarischen Patriarchalen Funktionen des Familienvaters übernommen chat macht Susan Gal, indem sie beobachtet, dass
hat und Bürger und Bürgerinnen, die eigentlich keine der kommunistische Staat die „väterliche Rolle“ der
Bürger, sondern Genossen zu sein hatten, bevormun- Männer vereinnahmt habe, indem er direkte Hilfen
dete.
für die Aufziehung und die Sozialisierung der Kinder
Die Rolle des kommunistischen Staates und des Sy- gegeben und sogar gewisse familiäre Funktionen
stems war in Bezug auf die Frauenidentitätsbildung übernommen habe, der parlamentarische dagegen
eine janusköpfige: Einerseits kann nicht bestritten die Macht über die Frau an die Männer individuell im
werden, dass während des kommunistischen Re- Rahmen der Familie delegiert (Gal 1996). Wir haben
gimes zwei Generationen von Frauen ihre Ausbildung hier nicht die Möglichkeit, im Einzelnen darauf einbekommen haben und auf den Arbeitsmarkt gegangen zugehen, welche Unterschiede es innerhalb der realsind, andererseits haben sich diese emanzipatorischen sozialistischen Kultur in Abhängigkeit von den GegeAkte auf dem Hintergrund einer Pseudoemanzipation benheiten der vorher existierenden patriarchalen und
abgespielt, in der die patriarchareligiösen Systeme zwischen den
le Funktion vom Staat und von
pseudoemanzipatorischen
Be„Bulgarien: ich glaubte, dass
einem System der Planwirtschaft
dingungen der Frauen gegeben
die Leute ganz hässlich sind.
und der kommunistischen kollektihat. Ausschlaggebend ist in dievistischen Ideologie übernommen
sem Zusammenhang das erhöhte
Aber: Sehr schöne Frauen,
wurde (Slavova 2004: 155). Die komSelbstbewusstsein, die SelbstsiVIELE SCHÖNE FRAUEN.“
munistische Pseudoemanzipation
cherheit und Fremdidentifikation
bedeutete Gleichberechtigung der
der Frau. Dass nach der DemoFrau in allen als männlich verstankratisierung und des Parlamentardenen Bereichen, nicht aber die Gleichberechtigung staates die patriarchale Macht wieder in die private
Sphäre verdrängt wurde ist evident. Die sexistischen
5
Hier ist es angebracht, die von Karl Kaser und an Max Weber anknüpfende
Losungsworte der angeblichen Revolutionen haben
Einteilung der Gesellschaften in Behörden-, Gefolgs- und Verwandtschaftses deutlich gezeigt (Angelova 2002a ).
gesellschaften zu übernehmen, wobei die Gesellschaften auf dem Balkan imIn den Geschichtsbüchern und der Literatur ist das
mer noch das Verwandtschaftsprinzip nachweisen (Kaser 2002).
2. Der Übergang von der patriarchalen
patrilinearen Großfamilie zur bürgerlichen
Kleinfamilie
31
Bild der Frau jedenfalls vorwiegend patriarchal geblieben. Der Anteil der Frauen im Parlament ist kleiner als
zu kommunistischen Zeiten – wobei vermerkt gehört,
dass das sogenannte Parlament damals keine parlamentarischen Funktionen im wörtlichen Sinne hatte,
die Arbeitslosigkeit unter Frauen ist größer, der Sexismus floriert in den Fernsehsendungen und in den
Geschichtsbüchern. In der immer noch politisch und
staatlich orientierten Geschichtsschreibung wird die
Frau als „das Andere“, als ein fundamental vom Mann
unterschiedliches Naturwesen dargestellt, das unveränderlich ist und zur Fortpflanzung, zur Erziehung
der Kinder und zur Arbeit im Haus und auf dem Felde
sein Leben fristet (Daskalova 2004: 144), sich um die
kleinen Dinge des Alltags kümmert und vor Aktivitäten
in der öffentlichen Sphäre gehütet wird. Auch in den
neueren Geschichtsbüchern bleiben die Frauen als
jene, die nach Lucien Fevr „kein Recht auf Geschichte
haben“ (ebd.).
Sie werden entweder als die Masse der Bulgarinnen
beschrieben und mit den Attributen der Schönheit
behängt, oder als doppelte Fremdheit, als die listigen, intriganten, fremdländischen Königinnen, die
ihre Männer verraten und dem Staat geschadet haben – „Cherchez la femme“, Suche die Frau als den
Grund allen Übels ist das Grundprinzip des älteren
Kriminalromans und wohl auch der bulgarischen Geschichtsschreibung. Die Narrativik der Geschichtsbücher erzeugt die Spannung, dass wenn eine Frau
als königliche Gattin vorkommt, schon Schlimmes zu
erwarten ist. Als Leserin der Geschichtsbücher findet
eine Frau kein Identifikationsbeispiel in der Geschichte. Die Frauen werden in diesen Lehrbüchern als
Gattinnen, Töchter, Enkelinnen der machthabenden
Männer präsentiert, oder als die ethnische Andersheit,
32
wobei sie auch so bezeichnet werden „die Jüdin Sara,
die Ungarin Anna, die byzantische Prinzessin Maria“
usw. und eine jede Ethnie mit charakteristischen Zügen behangen wird. Die Attribute des Mannes gelten
als universal, die Beschreibungen der „Bulgarinnen“
in den Geschichtsbüchern gehen auf ihre Schönheit
oder ihre List ein. Über die Frauen schweigt die Geschichte, weil sie die Historiker nicht sprechen lassen
(Daskalova 2004: 139).
3. Der Übergang von der agrarischen zur
städtischen Gesellschaft
Auch der Übergang von einer Bauerngesellschaft zu
einer städtisch geprägten Gesellschaft, der zwangsläufig in dieser Region auch über die „Rurbanisierung“
geht, erfolgte massenhaft während des kommunistischen
Regimes – eine städtische, bürgerliche Identität hatte sich
vor und um die Jahrhundertwende in Ruse und Plovdiv,
dann am Anfang des Jahrhunderts in Sofia, Varna, Burgas
schon geprägt, nun ging der Kommunismus mit seinem
Industrialisierungsprogramm und der Bodenreform
(Enteignung des Bodeneigentums), später mit der Zusammenführung der LPGs zu APKs (Agrarkombinate,
die mehrere dörfliche LPGs verbanden) vehement an
eine Verstädterung des Landes. Größere Dörfer wurden zu Städten zusammengeführt oder einfach „umbenannt“, meistens ohne dass die Lebensweise der
Menschen sich verändert hätte. Andererseits nahm
die Migration in die Städte enorm zu, ohne dass ein
traditionelles „Arbeiterbewusstsein“ entstanden ist,
wie es sich in Mittel- und Westeuropa im Laufe des 20.
Jahrhunderts herausgebildet hat. Denn im Kommunismus waren alle Arbeiter, auch die „wissenschaftlichen
Arbeiter“. Die „neuen Bürger“ züchteten weiter ihre
Tiere für den Haushalt im städtischen Hof, die kleinen
Blumenanlagen vor den städtischen Häusern wurden
durch Gemüseanlagen ersetzt und zwar nicht wegen
Mangel an landwirtschaftlicher Produktion, sondern
wegen der Vorliebe für hauseigene Produkte. Obwohl
die Konservenkombinate den Plan für Im- und Export
ständig erfüllten und sogar übererfüllten, wurden in
den Städten – meistens im Hinterhof oder auf dem
Balkon die sog. „Büchsenladen“ zelebriert: hauseigene Konservenproduktion in Gläsern.
Die traditionelle Identitätsprägung, die durch Literatur und Förderung von Traditionen gewährleistet wird,
war und ist immer noch auf die „ländliche Tradition“,
die „angeborenen“ Werte und Inhalte fixiert und beruft sich auf die „ländlichen Wurzeln“. Selbst Feiertage
einzelner Städte werden mit Reigen und Volksmusik
eröffnet, die alten städtischen Lieder hört man nur in
gesonderten Sendungen, der Ursprung vom Lande
soll nach dieser Ideologie durch Literatur und Tradition gefestigt werden, was für die städtische Identität
nicht fördernd ist.
Die bulgarische Literatur ist auch zum großen Teil
durch die ländliche und landwirtschaftliche Tradition
beeinflusst, auch in gegenwärtigen Romanen spielt
sich die Handlung auf dem Anger und dem Acker ab.
In der Literatur geistert immer noch das Gespenst des
expressionistisch gefärbten Stadtbildes – die Großstadt als Bedrohung.
Diese Identifikation mit dem Ländlichen ist keine bulgarische Ausnahme, sie ist für die traditionell agrarischen
Gesellschaften auf dem Balkan charakteristisch, auch
bei rumänischen Studierenden, die seit Generationen
aus Bukarest kommen. An rumänischen Feiertagen
(wo die ländliche Tracht und die ländlichen Tänze eine
Rolle spielen) lässt sich diese Orientierung auf die
ländlichen „Wurzeln“, auf den „Ursprung vom Lande“
beobachten. Dabei ist zu vermerken, dass die Tracht
auf dem Balkan nicht mit der traditionellen Tracht in
Österreich oder Bayern zu vergleichen ist, die auf die
Tracht der Landesherren zurückgreift, sondern auf die
ländliche Tradition, auf den Volksreigen auf dem Anger
zurückgreift.
4. Nationale und ethnische Identitätsdiskurse
Die oben erwähnten Übergänge – der Übergang von
der patriarchalen patrilinearen Großfamilie zu der
bürgerlichen Kleinfamilie und der Übergang von der
agrarischen Bauern-Gesellschaft zu einer vorwiegend
städtischen Gesellschaft – ereignen sich auf dem Hintergrund nationaler und damit verzwickter ethnischer
Identitätsdiskurse, die sich auch im Spannungsfeld
von Fern- und Selbstidentifizierung abspielen.
Für die Fernbestimmung sorgen wiederum die Historiker. Der „geschichtswissenschaftliche Beitrag“ für die
zwanghafte Umbenennung der „bulgarischen Türken“
– der in Bulgarien seit Generationen lebenden Türken,
bulgarische Bürger türkischen Ursprungs – bestand
in der Beweisführung, dass es Bulgaren „mit verdunkeltem Selbstbewusstsein“ seien, angeblich während
der osmanischen Herrschaft zwangsmoslemisierte
Bulgaren. Die Pomaken – „auch bulgarische Muslime, Bulgaro-Mohammedaner oder Achrjane genannt“
(Brunnbauer 2002b), eine weitere minderheitliche Bevölkerungsgruppe in den Rhodopen – unterliegen auch
mehrfacher Fern- und Selbstbestimmung. Über den
Ursprung der Pomaken streiten sich bulgarische und
türkische Historiker, wobei die Pomaken auch ihren
Anspruch auf eine eigene Ethnie erheben (Brunnbauer
2002b: 97-121). Brunnbauers Feldforschung in einem
33
bulgarischen Pomakendorf zeigt, wie sehr die Identitätsbestimmung der Pomaken durch politische Akteure, historische Entwürfe und ökonomische Voraussetzungen beeinflusst wird. Einen noch frappanteren
ethnischen Konsolidierungsprozess beschreibt Ger
Duizings in „Die Erschaffung der Ägypter in Kosovo
und Makedonien“ (Duizings 2002) – „eine Gruppe unter der Roma-Bevölkerung, die sich eine gesonderte
Identität beimisst“ (Brunnbauer 2002: 8f.).
Des Weiteren gehe ich nur stichpunktartig auf einige
Aspekte der Auffächerung und Bewältigung dieses
Diskurses ein, die in einer längeren Abhandlung aufgearbeitet werden sollen:
• Die ethnische Selbstidentifikation der Minderheiten
in Bulgarien und auf dem Balkan erfolgt zwischen Assimilation und Verweigerung (Türken, Romas). Eine
anonyme Enquête über politische Kultur, die mit Hilfe von BRIE-Studierenden in den Ländern Bulgarien,
Rumänien, der Republik Moldau, Makedonien, Kosova, Albanien über politische Kultur durchgeführt wurde, hat als interessantes Nebenresultat erbracht, dass
in der ethnischen Selbstbestimmung bei Minderheiten
Probleme aufgetaucht sind: Einzelne Bürger haben
sich geweigert, ihre Ethnie anzugeben oder haben ersichtlich falsche Angaben gemacht.
• Juden und Armenier haben kein Problem mit ihrer
Selbstbestimmung in Bulgarien, sie haben ihre Gemeinden.
• Durch die Parlamentarisierung einer Partei für Rechte und Freiheiten in Bulgarien, die im Volksmund als
die „Türkische Partei“ geführt wird, ist die so genannte „Türkische Frage“ zum größeren Teil gelöst, das ist
aber immer noch ein „zarter Frieden“, der gehütet und
gepflegt gehört. Die Entstehung einer minderheitenfeindlichen Partei in Bulgarien (Ataka) ist ein Gefahr
34
bringendes Syndrom, das eigens untersucht gehört.
Mittlerweile gibt es Schulen mit religiösem Unterricht
und türkischer Sprache in Ruse und Smoljan, an einzelnen Schulen gibt es den selbstgewählten Unterricht
in türkischer Sprache.
• Die Roma-Frage wäre als vorwiegend soziales Problem zu betrachten, das aber auch seine kulturellen
Probleme aufwirft, wenn unter Integration nicht Assimilation verstanden werden soll.
• Und zu aller letzt soll auch Rechnung getragen werden, wie sehr ethnische Selbstbestimmung wie alle
anderen nationalen, religiösen usw. Selbstbestimmungen auch eine Konstruktion ist und oft über finanzielle Unterstützungen und die EU-Programme auch
zu einer Art selbstbevorzugter Fernbestimmung wird.
5. Religiöse Identitätsdiskurse
Eng damit verbunden sind auch religiöse Identitätsdiskurse, die sich im „Nahkampf“ mehrerer Ideologien,
Kirchen und Sekten abspielen und sich als Konstrukte
erweisen. Als Erstes muss vermerkt werden, dass die
traditionelle Glaubensvielfalt auf dem Balkan vom Islam über die jüdische und die führenden christlichen
Religionen eine reichhaltige Skala in jedem der Länder
aufweist. In den neuen Demokratien, in denen die Religion auf unterschiedliche Weise und in unterschiedlichem Maße unterdrückt wurde, hat das Europa der
Religionen und der Sekten gleich nach der Wende in
die „neuentdeckten“ Regionen des Ostens und Südostens Einzug gehalten. Die orthodoxen Kirchen andererseits erheben in den meisten Ländern ihren cäsaropapistischen Anspruch auf staatliche Anbindung und
mit den neugegründeten und sich selbstbestimmten
Staaten entstehen auch neue orthodoxe Kirchen, die
die Einheit von Staat, Nation (in manchen Fällen auch
Ethnie) und Glauben demonstrieren wollen. Bulgarien bildet in diesem Fall eine Ausnahme, bei der sich
zwei orthodoxe Kirchen gegenseitig um die Legitimität
streiten und dadurch ihre Wirksamkeit in der Öffentlichkeit eingebüßt haben.
Zu untersuchende Schwerpunkte in diesem Bereich
sind:
1. Eine kritische Hinterfragung der traditionellen Anbindung zwischen nationalen, ethnischen, panslavistischen (Angelova 2002b) und religiösen Identitäten auf dem Balkan.
2. Eine kritische Hinterfragung des traditionellen orthodox-autoritären Denkens, das bis in die Pädagogik reicht und der damit verbundene späte Einzug von aufklärerischen Techniken und Methoden
in der gesamten orthodoxen Welt.
3. Eine Hinterfragung der Möglichkeiten der Religion,
die freigewordene und noch nicht besetzte Stelle
(Nische) der Werte und der Ethik in den neuen gesellschaftlichen Verhältnissen auszufüllen.
4. Eine Hinterfragung der Möglichkeiten und Angebote eines gerade durch die verspätete Aufklärung immer noch präsenten mystischen, kontemplativen Denkens im östlichen und südöstlichen
Teil Europas. Die Aufspürung von Spuren zum
mythischen Denken, wie es in mehreren postaufklärerischen Versuchen zu finden ist. Ein solcher Ansatz ist jedoch nur auf dem Hintergrund
des von der Aufklärung erbrachten Bestandes an
Gedankengut und Traditionen möglich. Das heißt,
eine Erprobung sowohl der Gefahren als auch der
Chancen der Orthodoxie als öffentliche Religion.
Zum Schluss möchte ich hervorheben, dass eine solche Untersuchung der Identitätsdiskurse sich auf das
Verbindende der Kulturen auf dem Balkan und in Europa und auf die Vielfalt von Identitätskonstruktionen
orientieren sollte. „Nationale und ethnische Identitären
machen keinesfalls die Gesamtheit kollektiver Identitäten aus“ (Brunnbauer 2002a: 13), sie werden nur in
Krisenzeiten oder besonderen Übergangszeiten von
bestimmten Akteuren bevorzugt und überbewertet. Im
normalen Fall konstituiert sich die Identität durch das
Zusammenspiel der verschiedenen Identitätsbildungen
als Interaktionsidentität von natürlicher Identität, sozialer Identität zu einer Ich-Identität (Larcher 1998: 20).
Die persönlichen Identitäten auf dem Balkan werden
schon in diesem Zusammenspiel von regionalen und
überregionalen Identitäten im Spannungsfeld der hier
beschriebenen fünf Diskurse und dem in und hinter
ihnen präsenten sechsten Diskurs des Übergangs von
realsozialistischer zu neudemokratischer Kultur als
ein Bündel von Identitätsbildungen und -fixierungen
auf verschiedene Rollenspiele und Gruppen hin erlebt
auf dem Hintergrund und im Zusammenspiel mit den
Identitätsangeboten der sich verändernden Gesellschaft und der einzelnen menschlichen Figurationen
einer im Werden begriffenen Bürgergesellschaft.
Literatur:
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35
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Geistige Tendenzen in Bulgarien nach der Wende. In: „Ich sehe was,
was du nicht siehst“. Seitensprünge einer Germanistin. St. Ingbert,
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Eine Entwicklungsanalyse seit Beginn der 90er Jahre. In: InternetZeitschrift für Kulturwissenschaften 16/2006. URL: http://www.inst.
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Sühne der europäischen Diplomatie? In: Penka Angelova und Judith Veichtlbauer 2001.
Schmale, Wolfgang (2002): Die Komponenten der historischen Europäistik. In: Stourzh, Gerlard (Hrsg.): Annäherung an eine europäische Geschichtsschreibung. Wien, S.119-132.
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Dies. (1999): Die Erfindung des Balkans. Europas bequemes Vorurteil. Darmstadt. Bulg.: Dies. (1999). Balkani – balkanizym. Universitetsko inzdatelstvo. Sofia.
Nationenbilder in den internationalen Beziehungen:
Definition, Entstehung, Funktionen
Andrea Schneiker
„Deutschland – Land der Ideen“. Mit dieser von der
Bundesregierung und dem Bundesverband der deutschen Industrie (BDI) getragenen Initiative wird im
Ausland für den Wirtschaftsstandort Deutschland
geworben. „Einfallsreichtum, schöpferische Leidenschaft und visionäres Denken“ (Land der Ideen 2007)
– diese Attribute sollen im Ausland mit Deutschland
und den Deutschen in Verbindung gebracht werden.
Doch solche Bilder treffen bei ihren Adressaten nie
auf Unvoreingenommenheit, sondern auf bereits bestehende Vorstellungen. Hierbei handelt es sich um
Nationenbilder. Diese sind ein universelles Phänomen:
„Alle Nationen haben Bilder von anderen Nationen und
von sich selbst“ (Mentzel/Pfeiler 1972: 48). In diesem
Beitrag soll es in erster Linie um Nationenbilder gehen, die sich Nationen von anderen Nationen machen,
also nicht um Eigenbilder, sondern um Fremdbilder.
Doch was genau sind Nationenbilder? Warum sind sie
von Bedeutung? Wie entstehen sie und welche Funktionen haben sie? Diese Fragen sollen im Folgenden
beantwortet werden. Sie siedeln sich im Bereich der
Image-Forschung an, welche in den 1950er Jahren
aufkam. In der Literatur wird neben Images auch von
Stereotypen oder Vorurteilen gesprochen. Diese Begriffe sind in der Regel negativ besetzt, wohingegen
„die Bedeutung von ,Image’ wertneutraler und offener“
(Kissau 2004: 6) ist. Da die Vorstellungen von anderen
Nationen sowohl negative als auch positive Elemente
umfassen können, werden hier die Begriffe Image/Bild
bzw. Nationenimage/Nationenbild verwandt.
Die Forschung über Nationenbilder befindet sich an
einer Schnittstelle unterschiedlicher Wissenschaftsdisziplinen; diese sind: die Politikwissenschaft, die
Soziologie, die Psychologie/Sozialpsychologie, die
Kommunikationswissenschaft und die Literaturwissenschaft. Diese bearbeiten aber jeweils nur ein bestimmtes Segment des Forschungsfeldes Nationenbild, wie im folgenden Schaubild dargestellt ist:
37
Abbildung: Die Forschung über Nationenbilder (NB) im Spannungsfeld
unterschiedlicher Wissenschaftsdisziplinen:
Sozialpsychologie:
•
Kognitive Prozesse der Imagebildung
und -beibehaltung
•
Bedeutung von NB für
Gruppenprozesse
•
Wandel von NB
Literaturwissenschaft:
Politikwissenschaft/ Soziologie:
• Bedeutung von NB für die Gesellschaft
• Entstehung von NB durch
Sozialisation
• Rolle von NB in der Politik
• Spezialfall: Feindbilder
Kommunikationswissenschaft:
• Analyse und Interpretation von NB in
der Literatur
• Analyse von NB in den
Massenmedien
• Auswirkungen von in der Literatur
dargestellten NB auf die
Gesellschaft
• Gezielte Einwirkung auf NB durch
(staatliche) PR
Quelle: Kissau (2004: 8) und eigene Darstellung.
38
Dieser interdisziplinäre Charakter des Untersuchungsgegenstandes wird bei den folgenden Erläuterungen
berücksichtigt.
Definition
Um diese Frage zu erläutern, wenden wir uns zunächst dem Begriff des Images zu. Ein Image kann als
Bild, das wir uns von der Realität eines Gegenstandes
machen beziehungsweise das, was wir als (dessen)
Realität wahrnehmen, bezeichnet werden (vgl. Faulstich 1992: 7f.). Dabei können sowohl kognitive als
auch affektive Elemente zum Tragen kommen. Es
spielt jedoch keine Rolle, ob das jeweilige Image mit
der „objektiven Realität“ übereinstimmt (vgl. Mentzel/
Pfeiler 1972: 48). Images basieren auf Erfahrungen
und Informationen. Neue Informationen und Erfahrungen werden dabei mit bestehenden abgeglichen
(vgl. ebd.: 45). Anders formuliert: Die bereits existierenden Vorstellungen steuern die Aufnahme neuer
Informationen. Diese Informationsaufnahme erfolgt
auf selektive Weise. Die Psychologie erklärt dies mit
Hilfe der „Theorie der kognitiven Dissonanz“. Dabei
geht man davon aus, dass es dem Menschen schwer
fällt, die gleichzeitige Existenz gegensätzlicher Informationen zu akzeptieren. Daher passt die menschliche Wahrnehmung neue Informationen den bereits
vorhandenen Wahrnehmungsmustern und Auffassungen (den „belief systems“) in dem Maße an, bis
sie mit letzteren übereinstimmen. Images unterliegen
also der selektiven Wahrnehmung von Informationen,
1
Affektive Elemente beziehen sich auf Emotionen, kognitive auf Prozesse des
Erkennens und Verstehens.
2
Diese geht zurück auf Leon Festinger (1957): A Theory of Cognitive Disso-
nance. Stanford, CA.
wobei widersprüchliche neue Informationen ignoriert
oder so umgedeutet werden, dass sie mit dem bestehenden Image übereinstimmen (vgl. Mentzel/Pfeiler
1972: 55; Flohr 1995: 33f.). Ein Image ist demnach die
mittels kognitiver Selektivität wahrgenommene Realität eines Gegenstandes. Man sieht also nur, was man
auch sehen will. Die Auswirkung, die eine bestimmte
Erfahrung oder Information auf das bereits bestehende Image hat, d.h. ob eine neue Information als mit
den bereits bestehenden Mustern vereinbar oder inkonsistent wahrgenommen wird, hängt erheblich von
den Wertvorstellungen der betroffenen Person ab (vgl.
Boulding 1968: 12).
Was für den Image-Begriff im Allgemeinen zutrifft,
lässt sich auch auf Nationenbilder übertragen. Unter
dem Begriff der Nation soll nach Benedict Anderson
„eine vorgestellte politische Gemeinschaft – vorgestellt als begrenzt und souverän“ (Anderson 1996:
15) verstanden werden. Ein Nationenbild ist also das,
was über diese Nation als wahr bzw. real akzeptiert
wird. Anders formuliert: Nationenbilder sind „die Summe der mehrheitlichen kollektiven oder individuellen
Vorstellungen und Urteile“ (Jacobson 1973: 175) über
eine Nation oder ein Volk.
Die Entstehung von Nationenbildern
Nationenbilder werden vom Einzelnen während des
Sozialisationsprozesses aus der Gesellschaft übernommen. Sie entstehen und fixieren sich durch Informationen und Erfahrungen, die über verschiedene
gesellschaftliche Instanzen wie Familie, Schule und
Medien vermittelt werden, und bilden sich i.d.R. nicht
durch persönliche Erfahrungen, d.h. direkten Kontakt
zur betreffenden Nation und deren Angehörigen. In
39
diesem Sinne werden Nationenbilder von Generation
zu Generation übermittelt (vgl. Mentzel/Pfeiler 1972:
48ff.). Dabei spielen Faktoren wie die (aktuelle und
geschichtliche) Beziehung zweier Staaten zueinander,
die derzeitige Politik der Regierung des betreffenden
Staates, die Wirtschaft und die Größe eines Landes
im Vergleich zur beurteilenden Nation, der Ruf des
betreffenden Staates in Bezug auf die Beachtung von
Menschenrechten, Rechtsstaatlichkeit und sozialer
Gerechtigkeit sowie das militärische Potenzial eines
Landes und dessen Verhalten in Bezug auf friedliche
Konfliktlösung eine Rolle (vgl. Süssmuth 1995: 14ff.).
Selbst Jahrhunderte zurückliegende Ereignisse können für das momentane Bild einer Nation im Ausland
ausschlaggebend sein. Negative Erfahrungen wie ein
verlorener Krieg, Unterdrückung und Ausbeutung sind
besonders prägend (vgl. Flohr 1995: 38).
Das Bild, das eine Nation von einer anderen hat, muss
jedoch innerhalb ersterer nicht homogen sein. Auf
Grund bestimmter Eigenschaften oder Erfahrungen
können innerhalb einer Gruppe der Gesellschaft einzelne dem Fremdbild zugeschriebene Attribute stärker
betont werden, als dies im Rest der Gesellschaft der
Fall ist. So beherrschte Anfang des 20. Jahrhunderts
das Bild der Deutschen als „metaphysische Konstrukteure von theoretischen Systemen“ (Kunczik 1990: 31f.)
die angelsächsischen Akademikerkreise, während unter den dortigen Journalisten eher die Vorstellung der
Deutschen als Hunnen vorherrschte (vgl. ebd.). In Einzelfällen kann ein einzelnes Fremdbild innerhalb einer
Gesellschaft oder Nation auch komplett unterschiedlich bzw. gegensätzlich sein. Somit ist der Ausdruck der
Einheit eines Fremdbildes immer auch der Ausdruck
der Einheit der dieses Bild habenden Nation – oder
eben umgekehrt (vgl. Mentzel/Pfeiler 1972: 56).
40
Ein besonderer Typus von Nationenbildern sind Feindbilder. Ein Feindbild ist das Bild, das wir von einem
Feind besitzen (vgl. Nafroth 2002: 26). Wie bereits erwähnt, können Nationenbilder positive und negative
Elemente vereinen. So galten die Deutschen lange Zeit
als aggressiv und expansionistisch, gleichzeitig aber
auch als pünktlich. Demgegenüber sind Feindbilder
ausschließlich negativ. Eine differenzierte Beurteilung
des Anderen wird unmöglich (vgl. Ostermann/Nicklas
1982: 44f.). Feindbilder können im extremsten Fall sogar das Bestreben nach der Vernichtung des Feindes
implizieren (vgl. Flohr 1991: 29). Zu diesem Zwecke
wird der „Feind“ in einigen Fällen entmenschlicht und
als Monster, Bestie oder Teufel dargestellt (vgl. Flohr
1995: 32).
Images im Allgemeinen sind keine statischen Gebilde, aber sie sind recht langlebig. Hat sich ein Image
einmal etabliert, ist es nur schwer wieder zu ändern:
„Ganz allgemein gesagt wehren sich die Menschen
gegen Veränderungen in ihrem Weltbild“ (Mentzel/
Pfeiler 1972: 47). Wenn es um die Veränderung von
Nationenbildern geht, ist allerdings zwischen positiven und negativen Images zu unterscheiden. Positive Images lassen sich leichter „zerstören“, als sich
negative Images ab- und positive aufbauen lassen
(vgl. Kunczik 1990: 46ff.). D.h., je negativer und auch
je emotionaler ein Image besetzt ist, desto stabiler
und langlebiger ist es (vgl. Flohr 1995: 33). Dies gilt
insbesondere für Feindbilder. Begründet ist dies in
erster Linie durch unsere selektive Wahrnehmung.
Informationen, die einen Imagewandel zum Positiven
bewirken könnten, werden i.d.R. ausgefiltert und nicht
3
Hier beziehen sich Feindbilder ausschließlich auf Nationen bzw. Nationen-
gruppen, Ethnien oder Völker. Sie können sich aber auch auf Einzelpersonen
beziehen.
verarbeitet, wohingegen Informationen, die ein negatives Image bestätigen oder eine Imagewandel zum
Negativen bewirken, sehr viel leichter aufgenommen
und verarbeitet werden.
Die Bedeutung von Nationenbildern
Was die einzelne Person betrifft, so bestimmt das Bild,
das jemand anderes von uns hat, dessen Handeln uns
gegenüber mehr als unser eigenes Bild von uns selbst
(Mentzel/Pfeiler 1972: 12f.). Auch in den internationalen Beziehungen wird den jeweiligen Nationenbildern,
d.h. den Bildern, die eine Nation von einer anderen
hat, eine „verhaltens- und entscheidungssteuernd[
e]“ (Jacobson 1973: 175) Bedeutung beigemessen.
Die einer bestimmten Nation zugeschriebenen Eigenschaften werden dabei oft an Hand personalisierter
Darstellungen ausgedrückt. Man denke an die Bezeichnung „Tigerstaaten“ für im wirtschaftlichen Aufschwung begriffenen Staaten Asiens oder die Darstellungen Russlands mittels eines Bären oder auch die
der USA als Uncle Sam. Derartige Bilder haben einen
Einfluss auf das Verhältnis der Staaten untereinander.
So waren z.B. die Entstehung und der Verlauf des Kalten Krieges stark von Nationenbildern, insbesondere
Feindbildern, geprägt. Aus dieser Perspektive lautet
beispielsweise das Erklärungsangebot für das gegenseitige Wettrüsten folgendermaßen: Durch die Perzeption der UdSSR als einer aggressiven und expansionistischen Macht fühlten sich die USA bedroht. Um ihr
eigenes Sicherheitsgefühl zu erhöhen, waren die USA
bestrebt, sich selbst auch als aggressiv und expansionistisch darzustellen, indem sie militärisch aufrüsteten
(Boulding 1968: 112). Damit wurde das Sicherheitsdilemma in Gang gesetzt. Somit „entsprach die schwin-
delnde Höhe der Militärausgaben von NATO und Warschauer Pakt kaum der realen Bedrohung, sondern
war auch Konsequenz von Feindbildern“ (Flohr 1995:
31). Ohne starke Feindbilder wären die hohen Militärausgaben auf beiden Seiten jedoch vor der jeweils eigenen Bevölkerung nicht zu rechtfertigen gewesen.
Die Aufrechterhaltung von Nationenbildern
Nationenbilder festigen sich durch die Abgrenzung
zwischen Eigengruppe und Fremdgruppe, durch
„wir-die“-, „ingroup-outgroup“- bzw. „Freund-Feind“Denk- und Wahrnehmungsmuster (vgl. Flohr 1995:
33). Solche Muster lassen keine komplexen Images
zu. Dabei gibt es mindestens drei Mechanismen, die
diese Abgrenzungen aufrechterhalten (vgl. Flohr 1995:
34).
Einer ist das Denken in „Schwarz-Weiß-Kategorien“.
Dabei werden die eigenen Eigenschaften als äußerst
positiv und die der anderen als entsprechend negativ
beurteilt. Das Fremdbild entspricht dabei in vielen Fällen dem negativen Spiegelbild des Selbstbildes. Solche Schemata treten jedoch nicht nur im Falle gegnerischer Staaten auf, sondern existieren auch zwischen
Nachbarländern, die ein gutes Verhältnis zu einander
haben (vgl. ebd.). Dies zeigt z.B. eine Studie, in der
Anfang der 1990er Jahre niederländische Jugendliche im Alter von 15-19 Jahren nach ihrem Bild über
Deutschland und „die Deutschen“ gefragt wurden.
Dabei gaben sie an, die Deutschen seien v.a. herrschsüchtig und arrogant, während sie ihre eigene Nation als tolerant, gesellig, freundlich und unkompliziert
im Umgang beschrieben (vgl. Jansen 1995: 175) und
sich selbst somit die den vermeintlich negativen Eigenschaften der Deutschen entsprechenden positiven
41
Attribute zuschrieben.
Ein weiterer Abgrenzungsmechanismus ist die unterschiedliche Bewertung gleicher Verhaltensweisen.
Nehmen wir als Beispiel das militärische Eingreifen
in Konflikte der sog. „Dritten Welt“ durch die beiden
Supermächte zu Zeiten des Ost-West-Konfliktes.
Die Vereinigten Staaten sahen ihre Interventionen als
notwendig an, um Demokratie und Freiheit zu schützen, lehnten aber gleichzeitig militärische Interventionen durch die Sowjetunion als Angriff auf eben diese
Werte ab. Die Sowjetunion wiederum sahen die militärischen Interventionen der USA als Unterstützung
von tyrannischen Regimen und Militärdiktaturen und
bewerteten ein entsprechendes Eingreifen ihrerseits
umgekehrt als Unterstützung nationaler Befreiungsbewegungen (vgl. Flohr 1995: 34).
Ein dritter Mechanismus ist die Annahme von „WorstCase“-Szenarien, die insbesondere bei der Entstehung und Aufrechterhaltung von Feindbildern zum
Tragen kommt. Dabei wird davon ausgegangen, dass
das Streben und Handeln der feindlichen Nation für
die eigene Nation immer den größtmöglichen Nachteil
bringt. Dieses Denken ist v.a. im Zusammenhang mit
militärischen Fragen präsent (Sicherheitsdilemma!),
findet sich aber auch darüber hinaus in der generellen
4
Zur Erklärung für dieses negative Deutschlandbild der niederländischen
Jugendlichen können mehrere Faktoren herangezogen werden. Zum einen
können die negativen Erfahrungen aus dem Zweiten Weltkrieg eine Rolle
spielen sowie die Tatsache, dass die Niederlande der kleinere Nachbar und
somit dem größeren Deutschland unterlegen sind; zwei Faktoren, die für das
Deutschlandbild in den Niederlanden im Allgemeinen von Bedeutung sind.
Speziell auf die befragte Altersgruppe bezogen führt Anne Katrin Flohr als
Erklärungsangebot an, dass in den Schulbüchern der betreffenden Altersklassen fast ausschließlich vom Niedergang der Weimarer Republik und vom
Dritten Reich gesprochen, die deutsche Nachkriegsgeschichte hingegen aber
kaum behandelt und somit die negativen Seiten der deutschen Geschichte
hervorgehoben wurden (vgl. Flohr 1995: 37f.).
42
Einschätzung gegnerischer Parteien, z.B. im israelpalästinensischen Konflikt (vgl. ebd. 36).
Insgesamt erfolgt die Wahrnehmung einer anderen
Nation immer auf Basis der eigenen Werte und Normen und reflektiert gleichzeitig die eigene Wertschätzung (vgl. Mentzel/Pfeiler 1972: 49). Daher werden die
eigene Nation i.d.R. positiv, die anderen Nationen hingegen negativ bewertet.
Die Funktionen von Nationenbildern
Nach Jörg Peter Mentzel und Wolfgang Pfeiler (1972:
48) erfüllen Nationenbilder zwei Hauptfunktionen: eine
nach innen und eine nach außen. In der Außenpolitik
stellen Nationenbilder vor allem eine „Orientierungshilfe[.]“ (ebd.: 48) dar, die insbesondere dann von Bedeutung ist, wenn es darum geht, neue Situationen
wahrzunehmen und darauf zu reagieren (vgl. ebd. 54).
Wie bereits erwähnt, misst sich die „Richtigkeit“ bzw.
der „Wahrheitsgehalt“ eines Images nicht am Grad der
Übereinstimmung mit der „objektiven Wirklichkeit“.
Vielmehr geht es bei einem Image um die Frage, ob es
eine erfolgreiche Bewältigung der Umwelt, im Sinne
der Wahrung der eigenen Sicherheit und Stabilität, ermöglicht. Kommt man trotz einer von der Realität abweichenden Wahrnehmung der Umwelt in dieser gut
zurecht, so sind die jeweiligen Bilder „subjektiv richtig
und vollständig“ (ebd.: 46).
Nach innen hin fungieren Nationenbilder als Merkmal
der Gruppenzugehörigkeit und der Abgrenzung zu
anderen Nationen. Zu diesem Zweck müssen Nationenbilder ein möglichst geringes Maß an Komplexität und Differenzierung aufweisen, da sie ansonsten
nur schwer zu übermitteln bzw. kaum kongruent sind
und sich somit nicht so gut als Solidaritätsstifter für
eine Gruppe eignen (vgl. ebd.: 49). Vor allem Feindbilder, die ja eine besonders starke und emotionale
Abgrenzung beinhalten, haben für den Einzelnen eine
identitätsstiftende und für die Gruppe eine solidarisierende Funktion (vgl. Flohr 1995: 39f.): „Nichts vermag
die Notwendigkeit des Zusammenschlusses und der
Einigkeit plausibler zu begründen als das Vorhandensein eines tatsächlichen oder fiktiven Feindes“ (Ostermann/Nicklas 1982: 45).
Insbesondere im Rahmen des Freund-Feind-Denkens
kann sich die politische Führung bestimmter in der
Bevölkerung vorhandener Feindbilder bedienen, d.h.
diese mobilisieren und verstärken (vgl. Mentzel/Pfeiler
1972: 54f.) oder auch neue aufbauen (vgl. Flohr 1995:
41). Ein solches Vorgehen erfüllt mehrere Zwecke.
Indem die gefährlichen Eigenschaften des Feindes
hervorgehoben werden, wird ein Bedrohungsszenario
aufgebaut, wodurch eine politische Entscheidung, z.B.
eine militärische Intervention, gerechtfertigt bzw. durch
die Zustimmung der sich bedroht fühlenden und sich
hinter der politischen Führung vereinenden Bevölkerung legitimiert wird. Ein Beispiel hierfür ist die von der
Bush-Administration identifizierte „Achse des Bösen“
bzw. die Bezeichnung „Schurkenstaaten“. Hinter dieser Rhetorik steckte das Bestreben, von der eigenen
Bevölkerung (und sogar darüber hinaus von der internationalen Gemeinschaft) die Zustimmung für einen
militärischen Präventivschlag zu erhalten. Gleichzeitig
wird durch die so kommunizierte und wahrgenommene
Bedrohung die Solidarität und Zusammengehörigkeit
in der Bevölkerung gestärkt. Ein weiterer Grund für die
Mobilisierung von Feindbildern seitens der Regierung
kann es sein, von innenpolitischen Problemen ablen-
ken zu wollen. So beendete Konrad Adenauer für ihn
unangenehme Debatten im Deutschen Bundestag mit
dem Satz: „Nie war die Stunde so ernst wie jetzt.“ (Ostermann/Nicklas 1982: 45f.)
Doch die Veränderung eines in der Bevölkerung existierenden Nationenbildes durch die politische Führung hat neben der beabsichtigten momentanen Wirkung auch nicht unmittelbar intendierte langfristige
Konsequenzen, und zwar für künftige Regierungen,
deren Handeln dieses neue Nationenbild zu Grunde
liegen wird: „Ein Nationen-Image eines politischen
Führers ist in der Regel im Laufe seiner Erziehung und
Vergesellschaftung erworben und entwickelt worden.
Ehe er zum politischen Führer wurde, hatte dieses
konkrete Nationen-Image für ihn dieselbe Funktion
wie für die Masse der Bevölkerung; erst mit der Übernahme einer politischen Führungsposition bekommt
das Image für ihn die Funktion, beim außenpolitischen
Handeln orientierend zu wirken. Folglich wirken die in
einem Volk vorhandenen Nationen-Images mit einem
gewissen time-lag auf den außenpolitischen Entscheidungsprozeß ein, und zwar sowohl bei der Vorbereitung politischer Entscheidungen als auch im unmittelbaren politischen Verkehr.“ (Mentzel/Pfeiler 1972: 54)
Der am häufigsten genutzte und erfolgreichste Kanal
für die Beeinflussung von Nationenbildern durch die
Politik oder andere „Meinungsmacher“ (Opinionleader) sind die Massenmedien (vgl. Mentzel/Pfeiler 1972:
55). Dabei geht es nicht nur darum, Vorstellungen über
andere Nationen zu beeinflussen, sondern es liegt
gleichzeitig im Interesse der meisten Regierungen,
6
Doch auch schon bevor diese ihre heutigen Ausmaße erreicht hatte, wur-
den Nationenbilder über Medien transportiert. Die Bücher des so genannten
Orientzyklus von Karl May prägten die Vorstellungen vieler Leser vom Balkan
5
Seltener, aber genauso möglich, ist die Abschwächung bestimmter Natio-
nenbilder durch die politische Führung (vgl. Mentzel/Pfeiler 1972: 54).
(vgl. Rohe 2005: 12ff.) und Hollywood-Filme haben von Beginn an die verschiedensten Nationenbilder geprägt (vgl. Kunzcik 1990: 13).
43
dass ihr eigenes Land im Ausland ein positives Image
besitzt. Daher geben viele Staaten hohe Summen für
ihre Imagepflege aus (vgl. Kunczik 1990: 7). Diese findet im Rahmen der Auswärtigen Kulturpolitik statt (in
den USA läuft dies unter der Bezeichnung „Public Diplomacy“) (vgl. Kleinsteuber 2004: 36). Aber nicht nur
die einzelnen Regierungen, sondern auch Akteure aus
Wirtschaft und Kultur sind daran interessiert, dass ihr
eigenes Land im Ausland gut dasteht. So sind auch
bei der Initiative „Deutschland – Land der Ideen“ neben Unternehmen das Auswärtige Amt, das Goethe
Institut und deutsche Nachrichtendienste
Literatur:
Anderson, Benedict (1996): Die Erfindung der Nation. Zur Karriere
eines folgenreichen Konzepts. 2., erweiterte Auflage. Frankfurt am
Main, New York.
Boulding, Kenneth E. (1968): The Image. 6. Auflage. Ann Arbor.
Faulstich, Werner (Hrsg.) (1992): Image. Imageanalyse. Imagegestaltung. 2. Lüneburger Kolloquium zur Medienwissenschaft. Bardowick. (IfAM-Arbeitsberichte,Bd. 7).
Flohr, Anne Katrin (1991): Feindbilder in der internationalen Politik.
Ihre Entstehung und ihre Funktion. Münster, Hamburg: Lit (Bonner
Beiträge zur Politikwissenschaft, Bd. 2).
Flohr, Anne Katrin (1995): Nationenbilder: Nationale Vorurteile und
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Bernd und Friso Wielenga (Hrsg.): Kannitverstan? Deutschlandbilder aus den Niederlanden. Münster: agenda. S. 31-45.
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„Ich denke, dass die bestehenden Balkanbilder unumstößlich das Verhalten und die Denkweise bzw. Weltanschauung des Einzelnen prägen. Da bestimmte Einstellungen
oder Stereotypen über den Balkan unter den Vertretern
der verschiedenen Teilnehmerkreise bestehen, gab die
Anfangsphase des Seminars eine gute Möglichkeit, diese
anzusprechen. Allerdings sind sie nicht zu überwinden.“
„Ich habe festgestellt, dass Bulgarien als Balkanland Rumänien ähnelt, und dass es auch sehr
viele Unterschiede zwischen den zwei Ländern
gibt. In Rumänien sind die Menschen ein bisschen
offener und der Kontakt mit dem Westen ist besser zu erkennen [erkennbar]. Was ich nicht erwartet habe, ist die Schönheit des Zentrums [von Ruse]
und [mit den] die vielen Sehenswürdigkeiten. Ich
hatte mir Ruse als eine aus industrieller Sicht sehr
gut entwickelten Stadt vorgestellt. Was ich auch
nicht erwartet habe, ist die Ähnlichkeit zwischen
den bulgarischen und rumänischen Gerichten.
Wenn ich vorher an das Kosovo gedacht habe, ist
mir immer das Bild von dem Krieg ins Gedächtnis
gekommen. Jetzt weiß ich, dass mehr dahinter
steckt.“
„Ich finde es schön, dass die Gruppe so international zusammengesetzt ist. Gerade für die Jugendlichen aus den Balkanstaaten ist
es interessant und wichtig einander kennen zulernen, Freundschaften und Kontakte aufzubauen, die ihnen sowohl in privater,
wie auch in beruflicher Hinsicht
weiterhelfen können.“
45
Die Entwicklung von Diskursen
Das Bild Rumäniens und Bulgariens in der deutschen Presse unter besonderer
Berücksichtigung des Integrationsprozesses in die Europäische Union
Katharina Lampe
Einleitung
„(…) sogenannte Wirklichkeit ist das Ergebnis von
Kommunikation (…)“ (Watzlawick 1976: 7)
Einen gesellschaftlichen Diskurs kann man sich wie ein
Wollknäuel vorstellen: Er besteht aus unzähligen miteinander verwickelten Themensträngen. Eine Diskursanalyse versucht sich in zweifacher Hinsicht an einem
„Ent-wicklungsprozess“. Die Themenstränge müssen
in einem ersten Schritt entwirrt und in einem zweiten
Schritt analysiert werden. Bei der Analyse gilt es zu
klären, wie oft bestimmte Themen in einem Diskurs
auftauchen, wie man sie sortieren, möglicherweise
hierarchisieren kann, und in welchen Zusammenhängen einzelne inhaltliche Aspekte Erwähnung finden.
Im Laufe der Untersuchung entwickelt sich ein spezifisches Diskursschema mit bestimmten Regelmäßigkeiten. Foucault bezeichnet diese als ein „System der
Streuung“ (Foucault 1992: 58).
In Reclams „Kleinem Fremdwörterbuch“ wird ein Diskurs entweder als eine systematische Erörterung eines
Themas, ein Gespräch oder ein heftiger Wortwechsel
definiert (Vgl. Kleines Fremdwörterbuch 1996: 83).
Im Kontext einer Diskursanalyse wird der Diskursbegriff – über diese Definition hinaus – als eine Gruppe von Aussagen verstanden, die Denkweisen und
46
Machtstrukturen einer bestimmten Zeit offenbaren.
Der Begriff des Diskurses wird hier also in spezieller
Weise gebraucht: „Ein Diskurs ist eine Gruppe von
Aussagen, die eine Sprechweise zur Verfügung stellen, um über etwas zu sprechen (…), eine besondere
Art von Wissen über einen Gegenstand.“ (Hall 1994:
150).
In der Zwischenevaluation des Seminars „Balkanbilder
in Ost und West. Stereotypen auf der Spur.“schrieb
ein rumänischer Student: „[…] dass Ruse eine so
schöne Stadt ist, hätte ich nicht gedacht. In Rumänien
sagt man, dass es dort nur Industrie gibt und kaputte
Straßen.“ Dieses Zitat zeigte, dass Diskurse eine ganz
konkrete und machtvolle Wirkung auf das Handeln
von Menschen besitzen.
„Diskurse üben Macht aus, da sie Wissen transportieren, das kollektives und individuelles Bewusstsein
speist. Dieses zustande kommende Wissen ist die
Grundlage für individuelles und kollektives Handeln
und die Gestaltung der Wirklichkeit.“ (Keller 2001: 7)
Vielleicht hätte der Bukarester Student sonst schon
früher die knapp 70km nach Ruse hinter sich gelegt.
Im Rahmen des Seminars nutzten wir im Workshop
„Bulgarien und Rumänien im europäischen Integrationsdiskurs“ die Methode der Diskursanalyse. Es ging
1
Der Workshop wurde in Zusammenarbeit mit Kathrin Tittel Lektorin der
darum zu erfahren, in welcher Art und Weise die Länder Bulgarien und Rumänien in der deutschen Presse
repräsentiert werden. Ein besonderes Interesse der
Analyse lag auf der Berichterstattung über den Integrationsprozess dieser Länder in die Europäischen Union
(EU) acht Monate vor ihrem Beitritt.
Zeitungen bilden ein oft wichtiges Diskurssegment
(Jäger 2000): Sie sind in modernen Gesellschaften
ein Mittel der Information, Meinungsbildung, Unterhaltung und der sozialen Integration. Für den Diskurs
zu Rumänien und Bulgarien in Deutschland stellt die
Presseberichterstattung einen entscheidenden Einflussfaktor dar, da die Primärerfahrung, das heißt das
unmittelbare Erleben von Land und Leuten, bei vielen
Deutschen nicht gegeben ist. Zwar steigt die Zahl der
Schwarzmeerurlauber von Jahr zu Jahr, aber innerhalb
der Hotelmauern bleiben die Folkloretänze, welche am
Swimmingpool von Animateurinnen aufgeführt werden,
oftmals der einzige Einblick in die bulgarische Kultur.
Vorgehensweise
Diskursanalysen sind zumeist als wissenschaftliche
Projekte angelegt, in denen eine Untersuchung der
Presseberichterstattung zu einem bestimmten Thema über einen längeren Zeitraum (mehrere Monate
bzw. Jahre) vorgenommen wird. Für uns stellte sich
bei der Vorbereitung die Herausforderung, ein derRobert Bosch Stiftung in Schumen und Varna vorbereitet und durchgeführt.
2
Einen Überblick über den Verlauf der Beitrittsgespräche zwischen Bulgarien,
Rumänien und der EU gibt Leiße 2006: 6-13.
3
Annegret Middeke untersuchte acht Wochen lang mit Studierenden der Uni-
versität Plovdiv bulgarische und deutsche Zeitungen. Vgl. Middeke, Annegret 2006. Ein Beispiel eines einjährigen Diskursforschungsprojektes: Jäger
2003.
artiges Großprojekt an den zeitlichen Rahmen eines
zweitägigen Workshops anzupassen. Wir nannten es
schließlich eine „Minidiskursanalyse“, die wir mit den
Studierenden aus Bulgarien, Rumänien und Deutschland durchführten. „Mini“ deshalb, weil die Studierenden nicht systematisch die Presseberichterstattung
des Untersuchungszeitraums durcharbeiteten. Sie
wählten stattdessen einen Artikel aus, welchen sie
als Vorbereitung für den Workshop bearbeiteten und
auch im Workshop weiter als Untersuchungsmaterial
nutzen konnten. Die Workshopleiterinnen hingegen
sammelten und analysierten alle Artikel des Untersuchungszeitraumes .
Zielsetzungen des Workshops waren die:
• Heranführung der Studierenden an die Eigenschaften, das Entstehen und die Wirkungsweise
von Diskursen.
• Durchführung einer Presseanalyse nach den von
Siegfried Jäger entworfenen Arbeitsschritten für
eine Presseanalyse.
• Schulung des kritischen Lesens von Presseartikeln.
Als Untersuchungszeitraum wählten wir die dreimonatige Zeitspanne vom 1. Januar bis zum 30. März 2006
in der Erwartung eines gesteigerten Medieninteresses
an den beiden Beitrittskandidaten auf Grund des am
16. Mai 2006 erscheinenden Monitoring-Berichts der
Europäischen Kommission für Rumänien und Bulgarien. Mit der Zeitungswahl legten wir den instituti4
Als Beispiel ist am Ende des Textes ein bearbeiteter Zeitungsartikel abge-
druckt.
5
Er listet diese in seiner „Werkzeugkiste zur Durchführung von Diskursanaly-
sen“ auf. Vgl. Jäger 2001: 104-106.
6
Der Bericht ist nachzulesen unter: http://ec.europa.eu/enlargement/pdf/key_
documents/2006/monitoring_report_bg_en.pdf (abgerufen am 2.01.2007)
47
onellen Rahmen der Diskursanalyse fest. Als zu untersuchende Tageszeitungen entschieden wir uns für
die „Frankfurter Allgemeines Zeitung“ (FAZ) und „die
tageszeitung“ (taz), um in der Analyse eine Zeitung
des konservativen sowie des linken politischen
Spektrums zu berücksichtigen.
Die überregionale Abonnement-Tageszeitung FAZ
wurde 1949 gegründet und hat heute eine Auflagenstärke von 363.465 Exemplaren. Ihr Politikteil gilt als
konservativ und ihr Wirtschaftsteil als liberal. Für internationale Meldungen und Analysen kann die FAZ auf
ein umfangreiches Auslandskorrespondentennetzwerk
zurückgreifen.
Die taz wurde 1979 in West-Berlin als linkes, selbstverwaltetes Zeitungsprojekt gegründet (Pürer/Raabe
1996: 170). Paragraph 2 des Redaktionsstatus legt als
Ziele der redaktionellen Arbeit der taz das Engagement
wobei nationalstaatliche Grenzen überschritten werden. Aus welchen Gründen Akteure Integrationsprozesses vorantreiben, kann unterschiedlich sein
(Friedenssicherung, wirtschaftlicher Wachstum). Ein
Mehrwert wird jedoch von allen Beteiligten erwartet.
Begleitet werden Integrationsprozesse von umfassenden Transformationen, die alle gesellschaftliche
Schichten und politische Entscheidungsebenen berühren.
Da wir als WorkshopleiterInnen Inhalte des Diskurses
nicht vorwegnehmen, sondern gemeinsam mit den
Studierenden erarbeiten wollten, beschränkten wir
uns in einer ersten Überblicksdarstellung auf quantitative Ergebnisse der dreimonatigen Querschnittsanalyse. Ich habe im Folgenden Ergebnisse unserer
während des Seminars durchgeführten Untersuchung verarbeitet und unter Berücksichtigung weiterer Quellen des Untersuchungszeitraums vervollständigt.
für eine kritische Öffentlichkeit sowie die Verteidigung
und Entwicklung der Menschenrechte fest (taz Redaktionsstatus: §2). Mit 60.000 Exemplaren ist die Auflagenstärke der taz deutlich niedriger als die der FAZ.
8
Der Begriff „Integration“ wird in den Sozialwissenschaften in vielfältigen
Bedeutungszusammenhängen dargestellt. Auch der Europäische Integrationsprozess wird aus konkurrierenden Theorieperspektiven aufgearbeitet.
Eine detaillierte Erörterung der Begrifflichkeit im Rahmen der Europäischen
Bevor wir uns mit den bearbeiteten Texten befassten,
um zu erfahren, welches Bild die beiden Tageszeitungen von der EU-Integration Bulgariens und Rumäniens zeichnen, galt es mit den TeilnehmerInnen
zu klären, wie diese den Begriff der Integration im
europäischen Kontext definieren. Wir einigten uns
darauf, Integration als einen friedlichen und freiwilligen
Zusammenführungsprozess von Gesellschaften, Wirtschaften und politischen Systemen zu verstehen,
7
48
Zur Gründungsgeschichte der Zeitung: Pürer und Rabe 1996: S. 109.
Integrationsforschung hätte den Rahmen des Workshops gesprengt. Mit der
hier genannten Definition näherte sich die Studierendengruppe jedoch einer
durchaus gängigen Definition in der Europäischen Integrationsforschung an.
Vgl. Nohlen 1996: S. 151.
9
An dieser Stelle möchte ich mich bei den TeilnehmerInnen des Workshops
bedanken, die durch ihre sorgfältigen Recherchen im Vorfeld umfangreiches Material für eine Diskursanalyse zusammengetragen haben. In unserer
deutsch-bulgarisch-rumänischen Seminargruppe brachte jeder Teilnehmer
und jede Teilnehmerin eine andere Perspektive mit in das Seminar. In der Diskussion mit den TeilnehmerInnen aus Bulgarien, Deutschland und Rumänien,
die sich mit ganz unterschiedlichen Hintergründen dem Thema annäherten,
wurde sehr schnell die Selektivität des Pressediskurses deutlich und die Hierarchien, welche ihn strukturieren.
Ergebnisse:
Während der drei Monate fanden wir in der FAZ 112
Mal und in der taz 41 Mal (Sportmeldungen wurden
abgezogen) Erwähnungen zu den beiden Ländern.
Abbildung 1: Die Berichterstattung in taz und FAZ
Quelle: eigene Darstellung
Thematisch finden sind die Länder besonders in den Ressorts „Politik und Gesellschaft“ (taz: 29 Artikel, FAZ: 61
Artikel) erwähnt. Die FAZ beschäftigt sich auch in ihrem
umfangreichen Wirtschaftsteil mit den zukünftigen EUMitgliedstaaten (32 Artikel). Dieses zusätzliche Interesse
der wirtschaftsliberal ausgerichteten FAZ an den wirtschaftlichen Integrationsprozess Bulgariens und Rumäniens erklärt zu Teilen den Mehranteil der FAZ an Berichten zu den Beitrittsstaaten. Die FAZ ist aber im Vergleich
zur taz auch eine weit umfangreichere Tageszeitung und
verfügt über ein großes Korrespondentennetzwerk im
Ausland. Der erste Eindruck einer relativ starken Medienpräsenz der beiden Länder und ihres europäischen
Beitrittsprozesses trügt, denn unter diesen Nennungen
befinden sich zahlreiche Kurzmeldungen (FAZ: 31, taz:
13) und Artikel, in welchen die beiden Länder in einem
Nebensatz auftauchen. Berichte, die sich intensiver mit
den zukünftigen EU-Mitgliedsstaaten Bulgarien und Rumänien und den Beitrittsgesprächen auseinandersetzen, sind sehr gering. Die taz beschäftigt sich in zwei
Reportagen ausschließlich mit Bulgarien, bei ebenfalls
zwei Reportagen steht Rumänien im Mittelpunkt der Berichterstattung und eine Reportage widmet sich beiden
Ländern. Die FAZ behandelt in sechs Reportagen und
drei Berichten ausschließlich das Beitrittsland Rumänien
und druckt ein Interview mit einem rumänischen Politiker
ab. Bulgarien erscheint im Pressediskurs der FAZ mit einer ausführlichen Reportage und zwei Berichten sowie
zwei Interviews. Die beiden Länder zusammen werden
in einem Bericht unter die Lupe genommen.
Abbildung 2: Die Berichterstattung zu Rumänien und Bulgarien nach
Textarten10
Quelle: eigene Darstellung
Bericht: 320-750 Wörter, Reportage ab 750 Wörtern
10
49
Auffällig ist die Asymmetrie in der Berichterstattung
zwischen Bulgarien (FAZ: 27, taz: 10) und Rumänien
(FAZ: 58 taz: 22) und lässt an eine Anekdote mit tragischer Komik von Dimitré Dinev denken, der einmal
auf die Frage eines Österreichers nach seiner Herkunft
antwortete: „Ich werde dir sagen, woran meine Heimat
grenzt, und du sagst dann wie sie heißt: Im Norden,
an der Grenze zu Rumänien, fließt die Donau; im Osten liegt das Schwarze Meer, im Süden befinden sich
Griechenland und der europäische Zipfel der Türkei;
und im Westen die ehemals jugoslawischen Republiken Mazedonien und Serbien.“ Der Mann überlegte.
Schließlich blickte er Dinev an und stieß ratlos hervor:
„Aber…da ist doch nichts!“ (Frahm 2006: 33)
Abbildung 3: Die Berichterstattung zu Bulgarien und Rumänien im
Vergleich
Quelle: eigene Darstellung
Wie lässt sich jedoch erklären, dass in der westlichen
Medienwahrnehmung Rumänien vergleichsweise präsenter ist? Zum einen hat es mit dem Untersuchungszeitraum zu tun, da im Januar 2006 ein Skandal um
den ehemaligen rumänischen Ministerpräsidenten
Nastase ausbrach, der am 15. März 2006 von seinen
Ämtern als Parlamentspräsident und stellvertretender
Parteivorsitzender der sozialdemokratischen Partidul
50
Social Democrat (PSD) zurücktrat. Ein Ereignis, das
mit einigen Berichten und Kurzmeldungen dokumentiert wurde (beispielsweise taz, 17.02.2006: 9, FAZ,
16.03.2006: 3, taz, 17.02.2006: 9, FAZ,09.03.2006: 7,
FAZ, 09.03.2006: 10).
Gleichzeitig fällt bei der Analyse der Artikel auf, dass
die Diskussion über die Vogelgrippe vor allem Rumänien fokussiert: Obwohl die rumänischen Vogelfunde
stets an der Donau, Grenzfluss zwischen Rumänien
und Bulgarien, stattfanden, wird Bulgarien im Zusammenhang mit der Thematik der Vogelgrippe seltener und nur neben anderen Staaten erwähnt (taz,
7.3.2006: 5, taz, 3.3.2006: 3). Im Workshop diskutierten wir als Einflussfaktoren für das stärkere Medieninteresse die politische Bedeutung Rumäniens auf
Grund der größeren Fläche und Bevölkerung. Ebenso zogen wir in Betracht, dass die deutschsprachige
Minderheit in Siebenbürgen das deutsche Medieninteresse stärker auf Rumänien zieht. Höpken bringt
das gegen null tendierende Interesse der Medien an
Bulgarien schon mit dem bulgarischen Systemwandel in Verbindung, dem es „[…] an jener spektakulären Dynamik, mit der die rumänische „Telerevolution“ (A.Gabanyi) die Weltöffentlichkeit über Tage in
Atem hielt […]“ (Höpken 1996: 1) mangelte.
Zudem werden Bulgarien und Rumänien häufig im
Doppelpack „abgearbeitet“ (9 Artikel der taz und
31 Artikel der FAZ befassen sich mit den beiden
Mitgliedstaaten). Dieses Phänomen ist auf Grund
des zeitgleichen Beitritts der Länder nachvollziehbar. Trotzdem besitzen die Länder unterschiedliche
Transformationspfade, politische Kulturen und gesellschaftliche Spannungslinien, die auch den Verlauf
des Integrationsprozesses der beiden Länder beeinflussen.
Ein bestimmter Diskurs steht nicht allein
für sich
Im Untersuchungszeitraum sind mehrere diskursive Ereignisse auszumachen. Es handelt sich um Geschehnisse, die durch die Medien besondere Beachtung erfuhren (Jäger 2001: 98) und somit das Bild Bulgariens
und Rumäniens im Beitrittsprozess beeinflussen. Das
thematisch verbindende Moment des EU-Beitrittsprozesses ist in der Berichterstattung mit unterschiedlichsten anderen Diskurssträngen verknüpft:
„Die verschiedenen Diskurse sind eng miteinander
verflochten und miteinander verschränkt; sie bilden
in dieser Verschränktheit ein ‚diskursives Gewimmel’,
[…] das Diskursanalysen zu entwirren haben.“ (vgl. Jäger 2001: 84) Es lassen sich des Weiteren Strategien
innerhalb des Diskurses ausmachen, mit denen das
Feld des Sagbaren ausgeweitet oder eingeengt wird
(Jäger 2001: 83).
Im Folgenden werden also Diskursstränge aus dem
dreimonatigen Diskursknäuel zu Bulgarien und Rumänien entwickelt, dargelegt und Strategien zur Gestaltung des Diskurses herausgearbeitet.
• Anonymer Bericht in der Kommission zu Bulgarien: strukturelle Korruption und Kriminalität
Ende des Jahres 2005 veröffentlichte die Bild-Zeitung den Inhalt eines so genannten „Geheimpapiers“
zu Bulgarien, das zu Beginn des neuen Jahres zum
Thema in allen überregionalen Zeitungen wurde. Wie
es sich für Geheimpapiere gehört, herrschte allgemeine Unwissenheit über den Autor/die Autorin, den
Auftraggeber/die Auftraggeberin, die Zielsetzung des
Dokumentes, und wie es an die Presse gelangt war.
Diese Unklarheiten regten die JournalistInnen der Ta-
geszeitungen zu unterschiedlichsten Vermutungen an,
die allgemeine Verwirrung stifteten. Ungefähre Übereinstimmung in der Berichterstattung herrschte lediglich über den Inhalt des Dokuments: Die bulgarischen
Regierungen seien „auf Unterstützung politischer
Kräfte mit Verbindungen in das kriminelle Milieu ehemaliger kommunistischer Staatssicherheitsorgane angewiesen“ (FAZ, 02.01.2006: 1,2), wobei von seit den
1980er Jahren existierenden Verflechtungen der Regierungen mit dem internationalen Rauschgifthandel
berichtet wurde und von illegalen Geschäften mit der
Regierung Saddam Husseins während des UN-Programms „Öl für Lebensmittel“. Demzufolge beurteilte
der Autor oder die Autorin des Berichts die Vorstellung
als naiv, „strukturell verankerte Korruption und Kriminalität“ (taz, 05.01.2006) in wenigen Jahren beseitigen
zu können. In der FAZ wird der Bericht unkritisch als
„Interner Bericht der Kommission zur Korruption“ tituliert, der „von Parlamentsmitgliedern in Umlauf gebracht“ worden sei (FAZ, 02.01.2006: 1,2). Er wird als
Anlass genutzt, über die „Beitrittsfähigkeit Bulgariens“
zu reflektieren und die Möglichkeit der Rücknahme des
Beitrittsbeschlusses ins Auge zu fassen. Die taz nahm
das Thema später und mit mehr kritischer Distanz in
ihre Berichterstattung auf. Das Dokument wird als
„ominöses Papier“ bezeichnet. Trotzdem stellt auch
die Journalistin der taz Mutmaßungen über die Herkunft und Zielsetzungen des Dokuments an. Ihre Erkenntnisse erhält sie von einem Informanten, den sie
unbestimmt als „Beobachter vor Ort“ bezeichnet.
Es handelt sich, wie Jäger es nennt, um eine „Verleumdungsstrategie“ (Jäger 2001: 84), die das „Feld des
Sagbaren“ (Jäger 2001: 83) zu Bulgarien und Rumänien ausweitet: Informationen unbekannter Herkunft
werden durch die Tagespresse aufgegriffen, wodurch
51
das Bild einer kriminellen und korrupten Regierung in
den Mittelpunkt der Berichterstattung gestellt wird. 11
• Rücktritt Nastase: Politische Korruption/Alte gegen neue politische Eliten
Während des gesamten Untersuchungszeitraums berichteten die FAZ mit vier und die taz mit zwei Artikeln
über Korruptionsermittlungen gegen den Parlamentspräsidenten und ehemaligen Ministerpräsidenten Rumäniens Adrian Nastase. Die Ermittlungen durch die
rumänische Justiz und der Umgang mit der Affäre in
politischen Kreisen wurden stets in Zusammenhang
mit dem EU-Beitritt des Landes beobachtet:
„Wenige Monate vor der Entscheidung der EU über das
Datum des EU-Beitritts Rumäniens hat der Kampf der
rumänischen Justiz gegen die Korruption […] einen empfindlichen Rückschlag erlitten.“ (FAZ, 09.03.2006: 7).
„Große Namen“ und „Fälle ganz von oben“ hat die EU
immer wieder gefordert. Nur so könne Rumänien beweisen, dass es den Kampf gegen Korruption ernst
meine. Anderenfalls sei das Land nicht reif für einen
Beitritt 2007.“ (taz, 17.02.2006: 9)
Zumeist beschränkt sich die Berichterstattung über
den Korruptionsskandal auf die Person Adrian Nastase, der als Inbegriff der alten Politik Rumäniens gilt:
Er wird als „Höfling des Diktators Ceauşescu“ (FAZ,
16.03.2006: 3) und „Prototyp eines rumänischen Politikers, der nach dem Sturz Ceauşescus auf wundersame Weise Millionär wurde“ beschrieben (taz,
17.02.2006: 9). Seinen Politikstil bewerten die JournalistInnen als skrupellos und paternalistisch (ebd.).
Karl-Peter Schwarz erweitert das diskursive Feld, indem er in dem Artikel „Im Fadenkreuz“ eine Bruchlinie zwischen alten und neuen politischen Eliten in
Rumänien zeichnet (FAZ, 11.03.2006: 10). Zu letzte11
52
In der FAZ erschien der Bericht auf der Titelseite.
ren gehöre, so der Autor, Monica Macovei, die rumänische Justizministerin, eine „atypische Politikerin“
(ebd.), „Fremdkörper im Kabinett Tariceanu“ (ebd.):
Quereinsteigerin, parteilos, realistisch. Sie symbolisiere die neue rumänische Politik, jedoch wird sie als
Einzelkämpferin mit zahlreichen Gegnern in allen politischen Lagern und Institutionen beschrieben. Außergewöhnlich ist in diesem Artikel auch der Perspektivwechsel, den der Autor vornimmt, als er eine Parallele
zieht zwischen dem Kampf der Frau Macovei und der
Operation „mani pulite“, welche die italienische Justiz
in den 1990er Jahren initiierte, um gegen Korruption
vorzugehen (ebd.). Indem der Journalist ein Beispiel
für ähnliche Problematiken in Westeuropa heranzieht,
relativiert sich das Bild der korrupten post-kommunistischen Regierung (Relativierungsstrategie). Die
Differenz und Hierarchie zwischen Ost und West wird
somit in Frage gestellt.
• Vogelgrippe: Illegale Fleischimporte, Lebensmittelsicherheit
Die Verbreitung des Vogelgrippevirus H5N1 wurde bereits seit dem Sommer 2005 von den Medien verfolgt.
Auch im Untersuchungszeitraum dokumentierte insbesondere die taz bekannt gewordene Fälle der Infektion durch den Virus H5N1 bei Mensch und Tier (taz,
05.01.2006: 2; taz, 13.02.2006: 2; taz, 03.03.2006:
3, FAZ, 13.03.2006: 12). Nach der Entdeckung der
ersten Infektionen in der Europäischen Union erweiterte sich die Diskussion in beiden Zeitungen um die
Gefahr durch illegale Fleischimporte und die zu wahrende Lebensmittelsicherheit in der EU. Während die
JournalistInnen der taz eher das Problem bei dem
„legalen und illegalen Handel mit Abfällen und infizierten Produkten der weltweit agierenden Geflügelindustrie“ (taz: 07.03.2006: 5) suchen, fokussiert man
in den Veröffentlichungen der FAZ mit einem Interview
und zwei Artikeln die illegalen Geflügelimporte durch
Privatpersonen. Die divergierenden politischen Positionen der Zeitungen spiegeln sich hier zum ersten Mal
in der abweichenden Gestaltung der Diskurse wider
(Wirtschaftskriminalität versus individuelle Kriminalität). Beide Zeitungen nennen in ihrer Berichterstattung Rumänien als Unsicherheitsfaktor. Das Land gilt
in der taz als „Infektionsregion“, die „riesige Mengen
an „Geflügelprodukten““ exportiert (ebd.). In der FAZ
wird Rumänien exemplarisch für den osteuropäischen
Raum genutzt: „Aktuell ist es noch wichtiger, dass der
illegale Import von Geflügel aus der Türkei oder Rumänien oder den Ländern Südostasiens beendet wird.“
(FAZ: 12. Januar 2006: 13) In der FAZ beschreibt man
die Grenzkontrollen als unzureichend und weist auf
die Folgen der dünnen Personaldecke der Grenzpolizei hin. Die Zeitungen zeichnen in den Artikeln ein
Bedrohungsszenario für eine erweiterte EU mit durchlässigeren Grenzen. Illegale Importe könnten dann die
deutsche Lebensmittelsicherheit noch stärker gefährden. Dieser Diskursstrang wird ebenfalls angesprochen, wenn die taz über unzureichend überwachten
Anbau und ungekennzeichneten Verkauf von gentechnisch verändertem Soja in Rumänien berichtet („weit
von den Vorgaben der Europäischen Union entfernt“
taz, 12.02.2006: 9).
• Wirtschaft: abenteuerliche Expansionsmärkte
Die Berichterstattung im Bereich „Wirtschaft“ macht
bei der FAZ einen Anteil von knapp 30% der Artikel aus. Sie handeln von der „Expansion in diesen
Wachstumsmärkten“ (FAZ, 18.01.2006: 14) beispielsweise der „Übernahme der rumänischen Großbank
BCA (Banca Comerciala Romana)“ (FAZ, 11.01.2006:
17) und den dadurch erzielten Gewinnsteigerungen
deutscher, österreichischer oder internationaler Konzerne. Die wirtschaftliche Integration Bulgariens und
Rumäniens wird als problemlos beschrieben. Gleichwohl werden stellenweise Verbindungen mit den
bereits genannten Themensträngen Korruption, Vogelgrippe, „politische Lähmung“ (FAZ, 14.02.2006:
22) hergestellt. Ebenso diagnostizieren die JournalistInnen eine starke Instabilität und Sanierungsbedürftigkeit der Wirtschaft in den Beitrittsländern (FAZ,
14,02.2006: 22, FAZ, 10.02.2006). Eine mögliche Verschiebung des Beitritts Bulgariens und Rumäniens
vom Jahr 2007 auf das Jahr 2008 wird von den JournalistInnen des Wirtschaftsressorts jedoch eher mit
Skepsis betrachtet: „Ein definitives Scheitern dieses
Vorhabens [des EU-Beitritts, Anm. d. Verf.] ist zwar
nicht zu befürchten, eine Verschiebung der EU-Aufnahmen ist aber durchaus eine Option, die Anleger
in ihr Kalkül ziehen sollten.“ (FAZ, 14.02.2006: 22). In
der taz findet sich nur ein einziger Artikel im Bereich
Wirtschaft, welcher sich mit der Verlagerung der Produktion in Billiglohnländer beschäftigt und als Ziel
der Produktionsverlagerung neben Tschechien auch
53
Rumänien nennt (taz, 26.02.2006: 8). Während also
in der wirtschaftsliberalen Zeitung FAZ der EU-Beitritt aus wirtschaftlicher Perspektive positiv perzipiert
wird, fürchtet die linksorientierte taz eine Bedrohung
der deutschen Arbeitsmarktsituation.
• Die Österreichische Ratspräsidentschaft: Akzeptanzverlust durch Erweiterung
Der Start ins neue Jahr 2006 ging einher mit dem
Beginn der Österreichischen Ratspräsidentschaft.
Dies veranlasste die Zeitungen dazu, die mittelfristige Zukunft der Europäischen Union zu reflektieren
(FAZ: Wo liegt die Zukunft Europas? 02.01.2006: 4).
Sie stellen eine europäische Krise auf Grund des Akzeptanzverlusts der EU in vielen Mitgliedstaaten fest,
die sich in der Ablehnung des Verfassungsvertrages
widerspiegeln würde. Auf der Agenda der Österreichischen Ratspräsidentschaft stand das Vertrauen
der EU-Bürger wiederzugewinnen und die Integration des Westbalkans voranzutreiben. Besonders die
JournalistInnen der FAZ stellen jedoch eine Kausalität zwischen der EU-Krise und der Erweiterungsperspektive des Westbalkans und der Türkei fest:
„Immer mehr damit [Akzeptanzverlust, Anm. der
Verf.] verbunden scheint die Frage, wie schnell und
um welche Länder die EU noch erweitert wird.“ (ebd.)
Ebenso wird die Integration Rumäniens und Bulgariens als problematisch eingeschätzt:
Auch Rumänien und Bulgarien hätten „noch erhebliche
Widerstände zu überwinden“ (FAZ, 07.01.2006: 3).
„Weitere Länder. Aber wie viele weitere, das ist ja die
Frage […] die Ukraine und Moldawien, wo wäre da
der kategoriale Unterschied zu Rumänien und Bulgarien?“ (FAZ, 12.01.2006: 35)
Die Erweiterung der EU um diese beiden Länder wird
nicht mehr mit der Euphorie der ersten Osterweite-
54
rung gefeiert, sondern mit der Frage in Verbindung
gebracht, wann denn endlich ein Ende der Erweiterungen in Sicht sei (FAZ, 13.03.2006: 10).
Diese Verkettungsstrategie blendet alle anderen
Gründe für den Akzeptanzverlust in der EU aus
(Reformbedarf, neoliberale Ausrichtung des Verfassungsvertrags, allgemeine Politikverdrossenheit, innenpolitische Abstrafung) und stellt die Erweiterung
in den Mittelpunkt der EU-Krise.
Strukturierende Merkmale der Berichterstattung
Die Berichterstattung zu Rumänien und Bulgarien
lässt bestimmte strukturierende Merkmale erkennen. An erster Stelle steht die Konstruktion eines
Bedrohungsszenarios durch die Integration Rumäniens
und Bulgariens in die EU. In Gefahr sind die Rechtsordnung (durch Korruption und Kriminalität), die
Sicherheit (Lebensmittelsicherheit, Gesundheit durch
durchlässige Grenzen) und die Zukunft der EU-Institutionen.
Unterstützt wird der Diskurs der Bedrohung durch
häufige Skandalmeldungen: Dies trifft besonders auf die Vogelgrippe zu, wie folgende Textbeispiele verdeutlichen: „Der unsichtbare Feind“
(FAZ, 10.01.2006: 20), „Das Virus grassiert“ (taz,
03.03.2006: 3). Im Januar berichtet die taz in einem
Artikel über die so genannte „Kältewelle“, die auch
Rumänien und Bulgarien erreichte. Ein besonderes
Indiz für die grausame Kälte war die Nachricht, dass
rumänische und bulgarische Schulen geschlossen
werden mussten, da sie nicht beheizt werden konnten (taz, 24.02.2006: 2). Dass sich sowohl in Bulgarien als auch in Rumänien über Jahrzehnte so
genannte „Holzferien“12 institutionalisiert haben und
somit der Skandalfaktor verschwindet, ist dem Leser nicht bekannt. Eine Tendenz zur Skandalisierung
von Nachrichten, die Unsicherheitsdiskurse unterstützen, erkennen auch Glasze et al. (Glasze et al.
2005: 332).
Des Weiteren bleibt der Diskurs zu Rumänien und
Bulgarien stark an der Oberfläche der Problemstellungen. Derart vereinfachende Diskurse identifiziert
und analysiert Stuart Hall in einem anderen – dem
kolonialen Kontext des 16. Jahrhunderts. Die Konsequenzen sind jedoch gleich: „Er [der Diskurs] stellt
homogen dar, was tatsächlich sehr differenziert ist“
(Hall 1994: 142) und ordnet so „die Welt entsprechend einer einfachen Dichotomie“ (ebd.).
Dichotomien, welche in den Diskursen bezüglich Rumänien und Bulgarien anzutreffen sind, laufen entlang der Grenzlinien Stabilität vs. Instabilität (in allen
Bereichen der Politik und der Wirtschaft), Klüngel
vs. Rechtstaatlichkeit, Sicherheit vs. Unsicherheit
(internationale Kriminalität, Lebensmittelsicherheit),
Reife vs. Unreife (unterschiedliche Entwicklungsstadien). Der Gebrauch dieser Metaphern für Bulgarien und Rumänien im Integrationsprozess erscheint
nicht unbekannt und knüpft an die pejorativen Begrifflichkeiten des beginnenden 20. Jahrhunderts,
als „(…) der Balkan als Symbol für ‚aggressiv‘, ‚intolerant‘‚ ‚barbarisch‘‚halbentwickelt‘, ‚halbzivilisiert‘
und ‚halborientalisch‘ zu stehen begann“ (Todorova
2003: 233).
12
Bei Kälte werden die Schulen für eine oder zwei Wochen geschlossen,
um Energie (früher Holz) zu sparen. Sollte der Winter nicht kalt genug sein,
müssen die Schüler nicht auf die „Winterferien“ verzichten, denn die Wahrscheinlichkeit, dass es im Januar oder Februar aufgrund von übermäßigen
Grippeerkrankungen „Grippeferien“ gibt, ist hoch.
Dichotomien der Berichterstattung
Westeuropa (EU)
Bulgarien/Rumänien
Stabilität
Instabilität
Rechtsstaatlichkeit
Klüngel
Sicherheit
Unsicherheit
Reife
Unreife
Alternativdiskurse
„Wenn innerhalb eines besonderen Diskurses Aussagen über ein Thema gemacht werden, ermöglicht es
der Diskurs, das Thema in einer bestimmten Weise zu
konstruieren. Er begrenzt ebenfalls die anderen Weisen, wie das Thema konstruiert werden kann.“ (Hall
1994: 150)
Das zu identifizieren, was in einem Diskurs nicht gesagt wird, ist schwierig. Denn unsere Wahrnehmung
einer bulgarischen und rumänischen Wirklichkeit
speist sich eben aus dem, was uns durch die Medien
mitgeteilt wird. Einige Artikel, die im Untersuchungszeitraum erschienen sind, geben ein anderes Bild des
Integrationsprozesses. Das Beitrittsland Bulgarien ist
jedoch wiederum nicht Thema der Berichterstattung.
Erwähnenswert ist zunächst die Reportage von Uwe
Rada zu Rumänien mit dem Titel „Ein Fortschrittsbericht“ (taz, 11.03.2006: I-II). Er setzt sich zum Ziel, dass
sein Fortschrittsbericht nichts gemein haben soll mit
der „Brüsseler und Bukarester Informationsmaschinerie“, die zur selben Zeit die JournalistInnen aus dem
Weste abdeckt (ebd.). Dabei reflektiert er selbstkritisch
seine Wahrnehmung Rumäniens: „Ich […] habe schon
vor dem Fall der Mauer gelernt: Rumänien, das ist nicht
55
Europa, sondern der Balkan.“(ebd.)
Er macht sich in seinem Forschrittsbericht auf eine
Reise in das Bukarest des 19. Jahrhunderts und kehrt
dann wieder zurück in die Bukarester Straßen von
heute, in Künstlerateliers, reist anschließend in die
Provinz nach Constanza, Giurgiu und über die Donau
ins bulgarische Ruse. Er erzählt Geschichten von Intellektuellen der heutigen Zeit oder die schon längst
verstorben sind (Luca Caragiale13, Ovid und Canetti),
von Bauern, Roma und Politikern.
Vier weitere Artikel stechen aus der Berichterstattung
über Bulgarien und Rumänien heraus: Der Korrespondent der FAZ Reinhard Olt behandelt in dem Artikel
„Jenseits der Grenze. Autonomiemodelle für die Auslandsungarn“ (FAZ, 14.02.2006: 10) das Thema der
Selbstverwaltungsforderungen der ungarischen Minderheit in Rumänien. Karl-Peter Schwarz schneidet
das Thema Umweltschutz an, indem er die Schwierigkeiten der Umsetzung einer internationalen GebirgsDominierende Diskurse
Hauptstädte
Bukarest/Sofia
Alternativdiskurse
Orte
Provinz
Constanza, Giurgiu,
Ruse, Siebenbürgen,
Karpatenregion
Themen
Justiz
Wirtschaft
13
56
Umweltschutz
Regionalisierung
Minderheitenschutz
Kultur
Ion Luca Caragiale (1852-1912) war ein rumänischer Schriftsteller.
konvention in den rumänischen Karpaten beschreibt
(FAZ: Draculas Heimat nicht geschützt, 07.01.2006:
12). Beide behandeln mit den Themen Minderheitenschutz, Regionalisierung und Umweltschutz Bereiche
des Europäischen Integrationsprozesses jenseits der
„high-politics“-Ebene. Schließlich ziehen osteuropäische und besonders rumänische Filmemacher Interesse auf sich. Die Autoren kommentieren Filme mit
unterschiedlichen Themen: Hans-Jörg Rother (FAZ,
12.3.2207: 20) rezensiert rumänische Filme, die die
Themen Prostitution, die Folgen der Diktatur und der
Securitate und die Sehnsucht nach dem Westen verarbeiten. Der Episodenfilm „Lost and Found“, den die
deutsche Leserschaft durch die Rezension von Jochen Schmidt (taz, 11.01.2006: 16) kennen lernt, erzählt von dem Verhältnis zwischen den Generationen
in verschiedenen osteuropäischen Ländern. Kritisch
fragen die Autoren nach den Gründen für das „Schattendasein“ (FAZ, 12.3.2207: 20) der innovativen und
kreativen Filmszene dieser Länder und erkennen ein
„Potenzial an Geschichten“ (taz, 11.01.2006: 16).
In welcher Weise versuchen die Autoren in ihren Berichten das „Spektrum des Sagbaren“ ( Jäger 2001:
87) zu erweitern? Zunächst ist es die Themenwahl,
die sie von den anderen Artikeln unterscheidet. Sie
beschränken sich nicht auf die Hauptkritikpunkte im
Brüsseler Fortschrittsbericht, sondern erweitern die
Perspektive auf andere Politikbereiche, verschieben
den Fokus des Diskurses von der Hauptstadt auf
die Provinz oder stellen das kulturelle Leben und
den Alltag in den Mittelpunkt. Des Weiteren nähern
sich die AutorInnen den Themen auf unterschiedliche Weise, indem sie versuchen, durch gründlich
recherchierte Hintergrundinformationen post-kommunistische Lebens-, Politik-, und Wirtschaftskon-
dass in der Presse aufgebaut
wurde, mit dem Beitritt der Länder verblasst. Letztendlich werden differenziertere Vorstellungen
dann entstehen, wenn Bulgarien
und Rumänien auf der persönlichen Landkarte der westeuropäischen Bürger näher rücken (vgl.
Hoffmann 2002) und es „mehr zu
sagen gibt“ über diese Länder als
das, was die Zeitungsberichterstattung zu vermitteln mag.
Auf den folgenden beiden Seiten findet
sich eine beispielhafte Auswertung des
nebenstehenden Artikels aus der FAZ.
Literatur:
zepte verständlich zu machen. Schließlich reflektieren einige die Hierarchie in der Wahrnehmung
Osteuropas durch das westliche Europa, indem sie
diese umdrehen und ironisch fragen: „Was kann
der Westen vom Osten lernen?“ (taz, 11.03.2006:
I-II)
Diese Ansätze sind in der derzeitigen Berichterstattung jedoch rar gesät (fünf in drei Monaten).
Stattdessen setzen sich die Diskurse durch, die
vereinfachende Dichotomien reproduzieren. Es
bleibt zu hoffen, dass das Bedrohungsszenario,
Frahm, Thomas (2006): Savoir vivre auf Bulgarisch. In: APuZ
27/2006. S. 32-38.
Glasze, Georg et al. (2005): (Un-)Sicherheitsdiskurse: Grenzziehungen in Gesellschaft und Stadt. In: Berichte zur deutschen Landeskunde 79/2005. S. 329-340.
Hall, Stuart (1994): Der Westen und der Rest: Diskurs und Macht.
In: Ulrich Mehlem et al. (Hrsg.): Rassismus und kulturelle Identität.
Ausgewählte Schriften 2. Hamburg: Argument Verlag. S. 137-179.
Hoffmann, Tina (2002): „Ein Bild ist da, wo die Wirklichkeit ein Loch
hat.“ Deutschlandbilder in Europa – ein Erklärungsansatz anhand
der Stereotypenforschung. In: Ana Dimova und Snejana Boitscheva: Beiträge zur Germanistik und zu Deutsch als Fremdsprache.
Schumen. S. 144-151.
Höpken, Wolfgang (1996): Die „unvollendete Revolution“? Bilanz
der Transformation nach fünf Jahren. In: Revolution auf Raten: Bulgariens Weg zur Demokratie. Oldenburg (=Untersuchungen zur Gegenwartskunde Südosteuropas Bd.32), S. 1.
Jäger, Siegfried (2001): Theoretische und methodische Aspekte einer kritischen Diskurs- und Dispositivanalyse. URL: (abgerufen am
02.01.2007)http://www.diss-duisburg.de/Internetbibliothek/Artikel/
Aspekte_einer_Kritischen_Diskursanalyse.htm
57
1
Autor1
Überschrift. Untertitel
Datum
Horst Bacia
(Bc)
In der EU neue Skepsis über Bulgarien. Interner Bericht der
Kommission zur Korruption/ Brok: Schwerwiegende Vorwürfe
2.1.2006
Themen in Stichwörtern4
Europäischer Beitrittsprozess
- Aufschub des EU-Beitritts BG 2007 (4)
- Kritik von EU-Kommission und Europ. Parlament (8-27, 65-77, 80-85)
- Zweifel an Beitrittsfähigkeit RU (77-80)
- RU + mangelnde Korruptionsbekämpfung (79-80)
- Forderung von EU-Parlament über Mitspracherechte (86-91)
Bulgarien und organisiertes Verbrechen
- Interner Bericht über organisiertes Verbrechen in BG (6-8, 28-30, 55)
- Verflechtung und Abhängigkeitsverhältnis von Politik und organisiertem
Verbrechen in BG (30-35)
- Geschichte der Verflechtung von Politik und organisierten Verbrechen in BG
(erst kommunistisch, jetzt privatisiert, alte Strukturen existieren weiter) (3648)
- Internationaler Rauschgifthandel (41)
- BG machtlos gegenüber alten Strukturen (48-55)
- Skandal in BG um „Öl-für-Lebensmittel“-Programm der UN (55-64)
EU-Interna
- Verfassungsvertrag der EU (95)
- gescheiterte Verfassungsrefernden in Frankreich und Niederlanden (96-97)
Fragen, die sich aus dem Artikel ergeben:
Artikel bezieht sich auf einen internen anonymen Bericht, der viele negative
Vermutungen anstellt. Warum wird die Herkunft des Artikels nicht kritischer
hinterfragt?
1
Die Namen der Autoren werden oft nur als Kürzel aufgeführt. Den vollständigen Namen findest du auf der Homepage
oder im Impressum der Zeitung. Bei Kurzmeldungen werden die Kürzel dpa, ap, epd und rtr und weitere genannt. Dies
sind Abkürzungen für Presseagenturen.
2
Die Textsorten der Artikel werden bestimmt. Handelt es sich um eine Kurzmitteilung, einen Bericht, einen Kommentar,
eine Reportage, einen Leserbrief o.ä.?
58
Textsorte2/ Zeilen/FAZ
BG oder RU oder BG und
RU im Artikel
Illustrationen3
Bericht/ 100 Zeilen
RU+ BG
nein
Sprachliche Besonderheiten5
Position der EU-Institutionen gegenüber BG und RU
Nomen:
Zweifel, Besorgnis, Hinauszögerung, Erwartung, Vorwürfe, Warnung, Empfehlung,
Vorbehalt
Verben:
fordern, wiederholt aufgefordert, drohen, verlangte
> warnend, Druck ausübend
Ausdrücke über Missstände:
Unverfrorenheit, kriminelle Elemente, Verbrechen, kriminelles Milieu, strukturell
verankerte Korruption und Kriminalität,
Mehrfachnennungen:
Korruption (3), Kriminalität, kriminell (4)
Weitere Nomen und Verben, die Kriminalität und Korruption suggerieren:
In Geschäfte verwickelt sein, organisierte Verbrechen, internationaler
Rauschgifthandel, „Unverfrorenheit organisierter krimineller Elemente“
3
Festhalten, ob der Text Illustrationen enthält.
4
Hier sollen alle Themen, die der Artikel anspricht, festgehalten werden. Dies sollten nach Möglichkeit Stichwörter sein.
Dies zielt darauf hinaus, in welche Diskurse der Diskurs der Bulgarien- und Rumänienbilder eingebunden ist.
5
Zitate, Redewendungen, besondere Verwendung von Verben, Pronomen, Nomen, z.B. „Man darf Europa nicht über-
fordern.“
59
Jäger, Siegfried (2001): Diskurs und Wissen. Theoretische und methodische Aspekte einer Kritischen Diskurs- und Dispositivanalyse.
In: Reiner Keller, et al. (Hrsg.): Handbuch Sozialwissenschaftliche
Diskursanalyse. Theorien und Methoden Bd.1. Opladen, S. 81-111.
Eine Einführung. In: Keller, Reiner et al. (Hrsg.): Handbuch sozialwissenschaftlicher Diskursanalyse Bd.1. Opladen: Leske+Budrich,
S. 7-27.
Leiße, Olaf (2006): Rumänien und Bulgarien vor dem EU-Beitritt.
In: APuZ, 27, S. 6-13.
Middeke, Annegret und Studierende der Universität Plovdiv: Projektdokumentation: „Pressespiegel“- Bulgarien und Deutschland in
der gegenseitigen Berichterstattung. In: Marie-Christin Lerchner u.
Annegret Middeke (Hrsg.): Wider Raster und Schranken: Deutschland - Bulgarien - Österreich in der gegenseitigen Wahrnehmung.
Wissenschaftliche Beiträge, Essays, Unterrichtsprojekte. Göttingen
2006, S. 169-182. Kleines Fremdwörterbuch (1996). Stuttgart: Reclam.
Nohlen, Dieter (Hrsg.) (1996): Lexikon der Politik. Band 5: Die Europäische Union. München: C.H. Beck.
Pürer, Heinz und Johannes Rabe (1996): Medien in Deutschland
Band1. Konstanz UVK Medien Verlagsgesellschaft mbH.
Watzlawick, Paul (1976): Wie wirklich ist die Wirklichkeit? WahnTäuschung-Verstehen. München: Piper.
taz: Redaktionsstatus. http://www.taz.de/pt/1/etc/ueberuns/statut
(abgerufen am 02.01.2007)
Todorova, Maria (2003): Historische Vermächtnisse als Analysekategorie. Der Fall Südosteuropa. In: Karl Kaser et al. (Hrsg.): Europa
und die Grenzen im Kopf. Klagenfurt: Wiesner (= Wieser Enzyklopädie des europäischen Ostens 11), S. 227-252.
60
No comment.
Karikaturen des Klausenburger Graphikers Elemér Könczey
oder „Balkanbilder“ im Unterricht
Gabriella-Nóra Tar
Kontextualisierung
Im Rahmen des trinationalen Seminars „Balkanbilder in
Ost und West. Mythen und Stereotypen auf der Spur“
(2.-8. April 2006 – Ruse/Bulgarien) wurde von den
Klausenburger Universitätslektorinnen Bianca Bican
und Gabriella-Nóra Tar ein Workshop zum Thema
Rumänische Balkanstudien und –bilder durchgeführt,
dessen TeilnehmerInnen auf Grund von so genannten
statischen und dynamischen Balkanbildern aus
Rumänien den „homo balcanicus” konstruiert und
dekonstruiert haben. Zu diesem Konstrukt dienten
als Korpus einerseits ausgewählte Karikaturen des
rumänienungarischen Graphikers Elemér Könczey
und andererseits zwei Kurzfilme der rumänischen
Regisseure Cristian Mungiu und Cristi Puiu.
Auf die Karikaturen von Elemér Könczey wurden
von den deutschen, bulgarischen und rumänischen
TeilnehmerInnen im ersten Teil des Workshops
verschiedene Deutungsraster angewendet und
in Hinblick auf den Wirkungsmechanismus von
Karikaturen oder Cartoons in Könczeys Drei-PhasenModell zusammengefasst (s. unten) (vgl. Könczeys
2002). Im zweiten Teil des Workshops setzten sich
die TeilnehmerInnen mit den Kurzfilmen Curcanii nu
zboară (Turkey Girl, 2003) von Cristian Mungiu und
Un cartu ̧ de Kent ̧i un pachet de cafea (Cigaretts
and coffee, 2004) von Cristi Puiu auseinander, indem
sie unter anderem Kongruenzen von statischen und
dynamischen Bildern an sich wiederholenden Themen
(Korruption, Stadt-Land-Gefälle, Gender-Aspekte usw.)
identifizieren konnten (siehe den Artikel von Alexandra
Vlad in diesem Band).
Die vorliegende Studie versteht sich als praxisorientierter
Didaktisierungsvorschlag
zu
Elemér
Könczeys
Karikaturen, indem sie ausschließlich den ersten Teil des
bereits kurz skizzierten Workshops beschreibt. In diesem
Sinne gilt sie vor allem als Plädoyer für den Einsatz von
Karikaturen – die durch ihr spezielles Zeichensystem
als international gelten – in einem interkulturell bzw.
interdisziplinär angelegten (Landeskunde-)Unterricht.
Gleichzeitig ist dieser praxisorientierte Beitrag darum
bemüht, durch konkrete Zeichnungsanalysen auch zur
Rezeption des Klausenburger Graphikers im Ausland
beizutragen, wobei der Stil des osteuropäischen
Karikaturisten (a. Innensicht; b. „Balkanischer“
1
Die WorkshopteilnehmerInnen waren deutscher, bulgarischer, rumänischer
bzw. rumänienungarischer Herkunft; von der Ausbildung her war die Gruppe
aus Studierenden der Germanistik, der Soziologie, der Europäistik und der
Politikwissenschaft zusammengesetzt.
61
Blick nach Europa; c. der Balkan aus europäischer
Perspektive) als Fallbeispiel für balkanischen Humor
(auf die Frage seiner Existenz und seines Charakters
wird in dieser noch Studie eingegangen) mindestens
punktuell untersucht werden muss.
Könczeys Karikaturen im Unterricht
Was macht eine Karikatur zur Karikatur? Dieser
Frage sind die WorkshopteilnehmerInnen in der
ersten Arbeitsphase nachgegangen, indem sie zu
einer unvollständigen Karikaturvorlage von Könczey
(Karikatur Nr. 4 bei E. K.) die fehlende Pointe
erarbeiten und graphisch darstellen mussten. Auf der
Abbildung waren nur der auf dem Operationstisch
liegende Patient, der Arzt und die Krankenschwester
zu sehen. Es wurde ohne Ausnahme die Problematik
des Organhandels thematisiert (Karikatur Nr. 1, 2
und 3). Durch die anschließende Konfrontation mit
dem unbetitelten Original (Karikatur Nr. 4) stellten
die TeilnehmerInnen fest, dass im Unterschied zu
den eigenen Lösungen die Pointe des Originals in der
Visualisierung eines Bestechungsversuches besteht.
In der folgenden Arbeitphase setzte sich die Gruppe
mit der Frage auseinander, wie Karikaturen auf den
Rezipienten wirken. Mit Hilfe der vorher erarbeiteten
theoretischen
Kategorie der Pointe fassten die
Teilnehmer den Wirkungsmechanismus von Karikaturen
in einem 3-Phasen-Modell von Elemér Könczey
zusammen. Laut Könczey sucht der Betrachter in den
wenigen Sekunden der Rezeption sofort nach der Pointe
der Karikatur. Dieses führt zu einer tiefer gehenden
Untersuchung der Zeichnung, die im Optimalfall mit
dem Aha-Erlebnis des Rezipienten als eine Art SichZurücklehnen im virtuellen Sessel endet (Vgl. Könczey
2006). Dadurch konnten die Workshopteilnehmer die
Karikatur als eine solche bildliche Darstellung definieren,
„die eine Eigenschaft oder Merkmal stark übertreibt und
dadurch lächerlich macht.” (Wahrig 2000: 716).
Im Folgenden werden die Arbeitsschritte des
angewandten Deutungsrasters, das sich als Methode
im Unterricht auch auf weitere Karikaturen beliebigen
Inhalts übertragen lässt, tabellarisch zusammengefasst:
Diese Erkenntnisse wurden in einer dritten Arbeitsphase
Szöveg nélkül • Fӑrӑ titlu • no comment
1
62
2
Aha-Erlebnis: Der Rezipient formuliert seine Erkenntnisse.
Die Operation findet nur nach einer „Gegenleistung“ seitens des Patienten statt.
Im rumänischen Gesundheitswesen gehört das
Bestechungsgeld zur Alltagspraxis.
praktisch überprüft: In Kleingruppen wurden die
TeilnehmerInnen (mit mindestens einem RumänienExperten!) damit beauftragt, eine weitere unvollständige
Karikaturvorlage mit der fehlenden Pointe zu ergänzen.
Die erste Karikatur sollten die Kleingruppen in Bezug
zu ihrem Heimatland bearbeiten, die zweite in einen
rumänischen Kontext setzen.
Bei der ersten Aufgabe arbeiteten die Studierenden mit
der Karikatur Nr. 131 von Elemér Könczey, die den Titel
Das Team trägt. „Teamarbeit” wird laut den entstandenen
Lösungen je nach Herkunftsland unterschiedlich
gewertet: Deutsche TeilnehmerInnen befolgten das
Motto „Ich bin das Team” und erläuterten den Begriff
eher individualistisch (Karikatur Nr. 5 und 6), rumänische
und bulgarische TeilnehmerInnen befanden dagegen,
dass in den beiden Balkanländern ein chefzentriertes
Korruptionsnetz unter Team zu verstehen sei (Karikatur
Nr. 7). Im Falle der Rumänien-bezogenen Eigenvarianten
zum Titel Professionalität entstanden Lösungen, die
in den meisten Fällen die miserablen Zustände des
rumänischen Gesundheitswesens problematisieren,
z. B. in der Gestalt eines vom Ambulanzwagen selber
3
4
3-Phasen-Modell nach Elemér Könczey
Beispiel: (Karikatur Nr. 4 bei E. K.)
Suche nach der Pointe: Der Rezipient
sucht nach stark übertriebenen Merkmalen
der Situation.
Was ist an der dargestellten Operation
besonders/lächerlich?
Tiefer gehende Untersuchung der Karikatur: Der
Betrachter stellt sich mehrere Fragen.
Warum wird dem Arzt wie selbstverständlich ein
Briefumschlag vom sich in der Narkose befindenden Patienten überreicht?
Wie ist die Reaktion der Beteiligten? etc.
63
A csapat • Echipa • The team
5
überfahrenen (Karikatur Nr. 8) oder eines vom untätigen
Notarzt eingesperrten bzw. vernachlässigten und
demzufolge nach Hilfe rufenden Kranken (Karikatur
Nr. 9). Ein ganz anderer Aspekt dieses Problemkreises
wurde von derjenigen Kleingruppe aufgegriffen,
die den Begriff der rumänischen „Professionalität“
mit der Vogelgrippe in Verbindung setzte, indem
laut Zeichnung der kranke (oder bereits tote?!)
Patient in einem Anhänger des Ambulanzwagens
transportiert wird, zusammen mit dem die Krankheit
verursachenden Geflügel (Karikatur Nr. 10). Alle
Workshopvarianten scheinen mit Elemér Könczeys
Meinung über rumänische Professionalität verwandt
zu sein: der rumänienungarische Karikaturist treibt die
Situation bis zum Absurden, indem er die Ignoranz des
Notarztes als Teil eines reibungslos funktionierenden
„Selbstbedienungs”-Systems im Gesundheitswesen
64
6
Rumäniens deutet (in diesem Buch Karrikatur Nr. 11,
bei E. K. Nr. 2). Das Autoschild auf der Karikatur weist
übrigens explizit auf die Stadt Klausenburg/Cluj hin.
Erst nach dieser produktionsorientierten Herangehensweise an statische Bilder aus Rumänien konnte
die Frage gestellt werden, ob die Cartoons von
Könczey ausschließlich als Rumänien- bzw. BalkanKarikaturen zu verstehen sind oder ob sie auch
eine weitergehende Deutung als Karikaturen über
Europa zulassen. Zur Beantwortung dieser Frage
wurde den WorkshopteilnehmerInnen ein Korpus aus
ausgewählten prägnanten Karikaturen von Könczey
(ca. 30 Bilder) zur Verfügung gestellt, die sie in
Partnerarbeit untersuchen sollten. Die Studierenden
bekamen die Aufgabe, nach zurückkehrenden
Motiven im Korpus zu suchen und aufgrund dieser,
die Zeichnungen in größere thematische Blöcke
7
einzuordnen. Anschließend wurden u. a. folgende
Kategorien vorgeschlagen und als Zeichnungsanalyse
im Plenum besprochen: Europa bzw. Europäische
Union, Weltall und Weltpolitik, rumänischer Alltag,
rumänisches Gesundheitswesen, Behörden, Technik .
Eigenartigkeit der rumänischen (oder balkanischen?)
Selbstironie aufmerksam. Dabei haben sich die
Studierenden nicht unberechtigt die Frage gestellt,
ob es ein balkanisches Lachen gäbe. Wenn diese
spezifische balkanische Lachkultur belegbar ist, führt
sie laut der Hypothese der WorkshopteilnehmerInnen
vom Über-Sich-Lustig-Machen über realitätsbezogene
balkanische
Bestandsaufnahmen
vernichtender
Kritik bis zur passiven Resignation des so genannten
„homo balcanicus“. Diese Fragestellung gewann im
zweiten Teil des Workshops noch mehr an Bedeutung,
da zwischen den statischen (Karikaturen) und
dynamischen (Kurzfilme) Balkanbildern thematische
Kongruenzen festgestellt werden konnten, die
nicht nur die Präsenz gewisser nationaler und
gleichzeitig mittelosteuropäischer Stereotype belegen,
sondern auch die Existenz einer rumänischen/
rumänienungarischen Selbstironie und Lachkultur als
eine denkbare Strategie der Balkan-Bewältigung.
Zu guter Letzt
Die produktionsorientierte Auseinandersetzung mit
Karikaturen als statische Bilder aus Rumänien hat
den WorkshopteilnehmerInnen tatsächlich einige
rumänische Stereotype bewusst machen können. Auch
wenn die Optik des osteuropäischen Karikaturisten
durch ihre Fokussierung auf gesamteuropäische
und weltpolitische Problemkreise nur in dieser
Komplexität und Vielschichtigkeit deutbar ist, machen
die Rumänien-Karikaturen von Könczey auf die
Literatur:
Interjú Könczey Elemérrel (2006). In: A Hét. 4/1. URL: http://www.
ahet.ro/ (Abgerufen am 03. 03.2006)
Könczey, Elemér (2002): Szöveg nélkül. Fără titlu. No comment. 222
rajz, desene, cartoons. Klausenburg: Erdélyi Híradó Verlag.
Wahrig, Gerhard (2000): Deutsches Wörterbuch. Gütersloh,
München: Bertelsmann Lexikon Verlag.
65
Weitere Karikaturen zum Artikel No comment
8
9
10
11
66
„Die ersten Impressionen sind von einem
geteilten Bild geprägt.
Es scheint eine geteilte
Gesellschaft zu geben:
Gesellschaft A, die in
großer Armut lebt
und Gesellschaft B aus
einer kleinen Schicht,
den Gewinnern des
Systemwandels.“
„Vorkodierte Balkanbilder
werden relativiert und auf
einer Werteskala gewissermaßen in eine positive
Richtung gerückt. „Schein
trügt“ - dieses Seminar
unterstützt diese Aussage
immer mehr.“
67
Unter der Lupe:
Das Begriffsfeld des homo balcanicus
Brigitta Finta
Die Frage nach der Existenz des homo balcanicus und
dem Inhalt dieser Kategorie wurde in einer Seminargruppe mit TeilnehmerInnen verschiedener Nationalitäten aufgeworfen. Dabei folgte sie der These, dass
Vorurteile im Sozialisationsprozess seltener selbst
gebildet, sondern vom Kindesalter an Einstellungen,
Normen und Vorurteile übernommen werden. Dieses
kulturelle Wissen wird durch Sprache, Gruppen und
Gemeinschaften, Medien und Diskurse tradiert und
überliefert. Diese kulturellen Diskurse erkennt man
an einer spezifischen Sprechweise. In dieser Rethorik
werden bestimmte Kategorien wie „Fremde“, „Rasse“, “Nation” aufgrund eigener Werte und Kriterien
definiert. In den westlichen Balkanbildern zum Beispiel gelten eigene Kulturwerte wie wirtschaftliches
Entwicklungsniveau, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit als Bewertungskriterien gegenüber dem Balkan,
folglich werden der balkanischen Region solche Adjektive wie rückständig, antidemokratisch und korrupt
zugeschrieben.
68
Das Ziel des Dialogs war es, die Vorstellungen der
westlichen TeilnehmerInnen von dem Menschentypus
homo balcanicus mit dem Selbstbild der bulgarischen
und rumänischen TeilnehmerInnen zu konfrontieren.
Die Diskussion beschränkte sich nicht auf eine abstrakte Ebene. Die wissenschaftlich offene und kritische Haltung zur Fragestellung seitens der TeilnehmerInnen war zwar eine Voraussetzung während des
Dialogs. Es war aber ebenso wichtig, den subjektiven
Äußerungen Platz zu sichern, durch die geäußerten
Meinungen kulturelle Unterschiede und Ähnlichkeiten
zu erfahren und die eigene Perspektive dadurch zu erweitern.
Dieser Dialog war ein zweideutiger sprachlicher Akt:
einerseits ein konstruierender, begriffsklärender Akt,
andererseits ein dekonstruierender, die Geltung des
Begriffes in Frage stellender Akt. Dieser Versuch ähnelt einer destillierenden sprachlichen Forschung; die
TeilnehmerInnen sollten ihre Vorurteile überprüfen und
die mit dem Begriff verbundenen subjektiven und kul-
turellen Denotationen klären.
Während verschiedene TeilnehmerInnen das Umfeld
des Begriffes umschrieben, tauchten immer neue,
kulturell bestimmte Unstimmigkeiten und Missverständnisse auf, die aber der Gruppe zur Erweiterung
des Blickwinkels und Neudefinition des Begriffes verhalfen. Die Existenz eines abstrakten balkanischen
Menschentypus im kollektiven kulturellen Wissen,
der durch Medien vermittelt und mit Attributen
wie aggressiv, feindlich,
konservativ,
barbarisch
charakterisiert wird, wurde sowohl von den westlichen als auch von den
östlichen TeilnehmerInnen
anerkannt. In unserer Definition kommen solche spezifischen
Eigenschaften
wie Humor, Geselligkeit,
normiertes Verhalten vor,
die die innere Einstellung
des homo balcanicus zu
seiner Umwelt schildern.
In dieser Interpretation bedeutet der Humor eine Art Weltdeutung, Denkart und
Problemlösungsstrategie. Da die Realität durch einen
tiefen, sarkastischen Humor aufgefasst wird, der kontemplative und nachdenkende Momente beinhaltet,
wird eine distanzierte Haltung zu den Schwierigkeiten
gesichert und dadurch ihre Bewältigung gefördert.
Alkoholgenuss und Alkoholismus als weitere spezifische Züge des homo balcanicus können auch als
Lösungsversuche gegenüber den Problemen gedeutet oder als Begleitumstand der gemeinschaftlichen
Unterhaltungsformen identifiziert werden. In diesem
Bedeutungsumfeld wird eine andere Charakteristik
dieses Menschentypus aufgerufen, die Geselligkeit.
Die Gemeinschaftszugehörigkeit bedeutet gleichzeitig auch das Beharren auf einer normierten traditionellen Ethik, die das Verhalten des homo balcanicus
zu seiner Umwelt und zu sich selbst modelliert. Wenn
dieses Bild über den balkanischen Menschentypus
um Züge ergänzt wird wie:
seine grundsätzliche Tätigkeitsform, die Landwirtschaft, und die großfamiliäre soziale Einrichtung,
dann zeigt sich in dieser
Charakterisierung ein bestimmtes Menschenbild,
und zwar der konservative
Bauerntypus.
Das durch die Gruppe
bestimmte Modell vermittelt also nicht nur einen
Menschentypus, sondern
deutet im Hintergrund
gleichzeitig auch auf die
traditionelle,
patriarchalische Gesellschaftsform. Die sich in der Beschreibung
des homo balcanicus summierenden Vorurteile haben
also eine breitere Reichweite und reflektieren auch auf
eine bestimmte Kultur und Gesellschaft.
Die östlichen TeilnehmerInnen stellten die heutige
Geltung dieses mythisierten Menschenbildes in Frage
und lehnten eine Identifikation mit dieser Konstruktion
ab. Die TeilnehmerInnen aus Bulgarien und Rumänien
berichteten aber über eine gemeinsame Erfahrung, die
eine zurzeit wahrnehmbare kulturelle Wandlung und
69
Übergangsphase in der balkanischen Region betrifft.
Die gemeinsame Schlussfolgerung in der Interpretation
dieser Änderung war, dass die osteuropäischen
Menschen in den Umständen der sich auflösenden
früheren Werte ihre Stabilität und nationale Einzigartigkeit
zu verlierern drohen. Ein auffallendes Zeichen dafür ist
das Erscheinen einer starken Konsumgesellschaft, die
allen Moden und Trends ohne kritische Einstellung und
Nachdenken nachgeht.
Summa summarum: Dieser Deutungsprozess während
des Gesprächs prägte fortgesetzt den Inhalt des Begriffes homo balcanicus und zeigte dessen Plastizität.
Die Änderung des Verständnisses konnte man in diesem kleinen Format verfolgen, wo die eigenen und die
kulturell überlieferten Geschichten dem Begriff immer
neue Nuancen beifügten und das Wort dynamisierten.
Ein sehr dynamischer Begriff wurde dadurch ins Leben
gerufen. Sein Inhalt war nicht mehr stabil, genau definierbar und zu einer einheitlichen Vorstellung zusammenfassbar; er erwies sich als geschichtlich, kulturell
und subjektiv variabel und gestaltbar.
Ab- und Aufbau der Vorurteile waren während dieses
intensiven gemeinsamen Deutungsprozesses nicht
mehr voneinander trennbar, sie vollzogen sich parallel und leisteten bedeutende Beiträge zum Verständnis
des Anderen. Vorurteile haben also auch eine vermittelnde Funktion: Sie geben ein Bild über den Anderen und fungieren als Anhaltspunkte im Umgang mit
dem Anderen. Demgemäß kann der Menschentypus
homo balcanicus als ein geschichtlich und kulturell
bestimmtes Konstrukt mit spezifischen Eigenschaften
aufgefasst werden. Das durch die Gruppe bezeichnete
Menschenmodell ist also kein endgültiges, sondern ein
vorläufiges Ergebnis einer aufschlussreichen Diskussion.
70
Weiterführende Literatur:
Bergmann, Werner (2001): Was sind Vorurteile? In: Informationen
zur politischen Bildung. Nr 271/ 2001. S. 3-8.
Haselsteiner, Horst (1998): Die Politik der europäischen Großmächte. In: Heuberger, Valeria et al. (Hrsg.): Der Balkan. Friedenszone
oder Pulverfaß? Frankfurt am Main: Wiener Osteuropa Studien, Bd.
7. S. 79-89.
Heil, Johannes (2001): Fremde, Fremdsein – von der Normalität
eines scheinbaren Problemzustandes. In: Informationen zur politischen Bildung. Nr 271/ 2001. S. 10-16.
Troebst, Stefan (2004): Das hundertjährige Erbe. In: Die Zeit vom
29. 07. 2004. Nr. 32/2004. URL: http://zeus.zeit.de/text/2004/32/
Hauptst_9fck2-Balkan (Abgerufen am 20.12.2006).
„Mir hat alles gut gefallen. Die Gruppenverteilung
„Ich habe bemerkt, dass die
finde ich auch super, weil wir uns so leichter kennen
Unterschiede zwischen den Teil-
lernen und in das Thema vertiefen können. Nicht nur,
nehmern, die aus verschiedenen
dass wir über den Balkan und die EU mehr erfahren,
Ländern kommen, fast unspürbar
aber auch die Art und Weise der Seminargestaltung ist
sind. Wir reden von Stereotypen,
erfinderisch, einfallsreich. Bisher war alles eine wunder-
aber zwischen uns gibt es solche
schöne Überraschung: Arbeit in Mannschaften, Gast-
Unterschiede nicht. Das war für
freundschaft, freundliche Gesichter, neue Ideen und
mich eine angenehme Bemer-
neue Arten, wie man lernen kann. Am Anfang dachte
kung, denn ich gebe zu, ich hatte
ich, dass alles strenger und strikter sein wird, aber dann
ein paar Vorurteile. Ich finde alle
schien es wie ein Spiel voll Kreativität und spannend
Workshops (und alle Spiele) sehr
wie ein wirkliches Abenteuer.“
interaktiv. Sie fördern die Kreativität und das Mitmachen. Alles
„Bis jetzt haben wir mehr
oder weniger theoretische/
allgemeine Begriffe gelernt
und etwas abstrakt über das
Thema gesprochen. Jetzt
kommt langsam die Zeit,
konkretere Eindrücke über
das „Image“ unserer Länder
war gut organisiert. Zwischen
den verschiedenen Events gibt
es immer ungefähr eine Stunde
Luft, aber damit kann man nichts
anfangen. Es gibt nirgendwo viel
Freizeit, damit wir Einkaufen
gehen können, wie das von uns
zu Hause erwartet wird. “
(die Eigenvorstellung versus
Außenbewertung) zu gewinnen.“
71
Der Bruch zwischen ALT und NEU im
gegenwärtigen rumänischen Film
Alexandra Vlad
Jahrhunderte lang befand sich Rumänien in einem
Spannungsverhältnis zwischen Ost und West, zwischen Abend- und Morgenland, geprägt von der Herrschaft des Osmanischen Reiches und der Habsburgischen Monarchie. Zudem wurde die angestrebte
Aneignung westlicher Ordnungsstrukturen ständig von
den gesellschaftlichen, kulturellen, religiösen und politischen Prägungen der Region beeinflusst. Das Eigenund Fremdbild Rumäniens war somit immer geprägt
von dem Spannungsverhältnis zwischen einer Orientierung nach Westen, dem orientalischen Einfluss und
der Auseinandersetzung mit dem spezifisch Eigenen.
Die Mischung beider Kulturen und Strukturen – der
östlichen und westlichen – führte zu einem hybriden
Konstrukt, so dass Rumänien, ähnlich wie andere
Staaten aus dem Südosten Europas, in die Kategorie
des „Balkanismus“ (Todorova 1997) eingeordnet wurde und wird (vgl. Kiossev 2002; Kreuter 2001; Völkl
1
Unter „Hybrid“ fasse ich Mischformen, Gebilde von zweierlei Herkunft. Die-
ser Begriff des Hybriden ist laut der Medien- und Theaterwissenschaftlerin
Irmela Schneider (Schneider/Thomsen 1997) nicht nur auf biologische und
technische, sondern auch auf ästhetische Entwicklungen unserer Gegenwart
anzuwenden.
3
Ich greife hier Homi Bhahbhas Konzept des Hybriden und der kulturellen Dif-
ferenz auf, das die Auffassung, eine Kultur oder eine Nation sei rein, in Frage
In der Literatur wird oft der Begriff „Balkanismus“ gebraucht, welcher von
stellt. Dadurch möchte ich die rumänische Kultur bzw. den gegenwärtigen
Maria Todorova (Todorova 2000) unter dem Einfluss von E. Saids Begriff „Ori-
rumänischen Kurzfilm innerhalb von Prozessen der Hybridiesierung betrach-
entalismus” eingeführt wurde.
ten.
2
72
1995; Weithmann 2000). In der rumänischen wissenschaftlichen Landschaft wird der Begriff „Balkan“ jedoch seltener gebraucht. Er dient der Unterscheidung
eines (westlichen) Transsylvaniens von einem BalkanRumänien (vgl. Antohi 2002; Cioroianu 2002). Ansonsten wird eher der Begriff „Südosteuropa“ bevorzugt.
Diese terminologische Unterscheidung ändert aber
nichts an der Existenz der Schwelle zwischen Osten
und Westen.
Der kulturelle Aspekt des Zwischenhaften (vgl. Muthu
2002) deutet zunächst auf ein Anderssein, ein „halbeuropäisches, halbasiatisches“ (Bjelić/Savić 2002:
19) Gebilde an der „emergence of the interstices“
(Bhabha 1994) hin. Ausgehend von Homi Bhabhas
Auffassung von der Hybridität einer Kultur bin ich der
Ansicht, dass sich auch Rumänien in einer kulturellen
Hybridität entwickelt hat.
Die jüngere und jüngste Gesellschafts- und Kulturgeschichte Rumäniens und eigentlich des ganzen
ost- und südosteuropäischen Raumes ist durch die
Übernahme westeuropäischer Strukturen und Werte
bestimmt. Die gegenwärtige fortschreitende Annäherung Südosteuropas und damit auch Rumäniens an die
Strukturen der Europäischen Union hat der Spannung
Ost-West noch mehr Schärfe und Brisanz gegeben,
sowohl im kulturellen, gesellschaftlich-politischen als
auch im wissenschaftlichen Sinne.
Heutzutage kann man eine zunehmende Entwicklung
in der Südosteuropaforschung feststellen, welche
ihren Diskurs auf mehreren Aspekten dieses Spannungsverhältnisses zwischen Ost und West aufbaut.
Einige solcher Forschungsschwerpunkte wie z.B. die
Polarität Neu/Alt, Tradition/Modernität, Identität/Alterität (Eigen-/Andersheit), Kollektivität/Individualität
werde ich innerhalb dieser Untersuchung auf gegenwärtige rumänische Kurzfilme beziehen.
In der Erforschung der südosteuropäischen Auseinandersetzung mit den westlichen, europäischen Strukturen, geht es mir hauptsächlich um deren Brüche und
Grenzen, wobei ich sie in Hinsicht auf den ästhetisch
dargestellten Dualismus NEU-ALT erkunde. Ziel meiner Untersuchung ist es, sowohl den Bruch mit dem
Tradierten als auch die brüchigen neuen Konstrukte
im filmischen Bereich zu erforschen und die Grenzen
beider Tendenzen – der Aneignung neuer, europäischer Leitbilder und Werte sowie der Verharrung im
spezifisch Eigenen – von der ästhetischen Ebene hin
zur gesellschaftlich-politischen aufzuzeigen.
Die Umbrüche im filmischen Bereich
Die Opposition NEU-ALT, wobei dem Osten das Alte
und dem Westen das Neue zugeschrieben wird, soll
4
Die wissenschftliche Literatur untersucht sowohl die negativen als auch
die positiven stereotypen Vorstellungen vom Balkan beziehungsweise südosteuopäischen Raum.
nicht suggerieren, dass die rumänische Kultur einer
der beiden Kategorien zuzuordnen sei. Vielmehr pendelt sie zwischen diesen beiden Polen. Diese Spannung zwischen den alten und neuen Verhältnissen ruft
einen Bereich der Hybridität und der Heterogenität
hervor, welcher zur Prägung der rumänischen Kultur
und Gesellschaft beiträgt.
Wenn diese Eigenschaften, welche auf die Bruchlinie
NEU-ALT zurückzuführen sind, in Bezug auf kulturelle
bzw. ästhetisch-filmische Konstrukte betrachtet werden, so erschließen sich daraus zwei Hauptaspekte:
einerseits das zeitgenössische, rumänische Filmwesen als Vermischung neuer und alter filmischer Strukturen und andererseits die filmische Darstellung gesellschaftlicher, religiöser, politischer, wirtschaftlicher
Hybride, die sich zwischen der alten und der neuen
Ordnung befinden.
Die seit einigen Jahren äußerst lebendige und produktive rumänische Filmszene wird in letzter Zeit öfters als
eine „Nouvelle Vague“, eine „Neue rumänische Welle“
bezeichnet. Diese Determinierung wird aber von den
Repräsentanten dieser jungen Generation von Filmemachern abgelehnt, indem nicht auf eine gemeinsame
Bewegung, sondern auf einzelne Anstrengungen oder
Experimente hingewiesen wird. So Cristi Puiu: „There
is no Nouvelle Vague, there are just a few desperate
film directors.“ Das facettenreiche rumänische Filmschaffen von z.T. sehr jungen rumänischen Regisseuren wie Cristian Mungiu, Cătălin Mitulescu, Corneliu Porumboiu, Ruxandra Zenide oder Cristi Puiu kann
nicht unter einer einheitlichen Stilrichtung zusammen5
Zit. nach: „Zeitgenössisches Kino aus Rumänien“. In: Arsenal. Freunde der
deutschen Kinemathek e.V. Programmmheft. Dezember 2005. Online im Internet: http://www.fdk-berlin.de/fileadmin/user_upload/arsenal/pdfs/arsenalProgramm-12-05.pdf. [Stand: 09.01.2007].
73
gefasst werden. Da diese Filmemacher neue filmische
Werte vermitteln, werden sie von dem Filmkritiker
Laurenţiu Brătan als eine „neue Generation“ bezeichnet, deren gemeinsames Merkmal der scharfe, sehr
oft schonungslose, aber immer wieder komische Blick
auf die rumänischen Zustände und auf die rumänische
Gesellschaft ist (vgl. Brătan 2006).
Außerdem ist auch der Gegensatz zu den Regisseuren
aus der kommunistischen Zeit zu betonen. Letztere
erhalten heute noch staatliche Gelder für historische
Kostümfilme, während die junge Generation kaum
unterstützt wird. Aus diesem Grund haben die jungen
Filmregisseure eine Gegenposition entwickelt. Dabei
ist im Filmwesen ein Umbruch beziehungsweise eine
Vergangenheitsbewältigung festzustellen: auch wenn
es sich nicht um eine einheitliche neue Welle handelt,
so ist das neue filmische Schaffen im Kontrast zu den
alten, kommunistischen Filmwerten zu betrachten
(vgl. Sava 2004).
Der gegenwärtige rumänische Kurzfilm:
Zwischen Individualität und Kollektivität
Die Spannung zwischen dem Neuen und dem Alten
kommt in der Opposition Kollektivität und Individualität
zum Ausdruck. Die rumänische Vorstellung über diese
Kategorien und ihre Rolle für die Selbst- bzw. Weltdeutung haben, in meiner Auffassung, einen wesentlichen
Beitrag zur Entwicklung eines postkommunistischen
Rumänienbildes und einer rumänischen Identität beigetragen. In dieser Hinsicht deute ich die tradierten
(„alten“) kulturellen, religiösen und sozialen Formen
6
Dabei handelt es sich um die Entwicklung eines Eigenbildes, welches ich
dann in seiner filmischen Darstellung untersuche.
74
von Kollektivität, und zwar die Verwandtschafts- und
Klientelbeziehungen, die sozialen Gemeinschaftsverhältnisse sowie die Gemeinschaftsideale des orthodoxen Christentums als spezifisch „Eigenes“. Am
entgegengesetzten Pol befindet sich der als neu aufgefasste Individualismus der westlichen Modernität,
welcher kritisiert oder angestrebt wird. Dieser Gegensatz findet sich auch im Spannungs­ver­hältnis von Ruralität und Urbanität wieder.
Die oben erwähnten Merkmale der rumänischen Gesellschaft möchte ich in den Kurzfilmen Curcanii nu
zboar (Das Mädchen und der Truthahn) von Cristian
Mungiu und Un cartu ̧ de Kent ̧i un pachet de cafea
(Eine Stange Kent und ein Päckchen Kaffee) von Cristi Puiu untersuchen, und dabei den Bruch
zwischen Altem und Neuen darstellen, sowie die spannungsreiche
Mehrfachzugehörigkeit
zu verschiedenen kulturellen
und sozialen „Rand“- bzw. „Zwischen“-bereichen aufzeigen.
Der Kurzfilm Curcanii nu zboara
(Das Mädchen und der Truthahn) von Cristian Mungiu
ist ein Teil des Projektes Lost and Found, welches
mehrere Filme südosteuropäischer Regisseure unter
dem gemeinsamen Thema „Generation” verbindet.
Mungius Film erzählt von einem Mädchen vom Lande
(Tatiana, gespielt von Ana Ularu), das zum ersten Mal
nach Bukarest kommt und somit erwachsen wird.
Cristian Mungius „Generationsgeschichte“ des Erwachsenwerdens schildert den Übergang vom Dorf
zur Stadt, von den Familienverhältnissen (als Kollektivität) zu den individuellen Strukturen und von den traditionellen zu den modernen Mustern. Dabei werden
die Hindernisse dieser Transgression unterstrichen:
die Verharrung in den alten Gesellschaftsformen wegen Unwissenheit (Tatianas Vater kennt die neue Weltordnung nicht und vermittelt seiner Tochter weiterhin
das alte Modell), Trägheit (es ist einfacher nach alten
Leitbildern zu leben) und Korruption (alles scheint nur
durch Bestechung möglich zu sein).
Auch Cristi Puiu setzt sich in seinem Kurzfilm Un cartu ̧ de Kent ̧i un pachet de cafea (Eine Stange Kent
und ein Päckchen Kaffee) mit dem Thema „Generation“ auseinander, indem er ebenfalls die „kleine“
Korruption thematisiert. In einer radikal reduzierten
Filmsprache wird ein Gespräch zwischen Vater (Victor Rebengiuc) und Sohn (Mimi Brănescu) über die
verschiedenen Bestechungsmöglichkeiten und -verfahren inszeniert. Dadurch erscheint der Kurzfilm als
„bemerkenswertes Statement einer Gesellschaft im
tief greifenden Wandel“ (Internationale Kurzfilm-Jury
2004), wie ihn die Jury der Berlinale bezeichnet hat,
wo er 2004 den „Goldenen Bären“ gewann.
Verwandtschaftsbeziehungen und Familienstrukturen
Während der Zeit des Sozialismus aber auch der postsozialistischen Transformation spielen Familien- und
Verwandtschaftsbeziehungen eine zentrale Rolle bei
der Bewältigung des Alltags (vgl. Konstantinov 2003).
Geborgenheit, emotionale und sozio-ökonomische
Unterstützung sind sowohl für Kinder als auch für Heranwachsende und Erwachsene von großer Bedeutung. Trotzdem kann man beobachten, dass die Familien nach der Wende von 1989 schwer wiegenden
Veränderungen unter­worfen wurden. Die familiären
Strukturen beginnen nach der Wende ins Schwanken
zu geraten, die junge Generation eignet sich westliche, individualistische Formen an, die familiären Bindungen lassen nach oder verschwinden sogar komplett. Diese Minderung des Stellenwertes der Familie ist
ein typisches Merkmal urbaner Gesellschaften und wird
in dem Kurzfilm Eine Stange Kent und ein Päckchen
Kaffee von Cristi Puiu zum Ausdruck gebracht, indem
sich die beiden Personen, die sich im Café unterhalten, erst am Ende des Kurzfilmes in ihrer Vater-SohnRolle erscheinen. Bis dahin scheinen sie zwei Fremde zu sein. Dieser Augenblick stellt einen Höhepunkt
des Konfliktes zwischen den beiden dar; der Rentner
nimmt die väterliche Rolle an und erbettelt mit dem
Kosenamen „Komm schon, Vlăduţ“ eine geborgene,
familiäre Nähe, die er nicht mehr wieder finden kann.
Die Vater-Sohn-Beziehung in ihrer familiären Struktur existiert nicht mehr, sie ist nur noch ein klägliches
Überbleibsel einer alten Zeit. Die Begegnung des Vaters und des Sohnes ist nicht eine übliche (die Beiden
haben sich seit langer Zeit nicht mehr getroffen), sie
findet in einem öffentlichen Lokal statt, wobei die Distanz zwischen ihnen durch das inszenierte minimalistische Theater-Dekor unterstrichen wird. Die starre
Kameraperspektive, welche statisch auf ein einziges
Dekor gerichtet ist, verstärkt den Eindruck einer Theaterszene, die sich im filmischen Bild abspielt, was wiederum auf die inszenierten Familienverhältnissen aufmerksam macht: es sind keine normalen Verhältnisse,
sondern nur „gespielte“. Die beiden haben sich nur
getroffen, damit der alte, arbeitslos gewordene Vater
seinem Sohn, einem erfolgreichen Geschäftsmann,
die „Bestechungsobjekte“ für die Besorgung einer
neuen Arbeitsstelle gibt: eine Stange Kent und eine
Packung Kaffee. Die Kommunikation zwischen ihnen
ist bis hin zur Objektebene entleert.
75
Darüber hinaus wird der Gesellschaftswandel in dem
Sinne thematisiert, dass die alten Formen durch neue
ersetzt wurden. Durch einen verächtlichen Blick gibt
der Sohn dem Vater zu verstehen, dass es heute andere Marken sind, mit denen man etwas erzielen könne. Durch diese Klarstellung wird der Bruch zwischen
den beiden gesteigert: die gestörten Familienverhältnisse lassen sich aus der Spannung zwischen „Altem“ und „Neuem“ schlussfolgern.
Im Gegensatz zu diesem urbanen Gesellschaftsbild
sind auf dem Lande weiterhin die Familienstrukturen
von großer Bedeutung, wobei sie den engen Familienkreis sogar überschreiten und auch die allgemeinen
sozialen Beziehungen nach ihren Mustern prägen.
In dem Kurzfilm Das Mädchen und der Truthahn von
Cristian Mungiu kann man solche Familienstrukturen
im Falle der Telefonistin bemerken. Im Gegensatz zu
Cristi Puius Film ist hier eine andere Richtung von einer bestimmten Distanz zur unmittelbaren Nähe festzustellen: die Telefonistin mischt sich ins Gespräch
ein, wirkt familiär, als würde sie entweder Mitglied der
Familie sein oder aber auch an den Familienangelegenheiten teilnehmen. Es ist ein Muster der Gemeinschaft und Gemeinsamkeit, welches das rurale Leben
kennzeichnet, dem das andere Modell der Individualität und des Allein-Seins gegenüber steht.
Genau dazwischen wird das Mädchen Tatiana ge-
76
stellt: sie lebt im traditionellen Rumänien, auf dem
Lande, aber sie muss, um ihre Familie zu retten (ihre
eigene Mutter), ins Unbekannte, in die Großstadt fahren. Ihre Reise bedeutet eigentlich einen Bildungsweg, den sie machen muss, um erwachsen zu werden.
Dabei muss sie mehrere Hindernisse überschreiten:
den Lieblingstruthahn weggeben (Bestechungsobjekt,
aber zum guten Zwecke „für die Mutter“), alleine in
die Großstadt gehen, alle Stationen des rumänischen
Gesundheitssystems (Pförtner, Krankenhilfe, Krankenschwester, Arzt) schrittweise durchqueren. Und
dabei hat jede Überschreitung ihren eigenen Wert beziehungsweise ihren Preis, denn die Gesellschaft verharrt weiterhin in korrupten Verhältnissen.
Diese Reise des Mädchens in die Stadt endet mit dem
Erwachsenwerden von Tatiana, aber auch des Truthahns; am Ende des Kurzfilmes, als dem Mädchen
klar wird, dass sie der Mutter nicht mehr helfen kann
und dass sie ab jetzt alleine leben muss, erscheint der
Truthahn wieder, der ebenfalls seinen eigenen Weg
gegangen ist und jetzt nicht mehr ihre Hilfe braucht.
Sie lässt ihn alleine und fordert von ihrem Freund
dasselbe: „Lass’ ihn, jetzt ist er schon erwachsen geworden!“ Somit gewinnt das Erwachsenwerden eine
andere Dimension: die Lösung aus den familiären Bindungen und die Entwicklung individueller Strukturen.
Bilder der Ruralität und Urbanität
Mit der fortschreitenden Urbanisierung wird auch der
Gegensatz zwischen der Stadtkultur und dem Landleben in Rumänien immer größer. Die Unterschiede
werden radikaler und es entwickelt sich eine Kluft
zwischen Stadt und Land (vgl. Lienau 2001). Der
technische, wirtschaftliche und kulturelle Fortschritt
aus pulsierenden Städten wie Bukarest, Temeswar,
Klausenburg oder Hermannstadt steht im Gegensatz
zur dramatischen Armut und Rückständigkeit weiter
Landstriche, die nach wie vor agrarisch geprägt sind.
Dieses Problem wird in dem Kurzfilm Das Mädchen
und der Truthahn aufgegriffen, indem eine Reise in die
Stadt als ein Bildungsweg beschrieben wird. Durch
eine sehr erzählerische, nuancierte Filmsprache mit
überraschenden Perspektivwendungen zeigt Cristian
Mungiu ein stark agrarisch und religiös geprägtes rumänisches Dorf, das in der Tradition verankert ist. Die
Filmfiguren (Vater und Tochter) orientieren sich nach
religiösen Werten und nach den Interessen und dem
Wohlstand der Familie. Diese Leitbilder - Religion und
Familie - werden durch eine kreisförmige Bewegung
der Kamera (in Familienbildern und Ikonen) wahrgenommen, um ihren zentralen Charakter zu unterstreichen.
Aber wirtschaftlich und technisch ist das Dorf unterentwickelt: Es ist zum Beispiel immer noch die alte,
kommunistische Post (die Inschrift P.T.T.R. deutet darauf hin), welche dort noch mit derselben Apparatur
funktioniert. Diese veraltete für eine zeitgenössische
Kommunikationsgesellschaft erstaunliche Infrastruktur ist aber für rumänische Verhältnisse (nicht nur rurale) heutzutage immer noch üblich.
Der besonders große Unterschied zwischen Land-
und Stadtleben setzt Rumänien an die Schwelle zwischen den alten und den neuen Lebensformen. Das
Land wird nicht nur durch einen einzigen Aspekt charakterisiert. Die beiden ausgewählten Kurzspielfilme
fungieren als Gegenpole: der Kurzfilm Das Mädchen
und der Truthahn stellt vorwiegend Agrarverhältnisse
dar, während Cristi Puius Film Eine Stange Kent und
ein Päckchen Kaffee urbane Verhältnisse zeigt.
Die alte und die neue Korruption
Die Korruption wird regelmäßig als zentrales Problem
der postsozialistischen Transformation genannt (vgl.
Sterbling 1997). Beide untersuchten Filme bearbeiten
dieses Problem, indem sie die Korruption im Alltag der
Rumänen situieren. Sie zeigen, dass die Korruption
immer noch sehr stark ausgeprägt und in Form eines
komplizierten Systems entwickelt ist. Ohne ihre Mechanismen und die unterschiedlichen Formen bis ins
kleinste Details zu kennen, scheint es, dass die Protagonisten auch in der postkommunistischen Zeit keine
Überlebenschance haben: die kranke Mutter könnte
nicht operiert werden, wenn der ganze Bestechungsprozess nicht richtig ablaufen würde, während der Vater in Eine Stange Kent und ein Päckchen Kaffee keine
neue Arbeitsstelle bekommt, wenn die Bestechung
nicht mit den gegenwärtig passenden Wertobjekten
erfolgt. Zumindest ist dieser Gedanke der „Bestechung“ und der „entsprechenden“ Beziehungen bei
den Protagonisten verankert.
Sowohl in dem einen als auch in dem anderen Film
wird die hierarchische Entwicklung der Korruption
unterstrichen: um das Erwünschte zu erzielen, muss
man alle Stadien durchlaufen. Demzufolge haben
auch die Bestechungsobjekte unterschiedliche Wer-
77
te, die dem jeweiligen Stadium beziehungsweise der
jeweiligen Person und Funktion entsprechen müssen.
Die Szene, in der der Freund aus der Großstadt dem
Mädchen vom Lande erklärt, wie man in verschiedenen Fällen unbedingt verfahren muss, deutet auf
ein kompliziertes System hin, welches erlernt werden
muss. In einer folgenden Szene wird diesem sprachlich dargestellten Gesellschaftsbild ein Gegenbild (der
gegenwärtigen Wirklichkeit) entgegengesetzt. Durch
die Mischung der verschiedenen Kameraperspektiven
werden alle Etappen und Formen der Bestechung, die
das Mädchen einhalten sollte, zerstört. Das Zusammentreffen von Erwartung (das Mädchen Tatiana folgt
allen erhaltenen Anweisungen) und Wirklichkeit (aber
ihr Verhalten passt nicht mehr zur jeweiligen Situation) weist auf die hybriden, sich ständig wandelnden
Gesellschaftsstrukturen hin. In dieser Szene scheitern
alle erlernten Methoden, da sich alles jederzeit unerwartet ändern kann: Das Mädchen erhält einen Kittel ohne Taschen und so kann sie die Dollarscheine
nicht mehr so vorbereiten, wie sie es gelernt hatte (der
Fünfziger in die linke Tasche und der Hunderter in die
rechte). Eine Tür öffnet sich plötzlich und der Truthahn
- rumänisch bezeichnet „plocon“ (Bereicherung oder
„Zuwendung“) - kippt auf den Boden. Dadurch kippt
auch das dargestellte Rumänienbild, denn der Arzt
hätte - scheinbar - gar nichts angenommen.
Durch dieses Kippen der Perspektive zeigt der Film
auch eine andere Seite der gegenwärtigen Verhältnisse, die in Opposition zu den alten stehen: der Arzt
isst kein Fleisch mehr und er nimmt auch kein Geld
an. Dies könnte als Zeichen einer Neuerung aufgefasst werden, wobei die Gesellschaft nicht unbedingt
eine andere ist, aber nun nicht mehr nur traditionelle
Wege (seien es hier die verdorbenen, korrupten) zu-
78
lässt, sondern auch Tendenzen zur Änderung beinhaltet. Gleichzeitig kommt aber eine Spur von ironischer
Kritik an der heutigen Gesellschaft zum Ausdruck:
Zum Zwecke der Modernisierung, der Aneignung
von westlichen Mustern, lehnt man die alten „unzivilisierten“, östlichen Formen nur teilweise ab. Der Arzt
nimmt den Korb voller Land-Produkte nicht an, da er
Vegetarier ist (eine klare Form der „Verwestlichung“).
Es gelingt ihm gar nicht „verdorben“ zu sein, da ein
solcher (für einen Arzt) unangemessener - und daher
- lächerlicher Bestechungsversuch misslingt. Mit „rumänischem Humor“ bewirkt diese Szene einen Gelächter auslösenden Zusammenprall. Eine Tür öffnet
sich, das Mädchen stößt gegen diese Tür, die zwei
Körbe (voller Bestechungsobjekte) fallen auf den Boden, die Milchflaschen zerbrechen und der geschlachtete Truthahn (das Lieblingstier des Mädchens, aber
hier das Bestechungsobjekt) rollt in einem Close-up
auf den Flur.
Der andere Film zeigt die korrupten Verhältnisse aus
einer tragisch-komischen Perspektive, da sich im
Wesentlichen nichts geändert hat, sondern sich nur
neue Formen und Arten beziehungsweise „Marken“
der Bestechung herausentwickelt haben. Durch das
Gespräch werden die beiden Personen gegenübergestellt: Auf der einen Seite der arbeitslos gewordene
Vater, der aus seiner Tasche die „Bestechungsobjekte“ (gewöhnlicher Instant-Kaffee, Zigaretten und
ein billiges Massiergerät aus Holz) für einen neuen Job
holt. Auf der anderen Seite der erfolgreiche Sohn der
neuen Generation, der in Eile ist und der mit Marken7
Der Freund hatte sie gelehrt („Du gibst, was ihm zusteht“), dass man dem
Arzt das Geld nur in einem Umschlag gibt, also, dass er eine besondere Rolle
in der Gesellschaft hat und auch mit Bestechungsobjekten „bezahlt“ werden
muss, die seiner Position entsprechen.
bewusstsein darauf hinweist, dass heutzutage nur ein
italienischer Espresso zur Vermittlung der Arbeitsstelle beitragen könnte. Die beiden Protagonisten werden
durch dieses Gespräch über die Möglichkeiten und
Verfahren, wie die Sachen in Rumänien auch in der
Gegenwart „erledigt“ werden, zusätzlich auch als Repräsentanten zweier Generationen dargestellt. Es ist
gerade diese „şpagă“, welche die beiden Gestalten
beziehungsweise Generationen zusammenbringt,
aber sie auch entgegensetzt und abgrenzt. Die neuen
Bestechungsformen unterstreichen die Gegensätze
zwischen den beiden Repräsentanten der „alten“ und
der „neuen“ Strukturen und veranschaulichen filmisch
eine gestörte, gescheiterte Beziehung und eine Kommunikationsbarriere, die nicht aufgelöst und überwunden werden kann.
Generationswandel: die ältere versus die
neuere Generation
Die ausgewählten Kurzfilme erzählen an Hand von Generationenkonflikten über gebrochene Verhältnisse in
der Gegenwart. Die Geschichten, welche auf diesem
Kontrast der „neuen“ versus der „alten“ Generation
konstruiert werden, beschreiben, teils mit märchenhaften (die typisch rumänische archaische Perspektive), teils mit theatralen Elementen den Verlust der
alten Strukturen und eine Orientierung nach neuen
Leitbildern.
Mungius Film Das Mädchen und der Truthahn schildert
Tatianas Bildungsweg als eine Entfaltung alltäglicher
Momente des Absurden und Tragisch-Komischen.
8
Der umgangssprachliche Begriff „şpagă“ hat eine ähnliche Bedeutung wie
Bakschisch (Schmiergeld).
9
Die Entwicklung des rumänischen Filmes geht vom Theater aus.
Das Erwachsenwerden und die entwickelte Individualität stellen ein Zeichen der Entwicklung von Kollektivität zu Individualität dar, welche auch die rumänische
postkommunistische Gesellschaft charakterisiert. Als
Individuum befindet sich Tatiana am Ende des Bildungsweges in einer ambivalenten Situation: Sie kann
entweder die kollektiven Symbole, die sie bis zu diesem Zeitpunkt bewahrt hat, verinnerlichen oder sie
kann sich von ihnen distanzieren.10 Der Kurzfilm gibt
aber keinen Hinweis darauf, welche der beiden Alternativen sie wählt, er betont nur die Tatsache, dass die
Unterschiede der alten und der neuen Gesellschaftsstrukturen sogar von dem Truthahn erkannt werden.
Tatiana hat ihm die Differenz zwischen Kreis und Quadrat beigebracht und er setzt das praktisch um, indem er kreis- und quadratförmige Straßenlöcher unterscheidet.
Im übertragenen Sinne bedeutet die Unterscheidung
zwischen einem Kreis und einem Quadrat eine Brücke
überschreiten zu können, indem man sich von einer
Generation und einer Etappe distanziert und in eine
neue eintritt. Denn durch das Erkennen dieser Differenzen wird ein Zusammenhang zu der Vergangenheit
hergestellt (die Zeit, als der Truthahn diese Unterschiede erlernt hat) und eine neue Perspektive eröffnet (das Erlernte wird angewendet). Dabei ist dieser
ein Entwicklungsprozess vom Kindsein zum Erwachsenwerden.
In dieser Entwicklungsstufe wird den beiden geometrischen Formen auch eine andere Bedeutung beigemessen. Die gegenwärtige (individualistische) Gesellschaft wird nicht durch Homogenität, sondern auch
durch Heterogenität gekennzeichnet. Dabei wird die10
Diese sind die Alternativen, welche Kiossev (2004) in dem südosteuropä-
ischen Raum erkennt.
79
ser Dualismus durch die ironische letzte Szene intensiviert: Der Freund aus Bukarest will dem Mädchen etwas „Schönes“ zeigen, was sich zunächst im
Hintergrund als das jetzige Parlamentsgebäude (aber
das frühere „Haus des Volkes”) erweist.
Doch da taucht der Truthahn Năstase im Vordergrund auf. Er wurde nicht geschlachtet, wie es Tatiana erwartet hatte, sondern er ist weggeflogen und
das, obwohl „Truthähne nicht fliegen können“, wie es
Tatiana glaubte. In dieser letzten Szene blickt er auf
das, was durch einen schnellen Kameraschwenk den
gegenwärtigen rumänischen Straßen- und Gesellschaftszustand darstellt. Es sind zwei „heterogene“
Formen: das Quadrat ist ein Straßenloch und der
Kreis ist ein Schachtdeckel aus Bukarest.
Der Film von Cristi Puiu ist eine dreizehnminütige
Paraphrase des Filmes Coffee and Cigarettes11 von
Jim Jarmusch. Er behandelt die postkommunistische
Zeit aus der Perspektive des Verhältnisses beziehungsweise der Kommunikation zwischen den Generationen. Eine starre Kamera konzentriert sich auf
das Gespräch, welches in einem Café vor einer Glasfassade stattfindet, und zeigt, dass es hier nur eine
karge Kommunikation gibt. Denn die neue „branded
generation“, wie sie der Regisseur selbst bezeichnet,
zu welcher der Sohn gehört, kommuniziert mit der alten, deren Repräsentant der Vater ist, wie durch eine
Wand. Diese ähnelt der Glasoberfläche, die das Gespräch von der Straße trennt. Die einfache Perspektive der unbeweglichen Kamera, die das statische
Verhältnis der beiden in einem Theaterdekor mit den
dazugehörigen Vorhängen zeigt, gibt den Eindruck
11
Daher erklärt sich auch der englische Titel Cigarettes and coffee des rumä-
nischen Kurzfilms.
80
eines degré zéro12. Man erlebt alles ganz nah vor
den Augen – wie im Theater. Aber dank der Transparenz (der „Glaswand“) könnte die Grenze zwischen
der Wirklichkeit und dem Fiktionalen und zwischen
den beiden Generationen leicht überschritten werden. Die Szene bleibt aber statisch ohne jedwelchen
Überwindungsversuch und nur mit der latenten Möglichkeit der Überbrückung.
Die beiden werden nicht im Allgemeinen präsentiert,
sondern in einem scheinbar intimen Familienkreis,
der sich aber durch Zufall, Künstlichkeit und Distanz
charakterisiert, so dass die Generationsproblematik
nur in einem kontrastiven und ambivalenten Verhältnis der Nähe und Distanz, der Tradition und der Moderne, der Privatsphäre und der Öffentlichkeit dargestellt wird. Es ist gleichzeitig eine Differenz und eine
Ambivalenz, welche die Verhältnisse an der Schwelle
„zwischen“ den Gegenpolen walten lässt, um sie in
dem Bereich des „Dazwischen“, was für die rumänische postsozialistische Gesellschaft kennzeichnend ist, darzustellen.
In dem Café, das das einzige Filmdekor ist und das
einen englischen Namen („Graceland“) als Sinnbild
der Verwestlichung trägt, wird das Treffen beider
Generationen und beider Familienmitglieder einer
doppelten visuellen Wahrnehmung ausgesetzt. Dadurch ist auch das filmische Geschehen in einen
„Zwischen“-bereich gestellt: Es sind einerseits die
Zuschauer, die vor der Caféfassade vorbeilaufen und
andererseits die Filmzuschauer, die das Private auf
der „öffentlichen“ Film-Bühne erleben können.
Somit wird das Kurzfilmdekor ein Schauplatz für die
mehrfache Inszenierung dieser Kluft zwischen der al12
Ein solcher einfacher Stil erinnert an Barthes degré zéro, der „Nullpunkt der
Literatur“ (Barthes 1982).
ten und der neuen Generation einer gegenwärtigen
Gesellschaft, welche, wie der Vater am Ende resigniert
bemerkt: „Es hat sich nicht geändert“, sich in einem
Transformationsprozess befindet. In dieser wandelnden Gesellschaft hat der Bruch zwischen Alt und Neu
zu einem (aktuellen) Zwischenstadium geführt, wo „a
bit of this and a bit of that is how nowness enters the
world“ (Rushdie 1991: 394).
Literatur:
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bovarism to ethnic ontology. In: Alexandru Zub/Adrian Cioflâncă
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ANUL XV. Vol: 841. (21 April 2006 - 27 April 2006). S. 15.
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Weithmann, Michael W. (2000): Balkanchronik. 2000 Jahre zwischen
Orient und Okzident. Regensburg.
81
1989 - Ein europäisches Gedächtnis?
Eine Didaktisierung zur Arbeit mit narrativen, lebensgeschichtlichen Interviews
Valeska Bopp, Stephanie Krauch
Einführung
Dieser Beitrag berichtet über den Verlauf des zurückliegenden Workshops „Erlebte Geschichte und Erinnerungskultur“, an dem Studierende aus Deutschland,
Rumänien, Mazedonien und Bulgarien teilnahmen. Ziel
dieses Workshops waren vor allem zwei Aspekte: Die
Beleuchtung der jüngsten Geschichte in den Ländern
der TeilnehmerInnen aus der Perspektive derjenigen,
die sie erlebt haben („erinnerte Geschichte“) sowie
darüber hinaus die Vermittlung von Kenntnissen über
die Herstellung und den Umgang mit qualitativen Daten, in diesem Zusammenhang mit lebensgeschichtlichen Interviews.
Die Geschichte der Revolutionen von 1989 und deren
recht unterschiedliche Rezeptionen sind gemeinsame
Berührungspunkte aller TeilnehmerInnen. Während
die bundesdeutsche Wende in zahlreichen Genres
aufgearbeitet und unter verschiedensten Perspektiven
beleuchtet wurde, befindet sich die Vergangenheitsbewältigung der Geschehnisse von 1989 ganz besonders in Bulgarien und Rumänien vermutlich erst in
ihren Anfangsjahren. Auffallend ist, dass Studierende
1
Die Anzahl der Veröffentlichungen zur rumänischen Revolution nehmen ste-
tig zu. Obgleich sich die Bevölkerung Rumäniens immer „die Wahrheit“ über
die Revolution gewünscht hat, werden Kolloquien und Tagungen zur Wende
vermehrt nur von Interessenvertretern besucht. Der Frage, welche Relevanz
82
aus MOE-Ländern sich relativ wenig mit den Geschehnissen von 1989 beschäftigen. Sie wissen nur wenig
über die Wahrnehmung der Eltern und Großeltern der
Revolutionsereignisse, noch frappierend weniger (dies
lässt sich wohl auch über die Mehrheit der deutschen
Bevölkerung sagen) wissen sie über die Ereignisse in
den Nachbarländern.
In diesem Workshop wurde der Fokus auf die subjektive Verarbeitung erlebter Geschichte gelegt. Den
Hintergrund bildeten narrative, lebensgeschichtliche
Interviews, welche die Teilnehmenden im Vorfeld
mit Zeitzeugen zwischen 50 und 70 Jahren über deren Erinnerung an das Wendejahr 1989 geführt hatten. Ausgehend von Theorien und Erkenntnissen der
jüngeren Gedächtnisforschung, welche sich mit der
die Aufarbeitung der damaligen Ereignisse heute noch für die Bevölkerung
Rumäniens hat und insbesondere für die jüngeren Generationen, wie auch die
Studierenden, wurde bislang nur in Ansätzen nachgegangen.
Als Ursache für diesen stockenden Prozess der Vergangenheitsbewältigung
sieht der Politikwissenschaftler Cristian Preda vor allem die anhaltende Enttäuschung über die Nicht-Erfüllung der mit der Revolution verbundenen Hoffnungen (der Autor spricht von „Illusionen“) (Preda 2000). Dennoch ist gleichzeitig das Bedürfnis nach einer Auseinandersetzung mit den Geschehnissen
und den Akteuren spürbar, die vielfältigen attributiven Beinamen der Revolution wie die ‚gestohlene’, die ‚unvollendete’, die ‚vorläufige’ (Cesereanu 2004)
deuten darauf hin, dass die geschichtlichen Ereignisse als Bestandteil des
kommunikativen Gedächtnisses der Bevölkerung noch andauernd umgeschrieben werden.
permanenten Um-Schreibung von Geschichte im autobiografischen Gedächtnis beschäftigen, wurden Interviewsituation, Problematiken des Interviewens und
der Vorgang des Sich-Erinnerns diskutiert.
Die Workshopleiterinnen unterrichten beide deutsche
Landeskunde (LK) und Geschichte an Universitäten in
osteuropäischen Ländern (Rumänien und Russland).
Ein wesentlicher Bestandteil des LK-Unterrichts ist die
Vermittlung historischen Wissens, bei dem in „osteuropäischer Schultradition“ häufig der Erwerb von faktengeleitetem Wissen im Vordergrund steht. Entsprechend sind Studierende sehr gut im Auswendiglernen
von Daten historischer Ereignisse. Wenig eingeübt ist
jedoch das Formulieren von eigenständigen Fragen
und Transferleistungen, um auch kontrastiv arbeiten
zu können, vor allem wenn die Studierenden mit kommunikativen Methoden noch keine Lernerfahrungen
gemacht haben. Die Arbeit mit qualitativen Interviews
bietet so einen völlig neuen, bisher unbekannten Zugang zu geschichtlichen Ereignissen: Im Vordergrund
stehen die persönliche Sichtweise und Erinnerung,
die immer unmittelbar mit der eigenen Biographie verbunden sind. Damit wurden Subjektivität und Emotionalität beim Lernprozess eine besondere Stellung
eingeräumt. Die TeilnehmerInnen bekamen bei der
Arbeit mit den Interviews einen Einblick in qualitative
Methoden der Datengewinnung und standen in ihrer
Person durch das Interviewgespräch im Mittelpunkt:
von ihren Fragen, von ihrem Interviewerverhalten hing
größtenteils der Erfolg des Gespräches ab. Für die
meisten der TeilnehmerInnen war dies eine völlig neue
Lernerfahrung.
Ebenso ungewohnt war auch die Fragestellung des
Workshops. In den Gesprächen über das Revolutionsjahr 1989 stand nicht die Frage nach dem WAS (was
ist wann passiert?) im Vordergrund, sondern die Frage,
nach dem WIE (wie wird was erinnert?). Mit der Frage
nach dem Erinnerten und dem, was uns heute noch
wichtig ist, wurde unmittelbar der Brückenschlag zur
Gegenwart und zur eigenen Lebensgeschichte vollzogen. Im Folgenden werden wir kurz auf die Begriffe
Gedächtnis und Erinnerung und deren „Beziehung“
zur Geschichtsschreibung eingehen. Anschließend
soll an der Darstellung der von uns verwendeten Methoden die Möglichkeit vorgestellt werden, im Unterricht mit qualitativen Interviews zu arbeiten.
Zum Verhältnis von Erinnerung und
Geschichte
In seiner Theorie der Erinnerung bezeichnet Harald
Welzer das „Sich-an-etwas erinnern“ als eine Grundbedingung für die eigene Identität (Welzer 2002: 94).
An der Konstruktion unserer Identität, die aus permanenter Überarbeitung und Neukonstruktion, permanenter Neueinbettung des Vergangenen in Wissenshorizonte und Erlebnisse des Gegenwärtigen besteht,
ist maßgeblich das Gedächtnis beteiligt. Unsere eigene Lebensgeschichte, somit unsere persönliche Vergangenheit, wird von uns immer wieder neu erfunden.
Sie verändert sich im Nachhinein ständig. Mit ihr kann
sich auch die Bewertung von historischen, sozialen
und politischen Ereignissen ändern, die in unser Leben
direkt eingegriffen haben. Diese Sichtweise stellt den
Begriff des bloßen Faktums als Lerninhalt in Frage.
Die modernen Kulturwissenschaften unterscheiden
das kulturelle vom kommunikativen Gedächtnis: Nach
Jan Assmann ist das kulturelle Gedächtnis der „jeder
Gesellschaft und jeder Epoche eigentümliche Bestand
an Wiedergebrauchs-Texten, -Bildern und -Riten […], in
83
deren ´Pflege´ sie ihr Selbstbild stabilisiert und vermittelt, ein kollektiv geteiltes Wissen vorzugsweise (aber
nicht ausschließlich) über die Vergangenheit, auf das
eine Gruppe ihr Bewusstsein von Einheit und Eigenart
stützt“ (Assmann 1988: 15). Es handelt sich also um
Traditionen, die weitervermittelt werden, historische Ereignisse, die in einen Kanon des notwendigen Wissens
der jeweiligen Gemeinschaft gehören und sich konkret
manifestieren (können) in Denkmälern, Festen mit dazugehörigen Riten und dergleichen. Dahingegen ist das
kommunikative Gedächtnis „durch ein hohes Maß an
Unspezialisiertheit, thematischer Unfestgelegtheit und
Unorganisiertheit“ (Assmann 1988: 9) gekennzeichnet.
Im Vergleich zum kulturellen Gedächtnis ist es so etwas wie ein Kurzzeitgedächtnis der Gesellschaft. Es
lebt von der Auseinandersetzung von einzelnen Individuen und Gruppen mit dem Vergangenen und dessen
Bezugnahme zum Gegenwärtigen. Somit ist es „an die
Existenz der lebendigen Träger und Kommunikatoren
von Erfahrung gebunden und umfasst etwa 80 Jahre,
also drei bis vier Generationen“ (Welzer 2001: 11).
Die Erinnerung an die Geschichte kann nie losgelöst
sein von den Bedingungen des Hier und Jetzt. Die
Gegenwart ist damit wesentlicher Referenzpunkt alles Erinnerten. Bei der Erinnerung an noch nicht allzu
weit zurückliegende Geschehnisse fließen Erinnerung
an Erinnerung, sowie Selbsterlebtes, Gesehenes und
Miterlebtes ununterscheidbar zusammen.
Markowitsch und Welzer haben an zahlreichen Beispielen von persönlichen Erinnerungen von Zeitzeugen aus der Kriegszeit belegt, dass Erinnertes zum Teil
ganz anders aussieht, als es die historischen Faktebelegen. Eine mögliche Erklärung für die Entstehung
falscher Erinnerungen ist, dass nachträgliche Informationen aus anderen Quellen wie z.B. Filmen oder
Erzählungen Eingang in die eigenen Erinnerungen finden. Im Nachhinein werden solche Mischformen aus
selbst erlebten und durch nachträgliche Informationen
angereicherten Gedächtnisinhalten als selbst erlebte
lebensgeschichtliche Ereignisse erinnert.
Je mehr die erinnerten Ereignisse über hohe emotionale Bedeutsamkeit verfügen, desto schwieriger
wird es, Gedächtnisinhalte durch später hinzugelernte
Fakten zu revidieren oder zu verändern. So hat der
Schriftsteller Martin Walser 1988 in einem Vortrag betont, er habe das Gefühl, er könne mit seinen Erinnerungen nicht nach Belieben umgehen: „Es ist mir ,
zum Beispiel, nicht möglich, meine Erinnerungen mit
Hilfe eines von mir inzwischen erworbenen Wissen
zu belehren.“ (Walser zit. in Welzer 2001: 116) Diese
Aussage macht deutlich, dass Geschichtsschreibung,
die sich mit ausgefeilter Quelleninterpretation das Ziel
setzt, die „Wahrheit“ möglichst objektiv zu beschreiben, und Erinnerung sich grundlegend voneinander
unterscheiden.
Im Workshop steht die Qualität der Erinnerung, das
heißt die Art und Weise der Erinnerung an das Jahr
1989, im Zentrum des Interesses. Wir haben eine Dreiteilung zur gesamten Thematik vorgenommen:
1. Zusammentragen von erinnertem Wissen über die
Revolutionen von 1989 in Form einer Zeitleiste
2. Arbeit mit den Interviews, Vergleich der Interviews,
Übungen zum Interviewführen
3. Beschäftigung mit dem Begriff der Erinnerungskultur, Klärung von zentralen Begriffen (wie „Kulturelles
Gedächtnis“, „Kommunikatives Gedächtnis“ u.a.)
Bekannt ist das Phänomen der so genannten falschen Erinnerung, dazu
Tiefflieger, die beim Angriff auf die Stadt am 13. und 14. Februar 1945 gezielt
2
gehören zum Beispiel die von zahlreichen Dresdnern erinnerten britischen
84
Jagd auf Flüchtlinge gemacht hätten (vgl. Welzer 2005).
4. Die Übungen des Workshops
1. Arbeit mit Zeitleisten zu den Revolutionen 1989
In einer ersten Workshop-Einheit rekonstruierten die
TeilnehmerInnen in Gruppenarbeit die historischen
Hintergründe der Wenden in ihren Heimatländern. Es
bietet sich dabei die Arbeit in kleineren Gruppen (zu
zwei oder drei Personen) an. Die Teilnehmer sollten
genügend Zeit bekommen, um miteinander ins Gespräch zu kommen.
Benötigte Arbeitszeit: 1- 1,5 Stunden
Material: große Papierbahnen, dicke Stifte, Marker,
Bilder, Fotos, Klebeband
Aufgabenstellung: Fertigen Sie eine Chronologie der
„wichtigsten“ Ereignisse der Revolution Ihres Landes
an! Variante: Während auf dem linken Teil der Zeitleiste
die Ereignisse des kollektiven Gedächtnisses festgehalten werden, sollen auf dem rechten Teil Ereignisse
aus der persönlichen Biographie zusammengetragen werden. In der anschließenden Reflexion können Zusammenhänge thematisiert werden. Hinweis
für TeilnehmerInnen: Sich erinnern fällt leichter, wenn
persönlich Bezug genommen werden kann und Verknüpfungen herstellbar sind.
Ablauf: Jede Gruppe erhält Arbeitsmaterial. Im Gespräch und bei der Erarbeitung der Zeitleisten beginnt
ein erster Erinnerungsprozess, bei dem sich bereits
Erinnerungen aus verschiedenen Quellen mischen
werden. Es werden vermutlich Ereignisse, die in den
Interviews besprochen wurden, erwähnt, ebenso wie
Gewusstes und Gelerntes aus Büchern und dem Geschichtsunterricht. Falls die TeilnehmerInnen in Büchern nachschlagen möchten, um ihre Zeitleiste durch
weitere Informationen zu ergänzen, könnte man darauf
hinweisen, zuerst zu versuchen ohne das Material zu
arbeiten und sich auf die eigene Erinnerung zu verlassen. Nach der Gruppenarbeit werden die Plakate zur
Ansicht aufgehängt und vorgestellt.
Ergebnis: Das zum Schlagwort gewordene Jahr 1989
hat sehr verschiedene Ausprägungen in den jeweiligen
Ländern. Im Falle Jugoslawiens stellt es gar keinen
augenfälligen Bruch dar, auch in Bulgarien gleicht die
so genannte „Palastrevolution“ eher einer unspektakulären „Revolution“, wenn sich der Begriff überhaupt
rechtfertigen lässt. Die rumänische Revolution hingegen war bedingt durch die damalige Medienpräsenz
allen TeilnehmerInnen als Wellen brechendes Ereignis
in Erinnerung. Hier fiel auch der von Anneli Ute Gabanyi geprägte Ausdruck „Telerevolution“ (Gabanyi
1998). Genauso stellte auch der Mauerfall in Berlin
ein gemeinsames Erinnerungsmoment aller SeminarteilnehmerInnen dar. Mit weiteren Informationen zum
„Davor“ und „Danach“ konnten sich die Studierenden
gegenseitig weit darüber hinaus Details und Stichworte vermitteln und anhand derer zum Teil bis zum
Beginn der kommunistischen Zeit zurückgehenden
Zeitleisten waren auch längere Entwicklungsstränge
abzulesen. Darunter auch Ähnlichkeiten wie die Einführung von kollektivierter Landwirtschaft und die extreme Unterdrückung der geistigen Elite wie auch die
finanziellen Krisen gegen Ende der Systeme.
Den Revolutionen gingen jeweils verschiedene, die
Instabilität der Länder anzeigende Ereignisse voraus,
die zum Teil die Art der Implosion der Systeme und
Entwicklungen bis heute mitbegründen können: Die
Rumänen thematisierten die scheinbare Allgegenwart
der Securitate – in diesem Kontext fiel das Stichwort
„Land der Flüsterer“. Außerdem wurde der extreme
85
Spar- und Isolationskurs des Diktators genannt, der
seinen Teil dazu beitrug, dass die Revolution spät und
abrupt erfolgte, während in Bulgarien die türkische
Minderheit wegen Unterdrückungspolitik schon im
Laufe des Jahres 1989 demonstrierte und in großer
Zahl auswanderte, so wie die DDR-Bürger schon im
Sommer des Jahres zu Hunderttausenden über die
Botschaften in Prag und Budapest flohen.
Bei den erstellten Zeitleisten fiel uns auf, dass Datensicherheit tatsächlich nur bedingt vorhanden ist. Die
Studierenden konnten sich bestenfalls an Monate,
weniger an den genauen Monatstag eines Ereignisses
erinnern. Ausgenommen waren die Daten so genannter brisanter Ereignisse, wie der 9. November 1989 in
Berlin oder der 21. Dezember in Bukarest. Unser persönliches Gedächtnis braucht weniger die genauen
Daten für die Erinnerungsarbeit, sondern verlässt sich
vielmehr auf Bilder, die sich (auch durch mediale Wiederholung u. ä.) schließlich im kollektiven Gedächtnis
„einbrennen“.
Vordergründiges Ziel sollte es sein, vom Interviewpartner nicht in erster Linie reine Fakten zu erfahren,
sondern vor allem seine Wahrnehmung, Gedanken
und Gefühle im Interview zu dokumentieren. Das Vorformulieren von Leitfragen, die möglichst in Form von
offenen Fragen gestellt werden, verschafft dem Interviewpartner genügend Freiraum für seine ganz individuelle Sichtweise, ohne dass er oder sie sich von
vorneherein eingeengt fühlt. Möglicherweise können
im Anschluss noch Detaillierungsfragen gestellt werden, um Unklarheiten zu beseitigen. Die Einstiegsund Leitfragen sollten vorher aufgeschrieben werden.
Diese könnten sein: welche Erinnerungen erweckt bei
Ihnen das Jahr 1989? Wie haben Sie damals gelebt,
wie haben Sie die Geschehnisse erlebt?
2. Arbeit mit narrativen Interviews
Bei einem narrativen Interview handelt es sich um eine
Erzählung aus dem Stehgreif (Spontanerzählung) über
Ereignisse, die im eigenen Leben brisant waren. Dabei
hat die Interviewperson das monologische Rederecht,
die Interviewenden halten sich zurück, beschränken
sich auf das Initiieren des Gespräches und auf einige
wenige Fragestellungen. Ihre eigentliche Haupttätikeit
besteht im Zuhören.
•
3
Wir beziehen uns auf die klassische Herangehensweise in Biographiefor-
schung und Oral History. Da wir Harald Welzer viel zitieren, möchten wir darauf hinweisen, dass er sich mit seinen Mitarbeitern für die von ihnen entwickelte „Hermeneutische Dialoganalyse“ ausspricht, wo der Interviewer als
86
Direkt nach dem Interview machten die Studierenden
sich Notizen zum Ablauf des Interviews in Form einer
Reflexion. Hier sollte folgenden Fragen nachgegangen
werden:
•
•
•
Worüber hat die Person besonders viel, gerne und
lebendig erzählt?
Wo gab es Pausen? Bei welchen Themen?
Wie war die Atmosphäre insgesamt?
Wie habe ich mich als Interviewer gefühlt?
Die Interviewenden werden mit einer hohen und kaum
erfüllbaren Erwartungshaltung konfrontiert. Sie müssen zwischen „Offenheit und strukturierenden Vorgaben, zwischen Vertrautheit und Fremdheit vermitteln“
(Helfferich 2005:9) und sich damit gleichzeitig offen
und naiv aber auch reflexiv und kundig dem Erzähl-
aktiver Mitproduzent des Materials betrachtet wird und durchaus aufgefordert
Interview auch stärker in seiner Dialogform ausgewertet, als dies bei den an-
ist, sich „natürlich“ und spontan zu verhalten. In der Auswertung wird das
deren Herangehensweisen der Fall ist.
partner zuwenden. Diese Grundprinzipien der Interviewführung, das Aufrechterhalten der Kommunikation, der Umgang mit Vertrautheit und Fremdheit, die
Offenheit und Reflexivität, verlangen vom Interviewpartner Kompetenzen, die in der kurzen Workshopzeit
natürlich nicht vermittelt, aber doch angesprochen
und trainiert werden können. Um die Grundprinzipien
der Interviewführung und sich daraus abzuleitende
Kompetenzen im Workshop zu besprechen, haben wir
eine Reihe von Übungen aus dem Lehrmaterial von
Helfferich (ebd.) ausgewählt, die auch hier vorgestellt
werden sollen.
2.1 Warming up:
Aufgabe: Austausch in Kleingruppen über Interviewinhalte (Aspekte: „Revolution“, „Vorher-Nachher“, wie
wurde erzählt?), anschließend Plenum: Gemeinsamkeiten und Unterschiede sammeln und visualisieren.
Ergebnisse: An das Jahr 1989 wurde sich insbesondere in der DDR und in Rumänien mit viel Spannung,
Unsicherheit, Angst aber auch Begeisterung erinnert.
Die Interviewpartner aus Bulgarien konzentrierten sich
im Gespräch mehr auf das Leben jetzt im Vergleich
zu „früher“, der erzwungene Rücktritt Todor Zhivkovs
nimmt als Ereignis keinen gesonderten Raum in den
Erinnerungen ein. In allen Interviews fand sich eine
gewisse dialektische Spannung: Während die Wende
generell als wichtig, nötig und positiv bewertet wurde,
werden immer auch Dinge erwähnt, die früher besser
gewesen seien. Dazu gehören mehr Sicherheit, Planbarkeit, feste Kindergartenplätze. Es stehen sich das
Wissen, dass früher Vieles schlechter war bzw. gegenwärtig Vieles prinzipiell besser ist, und die Erfahrung
4
von neuen Unsicherheiten, die bestimmte Aspekte der
Vergangenheit in positiverem Licht erscheinen lassen,
gegenüber.
2.2 Die Kunst des Fragens
Nach dem ersten Austausch über den Verlauf der Interviews sollte der besonderen Asymmetrie zwischen
Interviewer und Interviewtem im Workshop Aufmerksamkeit geschenkt werden. Der Interviewte weiß mehr
als der Interviewer, er entscheidet, was er von seinem
Wissen preisgibt. Der Interviewer hingegen kennt allein die Fragen, die er stellen wird, im Voraus. Dadurch
hat er die Möglichkeit seinen Gesprächspartner zum
Erzählen zu motivieren und so die Kommunikation
aufrecht zu erhalten. Der Interviewverlauf kann also
durch die Kunst des Fragens bestimmt werden.
In den folgenden Übungen geht es darum, Frageformen zu differenzieren und sich ihrer Wirkung auf
den Interviewten und seine Eignung für das narrative
Interview bewusst zu werden.
Übung 1: Diskussionen von Frageformen und ihren
kommunikativen Wirkungen
Material: Blatt zu Übungstypen
Zeit: 30 Min
Ablauf: Eine Reihe vorformulierter Fragen (dies können auch Fragen aus den Interviews der Teilnehmer
sein) werden einzeln durchgegangen und der Fragetypus bestimmt. Handelt es sich um eine Erzählaufforderung, eine Einstellungsfrage, eine Suggestivfrage
etc.?
Staatspräsident des sozialistischen Bulgariens von 1954 bis 1989. Am 10.
November 1989 wurde er zum Rücktritt gezwungen.
87
Unser Aufgabenbogen:
•
•
•
•
•
•
Denken Sie viel an Ceauşescu?
Wenn Sie an Ceauşescu denken, was empfinden Sie dabei?
Empfinden Sie Scham, wenn Sie heute an Ceauşescu denken?
Heute schämen Sie sich wahrscheinlich, wenn Sie an Ceauşescu denken?
Können Sie genauer beschreiben, was Sie empfinden, wenn Sie an Ceauşescu denken?
Erzählen Sie doch mal, wie haben Sie Ceauşescu zum ersten Mal auf der politischen Bühne wahrgenommen?
Ordnen Sie den Fragen die Fragetypen zu:
Erzählgenerierende Fragen
Erzählen Sie doch mal, wie war das damals, als Sie,… ?
Aufrechterhaltungsfragen
Wie war das für Sie? Können Sie das noch mal ausführlicher beschreiben? Erzählen Sie doch noch ein bisschen mehr darüber!
Wie ging das dann weiter? Und dann?
Steuerungsfragen
Können Sie ein Beispiel dafür nennen? Einführung neuer Themen:
Spielt auch … eine Rolle? Kommentierende Fragen/Deutungsangebote: Ich kann mir nicht vorstellen, dass… Vielleicht spielte
auch… eine Rolle?
Aufklärung bei Widersprüchen,
Selbstdarstellungen hinterfragen
Suggestivfragen
Vorhin haben Sie gesagt, jetzt klingt es eher, als ob … - ?
Glauben Sie etwa wirklich, dass…? Sicherlich denken auch Sie bei
dem Thema an… ?
Q: Cornelia Helfferich: Die Qualität qualitativer Daten. Manual für die Durchführung qualitativer Interviews. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften 2004, Kap. 3.5.
88
Wenn Sie an Ce ausescu denken, was empfinden Sie
dabei? - Eine Antwort aus einem Interview mit einer
Rumänin:
Ich habe ein Gefühl von Revolte, dass wir ihn so viele Jahre nur
Dummheiten haben machen lassen (lacht)… Und jetzt habe
ich sogar ein Gefühl von (zögert) ich weiß nicht, von … Mitleid, dass er erschossen wurde, dass sie beide so erschossen
wurden, aber auch von Ratlosigkeit. Ich weiß nicht, was ich
glauben soll, ob es eine Lösung gewesen wäre, sie am Leben
zu lassen. Vielleicht hätte man ihn nicht in diesem Moment
erschießen sollen, vielleicht wäre es nötig gewesen… ich weiß
nicht. Aber das sind wahrscheinlich viel zu subtile Dinge und
ich kann mir jetzt keine Meinung erlauben, ich weiß nicht. Mir
tut es leid, dass sie ihn an Weihnachten erschossen haben,
das schon, denn ich glaube man hätte auch noch etwas warten können, wenn schon,… Es tut mir leid, dass es so kam,
es hat sich alles mehr als ein Zirkus erwiesen, diese ganz Geschichte, ein dummes Spektakel, und es war nicht sehr, …
sehr gefühlvoll oder wirklich ernsthaft, andere Einflüsse haben
eine Rolle gespielt, ich weiß nicht, vielleicht bin ich jetzt nicht
in der Lage die richtigen Worte zu finden, um das, was ich
denke, zu konkretisieren, aber im Allgemeinen... tut es mir leid,
dass es so viele Menschenleben in jenem Moment gekostet
hat. Ich bin überzeugt, dass die ganze Wende viel, viel einfacher hätte sein können ohne dass so viele Menschen sterben mussten, darunter sehr viele junge Menschen und sehr
viele, die geglaubt haben an einen Wandel und .. das ist, das
ist nach meiner Meinung schlecht an diesem Moment.
Aurela P., Reisebüro-Inhaberin aus Bukarest, 51 Jahre alt
5
Aus einem Interview geführt von Valeska Bopp für ihr Dissertationsprojekt „Erinnerung
und Identität in der rumänischen Transformationsgesellschaft“ an der Universität Leipzig,
zum Zeitpunkt der Drucklegung dieses Buches noch nicht abgeschlossen. Der Name der
Befragten wurde geändert. (Übersetzung aus dem Rumänischen ebenfalls V.B.)
89
Übung 2: Formulieren von Nachfragen
Zeit: 20 Min
Material: Tonbandgerät oder Text als Vorlesetext,
Schreibmaterial
Arbeitsaufgabe: Sie hören eine Gesprächspassage.
Formulieren Sie im Anschluss eine Nachfrage.
Schreiben Sie dabei spontan auf, was Ihnen einfällt.
Denken Sie nicht lange nach! Es geht hier nicht um
richtig oder falsch.
Ablauf: Der Interviewanfang einer Lebensgeschichte
wird verteilt. Alternativ kann eine Interviewsequenz
auch auf dem Tonband vorgespielt werden. Die Gruppe wird in Kleingruppen eingeteilt, jede erhält Zettel
und Stifte.
Reflexionsphase: Die Zettel werden eingesammelt und
zur Ansicht präsentiert, z.B. durch sichtbares Ankleben
auf der Tafel. Es wird verglichen, auf welche Aspekte
des Textes reagiert wurde.
Anmerkung: Ziel der Übung ist das Einüben der
Mechanismen
des
Fremdverstehens.
Fragen,
die sich dem Hörer spontan stellen, helfen beim
Verstehensprozess. Diese Übung eignet sich auch für
den Unterricht, in dem viel zu oft Fragen vorgegeben
werden, anstatt die Lernenden Fragen entwickeln zu
lassen.
Übung 3: Vertiefung der Fragetechniken
Zeit: 40 – 60 Min.
Material: Ausgangstext, Papier, Stifte
Ablauf: Die TeilnehmerInnen erhalten dieselbe
Textpassage wie in Übung 2 auf einem Zettel und
werden in drei Gruppen geteilt. Ihre Aufgabe ist
es, diese Zeilen als Ausgangspunkt zu nehmen
und darauf aufbauend eine fiktive Biographie
zu entwickeln. Reihum werden diese erdachten
Unser Beispieltext zu Übung 2+3
„Das heißt, wann wurde ich geboren: Am 15. Juni
1955 in Bukarest. Mein Vater 1917, am 2. November. Er lebt nicht mehr, leider, er ist vor drei Jahren
gestorben und meine Mutter ist 1921 geboren, am
12. September. Mein Vater hatte mehrere Berufe
(lacht kurz): Erst war er Polizeikommissar, in den
1930er Jahren, dann hat er sich an der Medizinfakultät eingeschrieben, und im dritten Studienjahr
hat der Krieg angefangen und er ist in den Krieg
gezogen, und als er schon zurückkam (holt Luft),
konnte er nicht mehr weitermachen wegen (seufzt),
wegen des Regimewechsels. Der Regimewechsel
brachte auch diese Geschichte mit meinem Onkel
mit sich und die Folgen und - (bricht ab). Meine
Mutter hat das Lyzeum abgeschlossen und nach
dem Krieg, ebenso, nachdem sie das Lyzeum angefangen hat, ist der Krieg ausgebrochen und sie
hat nicht mehr weitergemacht nach dem Krieg.“
Aurela P., Bukarest, Inhaberin eines Reisebüros, 51
Jahre alt
Lebensgeschichten von einer anderen Gruppe erfragt,
während es der jeweils dritten Gruppe zufällt, die
Interviewer zu beobachten und ihre Fragetechniken
und deren Wirkungen auf den Interviewverlauf zu
analysieren. Deutlich werden soll vor allem, wie sehr
das Frageverhalten den Erzählgestus, die Bereitschaft
sich zu Erinnern, beeinflussen, lenken und steuern
kann.
Beobachtung: Dank den zu Beginn erarbeiteten
Zeitleisten, auf Grundlage der Informationen aus
6
90
Ebd.
den eigenen im Vorfeld geführten Interviews und
entsprechendem Hintergrundwissen waren die
Lebensgeschichten erstaunlich realitätsnah und
beinhalteten bestimmte für die Zeit spezifische
Momente
(hier
von
intellektuell-bürgerlichen
Familien), wie Enteignungen in der Frühphase des
Kommunismus, die Unfreiheiten in der Berufswahl,
die Auswirkungen von belastenden Securitate/StasiAkten für alle Familienmitglieder.
2.3 Die Kunst des Schweigens
In jedem Interview gibt es nicht nur Redeteile, sondern auch Momente, in denen der Interviewpartner
schweigt. Die Funktion dieser Pausen ist hier Thema.
Es bestehen folgende Möglichkeiten: Der Befragte
kann einen Themenabschluss mit Schweigen markieren, er kann nachdenken (wollen) oder aber er fühlt
sich unwohl.
Übung 4: Umgang mit Pausen
Ziel: Lernen, sich in der Person des Interviewenden
zurückzunehmen, den Erzählraum des anderen nicht
vorschnell mit Interventionen aufzufüllen, asymmetrische Rollenverteilung stützen (Interviewter soll möglichst alleine sprechen)
Zeit: Arbeit in Zweiergruppen, jede Gruppe erhält zwei
mal fünf Minuten. Anschließend Austausch in der
Gruppe. Zeit insgesamt: 20 Min.
Aufgabenstellung: Eine Person bekommt die Aufgabe,
zu einem freien Thema zu erzählen (Thema kann z.B.
die Erfahrung mit dem gemachten Interview sein oder
die Zufriedenheit mit dem Workshop).
Ablauf: Die erste Person fängt an zu erzählen, der/
die Partner/in erhält die Aufgabe zuzuhören. Immer
wenn die Erzählperson in ihrer Erzählung eine Pause
macht, soll der Interviewer eine Zeit von 10 Sekunden
verstreichen lassen, bevor er eingreift. Entweder hat
die Erzählperson schon vor Ablauf der 10 SekundenSpanne wieder eingesetzt, oder der Interviewer kann
jetzt eine Nachfrage stellen. Anschließend werden die
Rollen getauscht. Es erfolgt in der Großgruppe eine
Reflexionsgespräch, wie die beiden Rollen erlebt
wurden.
Beobachtung: Die Übung hat in unserem Workshop
gezeigt, dass Nachfragen meist nicht zustande kamen, da der Erzählprozess von selbst wieder einsetzt,
so lange beim Gegenüber nonverbal signalisiertes
Interesse besteht. Die Übung eignet sich auch, um
Zuhörkompetenz im Unterricht zu trainieren. (Auch
gerade für Lehrende: Sie sind meist nicht an Pausen
gewöhnt bzw. empfinden sie als unangenehme und
unproduktive Stille. Selbst bei notwenigen Pausen
nach einer Frage können wir oft nicht lange warten
und nehmen zu schnell Umformulierungen der Frage
vor oder beantworten die Frage vorschnell selbst, um
die Stille zu umschiffen.)
Sozialpsychologie und Gedächtnisforschung
Um zurück zu den Themenkomplexen Erinnerung und
Fakten, Erinnerung und Geschichte zu kommen, arbeiteten wir anschließend in Gruppen zu den folgenden
Themen: Erinnerung und Wahrheit, Erinnerung und Alter, Erinnerung und Generation (aus einem Aufsatz von
Harald Welzer (Welzer 2005).
Am Beispiel von Zeitzeugenerinnerungen an die nationalsozialistische Vergangenheit in Deutschland
wurde herausgearbeitet, dass Erinnerungen nicht immer wahr sind, sondern sich oft erst später formen,
wir eigene Erfahrungen vermischen können mit Er-
91
fahrungen anderer, die Ähnliches erlebten (aber nicht
dasselbe) oder Filmsequenzen, in denen Ähnliches
passiert oder bei uns dieselben Gefühle hervorruft, so
dass wir fremde Sequenzen in unsere Erinnerungen
unwissentlich einbauen. Des Weiteren identifizierten
wir altersspezifische Erinnerungsfähigkeiten, z.B. behaupten wir oft Erinnerungen an unser frühkindliches
Leben zu haben, die wir aber rein biologisch noch
nicht haben können, die uns aber durch wiederholte
Erzählungen unserer Eltern wie eigene Erinnerungen
vorkommen. Zum Aspekt Erinnerung und Generation wurde herausgearbeitetet, dass sich letztlich jede
Generation an das erinnert, was für ihre eigene Identität besonders wichtig ist. Während Großeltern möglicherweise recht offen – hier das Beispiel Nationalsozialismus – antisemitische Haltungen preisgeben,
beschönigen die Enkel später diese Aspekte, oft nicht
einmal bewusst. Die historisch erlebte Zeit ist damit
keineswegs deckungsgleich mit der zurückerinnerten
Zeit, die im Nachhinein ausgeschmückt und weitergeschrieben wurde, im Rückblick neu sortiert und aus
der Gegenwart heraus bewertet und ins rechte Licht
gerückt wird.
Dass die damalige sozialistisch bestimmte Lebenswelt
heute als einfacher beschrieben wird, erscheint dann
als plausibel, wenn man bedenkt, dass den Menschen
unter Umständen die jetzigen Lebensverhältnisse
noch nicht so vertraut sind.
Ein besonderes Phänomen beim Erinnern sind die
von Gedächtnisforschern so genannten FMs, Flashbulb Memories, Erinnerungen, die sehr detailliert und
lebendig hervorsprudeln, und auch nach langer Zeit
noch so wiedergegeben werden können, als hätte die
sich erinnernde Person das Ereignis erst am vorangegangenen Tag erlebt. Diese Erinnerungen werden
92
so genau eingespeichert, weil sich persönliche Umstände mit einem historischen Ereignis kreuzen. Wir
erinnern uns an die genaue Situation, in der wir von
Prinzessin Dianas Tod erfahren haben, vom Fall der
Berliner Mauer oder was wir gemacht haben, als wir
vom Zusammensturz der Twin Towers in New York am
11. September 2001 gehört haben. Gedächtnisforscher gehen aber davon aus, dass sich diese Erinnerungen nicht in diesen ersten Sekunden und Minuten
so genau einprägen, sondern erst in dem Moment,
in dem sich das Ereignis wirklich als relevant für die
Gesellschaft abzeichnet. Auch kann man von der Lebendigkeit der Erinnerung nicht automatisch auf die
Richtigkeit aller Details schließen, da über ein einschneidendes Ereignis in der direkten Folge so viel
gesprochen und berichtet wird, dass sich sehr früh
„Fehler“ einschleichen können. Nichtsdestotrotz zeigt
uns die Art dieser Erinnerung, dass wir es mit einem
besonders bedeutsamen Ereignis zu tun haben.
Für die Sensibilisierung für dieses Phänomen haben
wir im Workshop nach der Erinnerung der TeilnehmerInnen an den „11. September“ gefragt und ihre
Ausführungen anschließend erörtert. Im Kontext unserer Interviews ließ sich diese Art des Erinnerns mit
dem Fall der Berliner Mauer und der rumänischen
Revolution in Verbindung bringen (s. im Anschluss
abgedrucktes Interview, das zwei Teilnehmerinnen
führten).
Fazit: Was bringt die Arbeit mit narrativen
Interviews im Unterricht?
Lebensgeschichtliche Interviews als Bestandteil des
landeskundlichen Geschichtsunterrichts sind eine
lohnenswerte Herangehensweise an geschichtliche
Inhalte, denn sie zeigen deutlich, wie sehr sich historische
Fakten und Erinnerungen voneinander unterscheiden
können, wie sehr Geschichtsschreibungen und
erlebte Geschichte auseinander klaffen können. Doch
gleichzeitig kann der Geschichtsunterricht in Osteuropa,
der Kenntnisse oft immer noch sehr traditionell im
Sinne von faktengeleiteten und datenbasiertem Wissen
vermittelt, über die Beschäftigung mit der Oral History
in seinen starren Methoden aufgebrochen werden.
Studierende können so einen persönlichen Bezug
zum Thema finden, gleichzeitig wird der Unterricht
kommunikativer.
Der Workshop sollte den TeilnehmerInnen zeigen, wie
viel man aus Interviews lernen und erfahren kann und in
welchem Spannungsverhältnis sie zur „Wahrheit“ (den
„Fakten“) stehen (können). Die Relevanz der Aussagen
liegt demnach weniger in der Datengenauigkeit als
vielmehr in der persönlichen oder gesellschaftlichen
emotionalen Bedeutsamkeit bestimmter Ereignisse.
Der subjektive Zugang zur Geschichte ermöglicht
uns zu erfahren, was die fortlaufende Konstruktion
der Identität bedeutet – eine permanent andauernde
Umschreibung der Geschichte. Letztendlich wird sich
(positiv wie negativ) besonders an das erinnert, was für
die jeweilige Generation zur Konstruktion ihrer Identität
wichtig ist.
Helfferich, Cornelia (2005): Die Qualität qualitativer Daten. Manual
für die Durchführung qualitativer Interviews. 2. Aufl. Wiesbaden.
Pennebaker, James W., Becky L. Banasik (Hrsg.) (1997): On the
Creation and Maintenance of Collective Memories: History as Social Psychology. Mahwah, New Jersey.
Preda, Cristian (2000): Zehn Illusionen – zehn Jahre danach. In:
Anghelescu, Mircea und Larisa Schippel (Hrsg.): Im Dialog: rumänische Kultur und Literatur. Leipzig, S. 15-21.
Welzer, Harald (2005): Kriege der Erinnerung. In: Gehirn und Geist
(Magazin für Psychologie und Hirnforschung) Nr. 5. S. 40-46.
Welzer, Harald (2002): Das kommunikative Gedächtnis. Eine Theorie
der Erinnerung. München.
Welzer, Harald (Hrsg.) (2001): Das soziale Gedächtnis. Geschichte,
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Literatur:
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Cesereanu, Ruxandra (2004): Deconstrucţia unei revoluţii [Dekonstruktion einer Revolution]. Iaşi: Polirom.
Gabanyi, Anneli Ute (1998): Systemwechsel in Rumänien. Von der
Revolution zur Transformation. München.
93
Die Revolutionsereignisse in Bukarest 1989 in der Erinnerung
Zeitzeugeninterview
Interviewpartner: Radu Surdulescu
68 Jahre alt, Englischprofessor an der Universität Bukarest
Herkunftsort: Drobeta Turnu-Severin, Rumänien
Dauer des Interviews: ca. eine Stunde
Ort: Haus des Interviewten
Atmosphäre: Am Anfang ein bisschen angespannt, alle waren aufgeregt, aber mit der Zeit
ist es immer lockerer geworden. Wir haben nur
wenige Leitfragen gestellt, und dann erzählte er
ausführlich über seine Erinnerungen.
Interviewer: Ana-Raluca Ilie und Miruna
Raceala-Motoc, 3. Studienjahr Politehnica
Bukarest, deutschsprachiger Studiengang für
Wirtschaftsingenieurwesen
Übersetzung ins Deutsche: Ana-Raluca Ilie
94
Was bedeutet das Jahr 1989 für dich?
Natürlich bedeutet das Jahr 1989 und insbesondere
der Monat Dezember die Revolution, die mein ganzes
Leben, das Leben meiner Familie und der rumänischen
Gesellschaft radikal verändert hat. Und vielleicht ist sie
eines der bedeutendsten Ereignisse unseres Lebens.
Was für Gefühle erweckt dieses Jahr in dir?
Was habe ich gefühlt? Sehr gemischte Gefühle, aber
im Allgemeinen das Empfinden, das man vor einem
lebensändernden Ereignis hat; dieses Ereignis hat das
Leben aller Menschen getroffen: verbessert oder verschlechtert.
Wie hast du vorher gelebt?
Zum einen war die Bevölkerung seit November 1989
in einem sehr starken Wartezustand. Das gilt wohl für
alle Menschen, wie auch für mich persönlich und meine Familie. In allen Ländern um uns fielen alle kommunistischen Regime um. Eins nach dem anderen
wie Kegel. Wie in einem Dominospiel. Bulgarien und
Deutschland waren extrem wichtig – am wichtigsten
war Deutschland. Aber wir erfuhren all das nicht aus
unseren TV-Sendungen oder Radiosendungen, sondern vom Radio Europa Liberă (Freies Europa), das
jeder hörte. Wir hatten mit Transistoren oder mit Strom
versorgte Radiogeräte für Kurzwellen. Heutzutage hört
man fast überhaupt nicht mehr mit Kurzwellen. Damals
hörte jeder fast jede Nacht Radio Europa Liberă. Wie
ich sagte, es war ein außerordentlicher Wartezustand:
Neugier für einige Menschen, Ungeduld für andere,
dass vielleicht auch bei uns etwas geschehen würde.
Aber nichts geschah, das Land war komplett eingefroren. Ich ging zur Arbeit. Wir durften mit niemandem
über irgend etwas sprechen. Aber wir flüsterten. Man
sagte, Rumänien sei das Land der Flüsterer. So sagte
man damals. Am Montag, am 18. Dezember, als ich
vom Gymnasium, wo ich unterrichtete, wegging – damals war ich Gymnasiallehrer – erfuhr ich von einem
Kollegen, dass es in Timişoara eine große Demonstration gab und starken Aufruhr. Menschen wurden von
den Polizisten getötet.
Am 17. Dezember dauerten die Radiosendungen nur
ein paar Stunden. Aber ab Montag den 18. wurden sie
Tag und Nacht ausgestrahlt. Wir hörten von den Ereignissen des vorigen Tags in Timişoara, von der Manifestation gegen Ceauşescu und dass man aus mehreren
Richtungen auf Leute geschossen hat. Also direkt mit
Kriegskugeln und -munition. Es gab Tote: Tote auf den
Straßen, Tote im Krankenhaus und so weiter.
Am Mittwoch kam meine Cousine Dorina zu uns und
1
Radio Free Europe: sendete von München in jeweiliger Landessprache in die
osteuropäischen Länder mit dem Ziel, Informationen aus westlicher Perspektive zugänglich zu machen.
erzählte, dass Verwandte aus Timişoara angerufen
und ihr sagt hatten: „Wir sind eine freie Stadt!“
Es war sehr schwierig, mit Timişoara zu telefonieren.
Man konnte kaum die Verbindung aufrecht halten. Das
Telefonat wurde unterbrochen. Genau nach dem Stichwort „Wir sind eine freie Stadt“ wurde die Verbindung
unterbrochen. Erst später haben wir erfahren, was sie
uns sagen wollte: Die Armee war jetzt auf der Seite
des Volkes. Offizielle Personen waren auf die Balkone
des Opernhauses getreten. Aber zu jener Zeit habe ich
noch nichts verstanden.
Am Mittwoch sollte es im Fernsehen eine wichtige Bekanntmachung geben Bei uns war gerade eine andere Cousine zu Besuch. Am Abend habe ich sie zum
Nordbahnhof begleitet. Weil diese wichtige Bekanntmachung von Ceauşescu und dem Generalsekretär
erfolgte, habe ich ein Radiogerät mit Transistoren
mitgenommen. Es war ein „Mamaia“, wenn ihr euch
erinnert. Es waren solide Geräte mit Transistoren oder
Akkus, mit denen man auch in der Stadt Radio hören
konnte. Ich habe sie zum Bahnhof begleitet und dort
war ein Haufen Menschen, die nach Bukarest kamen
oder abreisten. Es war kurz vor den Weihnachtsfeiertagen. Und alle hatten Taschen und Tüten voll Essen.
Damals konnte man nichts in den Läden finden, nur
über Bekannte.
Alle Menschen schauten nur auf den Boden. Nichts
geschah in diesem Land. Aber zugleich wusste ich,
dass Timişoara auf eine gewisse Weise unabhängig
von Bukarest war. Und ich erinnere mich: Ich habe das
„Mamaia“ Gerät eingeschaltet, als ich noch am Nordbahnhof war. Ich habe es in einer Tüte versteckt und
ich hörte sehr leise zu, damit man nicht auf mich aufmerksam wurde. Ich hörte Ceauşescus Stimme. Ich
hörte, dass er einen Notstand erklärte, dass Banditen
95
in Timişoara zugange waren und es dort Irredentisten
gab, das bedeutete Ungarn, die das Land ruinieren
wollten. Sehr verwirrt bin ich nach Hause gegangen.
Alle Menschen schauten nur nach unten und nichts
geschah. Auch am Mittwochabend nichts. Aber es
war nicht mehr lange bis zur Versammlung vom 21.
Dezember.
Am Donnerstagmorgen, den 21. Dezember, war ich
äußerst angespannt. Der Rest des Landes bewegte
sich nicht. Timişoara war der einzige Ort im Land, wo
sich etwas bewegte. Ich hatte begonnen zu arbeiten.
Damals hatte ich einen Vertrag bei einem Verlag. Bis
Mittags hatte ich kein Radiogerät eingeschaltet. Als ich
später auf die Straße ging, habe ich unten
den Verwalter des Blockes getroffen. Er
war Kommunist und in diesen Tagen war
er sehr nervös.
„Herr Surdulescu, haben Sie gehört, was
los ist?“
„Ich habe nichts gehört. Was ist geschehen?“
„Man schießt am 23. August.“
„Was bedeutet man schießt? Wer?“
„Die Polizei! Wissen Sie nichts davon? Im
Zentrum gibt es große Unruhen. Es ist Revolution!“
Ich war wie erstarrt. Die ganze Zeit hatte ich nur übersetzt. Und ich hatte nichts von all dem mitbekommen.
All das musste ich von einer fremden Person erfahren,
meinem Nachbarn. Wie verrückt bin ich in die U-Bahn
eingestiegen und ins Zentrum gefahren. Ich ging gewöhnlich sehr oft ins Zentrum. Aber diesmal bekam
ich einen echten Schock. Der Boulevard Magheru war
nicht mehr zu erkennen. Der ganze Boulevard war ein
2
96
Ein Platz in Bukarest.
Kriegsfeld. Militär, Panzer, Menschen, aber weder Autos noch Busse wie sonst. Nur Menschen in Panik, die
auf dem Gehsteig schlichen in die eine oder die andere Richtung. Ich ging zu Fuß zum Hotel Intercontinental und habe dort die erste große Menschenmenge
gesehen. Alle redeten von Jugendlichen, die getötet
worden waren. Wie das geschah, das habe ich nicht
verstanden. Niemand sprach mit niemandem. Man
sprach höchstens mit einem Freund, wenn man sicher
war allein zu sein. Man sprach nie mit Unbekannten.
Es war Freitag, der 22. Dezember, der Revolutionstag.
Was habe ich an diesem Tag gemacht? Ich habe die
ganze Nacht Radio gehört, das uns permanent berichtete, was geschah. Vor dem Hotel Intercontinental
befanden sich noch ausländische Korrespondenten, die dort filmten. Und alle Leute brannten vor Neugier.
Und alle schauten TV in diesen Momenten,
aber von unserer Seite wurde nichts ausgestrahlt: es gab dasselbe zweistündige
Programm mit Ceauşescu und seinen
Parteisitzungen, als ob nichts geschehen
wäre. Und er hatte doch gesagt, es komme
zum Notzustand wegen der Ereignisse in
Timişoara. Alle hatten die ganze Nacht mit Radio Europa Liberă verbracht.
Nach dem Notstand gab es nichts mehr auf der Straße
außer der Armee. Was konnte man in dieser Situation
noch tun? Aber dann kam meine Cousine Doina, die
zwei Blöcke entfernt wohnt und sagte: „Schaut auf die
Straße!“
Der ganze Boulevard Mihai Bravu war voll. Ich hatte
eine Einkaufstasche mitgenommen. Es war eine solide Einkaufstasche, nicht wie diese aus Plastik von
heute. Wie naiv von mir! Denn ich dachte, falls ich verhaftet werde, sage ich, ich bin nur zum Markt gegangen. Es war die schlechteste Tasche,
die ich im Haus hatte. Natürlich war das total naiv. Aber
als ich auf die Straße ging,
war alles voller Menschen. Ich
bin mit dieser großen Menge
Menschen, die immer weiter
wuchs, zusammengegangen.
Ich erinnere mich, dass in den
Blöcken Menschen waren, die
uns winkten oder Taschentücher hochhielten, um den Menschen Mut zu machen.
Wir riefen: „Kommt mit! Bleibt nicht dort! Bleibt nicht
auf den Balkons!“ Die Leute riefen: „Kindermörder“.
Man sagte, in Timişoara wurden vor allem junge Leute
ermordet. Auch hier war die Mehrheit der Menschen
jung. Man sah keine Alten. Man rief „Nieder mit dem
Schuhmacher! Nieder mit der Analphabetin!“ Wir sind
ins Zentrum durchgekommen und ich habe die ersten
Losungen gesehen, die mit Farbe geschrieben waren. Ich fand das merkwürdig und habe mich dumm
gefragt: Wie sind die wohl an die Farbe gekommen?
Denn bei uns konnte man überhaupt keine Farbe finden. Man bekam das nicht in den Läden, man musste
das von der Fabrik besorgen.
Wir sind noch ein Paar Schritte in die Richtung Oneşti
Straße gegangen und zum Zentralen Komitee gekommen. Ihr wisst, da ist jetzt der Revolutionsplatz. Und
wir sahen dort schon junge Leute an den Fenstern.
Nach zwei oder drei Minuten war ich mitten auf dem
Platz, da habe ich einen Hubschrauber gesehen, der
vom Gebäude des zentralen Komitees gerade abflog. Ich wusste nicht, wer drin war und was geschah.
Aber wir begannen zu vermuten, dass es sich um
Ceauşescu und seine Leute handelte.
Es gab noch zwei Hubschrauber dort und einen Lastkraftwagen mit Fernsehlautsprecher mitten auf dem
Platz. Ich sah, wie die Menschen das Gebäude des
zentralen Komitees gestürmt haben. Ich war nah genug, aber ich bin nicht reingegangen. Es gab zu viele
Menschen. Ihr könnt euch das
nicht vorstellen: ein Ozean von
Leuten, alle Straßen waren so
voll, man wurde fast erdrückt.
Viele junge Menschen warfen Gemälde, Bücher, Stühle, alles, was man sich nur vorstellen kann aus den Fenstern. Und sie sind auf die
Balkone gegangen und schwenkten die Fahnen. Die
rumänische Flagge mit dem Loch in der Mitte, die berühmte Revolutionsflagge.
97
Menschenrechte in Rumänien –
Sind die Voraussetzungen für einen Beitritt zur EU gegeben?
Tobias Schulmann
Einleitung
Die Kooperation zwischen der Europäischen Union
und den post-kommunistischen Staaten Mittel- und
Osteuropas kann heute auf eine relativ lange und weitgehend erfolgreiche Tradition zurückblicken. Viele dieser Staaten sind bereits in die Europäische Union (EU)
integriert oder eng mit ihr assoziiert. Im kommenden
Jahr sollen zwei weitere Staaten, namentlich Rumänien und Bulgarien, der Union beitreten.
Die Notwendigkeit der Integration der Länder Mittelund Osteuropas wurde bereits im Jahre 1963 von Robert Schuman mit äußerster Klarheit festgehalten:
„Nous devons faire l’Europe non seulement dans l’intérêt des peuples libres, mais aussi pour pouvoir y recueillir les peuples de l’Est qui, délivrés des sujétions
qu’elles ont subies jusqu’à présent, nous demanderaient leur adhésion et notre appui moral.“
1
vgl. beispielsweise Fejérdy (2005: 8). Deutsche Übersetzung: „Wir müssen
Europa nicht nur im Interesse der freien Völker aufbauen, sondern wir müssen
auch imstande sein, die Völker des Ostens willkommen zu heißen, wenn sie
uns eines Tages um Aufnahme bitten werden.“
98
Auch wenn Bulgarien und Rumänien seit dem Fall des
Eisernen Vorhangs und dem Untergang des Kommunismus beachtliche Fortschritte in Richtung Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und einer freien Marktwirtschaft gemacht haben, stehen nicht nur Politiker,
sondern auch verschiedene Nichtregierungsorganisationen dem Beitritt der Länder zur Europäischen Union
mit großer Skepsis gegenüber. Einwände gegen einen
möglichen Beitritt auf Grundlage von makroökonomischen Analysen sollen an dieser Stelle gar nicht weiter untersucht werden – Inhalt dieses Beitrags soll es
sein, den vielfach kritisierten Menschenrechtsschutz
in diesen Ländern am Beispiel Rumäniens genauer zu
beleuchten. Aufgrund des begrenzten Umfangs des
Aufsatzes kann im Folgenden nicht auf die historische
Entwicklung von Menschenrechten in Rumänien und
der EU eingegangen werden. Vielmehr möchte ich direkt mit der Untersuchung der heutigen Situation zuerst in der EU, dann in Rumänien, beginnen.
Vor einer Analyse der Fragestellung ist es zunächst
notwendig, eine umfassende Definition des Menschenrechtsbegriffs anzuführen, welche der Untersu-
chung zugrunde gelegt wird.
„M. sind die angeborenen unveräußerlichen Rechte
eines jeden Menschen, die die moralische und rechtliche Basis der Menschheit bilden. Sie sind vor- und
überstaatlich, d.h. höher gestellt als die Rechte des
Staates. Sie können daher auch nicht von diesem verliehen, sondern nur als solche anerkannt werden. Zu
den M. gehören: 1) die sog. liberalen Verteidigungsrechte [...]; 2) die sog. demokratischen und sozialen
Rechte [...].“ (Klein/Schubert 2005: 195).
Da Menschenrechte demnach höher gestellt sind als
einzelstaatliches Recht, sind ihr Schutz und ihre Anerkennung von besonderer Bedeutung. Welcher Stellenwert auf der politischen Agenda dem Schutz der
Menschenrechte heute zugemessen wird, soll auf den
nächsten Seiten analysiert werden.
Menschenrechte in der EU
Vor allem dem Europarat gebührt Anerkennung für
den stetigen Ausbau des Menschenrechtsschutzes
in Europa seit 1950. Der Begriff des Menschenrechts
rückt allerdings auch in der EU selbst immer stärker
in den Mittelpunkt, können doch Länder ohne ausreichenden Schutz der Menschenrechte formell nicht in
die Union aufgenommen werden. Ich möchte daher
die Bedeutung, die dem Menschenrechtsschutz in
der EU zukommt, hier näher analysieren und auch der
Frage auf den Grund gehen, ob die Achtung der Menschenrechte wirklich ein Aufnahmekriterium für die EU
ist, oder ob dieses Argument nur vorgeschoben wird.
Menschrechte in den Verträgen
Die heutige Rechtsgrundlage der Europäischen Union stellt der Vertrag von Nizza dar, welcher im Jahre
2002 beim Europäischen Rat in Nizza unterzeichnet
wurde und im Jahre 2003 in Kraft trat. In ihm enthalten
sind verschiedene Änderungen der vorangegangenen
Verträge. Dadurch wurden von den Mitgliedsländern
folgende Ziele verfolgt:
•
•
•
den „Prozess der europäischen Integration auf
eine neue Stufe zu heben“ (Läufer 2004: 24),
„die Stärkung und Konvergenz ihrer Volkswirtschaften herbeizuführen“ (Läufer 2004: 25)
sowie (unter anderem) die „Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten und der Rechtsstaatlichkeit“ (Läufer 2004: 24) zu einem zentralen
Prinzip zu machen.
An dieser Stelle endet der Bezug zu Menschenrechten
allerdings schon fast, findet sich doch lediglich eine
weitere wörtliche Nennung im Bereich der wirtschaftlichen, finanziellen und technischen Zusammenarbeit
mit Drittländern (Europäische Gemeinschaften 2001:
20). Der Menschenrechtsschutz scheint also mehr außenpolitischer als innenpolitischer Natur zu sein.
Die Europäische Union kann seit dem Vertrag von
Nizza auf eine rasante Entwicklung zurückblicken:
So sind im Jahre 2004 zehn europäische Länder ein
Teil der Union geworden, zwei weitere sollen 2007 folgen. Dadurch bedingt scheint eine Reform der bestehenden Verträge unausweichlich, will die EU auch in
Zukunft nicht an Handlungsfähigkeit und politischer
Glaubwürdigkeit verlieren. Zu diesem Zweck wurde
der Versuch gestartet eine eigene Verfassung für die
Union zu gestalten, welche den Erfolg der Integration
auch in den nächsten Jahren sicherstellen soll.
Obwohl die Ratifizierung des Vertragswerkes in eini-
99
gen Mitgliedsstaaten scheiterte, stellt sich durch
seine bloße Existenz die Frage, inwiefern EU-weiter
Menschenrechtsschutz in dem Entwurf eine Rolle
spielt. Als erstes Vertragswerk der Europäischen
Union beinhaltet der Verfassungsentwurf eine ganze Reihe von Referenzen zur Achtung der Menschenrechte. So definiert der Vertrag: „Die Werte,
auf die sich die Union gründet, sind die Achtung
der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte;
diese Werte sind allen Mitgliedsstaaten in einer
Gesellschaft gemein [...].“ (Läufer 2006: 34)
Mit der Verfassung tritt die Europäische Union zudem der Europäischen Konvention zum Schutze
der Menschenrechte und Grundfreiheiten bei und
erkennt diese Rechte als allgemeine Grundsätze
des Unionsrechts an. Daneben bleibt die Förderung des Menschenrechtsschutzes auch im Verfassungsentwurf erklärtes außenpolitisches Ziel
der Union und erstmalig wird auch die Charta der
Grundrechte der Union, welche am 07. Dezember
2000 in Nizza proklamiert wurde, Teil des expliziten Primärrechts der EU (vgl. Europäische Gemeinschaften 2004).
Primärrechtlich betrachtet scheint den Menschenrechten (deren Entwicklung erst durch ausreichenden Grundrechtsschutz sichergestellt werden
kann) (vgl. Balibar 2005) mit dem Verfassungsentwurf eine weitaus größere Bedeutung zugemessen
zu werden, als dies noch heute der Fall ist. Es muss
allerdings beachtet werden, dass der Verfassungsentwurf eben nicht ratifiziert wurde und somit momentan nicht mehr als eine Willensbekundung darstellt.
100
Menschenrechtsverletzungen in der EU
Der Menschenrechtsschutz genießt in der EU, wie sie
heute besteht, primärrechtlich betrachtet nicht den
Stellenwert, der ihm durch den Verfassungsentwurf
zukommen würde oder den er in den Verfassungen
vieler Mitgliedsstaaten der Union findet. Dies mag
zwar vielfach mit der Auffassung kollidieren, dass der
Schutz von Menschenrechten ein zentrales Prinzip der
Europäischen Union ist – bei näherer Betrachtung erscheint diese Auffassung allerdings vielmehr als Resultat der Bedeutung des Menschenrechtsschutzes in
den einzelnen Mitgliedsstaaten der EU und nicht aus
unionsweit geltendem Recht abgeleitet zu sein. Um
dies zu zeigen, sollen hier die Berichte von zwei international agierenden Menschenrechtsorganisationen
– amnesty international (ai) und Human Rights Watch
(HRW) – in Bezug auf Menschenrechtsverletzungen
innerhalb der Union selbst untersucht werden.
Selbst im Jahre 2006 füllten Berichte über Menschenrechtsverletzungen in der EU gleich jeweils mehrere
Seiten in den Veröffentlichungen beider Organisationen. Hierbei sollen nicht nur Verstöße der Union als
Ganzes in Betracht gezogen werden, sondern auch
die Vielzahl von Menschenrechtsverletzungen einzelner Mitgliedsstaaten. So eröffnete HRW ihren Bericht
zu Menschenrechtsverletzungen der EU wie folgt: „In
matters such as migration and asylum, and counterterrorism, common E.U. approaches [...] continue
to reflect a tendency to circumvent international human rights obligations.“ (Human Rights Watch 2006b:
352)
Auch ai kommt zu einer ähnlich negativen Bewertung
der Menschenrechtssituation in der Europäischen
Union und kritisiert das Scheitern der Referenden
zur Annahme des Verfassungsentwurfs: „[...] the EU
continued to have a minimalist concept of its domestic human rights role. Adoption of the EU’s constitutional treaty, incorporating its Charter of Fundamental
Rights, stalled after rejection by voters in two member
states.“ (amnesty international 2006)
Um der Frage nachzugehen, wie Menschenrechtsverstöße in der Europäischen Union konkret aussehen, sollen an dieser Stelle exemplarisch einige durch
Menschenrechtsorganisationen identifizierte Problemfelder skizziert werden. Dabei rücken hauptsächlich Maßnahmen, die unter das (anscheinend beliebig
auslegbare) Stichwort der Terrorismusbekämpfung
fallen, immer stärker in den Vordergrund. Auch wenn
sich Kritik besonders gegen einzelstaatliche Bestimmungen richtet (als Beispiel sei hier auf neue Gesetze
in England oder Italien verwiesen), so wäre nach
Meinung der Menschenrechtsorganisationen die vermutete Verwicklung der EU in menschrechtswidrige
Internierungspraktiken der USA durchaus als schwerwiegende Verletzung der Menschenrechte anzusehen,
sollte sich dieser Verdacht bewahrheiten. Nichtsdestotrotz halten sich Berichte über konkrete Verstöße gegen international akzeptierte Menschenrechte
durch die Europäische Union selbst in Grenzen. Im
Dezember 2005 veröffentlichte amnesty international
einen Bericht zu widerrechtlichen Abschiebepraktiken
in Bezug auf illegale Einwanderer. Kritisiert wird, dass
die EU „ihren Verpflichtungen [...] verfolgten Menschen
Aufnahme und Schutz zu gewähren“ (Allenberg 2005)
nicht nachkommt. Vielmehr favorisiert die Union laut ai
eine Abschottung gegenüber der Einwanderung durch
Rücknahmeabkommen mit Ländern wie Marokko, Libyen oder Algerien – Länder aus denen nahezu täglich
neue Menschenrechtsverletzungen bekannt werden.
2
Aktuelle Informationen bspw. unter http://hrw.org/countries.html
Auffällig ist, dass sowohl HRW als auch ai einen
großen Teil ihrer Berichterstattung über die EU auf
außenpolitische Themen beschränken – so beispielsweise die Behandlung von Drittstaaten in denen Verletzungen der Menschenrechte bekannt sind. Dies
wirft die Frage nach der Notwendigkeit einer innenpolitischen Ausrichtung der Menschrechtspolitik der EU
auf. Verstöße gegen das Menschenrecht beispielsweise durch neue Gesetze in England oder Italien stellen
gegebenenfalls Fälle für einzelstaatliche Gerichte oder
die Europäische Kommission für Menschenrechte,
bzw. den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte dar, müssen aber nicht eigens auf Unionsebene
untersucht werden. Solche Kritik erscheint erst dann
gerechtfertigt, wenn konkrete Menschenrechtsbestimmung Teil des EU-Rechts werden (wie im Verfassungsentwurf vorgesehen) oder wenn die Union aktiv
durch ihren Besitzstand Menschenrechtsverletzungen
erlauben würde.
Menschenrechtsschutz als Beitrittsbedingung
Um Mitglied der Union zu werden, müssen Beitrittsländer die in Artikel 6 Absatz 1 des Vertrags über die Europäische Union (EUV) festgelegten Grundsätze „der
Freiheit, der Demokratie, der Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten sowie der Rechtsstaatlichkeit“ (Läufer 2004: 27) achten und die so genannten
Kopenhagener Kriterien erfüllen, welche unter anderem in politischer Hinsicht die Achtung der Menschenrechte und den Schutz von Minderheiten beinhalten.
Angewendet auf den konkreten Fall der Erweiterung
der EU im Jahre 2004 um zehn Staaten Mittel- und
Osteuropas, scheint dieser Grundsatz an Glaubwürdigkeit zu verlieren. Zu diesem Thema veröffentlichte
ai im Mai 2004 einen Report, der die Menschenrechts-
101
lage in den Beitrittsländern durchaus kritisch betrachtete: „Für die neuen Mitgliedsstaaten war der Schutz
fundamentaler Rechte ein entscheidender Aspekt des
Beitrittsprozesses, während dessen genau geprüft
wurde, ob und wie weit ihre Rechtssysteme und deren
praktische Anwendung mit den EU-Normen übereinstimmten. Auf dem Papier gilt dies nun als erfüllt, aber
ganz offensichtlich gibt es immer noch erhebliche Probleme in weiten Bereichen der Justizverwaltung und
die Diskriminierung von Minderheiten, insbesondere
der Roma, bleibt eine schmerzliche Realität.“ (Oosting
2004)
Neben den bestehenden Problemen, bzw. „Defiziten“,
drängt sich der Grundsatz der Union „alle Mitgliedsstaaten sind gleich“ in den Vordergrund. Demnach ist
die Überprüfung der Achtung der Menschenrechte mit
dem Beitritt zur EU abgeschlossen – nachfolgende Berichte der Kommission existieren nicht.
Für sich genommen ist ein Widerspruch erkennbar
– fordert die EU die Achtung der Menschenrechte bei
Aufnahme, so wird dies nach einem Beitritt zur EU nicht
weiter kontrolliert, bzw. beachtet. Menschenrechtsorganisationen berichten noch heute über Verstöße gegen Menschenrecht in fast allen Mitgliedsstaaten der
EU. Die bereits angesprochene Frage, ob eine solche
Kontrolle auf Unionsebene überhaupt notwendig ist,
ist wahrscheinlich nur nach intensiver Auseinandersetzung mit dem Selbstverständnis der Europäischen
Union zu beantworten, bzw. mit der Beantwortung der
Frage nach der Bedeutung des Europarats. Im Kontext dieser Arbeit scheint deshalb die Frage, ob sich
die EU bei einem nicht oder nur unzureichend gegebenen internen Menschenrechtsschutz, die Achtung
der Menschenrechte als Aufnahmekriterium überhaupt
3
102
Informationen bspw. unter http://www.hrw.org/doc/?t=europe
erlauben kann, viel interessanter. Diese Frage soll im
abschließenden Fazit näher betrachtet werden.
Menschenrechte in Rumänien
Nach der Analyse des Stellenwerts des Menschenrechtsschutzes in der Europäischen Union soll die
aktuelle Lage in Rumänien portraitiert werden. Mit
dem Ende des Kommunismus in Rumänien, bzw. mit
der Aussicht auf einen EU-Beitritt sollten starke Fortschritte in Rumäniens Menschenrechtspolitik zu erwarten sein. Ob und inwiefern der heutige Menschenrechtsschutz in Rumänien mit den Anforderungen der
EU vereinbar ist, soll abschließend beantwortet werden.
Menschenrechtsschutz in Rumänien
Die Verfassung Rumäniens wurde im Jahre 1991
verabschiedet und in 2003 durch das „Legea de revizuire a Constiţuiei României“, also das Gesetz zur
Revision der Verfassung vervollständigt (vgl. Camera
Deputăţilor 2006). Sie stellt in Artikel 20 Absatz 2 internationale Menschenrechtsverträge höher als rumänisches Recht und garantiert deren Einhaltung:
„Where any inconsistencies exist between the covenants and treaties on fundamental human rights
Romania is a party to, and internal laws, the international regulations shall take precedence.“ (Camera
Deputăţilor 1991: 190).
Auffällig ist allerdings, dass durch die Verfassungsänderung in 2003 der Zusatz „unless the Constitution
or national laws comprise more favourable positions“
(Camera Deputăţilor 2003: 2) hinzugefügt wurde. Wie
auch immer diese „günstigeren“ Bedingungen aussehen, bleibt nicht definiert – es kann also durchaus
von einer Aufweichung des Stellenwerts des Menschenrechtsschutzes in Rumänien gesprochen wer-
den. Rumänien hat am 20. Juni 1994 die Europäische
Konvention zum Schutze der Menschenrechte und
Grundfreiheiten ratifiziert (vgl. European Court of Human Rights 2006a), achtet die Allgemeine Erklärung
der Menschenrechte der Vereinten Nationen, hat das
Statut des internationalen Strafgerichtshofs sowie die
UN-Frauenrechtskonvention und das Zusatzprotokoll
ratifiziert (vgl. amnesty international Deutschland 2006;
Office of the UNHCHR 2006). Sieht man also von der
Verfassungsänderung 2003 ab, die selbst heftiger Kritik
ausgesetzt werden kann, so scheint die Achtung von
Menschenrechten in Rumänien an internationale Verträge gebunden zu sein und somit ein ausreichendes
Niveau erreicht zu haben, sofern ein „ausreichendes
Niveau“ überhaupt existiert. Es ist allerdings anzumerken, dass noch im Jahre 2005 knapp 4000 Menschenrechtsbeschwerden gegen Rumänien bei der Europäischen Kommission für Menschenrechte eingegangen
sind – in 33 gesprochenen Urteilen wurden 21 Brüche
des Menschenrechts festgestellt. Lediglich in drei Fällen entschied der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, dass keine Menschenrechtsverletzung
vorlag – in anderen Streitigkeiten wurden außergerichtliche Übereinkünfte getroffen. Es darf aber nicht
vergessen werden, dass auch Mitglieder der Union
wie Deutschland und Griechenland im fraglichen Zeitraum in zehn, bzw. 100 Fällen wegen Verletzungen
des Menschenrechts verurteilt wurden (vgl. European
Court of Human Rights 2006b: 31).
Gerade wegen der noch immer alarmierend hohen Zahl
von Menschenrechtsbeschwerden gegen Rumänien
ist zu erwarten, dass die Regierung Rumäniens unter anderem im Hinblick auf den geplanten EU-Beitritt
alles daran setzt, die Situation der Menschenrechte
zu verbessern und über diesen Fortschritt berichtet.
Allerdings scheint das genaue Gegenteil der Fall zu
sein – Rumäniens Regierung schweigt zur aktuellen
Menschenrechtssituation, dieses Thema wird auf
Pressekonferenzen lediglich im Nebensatz erwähnt.
Auch die genauen Kompetenzverteilungen zwischen
den einzelnen Ministerien sind schwer zu erkennen.
Wird die Achtung von Menschenrechten von offizieller
Seite häufig anerkannt und ihre Bedeutung unterstrichen, so räumte der Präsident Rumäniens Traian Basescu am 03. Februar 2006 Schwierigkeiten bei deren
Umsetzung ein: „[...] it is easy to make laws, to set up
institutions compatible with the European ones, but
it is difficult to make laws be applied, to make the institutions work on the pattern of the European ones,
to observe human rights“ (The Department of Public
Communication 2006).
Leider bleibt eine gezielte Informationspolitik seitens
der rumänischen Regierung aus, sodass sich die Analyse auf Berichte der EU und von Menschenrechtsorganisationen stützen muss.
Rumänien und Menschenrechte aus Sicht der EU
Am 16. Mai 2006 veröffentlichte die Europäische Kommission aktuelle Berichte, die den Fortschritt bei der
Erfüllung der Kopenhagener Kriterien der Länder Bulgarien und Rumänien dokumentieren sollen. In ihrem
Report über Rumänien kritisiert die Kommission eine
Reihe von Menschenrechtsverstößen: „[...] Rumänien
ist nach wie vor ein Transitland für Menschenhandel
[...]. Misshandlungen im Polizeigewahrsam werden nur
selten weiterverfolgt und einige Gefängnisse [...] leiden
unter schlechten Haft- und Hygienebedingungen. Die
Bedingungen in psychiatrischen Einrichtungen sind
verbesserungsbedürftig. [...] Weiterer Bemühungen
4
Vgl. Reden der letzten Jahre auf http://www.gov.ro/engleza/
103
bedarf es auch bei der Bekämpfung von Rassismus,
Fremdenfeindlichkeit und sämtlicher Formen der Intoleranz.“ (Kommission der Europäischen Gemeinschaften 2006: 14f.)
Wie bereits angeführt, sind die Achtung und die Wahrung von Menschenrechten zentraler Punkt der Kopenhagener Kriterien und demnach zumindest auf
dem Papier ein Kriterium für einen Beitritt zur Europäischen Union. Betrachtet man also die angeführte
Analyse der Kommission, so dürfte eine Entscheidung
über den Beitritt zur Union nicht schwer fallen – er
müsste Rumänien verweigert werden. Die Achtung
der Menschenrechte ist in den Kopenhagener Kriterien als politisches Kriterium angeführt. In ihrem Bericht kommt die Kommission zu folgendem Schluss,
der sich im Übrigen seit 1998 kaum verändert hat (vgl.
Kommission der Europäischen Gemeinschaften 1998:
15): „Rumänien erfüllt die politischen Kriterien für eine
EU-Mitgliedschaft.“ (Kommission der Europäischen
Gemeinschaften 2006: 14)
Auffällig ist, dass, bezogen auf anfangs aufgestellte Definition von Menschenrechten, ihr Schutz eben
nicht erfüllt ist und somit von einer Erfüllung der auf
dem Europäischen Rat von Kopenhagen aufgestellten
(politischen) Kriterien nicht gesprochen werden kann.
Fragwürdig erscheint also auch hier, ob die Achtung
der Menschenrechte sowohl als Aufnahmekriterium
als auch als zentraler Grundsatz der Europäischen
Union, wie schon im Vertrag über die Europäische Union festgehalten, überhaupt dem ernsthaften Wunsch
entspringt, die Wahrung von Menschenrechten innerhalb der Union zu garantieren oder lediglich als Rechtfertigung der gemeinsamen Außenpolitik gilt, die, wie
weiter oben schon erwähnt, die Achtung der Menschenrechte propagieren soll.
104
Menschenrechtsorganisationen und Rumänien
Abschließend möchte ich kurz beschreiben, welches
Bild die beiden Menschenrechtsorganisationen Human Rights Watch und amnesty international von der
aktuellen Menschenrechtssituation in Rumänien zeichnen. Als auf den Menschenrechtsschutz spezialisierte
Organisationen ist davon auszugehen, dass durch
ihre Berichte weitaus mehr Verletzungen aufgedeckt
werden können, als durch mehr oder weniger politisch
und ökonomisch motivierte Berichte der rumänischen
Regierung bzw. auch der Europäischen Union – zumal
der Menschenrechtsschutz dort nur einen Teil in umfassenden Reporten darstellt.
So berichtet ai in ihrem Jahresbericht 2006 (also im
Zeitraum vom 01.01.2005 bis zum 31.12.2005) über
zahlreiche Verletzungen der Menschenrechte in Rumänien:
„Es trafen weiterhin Berichte über Diskriminierungen
und Übergriffe gegen Angehörige der Roma ein. Die Situation in Institutionen für psychisch kranke Menschen
blieb nach wie vor unbefriedigend. Todesfälle in psychiatrischen Anstalten wurden weder effektiv noch unparteiisch untersucht. Angehörige sexueller Minderheiten
hatten unter Diskriminierung und Intoleranz zu leiden.“
(amnesty international Deutschland 2006)
Daneben berichtete ai von Misshandlungen Minderjähriger durch Polizeibeamte und kritisierte außerdem
unzureichende Ermittlungen auf diesem Gebiet in mindestens fünf Fällen (vgl. amnesty international Deutschland 2006). Alles in allem hat sich laut amnesty international die Menschenrechtssituation in Rumänien zwar
im Vergleich zum Vorjahr gebessert, es sind aber starke
Bedenken an der Motivation der rumänischen Regierung und Justiz angebracht, Verstöße gegen Menschenrechte als solche anzusehen und zu ahnden.
Erst kürzlich veröffentlichte HRW einen Report unter
dem Titel „Das Leben wartet nicht“, in dem die gezielte Diskriminierung HIV-positiver Kinder in Rumänien kritisiert wird. Dabei werden Fälle von bewusstem
Ausschluss von der Schulbildung beschrieben, die
Weigerung zur Behandlung von AIDS-Patienten durch
Ärzte und Krankenhäuser sowie die Misshandlung von
kranken Kindern in Heimen oder psychiatrischen Einrichtungen (Human Rights Watch 2006a: 15ff.) – auf
eine eigene Analyse der Situation in Rumänien in den
letzten Jahresberichten verzichtet HRW allerdings.
Sicher ist, dass Rumänien noch heute gegen Menschenrecht verstößt. In welchem Ausmaß dies allerdings stattfindet, ist schwer zu beurteilen. Es ist zu
erwarten, dass die Anzahl der Verstöße deutlich höher
liegt als die vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gesprochenen Urteile vermuten, jedoch
nicht so hoch, wie es die Menschenrechtsberichte von
ai oder HRW erwarten lassen – allzu positive Bewertungen durch diese Organisationen würde ihre eigene
Bedeutung langfristig in Frage stellen.
Fazit
In der voranstehenden Analyse wurde ein Überblick
über die Menschenrechtssituationen in Rumänien und
der EU gegeben, anhand dessen die Beantwortung
der eingangs formulierten Frage möglich sein soll.
Zweifellos befindet sich das System Rumäniens heute
noch immer in einer Phase des Umbruchs, in der sich
neue Strukturen erst gegen alte durchsetzen müssen.
Diesen Punkt unterstreicht auch der heutige Präsident
Rumäniens im oben bereits genannten Zitat. Unterschiede im Menschenrechtsschutz fallen allerdings
weitaus weniger gravierend aus als man es eventuell
annehmen möchte. In 21 von 33 in 2005 am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte entschiedenen
Verfahren wurde Rumänien Menschenrechtsverletzungen schuldig gesprochen. Dies ist ungleich weniger als etwa Italien oder Griechenland. Hierbei mag
es sich zwar um verschieden (schwere) Tatbestände
handeln, für eine Gewichtung und Differenzierung der
Menschenrechte selber fehlt hier allerdings eine fundierte rechtswissenschaftliche Grundlage.
Nicht nur Menschenrechtsorganisationen finden noch
immer ausreichend Gründe die Situation der Menschenrechte in Rumänien zu kritisieren, sondern auch
die Kommission der Europäischen Union hat in ihrem
aktuellen Bericht diverse Menschenrechtsbrüche in
Rumänien festgestellt. Dies hinderte sie aber nicht
daran, die Erfüllung der politischen Kriterien der Kopenhagener Kriterien seitens Rumäniens zu konstatieren. Auf den ersten Blick scheint dies paradox. Da
Menschenrechtsbrüche allerdings auch innerhalb der
Union an der Tagesordnung sind und die Bezeichnung
der Achtung der Menschenrechte als einer der Grundsätze der EU bei genauer Betrachtung (und aktueller
Rechtslage) eher zu einer leeren Hülle, als zu einem
wahren Wert der EU wird, scheint die Achtung der
Menschenrechte als Aufnahmekriterium eher die Aufgabe zu erfüllen, die außenpolitische Glaubwürdigkeit
der Europäischen Union sicher zu stellen.
Festzuhalten sind Menschenrechtsbrüche sowohl in
Rumänien als auch auf Seiten der Europäischen Union. Die Kommission hat Rumänien im aktuellen Bericht die Erfüllung der politischen Kriterien bestätigt,
und auch der Menschenrechtsschutz der Union selbst
ist weniger vollkommen, als man anfangs versucht ist
zu glauben. Es bleibt für diese Analyse daher auch
nur ein möglicher Schluss, nämlich dass Rumänien
105
die Anforderungen an den Menschenrechtsschutz für
einen Beitritt zur EU (sofern sie überhaupt bestehen)
gänzlich erfüllt. Ich möchte die Menschenrechtssituation in Rumänien keineswegs beschönigen oder gar
als ausreichend bezeichnen – es ist die Pflicht eines
jeden Staates, die Einhaltung der Menschenrechte zu
gewährleisten, stetig zu überwachen und gegebenenfalls zu verbessern. Für einen Beitritt zur Europäischen
Union stellen Achtung und Gewährleistung der Menschenrechte allerdings kein ernsthaftes Kriterium dar.
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107
Kurzbiographien der Autorinnen und Autoren
Penka Angelova, Prof. Dr. habil, Professorin für deutschsprachige Literaturgeschichte an der Universität in
Veliko Tirnovo und für deutschsprachige Kulturgeschichte und Europäische Zivilisation an der Universität Ruse.
Leiterin der Österreich Bibliothek in Veliko Tirnovo und Ruse sowie der Internationalen Canetti Gesellschaft in
Ruse (www.canettigesellschaft.ru.acad.bg). Dissertation über die Rezeption klassisch-romantischer Dichtung
und Weltauffassung im Erzählwerk Hermann Hesses (1919-1932). Jena 1981. Habilitation: Struktur-funktionale
Besonderheiten von Kafkas Romanen „Der Prozeß“ und „Das Schloß“. 2002 erhielt sie das Österreichische Ehrenkreuz für Wissenschaft und 2006 den Kunst- und Kulturpreis der Stadt Ruse. Bücher: Romanwelten. Studien zum Roman des 20. Jahrhunderts. Veliko Tirnovo 1995. Reihe Philologia der Universität Veliko Tirnovo. Mich
Liebt, o Mutter, ein Feuerdrache. Seitensprünge einer Germanistin. Veliko Tirnovo 1996. Ich sehe was, was du
nicht siehst. Röhrig Verlag. St. Ingbert. 2002. Elias Canetti. Spuren zum mythischen Denken. Wien 2005. Über
hundert weitere Veröffentlichungen in Bulgarien, Deutschland, Österreich, Ungarn, Japan, USA, Canada u.a.
Valeska Bopp, geb. 1977, Studium der Kulturwissenschaften, Germanistik und Kommunikations- und Me-
dienwissenschaften in Leipzig. Von 2004-2005 Sprachlektorin der Robert Bosch Stiftung an der Staatlichen
Technischen Universität in Perm, Russland. Seit 2005 unterrichtet sie an der Historischen Fakultät der Universität Bukarest, Rumänien, als Promotionslektorin und arbeitet an ihrer Dissertation zu „Erinnerung und
Identität in der rumänischen Transformationsgesellschaft“ (Universität Leipzig). Veröffentlichungen: „Wir haben
uns zurechtgefunden.“ Mangel und Überlebensstrategien in Rumänien in den 1980er Jahren des zwanzigsten
Jahrhunderts. In: Berliner Osteuropa Info 23 (2005), S. 70-82. Die rumänische Revolution von 1989. Staatliche
Inszenierung versus Öffentlicher Diskurs. In: Pänke, Julian, Gereon Schuch (u.a.): Gegenwart der Vergangenheit. Die politische Aktualität historischer Erinnerung in Mitteleuropa. Baden-Baden 2007, S. 25-30. Kontakt:
valeska_bopp@gmx.de
Alexander Di Leonardo, geb. 1982, Student der Politikwissenschaft im Rahmen eines deutsch-rumänischen
Doppeldiplomstudiengangs and der Westfälischen Wilhelms-Universität und der Babeş-Bolyai-Universität
Klausenburg, Rumänien. Momentan schreibt er an seiner Diplomarbeit zum Thema: „Die Konditionalitätspolitik
der EU im Rahmen ihrer Nachbarschaftspolitik. Das Beispiel der Korruptionsbekämpfung in der Republik Moldau.“ Kontakt: adileonardo@web.de
108
Brigitta Finta, geb. 1982, studierte Germanistik und Ungaristik an der Babeş-Bolyai Universität in Klausen-
burg, Rumänien, und absolvierte dort anschließend das Masterstudium „Deutsche Literatur im südöstlichen
Mitteleuropa“. Seit 2006 ist sie Studentin an der Universität Sapientia in Klausenburg im Fach Internationale
Beziehungen, Schwerpunkt Europäische Studien. Kontakt: brigitta_finta@yahoo.com
Stephanie Krauch, geb. 1974, Studium der Literaturwissenschaft, Auslandsgermanistik und Erziehungs-
wissenschaft in Heidelberg und Jena. Auslandsaufenthalt an der University of Virginia, Charlottsville, USA. Seit
2003 tätig als DAAD-Lektorin an der Technischen Universität Bukarest. Interessen und Forschungsschwerpunkte: Interkulturelle Erziehung und Theaterarbeit im Fremdsprachenunterricht. Veröffentlichungen: Türkischdeutsch-Sprachwandel in der Migrationsgesellschaft. In: Lazarescu, Ioan und Peter Wiesinger (Hrsg.)
Vom Wert des Wortes. Festschrift für Doina Sandu zum 65. Geburtstag. Bukarest und Wien 2006, S. 182-190.
Der Fremde Blick – Interkulturelles Lernen außerhalb des Seminarraums. In: Guţu, George (Hrsg.): Transcarpathica. Germanistisches Jahrbuch zum VII. Kongress der Germanisten Rumäniens vom 22.-25. Mai 2006 (im
Erscheinen). Kontakt: polibuk@web.de
Katharina Lampe, geb. 1979, Studium der Politikwissenschaft im Rahmen eines deutsch-französischen
Doppeldiplomstudiengangs an der Westfälischen Wilhelms-Universität und am Institut d’Études Politiques in
Lille. Seit 2005 Fachlektorin der Robert Bosch Stiftung an der Angel-Kantschev Universität und am Bulgarisch-Rumänischen Interuniversitären Europazentrum in Ruse, Bulgarien, seit Sommer 2006 im Profil Bildungsmanagement. Veröffentlichung der Diplomarbeit: Die Nord-West-Entwicklungsregion: Une coquille vide? Eine
Untersuchung zur rumänischen Regionalisierungsproblematik. Cluj 2006. Kontakt: kathalampe@gmx.de
Andrea Schneiker, geb. 1980. Diplom-Sozialwissenschaftlerin, Studium der Politikwissenschaft und Soziologie an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster und dem Institut d’Études Politiques de Lille, Frankreich. Seit 2005 promoviert sie im Fach Politikwissenschaft an der Universität Münster über private Militärfirmen. Veröffentlichungen: Privatisierung des Militärischen? In: WeltTrends Nr. 49, Winter 2005/2006. S.
135-143. National Regulatory Regimes for PSMCs and their Activities: Benefits and Shortcomings. In: Jäger,
Thomas und Gerhard Kümmel (Hrsg.): Private Military and Security Companies. Chances, Problems, Pitfalls
and Prospects. Wiesbaden 2007. S. 407-418. Kontakt: andrea.schneiker@googlemail.com
109
Tobias Schulmann, geb. 1987, seit 2004 Studium der Politikwissenschaft, Wirtschaftspolitik und Psychologie an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster mit dem Schwerpunkt Osteuropa. Er verbringt im
Rahmen seines Studiums seit Sommer 2006 zwei Semester an der Fakultät für Politikwissenschaften an der
Universität Bukarest. Kontakt: tschulmann@mac.com
Gabriella-Nóra Tar, geb. 1977, Studium der Germanistik und Ungaristik an der Babeş-Bolyai-Universität
in Klausenburg, Rumänien. Seit 2005 Universitätslektorin am Lehrstuhl für deutsche Sprache und Literatur an
der Babeş-Bolyai-Universität in Klausenburg und Tandemlektorin der Robert Bosch Stiftung. Mehrere Studien
zum Drama, Theater und zur Kinderkultur; Buchveröffentlichung: Gyermek a 18. és 19. Századi Magyarország
és Erdély színpadjain (Kinder auf den siebenbürgischen und ungarischen Bühnen des 18. - 19. Jahrhunderts).
Erdélyi Tudományos Füzetek 244. Klausenburg: Verlag des Siebenbürgischen Museumsvereins 2004. Kontakt:
tarnora@yahoo.com
Alexandra Vlad, geb. 1979, Studium der Kommunikationswissenschaften und das Studium der Germanistik
und Rumänistik an der Babeş-Bolyai Universität in Klausenburg, Rumänien. 2005 absolvierte sie dort den Masterstudiengang „Deutsch-rumänische Interkulturalitätsstudien“. Seit Oktober 2005 ist sie wissenschaftliche
Mitarbeiterin an der Babeş-Bolyai Universität und promoviert zur zeitgenössischen intermedialen Brüchigkeit
im interkulturellen (deutsch-rumänischen) literarischen, filmischen und theatralen Vergleich. Kontakt: vlad_alix@
yahoo.de
110
„Sind wir nicht alle ein bisschen Balkan?“
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