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Balkanbilder in Ost und West Mythen und Stereotypen auf der Spur Anregungen zur Didaktik interkultureller Studienseminare Valeska Bopp, Katharina Lampe, Andrea Schneiker (Hrsg.) Inhalt Grußwort 4 Einleitung 6 Willkommen in der Balkanbar! 11 Balkanbilder in West und Ost 20 Identitäten in Bulgarien zwischen Fremdbestimmung und Selbstbestimmung 27 Nationenbilder in den internationalen Beziehungen 37 Dr. Christiane Gaehtgens Valeska Bopp, Katharina Lampe und Andrea Schneiker Eine Methode zum Einstieg in interkulturelle Seminare Katharina Lampe Eine Umfrage Alexander di Leonardo Identitätsdiskurse Penka Angelova Definition, Entstehung, Funktionen Andrea Schneiker Die Entwicklung von Diskursen 46 No comment. 61 Unter der Lupe 68 Das Bild Rumäniens und Bulgariens in der deutschen Presse unter besonderer Berücksichtigung des Integrationsprozesses in die Europäische Union Katharina Lampe Karikaturen des Klausenburger Graphikers Elemér Könczey oder „Balkanbilder“ im Unterricht Gabriella-Nóra Tar Das Begriffsfeld des homo balcanicus Brigitta Finta Der Bruch zwischen ALT und NEU im gegenwärtigen rumänischen Film 72 1989 - Ein europäisches Gedächtnis? 82 Die Revolutionsereignisse in Bukarest 1989 in der Erinnerung 94 Alexandra Vlad Eine Didaktisierung zur Arbeit mit narrativen, lebensgeschichtlichen Interviews Valeska Bopp, Stephanie Krauch Zeitzeugeninterview Menschenrechte in Rumänien 98 Kurzbiographien der Autorinnen und Autoren 108 Tobias Schulmann Grußwort Sehr geehrte Leserinnen und Leser, die Region „Balkan“ wird nicht nur als eine geographische Einheit angesehen. Im politischen Dialog der westeuropäischen Staaten wird „Balkan“ als Synonym für kriegerische Auseinandersetzungen und Instabilität verstanden, weshalb er auch „Pulverfass“ genannt wird. Dieses Bild vom Balkan hindert den Austausch zwischen Südost- und Westeuropa und erschwert die Auflockerung der nachbarschaftlichen Beziehungen in der Region auch in den friedlichen Zeiten. Langfristig können jedoch Konflikte auf dem Balkan nur dann friedlich gelöst werden, wenn die neuen Generationen einen Weg finden, jenseits von überkommenen Stereotypen und Feindbildern, miteinander zu kommunizieren. Durch die so genannte Initiative „Stabilitätspakt für Südosteuropa“ konnte seit dem Jahr 1999 mit der Unterstützung westeuropäischer Partner die regionale und auch internationale Zusammenarbeit auf dem Balkan aufgebaut und konsolidiert werden. Die Hochschulrektorenkonferenz (HRK) hat sich dabei als die Stimme der deutschen Hochschulen die Aufgabe gestellt, durch zahlreiche Hochschulkooperationen zur Völkerverständigung sowie zur Integration der BalkanStaaten in die europäische Hochschulstrukturen beizutragen. Für die finanzielle Unterstützung, die der HRK dafür anvertraut wurde, ist dem Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF), dem Auswärtigen Amt (AA), dem Bundesministerium für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) sowie zahlreichen deutschen Stiftungen und Unternehmen zu danken. Das Seminar „Balkanbilder in Ost und West. Mythen und Stereotypen auf der Spur“ ist eine der Aktivitäten, die im Rahmen der genannten Initiative durchgeführt wurden. Diese interkulturelle Begegnung, verbunden mit der Vermittlung sozialwissenschaftlicher Arbeitstechniken, hat zu wertvollen Ergebnissen geführt, die in dieser Publikation dokumentiert sind. Allen, die den balkanischen Stereotypen auf die Spur kommen wollen, empfehle ich dieses Buch und wünsche einen angenehmen interkulturellen Austausch. Dr. Christiane Gaehtgens Brücke der Freundschaft über die Donau zwischen Rumänien und Bulgarien Einleitung „Ich habe etwas Neues über die Kommilitonen aus anderen balkanischen Ländern erfahren. Sie sind uns in einem bestimmten Maße ähnlich, sie empfinden das Gleiche. In Bulgarien gibt es nicht an jeder Straßenecke Rosenmarmelade, wie ich dachte. Die Straßen sind auch nicht so schlecht, es gibt auch viele schöne Gebäude und die Leute sind netter als ich mir vorgestellt hatte.“ „Wenn ich bisher an den Kosovo gedacht habe, erschienen mir immer Bilder vom Krieg. Jetzt weiß ich, dass mehr dahinter steckt.“ In diesen beiden Zitaten zweier TeilnehmerInnen des Seminars „Balkanbilder in Ost und West – Mythen und Stereotypen auf der Spur“ verdecken stereotype Vorstellungen über den Nachbarn die sich dahinter verbergende Unkenntnis. Doch nicht nur die einzelnen Völker auf dem Balkan wissen wenig voneinander, auch im Westen Europas sind die Kenntnisse über diese Region begrenzt und mit Vorstellungen vom „Pulverfass“, „Gespenst“ oder „Hinterhof Europas“ verbunden. Aber welche Länder gehören eigentlich zum Balkan? Und inwiefern ist der Balkan mehr als nur eine geographische Größe? Diese und andere Fragen wurden im Seminar aufgegriffen und werden in dieser Publikation diskutiert. Angesichts des Erweiterungsprozesses der EU kommt diesen Fragen und den genannten Bildern eine wichtige Bedeutung zu, da an sie bestimmte Hoffnungen, aber auch Ängste geknüpft sind. Letztere spielen vor allem in Westeuropa eine Rolle, doch auch für die jungen Demokratien ist der Integrationsprozess in dieser Hinsicht eine schwierige Herausforderung, da sie sich solchen Stereotypen stellen müssen. Daher ist es wichtig, im Sinne der Völkerverständigung existierende Klischees bewusst zu machen und ihre Funktion aufzuzeigen, um ihre Instrumentalisierung – insbesondere für extremistische politische Zwecke – zu vermeiden. Vor diesem Hintergrund fand vom 2.-8. April 2006 in Ruse, Bulgarien, ein internationales Seminar mit 30 Studierenden aus Bulgarien, Deutschland, dem Kosovo, Mazedonien und Rumänien statt. Die Teilnehmenden waren Studierende der Politikwissenschaft an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, der Germanistik und der Politikwissenschaft an der Babeş-Bolyai-Universität in Cluj-Napoca (im Folgenden verwenden wir aus pragmatischen Gründen die deutsche Bezeichnung „Klausenburg“), Rumänien, der Ingenieurswissenschaften an der Wirtschaftsakademie in Bukarest sowie der Europäischen Studien an der Angel Kantschev Universität und dem Bulgarisch-Rumänischen Interuniversitären Europazentrum (BRIE) in Ruse, Bulgarien. Ziel des Seminars war das gemeinsame wissenschaftlich-interdisziplinäre Arbeiten über die interkulturelle Fragestellung nach der Konstruktion von Nationenbildern aus der Innen- und Außenperspektive. Dabei kamen unterschiedliche didaktische Methoden zum gegenseitigen Kennenlernen und zur Einführung in die Thematik sowie zahlreiche geschichts- und sozialwissenschaftliche Methoden zur Bearbeitung der Fragestellung zum Einsatz. Den inhaltlichen Rahmen boten vier Workshops: • Rumänische Balkanbilder und -Studien • Historische Entwicklung westlicher Balkanbilder • Ein europäisches Gedächtnis? Selbst- und Fremdbilder am Beispiel der Erinnerung an 1989 • Der europäische Integrationsdiskurs zu Rumänien und Bulgarien in der deutschen Presse Daneben umfasste das Seminarprogramm Filmpräsentationen sowie Vorträge und Diskussionsrunden mit Europaexperten. Außerdem blieb während einer Stadtralley, einem Ausflug zu den Höhlenklöstern in Ivanovo sowie der Donauschiffahrt mit der „Balkanprinzessin“ – inklusive Torte, Blasorchester und Tanz – genügend Zeit, die balkanische Realität direkt einzufangen. Wie die beiden dieser Einleitung vorangestellten Zitate zeigen, differenzierten sich die Balkanbilder der Studierenden während des Seminars durch persönliche Erfahrungen, aber vielleicht auch durch die in den Workshops vermittelten Inhalte, die ihnen halfen, sich von tradierten Bildern zu distanzieren und diese als „Mythen“ und „Stereotype“ zu entlarven. Entsprechend dem Seminar verknüpft diese Dokumentation inhaltliche Beiträge mit methodischen Anleitungen. Einführend stellt Katharina Lampe die Methode „World Café“ vor, mit der die Studierenden am ersten Abend in das Seminarthema einstiegen. Das „World Café“ hieß in diesem Falle „Balkanbar“, aber die Umbenennung ist nicht die einzige Möglichkeit, die Methode an verschiedene Seminarthemen anzupassen… Welche Vorstellungen westliche Studierende von der Balkanregion besitzen, fing die filmisch dokumentierte und für das Buch verschriftlichte Umfrage von Alexander di Leonardo ein. Anschließend sensibilisiert der in Ruse als Vortrag gehaltene Beitrag Penka Angelovas für die verschiedenen Identitätsdiskurse Bulgariens, die zum Teil einige Jahrhunderte zurückzuverfolgen sind. Einer davon beschäftigt sich mit der Frage Balkan oder Europa?, da sich das Land mit beidem identifiziert. Andrea Schneiker liefert aus der Perspektive der Imageforschung einen allgemeinen Überblick über die Entstehung, Definition und Funktion von Nationenbildern. Eine weitere Methode zur Untersuchung von Nationenbildern stellt die Diskursanalyse dar, welche Katharina Lampe beispielhaft am Integrationsdiskurs Bulgariens und Rumäniens in der deutschen Presse durchführt. Zwei Beiträge widmen sich dem Konstrukt „homo balcanicus“: Nóra Tar verwendet dazu Karikaturen des rumänienunga- rischen Künstlers Elemér Könczey, Brigitta Finta filtert die Charaktereigenschaften des „homo balcanicus“ aus einer der Seminardiskussionen unter den TeilnehmerInnen heraus. Daran anschließend erforscht Alexandra Vlad die Darstellung der politischen und gesellschaftlichen Umwälzungsprozesse seit Beginn der 1990er Jahre im zeitgenössischen rumänischen Kurzfilm. Valeska Bopp und Stephanie Krauch liefern eine Didaktisierung zur Arbeit mit narrativen, lebensgeschichtlichen Interviews, auf deren Grundlage sie mit den WorkshopteilnehmerInnen die subjektive Verarbeitung der jüngsten Geschichte in Osteuropa und deren Vergleichbarkeit diskutierten. Anschließend veranschaulicht ein Interview zweier Seminarteilnehmerinnen mit einem Bukarester Zeitzeugen der Revolutionsereignisse im Dezember 1989 die Besonderheit des rumänischen Umbruchs. Abschließend erweitert Tobias Schulmann den Analyserahmen mit seiner im Anschluss an das Seminar verfassten Hausarbeit über die Bedeutung der Menschenrechte im EU-Integrationsprozess Rumäniens. Um die Ergebnisse des Seminars sowie deren Rezeption seitens der Studierenden festzuhalten, kommen auch sie mit persönlichen Kommentaren, Eindrücken aus dem Seminar und weiterführenden Reflexionen zu Wort. Wir hoffen, mit diesem Buch eine erfahrungsbasierte und praxisorientierte Unterstützung für die Gestaltung interkultureller Seminare mit Studierenden unterschiedlicher Fachrichtungen zu leisten. Wenn es uns gelingt, dem Leser nicht nur einen Blick in die Abläufe des Seminars zu ermöglichen, sondern ihm darüber hinaus Anregungen für die methodische und inhaltliche Gestaltung derartiger Begegnungen zu vermitteln, hat sich unser Ziel erfüllt. Unser Dank gilt der Hochschulrektorenkonferenz und dem Lektorenprogramm der Robert Bosch Stiftung für Mittel- und Osteuropa für die finanzielle Unterstützung sowie der Angel Kantschev Universität, dem BRIE und der Internationalen Elias Canetti Gesellschaft für die Bereitstellung der Räumlichkeiten sowie die technische und organisatorische Unterstützung. Darüber hinaus danken wir Frau Prof. Penka Angelova und Herrn Prof. Reinhard Meyers für ihre konzeptionelle Unterstützung sowie Herrn Timo Köster für die praktische Unterstützung vor Ort. Des Weiteren bedanken wir uns bei unseren MitstreiterInnen in der Seminarleitung und -gestaltung Dr. Bianca Bican, Stephanie Krauch, Dr. Nóra Tar und Katrin Tittel für die Zusammenarbeit. Last but not least geht unser Dank an Jens Taken für das Lektorat und Valerie Otte für das Layout. Valeska Bopp, Katharina Lampe und Andrea Schneiker Bukarest, Ruse und Münster im Juni 2007 „Mir hat alles gut gefallen. Die Gruppenverteilung finde ich auch super, weil wir uns so „Die balkanischen Leute haben wunderschöne Seele und unique sence of humor!!! Die balkanischen Leute können einander sehr leicht verstehen, wenn sie wollen!“ leichter kennen lernen und in das Thema vertiefen können. Nicht nur, dass wir über den Balkan und die EU mehr erfahren, aber auch die Art und Weise der Seminargestaltung ist erfinderisch, einfallsreich. Bisher war alles eine wunderschöne Überraschung: Arbeit in Mannschaften, Gastfreundschaft, freundliche Gesichter, neue Ideen und neue Arten, wie man lernen kann. Am Anfang dachte ich, dass alles strenger und strikter sein wird, aber dann schien es wie ein Spiel voll Kreativität und spannend wie ein wirkliches Abenteuer.“ „Ich habe bemerkt, dass die Unterschiede zwischen den Teilnehmern, die aus verschiedenen Ländern kommen, fast unspürbar sind. Wir reden von Stereotypen, aber zwischen uns gibt es solche Unterschiede nicht. Das war für mich eine angenehme Bemerkung, denn ich gebe zu, ich hatte ein paar Vorurteile. Ich finde alle Workshops (und alle Spiele) sehr interaktiv. Sie fördern die Kreativität und das Mitmachen. Alles war gut organisiert. Zwischen den verschiedenen Events gibt es immer ungefähr eine Stunde Luft, aber damit kann man nichts anfangen. Es gibt nirgendwo viel Freizeit, damit wir Einkaufen gehen können, wie das von uns zu Hause erwartet wird.“ 10 „Ich habe noch nie vorher Menschen aus Kosovo kennen gelernt, und ich hätte wahrscheinlich diese Chance nicht bekommen. Eine Balkanbegegnung, bei der Deutsch gesprochen wird statt Englisch – das finde ich sehr gut. Die Möglichkeit, ein neues Land zu sehen, ist eine einzigartige Erfahrung.“ Willkommen in der Balkanbar! Eine Methode zum Einstieg in interkulturelle Seminare Katharina Lampe Die Sonne verschwindet leuchtend rot über dem rumänischen Horizont und spiegelt sich in der Donau. Diese wird hier in Ruse, kurz vor ihrer Mündung ins Schwarze Meer, zu einem breiten Strom, gesäumt von einer verwilderten Uferpromenade. Jedoch lässt diese wildromantische Abendstimmung die TeilnehmerInnen des „Balkanbilderseminars“ völlig unberührt. Sie sind in kleinen Gruppen um Tische versammelt, haben es sich gemütlich gemacht, lachen, diskutieren, notieren. Plötzlich wird die Musik lauter, Balkanpop erfüllt den Raum und die Gruppen lösen sich langsam auf, man versorgt sich mit Getränken und Snacks, um an einem neuen Tisch auf andere Gesprächspartner zu treffen. Willkommen in der Balkanbar in Ruse! Nein, wir befinden uns nicht beim gemütlichen Ausklang des Seminars, sondern mittendrin in der Arbeit, denn das Konzept der „Balkanbar“ oder des „World Café“ – wie es im Fachjargon genannt wird – geht davon aus, dass gerade in entspannter Café- oder Bar-Atmosphäre effektive Arbeitsergebnisse erzielt werden. Welche Ziele werden verfolgt? Es sollen „alle mit allen reden“ und „alle zusammen denken“ (Institut Balance 2007). Dies ist die grundlegende Zielsetzung der „Cafémethode“. Im Mittelpunkt der Methode steht der Erfahrungsschatz, den jede Teilnehmerin und jeder Teilnehmer bereits zu dem Seminarthema mitbringt. In Kleingruppendiskussionen bekommen die TeilnehmerInnen die Gelegenheit, diesen mit gegensätzlichen Einstellungen zu konfrontieren oder parallele Ansätze zu entdecken. Zu komplexen Themenstellungen können so vielschichtige Gespräche entstehen. Neben dieser ersten Zielsetzung ist es notwendig, zu konkretisieren, was im Rahmen des „World Cafés“ für ein Seminar erreicht werden soll. Wir wählten die Methode des „World Cafés“ – auf Grund der Tageszeit und des Seminarthemas von uns in „Balkanbar“ umgetauft – als Einstieg in das internationale Studierendenseminar, um den TeilnehmerInnen 11 Raum zu geben, sich kennen zu lernen und ihre persönlichen Sichtweisen zu dem Thema des Seminars zu äußern: Der Eisbrecher Zu unserer internationalen Studierendenbegegnung sahen wir „die Rumänen“ und „die Deutschen“ anreisen. Als solche homogenen Gruppen, nur durch ihre unterschiedlichen Nationalitäten definiert, sollten sie nicht wieder abreisen. Stattdessen sollten sie sich als Persönlichkeiten kennen lernen, deren nationale Zugehörigkeiten nur eine Eigenschaft unter vielen ist. Die Neugier auf den Nachbarn oder die Nachbarin von der anderen Donauseite oder den deutschen Studierenden ist groß zu Beginn eines internationalen Treffens. Trotzdem gestaltet es sich oft schwer, die Berührungsängste zwischen den Gruppen abzubauen. Darüber hinaus waren die deutschen Sprachkenntnisse bei den TeilnehmerInnen sehr heterogen: Während die deutschen MuttersprachlerInnen sich bei ihren Äußerungen völlig sicher fühlten, war es für TeilnehmerInnen aus Südosteuropa weniger selbstverständlich, ihre Meinungen zu formulieren und zu verteidigen. Zudem ist das Bildungssystem in Südosteuropa hierarchischer organisiert als in Deutschland. Eine Meinungsäußerung von Studierenden wird im Allgemeinen nicht erwartet und ist oftmals auch nicht erwünscht. Gerade um solche Kommunikationsschwierigkeiten zu entschärfen, schien uns die Balkanbar-Methode besonders gut geeignet. In zufällig zusammen gewürfelten Kleingruppen sind Gedanken leichter vorzutragen als in der großen Runde. Die Hürde, auf jemanden zuzugehen, der einem fremd ist, wird dadurch niedriger. 1 Aufschlussreiche Einblicke in das Hochschulsystem in Osteuropa in Keith und Umland (2006). 12 Erster Gedankenaustausch Da TeilnehmerInnen mit unterschiedlichsten kulturellen, fachlichen sowie politischen Hintergründen in Ruse zusammentrafen, sollte die „Balkanbar“ einen ersten Gedankenaustausch über Bilder, Vorstellungen und Erfahrungen bezüglich des Seminarthemas ermöglichen. Die Gespräche wurden an den verschiedenen Tischen zwar durch Fragestellungen strukturiert, es war jedoch nicht das Ziel, wissenschaftliche Diskussionen zu führen, unmittelbare Ergebnisse zu erzielen oder zu festen Meinungen über die Balkanregion zu kommen. Vielmehr sollten die Gespräche Tendenzen aufzeigen, die mögliche Anknüpfungspunkte für den weiteren Verlauf des Seminars darstellten. Das Wichtigste ist die Vorbereitung Grundlegend für das Gelingen eines „World Cafés“ ist eine sorgfältige Vorbereitung, die zunächst darin besteht, eine tatsächliche Caféstimmung aufkommen zu lassen. Man benötigt dazu einen hellen Raum, der so groß ist, dass er für die Anzahl der TeilnehmerInnen großzügig mit 4-er Tischen eingerichtet werden kann, so dass sich die TeilnehmerInnen in ihren Gesprächen nicht gegenseitig stören. Für unsere Veranstaltung fanden wir den geeigneten Platz in einem Hotel aus sozialistischen Zeiten, dessen Mezzanine alles bietet, was man sich für eine stilvolle „Balkanbar“ wünschen kann: einen weitläufigen Raum mit Blick auf die Donau, rotsamtene Sofas an kleinen runden Tischchen original aus den siebziger Jahren. Die Tische werden mit Papiertischdecken gedeckt und bei ausreichendem Platz auch mit Blumen, Getränken und Keksen oder Snacks. Alternativ kann ein Büffet eingerichtet werden. Des Weiteren liegen auf den Ti- schen Filzmarker und eine „Speisekarte“ auf der die „Arbeitsfrage“ des Tisches formuliert ist sowie eine Abbildung, die dem Tisch seinen Namen gibt. „AyranTisch“, „Schopska-Tisch“ oder „Ţuikă-Tisch“ waren Namen der Tische in der „Balkanbar“. Wie es funktioniert Ein „World Café“ beginnt mit der Vorstellung der Caféregeln durch die Moderatorin oder den Moderator. Grundsätzliche Regeln sind: • jeder kommt am Tisch zu Wort • die „Arbeitsfrage“ wird besprochen • die Gedanken werden nicht nur verbal ausgetauscht, sondern auch auf den Tischdecken notiert und kommentiert Zusätzlich sind folgende Punkte zu klären, die aber je nach Anlass, Gruppengröße und Zielsetzung unterschiedlich gelöst werden können: • Wie finden sich die Diskussionsgruppen zusammen? Bleiben sie während des gesamten „Cafés“ in der gleichen Konstellation oder mischen sie sich neu? • Ist es notwendig, dass sich die TeilnehmerInnen vorstellen? • Wie viele Diskussionsphasen wird es geben? • Wie lang dauern die Diskussionsphasen und die Pausen? • Durch wen wird die Kleingruppenarbeit angeleitet? • Wie werden die Ergebnisse dokumentiert? 2 Joghurt-Getränk 3 Bulgarischer Salat aus Gurke, Schafskäse, Tomate, marinierter Paprika, Pe- tersilie und Zwiebeln. Benannt nach den Schopen. So heißen die Bauern, welche in der Region um Sofia leben. 4 Rumänischer Schnaps Die erste Gruppenkonstellation wollten wir nicht dem Zufall überlassen und so ließen wir die TeilnehmerInnen „Tischkärtchen“ ziehen, die sie bestimmten Tischen zuordneten. In der zweiten und dritten Diskussionsrunde entschieden die TeilnehmerInnen selbst, ob sie die Diskussion mit den gleichen Gesprächspartnern an einem anderen Tisch vertiefen oder sich lieber mit anderen TeilnehmerInnen austauschen möchten. Die Tischgruppen mussten international zusammengesetzt sein und durften maximal fünf Personen umfassen. Nachdem sich die Gruppen an ihren Tischen zusammen gefunden hatten, benannten sie selbst einen Tischmoderator oder eine Tischmoderatorin. Ihre Aufgabe war es, die Fragestellung vorzulesen und darauf zu achten, dass die Grundregeln des „World Cafés“ von allen Mitgliedern respektiert werden. Um eine stärkere Strukturierung der Diskussionen zu erreichen, können auch so genannte „GastgeberInnen“, die während des „World Cafés“ die TeilnehmerInnen an den Tischen in Empfang nehmen, einen Überblick über die vorherigen Diskussionen geben und die aktuellen Diskussionen moderieren. Nach einer 20minütigen Diskussionsphase lädt der Moderator oder die Moderatorin – in unserem Fall die „Bardame“ – die TeilnehmerInnen ein, sich eine 15minütige Pause zu gönnen, um sich anschließend einer neuen Kleingruppe anzuschließen. Unsere „Balkanbar“ endete mit einer kleinen szenischen Darstellung der Diskussionsinhalte. Schließlich wurden die Tischdecken mit den Diskussionsergebnissen an den Wänden zur allgemeinen Lektüre ausgehängt. Das Konzept ging auf: Ungefähr zwei Stunden lang besprachen die TeilnehmerInnen in ganz unterschiedlichen Zusammensetzungen die Fragestellungen, welche sie an den Tischen vorfanden. Das Interesse 13 miteinander zu reden war vorhanden und so verselbstständigte sich die „Balkanbar“. Und was passiert inhaltlich? Die Entwicklung der einzelnen Kleingruppendiskussionen wird der Seminarleitung durch die Tischnotizen der TeilnehmerInnen zugänglich. Die TeilnehmerInnen beschäftigten sich mit insgesamt drei Fragestellungen: 1. „Der rumänische Bauer glaubt, dass der Staat um den Reichtum seines Hofes besorgt sein sollte, und dass der Präsident am besten geeignet sei, seine Probleme zu lösen. Der Präsident sollte ein starker religiöser und militärischer Führer sein, 14 der seine Zeit nicht mit den Wahlen verschwenden sollte.“ (Badicioiu 2006) Diskutiert dieses Zitat, indem ihr die hier beschriebenen Vorstellungen über die Aufgaben von Politikern mit denen in euren Gesellschaften vergleicht. 2. „Das ist typisch balkanisch...!“ Existieren eurer Meinung nach Eigenschaften, die man als „typisch balkanisch“ bezeichnen könnte? Wenn nicht, warum wird dieser Ausdruck so häufig benutzt? Wenn ja, was versteht ihr darunter? 3. Stellt euch Folgendes vor: Auf der internationalen Touristikmesse in Berlin 2007 sind die Länder der Balkanregion mit einem gemeinsamen Stand vertreten. Entwerft dafür einen Flyer, der auf der Messe verteilt werden soll. Aus ihm soll hervorgehen, warum die Menschen auf dem Balkan Urlaub machen sollten. Die Auswertung der Notizen zeigte, dass die TeilnehmerInnen die Diskussionsrunden nutzten, um Kenntnisse über die Balkanregion auszutauschen. Dabei entstand ein Sammelsurium an Begriffen, ein vielseitiges Balkanarchiv, das mehrere Kategorien erkennen lässt: Die Studierenden nannten Kulinarisches (z.B. „Rakia, Mici, Serbska Salata“), kulturelle Sehenswürdigkeiten („Klöster, Akropolis, Thessanoliki“) geographisch-natürliche Begebenheiten („Schwarzes Meer, Donau, Gebirge“) und ge5 Bulgarischer Schnaps 6 Rumänische Hackfleischrollen 7 Serbischer Salat mit Tomaten, Gurken, Paprika, Petersilie und Oliven Seminarmethode „World Café“ Gruppengröße Ab 15 TeilnehmerInnen Anwendungszeitpunkt Zu Beginn eines Seminars (Eröffnung oder erster Arbeitstag) Anwendungsmöglichkeiten Sowohl als Einstieg für Fachtagungen als auch für interkulturelle Begegnungen oder Firmentreffen geeignet. Die Methode muss an das jeweilige Publikum angepasst werden Ziele Erfahrungsaustausch, Ideensammlung, kennen lernen, erste Auseinandersetzung mit dem Seminarthema Ergebnissicherung • TeilnehmerInnen notieren die wichtigsten Ergebnisse und präsentieren sie am Ende jeder Diskussionsrunde (kann langwierig werden) • Nach jeder Diskussionsrunde berichten die Gesprächsgruppen und ein Visualisierungskünstler bringt die Ergebnisse auf Papier. • Standbilder bauen (bringt die Grundidee der Diskussion zum Aus- druck, sehr amüsant) • Tischdecken mit Notizen als Dokumentation aufhängen Stolpersteine… …und wie man sie umgeht! Die TeilnehmerInnen wissen Nicht alle Arbeitsschritte auf einmal erklären, sondern die Anweisungen etappenweise an die TeilnehmerInnen vermitteln. nicht was sie machen sollen. Die Fragen regen nicht zur Diskussion an. Die TeilnehmerInnen verlieren das Interesse an der Diskussion. Die TeilnehmerInnen notieren ihre Ideen nicht auf die Tischdecken. Die TeilnehmerInnen wechseln nach der ersten Diskussionsrunde nicht die Tische, sondern diskutieren weiter. Auf klare und konkrete Formulierungen achten. Stellen Sie offene Fragen. Fragen müssen provokativ sein und neue Perspektiven eröffnen. Testen Sie die Fragen im Voraus. Das „World Café“ kann beliebig abgekürzt werden. Nichts ist Schlimmer als die TeilnehmerInnen zu einer Diskussion zu zwingen! Erinnern Sie die Diskutierenden daran und erklären Sie kurz, warum die Ideen auf das Papier gebracht werden müssen. Erinnern Sie die TeilnehmerInnen, dass Sie mit ihrer Diskussion zu einem Ende kommen sollen. Haben die anderen TeilnehmerInnen bereits die Tische gewechselt, dann ist es besser, die Runde beizubehalten, da sonst die anderen Diskussionsgruppen gestört werden. 15 schichtliche Besonderheiten („Osmanisches Reich, immer im Interesse der Großmächte“). Bemerkenswert ist dabei, dass die Studierenden alle Gerichte, die sonst so stolz als „typisch bulgarisch!“ oder „typisch rumänisch!“ deklariert werden, unter dem Oberbegriff der „Balkanküche“ sammelten. Klärungsbedarf trat dabei auch auf, da beispielsweise zu dem in Bulgarien beliebten Getränk „Ayran“ in Klammern das Rezept hinzugefügt wurde („Joghurt und Salz und Wasser“). Besonders reichhaltig notierten die Studierenden ihre persönlichen Eindrücke über die Menschen und die Lebensweisen in den Balkanländern. Während die deutschen Studierenden mehr oder weniger eine Außensicht einnahmen, versuchten die Studierenden aus Mazedonien, Bulgarien, Rumänien und dem Kosovo Eigenschaften ihrer eigenen Identität zu benennen, die sich ihrer Meinung nach auf die gesamte Region übertragen lassen. Zu lesen war unter anderem „Gastfreundschaft, Korruption, Traditions- 16 bewusstsein, Familiensinn, Balkanisches Chaos“. Die Balkanbilder zwischen deutschen, mazedonischen, kosovarischen, bulgarischen und rumänischen Studierenden divergierten den Notizen nach nicht. Der Krieg im ehemaligen Jugoslawien tauchte in den Notizen nicht auf, lediglich die Bemerkungen „territoriale Bestrebungen“ und „Nationalismus? > verbreiteter als in Mittel und Westeuropa“ weisen auf nationale Konflikte in der Balkanregion hin. Dies ist möglicherweise darauf zurückzuführen, dass aus Regionen, welche direkt in den kriegerischen Konflikt im ehemaligen Jugoslawien involviert waren, lediglich zwei Studierende (aus dem Kosovo) teilnahmen. Die Frage, ob etwas „typisch Balkanisches“ überhaupt existiert, wurde von den Studierenden nicht behandelt. Es ist möglich, dass die TeilnehmerInnen tatsächlich das verbindende Moment des Balkans sehen. In den im weiteren Seminarverlauf durchgeführten Workshops, welche unter anderem die Analyse von rumänischen Karikaturen und Filmen und die Untersuchung des Bildes Rumäniens und Bulgariens in der deutschen Presse zum Thema hatten, zeigte sich aber, dass es doch das Bedürfnis gab, das einheitliche Bild des „Balkanischen“ zu problematisieren und zu dekonstruieren. In Bezug auf die Methode des „World Cafés“ wird hier deutlich, wie vorteilhaft ein „Gastgeber“ oder eine „Gastgeberin“ am Tisch sein kann, der oder die darauf achtet, dass die Fragestellung vollständig bearbeitet wird. Auch ohne „GastgeberIn“ traten die Diskussionsgruppen über die Notizen in gegenseitige Interaktionen: Als Reaktion auf eine vorangegangene Kleingruppe, die vorwiegend negative Besonderheiten der Balkanregion diskutierte und notierte („Blutrache, territoriale Bestrebungen und Taschenräuber“), zählten die nächsten Diskutantinnen an diesem Tisch unter der fett geschriebenen Überschrift „positiv“ ihre Eindrücke auf, z.B. „Selbstironie, Improvisationstalent, Vielfalt und Gastfreundschaft“. Besonders in den Diskussionen zur Fragestellung 1 reflektierten die TeilnehmerInnen das Verhältnis zwischen politischer und privater Sphäre in postkommunistischen Staaten. Ihrer Meinung nach seien für Bürger in post-kommunistischen Staaten das Private und insbesondere die Existenzsicherung wichtiger als das politische Mitbestimmungsrecht. Das führte die Diskussion im Folgenden zu der Fragestellung, welche Gründe für das Desinteresse an politischer Mitsprache auszumachen sind. In den Notizen hielten die Studierenden fest: „Bequemlichkeit, Intransparenz“ über Mitspracherechte und Folge des Kommunismus. Die Diskussion wurde schließlich erweitert auf das Phänomen der Politikverdrossenheit in westeuropäischen Staaten. Das „World Café“ diente auch dazu, neue Fragen aufzuwerfen, da viele Diskussionsstränge in diesem Rahmen nicht hinreichend geklärt werden konnten. Im Zusammenhang mit der Suche nach „dem Balkanischen“ wurde beispielsweise die Frage notiert, ob Rumänien überhaupt zur Balkanregion gehöre. Solche weiterführenden Fragen versuchten wir in den Workshops aufzugreifen. So wurde die Frage nach Rumänien besonders in dem Workshop zum Thema „Rumänische Balkanbilder und Balkanstudien“ thematisiert. Ebenso wurde der Identitätsbegriff hinterfragt. Neben der Balkanidentität existieren viele andere Identitäten, z.B. eine serbische und jugoslawische. Identitäten sind immer multipel und relativ. Gleichzeitig wurde in der „Balkanbar“ viel gelacht. So wurde der Balkan als Projektionsfläche westeuropäischer Sehnsüchte nach Leidenschaft, Sozialroman- tik und Abenteuer in den Tourismusflyern entlarvt und karikiert (siehe Abbildung S.10). Rumänische und bulgarische Bauern und Politiker wurden auf die Schippe genommen: Thesen: 1. Die rumänischen Bauern trinken Schnaps wäh- rend ... andere die Überschwemmungsschäden repa- rieren. ...die rumänischen Politiker von den Schäden profitieren. 2. Der bulgarische Bauer arbeitet, um ins Paradies zu kommen. 3. Aber die rumänischen Politiker sind schon da. 4. Schnaps macht glücklich. Und da Ironie und besonders die Selbstironie bereits ein Moment der (Selbst-)Reflexion beinhalten kann, bekamen die TeilnehmerInnen zum Abschluss die Aufgabe, Ihre Diskussionen in einem Standbild darzustellen. Man stelle sich hierzu einen westfälischen Studierenden vor, der die balkanische Leidenschaft verkörpern soll! Weiterführende Literatur: Badicioiu, Alexandra (2006): Cu Mioriţa prin spaţiul Schengen. In: Cotidianul, 2. Februar 2006: http://www.cotidianul.ro/index. php?id=3869&art=8837&cHash=90e3e70984#send (abgerufen am 2.2.2007). Brown, Juanita et al. (2005): The World Café. Shaping Our Futures Through Conversations That Matter. San Francisco. Bundeszentrale für politische Bildung (Hrsg.) (2006): Großgruppenveranstaltungen in der politischen Bildung. Konzepte und Methodenüberblick Gestaltung und Moderation in der Praxis. Bonn. 17 Das World Café präsentiert. Eine kurze Einführung, um Gespräche in Gang zu bringen. URL: http://www.all-in-one-spirit.de/pdf/cafetogo_d.pdf (abgerufen am 28.12.2006). Keith, Thomas und Andreas Umland (Hrsg.) (2006): Geistes- und sozialwissenschaftliche Hochschullehre in Osteuropa II. Deutsche und österreichische Impressionen zur Germanistik und Geschichtswissenschaft nach 1990. Frankfurt a.M. et al. Institut Balance (2007): http://institut-balance.de (abgerufen am 2.1.2007). Osmetz, Dirk: Gemeinsame Arbeit im Caféhaus – „The World Café“, eine neue Großgruppenmethode. URL: http://www.org-portal.org/ portal/artikel.php?did=372 (abgerufen am 2.2.2007). Keith, Thomas und Andreas Umland (Hrsg.) (2006): Geistes- und sozialwissenschaftliche Hochschullehre in Osteuropa II. Deutsche und österreichische Impressionen zur Germanistik und Geschichtswissenschaft nach 1990. Frankfurt a.M. et al. Checkliste für die Vorbereitung eines „World Cafés“: • • • • • • • • • • 18 Zielsetzung formulieren Teilnehmerkreis benennen ModeratorIn und eventuell TischmoderatorInnen benennen Räumlichkeiten reservieren Akustik des Raums testen und eventuell Mikrophon besorgen Kleine (runde) Tische mit ausreichender Bestuhlung Helle, glatte Papiertischdecken Mehrere Filzmarker für jeden Tisch Karten mit Abbildungen und Fragen für jeden Tisch Geschirr, Getränke und Snacks “Die Diskurse im Seminar sind interessant und vielfältig und ermöglichen eine breitere Sicht bezüglich westlicher Balkanbilder.“ „Ich denke, dass das Seminar sehr positiv wirken wird, weil die Studenten, die aus dem Westen „Der Kontakt mit den Studenten und der Austausch mit ihnen (in den Diskussionsrunden, aber auch privat) ist sehr interessant und informativ für mich und gut für die Bildung meines persönlichen kommen, direkt mit der Realität konfrontiert sind. Sie werden verstehen, dass die Leute im Balkan zusammen leben wollen und nicht nur Krieg führen.“ Balkanbildes. Die Informationen aus den Workshops liefern zusätzliches Grundlagenwissen über Geschichte und Situation der Region.“ „Mein ¸Balkanbild‘ hat sich durch das Seminar (noch) nicht wirklich verändert, aber es ist bereits durch einige wertvolle Infos und Eindrücke erweitert worden.“ 19 Balkanbilder in West und Ost Eine Umfrage Alexander Di Leonardo Der Balkan: für die einen Drehort der schönsten Winnetou-Folgen, für die anderen Tatort unvergleichlicher Verbrechen. Bei vielen weckt der Begriff „Balkan“ Erinnerungen an die schönen Steinstrände der Adriaküste oder an Cevapcici. Jeder assoziiert andere Bilder mit diesem Landstrich. Ebenso stark variiert die Auffassung darüber, welche Länder auf dem Balkan liegen. Gehört Rumänien zum Balkan oder sind damit nur die Mitgliedsländer des ehemaligen Vielvölkerstaats Jugoslawien gemeint? Schnell wird klar, dass es auf solche Fragen keine einfachen Antworten gibt. Um den TeilnehmerInnen des einwöchigen Seminars zum Thema „Balkanbilder in West und Ost“ zumindest den Einstieg zu erleichtern, hatte ich mich spontan dazu entschlossen, einen kleinen Film vorzubereiten. Er sollte keine endgültigen Antworten auf oben gestellte Fragen liefern, sondern auf unterhaltsame Weise und mit interessanten Ergebnissen in das Thema einführen. Die unterschiedlichen Aussagen der Interviewten verdeutlichen dabei gleichzeitig die Faszination und Komplexität des Balkans. 20 Methode: Vor laufender Kamera stellte ich fünf TeilnehmerInnen meines Rumänisch-Sprachkurses, den ich im Rahmen meines einjährigen Auslandsaufenthaltes an der BabeşBolyai-Universität Klausenburg in Rumänien belegte, zwei Fragen: Welche Länder gehören deiner Meinung nach zum Balkan? Welche Bilder assoziierst du mit dem Begriff Balkan? Meine fünf InterviewpartnerInnen kamen aus den folgenden Mitgliedsländern der EU: Portugal, Deutschland, Frankreich, Österreich und Italien. Während die erste Interviewpartnerin (Portugal) sich gerade mit ihrem rumänischen Ehemann und den gemeinsamen zwei Töchtern für ein Sabbatjahr in Klausenburg aufhielt, waren die vier anderen Befragten allesamt ErasmusStudierende unterschiedlicher Fachrichtungen. Alle durften in ihrer jeweiligen Muttersprache antworten, um die Ergebnisse nicht durch eventuelle Sprachbarrieren einzuschränken. Die Antworten wurden von mir im Anschluss an die Befragung ins Deutsche übersetzt und in einer Powerpoint-Folie an das Ende des jeweiligen Fragenabschnitts gesetzt. Befragung: A: Claudia Padrao, Portugal (Hausfrau und Mutter) 1. Welche Länder gehören deiner Meinung nach zum Balkan? Bulgarien, Rumänien, Republik Moldau, Kroatien, Serbien-Montenegro, Albanien (Ex-Jugoslawien). 2. Welche Bilder assoziierst du mit dem Begriff Balkan? Dabei fällt mir sofort die ehemalige Republik Jugoslawien ein. Wenn ich es in wenigen Worten zusammenfassen soll: Krieg, Leute, die nicht sehr locker, sehr nervös sind. Menschen, die sehr traditionalistisch und nationalistisch sind. „Nationalistisch“, das ist das Wort nach dem ich gesucht habe. 21 B: Stefan Niklas, Deutschland (Kulturwissenschaftsstudent) 1. Welche Länder gehören deiner Meinung nach zum Balkan? Ich würde Bulgarien, Serbien, Mazedonien, Albanien dazuzählen. Dann noch, was eben zu Serbien dazugehört: Montenegro (ob es nun dazugehört oder nicht). Auch Bosnien würde ich intuitiv dazuzählen, und wenn man das dazuzählt würde ich auch Kroatien dazuzählen. Bevor ich nach Rumänien gekommen bin, hätte ich es auch zum Balkan gezählt und jetzt würde ich sagen: Naja, vielleicht die Walachei. Bei Griechenland bin ich mir unsicher, weil ich Griechenland als EU denke und deshalb nicht als Balkan, aber vielleicht gehört es auch zum Balkan. 22 2. Welche Bilder assoziierst du mit dem Begriff Balkan? Auf jeden Fall das balkanische Chaos, das ist meine erste Assoziation. Dann die Vorstellung von kaputten Straßen und alle haben eine Waffe und ein Messer. Das ist auch so eine Assoziation, der ich nicht entkommen kann. Jedes Dorf hat seinen eigenen Schnaps und der Balkankrieg, natürlich. Vielleicht noch der Spruch: das Pulverfass Balkan mit der dazugehörigen Karikatur. Das Amselfeld fällt mir dann noch ein genauso wie Namen aus der neuesten Geschichte wie Milosevic, Karacic und wie sie alle heißen. Wenn ich an den Balkan denke, denke ich an slawische Sprachen, aber das ist kein wirkliches Bild… C: Isabelle Guignand, Frankreich (Studentin der SoziC: C: Isabelle Guignand, Frankreich (Soziologiestudentin) 1. Welche Länder gehören deiner Meinung nach zum Balkan? Mazedonien, Albanien, Bulgarien, Kosovo, Kroatien, Bulgarien, Serbien-Montenegro, Rumänien. 2. Welche Bilder assoziierst du mit dem Begriff Balkan? Der Begriff Balkan sagt mir einerseits sehr viel, andererseits aber auch nicht. Der Balkan ist ehrlich gesagt eine Weltregion, die mich aus unerklärlichen Gründen sehr anzieht. Außerdem denke ich noch an den Kosovokonflikt in Ex-Jugoslawien. Vielleicht bin ich deshalb so stark vom Balkan angezogen, weil ich ihn nicht kenne und ich den Eindruck habe, dass es eine besondere Region ist. Vielleicht auch deshalb, weil ich nicht so genau weiß, was dort eigentlich passiert ist. 23 D: Bernhard Heigl, Österreich (Geschichtsstudent) 1. Welche Länder gehören deiner Meinung nach zum Balkan? Serbien-Montenegro, Mazedonien, Bulgarien, Albanien, Kroatien wird schon schwer, Slowenien definitiv nicht mehr. 24 2. Welche Bilder assoziierst du mit dem Begriff Balkan? Als erstes auf jeden Fall die Balkankriege von ´92 herauf bis ´99 zur NATO-Intervention und die ganzen Kontroversen, die darum geführt wurden. Dann die ethnischen Gruppierungen im Balkan, dass doch fast der ganze Balkan sehr nationalisiert ist bzw. diese Nationalisierung in den letzten 20 Jahren wieder aufgelebt ist. Ein großes Gemisch an Ethnien, ein großes religiöses Gemisch, das eigentlich immer durch die Zeiten hindurch sehr explosiv war und sich diese Sprengkraft eigentlich bis heute hin bewahrt hat. E: Irene Malamaci, Italien (BWL-Studentin) 1. Welche Länder gehören deiner Meinung nach zum Balkan? Serbien-Montenegro, Albanien, Kosovo, Bulgarien. 2. Welche Bilder assoziierst du mit dem Begriff Balkan? Wenn ich das Wort Balkan höre, denke ich vor allem an Bürgerkriege, Unruhen und ähnliches. Dinge, die bis in unsere Zeit andauern. Dann denke ich noch an die daraus resultierenden Probleme, wie die wirtschaftliche und politische Instabilität und die aus den Balkanstaaten kommenden Flüchtlingsströme in meine Heimat. Obwohl es traurig ist, eine Region nur mit solch negativen Assoziationen in Verbindungen zu bringen, ist es irgendwo einfach die Wahrheit. Allerdings glaube ich, dass uns diesbezüglich auch viel von Fernsehen und Zeitungen vorgegeben wird. 25 Analyse: Abgesehen davon, dass die Umfrage nicht als repräsentativ gelten kann, sind die Ergebnisse doch sehr aussagekräftig. Angesichts der Tatsache, dass es keine eindeutige Definition für die Region „Balkan“ gibt, überraschen die Antworten der fünf Interviewten nicht. Nur die Länder Serbien-Montenegro, Albanien und Bulgarien wurden von allen Befragten dem Balkan zugeordnet. Der Kosovo, gegenwärtig noch Teil Serbiens, wurde von zwei Befragten sogar zu einem eigenständigen Land erhoben. Slowenien wurde nicht ein einziges Mal erwähnt, was vielleicht mit der schnellen wirtschaftlichen und politischen Annäherung an den westlichen Standard erklärt werden kann. Die einmalige Miteinbeziehung der der Republik Moldau, nord-östlich von Rumänien gelegen, ist ebenfalls bemerkenswert. Auffallend ist, dass alle Interviewten fast nur negative Assoziationen mit dem Begriff „Balkan“ haben. Dies erklärt sich durch die in den Köpfen fest verankerten Eindrücke des Konflikts im ehemaligen Jugoslawien. In diesem Zusammenhang muss jedoch auch die Tatsache berücksichtigt werden, dass es sich bei den Interviewten hauptsächlich um Studierende der Jahrgänge 1980 bis 1982 handelt, deren Jugend von den Bildern des Bürgerkriegs und dessen unmittelbaren Folgen wie z.B. Flüchtlingsströmen ins Heimatland begleitet wurde. Der Begriff „Balkan“ würde bei Angehörigen älterer Generationen wahrscheinlich auch positive Erinnerungen wie beispielsweise die an schöne Urlaube hervorrufen. 26 Identitäten in Bulgarien zwischen Fremdbestimmung und Selbstbestimmung Identitätsdiskurse Penka Angelova In seiner Erzählung „Wechselbäder“ berichtet Dimitré Dinev von den Zeiten des Wechsels in einem Land, das zufällig Bulgarien heißt, das aber auch ein beliebiges exsozialistisches Land hätte sein können: „Die Zeiten waren wechselhaft. Man wechselte Fahnen, Wappen und Uniformen. Man wechselte die Namen der Städte, Straßen, Schulen und Sportplätze, der Parks, Krankenhäuser und Fabriken, und wenn man keinen geeigneten Namen für die Fabriken fand, schloß man sie wieder... “ (Dinev 2005: 5) Die zwei Hauptgestalten, ein Bulgare und ein bulgarischer Türke, wechseln mehrfach ihre Identitäten, der eine sogar sein Geschlecht im Namen des Gewinns und des Schwarzmarkts, werden von der Mafia erwischt und enden auf unterschiedliche Weise, der eine wird ermordet, der andere endet im Irrenhaus bei den Wechselbädern. Der Weg zu den Wechselbädern führt über Wien. Der Weg der Bulgaren nach „Europa“, nach jenem imaginären Gebilde, das in den Jahrhunderten auch sein Image geändert hat, führte hauptsächlich über Wien. Von seiner Heimatstadt, Ruse (Rustschuk), schreibt Canetti am Anfang des 20. Jahrhunderts: „Die übrige Welt hieß dort Europa, und wenn jemand die Donau hinauf nach Wien fuhr, sagte man, er fährt nach Europa, Europa begann dort, wo das türkische Reich einmal geendet hatte.“ (Canetti 1994a:11) Und wenn jetzt manche Politiker oder Reiseleiter mit der Stadt Ruse Staat machen wollen, sagen sie gleichermaßen, es sei das Tor zu Europa, es sei die europäischste Stadt in Bulgarien etc. Ich persönlich habe mehrere Tore zu Europa erlebt, einschließlich Edirne in der Türkei. Seit über einem Jahrhundert, seit der Gründung des dritten bulgarischen Staates, ist Bulgarien in einem Wandel begriffen, Übergänge zur eigenen Staatlichkeit an der Jahrhundertwende, zum Kapitalismus in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, zum Sozialismus in der zweiten Hälfte, zur Demokratie an der Jahr- 27 tausendwende. Diese Übergänge gelten als politische Programme, auf deren Hintergrund eine Gesellschaft mit ihren menschlichen Figurationen einen vielfach strukturierten Wandel erlebt, in dem etwa sechs Identitätsdiskurse des Übergangs agieren, dessen Ansätze schon im Osmanischen Reich angelegt waren und sich in diesen etwa anderthalb Jahrhunderten mit, historisch gesehen, „rasender Geschwindigkeit“ abgewickelt haben und sich immer noch abwickeln. Diese Identitätsdiskurse können folgenderweise zusammengefasst werden: 1. Der Diskurs der Gegenüberstellung von Balkanbzw. bulgarischer Identität und europäischer Identität 2. Der Übergang von der patriarchalen patrilinearen Großfamilie zu der bürgerlichen Kleinfamilie und die darauf, nicht daraus, folgende Emanzipation der Frau. 3. Der Übergang von einer agrarischen BauernGesellschaft zu einer vorwiegend städtischen Gesellschaft und die Herausforderungen für die Civil Society. 4. Diese Übergänge spielen sich auf dem Hintergrund nationaler und damit verzwickter ethnischer Identitätsdiskurse 5. und der damit verbundenen religiösen Identitätsdiskurse ab. 6. Der sechste und verdecktere Identitätsdiskurs ist der des Übergangs von der sozialistischen Kultur zu einer bürgergesellschaftlichen demokratischen Kultur, der in den vorherigen Diskursen aufgeht. Diese Diskurse ergeben die Basis für eventuelle Bruchlinien (cleavages) (Autengruber 2006), die daraus entstehen können (z.B. Stadt versus Land, Kom- 28 munismus versus Antikommunismus), je nachdem, wie bewusst sie von den Bürgern erlebt werden. (Dass sie zu politischen Bruchlinien werden, hängt dann von den Strategien der Parteien ab, inwiefern sie diese Nischen benutzen können und wollen). 1. Balkan versus Europa Wie aus den Materialien der 1998 in Ruse durchgeführten Konferenz (Angelova/Veichtlbauer 2001) hervorgeht und wie Maria Todorova (Todorova 1999, 2004) in ihrem grundlegenden Buch dargestellt hat, ist Bulgarien vielleicht das einzige Land in Südosteuropa, das sich mit der Bezeichnung Balkan identifiziert. Im Sinne der von Canetti in Masse und Macht anvisierten „Massensymbole der Nationen“, die in Sage und Lied, im Märchen und in der mündlichen Überlieferung identitätsstiftend sind, kann der Balkan in seiner doppelten Bedeutung als DAS Balkan-Gebirge und als Gebirge schlechthin als ein Massensymbol der Bulgaren betrachtet werden, mit dem man sich zum großen Teil identifiziert, das eine bergende und verbergende Macht auszuüben vermag. Von da aus gehen Sagen und Gerüchte über „balkandjii“, also in den Bergen lebende Menschen, die besonders mutig, heldenhaft, freiheitsliebend, kämpferisch, mit einem Wort – stur sind. Balkan ist kein geographischer Begriff, Balkan ist eine Erfindung der Politik, wie auch Maria Todorova (Todorova 1999, 2004) in ihrem Buch überzeugend dargelegt hat. Die Politisierung des Begriffes führt zu einem 1 „Kollektive Einheiten, die nicht aus Menschen bestehen und dennoch als Massen empfunden werden, bezeichne ich als Massensymbole.“ (Canetti, Elias 1994b: 87) Außeinanderklaffen von Außen- und Innenansicht, so dass die Historiker keine gemeinsam verständliche Sprache mehr finden. Während die Außenansicht den Balkan entweder als „Pulverfass“, dem nur „Balkanisierung“ zuzutrauen ist, darstellt, neigt die Innenansicht zu „Rettertheorien“ von der osmanischen Invasion (den Balkanstaaten gebühre Dank, weil sie die osmanische Invasion in den Grenzen des Balkans zurückgehalten haben), oder „Opfertheorien“ der Politik der Großmächte. Dieses Auseinanderklaffen der Ansichten zwischen West und Ost, zwischen Geographie und Politik führte zu der Einsicht, dass die historischen „Begriffe und Termini, die Prozesse und Theorien über die Entwicklung der europäischen Gesellschaften“ bei der Analyse von Geschichte, Kultur und Lebensart auf dem Balkan „nicht immer anzuwenden“ sind, dass „die Balkanistik einen spezifischen und wichtigen Platz in der Europäistik“ einzunehmen hätte und eine neue „Forschungs-Methode in Zusammenarbeit mit Forschern aus den Balkanländern“ anzuwenden sei (Spiridonov 2001), dass die Historiker eine gemeinsame Sprache und gemeinsame Terminologie von Innen- und Außenansicht suchen und finden sollen. Genauso uneindeutig ist das Bild von Europa, das ursprünglich die Züge der Bildung, des Fortschritts, der Einfuhr von revolutionären Ideen von den im Ausland studierenden Söhnen wohlhabender Eltern im 19. 2 Unter Balkanisierung werden Kleinstaaterei und verworrene politische Ver- hältnisse verstanden vgl. Tododova 1999: 57, wo sie Hobsbawm zitiert). Siehe auch Duden in 8 Bänden; auch Österreichisches Wörterbuch(2001); Dimova (2002) 3 Diese Opfertheorien wurden von einzelnen Historikern auch während der 1998 von der Internationalen Elias Canetti Gesellschaft organisierten Konferenz zum Thema „Balkan - Pulvervass. Myhos oder Realität“ thematisiert: Jahrhundert hatte, das aber zu Zeiten des realen Sozialismus die Züge des Wohlstand bekam. Europa als Image und als Utopie, als Entwurf und als Wunschdenken wird auch nach der Wende hüben wie drüben in vielerlei Munde geführt. Es führt von der Behauptung eines Politikers, der auf die Frage, wodurch er sich als Europäer fühlt, geantwortet habe, durch seinen europäischen Pass, bis zu der Ausbildung einer neuen Fachrichtung, der Europäistik (European Studies) und dem Vorschlag für eine neue historische Sparte, die die europäische Geschichte als Ganzes und nicht als Summe der nationalen Geschichten betrachten soll (Schmale 2002: 119). Zum Wunschdenken gehört auch die Herausbildung eines neuen Verfassungspatriotismus, der die unterschiedlichen kulturellen Muster der einzelnen Kulturen verbinden soll. Solche Stimmen lassen sich auch im Westen hören, etwa bei Iso Camartin, der die europäische Identität mit dem Bild eines Flickenteppichs vergleicht, der an jedem Ort unterschiedlich ist. Jeder Ort trägt seine historische Ladung und seine historische Tiefendimension und markiert seinen eigenen Topos der Identität und der Tradition, ein Lokus iste, („das ist der Ort“), ein Ansatz zur Himmelsleiter – der Vergleich führt auf den Traum von Jakob und die Jakobsleiter zurück; aber auch ein Tor zur Höllenleiter! Das Bewusstsein dessen, dass auf diesem alten Kontinent jeder Ort mit facettenreicher Geschichte beladen ist und die vielen Geschichten sich in ihm wie auf einem Palimpsest aufschichten, dass gute und böse Zeiten ihre Spuren darauf hinterlassen und diese Spuren gelesen und nicht vergessen werden dürfen, soll immer wieder wachgerufen werden. Vgl. Ancev/Misev (2001). Aber auch Geschichtslehrbücher, etwa auch rumänische. Vgl. Stiftung Balkancolleges (1998). 29 Die gewöhnliche Haltung der Bulgaren in diesem angeblichen Identitätsspagat ist die des doublebind-Verhältnisses zur eigenen Identität: nach innen schimpft man – ein gewöhnlicher alltäglicher Ausdruck ist „bylgarska rabota“/bulgarisches Erzeugnis, Ware, aber auch Angelegenheit/für etwas nicht Gelungenes oder schlecht Gemachtes – nach außen ist es ein übertriebener nationaler Stolz auf das Bulgarentum: In den Medien werden oft internationale Intelligenzteste zitiert, bei denen Bulgaren die zweite oder dritte Stelle belegt hätten. In diesem Sinne fand über mehrere Jahre in den Medienbesprechungen die Aufnahme eines Gedichtes in den Kanon der Literaturlehrbücher der Grundstufe ein enormes Echo: das Gedicht „Ich bin ein Bulgare“ von Ivan Vazov, das seit Generationen als grundlegend für die Erziehung eines bulgarischen Nationalstolzes betrachtet worden ist. Einige Kultusminister wurden von den Medien befragt, das Gedicht auswendig vorzutragen, es wurde die große Gefahr für das bulgarische Selbstbewusstsein ausgemalt, wenn das Gedicht nicht in den Kanon aufgenommen wird. Es hatte den Anschein, dass das nationale Selbstbewusstsein der bulgarischen Kinder an der Dekanonisierung dieses Gedichtes scheitern würde. Meine These lautet: Bildung ist Heimat. Die Geschichts- und Literaturlehrbücher spielen eine enorme Rolle bei der Herausbildung des Selbstbewusstseins der Bürger, sie sind grundlegend für die Herausbildung der Persönlichkeit. Deswegen ist es wichtig, ob diese Bildung zur Völkerverständigung oder zur Verdrängung des Anderen führen wird. Eine Untersu4 Hier gehe ich ausschließlich auf bulgarische Beispiele ein und ziehe nur ge- legentlich andere heran. Diese Diskurse lassen sich jedoch auch am Beispiel der anderen SOE-Länder beweisen, wie vergleichende Fallstudien gezeigt haben. 30 chung des Bildes „des Anderen in den Geschichtslehrbüchern auf dem Balkan“ (Stiftung Balkancolleges 1998) zeigt, wie sehr die Geschichtsschreibung in den Balkanländern politisch und nicht sozialhistorisch orientiert ist, wie sehr ein doppelter Maßstab an die historischen Ereignisse angelegt wird, wie sehr das Bild des Anderen ein Feindesbild darstellt und das nationale Selbstbild als Opfer, Retter der (evtl. christlichen) Zivilisation oder friedliebendes Objekt nachbarlicher Kriegsgelüste hingestellt wird, manchmal auch alles in einem. Die Geschichtslehrbücher sind so geschrieben, dass man den Eindruck bekommen könnte, dass Kriege die einzige Kommunikation unter den Völkern gewesen sind. Als nationaler Staat, in dem die eine Ethnie sich als die führende Mehrheit versteht, werden die anderen Minderheiten nur toleriert. Die wichtigsten identitätsstiftenden Faktoren in Bulgarien sind die Schulen, vor allem der Geschichts- und Literaturunterricht, und die familiäre Tradition. Das sind die ersten Sozialisierungsinstanzen, bei denen Lebenswelt entworfen wird. Die Hinterfragung des Literaturkanons und der historischen Werte (Stiftung Balkancolleges 1998), die vermittelt werden, ergibt, dass nationales Bewusstsein, Nationalstolz und Rückbeziehung auf eine leidensvolle aber ruhmreiche Geschichte einen besonderen Schwerpunkt des Unterrichts ausmachen. Da aber zunehmend die Eltern aufgrund ihrer Arbeitsbelastung zu wenig Zeit für die Kindererziehung haben, wird diese Aufgabe den Großeltern und der Schule überlassen. Hier wäre es an der Zeit, dass die alten Kanons durchbrochen werden und die orthodox beeinflusste autoritäre Bildung modernisiert wird. Das lässt aber noch auf sich warten. des Mannes für die als weiblich geltenden Sphären des Alltags, was zu einer Doppel- und Dreifachbelastung der Frau und zu einer Abneigung gegen diese falsch verstandene Emanzipation führte. Andererseits gehörte die allgemeine Beschäftigungspolitik zum Die Modernisierung der Familie ist wie üblich mit der kommunistischen Projekt, wobei die kindererziehenArbeitsteilung und der Industrialisierung verbunden. den Funktionen vom Staat übernommen wurden. Der patriarchale Staat ist von dem kommunistischen Einen interessanten Vergleich zwischen dem kom„Väterchen Staat“ abgelöst worden, der die patriar- munistischen und dem parlamentarischen Patriarchalen Funktionen des Familienvaters übernommen chat macht Susan Gal, indem sie beobachtet, dass hat und Bürger und Bürgerinnen, die eigentlich keine der kommunistische Staat die „väterliche Rolle“ der Bürger, sondern Genossen zu sein hatten, bevormun- Männer vereinnahmt habe, indem er direkte Hilfen dete. für die Aufziehung und die Sozialisierung der Kinder Die Rolle des kommunistischen Staates und des Sy- gegeben und sogar gewisse familiäre Funktionen stems war in Bezug auf die Frauenidentitätsbildung übernommen habe, der parlamentarische dagegen eine janusköpfige: Einerseits kann nicht bestritten die Macht über die Frau an die Männer individuell im werden, dass während des kommunistischen Re- Rahmen der Familie delegiert (Gal 1996). Wir haben gimes zwei Generationen von Frauen ihre Ausbildung hier nicht die Möglichkeit, im Einzelnen darauf einbekommen haben und auf den Arbeitsmarkt gegangen zugehen, welche Unterschiede es innerhalb der realsind, andererseits haben sich diese emanzipatorischen sozialistischen Kultur in Abhängigkeit von den GegeAkte auf dem Hintergrund einer Pseudoemanzipation benheiten der vorher existierenden patriarchalen und abgespielt, in der die patriarchareligiösen Systeme zwischen den le Funktion vom Staat und von pseudoemanzipatorischen Be„Bulgarien: ich glaubte, dass einem System der Planwirtschaft dingungen der Frauen gegeben die Leute ganz hässlich sind. und der kommunistischen kollektihat. Ausschlaggebend ist in dievistischen Ideologie übernommen sem Zusammenhang das erhöhte Aber: Sehr schöne Frauen, wurde (Slavova 2004: 155). Die komSelbstbewusstsein, die SelbstsiVIELE SCHÖNE FRAUEN.“ munistische Pseudoemanzipation cherheit und Fremdidentifikation bedeutete Gleichberechtigung der der Frau. Dass nach der DemoFrau in allen als männlich verstankratisierung und des Parlamentardenen Bereichen, nicht aber die Gleichberechtigung staates die patriarchale Macht wieder in die private Sphäre verdrängt wurde ist evident. Die sexistischen 5 Hier ist es angebracht, die von Karl Kaser und an Max Weber anknüpfende Losungsworte der angeblichen Revolutionen haben Einteilung der Gesellschaften in Behörden-, Gefolgs- und Verwandtschaftses deutlich gezeigt (Angelova 2002a ). gesellschaften zu übernehmen, wobei die Gesellschaften auf dem Balkan imIn den Geschichtsbüchern und der Literatur ist das mer noch das Verwandtschaftsprinzip nachweisen (Kaser 2002). 2. Der Übergang von der patriarchalen patrilinearen Großfamilie zur bürgerlichen Kleinfamilie 31 Bild der Frau jedenfalls vorwiegend patriarchal geblieben. Der Anteil der Frauen im Parlament ist kleiner als zu kommunistischen Zeiten – wobei vermerkt gehört, dass das sogenannte Parlament damals keine parlamentarischen Funktionen im wörtlichen Sinne hatte, die Arbeitslosigkeit unter Frauen ist größer, der Sexismus floriert in den Fernsehsendungen und in den Geschichtsbüchern. In der immer noch politisch und staatlich orientierten Geschichtsschreibung wird die Frau als „das Andere“, als ein fundamental vom Mann unterschiedliches Naturwesen dargestellt, das unveränderlich ist und zur Fortpflanzung, zur Erziehung der Kinder und zur Arbeit im Haus und auf dem Felde sein Leben fristet (Daskalova 2004: 144), sich um die kleinen Dinge des Alltags kümmert und vor Aktivitäten in der öffentlichen Sphäre gehütet wird. Auch in den neueren Geschichtsbüchern bleiben die Frauen als jene, die nach Lucien Fevr „kein Recht auf Geschichte haben“ (ebd.). Sie werden entweder als die Masse der Bulgarinnen beschrieben und mit den Attributen der Schönheit behängt, oder als doppelte Fremdheit, als die listigen, intriganten, fremdländischen Königinnen, die ihre Männer verraten und dem Staat geschadet haben – „Cherchez la femme“, Suche die Frau als den Grund allen Übels ist das Grundprinzip des älteren Kriminalromans und wohl auch der bulgarischen Geschichtsschreibung. Die Narrativik der Geschichtsbücher erzeugt die Spannung, dass wenn eine Frau als königliche Gattin vorkommt, schon Schlimmes zu erwarten ist. Als Leserin der Geschichtsbücher findet eine Frau kein Identifikationsbeispiel in der Geschichte. Die Frauen werden in diesen Lehrbüchern als Gattinnen, Töchter, Enkelinnen der machthabenden Männer präsentiert, oder als die ethnische Andersheit, 32 wobei sie auch so bezeichnet werden „die Jüdin Sara, die Ungarin Anna, die byzantische Prinzessin Maria“ usw. und eine jede Ethnie mit charakteristischen Zügen behangen wird. Die Attribute des Mannes gelten als universal, die Beschreibungen der „Bulgarinnen“ in den Geschichtsbüchern gehen auf ihre Schönheit oder ihre List ein. Über die Frauen schweigt die Geschichte, weil sie die Historiker nicht sprechen lassen (Daskalova 2004: 139). 3. Der Übergang von der agrarischen zur städtischen Gesellschaft Auch der Übergang von einer Bauerngesellschaft zu einer städtisch geprägten Gesellschaft, der zwangsläufig in dieser Region auch über die „Rurbanisierung“ geht, erfolgte massenhaft während des kommunistischen Regimes – eine städtische, bürgerliche Identität hatte sich vor und um die Jahrhundertwende in Ruse und Plovdiv, dann am Anfang des Jahrhunderts in Sofia, Varna, Burgas schon geprägt, nun ging der Kommunismus mit seinem Industrialisierungsprogramm und der Bodenreform (Enteignung des Bodeneigentums), später mit der Zusammenführung der LPGs zu APKs (Agrarkombinate, die mehrere dörfliche LPGs verbanden) vehement an eine Verstädterung des Landes. Größere Dörfer wurden zu Städten zusammengeführt oder einfach „umbenannt“, meistens ohne dass die Lebensweise der Menschen sich verändert hätte. Andererseits nahm die Migration in die Städte enorm zu, ohne dass ein traditionelles „Arbeiterbewusstsein“ entstanden ist, wie es sich in Mittel- und Westeuropa im Laufe des 20. Jahrhunderts herausgebildet hat. Denn im Kommunismus waren alle Arbeiter, auch die „wissenschaftlichen Arbeiter“. Die „neuen Bürger“ züchteten weiter ihre Tiere für den Haushalt im städtischen Hof, die kleinen Blumenanlagen vor den städtischen Häusern wurden durch Gemüseanlagen ersetzt und zwar nicht wegen Mangel an landwirtschaftlicher Produktion, sondern wegen der Vorliebe für hauseigene Produkte. Obwohl die Konservenkombinate den Plan für Im- und Export ständig erfüllten und sogar übererfüllten, wurden in den Städten – meistens im Hinterhof oder auf dem Balkon die sog. „Büchsenladen“ zelebriert: hauseigene Konservenproduktion in Gläsern. Die traditionelle Identitätsprägung, die durch Literatur und Förderung von Traditionen gewährleistet wird, war und ist immer noch auf die „ländliche Tradition“, die „angeborenen“ Werte und Inhalte fixiert und beruft sich auf die „ländlichen Wurzeln“. Selbst Feiertage einzelner Städte werden mit Reigen und Volksmusik eröffnet, die alten städtischen Lieder hört man nur in gesonderten Sendungen, der Ursprung vom Lande soll nach dieser Ideologie durch Literatur und Tradition gefestigt werden, was für die städtische Identität nicht fördernd ist. Die bulgarische Literatur ist auch zum großen Teil durch die ländliche und landwirtschaftliche Tradition beeinflusst, auch in gegenwärtigen Romanen spielt sich die Handlung auf dem Anger und dem Acker ab. In der Literatur geistert immer noch das Gespenst des expressionistisch gefärbten Stadtbildes – die Großstadt als Bedrohung. Diese Identifikation mit dem Ländlichen ist keine bulgarische Ausnahme, sie ist für die traditionell agrarischen Gesellschaften auf dem Balkan charakteristisch, auch bei rumänischen Studierenden, die seit Generationen aus Bukarest kommen. An rumänischen Feiertagen (wo die ländliche Tracht und die ländlichen Tänze eine Rolle spielen) lässt sich diese Orientierung auf die ländlichen „Wurzeln“, auf den „Ursprung vom Lande“ beobachten. Dabei ist zu vermerken, dass die Tracht auf dem Balkan nicht mit der traditionellen Tracht in Österreich oder Bayern zu vergleichen ist, die auf die Tracht der Landesherren zurückgreift, sondern auf die ländliche Tradition, auf den Volksreigen auf dem Anger zurückgreift. 4. Nationale und ethnische Identitätsdiskurse Die oben erwähnten Übergänge – der Übergang von der patriarchalen patrilinearen Großfamilie zu der bürgerlichen Kleinfamilie und der Übergang von der agrarischen Bauern-Gesellschaft zu einer vorwiegend städtischen Gesellschaft – ereignen sich auf dem Hintergrund nationaler und damit verzwickter ethnischer Identitätsdiskurse, die sich auch im Spannungsfeld von Fern- und Selbstidentifizierung abspielen. Für die Fernbestimmung sorgen wiederum die Historiker. Der „geschichtswissenschaftliche Beitrag“ für die zwanghafte Umbenennung der „bulgarischen Türken“ – der in Bulgarien seit Generationen lebenden Türken, bulgarische Bürger türkischen Ursprungs – bestand in der Beweisführung, dass es Bulgaren „mit verdunkeltem Selbstbewusstsein“ seien, angeblich während der osmanischen Herrschaft zwangsmoslemisierte Bulgaren. Die Pomaken – „auch bulgarische Muslime, Bulgaro-Mohammedaner oder Achrjane genannt“ (Brunnbauer 2002b), eine weitere minderheitliche Bevölkerungsgruppe in den Rhodopen – unterliegen auch mehrfacher Fern- und Selbstbestimmung. Über den Ursprung der Pomaken streiten sich bulgarische und türkische Historiker, wobei die Pomaken auch ihren Anspruch auf eine eigene Ethnie erheben (Brunnbauer 2002b: 97-121). Brunnbauers Feldforschung in einem 33 bulgarischen Pomakendorf zeigt, wie sehr die Identitätsbestimmung der Pomaken durch politische Akteure, historische Entwürfe und ökonomische Voraussetzungen beeinflusst wird. Einen noch frappanteren ethnischen Konsolidierungsprozess beschreibt Ger Duizings in „Die Erschaffung der Ägypter in Kosovo und Makedonien“ (Duizings 2002) – „eine Gruppe unter der Roma-Bevölkerung, die sich eine gesonderte Identität beimisst“ (Brunnbauer 2002: 8f.). Des Weiteren gehe ich nur stichpunktartig auf einige Aspekte der Auffächerung und Bewältigung dieses Diskurses ein, die in einer längeren Abhandlung aufgearbeitet werden sollen: • Die ethnische Selbstidentifikation der Minderheiten in Bulgarien und auf dem Balkan erfolgt zwischen Assimilation und Verweigerung (Türken, Romas). Eine anonyme Enquête über politische Kultur, die mit Hilfe von BRIE-Studierenden in den Ländern Bulgarien, Rumänien, der Republik Moldau, Makedonien, Kosova, Albanien über politische Kultur durchgeführt wurde, hat als interessantes Nebenresultat erbracht, dass in der ethnischen Selbstbestimmung bei Minderheiten Probleme aufgetaucht sind: Einzelne Bürger haben sich geweigert, ihre Ethnie anzugeben oder haben ersichtlich falsche Angaben gemacht. • Juden und Armenier haben kein Problem mit ihrer Selbstbestimmung in Bulgarien, sie haben ihre Gemeinden. • Durch die Parlamentarisierung einer Partei für Rechte und Freiheiten in Bulgarien, die im Volksmund als die „Türkische Partei“ geführt wird, ist die so genannte „Türkische Frage“ zum größeren Teil gelöst, das ist aber immer noch ein „zarter Frieden“, der gehütet und gepflegt gehört. Die Entstehung einer minderheitenfeindlichen Partei in Bulgarien (Ataka) ist ein Gefahr 34 bringendes Syndrom, das eigens untersucht gehört. Mittlerweile gibt es Schulen mit religiösem Unterricht und türkischer Sprache in Ruse und Smoljan, an einzelnen Schulen gibt es den selbstgewählten Unterricht in türkischer Sprache. • Die Roma-Frage wäre als vorwiegend soziales Problem zu betrachten, das aber auch seine kulturellen Probleme aufwirft, wenn unter Integration nicht Assimilation verstanden werden soll. • Und zu aller letzt soll auch Rechnung getragen werden, wie sehr ethnische Selbstbestimmung wie alle anderen nationalen, religiösen usw. Selbstbestimmungen auch eine Konstruktion ist und oft über finanzielle Unterstützungen und die EU-Programme auch zu einer Art selbstbevorzugter Fernbestimmung wird. 5. Religiöse Identitätsdiskurse Eng damit verbunden sind auch religiöse Identitätsdiskurse, die sich im „Nahkampf“ mehrerer Ideologien, Kirchen und Sekten abspielen und sich als Konstrukte erweisen. Als Erstes muss vermerkt werden, dass die traditionelle Glaubensvielfalt auf dem Balkan vom Islam über die jüdische und die führenden christlichen Religionen eine reichhaltige Skala in jedem der Länder aufweist. In den neuen Demokratien, in denen die Religion auf unterschiedliche Weise und in unterschiedlichem Maße unterdrückt wurde, hat das Europa der Religionen und der Sekten gleich nach der Wende in die „neuentdeckten“ Regionen des Ostens und Südostens Einzug gehalten. Die orthodoxen Kirchen andererseits erheben in den meisten Ländern ihren cäsaropapistischen Anspruch auf staatliche Anbindung und mit den neugegründeten und sich selbstbestimmten Staaten entstehen auch neue orthodoxe Kirchen, die die Einheit von Staat, Nation (in manchen Fällen auch Ethnie) und Glauben demonstrieren wollen. Bulgarien bildet in diesem Fall eine Ausnahme, bei der sich zwei orthodoxe Kirchen gegenseitig um die Legitimität streiten und dadurch ihre Wirksamkeit in der Öffentlichkeit eingebüßt haben. Zu untersuchende Schwerpunkte in diesem Bereich sind: 1. Eine kritische Hinterfragung der traditionellen Anbindung zwischen nationalen, ethnischen, panslavistischen (Angelova 2002b) und religiösen Identitäten auf dem Balkan. 2. Eine kritische Hinterfragung des traditionellen orthodox-autoritären Denkens, das bis in die Pädagogik reicht und der damit verbundene späte Einzug von aufklärerischen Techniken und Methoden in der gesamten orthodoxen Welt. 3. Eine Hinterfragung der Möglichkeiten der Religion, die freigewordene und noch nicht besetzte Stelle (Nische) der Werte und der Ethik in den neuen gesellschaftlichen Verhältnissen auszufüllen. 4. Eine Hinterfragung der Möglichkeiten und Angebote eines gerade durch die verspätete Aufklärung immer noch präsenten mystischen, kontemplativen Denkens im östlichen und südöstlichen Teil Europas. Die Aufspürung von Spuren zum mythischen Denken, wie es in mehreren postaufklärerischen Versuchen zu finden ist. Ein solcher Ansatz ist jedoch nur auf dem Hintergrund des von der Aufklärung erbrachten Bestandes an Gedankengut und Traditionen möglich. Das heißt, eine Erprobung sowohl der Gefahren als auch der Chancen der Orthodoxie als öffentliche Religion. Zum Schluss möchte ich hervorheben, dass eine solche Untersuchung der Identitätsdiskurse sich auf das Verbindende der Kulturen auf dem Balkan und in Europa und auf die Vielfalt von Identitätskonstruktionen orientieren sollte. „Nationale und ethnische Identitären machen keinesfalls die Gesamtheit kollektiver Identitäten aus“ (Brunnbauer 2002a: 13), sie werden nur in Krisenzeiten oder besonderen Übergangszeiten von bestimmten Akteuren bevorzugt und überbewertet. Im normalen Fall konstituiert sich die Identität durch das Zusammenspiel der verschiedenen Identitätsbildungen als Interaktionsidentität von natürlicher Identität, sozialer Identität zu einer Ich-Identität (Larcher 1998: 20). Die persönlichen Identitäten auf dem Balkan werden schon in diesem Zusammenspiel von regionalen und überregionalen Identitäten im Spannungsfeld der hier beschriebenen fünf Diskurse und dem in und hinter ihnen präsenten sechsten Diskurs des Übergangs von realsozialistischer zu neudemokratischer Kultur als ein Bündel von Identitätsbildungen und -fixierungen auf verschiedene Rollenspiele und Gruppen hin erlebt auf dem Hintergrund und im Zusammenspiel mit den Identitätsangeboten der sich verändernden Gesellschaft und der einzelnen menschlichen Figurationen einer im Werden begriffenen Bürgergesellschaft. Literatur: Anćev, Stefan (2001): Der Balkan 1850-1880 – ein Spielfeld von Interessen und Widersprüchen. In: Angelova, Penka, Judith Veichtlbauer (Hrsg.): Pulverfass Balkan. Mythos oder Realität. Schriftenreihe der Elias Canetti Gesellschaft, Bd.3. St. Ingbert. Angelova, Penka (2002a): Die sexistische Revolution In: Arlt, Herbert (Hrsg.) „Ich sehe was, was du nicht siehst“. 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Nationenbilder in den internationalen Beziehungen: Definition, Entstehung, Funktionen Andrea Schneiker „Deutschland – Land der Ideen“. Mit dieser von der Bundesregierung und dem Bundesverband der deutschen Industrie (BDI) getragenen Initiative wird im Ausland für den Wirtschaftsstandort Deutschland geworben. „Einfallsreichtum, schöpferische Leidenschaft und visionäres Denken“ (Land der Ideen 2007) – diese Attribute sollen im Ausland mit Deutschland und den Deutschen in Verbindung gebracht werden. Doch solche Bilder treffen bei ihren Adressaten nie auf Unvoreingenommenheit, sondern auf bereits bestehende Vorstellungen. Hierbei handelt es sich um Nationenbilder. Diese sind ein universelles Phänomen: „Alle Nationen haben Bilder von anderen Nationen und von sich selbst“ (Mentzel/Pfeiler 1972: 48). In diesem Beitrag soll es in erster Linie um Nationenbilder gehen, die sich Nationen von anderen Nationen machen, also nicht um Eigenbilder, sondern um Fremdbilder. Doch was genau sind Nationenbilder? Warum sind sie von Bedeutung? Wie entstehen sie und welche Funktionen haben sie? Diese Fragen sollen im Folgenden beantwortet werden. Sie siedeln sich im Bereich der Image-Forschung an, welche in den 1950er Jahren aufkam. In der Literatur wird neben Images auch von Stereotypen oder Vorurteilen gesprochen. Diese Begriffe sind in der Regel negativ besetzt, wohingegen „die Bedeutung von ,Image’ wertneutraler und offener“ (Kissau 2004: 6) ist. Da die Vorstellungen von anderen Nationen sowohl negative als auch positive Elemente umfassen können, werden hier die Begriffe Image/Bild bzw. Nationenimage/Nationenbild verwandt. Die Forschung über Nationenbilder befindet sich an einer Schnittstelle unterschiedlicher Wissenschaftsdisziplinen; diese sind: die Politikwissenschaft, die Soziologie, die Psychologie/Sozialpsychologie, die Kommunikationswissenschaft und die Literaturwissenschaft. Diese bearbeiten aber jeweils nur ein bestimmtes Segment des Forschungsfeldes Nationenbild, wie im folgenden Schaubild dargestellt ist: 37 Abbildung: Die Forschung über Nationenbilder (NB) im Spannungsfeld unterschiedlicher Wissenschaftsdisziplinen: Sozialpsychologie: • Kognitive Prozesse der Imagebildung und -beibehaltung • Bedeutung von NB für Gruppenprozesse • Wandel von NB Literaturwissenschaft: Politikwissenschaft/ Soziologie: • Bedeutung von NB für die Gesellschaft • Entstehung von NB durch Sozialisation • Rolle von NB in der Politik • Spezialfall: Feindbilder Kommunikationswissenschaft: • Analyse und Interpretation von NB in der Literatur • Analyse von NB in den Massenmedien • Auswirkungen von in der Literatur dargestellten NB auf die Gesellschaft • Gezielte Einwirkung auf NB durch (staatliche) PR Quelle: Kissau (2004: 8) und eigene Darstellung. 38 Dieser interdisziplinäre Charakter des Untersuchungsgegenstandes wird bei den folgenden Erläuterungen berücksichtigt. Definition Um diese Frage zu erläutern, wenden wir uns zunächst dem Begriff des Images zu. Ein Image kann als Bild, das wir uns von der Realität eines Gegenstandes machen beziehungsweise das, was wir als (dessen) Realität wahrnehmen, bezeichnet werden (vgl. Faulstich 1992: 7f.). Dabei können sowohl kognitive als auch affektive Elemente zum Tragen kommen. Es spielt jedoch keine Rolle, ob das jeweilige Image mit der „objektiven Realität“ übereinstimmt (vgl. Mentzel/ Pfeiler 1972: 48). Images basieren auf Erfahrungen und Informationen. Neue Informationen und Erfahrungen werden dabei mit bestehenden abgeglichen (vgl. ebd.: 45). Anders formuliert: Die bereits existierenden Vorstellungen steuern die Aufnahme neuer Informationen. Diese Informationsaufnahme erfolgt auf selektive Weise. Die Psychologie erklärt dies mit Hilfe der „Theorie der kognitiven Dissonanz“. Dabei geht man davon aus, dass es dem Menschen schwer fällt, die gleichzeitige Existenz gegensätzlicher Informationen zu akzeptieren. Daher passt die menschliche Wahrnehmung neue Informationen den bereits vorhandenen Wahrnehmungsmustern und Auffassungen (den „belief systems“) in dem Maße an, bis sie mit letzteren übereinstimmen. Images unterliegen also der selektiven Wahrnehmung von Informationen, 1 Affektive Elemente beziehen sich auf Emotionen, kognitive auf Prozesse des Erkennens und Verstehens. 2 Diese geht zurück auf Leon Festinger (1957): A Theory of Cognitive Disso- nance. Stanford, CA. wobei widersprüchliche neue Informationen ignoriert oder so umgedeutet werden, dass sie mit dem bestehenden Image übereinstimmen (vgl. Mentzel/Pfeiler 1972: 55; Flohr 1995: 33f.). Ein Image ist demnach die mittels kognitiver Selektivität wahrgenommene Realität eines Gegenstandes. Man sieht also nur, was man auch sehen will. Die Auswirkung, die eine bestimmte Erfahrung oder Information auf das bereits bestehende Image hat, d.h. ob eine neue Information als mit den bereits bestehenden Mustern vereinbar oder inkonsistent wahrgenommen wird, hängt erheblich von den Wertvorstellungen der betroffenen Person ab (vgl. Boulding 1968: 12). Was für den Image-Begriff im Allgemeinen zutrifft, lässt sich auch auf Nationenbilder übertragen. Unter dem Begriff der Nation soll nach Benedict Anderson „eine vorgestellte politische Gemeinschaft – vorgestellt als begrenzt und souverän“ (Anderson 1996: 15) verstanden werden. Ein Nationenbild ist also das, was über diese Nation als wahr bzw. real akzeptiert wird. Anders formuliert: Nationenbilder sind „die Summe der mehrheitlichen kollektiven oder individuellen Vorstellungen und Urteile“ (Jacobson 1973: 175) über eine Nation oder ein Volk. Die Entstehung von Nationenbildern Nationenbilder werden vom Einzelnen während des Sozialisationsprozesses aus der Gesellschaft übernommen. Sie entstehen und fixieren sich durch Informationen und Erfahrungen, die über verschiedene gesellschaftliche Instanzen wie Familie, Schule und Medien vermittelt werden, und bilden sich i.d.R. nicht durch persönliche Erfahrungen, d.h. direkten Kontakt zur betreffenden Nation und deren Angehörigen. In 39 diesem Sinne werden Nationenbilder von Generation zu Generation übermittelt (vgl. Mentzel/Pfeiler 1972: 48ff.). Dabei spielen Faktoren wie die (aktuelle und geschichtliche) Beziehung zweier Staaten zueinander, die derzeitige Politik der Regierung des betreffenden Staates, die Wirtschaft und die Größe eines Landes im Vergleich zur beurteilenden Nation, der Ruf des betreffenden Staates in Bezug auf die Beachtung von Menschenrechten, Rechtsstaatlichkeit und sozialer Gerechtigkeit sowie das militärische Potenzial eines Landes und dessen Verhalten in Bezug auf friedliche Konfliktlösung eine Rolle (vgl. Süssmuth 1995: 14ff.). Selbst Jahrhunderte zurückliegende Ereignisse können für das momentane Bild einer Nation im Ausland ausschlaggebend sein. Negative Erfahrungen wie ein verlorener Krieg, Unterdrückung und Ausbeutung sind besonders prägend (vgl. Flohr 1995: 38). Das Bild, das eine Nation von einer anderen hat, muss jedoch innerhalb ersterer nicht homogen sein. Auf Grund bestimmter Eigenschaften oder Erfahrungen können innerhalb einer Gruppe der Gesellschaft einzelne dem Fremdbild zugeschriebene Attribute stärker betont werden, als dies im Rest der Gesellschaft der Fall ist. So beherrschte Anfang des 20. Jahrhunderts das Bild der Deutschen als „metaphysische Konstrukteure von theoretischen Systemen“ (Kunczik 1990: 31f.) die angelsächsischen Akademikerkreise, während unter den dortigen Journalisten eher die Vorstellung der Deutschen als Hunnen vorherrschte (vgl. ebd.). In Einzelfällen kann ein einzelnes Fremdbild innerhalb einer Gesellschaft oder Nation auch komplett unterschiedlich bzw. gegensätzlich sein. Somit ist der Ausdruck der Einheit eines Fremdbildes immer auch der Ausdruck der Einheit der dieses Bild habenden Nation – oder eben umgekehrt (vgl. Mentzel/Pfeiler 1972: 56). 40 Ein besonderer Typus von Nationenbildern sind Feindbilder. Ein Feindbild ist das Bild, das wir von einem Feind besitzen (vgl. Nafroth 2002: 26). Wie bereits erwähnt, können Nationenbilder positive und negative Elemente vereinen. So galten die Deutschen lange Zeit als aggressiv und expansionistisch, gleichzeitig aber auch als pünktlich. Demgegenüber sind Feindbilder ausschließlich negativ. Eine differenzierte Beurteilung des Anderen wird unmöglich (vgl. Ostermann/Nicklas 1982: 44f.). Feindbilder können im extremsten Fall sogar das Bestreben nach der Vernichtung des Feindes implizieren (vgl. Flohr 1991: 29). Zu diesem Zwecke wird der „Feind“ in einigen Fällen entmenschlicht und als Monster, Bestie oder Teufel dargestellt (vgl. Flohr 1995: 32). Images im Allgemeinen sind keine statischen Gebilde, aber sie sind recht langlebig. Hat sich ein Image einmal etabliert, ist es nur schwer wieder zu ändern: „Ganz allgemein gesagt wehren sich die Menschen gegen Veränderungen in ihrem Weltbild“ (Mentzel/ Pfeiler 1972: 47). Wenn es um die Veränderung von Nationenbildern geht, ist allerdings zwischen positiven und negativen Images zu unterscheiden. Positive Images lassen sich leichter „zerstören“, als sich negative Images ab- und positive aufbauen lassen (vgl. Kunczik 1990: 46ff.). D.h., je negativer und auch je emotionaler ein Image besetzt ist, desto stabiler und langlebiger ist es (vgl. Flohr 1995: 33). Dies gilt insbesondere für Feindbilder. Begründet ist dies in erster Linie durch unsere selektive Wahrnehmung. Informationen, die einen Imagewandel zum Positiven bewirken könnten, werden i.d.R. ausgefiltert und nicht 3 Hier beziehen sich Feindbilder ausschließlich auf Nationen bzw. Nationen- gruppen, Ethnien oder Völker. Sie können sich aber auch auf Einzelpersonen beziehen. verarbeitet, wohingegen Informationen, die ein negatives Image bestätigen oder eine Imagewandel zum Negativen bewirken, sehr viel leichter aufgenommen und verarbeitet werden. Die Bedeutung von Nationenbildern Was die einzelne Person betrifft, so bestimmt das Bild, das jemand anderes von uns hat, dessen Handeln uns gegenüber mehr als unser eigenes Bild von uns selbst (Mentzel/Pfeiler 1972: 12f.). Auch in den internationalen Beziehungen wird den jeweiligen Nationenbildern, d.h. den Bildern, die eine Nation von einer anderen hat, eine „verhaltens- und entscheidungssteuernd[ e]“ (Jacobson 1973: 175) Bedeutung beigemessen. Die einer bestimmten Nation zugeschriebenen Eigenschaften werden dabei oft an Hand personalisierter Darstellungen ausgedrückt. Man denke an die Bezeichnung „Tigerstaaten“ für im wirtschaftlichen Aufschwung begriffenen Staaten Asiens oder die Darstellungen Russlands mittels eines Bären oder auch die der USA als Uncle Sam. Derartige Bilder haben einen Einfluss auf das Verhältnis der Staaten untereinander. So waren z.B. die Entstehung und der Verlauf des Kalten Krieges stark von Nationenbildern, insbesondere Feindbildern, geprägt. Aus dieser Perspektive lautet beispielsweise das Erklärungsangebot für das gegenseitige Wettrüsten folgendermaßen: Durch die Perzeption der UdSSR als einer aggressiven und expansionistischen Macht fühlten sich die USA bedroht. Um ihr eigenes Sicherheitsgefühl zu erhöhen, waren die USA bestrebt, sich selbst auch als aggressiv und expansionistisch darzustellen, indem sie militärisch aufrüsteten (Boulding 1968: 112). Damit wurde das Sicherheitsdilemma in Gang gesetzt. Somit „entsprach die schwin- delnde Höhe der Militärausgaben von NATO und Warschauer Pakt kaum der realen Bedrohung, sondern war auch Konsequenz von Feindbildern“ (Flohr 1995: 31). Ohne starke Feindbilder wären die hohen Militärausgaben auf beiden Seiten jedoch vor der jeweils eigenen Bevölkerung nicht zu rechtfertigen gewesen. Die Aufrechterhaltung von Nationenbildern Nationenbilder festigen sich durch die Abgrenzung zwischen Eigengruppe und Fremdgruppe, durch „wir-die“-, „ingroup-outgroup“- bzw. „Freund-Feind“Denk- und Wahrnehmungsmuster (vgl. Flohr 1995: 33). Solche Muster lassen keine komplexen Images zu. Dabei gibt es mindestens drei Mechanismen, die diese Abgrenzungen aufrechterhalten (vgl. Flohr 1995: 34). Einer ist das Denken in „Schwarz-Weiß-Kategorien“. Dabei werden die eigenen Eigenschaften als äußerst positiv und die der anderen als entsprechend negativ beurteilt. Das Fremdbild entspricht dabei in vielen Fällen dem negativen Spiegelbild des Selbstbildes. Solche Schemata treten jedoch nicht nur im Falle gegnerischer Staaten auf, sondern existieren auch zwischen Nachbarländern, die ein gutes Verhältnis zu einander haben (vgl. ebd.). Dies zeigt z.B. eine Studie, in der Anfang der 1990er Jahre niederländische Jugendliche im Alter von 15-19 Jahren nach ihrem Bild über Deutschland und „die Deutschen“ gefragt wurden. Dabei gaben sie an, die Deutschen seien v.a. herrschsüchtig und arrogant, während sie ihre eigene Nation als tolerant, gesellig, freundlich und unkompliziert im Umgang beschrieben (vgl. Jansen 1995: 175) und sich selbst somit die den vermeintlich negativen Eigenschaften der Deutschen entsprechenden positiven 41 Attribute zuschrieben. Ein weiterer Abgrenzungsmechanismus ist die unterschiedliche Bewertung gleicher Verhaltensweisen. Nehmen wir als Beispiel das militärische Eingreifen in Konflikte der sog. „Dritten Welt“ durch die beiden Supermächte zu Zeiten des Ost-West-Konfliktes. Die Vereinigten Staaten sahen ihre Interventionen als notwendig an, um Demokratie und Freiheit zu schützen, lehnten aber gleichzeitig militärische Interventionen durch die Sowjetunion als Angriff auf eben diese Werte ab. Die Sowjetunion wiederum sahen die militärischen Interventionen der USA als Unterstützung von tyrannischen Regimen und Militärdiktaturen und bewerteten ein entsprechendes Eingreifen ihrerseits umgekehrt als Unterstützung nationaler Befreiungsbewegungen (vgl. Flohr 1995: 34). Ein dritter Mechanismus ist die Annahme von „WorstCase“-Szenarien, die insbesondere bei der Entstehung und Aufrechterhaltung von Feindbildern zum Tragen kommt. Dabei wird davon ausgegangen, dass das Streben und Handeln der feindlichen Nation für die eigene Nation immer den größtmöglichen Nachteil bringt. Dieses Denken ist v.a. im Zusammenhang mit militärischen Fragen präsent (Sicherheitsdilemma!), findet sich aber auch darüber hinaus in der generellen 4 Zur Erklärung für dieses negative Deutschlandbild der niederländischen Jugendlichen können mehrere Faktoren herangezogen werden. Zum einen können die negativen Erfahrungen aus dem Zweiten Weltkrieg eine Rolle spielen sowie die Tatsache, dass die Niederlande der kleinere Nachbar und somit dem größeren Deutschland unterlegen sind; zwei Faktoren, die für das Deutschlandbild in den Niederlanden im Allgemeinen von Bedeutung sind. Speziell auf die befragte Altersgruppe bezogen führt Anne Katrin Flohr als Erklärungsangebot an, dass in den Schulbüchern der betreffenden Altersklassen fast ausschließlich vom Niedergang der Weimarer Republik und vom Dritten Reich gesprochen, die deutsche Nachkriegsgeschichte hingegen aber kaum behandelt und somit die negativen Seiten der deutschen Geschichte hervorgehoben wurden (vgl. Flohr 1995: 37f.). 42 Einschätzung gegnerischer Parteien, z.B. im israelpalästinensischen Konflikt (vgl. ebd. 36). Insgesamt erfolgt die Wahrnehmung einer anderen Nation immer auf Basis der eigenen Werte und Normen und reflektiert gleichzeitig die eigene Wertschätzung (vgl. Mentzel/Pfeiler 1972: 49). Daher werden die eigene Nation i.d.R. positiv, die anderen Nationen hingegen negativ bewertet. Die Funktionen von Nationenbildern Nach Jörg Peter Mentzel und Wolfgang Pfeiler (1972: 48) erfüllen Nationenbilder zwei Hauptfunktionen: eine nach innen und eine nach außen. In der Außenpolitik stellen Nationenbilder vor allem eine „Orientierungshilfe[.]“ (ebd.: 48) dar, die insbesondere dann von Bedeutung ist, wenn es darum geht, neue Situationen wahrzunehmen und darauf zu reagieren (vgl. ebd. 54). Wie bereits erwähnt, misst sich die „Richtigkeit“ bzw. der „Wahrheitsgehalt“ eines Images nicht am Grad der Übereinstimmung mit der „objektiven Wirklichkeit“. Vielmehr geht es bei einem Image um die Frage, ob es eine erfolgreiche Bewältigung der Umwelt, im Sinne der Wahrung der eigenen Sicherheit und Stabilität, ermöglicht. Kommt man trotz einer von der Realität abweichenden Wahrnehmung der Umwelt in dieser gut zurecht, so sind die jeweiligen Bilder „subjektiv richtig und vollständig“ (ebd.: 46). Nach innen hin fungieren Nationenbilder als Merkmal der Gruppenzugehörigkeit und der Abgrenzung zu anderen Nationen. Zu diesem Zweck müssen Nationenbilder ein möglichst geringes Maß an Komplexität und Differenzierung aufweisen, da sie ansonsten nur schwer zu übermitteln bzw. kaum kongruent sind und sich somit nicht so gut als Solidaritätsstifter für eine Gruppe eignen (vgl. ebd.: 49). Vor allem Feindbilder, die ja eine besonders starke und emotionale Abgrenzung beinhalten, haben für den Einzelnen eine identitätsstiftende und für die Gruppe eine solidarisierende Funktion (vgl. Flohr 1995: 39f.): „Nichts vermag die Notwendigkeit des Zusammenschlusses und der Einigkeit plausibler zu begründen als das Vorhandensein eines tatsächlichen oder fiktiven Feindes“ (Ostermann/Nicklas 1982: 45). Insbesondere im Rahmen des Freund-Feind-Denkens kann sich die politische Führung bestimmter in der Bevölkerung vorhandener Feindbilder bedienen, d.h. diese mobilisieren und verstärken (vgl. Mentzel/Pfeiler 1972: 54f.) oder auch neue aufbauen (vgl. Flohr 1995: 41). Ein solches Vorgehen erfüllt mehrere Zwecke. Indem die gefährlichen Eigenschaften des Feindes hervorgehoben werden, wird ein Bedrohungsszenario aufgebaut, wodurch eine politische Entscheidung, z.B. eine militärische Intervention, gerechtfertigt bzw. durch die Zustimmung der sich bedroht fühlenden und sich hinter der politischen Führung vereinenden Bevölkerung legitimiert wird. Ein Beispiel hierfür ist die von der Bush-Administration identifizierte „Achse des Bösen“ bzw. die Bezeichnung „Schurkenstaaten“. Hinter dieser Rhetorik steckte das Bestreben, von der eigenen Bevölkerung (und sogar darüber hinaus von der internationalen Gemeinschaft) die Zustimmung für einen militärischen Präventivschlag zu erhalten. Gleichzeitig wird durch die so kommunizierte und wahrgenommene Bedrohung die Solidarität und Zusammengehörigkeit in der Bevölkerung gestärkt. Ein weiterer Grund für die Mobilisierung von Feindbildern seitens der Regierung kann es sein, von innenpolitischen Problemen ablen- ken zu wollen. So beendete Konrad Adenauer für ihn unangenehme Debatten im Deutschen Bundestag mit dem Satz: „Nie war die Stunde so ernst wie jetzt.“ (Ostermann/Nicklas 1982: 45f.) Doch die Veränderung eines in der Bevölkerung existierenden Nationenbildes durch die politische Führung hat neben der beabsichtigten momentanen Wirkung auch nicht unmittelbar intendierte langfristige Konsequenzen, und zwar für künftige Regierungen, deren Handeln dieses neue Nationenbild zu Grunde liegen wird: „Ein Nationen-Image eines politischen Führers ist in der Regel im Laufe seiner Erziehung und Vergesellschaftung erworben und entwickelt worden. Ehe er zum politischen Führer wurde, hatte dieses konkrete Nationen-Image für ihn dieselbe Funktion wie für die Masse der Bevölkerung; erst mit der Übernahme einer politischen Führungsposition bekommt das Image für ihn die Funktion, beim außenpolitischen Handeln orientierend zu wirken. Folglich wirken die in einem Volk vorhandenen Nationen-Images mit einem gewissen time-lag auf den außenpolitischen Entscheidungsprozeß ein, und zwar sowohl bei der Vorbereitung politischer Entscheidungen als auch im unmittelbaren politischen Verkehr.“ (Mentzel/Pfeiler 1972: 54) Der am häufigsten genutzte und erfolgreichste Kanal für die Beeinflussung von Nationenbildern durch die Politik oder andere „Meinungsmacher“ (Opinionleader) sind die Massenmedien (vgl. Mentzel/Pfeiler 1972: 55). Dabei geht es nicht nur darum, Vorstellungen über andere Nationen zu beeinflussen, sondern es liegt gleichzeitig im Interesse der meisten Regierungen, 6 Doch auch schon bevor diese ihre heutigen Ausmaße erreicht hatte, wur- den Nationenbilder über Medien transportiert. Die Bücher des so genannten Orientzyklus von Karl May prägten die Vorstellungen vieler Leser vom Balkan 5 Seltener, aber genauso möglich, ist die Abschwächung bestimmter Natio- nenbilder durch die politische Führung (vgl. Mentzel/Pfeiler 1972: 54). (vgl. Rohe 2005: 12ff.) und Hollywood-Filme haben von Beginn an die verschiedensten Nationenbilder geprägt (vgl. Kunzcik 1990: 13). 43 dass ihr eigenes Land im Ausland ein positives Image besitzt. Daher geben viele Staaten hohe Summen für ihre Imagepflege aus (vgl. Kunczik 1990: 7). Diese findet im Rahmen der Auswärtigen Kulturpolitik statt (in den USA läuft dies unter der Bezeichnung „Public Diplomacy“) (vgl. Kleinsteuber 2004: 36). Aber nicht nur die einzelnen Regierungen, sondern auch Akteure aus Wirtschaft und Kultur sind daran interessiert, dass ihr eigenes Land im Ausland gut dasteht. So sind auch bei der Initiative „Deutschland – Land der Ideen“ neben Unternehmen das Auswärtige Amt, das Goethe Institut und deutsche Nachrichtendienste Literatur: Anderson, Benedict (1996): Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts. 2., erweiterte Auflage. Frankfurt am Main, New York. Boulding, Kenneth E. (1968): The Image. 6. Auflage. 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Da bestimmte Einstellungen oder Stereotypen über den Balkan unter den Vertretern der verschiedenen Teilnehmerkreise bestehen, gab die Anfangsphase des Seminars eine gute Möglichkeit, diese anzusprechen. Allerdings sind sie nicht zu überwinden.“ „Ich habe festgestellt, dass Bulgarien als Balkanland Rumänien ähnelt, und dass es auch sehr viele Unterschiede zwischen den zwei Ländern gibt. In Rumänien sind die Menschen ein bisschen offener und der Kontakt mit dem Westen ist besser zu erkennen [erkennbar]. Was ich nicht erwartet habe, ist die Schönheit des Zentrums [von Ruse] und [mit den] die vielen Sehenswürdigkeiten. Ich hatte mir Ruse als eine aus industrieller Sicht sehr gut entwickelten Stadt vorgestellt. Was ich auch nicht erwartet habe, ist die Ähnlichkeit zwischen den bulgarischen und rumänischen Gerichten. Wenn ich vorher an das Kosovo gedacht habe, ist mir immer das Bild von dem Krieg ins Gedächtnis gekommen. Jetzt weiß ich, dass mehr dahinter steckt.“ „Ich finde es schön, dass die Gruppe so international zusammengesetzt ist. Gerade für die Jugendlichen aus den Balkanstaaten ist es interessant und wichtig einander kennen zulernen, Freundschaften und Kontakte aufzubauen, die ihnen sowohl in privater, wie auch in beruflicher Hinsicht weiterhelfen können.“ 45 Die Entwicklung von Diskursen Das Bild Rumäniens und Bulgariens in der deutschen Presse unter besonderer Berücksichtigung des Integrationsprozesses in die Europäische Union Katharina Lampe Einleitung „(…) sogenannte Wirklichkeit ist das Ergebnis von Kommunikation (…)“ (Watzlawick 1976: 7) Einen gesellschaftlichen Diskurs kann man sich wie ein Wollknäuel vorstellen: Er besteht aus unzähligen miteinander verwickelten Themensträngen. Eine Diskursanalyse versucht sich in zweifacher Hinsicht an einem „Ent-wicklungsprozess“. Die Themenstränge müssen in einem ersten Schritt entwirrt und in einem zweiten Schritt analysiert werden. Bei der Analyse gilt es zu klären, wie oft bestimmte Themen in einem Diskurs auftauchen, wie man sie sortieren, möglicherweise hierarchisieren kann, und in welchen Zusammenhängen einzelne inhaltliche Aspekte Erwähnung finden. Im Laufe der Untersuchung entwickelt sich ein spezifisches Diskursschema mit bestimmten Regelmäßigkeiten. Foucault bezeichnet diese als ein „System der Streuung“ (Foucault 1992: 58). In Reclams „Kleinem Fremdwörterbuch“ wird ein Diskurs entweder als eine systematische Erörterung eines Themas, ein Gespräch oder ein heftiger Wortwechsel definiert (Vgl. Kleines Fremdwörterbuch 1996: 83). Im Kontext einer Diskursanalyse wird der Diskursbegriff – über diese Definition hinaus – als eine Gruppe von Aussagen verstanden, die Denkweisen und 46 Machtstrukturen einer bestimmten Zeit offenbaren. Der Begriff des Diskurses wird hier also in spezieller Weise gebraucht: „Ein Diskurs ist eine Gruppe von Aussagen, die eine Sprechweise zur Verfügung stellen, um über etwas zu sprechen (…), eine besondere Art von Wissen über einen Gegenstand.“ (Hall 1994: 150). In der Zwischenevaluation des Seminars „Balkanbilder in Ost und West. Stereotypen auf der Spur.“schrieb ein rumänischer Student: „[…] dass Ruse eine so schöne Stadt ist, hätte ich nicht gedacht. In Rumänien sagt man, dass es dort nur Industrie gibt und kaputte Straßen.“ Dieses Zitat zeigte, dass Diskurse eine ganz konkrete und machtvolle Wirkung auf das Handeln von Menschen besitzen. „Diskurse üben Macht aus, da sie Wissen transportieren, das kollektives und individuelles Bewusstsein speist. Dieses zustande kommende Wissen ist die Grundlage für individuelles und kollektives Handeln und die Gestaltung der Wirklichkeit.“ (Keller 2001: 7) Vielleicht hätte der Bukarester Student sonst schon früher die knapp 70km nach Ruse hinter sich gelegt. Im Rahmen des Seminars nutzten wir im Workshop „Bulgarien und Rumänien im europäischen Integrationsdiskurs“ die Methode der Diskursanalyse. Es ging 1 Der Workshop wurde in Zusammenarbeit mit Kathrin Tittel Lektorin der darum zu erfahren, in welcher Art und Weise die Länder Bulgarien und Rumänien in der deutschen Presse repräsentiert werden. Ein besonderes Interesse der Analyse lag auf der Berichterstattung über den Integrationsprozess dieser Länder in die Europäischen Union (EU) acht Monate vor ihrem Beitritt. Zeitungen bilden ein oft wichtiges Diskurssegment (Jäger 2000): Sie sind in modernen Gesellschaften ein Mittel der Information, Meinungsbildung, Unterhaltung und der sozialen Integration. Für den Diskurs zu Rumänien und Bulgarien in Deutschland stellt die Presseberichterstattung einen entscheidenden Einflussfaktor dar, da die Primärerfahrung, das heißt das unmittelbare Erleben von Land und Leuten, bei vielen Deutschen nicht gegeben ist. Zwar steigt die Zahl der Schwarzmeerurlauber von Jahr zu Jahr, aber innerhalb der Hotelmauern bleiben die Folkloretänze, welche am Swimmingpool von Animateurinnen aufgeführt werden, oftmals der einzige Einblick in die bulgarische Kultur. Vorgehensweise Diskursanalysen sind zumeist als wissenschaftliche Projekte angelegt, in denen eine Untersuchung der Presseberichterstattung zu einem bestimmten Thema über einen längeren Zeitraum (mehrere Monate bzw. Jahre) vorgenommen wird. Für uns stellte sich bei der Vorbereitung die Herausforderung, ein derRobert Bosch Stiftung in Schumen und Varna vorbereitet und durchgeführt. 2 Einen Überblick über den Verlauf der Beitrittsgespräche zwischen Bulgarien, Rumänien und der EU gibt Leiße 2006: 6-13. 3 Annegret Middeke untersuchte acht Wochen lang mit Studierenden der Uni- versität Plovdiv bulgarische und deutsche Zeitungen. Vgl. Middeke, Annegret 2006. Ein Beispiel eines einjährigen Diskursforschungsprojektes: Jäger 2003. artiges Großprojekt an den zeitlichen Rahmen eines zweitägigen Workshops anzupassen. Wir nannten es schließlich eine „Minidiskursanalyse“, die wir mit den Studierenden aus Bulgarien, Rumänien und Deutschland durchführten. „Mini“ deshalb, weil die Studierenden nicht systematisch die Presseberichterstattung des Untersuchungszeitraums durcharbeiteten. Sie wählten stattdessen einen Artikel aus, welchen sie als Vorbereitung für den Workshop bearbeiteten und auch im Workshop weiter als Untersuchungsmaterial nutzen konnten. Die Workshopleiterinnen hingegen sammelten und analysierten alle Artikel des Untersuchungszeitraumes . Zielsetzungen des Workshops waren die: • Heranführung der Studierenden an die Eigenschaften, das Entstehen und die Wirkungsweise von Diskursen. • Durchführung einer Presseanalyse nach den von Siegfried Jäger entworfenen Arbeitsschritten für eine Presseanalyse. • Schulung des kritischen Lesens von Presseartikeln. Als Untersuchungszeitraum wählten wir die dreimonatige Zeitspanne vom 1. Januar bis zum 30. März 2006 in der Erwartung eines gesteigerten Medieninteresses an den beiden Beitrittskandidaten auf Grund des am 16. Mai 2006 erscheinenden Monitoring-Berichts der Europäischen Kommission für Rumänien und Bulgarien. Mit der Zeitungswahl legten wir den instituti4 Als Beispiel ist am Ende des Textes ein bearbeiteter Zeitungsartikel abge- druckt. 5 Er listet diese in seiner „Werkzeugkiste zur Durchführung von Diskursanaly- sen“ auf. Vgl. Jäger 2001: 104-106. 6 Der Bericht ist nachzulesen unter: http://ec.europa.eu/enlargement/pdf/key_ documents/2006/monitoring_report_bg_en.pdf (abgerufen am 2.01.2007) 47 onellen Rahmen der Diskursanalyse fest. Als zu untersuchende Tageszeitungen entschieden wir uns für die „Frankfurter Allgemeines Zeitung“ (FAZ) und „die tageszeitung“ (taz), um in der Analyse eine Zeitung des konservativen sowie des linken politischen Spektrums zu berücksichtigen. Die überregionale Abonnement-Tageszeitung FAZ wurde 1949 gegründet und hat heute eine Auflagenstärke von 363.465 Exemplaren. Ihr Politikteil gilt als konservativ und ihr Wirtschaftsteil als liberal. Für internationale Meldungen und Analysen kann die FAZ auf ein umfangreiches Auslandskorrespondentennetzwerk zurückgreifen. Die taz wurde 1979 in West-Berlin als linkes, selbstverwaltetes Zeitungsprojekt gegründet (Pürer/Raabe 1996: 170). Paragraph 2 des Redaktionsstatus legt als Ziele der redaktionellen Arbeit der taz das Engagement wobei nationalstaatliche Grenzen überschritten werden. Aus welchen Gründen Akteure Integrationsprozesses vorantreiben, kann unterschiedlich sein (Friedenssicherung, wirtschaftlicher Wachstum). Ein Mehrwert wird jedoch von allen Beteiligten erwartet. Begleitet werden Integrationsprozesse von umfassenden Transformationen, die alle gesellschaftliche Schichten und politische Entscheidungsebenen berühren. Da wir als WorkshopleiterInnen Inhalte des Diskurses nicht vorwegnehmen, sondern gemeinsam mit den Studierenden erarbeiten wollten, beschränkten wir uns in einer ersten Überblicksdarstellung auf quantitative Ergebnisse der dreimonatigen Querschnittsanalyse. Ich habe im Folgenden Ergebnisse unserer während des Seminars durchgeführten Untersuchung verarbeitet und unter Berücksichtigung weiterer Quellen des Untersuchungszeitraums vervollständigt. für eine kritische Öffentlichkeit sowie die Verteidigung und Entwicklung der Menschenrechte fest (taz Redaktionsstatus: §2). Mit 60.000 Exemplaren ist die Auflagenstärke der taz deutlich niedriger als die der FAZ. 8 Der Begriff „Integration“ wird in den Sozialwissenschaften in vielfältigen Bedeutungszusammenhängen dargestellt. Auch der Europäische Integrationsprozess wird aus konkurrierenden Theorieperspektiven aufgearbeitet. Eine detaillierte Erörterung der Begrifflichkeit im Rahmen der Europäischen Bevor wir uns mit den bearbeiteten Texten befassten, um zu erfahren, welches Bild die beiden Tageszeitungen von der EU-Integration Bulgariens und Rumäniens zeichnen, galt es mit den TeilnehmerInnen zu klären, wie diese den Begriff der Integration im europäischen Kontext definieren. Wir einigten uns darauf, Integration als einen friedlichen und freiwilligen Zusammenführungsprozess von Gesellschaften, Wirtschaften und politischen Systemen zu verstehen, 7 48 Zur Gründungsgeschichte der Zeitung: Pürer und Rabe 1996: S. 109. Integrationsforschung hätte den Rahmen des Workshops gesprengt. Mit der hier genannten Definition näherte sich die Studierendengruppe jedoch einer durchaus gängigen Definition in der Europäischen Integrationsforschung an. Vgl. Nohlen 1996: S. 151. 9 An dieser Stelle möchte ich mich bei den TeilnehmerInnen des Workshops bedanken, die durch ihre sorgfältigen Recherchen im Vorfeld umfangreiches Material für eine Diskursanalyse zusammengetragen haben. In unserer deutsch-bulgarisch-rumänischen Seminargruppe brachte jeder Teilnehmer und jede Teilnehmerin eine andere Perspektive mit in das Seminar. In der Diskussion mit den TeilnehmerInnen aus Bulgarien, Deutschland und Rumänien, die sich mit ganz unterschiedlichen Hintergründen dem Thema annäherten, wurde sehr schnell die Selektivität des Pressediskurses deutlich und die Hierarchien, welche ihn strukturieren. Ergebnisse: Während der drei Monate fanden wir in der FAZ 112 Mal und in der taz 41 Mal (Sportmeldungen wurden abgezogen) Erwähnungen zu den beiden Ländern. Abbildung 1: Die Berichterstattung in taz und FAZ Quelle: eigene Darstellung Thematisch finden sind die Länder besonders in den Ressorts „Politik und Gesellschaft“ (taz: 29 Artikel, FAZ: 61 Artikel) erwähnt. Die FAZ beschäftigt sich auch in ihrem umfangreichen Wirtschaftsteil mit den zukünftigen EUMitgliedstaaten (32 Artikel). Dieses zusätzliche Interesse der wirtschaftsliberal ausgerichteten FAZ an den wirtschaftlichen Integrationsprozess Bulgariens und Rumäniens erklärt zu Teilen den Mehranteil der FAZ an Berichten zu den Beitrittsstaaten. Die FAZ ist aber im Vergleich zur taz auch eine weit umfangreichere Tageszeitung und verfügt über ein großes Korrespondentennetzwerk im Ausland. Der erste Eindruck einer relativ starken Medienpräsenz der beiden Länder und ihres europäischen Beitrittsprozesses trügt, denn unter diesen Nennungen befinden sich zahlreiche Kurzmeldungen (FAZ: 31, taz: 13) und Artikel, in welchen die beiden Länder in einem Nebensatz auftauchen. Berichte, die sich intensiver mit den zukünftigen EU-Mitgliedsstaaten Bulgarien und Rumänien und den Beitrittsgesprächen auseinandersetzen, sind sehr gering. Die taz beschäftigt sich in zwei Reportagen ausschließlich mit Bulgarien, bei ebenfalls zwei Reportagen steht Rumänien im Mittelpunkt der Berichterstattung und eine Reportage widmet sich beiden Ländern. Die FAZ behandelt in sechs Reportagen und drei Berichten ausschließlich das Beitrittsland Rumänien und druckt ein Interview mit einem rumänischen Politiker ab. Bulgarien erscheint im Pressediskurs der FAZ mit einer ausführlichen Reportage und zwei Berichten sowie zwei Interviews. Die beiden Länder zusammen werden in einem Bericht unter die Lupe genommen. Abbildung 2: Die Berichterstattung zu Rumänien und Bulgarien nach Textarten10 Quelle: eigene Darstellung Bericht: 320-750 Wörter, Reportage ab 750 Wörtern 10 49 Auffällig ist die Asymmetrie in der Berichterstattung zwischen Bulgarien (FAZ: 27, taz: 10) und Rumänien (FAZ: 58 taz: 22) und lässt an eine Anekdote mit tragischer Komik von Dimitré Dinev denken, der einmal auf die Frage eines Österreichers nach seiner Herkunft antwortete: „Ich werde dir sagen, woran meine Heimat grenzt, und du sagst dann wie sie heißt: Im Norden, an der Grenze zu Rumänien, fließt die Donau; im Osten liegt das Schwarze Meer, im Süden befinden sich Griechenland und der europäische Zipfel der Türkei; und im Westen die ehemals jugoslawischen Republiken Mazedonien und Serbien.“ Der Mann überlegte. Schließlich blickte er Dinev an und stieß ratlos hervor: „Aber…da ist doch nichts!“ (Frahm 2006: 33) Abbildung 3: Die Berichterstattung zu Bulgarien und Rumänien im Vergleich Quelle: eigene Darstellung Wie lässt sich jedoch erklären, dass in der westlichen Medienwahrnehmung Rumänien vergleichsweise präsenter ist? Zum einen hat es mit dem Untersuchungszeitraum zu tun, da im Januar 2006 ein Skandal um den ehemaligen rumänischen Ministerpräsidenten Nastase ausbrach, der am 15. März 2006 von seinen Ämtern als Parlamentspräsident und stellvertretender Parteivorsitzender der sozialdemokratischen Partidul 50 Social Democrat (PSD) zurücktrat. Ein Ereignis, das mit einigen Berichten und Kurzmeldungen dokumentiert wurde (beispielsweise taz, 17.02.2006: 9, FAZ, 16.03.2006: 3, taz, 17.02.2006: 9, FAZ,09.03.2006: 7, FAZ, 09.03.2006: 10). Gleichzeitig fällt bei der Analyse der Artikel auf, dass die Diskussion über die Vogelgrippe vor allem Rumänien fokussiert: Obwohl die rumänischen Vogelfunde stets an der Donau, Grenzfluss zwischen Rumänien und Bulgarien, stattfanden, wird Bulgarien im Zusammenhang mit der Thematik der Vogelgrippe seltener und nur neben anderen Staaten erwähnt (taz, 7.3.2006: 5, taz, 3.3.2006: 3). Im Workshop diskutierten wir als Einflussfaktoren für das stärkere Medieninteresse die politische Bedeutung Rumäniens auf Grund der größeren Fläche und Bevölkerung. Ebenso zogen wir in Betracht, dass die deutschsprachige Minderheit in Siebenbürgen das deutsche Medieninteresse stärker auf Rumänien zieht. Höpken bringt das gegen null tendierende Interesse der Medien an Bulgarien schon mit dem bulgarischen Systemwandel in Verbindung, dem es „[…] an jener spektakulären Dynamik, mit der die rumänische „Telerevolution“ (A.Gabanyi) die Weltöffentlichkeit über Tage in Atem hielt […]“ (Höpken 1996: 1) mangelte. Zudem werden Bulgarien und Rumänien häufig im Doppelpack „abgearbeitet“ (9 Artikel der taz und 31 Artikel der FAZ befassen sich mit den beiden Mitgliedstaaten). Dieses Phänomen ist auf Grund des zeitgleichen Beitritts der Länder nachvollziehbar. Trotzdem besitzen die Länder unterschiedliche Transformationspfade, politische Kulturen und gesellschaftliche Spannungslinien, die auch den Verlauf des Integrationsprozesses der beiden Länder beeinflussen. Ein bestimmter Diskurs steht nicht allein für sich Im Untersuchungszeitraum sind mehrere diskursive Ereignisse auszumachen. Es handelt sich um Geschehnisse, die durch die Medien besondere Beachtung erfuhren (Jäger 2001: 98) und somit das Bild Bulgariens und Rumäniens im Beitrittsprozess beeinflussen. Das thematisch verbindende Moment des EU-Beitrittsprozesses ist in der Berichterstattung mit unterschiedlichsten anderen Diskurssträngen verknüpft: „Die verschiedenen Diskurse sind eng miteinander verflochten und miteinander verschränkt; sie bilden in dieser Verschränktheit ein ‚diskursives Gewimmel’, […] das Diskursanalysen zu entwirren haben.“ (vgl. Jäger 2001: 84) Es lassen sich des Weiteren Strategien innerhalb des Diskurses ausmachen, mit denen das Feld des Sagbaren ausgeweitet oder eingeengt wird (Jäger 2001: 83). Im Folgenden werden also Diskursstränge aus dem dreimonatigen Diskursknäuel zu Bulgarien und Rumänien entwickelt, dargelegt und Strategien zur Gestaltung des Diskurses herausgearbeitet. • Anonymer Bericht in der Kommission zu Bulgarien: strukturelle Korruption und Kriminalität Ende des Jahres 2005 veröffentlichte die Bild-Zeitung den Inhalt eines so genannten „Geheimpapiers“ zu Bulgarien, das zu Beginn des neuen Jahres zum Thema in allen überregionalen Zeitungen wurde. Wie es sich für Geheimpapiere gehört, herrschte allgemeine Unwissenheit über den Autor/die Autorin, den Auftraggeber/die Auftraggeberin, die Zielsetzung des Dokumentes, und wie es an die Presse gelangt war. Diese Unklarheiten regten die JournalistInnen der Ta- geszeitungen zu unterschiedlichsten Vermutungen an, die allgemeine Verwirrung stifteten. Ungefähre Übereinstimmung in der Berichterstattung herrschte lediglich über den Inhalt des Dokuments: Die bulgarischen Regierungen seien „auf Unterstützung politischer Kräfte mit Verbindungen in das kriminelle Milieu ehemaliger kommunistischer Staatssicherheitsorgane angewiesen“ (FAZ, 02.01.2006: 1,2), wobei von seit den 1980er Jahren existierenden Verflechtungen der Regierungen mit dem internationalen Rauschgifthandel berichtet wurde und von illegalen Geschäften mit der Regierung Saddam Husseins während des UN-Programms „Öl für Lebensmittel“. Demzufolge beurteilte der Autor oder die Autorin des Berichts die Vorstellung als naiv, „strukturell verankerte Korruption und Kriminalität“ (taz, 05.01.2006) in wenigen Jahren beseitigen zu können. In der FAZ wird der Bericht unkritisch als „Interner Bericht der Kommission zur Korruption“ tituliert, der „von Parlamentsmitgliedern in Umlauf gebracht“ worden sei (FAZ, 02.01.2006: 1,2). Er wird als Anlass genutzt, über die „Beitrittsfähigkeit Bulgariens“ zu reflektieren und die Möglichkeit der Rücknahme des Beitrittsbeschlusses ins Auge zu fassen. Die taz nahm das Thema später und mit mehr kritischer Distanz in ihre Berichterstattung auf. Das Dokument wird als „ominöses Papier“ bezeichnet. Trotzdem stellt auch die Journalistin der taz Mutmaßungen über die Herkunft und Zielsetzungen des Dokuments an. Ihre Erkenntnisse erhält sie von einem Informanten, den sie unbestimmt als „Beobachter vor Ort“ bezeichnet. Es handelt sich, wie Jäger es nennt, um eine „Verleumdungsstrategie“ (Jäger 2001: 84), die das „Feld des Sagbaren“ (Jäger 2001: 83) zu Bulgarien und Rumänien ausweitet: Informationen unbekannter Herkunft werden durch die Tagespresse aufgegriffen, wodurch 51 das Bild einer kriminellen und korrupten Regierung in den Mittelpunkt der Berichterstattung gestellt wird. 11 • Rücktritt Nastase: Politische Korruption/Alte gegen neue politische Eliten Während des gesamten Untersuchungszeitraums berichteten die FAZ mit vier und die taz mit zwei Artikeln über Korruptionsermittlungen gegen den Parlamentspräsidenten und ehemaligen Ministerpräsidenten Rumäniens Adrian Nastase. Die Ermittlungen durch die rumänische Justiz und der Umgang mit der Affäre in politischen Kreisen wurden stets in Zusammenhang mit dem EU-Beitritt des Landes beobachtet: „Wenige Monate vor der Entscheidung der EU über das Datum des EU-Beitritts Rumäniens hat der Kampf der rumänischen Justiz gegen die Korruption […] einen empfindlichen Rückschlag erlitten.“ (FAZ, 09.03.2006: 7). „Große Namen“ und „Fälle ganz von oben“ hat die EU immer wieder gefordert. Nur so könne Rumänien beweisen, dass es den Kampf gegen Korruption ernst meine. Anderenfalls sei das Land nicht reif für einen Beitritt 2007.“ (taz, 17.02.2006: 9) Zumeist beschränkt sich die Berichterstattung über den Korruptionsskandal auf die Person Adrian Nastase, der als Inbegriff der alten Politik Rumäniens gilt: Er wird als „Höfling des Diktators Ceauşescu“ (FAZ, 16.03.2006: 3) und „Prototyp eines rumänischen Politikers, der nach dem Sturz Ceauşescus auf wundersame Weise Millionär wurde“ beschrieben (taz, 17.02.2006: 9). Seinen Politikstil bewerten die JournalistInnen als skrupellos und paternalistisch (ebd.). Karl-Peter Schwarz erweitert das diskursive Feld, indem er in dem Artikel „Im Fadenkreuz“ eine Bruchlinie zwischen alten und neuen politischen Eliten in Rumänien zeichnet (FAZ, 11.03.2006: 10). Zu letzte11 52 In der FAZ erschien der Bericht auf der Titelseite. ren gehöre, so der Autor, Monica Macovei, die rumänische Justizministerin, eine „atypische Politikerin“ (ebd.), „Fremdkörper im Kabinett Tariceanu“ (ebd.): Quereinsteigerin, parteilos, realistisch. Sie symbolisiere die neue rumänische Politik, jedoch wird sie als Einzelkämpferin mit zahlreichen Gegnern in allen politischen Lagern und Institutionen beschrieben. Außergewöhnlich ist in diesem Artikel auch der Perspektivwechsel, den der Autor vornimmt, als er eine Parallele zieht zwischen dem Kampf der Frau Macovei und der Operation „mani pulite“, welche die italienische Justiz in den 1990er Jahren initiierte, um gegen Korruption vorzugehen (ebd.). Indem der Journalist ein Beispiel für ähnliche Problematiken in Westeuropa heranzieht, relativiert sich das Bild der korrupten post-kommunistischen Regierung (Relativierungsstrategie). Die Differenz und Hierarchie zwischen Ost und West wird somit in Frage gestellt. • Vogelgrippe: Illegale Fleischimporte, Lebensmittelsicherheit Die Verbreitung des Vogelgrippevirus H5N1 wurde bereits seit dem Sommer 2005 von den Medien verfolgt. Auch im Untersuchungszeitraum dokumentierte insbesondere die taz bekannt gewordene Fälle der Infektion durch den Virus H5N1 bei Mensch und Tier (taz, 05.01.2006: 2; taz, 13.02.2006: 2; taz, 03.03.2006: 3, FAZ, 13.03.2006: 12). Nach der Entdeckung der ersten Infektionen in der Europäischen Union erweiterte sich die Diskussion in beiden Zeitungen um die Gefahr durch illegale Fleischimporte und die zu wahrende Lebensmittelsicherheit in der EU. Während die JournalistInnen der taz eher das Problem bei dem „legalen und illegalen Handel mit Abfällen und infizierten Produkten der weltweit agierenden Geflügelindustrie“ (taz: 07.03.2006: 5) suchen, fokussiert man in den Veröffentlichungen der FAZ mit einem Interview und zwei Artikeln die illegalen Geflügelimporte durch Privatpersonen. Die divergierenden politischen Positionen der Zeitungen spiegeln sich hier zum ersten Mal in der abweichenden Gestaltung der Diskurse wider (Wirtschaftskriminalität versus individuelle Kriminalität). Beide Zeitungen nennen in ihrer Berichterstattung Rumänien als Unsicherheitsfaktor. Das Land gilt in der taz als „Infektionsregion“, die „riesige Mengen an „Geflügelprodukten““ exportiert (ebd.). In der FAZ wird Rumänien exemplarisch für den osteuropäischen Raum genutzt: „Aktuell ist es noch wichtiger, dass der illegale Import von Geflügel aus der Türkei oder Rumänien oder den Ländern Südostasiens beendet wird.“ (FAZ: 12. Januar 2006: 13) In der FAZ beschreibt man die Grenzkontrollen als unzureichend und weist auf die Folgen der dünnen Personaldecke der Grenzpolizei hin. Die Zeitungen zeichnen in den Artikeln ein Bedrohungsszenario für eine erweiterte EU mit durchlässigeren Grenzen. Illegale Importe könnten dann die deutsche Lebensmittelsicherheit noch stärker gefährden. Dieser Diskursstrang wird ebenfalls angesprochen, wenn die taz über unzureichend überwachten Anbau und ungekennzeichneten Verkauf von gentechnisch verändertem Soja in Rumänien berichtet („weit von den Vorgaben der Europäischen Union entfernt“ taz, 12.02.2006: 9). • Wirtschaft: abenteuerliche Expansionsmärkte Die Berichterstattung im Bereich „Wirtschaft“ macht bei der FAZ einen Anteil von knapp 30% der Artikel aus. Sie handeln von der „Expansion in diesen Wachstumsmärkten“ (FAZ, 18.01.2006: 14) beispielsweise der „Übernahme der rumänischen Großbank BCA (Banca Comerciala Romana)“ (FAZ, 11.01.2006: 17) und den dadurch erzielten Gewinnsteigerungen deutscher, österreichischer oder internationaler Konzerne. Die wirtschaftliche Integration Bulgariens und Rumäniens wird als problemlos beschrieben. Gleichwohl werden stellenweise Verbindungen mit den bereits genannten Themensträngen Korruption, Vogelgrippe, „politische Lähmung“ (FAZ, 14.02.2006: 22) hergestellt. Ebenso diagnostizieren die JournalistInnen eine starke Instabilität und Sanierungsbedürftigkeit der Wirtschaft in den Beitrittsländern (FAZ, 14,02.2006: 22, FAZ, 10.02.2006). Eine mögliche Verschiebung des Beitritts Bulgariens und Rumäniens vom Jahr 2007 auf das Jahr 2008 wird von den JournalistInnen des Wirtschaftsressorts jedoch eher mit Skepsis betrachtet: „Ein definitives Scheitern dieses Vorhabens [des EU-Beitritts, Anm. d. Verf.] ist zwar nicht zu befürchten, eine Verschiebung der EU-Aufnahmen ist aber durchaus eine Option, die Anleger in ihr Kalkül ziehen sollten.“ (FAZ, 14.02.2006: 22). In der taz findet sich nur ein einziger Artikel im Bereich Wirtschaft, welcher sich mit der Verlagerung der Produktion in Billiglohnländer beschäftigt und als Ziel der Produktionsverlagerung neben Tschechien auch 53 Rumänien nennt (taz, 26.02.2006: 8). Während also in der wirtschaftsliberalen Zeitung FAZ der EU-Beitritt aus wirtschaftlicher Perspektive positiv perzipiert wird, fürchtet die linksorientierte taz eine Bedrohung der deutschen Arbeitsmarktsituation. • Die Österreichische Ratspräsidentschaft: Akzeptanzverlust durch Erweiterung Der Start ins neue Jahr 2006 ging einher mit dem Beginn der Österreichischen Ratspräsidentschaft. Dies veranlasste die Zeitungen dazu, die mittelfristige Zukunft der Europäischen Union zu reflektieren (FAZ: Wo liegt die Zukunft Europas? 02.01.2006: 4). Sie stellen eine europäische Krise auf Grund des Akzeptanzverlusts der EU in vielen Mitgliedstaaten fest, die sich in der Ablehnung des Verfassungsvertrages widerspiegeln würde. Auf der Agenda der Österreichischen Ratspräsidentschaft stand das Vertrauen der EU-Bürger wiederzugewinnen und die Integration des Westbalkans voranzutreiben. Besonders die JournalistInnen der FAZ stellen jedoch eine Kausalität zwischen der EU-Krise und der Erweiterungsperspektive des Westbalkans und der Türkei fest: „Immer mehr damit [Akzeptanzverlust, Anm. der Verf.] verbunden scheint die Frage, wie schnell und um welche Länder die EU noch erweitert wird.“ (ebd.) Ebenso wird die Integration Rumäniens und Bulgariens als problematisch eingeschätzt: Auch Rumänien und Bulgarien hätten „noch erhebliche Widerstände zu überwinden“ (FAZ, 07.01.2006: 3). „Weitere Länder. Aber wie viele weitere, das ist ja die Frage […] die Ukraine und Moldawien, wo wäre da der kategoriale Unterschied zu Rumänien und Bulgarien?“ (FAZ, 12.01.2006: 35) Die Erweiterung der EU um diese beiden Länder wird nicht mehr mit der Euphorie der ersten Osterweite- 54 rung gefeiert, sondern mit der Frage in Verbindung gebracht, wann denn endlich ein Ende der Erweiterungen in Sicht sei (FAZ, 13.03.2006: 10). Diese Verkettungsstrategie blendet alle anderen Gründe für den Akzeptanzverlust in der EU aus (Reformbedarf, neoliberale Ausrichtung des Verfassungsvertrags, allgemeine Politikverdrossenheit, innenpolitische Abstrafung) und stellt die Erweiterung in den Mittelpunkt der EU-Krise. Strukturierende Merkmale der Berichterstattung Die Berichterstattung zu Rumänien und Bulgarien lässt bestimmte strukturierende Merkmale erkennen. An erster Stelle steht die Konstruktion eines Bedrohungsszenarios durch die Integration Rumäniens und Bulgariens in die EU. In Gefahr sind die Rechtsordnung (durch Korruption und Kriminalität), die Sicherheit (Lebensmittelsicherheit, Gesundheit durch durchlässige Grenzen) und die Zukunft der EU-Institutionen. Unterstützt wird der Diskurs der Bedrohung durch häufige Skandalmeldungen: Dies trifft besonders auf die Vogelgrippe zu, wie folgende Textbeispiele verdeutlichen: „Der unsichtbare Feind“ (FAZ, 10.01.2006: 20), „Das Virus grassiert“ (taz, 03.03.2006: 3). Im Januar berichtet die taz in einem Artikel über die so genannte „Kältewelle“, die auch Rumänien und Bulgarien erreichte. Ein besonderes Indiz für die grausame Kälte war die Nachricht, dass rumänische und bulgarische Schulen geschlossen werden mussten, da sie nicht beheizt werden konnten (taz, 24.02.2006: 2). Dass sich sowohl in Bulgarien als auch in Rumänien über Jahrzehnte so genannte „Holzferien“12 institutionalisiert haben und somit der Skandalfaktor verschwindet, ist dem Leser nicht bekannt. Eine Tendenz zur Skandalisierung von Nachrichten, die Unsicherheitsdiskurse unterstützen, erkennen auch Glasze et al. (Glasze et al. 2005: 332). Des Weiteren bleibt der Diskurs zu Rumänien und Bulgarien stark an der Oberfläche der Problemstellungen. Derart vereinfachende Diskurse identifiziert und analysiert Stuart Hall in einem anderen – dem kolonialen Kontext des 16. Jahrhunderts. Die Konsequenzen sind jedoch gleich: „Er [der Diskurs] stellt homogen dar, was tatsächlich sehr differenziert ist“ (Hall 1994: 142) und ordnet so „die Welt entsprechend einer einfachen Dichotomie“ (ebd.). Dichotomien, welche in den Diskursen bezüglich Rumänien und Bulgarien anzutreffen sind, laufen entlang der Grenzlinien Stabilität vs. Instabilität (in allen Bereichen der Politik und der Wirtschaft), Klüngel vs. Rechtstaatlichkeit, Sicherheit vs. Unsicherheit (internationale Kriminalität, Lebensmittelsicherheit), Reife vs. Unreife (unterschiedliche Entwicklungsstadien). Der Gebrauch dieser Metaphern für Bulgarien und Rumänien im Integrationsprozess erscheint nicht unbekannt und knüpft an die pejorativen Begrifflichkeiten des beginnenden 20. Jahrhunderts, als „(…) der Balkan als Symbol für ‚aggressiv‘, ‚intolerant‘‚ ‚barbarisch‘‚halbentwickelt‘, ‚halbzivilisiert‘ und ‚halborientalisch‘ zu stehen begann“ (Todorova 2003: 233). 12 Bei Kälte werden die Schulen für eine oder zwei Wochen geschlossen, um Energie (früher Holz) zu sparen. Sollte der Winter nicht kalt genug sein, müssen die Schüler nicht auf die „Winterferien“ verzichten, denn die Wahrscheinlichkeit, dass es im Januar oder Februar aufgrund von übermäßigen Grippeerkrankungen „Grippeferien“ gibt, ist hoch. Dichotomien der Berichterstattung Westeuropa (EU) Bulgarien/Rumänien Stabilität Instabilität Rechtsstaatlichkeit Klüngel Sicherheit Unsicherheit Reife Unreife Alternativdiskurse „Wenn innerhalb eines besonderen Diskurses Aussagen über ein Thema gemacht werden, ermöglicht es der Diskurs, das Thema in einer bestimmten Weise zu konstruieren. Er begrenzt ebenfalls die anderen Weisen, wie das Thema konstruiert werden kann.“ (Hall 1994: 150) Das zu identifizieren, was in einem Diskurs nicht gesagt wird, ist schwierig. Denn unsere Wahrnehmung einer bulgarischen und rumänischen Wirklichkeit speist sich eben aus dem, was uns durch die Medien mitgeteilt wird. Einige Artikel, die im Untersuchungszeitraum erschienen sind, geben ein anderes Bild des Integrationsprozesses. Das Beitrittsland Bulgarien ist jedoch wiederum nicht Thema der Berichterstattung. Erwähnenswert ist zunächst die Reportage von Uwe Rada zu Rumänien mit dem Titel „Ein Fortschrittsbericht“ (taz, 11.03.2006: I-II). Er setzt sich zum Ziel, dass sein Fortschrittsbericht nichts gemein haben soll mit der „Brüsseler und Bukarester Informationsmaschinerie“, die zur selben Zeit die JournalistInnen aus dem Weste abdeckt (ebd.). Dabei reflektiert er selbstkritisch seine Wahrnehmung Rumäniens: „Ich […] habe schon vor dem Fall der Mauer gelernt: Rumänien, das ist nicht 55 Europa, sondern der Balkan.“(ebd.) Er macht sich in seinem Forschrittsbericht auf eine Reise in das Bukarest des 19. Jahrhunderts und kehrt dann wieder zurück in die Bukarester Straßen von heute, in Künstlerateliers, reist anschließend in die Provinz nach Constanza, Giurgiu und über die Donau ins bulgarische Ruse. Er erzählt Geschichten von Intellektuellen der heutigen Zeit oder die schon längst verstorben sind (Luca Caragiale13, Ovid und Canetti), von Bauern, Roma und Politikern. Vier weitere Artikel stechen aus der Berichterstattung über Bulgarien und Rumänien heraus: Der Korrespondent der FAZ Reinhard Olt behandelt in dem Artikel „Jenseits der Grenze. Autonomiemodelle für die Auslandsungarn“ (FAZ, 14.02.2006: 10) das Thema der Selbstverwaltungsforderungen der ungarischen Minderheit in Rumänien. Karl-Peter Schwarz schneidet das Thema Umweltschutz an, indem er die Schwierigkeiten der Umsetzung einer internationalen GebirgsDominierende Diskurse Hauptstädte Bukarest/Sofia Alternativdiskurse Orte Provinz Constanza, Giurgiu, Ruse, Siebenbürgen, Karpatenregion Themen Justiz Wirtschaft 13 56 Umweltschutz Regionalisierung Minderheitenschutz Kultur Ion Luca Caragiale (1852-1912) war ein rumänischer Schriftsteller. konvention in den rumänischen Karpaten beschreibt (FAZ: Draculas Heimat nicht geschützt, 07.01.2006: 12). Beide behandeln mit den Themen Minderheitenschutz, Regionalisierung und Umweltschutz Bereiche des Europäischen Integrationsprozesses jenseits der „high-politics“-Ebene. Schließlich ziehen osteuropäische und besonders rumänische Filmemacher Interesse auf sich. Die Autoren kommentieren Filme mit unterschiedlichen Themen: Hans-Jörg Rother (FAZ, 12.3.2207: 20) rezensiert rumänische Filme, die die Themen Prostitution, die Folgen der Diktatur und der Securitate und die Sehnsucht nach dem Westen verarbeiten. Der Episodenfilm „Lost and Found“, den die deutsche Leserschaft durch die Rezension von Jochen Schmidt (taz, 11.01.2006: 16) kennen lernt, erzählt von dem Verhältnis zwischen den Generationen in verschiedenen osteuropäischen Ländern. Kritisch fragen die Autoren nach den Gründen für das „Schattendasein“ (FAZ, 12.3.2207: 20) der innovativen und kreativen Filmszene dieser Länder und erkennen ein „Potenzial an Geschichten“ (taz, 11.01.2006: 16). In welcher Weise versuchen die Autoren in ihren Berichten das „Spektrum des Sagbaren“ ( Jäger 2001: 87) zu erweitern? Zunächst ist es die Themenwahl, die sie von den anderen Artikeln unterscheidet. Sie beschränken sich nicht auf die Hauptkritikpunkte im Brüsseler Fortschrittsbericht, sondern erweitern die Perspektive auf andere Politikbereiche, verschieben den Fokus des Diskurses von der Hauptstadt auf die Provinz oder stellen das kulturelle Leben und den Alltag in den Mittelpunkt. Des Weiteren nähern sich die AutorInnen den Themen auf unterschiedliche Weise, indem sie versuchen, durch gründlich recherchierte Hintergrundinformationen post-kommunistische Lebens-, Politik-, und Wirtschaftskon- dass in der Presse aufgebaut wurde, mit dem Beitritt der Länder verblasst. Letztendlich werden differenziertere Vorstellungen dann entstehen, wenn Bulgarien und Rumänien auf der persönlichen Landkarte der westeuropäischen Bürger näher rücken (vgl. Hoffmann 2002) und es „mehr zu sagen gibt“ über diese Länder als das, was die Zeitungsberichterstattung zu vermitteln mag. Auf den folgenden beiden Seiten findet sich eine beispielhafte Auswertung des nebenstehenden Artikels aus der FAZ. Literatur: zepte verständlich zu machen. Schließlich reflektieren einige die Hierarchie in der Wahrnehmung Osteuropas durch das westliche Europa, indem sie diese umdrehen und ironisch fragen: „Was kann der Westen vom Osten lernen?“ (taz, 11.03.2006: I-II) Diese Ansätze sind in der derzeitigen Berichterstattung jedoch rar gesät (fünf in drei Monaten). Stattdessen setzen sich die Diskurse durch, die vereinfachende Dichotomien reproduzieren. Es bleibt zu hoffen, dass das Bedrohungsszenario, Frahm, Thomas (2006): Savoir vivre auf Bulgarisch. In: APuZ 27/2006. S. 32-38. Glasze, Georg et al. (2005): (Un-)Sicherheitsdiskurse: Grenzziehungen in Gesellschaft und Stadt. In: Berichte zur deutschen Landeskunde 79/2005. S. 329-340. Hall, Stuart (1994): Der Westen und der Rest: Diskurs und Macht. In: Ulrich Mehlem et al. (Hrsg.): Rassismus und kulturelle Identität. Ausgewählte Schriften 2. Hamburg: Argument Verlag. S. 137-179. Hoffmann, Tina (2002): „Ein Bild ist da, wo die Wirklichkeit ein Loch hat.“ Deutschlandbilder in Europa – ein Erklärungsansatz anhand der Stereotypenforschung. In: Ana Dimova und Snejana Boitscheva: Beiträge zur Germanistik und zu Deutsch als Fremdsprache. Schumen. S. 144-151. Höpken, Wolfgang (1996): Die „unvollendete Revolution“? Bilanz der Transformation nach fünf Jahren. In: Revolution auf Raten: Bulgariens Weg zur Demokratie. Oldenburg (=Untersuchungen zur Gegenwartskunde Südosteuropas Bd.32), S. 1. Jäger, Siegfried (2001): Theoretische und methodische Aspekte einer kritischen Diskurs- und Dispositivanalyse. URL: (abgerufen am 02.01.2007)http://www.diss-duisburg.de/Internetbibliothek/Artikel/ Aspekte_einer_Kritischen_Diskursanalyse.htm 57 1 Autor1 Überschrift. Untertitel Datum Horst Bacia (Bc) In der EU neue Skepsis über Bulgarien. Interner Bericht der Kommission zur Korruption/ Brok: Schwerwiegende Vorwürfe 2.1.2006 Themen in Stichwörtern4 Europäischer Beitrittsprozess - Aufschub des EU-Beitritts BG 2007 (4) - Kritik von EU-Kommission und Europ. Parlament (8-27, 65-77, 80-85) - Zweifel an Beitrittsfähigkeit RU (77-80) - RU + mangelnde Korruptionsbekämpfung (79-80) - Forderung von EU-Parlament über Mitspracherechte (86-91) Bulgarien und organisiertes Verbrechen - Interner Bericht über organisiertes Verbrechen in BG (6-8, 28-30, 55) - Verflechtung und Abhängigkeitsverhältnis von Politik und organisiertem Verbrechen in BG (30-35) - Geschichte der Verflechtung von Politik und organisierten Verbrechen in BG (erst kommunistisch, jetzt privatisiert, alte Strukturen existieren weiter) (3648) - Internationaler Rauschgifthandel (41) - BG machtlos gegenüber alten Strukturen (48-55) - Skandal in BG um „Öl-für-Lebensmittel“-Programm der UN (55-64) EU-Interna - Verfassungsvertrag der EU (95) - gescheiterte Verfassungsrefernden in Frankreich und Niederlanden (96-97) Fragen, die sich aus dem Artikel ergeben: Artikel bezieht sich auf einen internen anonymen Bericht, der viele negative Vermutungen anstellt. Warum wird die Herkunft des Artikels nicht kritischer hinterfragt? 1 Die Namen der Autoren werden oft nur als Kürzel aufgeführt. Den vollständigen Namen findest du auf der Homepage oder im Impressum der Zeitung. Bei Kurzmeldungen werden die Kürzel dpa, ap, epd und rtr und weitere genannt. Dies sind Abkürzungen für Presseagenturen. 2 Die Textsorten der Artikel werden bestimmt. Handelt es sich um eine Kurzmitteilung, einen Bericht, einen Kommentar, eine Reportage, einen Leserbrief o.ä.? 58 Textsorte2/ Zeilen/FAZ BG oder RU oder BG und RU im Artikel Illustrationen3 Bericht/ 100 Zeilen RU+ BG nein Sprachliche Besonderheiten5 Position der EU-Institutionen gegenüber BG und RU Nomen: Zweifel, Besorgnis, Hinauszögerung, Erwartung, Vorwürfe, Warnung, Empfehlung, Vorbehalt Verben: fordern, wiederholt aufgefordert, drohen, verlangte > warnend, Druck ausübend Ausdrücke über Missstände: Unverfrorenheit, kriminelle Elemente, Verbrechen, kriminelles Milieu, strukturell verankerte Korruption und Kriminalität, Mehrfachnennungen: Korruption (3), Kriminalität, kriminell (4) Weitere Nomen und Verben, die Kriminalität und Korruption suggerieren: In Geschäfte verwickelt sein, organisierte Verbrechen, internationaler Rauschgifthandel, „Unverfrorenheit organisierter krimineller Elemente“ 3 Festhalten, ob der Text Illustrationen enthält. 4 Hier sollen alle Themen, die der Artikel anspricht, festgehalten werden. Dies sollten nach Möglichkeit Stichwörter sein. Dies zielt darauf hinaus, in welche Diskurse der Diskurs der Bulgarien- und Rumänienbilder eingebunden ist. 5 Zitate, Redewendungen, besondere Verwendung von Verben, Pronomen, Nomen, z.B. „Man darf Europa nicht über- fordern.“ 59 Jäger, Siegfried (2001): Diskurs und Wissen. Theoretische und methodische Aspekte einer Kritischen Diskurs- und Dispositivanalyse. In: Reiner Keller, et al. (Hrsg.): Handbuch Sozialwissenschaftliche Diskursanalyse. Theorien und Methoden Bd.1. Opladen, S. 81-111. Eine Einführung. In: Keller, Reiner et al. (Hrsg.): Handbuch sozialwissenschaftlicher Diskursanalyse Bd.1. Opladen: Leske+Budrich, S. 7-27. Leiße, Olaf (2006): Rumänien und Bulgarien vor dem EU-Beitritt. In: APuZ, 27, S. 6-13. Middeke, Annegret und Studierende der Universität Plovdiv: Projektdokumentation: „Pressespiegel“- Bulgarien und Deutschland in der gegenseitigen Berichterstattung. In: Marie-Christin Lerchner u. Annegret Middeke (Hrsg.): Wider Raster und Schranken: Deutschland - Bulgarien - Österreich in der gegenseitigen Wahrnehmung. Wissenschaftliche Beiträge, Essays, Unterrichtsprojekte. Göttingen 2006, S. 169-182. Kleines Fremdwörterbuch (1996). Stuttgart: Reclam. Nohlen, Dieter (Hrsg.) (1996): Lexikon der Politik. Band 5: Die Europäische Union. München: C.H. Beck. Pürer, Heinz und Johannes Rabe (1996): Medien in Deutschland Band1. Konstanz UVK Medien Verlagsgesellschaft mbH. Watzlawick, Paul (1976): Wie wirklich ist die Wirklichkeit? WahnTäuschung-Verstehen. München: Piper. taz: Redaktionsstatus. http://www.taz.de/pt/1/etc/ueberuns/statut (abgerufen am 02.01.2007) Todorova, Maria (2003): Historische Vermächtnisse als Analysekategorie. Der Fall Südosteuropa. In: Karl Kaser et al. (Hrsg.): Europa und die Grenzen im Kopf. Klagenfurt: Wiesner (= Wieser Enzyklopädie des europäischen Ostens 11), S. 227-252. 60 No comment. Karikaturen des Klausenburger Graphikers Elemér Könczey oder „Balkanbilder“ im Unterricht Gabriella-Nóra Tar Kontextualisierung Im Rahmen des trinationalen Seminars „Balkanbilder in Ost und West. Mythen und Stereotypen auf der Spur“ (2.-8. April 2006 – Ruse/Bulgarien) wurde von den Klausenburger Universitätslektorinnen Bianca Bican und Gabriella-Nóra Tar ein Workshop zum Thema Rumänische Balkanstudien und –bilder durchgeführt, dessen TeilnehmerInnen auf Grund von so genannten statischen und dynamischen Balkanbildern aus Rumänien den „homo balcanicus” konstruiert und dekonstruiert haben. Zu diesem Konstrukt dienten als Korpus einerseits ausgewählte Karikaturen des rumänienungarischen Graphikers Elemér Könczey und andererseits zwei Kurzfilme der rumänischen Regisseure Cristian Mungiu und Cristi Puiu. Auf die Karikaturen von Elemér Könczey wurden von den deutschen, bulgarischen und rumänischen TeilnehmerInnen im ersten Teil des Workshops verschiedene Deutungsraster angewendet und in Hinblick auf den Wirkungsmechanismus von Karikaturen oder Cartoons in Könczeys Drei-PhasenModell zusammengefasst (s. unten) (vgl. Könczeys 2002). Im zweiten Teil des Workshops setzten sich die TeilnehmerInnen mit den Kurzfilmen Curcanii nu zboară (Turkey Girl, 2003) von Cristian Mungiu und Un cartu ̧ de Kent ̧i un pachet de cafea (Cigaretts and coffee, 2004) von Cristi Puiu auseinander, indem sie unter anderem Kongruenzen von statischen und dynamischen Bildern an sich wiederholenden Themen (Korruption, Stadt-Land-Gefälle, Gender-Aspekte usw.) identifizieren konnten (siehe den Artikel von Alexandra Vlad in diesem Band). Die vorliegende Studie versteht sich als praxisorientierter Didaktisierungsvorschlag zu Elemér Könczeys Karikaturen, indem sie ausschließlich den ersten Teil des bereits kurz skizzierten Workshops beschreibt. In diesem Sinne gilt sie vor allem als Plädoyer für den Einsatz von Karikaturen – die durch ihr spezielles Zeichensystem als international gelten – in einem interkulturell bzw. interdisziplinär angelegten (Landeskunde-)Unterricht. Gleichzeitig ist dieser praxisorientierte Beitrag darum bemüht, durch konkrete Zeichnungsanalysen auch zur Rezeption des Klausenburger Graphikers im Ausland beizutragen, wobei der Stil des osteuropäischen Karikaturisten (a. Innensicht; b. „Balkanischer“ 1 Die WorkshopteilnehmerInnen waren deutscher, bulgarischer, rumänischer bzw. rumänienungarischer Herkunft; von der Ausbildung her war die Gruppe aus Studierenden der Germanistik, der Soziologie, der Europäistik und der Politikwissenschaft zusammengesetzt. 61 Blick nach Europa; c. der Balkan aus europäischer Perspektive) als Fallbeispiel für balkanischen Humor (auf die Frage seiner Existenz und seines Charakters wird in dieser noch Studie eingegangen) mindestens punktuell untersucht werden muss. Könczeys Karikaturen im Unterricht Was macht eine Karikatur zur Karikatur? Dieser Frage sind die WorkshopteilnehmerInnen in der ersten Arbeitsphase nachgegangen, indem sie zu einer unvollständigen Karikaturvorlage von Könczey (Karikatur Nr. 4 bei E. K.) die fehlende Pointe erarbeiten und graphisch darstellen mussten. Auf der Abbildung waren nur der auf dem Operationstisch liegende Patient, der Arzt und die Krankenschwester zu sehen. Es wurde ohne Ausnahme die Problematik des Organhandels thematisiert (Karikatur Nr. 1, 2 und 3). Durch die anschließende Konfrontation mit dem unbetitelten Original (Karikatur Nr. 4) stellten die TeilnehmerInnen fest, dass im Unterschied zu den eigenen Lösungen die Pointe des Originals in der Visualisierung eines Bestechungsversuches besteht. In der folgenden Arbeitphase setzte sich die Gruppe mit der Frage auseinander, wie Karikaturen auf den Rezipienten wirken. Mit Hilfe der vorher erarbeiteten theoretischen Kategorie der Pointe fassten die Teilnehmer den Wirkungsmechanismus von Karikaturen in einem 3-Phasen-Modell von Elemér Könczey zusammen. Laut Könczey sucht der Betrachter in den wenigen Sekunden der Rezeption sofort nach der Pointe der Karikatur. Dieses führt zu einer tiefer gehenden Untersuchung der Zeichnung, die im Optimalfall mit dem Aha-Erlebnis des Rezipienten als eine Art SichZurücklehnen im virtuellen Sessel endet (Vgl. Könczey 2006). Dadurch konnten die Workshopteilnehmer die Karikatur als eine solche bildliche Darstellung definieren, „die eine Eigenschaft oder Merkmal stark übertreibt und dadurch lächerlich macht.” (Wahrig 2000: 716). Im Folgenden werden die Arbeitsschritte des angewandten Deutungsrasters, das sich als Methode im Unterricht auch auf weitere Karikaturen beliebigen Inhalts übertragen lässt, tabellarisch zusammengefasst: Diese Erkenntnisse wurden in einer dritten Arbeitsphase Szöveg nélkül • Fӑrӑ titlu • no comment 1 62 2 Aha-Erlebnis: Der Rezipient formuliert seine Erkenntnisse. Die Operation findet nur nach einer „Gegenleistung“ seitens des Patienten statt. Im rumänischen Gesundheitswesen gehört das Bestechungsgeld zur Alltagspraxis. praktisch überprüft: In Kleingruppen wurden die TeilnehmerInnen (mit mindestens einem RumänienExperten!) damit beauftragt, eine weitere unvollständige Karikaturvorlage mit der fehlenden Pointe zu ergänzen. Die erste Karikatur sollten die Kleingruppen in Bezug zu ihrem Heimatland bearbeiten, die zweite in einen rumänischen Kontext setzen. Bei der ersten Aufgabe arbeiteten die Studierenden mit der Karikatur Nr. 131 von Elemér Könczey, die den Titel Das Team trägt. „Teamarbeit” wird laut den entstandenen Lösungen je nach Herkunftsland unterschiedlich gewertet: Deutsche TeilnehmerInnen befolgten das Motto „Ich bin das Team” und erläuterten den Begriff eher individualistisch (Karikatur Nr. 5 und 6), rumänische und bulgarische TeilnehmerInnen befanden dagegen, dass in den beiden Balkanländern ein chefzentriertes Korruptionsnetz unter Team zu verstehen sei (Karikatur Nr. 7). Im Falle der Rumänien-bezogenen Eigenvarianten zum Titel Professionalität entstanden Lösungen, die in den meisten Fällen die miserablen Zustände des rumänischen Gesundheitswesens problematisieren, z. B. in der Gestalt eines vom Ambulanzwagen selber 3 4 3-Phasen-Modell nach Elemér Könczey Beispiel: (Karikatur Nr. 4 bei E. K.) Suche nach der Pointe: Der Rezipient sucht nach stark übertriebenen Merkmalen der Situation. Was ist an der dargestellten Operation besonders/lächerlich? Tiefer gehende Untersuchung der Karikatur: Der Betrachter stellt sich mehrere Fragen. Warum wird dem Arzt wie selbstverständlich ein Briefumschlag vom sich in der Narkose befindenden Patienten überreicht? Wie ist die Reaktion der Beteiligten? etc. 63 A csapat • Echipa • The team 5 überfahrenen (Karikatur Nr. 8) oder eines vom untätigen Notarzt eingesperrten bzw. vernachlässigten und demzufolge nach Hilfe rufenden Kranken (Karikatur Nr. 9). Ein ganz anderer Aspekt dieses Problemkreises wurde von derjenigen Kleingruppe aufgegriffen, die den Begriff der rumänischen „Professionalität“ mit der Vogelgrippe in Verbindung setzte, indem laut Zeichnung der kranke (oder bereits tote?!) Patient in einem Anhänger des Ambulanzwagens transportiert wird, zusammen mit dem die Krankheit verursachenden Geflügel (Karikatur Nr. 10). Alle Workshopvarianten scheinen mit Elemér Könczeys Meinung über rumänische Professionalität verwandt zu sein: der rumänienungarische Karikaturist treibt die Situation bis zum Absurden, indem er die Ignoranz des Notarztes als Teil eines reibungslos funktionierenden „Selbstbedienungs”-Systems im Gesundheitswesen 64 6 Rumäniens deutet (in diesem Buch Karrikatur Nr. 11, bei E. K. Nr. 2). Das Autoschild auf der Karikatur weist übrigens explizit auf die Stadt Klausenburg/Cluj hin. Erst nach dieser produktionsorientierten Herangehensweise an statische Bilder aus Rumänien konnte die Frage gestellt werden, ob die Cartoons von Könczey ausschließlich als Rumänien- bzw. BalkanKarikaturen zu verstehen sind oder ob sie auch eine weitergehende Deutung als Karikaturen über Europa zulassen. Zur Beantwortung dieser Frage wurde den WorkshopteilnehmerInnen ein Korpus aus ausgewählten prägnanten Karikaturen von Könczey (ca. 30 Bilder) zur Verfügung gestellt, die sie in Partnerarbeit untersuchen sollten. Die Studierenden bekamen die Aufgabe, nach zurückkehrenden Motiven im Korpus zu suchen und aufgrund dieser, die Zeichnungen in größere thematische Blöcke 7 einzuordnen. Anschließend wurden u. a. folgende Kategorien vorgeschlagen und als Zeichnungsanalyse im Plenum besprochen: Europa bzw. Europäische Union, Weltall und Weltpolitik, rumänischer Alltag, rumänisches Gesundheitswesen, Behörden, Technik . Eigenartigkeit der rumänischen (oder balkanischen?) Selbstironie aufmerksam. Dabei haben sich die Studierenden nicht unberechtigt die Frage gestellt, ob es ein balkanisches Lachen gäbe. Wenn diese spezifische balkanische Lachkultur belegbar ist, führt sie laut der Hypothese der WorkshopteilnehmerInnen vom Über-Sich-Lustig-Machen über realitätsbezogene balkanische Bestandsaufnahmen vernichtender Kritik bis zur passiven Resignation des so genannten „homo balcanicus“. Diese Fragestellung gewann im zweiten Teil des Workshops noch mehr an Bedeutung, da zwischen den statischen (Karikaturen) und dynamischen (Kurzfilme) Balkanbildern thematische Kongruenzen festgestellt werden konnten, die nicht nur die Präsenz gewisser nationaler und gleichzeitig mittelosteuropäischer Stereotype belegen, sondern auch die Existenz einer rumänischen/ rumänienungarischen Selbstironie und Lachkultur als eine denkbare Strategie der Balkan-Bewältigung. Zu guter Letzt Die produktionsorientierte Auseinandersetzung mit Karikaturen als statische Bilder aus Rumänien hat den WorkshopteilnehmerInnen tatsächlich einige rumänische Stereotype bewusst machen können. Auch wenn die Optik des osteuropäischen Karikaturisten durch ihre Fokussierung auf gesamteuropäische und weltpolitische Problemkreise nur in dieser Komplexität und Vielschichtigkeit deutbar ist, machen die Rumänien-Karikaturen von Könczey auf die Literatur: Interjú Könczey Elemérrel (2006). In: A Hét. 4/1. URL: http://www. ahet.ro/ (Abgerufen am 03. 03.2006) Könczey, Elemér (2002): Szöveg nélkül. Fără titlu. No comment. 222 rajz, desene, cartoons. Klausenburg: Erdélyi Híradó Verlag. Wahrig, Gerhard (2000): Deutsches Wörterbuch. Gütersloh, München: Bertelsmann Lexikon Verlag. 65 Weitere Karikaturen zum Artikel No comment 8 9 10 11 66 „Die ersten Impressionen sind von einem geteilten Bild geprägt. Es scheint eine geteilte Gesellschaft zu geben: Gesellschaft A, die in großer Armut lebt und Gesellschaft B aus einer kleinen Schicht, den Gewinnern des Systemwandels.“ „Vorkodierte Balkanbilder werden relativiert und auf einer Werteskala gewissermaßen in eine positive Richtung gerückt. „Schein trügt“ - dieses Seminar unterstützt diese Aussage immer mehr.“ 67 Unter der Lupe: Das Begriffsfeld des homo balcanicus Brigitta Finta Die Frage nach der Existenz des homo balcanicus und dem Inhalt dieser Kategorie wurde in einer Seminargruppe mit TeilnehmerInnen verschiedener Nationalitäten aufgeworfen. Dabei folgte sie der These, dass Vorurteile im Sozialisationsprozess seltener selbst gebildet, sondern vom Kindesalter an Einstellungen, Normen und Vorurteile übernommen werden. Dieses kulturelle Wissen wird durch Sprache, Gruppen und Gemeinschaften, Medien und Diskurse tradiert und überliefert. Diese kulturellen Diskurse erkennt man an einer spezifischen Sprechweise. In dieser Rethorik werden bestimmte Kategorien wie „Fremde“, „Rasse“, “Nation” aufgrund eigener Werte und Kriterien definiert. In den westlichen Balkanbildern zum Beispiel gelten eigene Kulturwerte wie wirtschaftliches Entwicklungsniveau, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit als Bewertungskriterien gegenüber dem Balkan, folglich werden der balkanischen Region solche Adjektive wie rückständig, antidemokratisch und korrupt zugeschrieben. 68 Das Ziel des Dialogs war es, die Vorstellungen der westlichen TeilnehmerInnen von dem Menschentypus homo balcanicus mit dem Selbstbild der bulgarischen und rumänischen TeilnehmerInnen zu konfrontieren. Die Diskussion beschränkte sich nicht auf eine abstrakte Ebene. Die wissenschaftlich offene und kritische Haltung zur Fragestellung seitens der TeilnehmerInnen war zwar eine Voraussetzung während des Dialogs. Es war aber ebenso wichtig, den subjektiven Äußerungen Platz zu sichern, durch die geäußerten Meinungen kulturelle Unterschiede und Ähnlichkeiten zu erfahren und die eigene Perspektive dadurch zu erweitern. Dieser Dialog war ein zweideutiger sprachlicher Akt: einerseits ein konstruierender, begriffsklärender Akt, andererseits ein dekonstruierender, die Geltung des Begriffes in Frage stellender Akt. Dieser Versuch ähnelt einer destillierenden sprachlichen Forschung; die TeilnehmerInnen sollten ihre Vorurteile überprüfen und die mit dem Begriff verbundenen subjektiven und kul- turellen Denotationen klären. Während verschiedene TeilnehmerInnen das Umfeld des Begriffes umschrieben, tauchten immer neue, kulturell bestimmte Unstimmigkeiten und Missverständnisse auf, die aber der Gruppe zur Erweiterung des Blickwinkels und Neudefinition des Begriffes verhalfen. Die Existenz eines abstrakten balkanischen Menschentypus im kollektiven kulturellen Wissen, der durch Medien vermittelt und mit Attributen wie aggressiv, feindlich, konservativ, barbarisch charakterisiert wird, wurde sowohl von den westlichen als auch von den östlichen TeilnehmerInnen anerkannt. In unserer Definition kommen solche spezifischen Eigenschaften wie Humor, Geselligkeit, normiertes Verhalten vor, die die innere Einstellung des homo balcanicus zu seiner Umwelt schildern. In dieser Interpretation bedeutet der Humor eine Art Weltdeutung, Denkart und Problemlösungsstrategie. Da die Realität durch einen tiefen, sarkastischen Humor aufgefasst wird, der kontemplative und nachdenkende Momente beinhaltet, wird eine distanzierte Haltung zu den Schwierigkeiten gesichert und dadurch ihre Bewältigung gefördert. Alkoholgenuss und Alkoholismus als weitere spezifische Züge des homo balcanicus können auch als Lösungsversuche gegenüber den Problemen gedeutet oder als Begleitumstand der gemeinschaftlichen Unterhaltungsformen identifiziert werden. In diesem Bedeutungsumfeld wird eine andere Charakteristik dieses Menschentypus aufgerufen, die Geselligkeit. Die Gemeinschaftszugehörigkeit bedeutet gleichzeitig auch das Beharren auf einer normierten traditionellen Ethik, die das Verhalten des homo balcanicus zu seiner Umwelt und zu sich selbst modelliert. Wenn dieses Bild über den balkanischen Menschentypus um Züge ergänzt wird wie: seine grundsätzliche Tätigkeitsform, die Landwirtschaft, und die großfamiliäre soziale Einrichtung, dann zeigt sich in dieser Charakterisierung ein bestimmtes Menschenbild, und zwar der konservative Bauerntypus. Das durch die Gruppe bestimmte Modell vermittelt also nicht nur einen Menschentypus, sondern deutet im Hintergrund gleichzeitig auch auf die traditionelle, patriarchalische Gesellschaftsform. Die sich in der Beschreibung des homo balcanicus summierenden Vorurteile haben also eine breitere Reichweite und reflektieren auch auf eine bestimmte Kultur und Gesellschaft. Die östlichen TeilnehmerInnen stellten die heutige Geltung dieses mythisierten Menschenbildes in Frage und lehnten eine Identifikation mit dieser Konstruktion ab. Die TeilnehmerInnen aus Bulgarien und Rumänien berichteten aber über eine gemeinsame Erfahrung, die eine zurzeit wahrnehmbare kulturelle Wandlung und 69 Übergangsphase in der balkanischen Region betrifft. Die gemeinsame Schlussfolgerung in der Interpretation dieser Änderung war, dass die osteuropäischen Menschen in den Umständen der sich auflösenden früheren Werte ihre Stabilität und nationale Einzigartigkeit zu verlierern drohen. Ein auffallendes Zeichen dafür ist das Erscheinen einer starken Konsumgesellschaft, die allen Moden und Trends ohne kritische Einstellung und Nachdenken nachgeht. Summa summarum: Dieser Deutungsprozess während des Gesprächs prägte fortgesetzt den Inhalt des Begriffes homo balcanicus und zeigte dessen Plastizität. Die Änderung des Verständnisses konnte man in diesem kleinen Format verfolgen, wo die eigenen und die kulturell überlieferten Geschichten dem Begriff immer neue Nuancen beifügten und das Wort dynamisierten. Ein sehr dynamischer Begriff wurde dadurch ins Leben gerufen. Sein Inhalt war nicht mehr stabil, genau definierbar und zu einer einheitlichen Vorstellung zusammenfassbar; er erwies sich als geschichtlich, kulturell und subjektiv variabel und gestaltbar. Ab- und Aufbau der Vorurteile waren während dieses intensiven gemeinsamen Deutungsprozesses nicht mehr voneinander trennbar, sie vollzogen sich parallel und leisteten bedeutende Beiträge zum Verständnis des Anderen. Vorurteile haben also auch eine vermittelnde Funktion: Sie geben ein Bild über den Anderen und fungieren als Anhaltspunkte im Umgang mit dem Anderen. Demgemäß kann der Menschentypus homo balcanicus als ein geschichtlich und kulturell bestimmtes Konstrukt mit spezifischen Eigenschaften aufgefasst werden. Das durch die Gruppe bezeichnete Menschenmodell ist also kein endgültiges, sondern ein vorläufiges Ergebnis einer aufschlussreichen Diskussion. 70 Weiterführende Literatur: Bergmann, Werner (2001): Was sind Vorurteile? In: Informationen zur politischen Bildung. Nr 271/ 2001. S. 3-8. Haselsteiner, Horst (1998): Die Politik der europäischen Großmächte. In: Heuberger, Valeria et al. (Hrsg.): Der Balkan. Friedenszone oder Pulverfaß? Frankfurt am Main: Wiener Osteuropa Studien, Bd. 7. S. 79-89. Heil, Johannes (2001): Fremde, Fremdsein – von der Normalität eines scheinbaren Problemzustandes. In: Informationen zur politischen Bildung. Nr 271/ 2001. S. 10-16. Troebst, Stefan (2004): Das hundertjährige Erbe. In: Die Zeit vom 29. 07. 2004. Nr. 32/2004. URL: http://zeus.zeit.de/text/2004/32/ Hauptst_9fck2-Balkan (Abgerufen am 20.12.2006). „Mir hat alles gut gefallen. Die Gruppenverteilung „Ich habe bemerkt, dass die finde ich auch super, weil wir uns so leichter kennen Unterschiede zwischen den Teil- lernen und in das Thema vertiefen können. Nicht nur, nehmern, die aus verschiedenen dass wir über den Balkan und die EU mehr erfahren, Ländern kommen, fast unspürbar aber auch die Art und Weise der Seminargestaltung ist sind. Wir reden von Stereotypen, erfinderisch, einfallsreich. Bisher war alles eine wunder- aber zwischen uns gibt es solche schöne Überraschung: Arbeit in Mannschaften, Gast- Unterschiede nicht. Das war für freundschaft, freundliche Gesichter, neue Ideen und mich eine angenehme Bemer- neue Arten, wie man lernen kann. Am Anfang dachte kung, denn ich gebe zu, ich hatte ich, dass alles strenger und strikter sein wird, aber dann ein paar Vorurteile. Ich finde alle schien es wie ein Spiel voll Kreativität und spannend Workshops (und alle Spiele) sehr wie ein wirkliches Abenteuer.“ interaktiv. Sie fördern die Kreativität und das Mitmachen. Alles „Bis jetzt haben wir mehr oder weniger theoretische/ allgemeine Begriffe gelernt und etwas abstrakt über das Thema gesprochen. Jetzt kommt langsam die Zeit, konkretere Eindrücke über das „Image“ unserer Länder war gut organisiert. Zwischen den verschiedenen Events gibt es immer ungefähr eine Stunde Luft, aber damit kann man nichts anfangen. Es gibt nirgendwo viel Freizeit, damit wir Einkaufen gehen können, wie das von uns zu Hause erwartet wird. “ (die Eigenvorstellung versus Außenbewertung) zu gewinnen.“ 71 Der Bruch zwischen ALT und NEU im gegenwärtigen rumänischen Film Alexandra Vlad Jahrhunderte lang befand sich Rumänien in einem Spannungsverhältnis zwischen Ost und West, zwischen Abend- und Morgenland, geprägt von der Herrschaft des Osmanischen Reiches und der Habsburgischen Monarchie. Zudem wurde die angestrebte Aneignung westlicher Ordnungsstrukturen ständig von den gesellschaftlichen, kulturellen, religiösen und politischen Prägungen der Region beeinflusst. Das Eigenund Fremdbild Rumäniens war somit immer geprägt von dem Spannungsverhältnis zwischen einer Orientierung nach Westen, dem orientalischen Einfluss und der Auseinandersetzung mit dem spezifisch Eigenen. Die Mischung beider Kulturen und Strukturen – der östlichen und westlichen – führte zu einem hybriden Konstrukt, so dass Rumänien, ähnlich wie andere Staaten aus dem Südosten Europas, in die Kategorie des „Balkanismus“ (Todorova 1997) eingeordnet wurde und wird (vgl. Kiossev 2002; Kreuter 2001; Völkl 1 Unter „Hybrid“ fasse ich Mischformen, Gebilde von zweierlei Herkunft. Die- ser Begriff des Hybriden ist laut der Medien- und Theaterwissenschaftlerin Irmela Schneider (Schneider/Thomsen 1997) nicht nur auf biologische und technische, sondern auch auf ästhetische Entwicklungen unserer Gegenwart anzuwenden. 3 Ich greife hier Homi Bhahbhas Konzept des Hybriden und der kulturellen Dif- ferenz auf, das die Auffassung, eine Kultur oder eine Nation sei rein, in Frage In der Literatur wird oft der Begriff „Balkanismus“ gebraucht, welcher von stellt. Dadurch möchte ich die rumänische Kultur bzw. den gegenwärtigen Maria Todorova (Todorova 2000) unter dem Einfluss von E. Saids Begriff „Ori- rumänischen Kurzfilm innerhalb von Prozessen der Hybridiesierung betrach- entalismus” eingeführt wurde. ten. 2 72 1995; Weithmann 2000). In der rumänischen wissenschaftlichen Landschaft wird der Begriff „Balkan“ jedoch seltener gebraucht. Er dient der Unterscheidung eines (westlichen) Transsylvaniens von einem BalkanRumänien (vgl. Antohi 2002; Cioroianu 2002). Ansonsten wird eher der Begriff „Südosteuropa“ bevorzugt. Diese terminologische Unterscheidung ändert aber nichts an der Existenz der Schwelle zwischen Osten und Westen. Der kulturelle Aspekt des Zwischenhaften (vgl. Muthu 2002) deutet zunächst auf ein Anderssein, ein „halbeuropäisches, halbasiatisches“ (Bjelić/Savić 2002: 19) Gebilde an der „emergence of the interstices“ (Bhabha 1994) hin. Ausgehend von Homi Bhabhas Auffassung von der Hybridität einer Kultur bin ich der Ansicht, dass sich auch Rumänien in einer kulturellen Hybridität entwickelt hat. Die jüngere und jüngste Gesellschafts- und Kulturgeschichte Rumäniens und eigentlich des ganzen ost- und südosteuropäischen Raumes ist durch die Übernahme westeuropäischer Strukturen und Werte bestimmt. Die gegenwärtige fortschreitende Annäherung Südosteuropas und damit auch Rumäniens an die Strukturen der Europäischen Union hat der Spannung Ost-West noch mehr Schärfe und Brisanz gegeben, sowohl im kulturellen, gesellschaftlich-politischen als auch im wissenschaftlichen Sinne. Heutzutage kann man eine zunehmende Entwicklung in der Südosteuropaforschung feststellen, welche ihren Diskurs auf mehreren Aspekten dieses Spannungsverhältnisses zwischen Ost und West aufbaut. Einige solcher Forschungsschwerpunkte wie z.B. die Polarität Neu/Alt, Tradition/Modernität, Identität/Alterität (Eigen-/Andersheit), Kollektivität/Individualität werde ich innerhalb dieser Untersuchung auf gegenwärtige rumänische Kurzfilme beziehen. In der Erforschung der südosteuropäischen Auseinandersetzung mit den westlichen, europäischen Strukturen, geht es mir hauptsächlich um deren Brüche und Grenzen, wobei ich sie in Hinsicht auf den ästhetisch dargestellten Dualismus NEU-ALT erkunde. Ziel meiner Untersuchung ist es, sowohl den Bruch mit dem Tradierten als auch die brüchigen neuen Konstrukte im filmischen Bereich zu erforschen und die Grenzen beider Tendenzen – der Aneignung neuer, europäischer Leitbilder und Werte sowie der Verharrung im spezifisch Eigenen – von der ästhetischen Ebene hin zur gesellschaftlich-politischen aufzuzeigen. Die Umbrüche im filmischen Bereich Die Opposition NEU-ALT, wobei dem Osten das Alte und dem Westen das Neue zugeschrieben wird, soll 4 Die wissenschftliche Literatur untersucht sowohl die negativen als auch die positiven stereotypen Vorstellungen vom Balkan beziehungsweise südosteuopäischen Raum. nicht suggerieren, dass die rumänische Kultur einer der beiden Kategorien zuzuordnen sei. Vielmehr pendelt sie zwischen diesen beiden Polen. Diese Spannung zwischen den alten und neuen Verhältnissen ruft einen Bereich der Hybridität und der Heterogenität hervor, welcher zur Prägung der rumänischen Kultur und Gesellschaft beiträgt. Wenn diese Eigenschaften, welche auf die Bruchlinie NEU-ALT zurückzuführen sind, in Bezug auf kulturelle bzw. ästhetisch-filmische Konstrukte betrachtet werden, so erschließen sich daraus zwei Hauptaspekte: einerseits das zeitgenössische, rumänische Filmwesen als Vermischung neuer und alter filmischer Strukturen und andererseits die filmische Darstellung gesellschaftlicher, religiöser, politischer, wirtschaftlicher Hybride, die sich zwischen der alten und der neuen Ordnung befinden. Die seit einigen Jahren äußerst lebendige und produktive rumänische Filmszene wird in letzter Zeit öfters als eine „Nouvelle Vague“, eine „Neue rumänische Welle“ bezeichnet. Diese Determinierung wird aber von den Repräsentanten dieser jungen Generation von Filmemachern abgelehnt, indem nicht auf eine gemeinsame Bewegung, sondern auf einzelne Anstrengungen oder Experimente hingewiesen wird. So Cristi Puiu: „There is no Nouvelle Vague, there are just a few desperate film directors.“ Das facettenreiche rumänische Filmschaffen von z.T. sehr jungen rumänischen Regisseuren wie Cristian Mungiu, Cătălin Mitulescu, Corneliu Porumboiu, Ruxandra Zenide oder Cristi Puiu kann nicht unter einer einheitlichen Stilrichtung zusammen5 Zit. nach: „Zeitgenössisches Kino aus Rumänien“. In: Arsenal. Freunde der deutschen Kinemathek e.V. Programmmheft. Dezember 2005. Online im Internet: http://www.fdk-berlin.de/fileadmin/user_upload/arsenal/pdfs/arsenalProgramm-12-05.pdf. [Stand: 09.01.2007]. 73 gefasst werden. Da diese Filmemacher neue filmische Werte vermitteln, werden sie von dem Filmkritiker Laurenţiu Brătan als eine „neue Generation“ bezeichnet, deren gemeinsames Merkmal der scharfe, sehr oft schonungslose, aber immer wieder komische Blick auf die rumänischen Zustände und auf die rumänische Gesellschaft ist (vgl. Brătan 2006). Außerdem ist auch der Gegensatz zu den Regisseuren aus der kommunistischen Zeit zu betonen. Letztere erhalten heute noch staatliche Gelder für historische Kostümfilme, während die junge Generation kaum unterstützt wird. Aus diesem Grund haben die jungen Filmregisseure eine Gegenposition entwickelt. Dabei ist im Filmwesen ein Umbruch beziehungsweise eine Vergangenheitsbewältigung festzustellen: auch wenn es sich nicht um eine einheitliche neue Welle handelt, so ist das neue filmische Schaffen im Kontrast zu den alten, kommunistischen Filmwerten zu betrachten (vgl. Sava 2004). Der gegenwärtige rumänische Kurzfilm: Zwischen Individualität und Kollektivität Die Spannung zwischen dem Neuen und dem Alten kommt in der Opposition Kollektivität und Individualität zum Ausdruck. Die rumänische Vorstellung über diese Kategorien und ihre Rolle für die Selbst- bzw. Weltdeutung haben, in meiner Auffassung, einen wesentlichen Beitrag zur Entwicklung eines postkommunistischen Rumänienbildes und einer rumänischen Identität beigetragen. In dieser Hinsicht deute ich die tradierten („alten“) kulturellen, religiösen und sozialen Formen 6 Dabei handelt es sich um die Entwicklung eines Eigenbildes, welches ich dann in seiner filmischen Darstellung untersuche. 74 von Kollektivität, und zwar die Verwandtschafts- und Klientelbeziehungen, die sozialen Gemeinschaftsverhältnisse sowie die Gemeinschaftsideale des orthodoxen Christentums als spezifisch „Eigenes“. Am entgegengesetzten Pol befindet sich der als neu aufgefasste Individualismus der westlichen Modernität, welcher kritisiert oder angestrebt wird. Dieser Gegensatz findet sich auch im Spannungsverhältnis von Ruralität und Urbanität wieder. Die oben erwähnten Merkmale der rumänischen Gesellschaft möchte ich in den Kurzfilmen Curcanii nu zboar (Das Mädchen und der Truthahn) von Cristian Mungiu und Un cartu ̧ de Kent ̧i un pachet de cafea (Eine Stange Kent und ein Päckchen Kaffee) von Cristi Puiu untersuchen, und dabei den Bruch zwischen Altem und Neuen darstellen, sowie die spannungsreiche Mehrfachzugehörigkeit zu verschiedenen kulturellen und sozialen „Rand“- bzw. „Zwischen“-bereichen aufzeigen. Der Kurzfilm Curcanii nu zboara (Das Mädchen und der Truthahn) von Cristian Mungiu ist ein Teil des Projektes Lost and Found, welches mehrere Filme südosteuropäischer Regisseure unter dem gemeinsamen Thema „Generation” verbindet. Mungius Film erzählt von einem Mädchen vom Lande (Tatiana, gespielt von Ana Ularu), das zum ersten Mal nach Bukarest kommt und somit erwachsen wird. Cristian Mungius „Generationsgeschichte“ des Erwachsenwerdens schildert den Übergang vom Dorf zur Stadt, von den Familienverhältnissen (als Kollektivität) zu den individuellen Strukturen und von den traditionellen zu den modernen Mustern. Dabei werden die Hindernisse dieser Transgression unterstrichen: die Verharrung in den alten Gesellschaftsformen wegen Unwissenheit (Tatianas Vater kennt die neue Weltordnung nicht und vermittelt seiner Tochter weiterhin das alte Modell), Trägheit (es ist einfacher nach alten Leitbildern zu leben) und Korruption (alles scheint nur durch Bestechung möglich zu sein). Auch Cristi Puiu setzt sich in seinem Kurzfilm Un cartu ̧ de Kent ̧i un pachet de cafea (Eine Stange Kent und ein Päckchen Kaffee) mit dem Thema „Generation“ auseinander, indem er ebenfalls die „kleine“ Korruption thematisiert. In einer radikal reduzierten Filmsprache wird ein Gespräch zwischen Vater (Victor Rebengiuc) und Sohn (Mimi Brănescu) über die verschiedenen Bestechungsmöglichkeiten und -verfahren inszeniert. Dadurch erscheint der Kurzfilm als „bemerkenswertes Statement einer Gesellschaft im tief greifenden Wandel“ (Internationale Kurzfilm-Jury 2004), wie ihn die Jury der Berlinale bezeichnet hat, wo er 2004 den „Goldenen Bären“ gewann. Verwandtschaftsbeziehungen und Familienstrukturen Während der Zeit des Sozialismus aber auch der postsozialistischen Transformation spielen Familien- und Verwandtschaftsbeziehungen eine zentrale Rolle bei der Bewältigung des Alltags (vgl. Konstantinov 2003). Geborgenheit, emotionale und sozio-ökonomische Unterstützung sind sowohl für Kinder als auch für Heranwachsende und Erwachsene von großer Bedeutung. Trotzdem kann man beobachten, dass die Familien nach der Wende von 1989 schwer wiegenden Veränderungen unterworfen wurden. Die familiären Strukturen beginnen nach der Wende ins Schwanken zu geraten, die junge Generation eignet sich westliche, individualistische Formen an, die familiären Bindungen lassen nach oder verschwinden sogar komplett. Diese Minderung des Stellenwertes der Familie ist ein typisches Merkmal urbaner Gesellschaften und wird in dem Kurzfilm Eine Stange Kent und ein Päckchen Kaffee von Cristi Puiu zum Ausdruck gebracht, indem sich die beiden Personen, die sich im Café unterhalten, erst am Ende des Kurzfilmes in ihrer Vater-SohnRolle erscheinen. Bis dahin scheinen sie zwei Fremde zu sein. Dieser Augenblick stellt einen Höhepunkt des Konfliktes zwischen den beiden dar; der Rentner nimmt die väterliche Rolle an und erbettelt mit dem Kosenamen „Komm schon, Vlăduţ“ eine geborgene, familiäre Nähe, die er nicht mehr wieder finden kann. Die Vater-Sohn-Beziehung in ihrer familiären Struktur existiert nicht mehr, sie ist nur noch ein klägliches Überbleibsel einer alten Zeit. Die Begegnung des Vaters und des Sohnes ist nicht eine übliche (die Beiden haben sich seit langer Zeit nicht mehr getroffen), sie findet in einem öffentlichen Lokal statt, wobei die Distanz zwischen ihnen durch das inszenierte minimalistische Theater-Dekor unterstrichen wird. Die starre Kameraperspektive, welche statisch auf ein einziges Dekor gerichtet ist, verstärkt den Eindruck einer Theaterszene, die sich im filmischen Bild abspielt, was wiederum auf die inszenierten Familienverhältnissen aufmerksam macht: es sind keine normalen Verhältnisse, sondern nur „gespielte“. Die beiden haben sich nur getroffen, damit der alte, arbeitslos gewordene Vater seinem Sohn, einem erfolgreichen Geschäftsmann, die „Bestechungsobjekte“ für die Besorgung einer neuen Arbeitsstelle gibt: eine Stange Kent und eine Packung Kaffee. Die Kommunikation zwischen ihnen ist bis hin zur Objektebene entleert. 75 Darüber hinaus wird der Gesellschaftswandel in dem Sinne thematisiert, dass die alten Formen durch neue ersetzt wurden. Durch einen verächtlichen Blick gibt der Sohn dem Vater zu verstehen, dass es heute andere Marken sind, mit denen man etwas erzielen könne. Durch diese Klarstellung wird der Bruch zwischen den beiden gesteigert: die gestörten Familienverhältnisse lassen sich aus der Spannung zwischen „Altem“ und „Neuem“ schlussfolgern. Im Gegensatz zu diesem urbanen Gesellschaftsbild sind auf dem Lande weiterhin die Familienstrukturen von großer Bedeutung, wobei sie den engen Familienkreis sogar überschreiten und auch die allgemeinen sozialen Beziehungen nach ihren Mustern prägen. In dem Kurzfilm Das Mädchen und der Truthahn von Cristian Mungiu kann man solche Familienstrukturen im Falle der Telefonistin bemerken. Im Gegensatz zu Cristi Puius Film ist hier eine andere Richtung von einer bestimmten Distanz zur unmittelbaren Nähe festzustellen: die Telefonistin mischt sich ins Gespräch ein, wirkt familiär, als würde sie entweder Mitglied der Familie sein oder aber auch an den Familienangelegenheiten teilnehmen. Es ist ein Muster der Gemeinschaft und Gemeinsamkeit, welches das rurale Leben kennzeichnet, dem das andere Modell der Individualität und des Allein-Seins gegenüber steht. Genau dazwischen wird das Mädchen Tatiana ge- 76 stellt: sie lebt im traditionellen Rumänien, auf dem Lande, aber sie muss, um ihre Familie zu retten (ihre eigene Mutter), ins Unbekannte, in die Großstadt fahren. Ihre Reise bedeutet eigentlich einen Bildungsweg, den sie machen muss, um erwachsen zu werden. Dabei muss sie mehrere Hindernisse überschreiten: den Lieblingstruthahn weggeben (Bestechungsobjekt, aber zum guten Zwecke „für die Mutter“), alleine in die Großstadt gehen, alle Stationen des rumänischen Gesundheitssystems (Pförtner, Krankenhilfe, Krankenschwester, Arzt) schrittweise durchqueren. Und dabei hat jede Überschreitung ihren eigenen Wert beziehungsweise ihren Preis, denn die Gesellschaft verharrt weiterhin in korrupten Verhältnissen. Diese Reise des Mädchens in die Stadt endet mit dem Erwachsenwerden von Tatiana, aber auch des Truthahns; am Ende des Kurzfilmes, als dem Mädchen klar wird, dass sie der Mutter nicht mehr helfen kann und dass sie ab jetzt alleine leben muss, erscheint der Truthahn wieder, der ebenfalls seinen eigenen Weg gegangen ist und jetzt nicht mehr ihre Hilfe braucht. Sie lässt ihn alleine und fordert von ihrem Freund dasselbe: „Lass’ ihn, jetzt ist er schon erwachsen geworden!“ Somit gewinnt das Erwachsenwerden eine andere Dimension: die Lösung aus den familiären Bindungen und die Entwicklung individueller Strukturen. Bilder der Ruralität und Urbanität Mit der fortschreitenden Urbanisierung wird auch der Gegensatz zwischen der Stadtkultur und dem Landleben in Rumänien immer größer. Die Unterschiede werden radikaler und es entwickelt sich eine Kluft zwischen Stadt und Land (vgl. Lienau 2001). Der technische, wirtschaftliche und kulturelle Fortschritt aus pulsierenden Städten wie Bukarest, Temeswar, Klausenburg oder Hermannstadt steht im Gegensatz zur dramatischen Armut und Rückständigkeit weiter Landstriche, die nach wie vor agrarisch geprägt sind. Dieses Problem wird in dem Kurzfilm Das Mädchen und der Truthahn aufgegriffen, indem eine Reise in die Stadt als ein Bildungsweg beschrieben wird. Durch eine sehr erzählerische, nuancierte Filmsprache mit überraschenden Perspektivwendungen zeigt Cristian Mungiu ein stark agrarisch und religiös geprägtes rumänisches Dorf, das in der Tradition verankert ist. Die Filmfiguren (Vater und Tochter) orientieren sich nach religiösen Werten und nach den Interessen und dem Wohlstand der Familie. Diese Leitbilder - Religion und Familie - werden durch eine kreisförmige Bewegung der Kamera (in Familienbildern und Ikonen) wahrgenommen, um ihren zentralen Charakter zu unterstreichen. Aber wirtschaftlich und technisch ist das Dorf unterentwickelt: Es ist zum Beispiel immer noch die alte, kommunistische Post (die Inschrift P.T.T.R. deutet darauf hin), welche dort noch mit derselben Apparatur funktioniert. Diese veraltete für eine zeitgenössische Kommunikationsgesellschaft erstaunliche Infrastruktur ist aber für rumänische Verhältnisse (nicht nur rurale) heutzutage immer noch üblich. Der besonders große Unterschied zwischen Land- und Stadtleben setzt Rumänien an die Schwelle zwischen den alten und den neuen Lebensformen. Das Land wird nicht nur durch einen einzigen Aspekt charakterisiert. Die beiden ausgewählten Kurzspielfilme fungieren als Gegenpole: der Kurzfilm Das Mädchen und der Truthahn stellt vorwiegend Agrarverhältnisse dar, während Cristi Puius Film Eine Stange Kent und ein Päckchen Kaffee urbane Verhältnisse zeigt. Die alte und die neue Korruption Die Korruption wird regelmäßig als zentrales Problem der postsozialistischen Transformation genannt (vgl. Sterbling 1997). Beide untersuchten Filme bearbeiten dieses Problem, indem sie die Korruption im Alltag der Rumänen situieren. Sie zeigen, dass die Korruption immer noch sehr stark ausgeprägt und in Form eines komplizierten Systems entwickelt ist. Ohne ihre Mechanismen und die unterschiedlichen Formen bis ins kleinste Details zu kennen, scheint es, dass die Protagonisten auch in der postkommunistischen Zeit keine Überlebenschance haben: die kranke Mutter könnte nicht operiert werden, wenn der ganze Bestechungsprozess nicht richtig ablaufen würde, während der Vater in Eine Stange Kent und ein Päckchen Kaffee keine neue Arbeitsstelle bekommt, wenn die Bestechung nicht mit den gegenwärtig passenden Wertobjekten erfolgt. Zumindest ist dieser Gedanke der „Bestechung“ und der „entsprechenden“ Beziehungen bei den Protagonisten verankert. Sowohl in dem einen als auch in dem anderen Film wird die hierarchische Entwicklung der Korruption unterstrichen: um das Erwünschte zu erzielen, muss man alle Stadien durchlaufen. Demzufolge haben auch die Bestechungsobjekte unterschiedliche Wer- 77 te, die dem jeweiligen Stadium beziehungsweise der jeweiligen Person und Funktion entsprechen müssen. Die Szene, in der der Freund aus der Großstadt dem Mädchen vom Lande erklärt, wie man in verschiedenen Fällen unbedingt verfahren muss, deutet auf ein kompliziertes System hin, welches erlernt werden muss. In einer folgenden Szene wird diesem sprachlich dargestellten Gesellschaftsbild ein Gegenbild (der gegenwärtigen Wirklichkeit) entgegengesetzt. Durch die Mischung der verschiedenen Kameraperspektiven werden alle Etappen und Formen der Bestechung, die das Mädchen einhalten sollte, zerstört. Das Zusammentreffen von Erwartung (das Mädchen Tatiana folgt allen erhaltenen Anweisungen) und Wirklichkeit (aber ihr Verhalten passt nicht mehr zur jeweiligen Situation) weist auf die hybriden, sich ständig wandelnden Gesellschaftsstrukturen hin. In dieser Szene scheitern alle erlernten Methoden, da sich alles jederzeit unerwartet ändern kann: Das Mädchen erhält einen Kittel ohne Taschen und so kann sie die Dollarscheine nicht mehr so vorbereiten, wie sie es gelernt hatte (der Fünfziger in die linke Tasche und der Hunderter in die rechte). Eine Tür öffnet sich plötzlich und der Truthahn - rumänisch bezeichnet „plocon“ (Bereicherung oder „Zuwendung“) - kippt auf den Boden. Dadurch kippt auch das dargestellte Rumänienbild, denn der Arzt hätte - scheinbar - gar nichts angenommen. Durch dieses Kippen der Perspektive zeigt der Film auch eine andere Seite der gegenwärtigen Verhältnisse, die in Opposition zu den alten stehen: der Arzt isst kein Fleisch mehr und er nimmt auch kein Geld an. Dies könnte als Zeichen einer Neuerung aufgefasst werden, wobei die Gesellschaft nicht unbedingt eine andere ist, aber nun nicht mehr nur traditionelle Wege (seien es hier die verdorbenen, korrupten) zu- 78 lässt, sondern auch Tendenzen zur Änderung beinhaltet. Gleichzeitig kommt aber eine Spur von ironischer Kritik an der heutigen Gesellschaft zum Ausdruck: Zum Zwecke der Modernisierung, der Aneignung von westlichen Mustern, lehnt man die alten „unzivilisierten“, östlichen Formen nur teilweise ab. Der Arzt nimmt den Korb voller Land-Produkte nicht an, da er Vegetarier ist (eine klare Form der „Verwestlichung“). Es gelingt ihm gar nicht „verdorben“ zu sein, da ein solcher (für einen Arzt) unangemessener - und daher - lächerlicher Bestechungsversuch misslingt. Mit „rumänischem Humor“ bewirkt diese Szene einen Gelächter auslösenden Zusammenprall. Eine Tür öffnet sich, das Mädchen stößt gegen diese Tür, die zwei Körbe (voller Bestechungsobjekte) fallen auf den Boden, die Milchflaschen zerbrechen und der geschlachtete Truthahn (das Lieblingstier des Mädchens, aber hier das Bestechungsobjekt) rollt in einem Close-up auf den Flur. Der andere Film zeigt die korrupten Verhältnisse aus einer tragisch-komischen Perspektive, da sich im Wesentlichen nichts geändert hat, sondern sich nur neue Formen und Arten beziehungsweise „Marken“ der Bestechung herausentwickelt haben. Durch das Gespräch werden die beiden Personen gegenübergestellt: Auf der einen Seite der arbeitslos gewordene Vater, der aus seiner Tasche die „Bestechungsobjekte“ (gewöhnlicher Instant-Kaffee, Zigaretten und ein billiges Massiergerät aus Holz) für einen neuen Job holt. Auf der anderen Seite der erfolgreiche Sohn der neuen Generation, der in Eile ist und der mit Marken7 Der Freund hatte sie gelehrt („Du gibst, was ihm zusteht“), dass man dem Arzt das Geld nur in einem Umschlag gibt, also, dass er eine besondere Rolle in der Gesellschaft hat und auch mit Bestechungsobjekten „bezahlt“ werden muss, die seiner Position entsprechen. bewusstsein darauf hinweist, dass heutzutage nur ein italienischer Espresso zur Vermittlung der Arbeitsstelle beitragen könnte. Die beiden Protagonisten werden durch dieses Gespräch über die Möglichkeiten und Verfahren, wie die Sachen in Rumänien auch in der Gegenwart „erledigt“ werden, zusätzlich auch als Repräsentanten zweier Generationen dargestellt. Es ist gerade diese „şpagă“, welche die beiden Gestalten beziehungsweise Generationen zusammenbringt, aber sie auch entgegensetzt und abgrenzt. Die neuen Bestechungsformen unterstreichen die Gegensätze zwischen den beiden Repräsentanten der „alten“ und der „neuen“ Strukturen und veranschaulichen filmisch eine gestörte, gescheiterte Beziehung und eine Kommunikationsbarriere, die nicht aufgelöst und überwunden werden kann. Generationswandel: die ältere versus die neuere Generation Die ausgewählten Kurzfilme erzählen an Hand von Generationenkonflikten über gebrochene Verhältnisse in der Gegenwart. Die Geschichten, welche auf diesem Kontrast der „neuen“ versus der „alten“ Generation konstruiert werden, beschreiben, teils mit märchenhaften (die typisch rumänische archaische Perspektive), teils mit theatralen Elementen den Verlust der alten Strukturen und eine Orientierung nach neuen Leitbildern. Mungius Film Das Mädchen und der Truthahn schildert Tatianas Bildungsweg als eine Entfaltung alltäglicher Momente des Absurden und Tragisch-Komischen. 8 Der umgangssprachliche Begriff „şpagă“ hat eine ähnliche Bedeutung wie Bakschisch (Schmiergeld). 9 Die Entwicklung des rumänischen Filmes geht vom Theater aus. Das Erwachsenwerden und die entwickelte Individualität stellen ein Zeichen der Entwicklung von Kollektivität zu Individualität dar, welche auch die rumänische postkommunistische Gesellschaft charakterisiert. Als Individuum befindet sich Tatiana am Ende des Bildungsweges in einer ambivalenten Situation: Sie kann entweder die kollektiven Symbole, die sie bis zu diesem Zeitpunkt bewahrt hat, verinnerlichen oder sie kann sich von ihnen distanzieren.10 Der Kurzfilm gibt aber keinen Hinweis darauf, welche der beiden Alternativen sie wählt, er betont nur die Tatsache, dass die Unterschiede der alten und der neuen Gesellschaftsstrukturen sogar von dem Truthahn erkannt werden. Tatiana hat ihm die Differenz zwischen Kreis und Quadrat beigebracht und er setzt das praktisch um, indem er kreis- und quadratförmige Straßenlöcher unterscheidet. Im übertragenen Sinne bedeutet die Unterscheidung zwischen einem Kreis und einem Quadrat eine Brücke überschreiten zu können, indem man sich von einer Generation und einer Etappe distanziert und in eine neue eintritt. Denn durch das Erkennen dieser Differenzen wird ein Zusammenhang zu der Vergangenheit hergestellt (die Zeit, als der Truthahn diese Unterschiede erlernt hat) und eine neue Perspektive eröffnet (das Erlernte wird angewendet). Dabei ist dieser ein Entwicklungsprozess vom Kindsein zum Erwachsenwerden. In dieser Entwicklungsstufe wird den beiden geometrischen Formen auch eine andere Bedeutung beigemessen. Die gegenwärtige (individualistische) Gesellschaft wird nicht durch Homogenität, sondern auch durch Heterogenität gekennzeichnet. Dabei wird die10 Diese sind die Alternativen, welche Kiossev (2004) in dem südosteuropä- ischen Raum erkennt. 79 ser Dualismus durch die ironische letzte Szene intensiviert: Der Freund aus Bukarest will dem Mädchen etwas „Schönes“ zeigen, was sich zunächst im Hintergrund als das jetzige Parlamentsgebäude (aber das frühere „Haus des Volkes”) erweist. Doch da taucht der Truthahn Năstase im Vordergrund auf. Er wurde nicht geschlachtet, wie es Tatiana erwartet hatte, sondern er ist weggeflogen und das, obwohl „Truthähne nicht fliegen können“, wie es Tatiana glaubte. In dieser letzten Szene blickt er auf das, was durch einen schnellen Kameraschwenk den gegenwärtigen rumänischen Straßen- und Gesellschaftszustand darstellt. Es sind zwei „heterogene“ Formen: das Quadrat ist ein Straßenloch und der Kreis ist ein Schachtdeckel aus Bukarest. Der Film von Cristi Puiu ist eine dreizehnminütige Paraphrase des Filmes Coffee and Cigarettes11 von Jim Jarmusch. Er behandelt die postkommunistische Zeit aus der Perspektive des Verhältnisses beziehungsweise der Kommunikation zwischen den Generationen. Eine starre Kamera konzentriert sich auf das Gespräch, welches in einem Café vor einer Glasfassade stattfindet, und zeigt, dass es hier nur eine karge Kommunikation gibt. Denn die neue „branded generation“, wie sie der Regisseur selbst bezeichnet, zu welcher der Sohn gehört, kommuniziert mit der alten, deren Repräsentant der Vater ist, wie durch eine Wand. Diese ähnelt der Glasoberfläche, die das Gespräch von der Straße trennt. Die einfache Perspektive der unbeweglichen Kamera, die das statische Verhältnis der beiden in einem Theaterdekor mit den dazugehörigen Vorhängen zeigt, gibt den Eindruck 11 Daher erklärt sich auch der englische Titel Cigarettes and coffee des rumä- nischen Kurzfilms. 80 eines degré zéro12. Man erlebt alles ganz nah vor den Augen – wie im Theater. Aber dank der Transparenz (der „Glaswand“) könnte die Grenze zwischen der Wirklichkeit und dem Fiktionalen und zwischen den beiden Generationen leicht überschritten werden. Die Szene bleibt aber statisch ohne jedwelchen Überwindungsversuch und nur mit der latenten Möglichkeit der Überbrückung. Die beiden werden nicht im Allgemeinen präsentiert, sondern in einem scheinbar intimen Familienkreis, der sich aber durch Zufall, Künstlichkeit und Distanz charakterisiert, so dass die Generationsproblematik nur in einem kontrastiven und ambivalenten Verhältnis der Nähe und Distanz, der Tradition und der Moderne, der Privatsphäre und der Öffentlichkeit dargestellt wird. Es ist gleichzeitig eine Differenz und eine Ambivalenz, welche die Verhältnisse an der Schwelle „zwischen“ den Gegenpolen walten lässt, um sie in dem Bereich des „Dazwischen“, was für die rumänische postsozialistische Gesellschaft kennzeichnend ist, darzustellen. In dem Café, das das einzige Filmdekor ist und das einen englischen Namen („Graceland“) als Sinnbild der Verwestlichung trägt, wird das Treffen beider Generationen und beider Familienmitglieder einer doppelten visuellen Wahrnehmung ausgesetzt. Dadurch ist auch das filmische Geschehen in einen „Zwischen“-bereich gestellt: Es sind einerseits die Zuschauer, die vor der Caféfassade vorbeilaufen und andererseits die Filmzuschauer, die das Private auf der „öffentlichen“ Film-Bühne erleben können. Somit wird das Kurzfilmdekor ein Schauplatz für die mehrfache Inszenierung dieser Kluft zwischen der al12 Ein solcher einfacher Stil erinnert an Barthes degré zéro, der „Nullpunkt der Literatur“ (Barthes 1982). ten und der neuen Generation einer gegenwärtigen Gesellschaft, welche, wie der Vater am Ende resigniert bemerkt: „Es hat sich nicht geändert“, sich in einem Transformationsprozess befindet. In dieser wandelnden Gesellschaft hat der Bruch zwischen Alt und Neu zu einem (aktuellen) Zwischenstadium geführt, wo „a bit of this and a bit of that is how nowness enters the world“ (Rushdie 1991: 394). Literatur: Antohi, Sorin (2002): Romania and the Balkans. From geocultural bovarism to ethnic ontology. In: Alexandru Zub/Adrian Cioflâncă (Hrsg.): Globalism şi dileme identitare. Perspective româneşti. Editura Universităţii Al. I. Cuza. S. 79-118. Barthes, Roland (1982): Am Nullpunkt der Literatur. Frankfurt am Main. Bhabha, Homi K. (1994): The location of culture. London. Bjelić, Dušan I./ Obrad Savić (2002): Balkan as Metaphor. Between Globalization and Fragmentation. Cambridge. Brătan, Laurenţiu (2006): Legături către un nou val. In: Revista 22. ANUL XV. Vol: 841. (21 April 2006 - 27 April 2006). S. 15. Cioroianu, Adrian (2002): The impossible escape: Romanians and the Balkans. In: Bjelić, Dušan I./Obrad Savić (Hrsg.): Balkan as Metaphor. Between Globalization and Fragmentation. 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Eine Didaktisierung zur Arbeit mit narrativen, lebensgeschichtlichen Interviews Valeska Bopp, Stephanie Krauch Einführung Dieser Beitrag berichtet über den Verlauf des zurückliegenden Workshops „Erlebte Geschichte und Erinnerungskultur“, an dem Studierende aus Deutschland, Rumänien, Mazedonien und Bulgarien teilnahmen. Ziel dieses Workshops waren vor allem zwei Aspekte: Die Beleuchtung der jüngsten Geschichte in den Ländern der TeilnehmerInnen aus der Perspektive derjenigen, die sie erlebt haben („erinnerte Geschichte“) sowie darüber hinaus die Vermittlung von Kenntnissen über die Herstellung und den Umgang mit qualitativen Daten, in diesem Zusammenhang mit lebensgeschichtlichen Interviews. Die Geschichte der Revolutionen von 1989 und deren recht unterschiedliche Rezeptionen sind gemeinsame Berührungspunkte aller TeilnehmerInnen. Während die bundesdeutsche Wende in zahlreichen Genres aufgearbeitet und unter verschiedensten Perspektiven beleuchtet wurde, befindet sich die Vergangenheitsbewältigung der Geschehnisse von 1989 ganz besonders in Bulgarien und Rumänien vermutlich erst in ihren Anfangsjahren. Auffallend ist, dass Studierende 1 Die Anzahl der Veröffentlichungen zur rumänischen Revolution nehmen ste- tig zu. Obgleich sich die Bevölkerung Rumäniens immer „die Wahrheit“ über die Revolution gewünscht hat, werden Kolloquien und Tagungen zur Wende vermehrt nur von Interessenvertretern besucht. Der Frage, welche Relevanz 82 aus MOE-Ländern sich relativ wenig mit den Geschehnissen von 1989 beschäftigen. Sie wissen nur wenig über die Wahrnehmung der Eltern und Großeltern der Revolutionsereignisse, noch frappierend weniger (dies lässt sich wohl auch über die Mehrheit der deutschen Bevölkerung sagen) wissen sie über die Ereignisse in den Nachbarländern. In diesem Workshop wurde der Fokus auf die subjektive Verarbeitung erlebter Geschichte gelegt. Den Hintergrund bildeten narrative, lebensgeschichtliche Interviews, welche die Teilnehmenden im Vorfeld mit Zeitzeugen zwischen 50 und 70 Jahren über deren Erinnerung an das Wendejahr 1989 geführt hatten. Ausgehend von Theorien und Erkenntnissen der jüngeren Gedächtnisforschung, welche sich mit der die Aufarbeitung der damaligen Ereignisse heute noch für die Bevölkerung Rumäniens hat und insbesondere für die jüngeren Generationen, wie auch die Studierenden, wurde bislang nur in Ansätzen nachgegangen. Als Ursache für diesen stockenden Prozess der Vergangenheitsbewältigung sieht der Politikwissenschaftler Cristian Preda vor allem die anhaltende Enttäuschung über die Nicht-Erfüllung der mit der Revolution verbundenen Hoffnungen (der Autor spricht von „Illusionen“) (Preda 2000). Dennoch ist gleichzeitig das Bedürfnis nach einer Auseinandersetzung mit den Geschehnissen und den Akteuren spürbar, die vielfältigen attributiven Beinamen der Revolution wie die ‚gestohlene’, die ‚unvollendete’, die ‚vorläufige’ (Cesereanu 2004) deuten darauf hin, dass die geschichtlichen Ereignisse als Bestandteil des kommunikativen Gedächtnisses der Bevölkerung noch andauernd umgeschrieben werden. permanenten Um-Schreibung von Geschichte im autobiografischen Gedächtnis beschäftigen, wurden Interviewsituation, Problematiken des Interviewens und der Vorgang des Sich-Erinnerns diskutiert. Die Workshopleiterinnen unterrichten beide deutsche Landeskunde (LK) und Geschichte an Universitäten in osteuropäischen Ländern (Rumänien und Russland). Ein wesentlicher Bestandteil des LK-Unterrichts ist die Vermittlung historischen Wissens, bei dem in „osteuropäischer Schultradition“ häufig der Erwerb von faktengeleitetem Wissen im Vordergrund steht. Entsprechend sind Studierende sehr gut im Auswendiglernen von Daten historischer Ereignisse. Wenig eingeübt ist jedoch das Formulieren von eigenständigen Fragen und Transferleistungen, um auch kontrastiv arbeiten zu können, vor allem wenn die Studierenden mit kommunikativen Methoden noch keine Lernerfahrungen gemacht haben. Die Arbeit mit qualitativen Interviews bietet so einen völlig neuen, bisher unbekannten Zugang zu geschichtlichen Ereignissen: Im Vordergrund stehen die persönliche Sichtweise und Erinnerung, die immer unmittelbar mit der eigenen Biographie verbunden sind. Damit wurden Subjektivität und Emotionalität beim Lernprozess eine besondere Stellung eingeräumt. Die TeilnehmerInnen bekamen bei der Arbeit mit den Interviews einen Einblick in qualitative Methoden der Datengewinnung und standen in ihrer Person durch das Interviewgespräch im Mittelpunkt: von ihren Fragen, von ihrem Interviewerverhalten hing größtenteils der Erfolg des Gespräches ab. Für die meisten der TeilnehmerInnen war dies eine völlig neue Lernerfahrung. Ebenso ungewohnt war auch die Fragestellung des Workshops. In den Gesprächen über das Revolutionsjahr 1989 stand nicht die Frage nach dem WAS (was ist wann passiert?) im Vordergrund, sondern die Frage, nach dem WIE (wie wird was erinnert?). Mit der Frage nach dem Erinnerten und dem, was uns heute noch wichtig ist, wurde unmittelbar der Brückenschlag zur Gegenwart und zur eigenen Lebensgeschichte vollzogen. Im Folgenden werden wir kurz auf die Begriffe Gedächtnis und Erinnerung und deren „Beziehung“ zur Geschichtsschreibung eingehen. Anschließend soll an der Darstellung der von uns verwendeten Methoden die Möglichkeit vorgestellt werden, im Unterricht mit qualitativen Interviews zu arbeiten. Zum Verhältnis von Erinnerung und Geschichte In seiner Theorie der Erinnerung bezeichnet Harald Welzer das „Sich-an-etwas erinnern“ als eine Grundbedingung für die eigene Identität (Welzer 2002: 94). An der Konstruktion unserer Identität, die aus permanenter Überarbeitung und Neukonstruktion, permanenter Neueinbettung des Vergangenen in Wissenshorizonte und Erlebnisse des Gegenwärtigen besteht, ist maßgeblich das Gedächtnis beteiligt. Unsere eigene Lebensgeschichte, somit unsere persönliche Vergangenheit, wird von uns immer wieder neu erfunden. Sie verändert sich im Nachhinein ständig. Mit ihr kann sich auch die Bewertung von historischen, sozialen und politischen Ereignissen ändern, die in unser Leben direkt eingegriffen haben. Diese Sichtweise stellt den Begriff des bloßen Faktums als Lerninhalt in Frage. Die modernen Kulturwissenschaften unterscheiden das kulturelle vom kommunikativen Gedächtnis: Nach Jan Assmann ist das kulturelle Gedächtnis der „jeder Gesellschaft und jeder Epoche eigentümliche Bestand an Wiedergebrauchs-Texten, -Bildern und -Riten […], in 83 deren ´Pflege´ sie ihr Selbstbild stabilisiert und vermittelt, ein kollektiv geteiltes Wissen vorzugsweise (aber nicht ausschließlich) über die Vergangenheit, auf das eine Gruppe ihr Bewusstsein von Einheit und Eigenart stützt“ (Assmann 1988: 15). Es handelt sich also um Traditionen, die weitervermittelt werden, historische Ereignisse, die in einen Kanon des notwendigen Wissens der jeweiligen Gemeinschaft gehören und sich konkret manifestieren (können) in Denkmälern, Festen mit dazugehörigen Riten und dergleichen. Dahingegen ist das kommunikative Gedächtnis „durch ein hohes Maß an Unspezialisiertheit, thematischer Unfestgelegtheit und Unorganisiertheit“ (Assmann 1988: 9) gekennzeichnet. Im Vergleich zum kulturellen Gedächtnis ist es so etwas wie ein Kurzzeitgedächtnis der Gesellschaft. Es lebt von der Auseinandersetzung von einzelnen Individuen und Gruppen mit dem Vergangenen und dessen Bezugnahme zum Gegenwärtigen. Somit ist es „an die Existenz der lebendigen Träger und Kommunikatoren von Erfahrung gebunden und umfasst etwa 80 Jahre, also drei bis vier Generationen“ (Welzer 2001: 11). Die Erinnerung an die Geschichte kann nie losgelöst sein von den Bedingungen des Hier und Jetzt. Die Gegenwart ist damit wesentlicher Referenzpunkt alles Erinnerten. Bei der Erinnerung an noch nicht allzu weit zurückliegende Geschehnisse fließen Erinnerung an Erinnerung, sowie Selbsterlebtes, Gesehenes und Miterlebtes ununterscheidbar zusammen. Markowitsch und Welzer haben an zahlreichen Beispielen von persönlichen Erinnerungen von Zeitzeugen aus der Kriegszeit belegt, dass Erinnertes zum Teil ganz anders aussieht, als es die historischen Faktebelegen. Eine mögliche Erklärung für die Entstehung falscher Erinnerungen ist, dass nachträgliche Informationen aus anderen Quellen wie z.B. Filmen oder Erzählungen Eingang in die eigenen Erinnerungen finden. Im Nachhinein werden solche Mischformen aus selbst erlebten und durch nachträgliche Informationen angereicherten Gedächtnisinhalten als selbst erlebte lebensgeschichtliche Ereignisse erinnert. Je mehr die erinnerten Ereignisse über hohe emotionale Bedeutsamkeit verfügen, desto schwieriger wird es, Gedächtnisinhalte durch später hinzugelernte Fakten zu revidieren oder zu verändern. So hat der Schriftsteller Martin Walser 1988 in einem Vortrag betont, er habe das Gefühl, er könne mit seinen Erinnerungen nicht nach Belieben umgehen: „Es ist mir , zum Beispiel, nicht möglich, meine Erinnerungen mit Hilfe eines von mir inzwischen erworbenen Wissen zu belehren.“ (Walser zit. in Welzer 2001: 116) Diese Aussage macht deutlich, dass Geschichtsschreibung, die sich mit ausgefeilter Quelleninterpretation das Ziel setzt, die „Wahrheit“ möglichst objektiv zu beschreiben, und Erinnerung sich grundlegend voneinander unterscheiden. Im Workshop steht die Qualität der Erinnerung, das heißt die Art und Weise der Erinnerung an das Jahr 1989, im Zentrum des Interesses. Wir haben eine Dreiteilung zur gesamten Thematik vorgenommen: 1. Zusammentragen von erinnertem Wissen über die Revolutionen von 1989 in Form einer Zeitleiste 2. Arbeit mit den Interviews, Vergleich der Interviews, Übungen zum Interviewführen 3. Beschäftigung mit dem Begriff der Erinnerungskultur, Klärung von zentralen Begriffen (wie „Kulturelles Gedächtnis“, „Kommunikatives Gedächtnis“ u.a.) Bekannt ist das Phänomen der so genannten falschen Erinnerung, dazu Tiefflieger, die beim Angriff auf die Stadt am 13. und 14. Februar 1945 gezielt 2 gehören zum Beispiel die von zahlreichen Dresdnern erinnerten britischen 84 Jagd auf Flüchtlinge gemacht hätten (vgl. Welzer 2005). 4. Die Übungen des Workshops 1. Arbeit mit Zeitleisten zu den Revolutionen 1989 In einer ersten Workshop-Einheit rekonstruierten die TeilnehmerInnen in Gruppenarbeit die historischen Hintergründe der Wenden in ihren Heimatländern. Es bietet sich dabei die Arbeit in kleineren Gruppen (zu zwei oder drei Personen) an. Die Teilnehmer sollten genügend Zeit bekommen, um miteinander ins Gespräch zu kommen. Benötigte Arbeitszeit: 1- 1,5 Stunden Material: große Papierbahnen, dicke Stifte, Marker, Bilder, Fotos, Klebeband Aufgabenstellung: Fertigen Sie eine Chronologie der „wichtigsten“ Ereignisse der Revolution Ihres Landes an! Variante: Während auf dem linken Teil der Zeitleiste die Ereignisse des kollektiven Gedächtnisses festgehalten werden, sollen auf dem rechten Teil Ereignisse aus der persönlichen Biographie zusammengetragen werden. In der anschließenden Reflexion können Zusammenhänge thematisiert werden. Hinweis für TeilnehmerInnen: Sich erinnern fällt leichter, wenn persönlich Bezug genommen werden kann und Verknüpfungen herstellbar sind. Ablauf: Jede Gruppe erhält Arbeitsmaterial. Im Gespräch und bei der Erarbeitung der Zeitleisten beginnt ein erster Erinnerungsprozess, bei dem sich bereits Erinnerungen aus verschiedenen Quellen mischen werden. Es werden vermutlich Ereignisse, die in den Interviews besprochen wurden, erwähnt, ebenso wie Gewusstes und Gelerntes aus Büchern und dem Geschichtsunterricht. Falls die TeilnehmerInnen in Büchern nachschlagen möchten, um ihre Zeitleiste durch weitere Informationen zu ergänzen, könnte man darauf hinweisen, zuerst zu versuchen ohne das Material zu arbeiten und sich auf die eigene Erinnerung zu verlassen. Nach der Gruppenarbeit werden die Plakate zur Ansicht aufgehängt und vorgestellt. Ergebnis: Das zum Schlagwort gewordene Jahr 1989 hat sehr verschiedene Ausprägungen in den jeweiligen Ländern. Im Falle Jugoslawiens stellt es gar keinen augenfälligen Bruch dar, auch in Bulgarien gleicht die so genannte „Palastrevolution“ eher einer unspektakulären „Revolution“, wenn sich der Begriff überhaupt rechtfertigen lässt. Die rumänische Revolution hingegen war bedingt durch die damalige Medienpräsenz allen TeilnehmerInnen als Wellen brechendes Ereignis in Erinnerung. Hier fiel auch der von Anneli Ute Gabanyi geprägte Ausdruck „Telerevolution“ (Gabanyi 1998). Genauso stellte auch der Mauerfall in Berlin ein gemeinsames Erinnerungsmoment aller SeminarteilnehmerInnen dar. Mit weiteren Informationen zum „Davor“ und „Danach“ konnten sich die Studierenden gegenseitig weit darüber hinaus Details und Stichworte vermitteln und anhand derer zum Teil bis zum Beginn der kommunistischen Zeit zurückgehenden Zeitleisten waren auch längere Entwicklungsstränge abzulesen. Darunter auch Ähnlichkeiten wie die Einführung von kollektivierter Landwirtschaft und die extreme Unterdrückung der geistigen Elite wie auch die finanziellen Krisen gegen Ende der Systeme. Den Revolutionen gingen jeweils verschiedene, die Instabilität der Länder anzeigende Ereignisse voraus, die zum Teil die Art der Implosion der Systeme und Entwicklungen bis heute mitbegründen können: Die Rumänen thematisierten die scheinbare Allgegenwart der Securitate – in diesem Kontext fiel das Stichwort „Land der Flüsterer“. Außerdem wurde der extreme 85 Spar- und Isolationskurs des Diktators genannt, der seinen Teil dazu beitrug, dass die Revolution spät und abrupt erfolgte, während in Bulgarien die türkische Minderheit wegen Unterdrückungspolitik schon im Laufe des Jahres 1989 demonstrierte und in großer Zahl auswanderte, so wie die DDR-Bürger schon im Sommer des Jahres zu Hunderttausenden über die Botschaften in Prag und Budapest flohen. Bei den erstellten Zeitleisten fiel uns auf, dass Datensicherheit tatsächlich nur bedingt vorhanden ist. Die Studierenden konnten sich bestenfalls an Monate, weniger an den genauen Monatstag eines Ereignisses erinnern. Ausgenommen waren die Daten so genannter brisanter Ereignisse, wie der 9. November 1989 in Berlin oder der 21. Dezember in Bukarest. Unser persönliches Gedächtnis braucht weniger die genauen Daten für die Erinnerungsarbeit, sondern verlässt sich vielmehr auf Bilder, die sich (auch durch mediale Wiederholung u. ä.) schließlich im kollektiven Gedächtnis „einbrennen“. Vordergründiges Ziel sollte es sein, vom Interviewpartner nicht in erster Linie reine Fakten zu erfahren, sondern vor allem seine Wahrnehmung, Gedanken und Gefühle im Interview zu dokumentieren. Das Vorformulieren von Leitfragen, die möglichst in Form von offenen Fragen gestellt werden, verschafft dem Interviewpartner genügend Freiraum für seine ganz individuelle Sichtweise, ohne dass er oder sie sich von vorneherein eingeengt fühlt. Möglicherweise können im Anschluss noch Detaillierungsfragen gestellt werden, um Unklarheiten zu beseitigen. Die Einstiegsund Leitfragen sollten vorher aufgeschrieben werden. Diese könnten sein: welche Erinnerungen erweckt bei Ihnen das Jahr 1989? Wie haben Sie damals gelebt, wie haben Sie die Geschehnisse erlebt? 2. Arbeit mit narrativen Interviews Bei einem narrativen Interview handelt es sich um eine Erzählung aus dem Stehgreif (Spontanerzählung) über Ereignisse, die im eigenen Leben brisant waren. Dabei hat die Interviewperson das monologische Rederecht, die Interviewenden halten sich zurück, beschränken sich auf das Initiieren des Gespräches und auf einige wenige Fragestellungen. Ihre eigentliche Haupttätikeit besteht im Zuhören. • 3 Wir beziehen uns auf die klassische Herangehensweise in Biographiefor- schung und Oral History. Da wir Harald Welzer viel zitieren, möchten wir darauf hinweisen, dass er sich mit seinen Mitarbeitern für die von ihnen entwickelte „Hermeneutische Dialoganalyse“ ausspricht, wo der Interviewer als 86 Direkt nach dem Interview machten die Studierenden sich Notizen zum Ablauf des Interviews in Form einer Reflexion. Hier sollte folgenden Fragen nachgegangen werden: • • • Worüber hat die Person besonders viel, gerne und lebendig erzählt? Wo gab es Pausen? Bei welchen Themen? Wie war die Atmosphäre insgesamt? Wie habe ich mich als Interviewer gefühlt? Die Interviewenden werden mit einer hohen und kaum erfüllbaren Erwartungshaltung konfrontiert. Sie müssen zwischen „Offenheit und strukturierenden Vorgaben, zwischen Vertrautheit und Fremdheit vermitteln“ (Helfferich 2005:9) und sich damit gleichzeitig offen und naiv aber auch reflexiv und kundig dem Erzähl- aktiver Mitproduzent des Materials betrachtet wird und durchaus aufgefordert Interview auch stärker in seiner Dialogform ausgewertet, als dies bei den an- ist, sich „natürlich“ und spontan zu verhalten. In der Auswertung wird das deren Herangehensweisen der Fall ist. partner zuwenden. Diese Grundprinzipien der Interviewführung, das Aufrechterhalten der Kommunikation, der Umgang mit Vertrautheit und Fremdheit, die Offenheit und Reflexivität, verlangen vom Interviewpartner Kompetenzen, die in der kurzen Workshopzeit natürlich nicht vermittelt, aber doch angesprochen und trainiert werden können. Um die Grundprinzipien der Interviewführung und sich daraus abzuleitende Kompetenzen im Workshop zu besprechen, haben wir eine Reihe von Übungen aus dem Lehrmaterial von Helfferich (ebd.) ausgewählt, die auch hier vorgestellt werden sollen. 2.1 Warming up: Aufgabe: Austausch in Kleingruppen über Interviewinhalte (Aspekte: „Revolution“, „Vorher-Nachher“, wie wurde erzählt?), anschließend Plenum: Gemeinsamkeiten und Unterschiede sammeln und visualisieren. Ergebnisse: An das Jahr 1989 wurde sich insbesondere in der DDR und in Rumänien mit viel Spannung, Unsicherheit, Angst aber auch Begeisterung erinnert. Die Interviewpartner aus Bulgarien konzentrierten sich im Gespräch mehr auf das Leben jetzt im Vergleich zu „früher“, der erzwungene Rücktritt Todor Zhivkovs nimmt als Ereignis keinen gesonderten Raum in den Erinnerungen ein. In allen Interviews fand sich eine gewisse dialektische Spannung: Während die Wende generell als wichtig, nötig und positiv bewertet wurde, werden immer auch Dinge erwähnt, die früher besser gewesen seien. Dazu gehören mehr Sicherheit, Planbarkeit, feste Kindergartenplätze. Es stehen sich das Wissen, dass früher Vieles schlechter war bzw. gegenwärtig Vieles prinzipiell besser ist, und die Erfahrung 4 von neuen Unsicherheiten, die bestimmte Aspekte der Vergangenheit in positiverem Licht erscheinen lassen, gegenüber. 2.2 Die Kunst des Fragens Nach dem ersten Austausch über den Verlauf der Interviews sollte der besonderen Asymmetrie zwischen Interviewer und Interviewtem im Workshop Aufmerksamkeit geschenkt werden. Der Interviewte weiß mehr als der Interviewer, er entscheidet, was er von seinem Wissen preisgibt. Der Interviewer hingegen kennt allein die Fragen, die er stellen wird, im Voraus. Dadurch hat er die Möglichkeit seinen Gesprächspartner zum Erzählen zu motivieren und so die Kommunikation aufrecht zu erhalten. Der Interviewverlauf kann also durch die Kunst des Fragens bestimmt werden. In den folgenden Übungen geht es darum, Frageformen zu differenzieren und sich ihrer Wirkung auf den Interviewten und seine Eignung für das narrative Interview bewusst zu werden. Übung 1: Diskussionen von Frageformen und ihren kommunikativen Wirkungen Material: Blatt zu Übungstypen Zeit: 30 Min Ablauf: Eine Reihe vorformulierter Fragen (dies können auch Fragen aus den Interviews der Teilnehmer sein) werden einzeln durchgegangen und der Fragetypus bestimmt. Handelt es sich um eine Erzählaufforderung, eine Einstellungsfrage, eine Suggestivfrage etc.? Staatspräsident des sozialistischen Bulgariens von 1954 bis 1989. Am 10. November 1989 wurde er zum Rücktritt gezwungen. 87 Unser Aufgabenbogen: • • • • • • Denken Sie viel an Ceauşescu? Wenn Sie an Ceauşescu denken, was empfinden Sie dabei? Empfinden Sie Scham, wenn Sie heute an Ceauşescu denken? Heute schämen Sie sich wahrscheinlich, wenn Sie an Ceauşescu denken? Können Sie genauer beschreiben, was Sie empfinden, wenn Sie an Ceauşescu denken? Erzählen Sie doch mal, wie haben Sie Ceauşescu zum ersten Mal auf der politischen Bühne wahrgenommen? Ordnen Sie den Fragen die Fragetypen zu: Erzählgenerierende Fragen Erzählen Sie doch mal, wie war das damals, als Sie,… ? Aufrechterhaltungsfragen Wie war das für Sie? Können Sie das noch mal ausführlicher beschreiben? Erzählen Sie doch noch ein bisschen mehr darüber! Wie ging das dann weiter? Und dann? Steuerungsfragen Können Sie ein Beispiel dafür nennen? Einführung neuer Themen: Spielt auch … eine Rolle? Kommentierende Fragen/Deutungsangebote: Ich kann mir nicht vorstellen, dass… Vielleicht spielte auch… eine Rolle? Aufklärung bei Widersprüchen, Selbstdarstellungen hinterfragen Suggestivfragen Vorhin haben Sie gesagt, jetzt klingt es eher, als ob … - ? Glauben Sie etwa wirklich, dass…? Sicherlich denken auch Sie bei dem Thema an… ? Q: Cornelia Helfferich: Die Qualität qualitativer Daten. Manual für die Durchführung qualitativer Interviews. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften 2004, Kap. 3.5. 88 Wenn Sie an Ce ausescu denken, was empfinden Sie dabei? - Eine Antwort aus einem Interview mit einer Rumänin: Ich habe ein Gefühl von Revolte, dass wir ihn so viele Jahre nur Dummheiten haben machen lassen (lacht)… Und jetzt habe ich sogar ein Gefühl von (zögert) ich weiß nicht, von … Mitleid, dass er erschossen wurde, dass sie beide so erschossen wurden, aber auch von Ratlosigkeit. Ich weiß nicht, was ich glauben soll, ob es eine Lösung gewesen wäre, sie am Leben zu lassen. Vielleicht hätte man ihn nicht in diesem Moment erschießen sollen, vielleicht wäre es nötig gewesen… ich weiß nicht. Aber das sind wahrscheinlich viel zu subtile Dinge und ich kann mir jetzt keine Meinung erlauben, ich weiß nicht. Mir tut es leid, dass sie ihn an Weihnachten erschossen haben, das schon, denn ich glaube man hätte auch noch etwas warten können, wenn schon,… Es tut mir leid, dass es so kam, es hat sich alles mehr als ein Zirkus erwiesen, diese ganz Geschichte, ein dummes Spektakel, und es war nicht sehr, … sehr gefühlvoll oder wirklich ernsthaft, andere Einflüsse haben eine Rolle gespielt, ich weiß nicht, vielleicht bin ich jetzt nicht in der Lage die richtigen Worte zu finden, um das, was ich denke, zu konkretisieren, aber im Allgemeinen... tut es mir leid, dass es so viele Menschenleben in jenem Moment gekostet hat. Ich bin überzeugt, dass die ganze Wende viel, viel einfacher hätte sein können ohne dass so viele Menschen sterben mussten, darunter sehr viele junge Menschen und sehr viele, die geglaubt haben an einen Wandel und .. das ist, das ist nach meiner Meinung schlecht an diesem Moment. Aurela P., Reisebüro-Inhaberin aus Bukarest, 51 Jahre alt 5 Aus einem Interview geführt von Valeska Bopp für ihr Dissertationsprojekt „Erinnerung und Identität in der rumänischen Transformationsgesellschaft“ an der Universität Leipzig, zum Zeitpunkt der Drucklegung dieses Buches noch nicht abgeschlossen. Der Name der Befragten wurde geändert. (Übersetzung aus dem Rumänischen ebenfalls V.B.) 89 Übung 2: Formulieren von Nachfragen Zeit: 20 Min Material: Tonbandgerät oder Text als Vorlesetext, Schreibmaterial Arbeitsaufgabe: Sie hören eine Gesprächspassage. Formulieren Sie im Anschluss eine Nachfrage. Schreiben Sie dabei spontan auf, was Ihnen einfällt. Denken Sie nicht lange nach! Es geht hier nicht um richtig oder falsch. Ablauf: Der Interviewanfang einer Lebensgeschichte wird verteilt. Alternativ kann eine Interviewsequenz auch auf dem Tonband vorgespielt werden. Die Gruppe wird in Kleingruppen eingeteilt, jede erhält Zettel und Stifte. Reflexionsphase: Die Zettel werden eingesammelt und zur Ansicht präsentiert, z.B. durch sichtbares Ankleben auf der Tafel. Es wird verglichen, auf welche Aspekte des Textes reagiert wurde. Anmerkung: Ziel der Übung ist das Einüben der Mechanismen des Fremdverstehens. Fragen, die sich dem Hörer spontan stellen, helfen beim Verstehensprozess. Diese Übung eignet sich auch für den Unterricht, in dem viel zu oft Fragen vorgegeben werden, anstatt die Lernenden Fragen entwickeln zu lassen. Übung 3: Vertiefung der Fragetechniken Zeit: 40 – 60 Min. Material: Ausgangstext, Papier, Stifte Ablauf: Die TeilnehmerInnen erhalten dieselbe Textpassage wie in Übung 2 auf einem Zettel und werden in drei Gruppen geteilt. Ihre Aufgabe ist es, diese Zeilen als Ausgangspunkt zu nehmen und darauf aufbauend eine fiktive Biographie zu entwickeln. Reihum werden diese erdachten Unser Beispieltext zu Übung 2+3 „Das heißt, wann wurde ich geboren: Am 15. Juni 1955 in Bukarest. Mein Vater 1917, am 2. November. Er lebt nicht mehr, leider, er ist vor drei Jahren gestorben und meine Mutter ist 1921 geboren, am 12. September. Mein Vater hatte mehrere Berufe (lacht kurz): Erst war er Polizeikommissar, in den 1930er Jahren, dann hat er sich an der Medizinfakultät eingeschrieben, und im dritten Studienjahr hat der Krieg angefangen und er ist in den Krieg gezogen, und als er schon zurückkam (holt Luft), konnte er nicht mehr weitermachen wegen (seufzt), wegen des Regimewechsels. Der Regimewechsel brachte auch diese Geschichte mit meinem Onkel mit sich und die Folgen und - (bricht ab). Meine Mutter hat das Lyzeum abgeschlossen und nach dem Krieg, ebenso, nachdem sie das Lyzeum angefangen hat, ist der Krieg ausgebrochen und sie hat nicht mehr weitergemacht nach dem Krieg.“ Aurela P., Bukarest, Inhaberin eines Reisebüros, 51 Jahre alt Lebensgeschichten von einer anderen Gruppe erfragt, während es der jeweils dritten Gruppe zufällt, die Interviewer zu beobachten und ihre Fragetechniken und deren Wirkungen auf den Interviewverlauf zu analysieren. Deutlich werden soll vor allem, wie sehr das Frageverhalten den Erzählgestus, die Bereitschaft sich zu Erinnern, beeinflussen, lenken und steuern kann. Beobachtung: Dank den zu Beginn erarbeiteten Zeitleisten, auf Grundlage der Informationen aus 6 90 Ebd. den eigenen im Vorfeld geführten Interviews und entsprechendem Hintergrundwissen waren die Lebensgeschichten erstaunlich realitätsnah und beinhalteten bestimmte für die Zeit spezifische Momente (hier von intellektuell-bürgerlichen Familien), wie Enteignungen in der Frühphase des Kommunismus, die Unfreiheiten in der Berufswahl, die Auswirkungen von belastenden Securitate/StasiAkten für alle Familienmitglieder. 2.3 Die Kunst des Schweigens In jedem Interview gibt es nicht nur Redeteile, sondern auch Momente, in denen der Interviewpartner schweigt. Die Funktion dieser Pausen ist hier Thema. Es bestehen folgende Möglichkeiten: Der Befragte kann einen Themenabschluss mit Schweigen markieren, er kann nachdenken (wollen) oder aber er fühlt sich unwohl. Übung 4: Umgang mit Pausen Ziel: Lernen, sich in der Person des Interviewenden zurückzunehmen, den Erzählraum des anderen nicht vorschnell mit Interventionen aufzufüllen, asymmetrische Rollenverteilung stützen (Interviewter soll möglichst alleine sprechen) Zeit: Arbeit in Zweiergruppen, jede Gruppe erhält zwei mal fünf Minuten. Anschließend Austausch in der Gruppe. Zeit insgesamt: 20 Min. Aufgabenstellung: Eine Person bekommt die Aufgabe, zu einem freien Thema zu erzählen (Thema kann z.B. die Erfahrung mit dem gemachten Interview sein oder die Zufriedenheit mit dem Workshop). Ablauf: Die erste Person fängt an zu erzählen, der/ die Partner/in erhält die Aufgabe zuzuhören. Immer wenn die Erzählperson in ihrer Erzählung eine Pause macht, soll der Interviewer eine Zeit von 10 Sekunden verstreichen lassen, bevor er eingreift. Entweder hat die Erzählperson schon vor Ablauf der 10 SekundenSpanne wieder eingesetzt, oder der Interviewer kann jetzt eine Nachfrage stellen. Anschließend werden die Rollen getauscht. Es erfolgt in der Großgruppe eine Reflexionsgespräch, wie die beiden Rollen erlebt wurden. Beobachtung: Die Übung hat in unserem Workshop gezeigt, dass Nachfragen meist nicht zustande kamen, da der Erzählprozess von selbst wieder einsetzt, so lange beim Gegenüber nonverbal signalisiertes Interesse besteht. Die Übung eignet sich auch, um Zuhörkompetenz im Unterricht zu trainieren. (Auch gerade für Lehrende: Sie sind meist nicht an Pausen gewöhnt bzw. empfinden sie als unangenehme und unproduktive Stille. Selbst bei notwenigen Pausen nach einer Frage können wir oft nicht lange warten und nehmen zu schnell Umformulierungen der Frage vor oder beantworten die Frage vorschnell selbst, um die Stille zu umschiffen.) Sozialpsychologie und Gedächtnisforschung Um zurück zu den Themenkomplexen Erinnerung und Fakten, Erinnerung und Geschichte zu kommen, arbeiteten wir anschließend in Gruppen zu den folgenden Themen: Erinnerung und Wahrheit, Erinnerung und Alter, Erinnerung und Generation (aus einem Aufsatz von Harald Welzer (Welzer 2005). Am Beispiel von Zeitzeugenerinnerungen an die nationalsozialistische Vergangenheit in Deutschland wurde herausgearbeitet, dass Erinnerungen nicht immer wahr sind, sondern sich oft erst später formen, wir eigene Erfahrungen vermischen können mit Er- 91 fahrungen anderer, die Ähnliches erlebten (aber nicht dasselbe) oder Filmsequenzen, in denen Ähnliches passiert oder bei uns dieselben Gefühle hervorruft, so dass wir fremde Sequenzen in unsere Erinnerungen unwissentlich einbauen. Des Weiteren identifizierten wir altersspezifische Erinnerungsfähigkeiten, z.B. behaupten wir oft Erinnerungen an unser frühkindliches Leben zu haben, die wir aber rein biologisch noch nicht haben können, die uns aber durch wiederholte Erzählungen unserer Eltern wie eigene Erinnerungen vorkommen. Zum Aspekt Erinnerung und Generation wurde herausgearbeitetet, dass sich letztlich jede Generation an das erinnert, was für ihre eigene Identität besonders wichtig ist. Während Großeltern möglicherweise recht offen – hier das Beispiel Nationalsozialismus – antisemitische Haltungen preisgeben, beschönigen die Enkel später diese Aspekte, oft nicht einmal bewusst. Die historisch erlebte Zeit ist damit keineswegs deckungsgleich mit der zurückerinnerten Zeit, die im Nachhinein ausgeschmückt und weitergeschrieben wurde, im Rückblick neu sortiert und aus der Gegenwart heraus bewertet und ins rechte Licht gerückt wird. Dass die damalige sozialistisch bestimmte Lebenswelt heute als einfacher beschrieben wird, erscheint dann als plausibel, wenn man bedenkt, dass den Menschen unter Umständen die jetzigen Lebensverhältnisse noch nicht so vertraut sind. Ein besonderes Phänomen beim Erinnern sind die von Gedächtnisforschern so genannten FMs, Flashbulb Memories, Erinnerungen, die sehr detailliert und lebendig hervorsprudeln, und auch nach langer Zeit noch so wiedergegeben werden können, als hätte die sich erinnernde Person das Ereignis erst am vorangegangenen Tag erlebt. Diese Erinnerungen werden 92 so genau eingespeichert, weil sich persönliche Umstände mit einem historischen Ereignis kreuzen. Wir erinnern uns an die genaue Situation, in der wir von Prinzessin Dianas Tod erfahren haben, vom Fall der Berliner Mauer oder was wir gemacht haben, als wir vom Zusammensturz der Twin Towers in New York am 11. September 2001 gehört haben. Gedächtnisforscher gehen aber davon aus, dass sich diese Erinnerungen nicht in diesen ersten Sekunden und Minuten so genau einprägen, sondern erst in dem Moment, in dem sich das Ereignis wirklich als relevant für die Gesellschaft abzeichnet. Auch kann man von der Lebendigkeit der Erinnerung nicht automatisch auf die Richtigkeit aller Details schließen, da über ein einschneidendes Ereignis in der direkten Folge so viel gesprochen und berichtet wird, dass sich sehr früh „Fehler“ einschleichen können. Nichtsdestotrotz zeigt uns die Art dieser Erinnerung, dass wir es mit einem besonders bedeutsamen Ereignis zu tun haben. Für die Sensibilisierung für dieses Phänomen haben wir im Workshop nach der Erinnerung der TeilnehmerInnen an den „11. September“ gefragt und ihre Ausführungen anschließend erörtert. Im Kontext unserer Interviews ließ sich diese Art des Erinnerns mit dem Fall der Berliner Mauer und der rumänischen Revolution in Verbindung bringen (s. im Anschluss abgedrucktes Interview, das zwei Teilnehmerinnen führten). Fazit: Was bringt die Arbeit mit narrativen Interviews im Unterricht? Lebensgeschichtliche Interviews als Bestandteil des landeskundlichen Geschichtsunterrichts sind eine lohnenswerte Herangehensweise an geschichtliche Inhalte, denn sie zeigen deutlich, wie sehr sich historische Fakten und Erinnerungen voneinander unterscheiden können, wie sehr Geschichtsschreibungen und erlebte Geschichte auseinander klaffen können. Doch gleichzeitig kann der Geschichtsunterricht in Osteuropa, der Kenntnisse oft immer noch sehr traditionell im Sinne von faktengeleiteten und datenbasiertem Wissen vermittelt, über die Beschäftigung mit der Oral History in seinen starren Methoden aufgebrochen werden. Studierende können so einen persönlichen Bezug zum Thema finden, gleichzeitig wird der Unterricht kommunikativer. Der Workshop sollte den TeilnehmerInnen zeigen, wie viel man aus Interviews lernen und erfahren kann und in welchem Spannungsverhältnis sie zur „Wahrheit“ (den „Fakten“) stehen (können). Die Relevanz der Aussagen liegt demnach weniger in der Datengenauigkeit als vielmehr in der persönlichen oder gesellschaftlichen emotionalen Bedeutsamkeit bestimmter Ereignisse. Der subjektive Zugang zur Geschichte ermöglicht uns zu erfahren, was die fortlaufende Konstruktion der Identität bedeutet – eine permanent andauernde Umschreibung der Geschichte. Letztendlich wird sich (positiv wie negativ) besonders an das erinnert, was für die jeweilige Generation zur Konstruktion ihrer Identität wichtig ist. Helfferich, Cornelia (2005): Die Qualität qualitativer Daten. Manual für die Durchführung qualitativer Interviews. 2. Aufl. Wiesbaden. Pennebaker, James W., Becky L. Banasik (Hrsg.) (1997): On the Creation and Maintenance of Collective Memories: History as Social Psychology. Mahwah, New Jersey. Preda, Cristian (2000): Zehn Illusionen – zehn Jahre danach. In: Anghelescu, Mircea und Larisa Schippel (Hrsg.): Im Dialog: rumänische Kultur und Literatur. Leipzig, S. 15-21. Welzer, Harald (2005): Kriege der Erinnerung. In: Gehirn und Geist (Magazin für Psychologie und Hirnforschung) Nr. 5. S. 40-46. Welzer, Harald (2002): Das kommunikative Gedächtnis. Eine Theorie der Erinnerung. München. Welzer, Harald (Hrsg.) (2001): Das soziale Gedächtnis. Geschichte, Erinnerung, Tradierung. Hamburg. Literatur: Assmann, Jan (1988): Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität. In: Ders. und Tonio Hölscher (Hrsg.): Kultur und Gedächtnis. Frankfurt am Main. Cesereanu, Ruxandra (2004): Deconstrucţia unei revoluţii [Dekonstruktion einer Revolution]. Iaşi: Polirom. Gabanyi, Anneli Ute (1998): Systemwechsel in Rumänien. Von der Revolution zur Transformation. München. 93 Die Revolutionsereignisse in Bukarest 1989 in der Erinnerung Zeitzeugeninterview Interviewpartner: Radu Surdulescu 68 Jahre alt, Englischprofessor an der Universität Bukarest Herkunftsort: Drobeta Turnu-Severin, Rumänien Dauer des Interviews: ca. eine Stunde Ort: Haus des Interviewten Atmosphäre: Am Anfang ein bisschen angespannt, alle waren aufgeregt, aber mit der Zeit ist es immer lockerer geworden. Wir haben nur wenige Leitfragen gestellt, und dann erzählte er ausführlich über seine Erinnerungen. Interviewer: Ana-Raluca Ilie und Miruna Raceala-Motoc, 3. Studienjahr Politehnica Bukarest, deutschsprachiger Studiengang für Wirtschaftsingenieurwesen Übersetzung ins Deutsche: Ana-Raluca Ilie 94 Was bedeutet das Jahr 1989 für dich? Natürlich bedeutet das Jahr 1989 und insbesondere der Monat Dezember die Revolution, die mein ganzes Leben, das Leben meiner Familie und der rumänischen Gesellschaft radikal verändert hat. Und vielleicht ist sie eines der bedeutendsten Ereignisse unseres Lebens. Was für Gefühle erweckt dieses Jahr in dir? Was habe ich gefühlt? Sehr gemischte Gefühle, aber im Allgemeinen das Empfinden, das man vor einem lebensändernden Ereignis hat; dieses Ereignis hat das Leben aller Menschen getroffen: verbessert oder verschlechtert. Wie hast du vorher gelebt? Zum einen war die Bevölkerung seit November 1989 in einem sehr starken Wartezustand. Das gilt wohl für alle Menschen, wie auch für mich persönlich und meine Familie. In allen Ländern um uns fielen alle kommunistischen Regime um. Eins nach dem anderen wie Kegel. Wie in einem Dominospiel. Bulgarien und Deutschland waren extrem wichtig – am wichtigsten war Deutschland. Aber wir erfuhren all das nicht aus unseren TV-Sendungen oder Radiosendungen, sondern vom Radio Europa Liberă (Freies Europa), das jeder hörte. Wir hatten mit Transistoren oder mit Strom versorgte Radiogeräte für Kurzwellen. Heutzutage hört man fast überhaupt nicht mehr mit Kurzwellen. Damals hörte jeder fast jede Nacht Radio Europa Liberă. Wie ich sagte, es war ein außerordentlicher Wartezustand: Neugier für einige Menschen, Ungeduld für andere, dass vielleicht auch bei uns etwas geschehen würde. Aber nichts geschah, das Land war komplett eingefroren. Ich ging zur Arbeit. Wir durften mit niemandem über irgend etwas sprechen. Aber wir flüsterten. Man sagte, Rumänien sei das Land der Flüsterer. So sagte man damals. Am Montag, am 18. Dezember, als ich vom Gymnasium, wo ich unterrichtete, wegging – damals war ich Gymnasiallehrer – erfuhr ich von einem Kollegen, dass es in Timişoara eine große Demonstration gab und starken Aufruhr. Menschen wurden von den Polizisten getötet. Am 17. Dezember dauerten die Radiosendungen nur ein paar Stunden. Aber ab Montag den 18. wurden sie Tag und Nacht ausgestrahlt. Wir hörten von den Ereignissen des vorigen Tags in Timişoara, von der Manifestation gegen Ceauşescu und dass man aus mehreren Richtungen auf Leute geschossen hat. Also direkt mit Kriegskugeln und -munition. Es gab Tote: Tote auf den Straßen, Tote im Krankenhaus und so weiter. Am Mittwoch kam meine Cousine Dorina zu uns und 1 Radio Free Europe: sendete von München in jeweiliger Landessprache in die osteuropäischen Länder mit dem Ziel, Informationen aus westlicher Perspektive zugänglich zu machen. erzählte, dass Verwandte aus Timişoara angerufen und ihr sagt hatten: „Wir sind eine freie Stadt!“ Es war sehr schwierig, mit Timişoara zu telefonieren. Man konnte kaum die Verbindung aufrecht halten. Das Telefonat wurde unterbrochen. Genau nach dem Stichwort „Wir sind eine freie Stadt“ wurde die Verbindung unterbrochen. Erst später haben wir erfahren, was sie uns sagen wollte: Die Armee war jetzt auf der Seite des Volkes. Offizielle Personen waren auf die Balkone des Opernhauses getreten. Aber zu jener Zeit habe ich noch nichts verstanden. Am Mittwoch sollte es im Fernsehen eine wichtige Bekanntmachung geben Bei uns war gerade eine andere Cousine zu Besuch. Am Abend habe ich sie zum Nordbahnhof begleitet. Weil diese wichtige Bekanntmachung von Ceauşescu und dem Generalsekretär erfolgte, habe ich ein Radiogerät mit Transistoren mitgenommen. Es war ein „Mamaia“, wenn ihr euch erinnert. Es waren solide Geräte mit Transistoren oder Akkus, mit denen man auch in der Stadt Radio hören konnte. Ich habe sie zum Bahnhof begleitet und dort war ein Haufen Menschen, die nach Bukarest kamen oder abreisten. Es war kurz vor den Weihnachtsfeiertagen. Und alle hatten Taschen und Tüten voll Essen. Damals konnte man nichts in den Läden finden, nur über Bekannte. Alle Menschen schauten nur auf den Boden. Nichts geschah in diesem Land. Aber zugleich wusste ich, dass Timişoara auf eine gewisse Weise unabhängig von Bukarest war. Und ich erinnere mich: Ich habe das „Mamaia“ Gerät eingeschaltet, als ich noch am Nordbahnhof war. Ich habe es in einer Tüte versteckt und ich hörte sehr leise zu, damit man nicht auf mich aufmerksam wurde. Ich hörte Ceauşescus Stimme. Ich hörte, dass er einen Notstand erklärte, dass Banditen 95 in Timişoara zugange waren und es dort Irredentisten gab, das bedeutete Ungarn, die das Land ruinieren wollten. Sehr verwirrt bin ich nach Hause gegangen. Alle Menschen schauten nur nach unten und nichts geschah. Auch am Mittwochabend nichts. Aber es war nicht mehr lange bis zur Versammlung vom 21. Dezember. Am Donnerstagmorgen, den 21. Dezember, war ich äußerst angespannt. Der Rest des Landes bewegte sich nicht. Timişoara war der einzige Ort im Land, wo sich etwas bewegte. Ich hatte begonnen zu arbeiten. Damals hatte ich einen Vertrag bei einem Verlag. Bis Mittags hatte ich kein Radiogerät eingeschaltet. Als ich später auf die Straße ging, habe ich unten den Verwalter des Blockes getroffen. Er war Kommunist und in diesen Tagen war er sehr nervös. „Herr Surdulescu, haben Sie gehört, was los ist?“ „Ich habe nichts gehört. Was ist geschehen?“ „Man schießt am 23. August.“ „Was bedeutet man schießt? Wer?“ „Die Polizei! Wissen Sie nichts davon? Im Zentrum gibt es große Unruhen. Es ist Revolution!“ Ich war wie erstarrt. Die ganze Zeit hatte ich nur übersetzt. Und ich hatte nichts von all dem mitbekommen. All das musste ich von einer fremden Person erfahren, meinem Nachbarn. Wie verrückt bin ich in die U-Bahn eingestiegen und ins Zentrum gefahren. Ich ging gewöhnlich sehr oft ins Zentrum. Aber diesmal bekam ich einen echten Schock. Der Boulevard Magheru war nicht mehr zu erkennen. Der ganze Boulevard war ein 2 96 Ein Platz in Bukarest. Kriegsfeld. Militär, Panzer, Menschen, aber weder Autos noch Busse wie sonst. Nur Menschen in Panik, die auf dem Gehsteig schlichen in die eine oder die andere Richtung. Ich ging zu Fuß zum Hotel Intercontinental und habe dort die erste große Menschenmenge gesehen. Alle redeten von Jugendlichen, die getötet worden waren. Wie das geschah, das habe ich nicht verstanden. Niemand sprach mit niemandem. Man sprach höchstens mit einem Freund, wenn man sicher war allein zu sein. Man sprach nie mit Unbekannten. Es war Freitag, der 22. Dezember, der Revolutionstag. Was habe ich an diesem Tag gemacht? Ich habe die ganze Nacht Radio gehört, das uns permanent berichtete, was geschah. Vor dem Hotel Intercontinental befanden sich noch ausländische Korrespondenten, die dort filmten. Und alle Leute brannten vor Neugier. Und alle schauten TV in diesen Momenten, aber von unserer Seite wurde nichts ausgestrahlt: es gab dasselbe zweistündige Programm mit Ceauşescu und seinen Parteisitzungen, als ob nichts geschehen wäre. Und er hatte doch gesagt, es komme zum Notzustand wegen der Ereignisse in Timişoara. Alle hatten die ganze Nacht mit Radio Europa Liberă verbracht. Nach dem Notstand gab es nichts mehr auf der Straße außer der Armee. Was konnte man in dieser Situation noch tun? Aber dann kam meine Cousine Doina, die zwei Blöcke entfernt wohnt und sagte: „Schaut auf die Straße!“ Der ganze Boulevard Mihai Bravu war voll. Ich hatte eine Einkaufstasche mitgenommen. Es war eine solide Einkaufstasche, nicht wie diese aus Plastik von heute. Wie naiv von mir! Denn ich dachte, falls ich verhaftet werde, sage ich, ich bin nur zum Markt gegangen. Es war die schlechteste Tasche, die ich im Haus hatte. Natürlich war das total naiv. Aber als ich auf die Straße ging, war alles voller Menschen. Ich bin mit dieser großen Menge Menschen, die immer weiter wuchs, zusammengegangen. Ich erinnere mich, dass in den Blöcken Menschen waren, die uns winkten oder Taschentücher hochhielten, um den Menschen Mut zu machen. Wir riefen: „Kommt mit! Bleibt nicht dort! Bleibt nicht auf den Balkons!“ Die Leute riefen: „Kindermörder“. Man sagte, in Timişoara wurden vor allem junge Leute ermordet. Auch hier war die Mehrheit der Menschen jung. Man sah keine Alten. Man rief „Nieder mit dem Schuhmacher! Nieder mit der Analphabetin!“ Wir sind ins Zentrum durchgekommen und ich habe die ersten Losungen gesehen, die mit Farbe geschrieben waren. Ich fand das merkwürdig und habe mich dumm gefragt: Wie sind die wohl an die Farbe gekommen? Denn bei uns konnte man überhaupt keine Farbe finden. Man bekam das nicht in den Läden, man musste das von der Fabrik besorgen. Wir sind noch ein Paar Schritte in die Richtung Oneşti Straße gegangen und zum Zentralen Komitee gekommen. Ihr wisst, da ist jetzt der Revolutionsplatz. Und wir sahen dort schon junge Leute an den Fenstern. Nach zwei oder drei Minuten war ich mitten auf dem Platz, da habe ich einen Hubschrauber gesehen, der vom Gebäude des zentralen Komitees gerade abflog. Ich wusste nicht, wer drin war und was geschah. Aber wir begannen zu vermuten, dass es sich um Ceauşescu und seine Leute handelte. Es gab noch zwei Hubschrauber dort und einen Lastkraftwagen mit Fernsehlautsprecher mitten auf dem Platz. Ich sah, wie die Menschen das Gebäude des zentralen Komitees gestürmt haben. Ich war nah genug, aber ich bin nicht reingegangen. Es gab zu viele Menschen. Ihr könnt euch das nicht vorstellen: ein Ozean von Leuten, alle Straßen waren so voll, man wurde fast erdrückt. Viele junge Menschen warfen Gemälde, Bücher, Stühle, alles, was man sich nur vorstellen kann aus den Fenstern. Und sie sind auf die Balkone gegangen und schwenkten die Fahnen. Die rumänische Flagge mit dem Loch in der Mitte, die berühmte Revolutionsflagge. 97 Menschenrechte in Rumänien – Sind die Voraussetzungen für einen Beitritt zur EU gegeben? Tobias Schulmann Einleitung Die Kooperation zwischen der Europäischen Union und den post-kommunistischen Staaten Mittel- und Osteuropas kann heute auf eine relativ lange und weitgehend erfolgreiche Tradition zurückblicken. Viele dieser Staaten sind bereits in die Europäische Union (EU) integriert oder eng mit ihr assoziiert. Im kommenden Jahr sollen zwei weitere Staaten, namentlich Rumänien und Bulgarien, der Union beitreten. Die Notwendigkeit der Integration der Länder Mittelund Osteuropas wurde bereits im Jahre 1963 von Robert Schuman mit äußerster Klarheit festgehalten: „Nous devons faire l’Europe non seulement dans l’intérêt des peuples libres, mais aussi pour pouvoir y recueillir les peuples de l’Est qui, délivrés des sujétions qu’elles ont subies jusqu’à présent, nous demanderaient leur adhésion et notre appui moral.“ 1 vgl. beispielsweise Fejérdy (2005: 8). Deutsche Übersetzung: „Wir müssen Europa nicht nur im Interesse der freien Völker aufbauen, sondern wir müssen auch imstande sein, die Völker des Ostens willkommen zu heißen, wenn sie uns eines Tages um Aufnahme bitten werden.“ 98 Auch wenn Bulgarien und Rumänien seit dem Fall des Eisernen Vorhangs und dem Untergang des Kommunismus beachtliche Fortschritte in Richtung Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und einer freien Marktwirtschaft gemacht haben, stehen nicht nur Politiker, sondern auch verschiedene Nichtregierungsorganisationen dem Beitritt der Länder zur Europäischen Union mit großer Skepsis gegenüber. Einwände gegen einen möglichen Beitritt auf Grundlage von makroökonomischen Analysen sollen an dieser Stelle gar nicht weiter untersucht werden – Inhalt dieses Beitrags soll es sein, den vielfach kritisierten Menschenrechtsschutz in diesen Ländern am Beispiel Rumäniens genauer zu beleuchten. Aufgrund des begrenzten Umfangs des Aufsatzes kann im Folgenden nicht auf die historische Entwicklung von Menschenrechten in Rumänien und der EU eingegangen werden. Vielmehr möchte ich direkt mit der Untersuchung der heutigen Situation zuerst in der EU, dann in Rumänien, beginnen. Vor einer Analyse der Fragestellung ist es zunächst notwendig, eine umfassende Definition des Menschenrechtsbegriffs anzuführen, welche der Untersu- chung zugrunde gelegt wird. „M. sind die angeborenen unveräußerlichen Rechte eines jeden Menschen, die die moralische und rechtliche Basis der Menschheit bilden. Sie sind vor- und überstaatlich, d.h. höher gestellt als die Rechte des Staates. Sie können daher auch nicht von diesem verliehen, sondern nur als solche anerkannt werden. Zu den M. gehören: 1) die sog. liberalen Verteidigungsrechte [...]; 2) die sog. demokratischen und sozialen Rechte [...].“ (Klein/Schubert 2005: 195). Da Menschenrechte demnach höher gestellt sind als einzelstaatliches Recht, sind ihr Schutz und ihre Anerkennung von besonderer Bedeutung. Welcher Stellenwert auf der politischen Agenda dem Schutz der Menschenrechte heute zugemessen wird, soll auf den nächsten Seiten analysiert werden. Menschenrechte in der EU Vor allem dem Europarat gebührt Anerkennung für den stetigen Ausbau des Menschenrechtsschutzes in Europa seit 1950. Der Begriff des Menschenrechts rückt allerdings auch in der EU selbst immer stärker in den Mittelpunkt, können doch Länder ohne ausreichenden Schutz der Menschenrechte formell nicht in die Union aufgenommen werden. Ich möchte daher die Bedeutung, die dem Menschenrechtsschutz in der EU zukommt, hier näher analysieren und auch der Frage auf den Grund gehen, ob die Achtung der Menschenrechte wirklich ein Aufnahmekriterium für die EU ist, oder ob dieses Argument nur vorgeschoben wird. Menschrechte in den Verträgen Die heutige Rechtsgrundlage der Europäischen Union stellt der Vertrag von Nizza dar, welcher im Jahre 2002 beim Europäischen Rat in Nizza unterzeichnet wurde und im Jahre 2003 in Kraft trat. In ihm enthalten sind verschiedene Änderungen der vorangegangenen Verträge. Dadurch wurden von den Mitgliedsländern folgende Ziele verfolgt: • • • den „Prozess der europäischen Integration auf eine neue Stufe zu heben“ (Läufer 2004: 24), „die Stärkung und Konvergenz ihrer Volkswirtschaften herbeizuführen“ (Läufer 2004: 25) sowie (unter anderem) die „Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten und der Rechtsstaatlichkeit“ (Läufer 2004: 24) zu einem zentralen Prinzip zu machen. An dieser Stelle endet der Bezug zu Menschenrechten allerdings schon fast, findet sich doch lediglich eine weitere wörtliche Nennung im Bereich der wirtschaftlichen, finanziellen und technischen Zusammenarbeit mit Drittländern (Europäische Gemeinschaften 2001: 20). Der Menschenrechtsschutz scheint also mehr außenpolitischer als innenpolitischer Natur zu sein. Die Europäische Union kann seit dem Vertrag von Nizza auf eine rasante Entwicklung zurückblicken: So sind im Jahre 2004 zehn europäische Länder ein Teil der Union geworden, zwei weitere sollen 2007 folgen. Dadurch bedingt scheint eine Reform der bestehenden Verträge unausweichlich, will die EU auch in Zukunft nicht an Handlungsfähigkeit und politischer Glaubwürdigkeit verlieren. Zu diesem Zweck wurde der Versuch gestartet eine eigene Verfassung für die Union zu gestalten, welche den Erfolg der Integration auch in den nächsten Jahren sicherstellen soll. Obwohl die Ratifizierung des Vertragswerkes in eini- 99 gen Mitgliedsstaaten scheiterte, stellt sich durch seine bloße Existenz die Frage, inwiefern EU-weiter Menschenrechtsschutz in dem Entwurf eine Rolle spielt. Als erstes Vertragswerk der Europäischen Union beinhaltet der Verfassungsentwurf eine ganze Reihe von Referenzen zur Achtung der Menschenrechte. So definiert der Vertrag: „Die Werte, auf die sich die Union gründet, sind die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte; diese Werte sind allen Mitgliedsstaaten in einer Gesellschaft gemein [...].“ (Läufer 2006: 34) Mit der Verfassung tritt die Europäische Union zudem der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten bei und erkennt diese Rechte als allgemeine Grundsätze des Unionsrechts an. Daneben bleibt die Förderung des Menschenrechtsschutzes auch im Verfassungsentwurf erklärtes außenpolitisches Ziel der Union und erstmalig wird auch die Charta der Grundrechte der Union, welche am 07. Dezember 2000 in Nizza proklamiert wurde, Teil des expliziten Primärrechts der EU (vgl. Europäische Gemeinschaften 2004). Primärrechtlich betrachtet scheint den Menschenrechten (deren Entwicklung erst durch ausreichenden Grundrechtsschutz sichergestellt werden kann) (vgl. Balibar 2005) mit dem Verfassungsentwurf eine weitaus größere Bedeutung zugemessen zu werden, als dies noch heute der Fall ist. Es muss allerdings beachtet werden, dass der Verfassungsentwurf eben nicht ratifiziert wurde und somit momentan nicht mehr als eine Willensbekundung darstellt. 100 Menschenrechtsverletzungen in der EU Der Menschenrechtsschutz genießt in der EU, wie sie heute besteht, primärrechtlich betrachtet nicht den Stellenwert, der ihm durch den Verfassungsentwurf zukommen würde oder den er in den Verfassungen vieler Mitgliedsstaaten der Union findet. Dies mag zwar vielfach mit der Auffassung kollidieren, dass der Schutz von Menschenrechten ein zentrales Prinzip der Europäischen Union ist – bei näherer Betrachtung erscheint diese Auffassung allerdings vielmehr als Resultat der Bedeutung des Menschenrechtsschutzes in den einzelnen Mitgliedsstaaten der EU und nicht aus unionsweit geltendem Recht abgeleitet zu sein. Um dies zu zeigen, sollen hier die Berichte von zwei international agierenden Menschenrechtsorganisationen – amnesty international (ai) und Human Rights Watch (HRW) – in Bezug auf Menschenrechtsverletzungen innerhalb der Union selbst untersucht werden. Selbst im Jahre 2006 füllten Berichte über Menschenrechtsverletzungen in der EU gleich jeweils mehrere Seiten in den Veröffentlichungen beider Organisationen. Hierbei sollen nicht nur Verstöße der Union als Ganzes in Betracht gezogen werden, sondern auch die Vielzahl von Menschenrechtsverletzungen einzelner Mitgliedsstaaten. So eröffnete HRW ihren Bericht zu Menschenrechtsverletzungen der EU wie folgt: „In matters such as migration and asylum, and counterterrorism, common E.U. approaches [...] continue to reflect a tendency to circumvent international human rights obligations.“ (Human Rights Watch 2006b: 352) Auch ai kommt zu einer ähnlich negativen Bewertung der Menschenrechtssituation in der Europäischen Union und kritisiert das Scheitern der Referenden zur Annahme des Verfassungsentwurfs: „[...] the EU continued to have a minimalist concept of its domestic human rights role. Adoption of the EU’s constitutional treaty, incorporating its Charter of Fundamental Rights, stalled after rejection by voters in two member states.“ (amnesty international 2006) Um der Frage nachzugehen, wie Menschenrechtsverstöße in der Europäischen Union konkret aussehen, sollen an dieser Stelle exemplarisch einige durch Menschenrechtsorganisationen identifizierte Problemfelder skizziert werden. Dabei rücken hauptsächlich Maßnahmen, die unter das (anscheinend beliebig auslegbare) Stichwort der Terrorismusbekämpfung fallen, immer stärker in den Vordergrund. Auch wenn sich Kritik besonders gegen einzelstaatliche Bestimmungen richtet (als Beispiel sei hier auf neue Gesetze in England oder Italien verwiesen), so wäre nach Meinung der Menschenrechtsorganisationen die vermutete Verwicklung der EU in menschrechtswidrige Internierungspraktiken der USA durchaus als schwerwiegende Verletzung der Menschenrechte anzusehen, sollte sich dieser Verdacht bewahrheiten. Nichtsdestotrotz halten sich Berichte über konkrete Verstöße gegen international akzeptierte Menschenrechte durch die Europäische Union selbst in Grenzen. Im Dezember 2005 veröffentlichte amnesty international einen Bericht zu widerrechtlichen Abschiebepraktiken in Bezug auf illegale Einwanderer. Kritisiert wird, dass die EU „ihren Verpflichtungen [...] verfolgten Menschen Aufnahme und Schutz zu gewähren“ (Allenberg 2005) nicht nachkommt. Vielmehr favorisiert die Union laut ai eine Abschottung gegenüber der Einwanderung durch Rücknahmeabkommen mit Ländern wie Marokko, Libyen oder Algerien – Länder aus denen nahezu täglich neue Menschenrechtsverletzungen bekannt werden. 2 Aktuelle Informationen bspw. unter http://hrw.org/countries.html Auffällig ist, dass sowohl HRW als auch ai einen großen Teil ihrer Berichterstattung über die EU auf außenpolitische Themen beschränken – so beispielsweise die Behandlung von Drittstaaten in denen Verletzungen der Menschenrechte bekannt sind. Dies wirft die Frage nach der Notwendigkeit einer innenpolitischen Ausrichtung der Menschrechtspolitik der EU auf. Verstöße gegen das Menschenrecht beispielsweise durch neue Gesetze in England oder Italien stellen gegebenenfalls Fälle für einzelstaatliche Gerichte oder die Europäische Kommission für Menschenrechte, bzw. den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte dar, müssen aber nicht eigens auf Unionsebene untersucht werden. Solche Kritik erscheint erst dann gerechtfertigt, wenn konkrete Menschenrechtsbestimmung Teil des EU-Rechts werden (wie im Verfassungsentwurf vorgesehen) oder wenn die Union aktiv durch ihren Besitzstand Menschenrechtsverletzungen erlauben würde. Menschenrechtsschutz als Beitrittsbedingung Um Mitglied der Union zu werden, müssen Beitrittsländer die in Artikel 6 Absatz 1 des Vertrags über die Europäische Union (EUV) festgelegten Grundsätze „der Freiheit, der Demokratie, der Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten sowie der Rechtsstaatlichkeit“ (Läufer 2004: 27) achten und die so genannten Kopenhagener Kriterien erfüllen, welche unter anderem in politischer Hinsicht die Achtung der Menschenrechte und den Schutz von Minderheiten beinhalten. Angewendet auf den konkreten Fall der Erweiterung der EU im Jahre 2004 um zehn Staaten Mittel- und Osteuropas, scheint dieser Grundsatz an Glaubwürdigkeit zu verlieren. Zu diesem Thema veröffentlichte ai im Mai 2004 einen Report, der die Menschenrechts- 101 lage in den Beitrittsländern durchaus kritisch betrachtete: „Für die neuen Mitgliedsstaaten war der Schutz fundamentaler Rechte ein entscheidender Aspekt des Beitrittsprozesses, während dessen genau geprüft wurde, ob und wie weit ihre Rechtssysteme und deren praktische Anwendung mit den EU-Normen übereinstimmten. Auf dem Papier gilt dies nun als erfüllt, aber ganz offensichtlich gibt es immer noch erhebliche Probleme in weiten Bereichen der Justizverwaltung und die Diskriminierung von Minderheiten, insbesondere der Roma, bleibt eine schmerzliche Realität.“ (Oosting 2004) Neben den bestehenden Problemen, bzw. „Defiziten“, drängt sich der Grundsatz der Union „alle Mitgliedsstaaten sind gleich“ in den Vordergrund. Demnach ist die Überprüfung der Achtung der Menschenrechte mit dem Beitritt zur EU abgeschlossen – nachfolgende Berichte der Kommission existieren nicht. Für sich genommen ist ein Widerspruch erkennbar – fordert die EU die Achtung der Menschenrechte bei Aufnahme, so wird dies nach einem Beitritt zur EU nicht weiter kontrolliert, bzw. beachtet. Menschenrechtsorganisationen berichten noch heute über Verstöße gegen Menschenrecht in fast allen Mitgliedsstaaten der EU. Die bereits angesprochene Frage, ob eine solche Kontrolle auf Unionsebene überhaupt notwendig ist, ist wahrscheinlich nur nach intensiver Auseinandersetzung mit dem Selbstverständnis der Europäischen Union zu beantworten, bzw. mit der Beantwortung der Frage nach der Bedeutung des Europarats. Im Kontext dieser Arbeit scheint deshalb die Frage, ob sich die EU bei einem nicht oder nur unzureichend gegebenen internen Menschenrechtsschutz, die Achtung der Menschenrechte als Aufnahmekriterium überhaupt 3 102 Informationen bspw. unter http://www.hrw.org/doc/?t=europe erlauben kann, viel interessanter. Diese Frage soll im abschließenden Fazit näher betrachtet werden. Menschenrechte in Rumänien Nach der Analyse des Stellenwerts des Menschenrechtsschutzes in der Europäischen Union soll die aktuelle Lage in Rumänien portraitiert werden. Mit dem Ende des Kommunismus in Rumänien, bzw. mit der Aussicht auf einen EU-Beitritt sollten starke Fortschritte in Rumäniens Menschenrechtspolitik zu erwarten sein. Ob und inwiefern der heutige Menschenrechtsschutz in Rumänien mit den Anforderungen der EU vereinbar ist, soll abschließend beantwortet werden. Menschenrechtsschutz in Rumänien Die Verfassung Rumäniens wurde im Jahre 1991 verabschiedet und in 2003 durch das „Legea de revizuire a Constiţuiei României“, also das Gesetz zur Revision der Verfassung vervollständigt (vgl. Camera Deputăţilor 2006). Sie stellt in Artikel 20 Absatz 2 internationale Menschenrechtsverträge höher als rumänisches Recht und garantiert deren Einhaltung: „Where any inconsistencies exist between the covenants and treaties on fundamental human rights Romania is a party to, and internal laws, the international regulations shall take precedence.“ (Camera Deputăţilor 1991: 190). Auffällig ist allerdings, dass durch die Verfassungsänderung in 2003 der Zusatz „unless the Constitution or national laws comprise more favourable positions“ (Camera Deputăţilor 2003: 2) hinzugefügt wurde. Wie auch immer diese „günstigeren“ Bedingungen aussehen, bleibt nicht definiert – es kann also durchaus von einer Aufweichung des Stellenwerts des Menschenrechtsschutzes in Rumänien gesprochen wer- den. Rumänien hat am 20. Juni 1994 die Europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten ratifiziert (vgl. European Court of Human Rights 2006a), achtet die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen, hat das Statut des internationalen Strafgerichtshofs sowie die UN-Frauenrechtskonvention und das Zusatzprotokoll ratifiziert (vgl. amnesty international Deutschland 2006; Office of the UNHCHR 2006). Sieht man also von der Verfassungsänderung 2003 ab, die selbst heftiger Kritik ausgesetzt werden kann, so scheint die Achtung von Menschenrechten in Rumänien an internationale Verträge gebunden zu sein und somit ein ausreichendes Niveau erreicht zu haben, sofern ein „ausreichendes Niveau“ überhaupt existiert. Es ist allerdings anzumerken, dass noch im Jahre 2005 knapp 4000 Menschenrechtsbeschwerden gegen Rumänien bei der Europäischen Kommission für Menschenrechte eingegangen sind – in 33 gesprochenen Urteilen wurden 21 Brüche des Menschenrechts festgestellt. Lediglich in drei Fällen entschied der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, dass keine Menschenrechtsverletzung vorlag – in anderen Streitigkeiten wurden außergerichtliche Übereinkünfte getroffen. Es darf aber nicht vergessen werden, dass auch Mitglieder der Union wie Deutschland und Griechenland im fraglichen Zeitraum in zehn, bzw. 100 Fällen wegen Verletzungen des Menschenrechts verurteilt wurden (vgl. European Court of Human Rights 2006b: 31). Gerade wegen der noch immer alarmierend hohen Zahl von Menschenrechtsbeschwerden gegen Rumänien ist zu erwarten, dass die Regierung Rumäniens unter anderem im Hinblick auf den geplanten EU-Beitritt alles daran setzt, die Situation der Menschenrechte zu verbessern und über diesen Fortschritt berichtet. Allerdings scheint das genaue Gegenteil der Fall zu sein – Rumäniens Regierung schweigt zur aktuellen Menschenrechtssituation, dieses Thema wird auf Pressekonferenzen lediglich im Nebensatz erwähnt. Auch die genauen Kompetenzverteilungen zwischen den einzelnen Ministerien sind schwer zu erkennen. Wird die Achtung von Menschenrechten von offizieller Seite häufig anerkannt und ihre Bedeutung unterstrichen, so räumte der Präsident Rumäniens Traian Basescu am 03. Februar 2006 Schwierigkeiten bei deren Umsetzung ein: „[...] it is easy to make laws, to set up institutions compatible with the European ones, but it is difficult to make laws be applied, to make the institutions work on the pattern of the European ones, to observe human rights“ (The Department of Public Communication 2006). Leider bleibt eine gezielte Informationspolitik seitens der rumänischen Regierung aus, sodass sich die Analyse auf Berichte der EU und von Menschenrechtsorganisationen stützen muss. Rumänien und Menschenrechte aus Sicht der EU Am 16. Mai 2006 veröffentlichte die Europäische Kommission aktuelle Berichte, die den Fortschritt bei der Erfüllung der Kopenhagener Kriterien der Länder Bulgarien und Rumänien dokumentieren sollen. In ihrem Report über Rumänien kritisiert die Kommission eine Reihe von Menschenrechtsverstößen: „[...] Rumänien ist nach wie vor ein Transitland für Menschenhandel [...]. Misshandlungen im Polizeigewahrsam werden nur selten weiterverfolgt und einige Gefängnisse [...] leiden unter schlechten Haft- und Hygienebedingungen. Die Bedingungen in psychiatrischen Einrichtungen sind verbesserungsbedürftig. [...] Weiterer Bemühungen 4 Vgl. Reden der letzten Jahre auf http://www.gov.ro/engleza/ 103 bedarf es auch bei der Bekämpfung von Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und sämtlicher Formen der Intoleranz.“ (Kommission der Europäischen Gemeinschaften 2006: 14f.) Wie bereits angeführt, sind die Achtung und die Wahrung von Menschenrechten zentraler Punkt der Kopenhagener Kriterien und demnach zumindest auf dem Papier ein Kriterium für einen Beitritt zur Europäischen Union. Betrachtet man also die angeführte Analyse der Kommission, so dürfte eine Entscheidung über den Beitritt zur Union nicht schwer fallen – er müsste Rumänien verweigert werden. Die Achtung der Menschenrechte ist in den Kopenhagener Kriterien als politisches Kriterium angeführt. In ihrem Bericht kommt die Kommission zu folgendem Schluss, der sich im Übrigen seit 1998 kaum verändert hat (vgl. Kommission der Europäischen Gemeinschaften 1998: 15): „Rumänien erfüllt die politischen Kriterien für eine EU-Mitgliedschaft.“ (Kommission der Europäischen Gemeinschaften 2006: 14) Auffällig ist, dass, bezogen auf anfangs aufgestellte Definition von Menschenrechten, ihr Schutz eben nicht erfüllt ist und somit von einer Erfüllung der auf dem Europäischen Rat von Kopenhagen aufgestellten (politischen) Kriterien nicht gesprochen werden kann. Fragwürdig erscheint also auch hier, ob die Achtung der Menschenrechte sowohl als Aufnahmekriterium als auch als zentraler Grundsatz der Europäischen Union, wie schon im Vertrag über die Europäische Union festgehalten, überhaupt dem ernsthaften Wunsch entspringt, die Wahrung von Menschenrechten innerhalb der Union zu garantieren oder lediglich als Rechtfertigung der gemeinsamen Außenpolitik gilt, die, wie weiter oben schon erwähnt, die Achtung der Menschenrechte propagieren soll. 104 Menschenrechtsorganisationen und Rumänien Abschließend möchte ich kurz beschreiben, welches Bild die beiden Menschenrechtsorganisationen Human Rights Watch und amnesty international von der aktuellen Menschenrechtssituation in Rumänien zeichnen. Als auf den Menschenrechtsschutz spezialisierte Organisationen ist davon auszugehen, dass durch ihre Berichte weitaus mehr Verletzungen aufgedeckt werden können, als durch mehr oder weniger politisch und ökonomisch motivierte Berichte der rumänischen Regierung bzw. auch der Europäischen Union – zumal der Menschenrechtsschutz dort nur einen Teil in umfassenden Reporten darstellt. So berichtet ai in ihrem Jahresbericht 2006 (also im Zeitraum vom 01.01.2005 bis zum 31.12.2005) über zahlreiche Verletzungen der Menschenrechte in Rumänien: „Es trafen weiterhin Berichte über Diskriminierungen und Übergriffe gegen Angehörige der Roma ein. Die Situation in Institutionen für psychisch kranke Menschen blieb nach wie vor unbefriedigend. Todesfälle in psychiatrischen Anstalten wurden weder effektiv noch unparteiisch untersucht. Angehörige sexueller Minderheiten hatten unter Diskriminierung und Intoleranz zu leiden.“ (amnesty international Deutschland 2006) Daneben berichtete ai von Misshandlungen Minderjähriger durch Polizeibeamte und kritisierte außerdem unzureichende Ermittlungen auf diesem Gebiet in mindestens fünf Fällen (vgl. amnesty international Deutschland 2006). Alles in allem hat sich laut amnesty international die Menschenrechtssituation in Rumänien zwar im Vergleich zum Vorjahr gebessert, es sind aber starke Bedenken an der Motivation der rumänischen Regierung und Justiz angebracht, Verstöße gegen Menschenrechte als solche anzusehen und zu ahnden. Erst kürzlich veröffentlichte HRW einen Report unter dem Titel „Das Leben wartet nicht“, in dem die gezielte Diskriminierung HIV-positiver Kinder in Rumänien kritisiert wird. Dabei werden Fälle von bewusstem Ausschluss von der Schulbildung beschrieben, die Weigerung zur Behandlung von AIDS-Patienten durch Ärzte und Krankenhäuser sowie die Misshandlung von kranken Kindern in Heimen oder psychiatrischen Einrichtungen (Human Rights Watch 2006a: 15ff.) – auf eine eigene Analyse der Situation in Rumänien in den letzten Jahresberichten verzichtet HRW allerdings. Sicher ist, dass Rumänien noch heute gegen Menschenrecht verstößt. In welchem Ausmaß dies allerdings stattfindet, ist schwer zu beurteilen. Es ist zu erwarten, dass die Anzahl der Verstöße deutlich höher liegt als die vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gesprochenen Urteile vermuten, jedoch nicht so hoch, wie es die Menschenrechtsberichte von ai oder HRW erwarten lassen – allzu positive Bewertungen durch diese Organisationen würde ihre eigene Bedeutung langfristig in Frage stellen. Fazit In der voranstehenden Analyse wurde ein Überblick über die Menschenrechtssituationen in Rumänien und der EU gegeben, anhand dessen die Beantwortung der eingangs formulierten Frage möglich sein soll. Zweifellos befindet sich das System Rumäniens heute noch immer in einer Phase des Umbruchs, in der sich neue Strukturen erst gegen alte durchsetzen müssen. Diesen Punkt unterstreicht auch der heutige Präsident Rumäniens im oben bereits genannten Zitat. Unterschiede im Menschenrechtsschutz fallen allerdings weitaus weniger gravierend aus als man es eventuell annehmen möchte. In 21 von 33 in 2005 am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte entschiedenen Verfahren wurde Rumänien Menschenrechtsverletzungen schuldig gesprochen. Dies ist ungleich weniger als etwa Italien oder Griechenland. Hierbei mag es sich zwar um verschieden (schwere) Tatbestände handeln, für eine Gewichtung und Differenzierung der Menschenrechte selber fehlt hier allerdings eine fundierte rechtswissenschaftliche Grundlage. Nicht nur Menschenrechtsorganisationen finden noch immer ausreichend Gründe die Situation der Menschenrechte in Rumänien zu kritisieren, sondern auch die Kommission der Europäischen Union hat in ihrem aktuellen Bericht diverse Menschenrechtsbrüche in Rumänien festgestellt. Dies hinderte sie aber nicht daran, die Erfüllung der politischen Kriterien der Kopenhagener Kriterien seitens Rumäniens zu konstatieren. Auf den ersten Blick scheint dies paradox. Da Menschenrechtsbrüche allerdings auch innerhalb der Union an der Tagesordnung sind und die Bezeichnung der Achtung der Menschenrechte als einer der Grundsätze der EU bei genauer Betrachtung (und aktueller Rechtslage) eher zu einer leeren Hülle, als zu einem wahren Wert der EU wird, scheint die Achtung der Menschenrechte als Aufnahmekriterium eher die Aufgabe zu erfüllen, die außenpolitische Glaubwürdigkeit der Europäischen Union sicher zu stellen. Festzuhalten sind Menschenrechtsbrüche sowohl in Rumänien als auch auf Seiten der Europäischen Union. Die Kommission hat Rumänien im aktuellen Bericht die Erfüllung der politischen Kriterien bestätigt, und auch der Menschenrechtsschutz der Union selbst ist weniger vollkommen, als man anfangs versucht ist zu glauben. Es bleibt für diese Analyse daher auch nur ein möglicher Schluss, nämlich dass Rumänien 105 die Anforderungen an den Menschenrechtsschutz für einen Beitritt zur EU (sofern sie überhaupt bestehen) gänzlich erfüllt. Ich möchte die Menschenrechtssituation in Rumänien keineswegs beschönigen oder gar als ausreichend bezeichnen – es ist die Pflicht eines jeden Staates, die Einhaltung der Menschenrechte zu gewährleisten, stetig zu überwachen und gegebenenfalls zu verbessern. Für einen Beitritt zur Europäischen Union stellen Achtung und Gewährleistung der Menschenrechte allerdings kein ernsthaftes Kriterium dar. Literatur: Allenberg, Nele (2005): Bleibt, wo ihr seid. URL http://www2.amnesty.de/internet/deall.nsf/0/c1d1233e96832c9bc12570c7003e3e ea?OpenDocument (abgerufen am 15.08.2006). amnesty international (2006): Regional Overview – Europe/Central Asia. URL: http://web.amnesty.org/report2006/2eu-summary-eng (abgerufen am 05.09.2006). amnesty international Deutschland (2006): Jahresbericht 2006 Rumänien. URL: http://www2.amnesty.de/internet/deall.nsf/ 74306e77ccabf47cc12565cb003dc377/c464dcbee2bc76a2c1257 1a9004daf4d?OpenDocument (abgerufen am 05.09.2006). 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URL: http://www.presidency.ro/?_RID=det&tb=date&id=7069&_ PRID=ag (abgerufen am 22.10.2006). 107 Kurzbiographien der Autorinnen und Autoren Penka Angelova, Prof. Dr. habil, Professorin für deutschsprachige Literaturgeschichte an der Universität in Veliko Tirnovo und für deutschsprachige Kulturgeschichte und Europäische Zivilisation an der Universität Ruse. Leiterin der Österreich Bibliothek in Veliko Tirnovo und Ruse sowie der Internationalen Canetti Gesellschaft in Ruse (www.canettigesellschaft.ru.acad.bg). Dissertation über die Rezeption klassisch-romantischer Dichtung und Weltauffassung im Erzählwerk Hermann Hesses (1919-1932). Jena 1981. Habilitation: Struktur-funktionale Besonderheiten von Kafkas Romanen „Der Prozeß“ und „Das Schloß“. 2002 erhielt sie das Österreichische Ehrenkreuz für Wissenschaft und 2006 den Kunst- und Kulturpreis der Stadt Ruse. Bücher: Romanwelten. Studien zum Roman des 20. Jahrhunderts. Veliko Tirnovo 1995. Reihe Philologia der Universität Veliko Tirnovo. Mich Liebt, o Mutter, ein Feuerdrache. Seitensprünge einer Germanistin. Veliko Tirnovo 1996. Ich sehe was, was du nicht siehst. Röhrig Verlag. St. Ingbert. 2002. Elias Canetti. Spuren zum mythischen Denken. Wien 2005. Über hundert weitere Veröffentlichungen in Bulgarien, Deutschland, Österreich, Ungarn, Japan, USA, Canada u.a. Valeska Bopp, geb. 1977, Studium der Kulturwissenschaften, Germanistik und Kommunikations- und Me- dienwissenschaften in Leipzig. Von 2004-2005 Sprachlektorin der Robert Bosch Stiftung an der Staatlichen Technischen Universität in Perm, Russland. Seit 2005 unterrichtet sie an der Historischen Fakultät der Universität Bukarest, Rumänien, als Promotionslektorin und arbeitet an ihrer Dissertation zu „Erinnerung und Identität in der rumänischen Transformationsgesellschaft“ (Universität Leipzig). Veröffentlichungen: „Wir haben uns zurechtgefunden.“ Mangel und Überlebensstrategien in Rumänien in den 1980er Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts. In: Berliner Osteuropa Info 23 (2005), S. 70-82. Die rumänische Revolution von 1989. Staatliche Inszenierung versus Öffentlicher Diskurs. In: Pänke, Julian, Gereon Schuch (u.a.): Gegenwart der Vergangenheit. Die politische Aktualität historischer Erinnerung in Mitteleuropa. Baden-Baden 2007, S. 25-30. Kontakt: valeska_bopp@gmx.de Alexander Di Leonardo, geb. 1982, Student der Politikwissenschaft im Rahmen eines deutsch-rumänischen Doppeldiplomstudiengangs and der Westfälischen Wilhelms-Universität und der Babeş-Bolyai-Universität Klausenburg, Rumänien. Momentan schreibt er an seiner Diplomarbeit zum Thema: „Die Konditionalitätspolitik der EU im Rahmen ihrer Nachbarschaftspolitik. Das Beispiel der Korruptionsbekämpfung in der Republik Moldau.“ Kontakt: adileonardo@web.de 108 Brigitta Finta, geb. 1982, studierte Germanistik und Ungaristik an der Babeş-Bolyai Universität in Klausen- burg, Rumänien, und absolvierte dort anschließend das Masterstudium „Deutsche Literatur im südöstlichen Mitteleuropa“. Seit 2006 ist sie Studentin an der Universität Sapientia in Klausenburg im Fach Internationale Beziehungen, Schwerpunkt Europäische Studien. Kontakt: brigitta_finta@yahoo.com Stephanie Krauch, geb. 1974, Studium der Literaturwissenschaft, Auslandsgermanistik und Erziehungs- wissenschaft in Heidelberg und Jena. Auslandsaufenthalt an der University of Virginia, Charlottsville, USA. Seit 2003 tätig als DAAD-Lektorin an der Technischen Universität Bukarest. Interessen und Forschungsschwerpunkte: Interkulturelle Erziehung und Theaterarbeit im Fremdsprachenunterricht. Veröffentlichungen: Türkischdeutsch-Sprachwandel in der Migrationsgesellschaft. In: Lazarescu, Ioan und Peter Wiesinger (Hrsg.) Vom Wert des Wortes. Festschrift für Doina Sandu zum 65. Geburtstag. Bukarest und Wien 2006, S. 182-190. Der Fremde Blick – Interkulturelles Lernen außerhalb des Seminarraums. In: Guţu, George (Hrsg.): Transcarpathica. Germanistisches Jahrbuch zum VII. Kongress der Germanisten Rumäniens vom 22.-25. Mai 2006 (im Erscheinen). Kontakt: polibuk@web.de Katharina Lampe, geb. 1979, Studium der Politikwissenschaft im Rahmen eines deutsch-französischen Doppeldiplomstudiengangs an der Westfälischen Wilhelms-Universität und am Institut d’Études Politiques in Lille. Seit 2005 Fachlektorin der Robert Bosch Stiftung an der Angel-Kantschev Universität und am Bulgarisch-Rumänischen Interuniversitären Europazentrum in Ruse, Bulgarien, seit Sommer 2006 im Profil Bildungsmanagement. Veröffentlichung der Diplomarbeit: Die Nord-West-Entwicklungsregion: Une coquille vide? Eine Untersuchung zur rumänischen Regionalisierungsproblematik. Cluj 2006. Kontakt: kathalampe@gmx.de Andrea Schneiker, geb. 1980. Diplom-Sozialwissenschaftlerin, Studium der Politikwissenschaft und Soziologie an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster und dem Institut d’Études Politiques de Lille, Frankreich. Seit 2005 promoviert sie im Fach Politikwissenschaft an der Universität Münster über private Militärfirmen. Veröffentlichungen: Privatisierung des Militärischen? In: WeltTrends Nr. 49, Winter 2005/2006. S. 135-143. National Regulatory Regimes for PSMCs and their Activities: Benefits and Shortcomings. In: Jäger, Thomas und Gerhard Kümmel (Hrsg.): Private Military and Security Companies. Chances, Problems, Pitfalls and Prospects. Wiesbaden 2007. S. 407-418. Kontakt: andrea.schneiker@googlemail.com 109 Tobias Schulmann, geb. 1987, seit 2004 Studium der Politikwissenschaft, Wirtschaftspolitik und Psychologie an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster mit dem Schwerpunkt Osteuropa. Er verbringt im Rahmen seines Studiums seit Sommer 2006 zwei Semester an der Fakultät für Politikwissenschaften an der Universität Bukarest. Kontakt: tschulmann@mac.com Gabriella-Nóra Tar, geb. 1977, Studium der Germanistik und Ungaristik an der Babeş-Bolyai-Universität in Klausenburg, Rumänien. Seit 2005 Universitätslektorin am Lehrstuhl für deutsche Sprache und Literatur an der Babeş-Bolyai-Universität in Klausenburg und Tandemlektorin der Robert Bosch Stiftung. Mehrere Studien zum Drama, Theater und zur Kinderkultur; Buchveröffentlichung: Gyermek a 18. és 19. Századi Magyarország és Erdély színpadjain (Kinder auf den siebenbürgischen und ungarischen Bühnen des 18. - 19. Jahrhunderts). Erdélyi Tudományos Füzetek 244. Klausenburg: Verlag des Siebenbürgischen Museumsvereins 2004. Kontakt: tarnora@yahoo.com Alexandra Vlad, geb. 1979, Studium der Kommunikationswissenschaften und das Studium der Germanistik und Rumänistik an der Babeş-Bolyai Universität in Klausenburg, Rumänien. 2005 absolvierte sie dort den Masterstudiengang „Deutsch-rumänische Interkulturalitätsstudien“. Seit Oktober 2005 ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Babeş-Bolyai Universität und promoviert zur zeitgenössischen intermedialen Brüchigkeit im interkulturellen (deutsch-rumänischen) literarischen, filmischen und theatralen Vergleich. Kontakt: vlad_alix@ yahoo.de 110 „Sind wir nicht alle ein bisschen Balkan?“ 111