Las Vegas Studio

Transcription

Las Vegas Studio
Las Vegas Studio
Las Vegas Studio
Bilder aus dem Archiv von
Robert Venturi und
Denise Scott Brown
Herausgegeben von Hilar Stadler und Martino Stierli
in Zusammenarbeit mit Peter Fischli
Museum im Bellpark, Kriens
Deutsches Architekturmuseum, Frankfurt a. M.
Scheidegger & Spiess
Das Buch erscheint anlässlich der Ausstellungen
«Las Vegas Studio. Bilder aus dem Archiv
von Robert Venturi und Denise Scott Brown»
Museum im Bellpark, Kriens
23. November 2008 bis 8. März 2009
Deutsches Architekturmuseum, Frankfurt a. M.
27. März bis 5. Mai 2009
Herausgeber
Projektidee
Bildauswahl
Redaktion
Autoren
Gespräch
Lektorat
Korrektorat
Übersetzung Text S. von Moos
Transkription Gespräch
Übersetzung Gespräch
Gestaltung
Schrift
Bildbearbeitung und Lithos
Druck und Bindung
Hilar Stadler, Martino Stierli
Gerold Kunz, Hilar Stadler
Peter Fischli, Hilar Stadler,
Martino Stierli
Thomas Kramer, Hilar Stadler,
Martino Stierli
Martino Stierli, Stanislaus von Moos
Peter Fischli, Rem Koolhaas,
Hans Ulrich Obrist
Nadine Olonetzky, Thomas Kramer
Brigitte Frey
Barbla Rüegg
Daniela Janser
Daniela Janser, Thomas Kramer
NORM, Zürich
Replica-Regular, www.lineto.com
Tricolor, Zürich
DZA Druckerei zu Altenburg GmbH,
Thüringen
DZA Druckerei zu Altenburg GmbH,
Thüringen
Copyright
© 2008 Museum im Bellpark,
Kriens, und Verlag Scheidegger &
Spiess AG, Zürich
Alle Rechte vorbehalten /
All rights reserved
Für alle Fotografien des «Learning
from Las Vegas Research Studio»
© Venturi, Scott Brown &
Associates, Philadelphia
© Die Textrechte liegen bei den
Autoren
Für weitere Angaben siehe den
Abbildungsnachweis auf S. 194
Deutsche Ausgabe
Englische Ausgabe
ISBN 978-3-85881-229-2
ISBN 978-3-85881-717-4
Die vorliegende Publikation wurde unterstützt durch:
Stanley Thomas Johnson Stiftung
Stiftung Otto Pfeifer
Ernst und Olga Gubler-Hablützel Stiftung
Grand Casino Luzern AG
Gemeinde Kriens
Dank:
Robert Venturi und Denise Scott Brown, Philadelphia
John Izenour, Venturi, Scott Brown & Associates, Philadelphia
Jim Venturi, New York
Bret Taboada, Philadelphia
William Whitaker, Architectural Archives, University of Pennsylvania
Stanislaus von Moos, Zürich
Peter Fischli, Zürich
Rem Koolhaas, Rotterdam
Hans Ulrich Obrist, London
Pietro Mattioli, Zürich
Oliver Elser, Deutsches Architekturmuseum, Frankfurt a. M.
Gerold Kunz, Ebikon
Thomas Kramer, Verlag Scheidegger & Spiess, Zürich
Nadine Olonetzky, Verlag Scheidegger & Spiess, Zürich
Ronny Ochsner, Tricolor, Zürich
Damaris Henny, Tricolor, Zürich
Ein Projekt des Museums im Bellpark, Kriens
www.bellpark.ch
Erschienen im Verlag Scheidegger & Spiess AG, Zürich
www.scheidegger-spiess.ch
5
Inhaltsverzeichnis
7
Second Reading
9
Las Vegas Studio Martino Stierli
11
Bilder aus dem Archiv von
Robert Venturi und Denise Scott Brown
33
Flaneure in Automobilen Peter Fischli
Rem Koolhaas
Hans Ulrich Obrist
161
Tableaux
Stanislaus von Moos
173
Bildlegenden
Biografien
194
196
Second Reading
Die architekturtheoretische Schrift Learning from Las
Vegas aus dem Jahr 1972 besticht in erster Linie
durch ihren einnehmenden Bilddiskurs. Die fotografische Spur ist tragendes Mittel bei der Darstellung
des Forschungsgegenstandes und prägendes Instrument der Argumentation von Robert Venturi, Denise
Scott Brown und Steven Izenour. Wenn im Zusammenhang mit Learning from Las Vegas immer wieder von
Tabubrüchen gesprochen wird, so kann die Verwendung der aus der Anthropologie und Kunst entlehnten
Fotografie als eine dieser Provokationen gelesen werden. Dass die Protagonisten des «Las Vegas Studio»
selbst zur Kamera griffen und Architektur unter den
Gesichtspunkten von Erscheinung und Phänomen behandelten, musste bei den Kollegen, die Architektur
als eine aus der Struktur entwickelte Aufgabe verstanden, Befremden auslösen.
Das übergeordnete Interesse der Herausgeber am
Bildbestand der Las-Vegas-Studie gründet auf dieser
Lesart. Wir haben uns zur Aufgabe gemacht, die
­Fotografien einer «Relecture» und einer Neubewertung zuzuführen. Unsere Aufmerksamkeit gilt somit
­jenem Arbeitsinstrument, das zwar Bild für Bild die Intentionen von Venturi und Scott Brown darlegt, das
aber durch ihre Auswertung im Sinne einer Theorie
­architektonischer Kommunikation immer mehr an
­Bedeutung verlor. Die Fotografie war für die Autoren
primär Mittel zum Zweck. Unser Projekt kehrt sozu­
sagen vor die Thesenbildung zurück und nimmt direkt
Bezug auf das fotografische Material, das durch eine
bezaubernde, nachlässige Schönheit beeindruckt.
Die Fotografien der Las-Vegas-Recherche sind heute
Teil des Bildarchivs von Venturi, Scott Brown & Asso­
ciates in Philadelphia. Robert Venturi und Denise Scott
Brown haben ihr Archiv für unser Vorhaben geöffnet
und es umfänglich zugänglich gemacht. Es war ein besonders denkwürdiger Anlass, in diesen Diapositiv-­
Bestand Einsicht nehmen zu können. Auf der Grund­
lage eines Überblicks haben wir in Zusammenarbeit
mit Peter Fischli vom Künstlerduo Fischli/Weiss eine
Auswahl getroffen, die mit diesem Buch erstmals
vorgelegt wird.
Der Zugang zum Material ist primär durch das Interesse
am Bild motiviert. Das genuin Bildhafte, die fotografischen Qualitäten haben uns bei unserer Lektüre massgeblich geleitet. Wir haben die Bilder aus dem ursprünglichen argumentativen Zusammenhang gelöst
und stellen sie als fotografische Sensationen vor. Die
Fotografien wurden von verschiedenen Teilnehmern
des «Las Vegas Studio» aufgenommen. Können etwa
9
die Bilder von 1966 hauptsächlich Denise Scott Brown
zugeschrieben werden, so ist das Wissen über die
­Autorschaft der späteren Bilder heute nur mehr lückenhaft. Die Fotografien sind jedoch offensichtlich unter
der Anleitung und den Vorgaben von Robert Venturi,
Denise Scott Brown und Steven Izenour entstanden.
Insofern möchten wir von einer konzeptuellen Autorschaft der Verantwortlichen ausgehen.
Unsere Auswahl fokussiert, ohne die ikonenhaften
­Bilder zu vernachlässigen, nicht zuletzt auf Neben­
aspekte des Forschungsunternehmens. Sie rückt
­Bilder in den Vordergrund, die bisher nicht bekannt
waren und sich am Rande der Las-Vegas-Recherche
als Themen abgelagert haben. Wird sind der Meinung, dass gerade in diesen sozusagen unbewussten
Momenten das eigentliche Interesse von Venturis
und Scott Browns Annäherung an Las Vegas deutlich
wird. So machen diese Fotografien ihre Urheber im
Sinne von Rem Koolhaas zu jenen Ghostwritern von
Las Vegas, als die wir sie heute kennen und schätzen.
Wir danken Robert Venturi und Denise Scott Brown
für ihr Vertrauen und ihre grosse Unterstützung herzlich. Sie erst haben es ermöglicht, das Projekt zu
­realisieren. Wir danken Stanislaus von Moos für die
von Anfang an wohlwollende Begleitung des Vorhabens. Die Bildauswahl haben wir mit Peter Fischli erarbeiten dürfen. Für die spannende und anregende
Zusammenarbeit möchten wir uns bedanken. Unseren
Dank richten wir auch an Rem Koolhaas und Hans
­Ulrich Obrist, die im Rahmen eines Gesprächs mit
Peter Fischli eine sehr persönliche Sichtung einiger
Bilder unternommen haben. Dabei haben sich bisher
unbedachte Aspekte und neue Zugänge erschlossen.
Wir danken ausserdem John Izenour von Venturi,
Scott Brown & Associates in Philadelphia für die Abwicklung des Projekts sowie William Whitaker von den
Architectural Archives der University of Pennsylvania
für die Ausleihe wichtiger Originalobjekte.
Das Projekt wird unter der Federführung des Museums
im Bellpark durchgeführt. Die Publikation erscheint
im Verlag Scheidegger & Spiess, Zürich. Wir danken
Thomas Kramer, Verlagsleiter, für die engagierte Zusammenarbeit. Für die inspirierte grafische Umsetzung
unserer Vorstellungen danken wir Dimitri Bruni, Manuel
Krebs und Ludovic Varone von Norm in Zürich herzlich.
Die Drucklegung der Publikation wurde durch grosszügige Beiträge verschiedener Institutionen und Gremien in dankenswerter Weise unterstützt.
Hilar Stadler, Museum im Bellpark, Kriens
Martino Stierli
Las Vegas Studio
11
Martino Stierli
1) Der vorliegende Text basiert
auf einer Dissertation, die 2007 an
der ETH Zürich angenommen
­wurde. Vgl. Martino Stierli: Ins Bild
gerückt. Ästhetik, Form und Diskurs der Stadt in Venturis und Scott
Browns Learning from Las Vegas.
Diss. ETH Zürich, 2007. Die Publikation ist in Vorbereitung und erscheint 2009 im gta Verlag, Zürich.
2) «New analytic techniques
must use film and videotape to
convey the dynamism of sign
­architecture and the sequential
experience of vast landscapes.»
Denise Scott Brown: «Learning
from Pop» (1971), in: Robert
­Venturi und Denise Scott Brown:
The View from the Campidoglio.
Selected Essays 1953−1984.
New York (Harper & Row), 1984,
S. 26–33, hier S. 28–31.
A)
3) Vgl. Diane L. Minnite:
­«Chronology», in: David B.
­Brownlee, David G. De Long und
Kathryn B. Hiesinger: Out of the
Ordinary. Robert Venturi, Denise
Scott Brown & Associates.
­Architecture, Urbanism, Design.
Philadelphia (Philadelphia Museum
of Art), 2001, S. 244–251, hier
S. 247.
4) Vgl. Robert Venturi und Denise
Scott Brown: «A Significance for
A&P Parking Lots or Learning from
Las Vegas», in: Architectural
­Forum 128 (März 1968), Nr. 2,
S. 36–43, 89, 91. (auf Deutsch
erschienen als: «Der Parkplatz von
Atlantic & Pacific oder: Was lehrt
uns Las Vegas?», in: Werk 56
[1969], Nr. 4, S. 257–266); Robert
Venturi, Denise Scott Brown und
Steven Izenour: Learning from Las
Vegas. Cambridge, Mass. und
­London (MIT Press), 1972.
B)
A) Denise Scott Brown:
Strassenszene, Los Angeles,
ca. 1966
12
B) Titelseite der Zeitschrift
Architectural Forum, März 1968,
mit einer Fotografie von Denise
Scott Brown
Robert Venturi, Denise Scott Brown und
das Bild der Stadt
Venturi und Scott Brown in Las Vegas.
Eine Chronologie der Ereignisse
Learning from Las Vegas war sowohl eine seriöse
städtebauliche Studie als auch ein rhetorischer Paukenschlag. Das Buch brachte das Unbehagen seiner Autoren am zeitgenössischen Architekturdiskurs bild- und
wortmächtig vor. 1) Kaum je seit der Veröffentlichung
im Jahr 1972 ist es einer architekturtheoretischen
Schrift gelungen, den fachlichen Diskurs in gleichem
Masse zu vereinnahmen, von Rem Koolhaas’ und Bruce
Maus S,M,L,XL (1995) vielleicht einmal abgesehen.
Die Studie traf den Nerv der Zeit, indem sie Antworten
auf Fragen suchte, die Architektur und Städtebau seit
geraumer Zeit beschäftigt hatten. Zur Diskussion
standen die Form und Ästhetik der zeitgenössischen
Stadt. Die architektonische Fachwelt begegnete der
zunehmenden Dezentralisierung und Suburbanisierung
mit Ratlosigkeit und Ablehnung. Diese Phänomene
wurden als Krise nicht nur der Funktion, sondern auch
des Bildes der Stadt wahrgenommen und kontrovers
diskutiert. Eine grundlegende Frage des Städtebaudiskurses um 1960 lautete daher: Was war das Bild der
zeitgenössischen Stadt? Wie konnte dieser Siedlungsbrei noch als kohärente Einheit begriffen und visuell
zur Darstellung gebracht werden? Mit ihrer Unter­
suchung zu Las Vegas, die Mitte der 1960er Jahre einsetzte und in der berühmten Buchpublikation mündete, traten Robert Venturi und Denise Scott Brown an,
Antworten auf diese Fragen zu finden. Ihr Interesse
fokussierten sie auf den kommerziellen Strip von Las
Vegas, weil sie darin die Ästhetik des «Urban Sprawl»
in ihrer reinsten und zugleich extremsten Form zu
­erblicken glaubten. Dem Gegenstand ihrer Betrachtung
begegneten sie ambivalent, nämlich sowohl mit einem
wissenschaftlich-analytischen als auch einem ästhe­
tischen Blick. Auf der einen Seite ging es ihnen darum,
die spezifischen visuellen Eigenschaften dieser Stadtform umfassend und faktentreu zu dokumentieren.
Auf der anderen Seite übte die spektakuläre Ästhetik
der (Zeichen-) Architektur am Strip unverkennbar
eine grosse Faszination aus. Bei ihrem Ansinnen verliessen sich Venturi und Scott Brown in erster Linie
auf die populären Bildmedien Fotografie und Film. Bereits zuvor hatte eine Reihe von Publikationen sich
dieser relativ neuen Medien bedient, um Städte darzu­
stellen. Venturi und Scott Brown nutzten sie erstmals
konsequent zur umfassenden Bestandsaufnahme
­einer Stadt im Rahmen einer architekturtheoretischen
Studie. «Neue Analyseverfahren», schrieb Denise
Scott Brown 1971 in diesem Zusammenhang, «müssen
Film und Video nutzen, um die dynamische Kraft der
Zeichenarchitektur und die sequenzielle Erfahrung
weiter Landschaften zu vermitteln.» 2)
Der Impuls zur vertieften Auseinandersetzung mit Las
Vegas ging wesentlich von Denise Scott Brown aus.
Die im südlichen Afrika geborene und aufgewachsene
Architektin und Stadtplanerin war nach ihrem Studium
an der Londoner Architectural Association School of
Architecture mit ihrem ersten Ehemann Robert Scott
Brown nach Philadelphia übersiedelt, zunächst um
beim amerikanischen Architekten Louis Kahn weiterzustudieren, bald aber auch, um selbst an der University of Pennsylvania zu unterrichten. Hier lernte sie
1960 als junge Witwe Robert Venturi kennen. 3) 1965
wechselte Scott Brown an die Westküste, um an der
University of California zu unterrichten und um den
auto-orientierten Städtebau des amerikanischen Südwestens vor Ort zu studieren. A)
13
Ihr besonderes Interesse erweckte neben der Funktion
und Ästhetik der Highways von Los Angeles die Stadt
Las Vegas und deren kommerzieller Strip, an dem
sich seit den frühen 1940er Jahren eine grosse Anzahl
von Kasinos, Hotels und anderen Unterhaltungslokalen
angesiedelt hatte. Ihr temporärer Wohnsitz in Los
­Angeles machte es Scott Brown möglich, die nahe gelegene Vergnügungsstadt im Bundesstaat Nevada
wiederholt zu besuchen. Die frühesten Dokumente zu
Las Vegas, die sich in ihrem Bildarchiv erhalten haben,
stammen vom April 1965. Im Jahr darauf lud sie ihren
Kollegen Venturi zu einer ersten gemeinsamen Erkundung der Wüstenstadt ein, die im November 1966
stattfand. Die Reise erwies sich in zweifacher Hinsicht
als folgenreich. Auf der einen Seite resultierte daraus
ein theoretischer Aufsatz, der 1968 in der März-Ausgabe der Zeitschrift Architectural Forum e
­ rschien und
der erstmals den späteren Buchtitel nannte: «������
A Significance for A&P Parking Lots or Learning from Las
Vegas». B) Dieser Essay war mit zahlreichen Bildern
­illustriert, die Scott Brown vor Ort geschossen hatte;
er nahm aber auch den Wortlaut der Buchpublikation
von 1972 weitgehend vorweg. 4)
Auf der anderen Seite ging auch die Idee Venturis und
Scott Browns auf diese Reise zurück, den Strip von
Las Vegas zu einem Untersuchungsgegenstand der
zeitgenössischen Architektenausbildung zu erheben,
obschon Scott Brown bereits während ihrer Lehr­
tätigkeit an der University of California at Los Angeles
ins Auge gefasst hatte, einen solchen Kurs anzubieten. Diese Idee verwirklichten sie 1968 mit einer Lehrveranstaltung an der Yale University. In ihrem sogenannten «Research Studio», das sich ausdrücklich an
Architekten richtete, ging es darum, die wissenschaft­
liche Forschung und den architektonischen Entwurf in
5) Die Namen der beteiligten
Studenten waren: Ralph Carlson,
Tony Farmer, Ron Filson, Glen
Hodges, Peter Hoyt, Charles Korn,
John Kranz, Peter Schlaifer, Peter
Schmitt, Dan Scully, Doug
Southworth, Martha Wagner und
Tony Zunino.
6) Ralph Carlson, persönliche
Mitteilung, Mai 2005.
7) Brief von Robert Venturi an
Bruno Alfieri, 18. April 1969, VSB
505, «Out LLV», Architectural
Archives, University of Pennsylvania and Pennsylvania Historical
and Museum Commission.
8) Vgl. Robert Venturi, Denise
Scott Brown und Steven Izenour:
«Studio LLV: Research Topics.
Phase I, Tooling Up. Phase II,
­Library Research and Preparation»,
in: dies.: Studio LLV: Learning
from Las Vegas, or Form Analysis
as Design Research, Third Year
Studio. New Haven (Yale Univer­
sity, Department of Architecture),
1968.
9) «Our problem is to find the
graphic means to distinguish our
hard knowledge from the [t]rem­
endous [sic] variety of subjective,
but no less meaningful, knowledge
we all brought back from Las Vegas.» Vgl. Robert Venturi, Denise
Scott Brown und Steven Izenour:
«Studio LLV: Research Topics.
Phase V, Deepening and Honing»,
in: Venturi/Scott Brown/Izenour
1968 (wie Anm. 8).
10) Wie Anm. 7.
11) Diese Filme hiessen: Fremont
Electroorgasmic (von Peter
Schlaifer), Three Projector Dead
Pan, Impulse Vision, Selected
­Vision, Sign Cycles, Image (von
Peter Schlaifer), Time Lapse
­sowie Three ­Projector Deadpan II.
Vgl. Robert Venturi, Denise Scott
Brown und Steven Izenour:
­«Final Presentation: Schedule»,
in: Venturi/Scott Brown/Izenour
1968 (wie Anm. 8).
12) Scott Brown hat darauf hingewiesen, dass diese spezifische
Verwendung von Bildmaterial
auch im Zusammenhang mit dem
Modell des partizipatorischen
Städtebaus («advocacy planning»), das damals seinen Höhepunkt erlebte, gesehen werden
muss. Aus ihrer Sicht kam das
Ausstellungskonzept auch «aus
dem Städteplanungsunterricht
und aus dem Gewicht, das der
Notwendigkeit beigemessen wurde, grafische Darstellungs- und
Kommunikationsmittel zu ent­
wickeln, die in einer öffentlichen
Versammlung und speziell von
einem unterprivilegierten Publikum gesehen und verstanden
werden können […]. Ein hauptsächliches Anliegen der Las-VegasStudie bestand darin, die verschiedenen kulturellen Werte
­derjenigen Menschen zu verstehen und einzubeziehen, für die
­Stadtplanung betrieben wurde.»
(«It too came from planning
school and the stress on the need
to produce graphic communication that could be seen and
­understood at a public meeting,
and especially one attended by
low-income people […]. A major
aim of the [Las Vegas] study was
to understand and work with the
diverse cultural values of those
planned for in cities.») Denise Scott
Brown, persönliche Mitteilung,
September 2008.
C)
13) «We think it went well in
general, but I am still a little un­
believing that some people can’t
understand we just wanted to look
at Las Vegas in a dead-pan way
which is also a poetic way of long
standing.» Brief von Robert Venturi an Vincent Scully, 16. Januar
1969, VSB 284, «letters Jan – April
69», Architectural Archives, University of Pennsylvania and Pennsylvania Historical and Museum
Commission.
D)
C) Die Studenten des «Learning
from Las Vegas Research Studio»
bei der Ankunft in Las Vegas, 1968
14
D) «The Grand Proletarian
Culture Locomotive»: Einladungsplakat zur Schlussveranstaltung
des «Learning from Las Vegas
Research Studio», Yale University,
10. Januar 1969
einem einzigen Lehrgefäss miteinander zu verbinden. 5)
Scott Brown hatte die Idee, Forschung und Entwurf in
der Lehre zu verknüpfen, aus ihrer Ausbildung als
Stadtplanerin heraus entwickelt und bereits in den frühen 1960er Jahren als Dozentin an der University of
Pennsylvania informell mit diesem Modell experimentiert. Im Kontext der Zeit handelte es sich dabei um
einen äusserst innovativen und, angesichts der ungewöhnlichen Thematik, auch um einen subversiven Ansatz der Architekturausbildung. Auf methodischer
Ebene sollte den Studenten beigebracht werden, die
Forschung als wichtige Grundlage für den eigenen
Entwurf zu begreifen. Auf der Ebene des Inhalts waren
die Studenten angehalten, sich mit visuellen Phänomenen des Alltags und der amerikanischen Populärkultur zu beschäftigen, denen die etablierte Architektur
mit Ablehnung begegnete. Nach einer mehrwöchigen
Vorbereitungszeit bildete eine zweiwöchige Exkursion
nach Los Angeles und Las Vegas im Oktober 1968
den Höhepunkt der Lehrveranstaltung. C) Während die
vier Tage in Los Angeles unter anderem für einen Besuch in Disneyland sowie im Atelier des Künstlers
Ed Ruscha genutzt wurden, 6) stand in Las Vegas während der folgenden zehn Tage die empirische Daten­
erhebung im Vordergrund. Das zentrale Ziel bestand
darin, die spezifische Ästhetik und Form von «Strip»
und «Sprawl» in Fotografie und Film zu dokumentieren. Neben rund fünftausend Farbdias und dreitausend
Metern Film trug die Gruppe auch eine grosse Zahl
von Dokumenten mit statistischen, ökonomischen und
planerischen Angaben zusammen. 7) Eine grosse Zahl
der fotografischen Zeugnisse und sämtliche Filme
wurden von den Studenten erstellt, allerdings unter
detaillierter konzeptueller Anleitung Venturis und Scott
Browns. Sie trugen die Verantwortung für das Gesamtprojekt und wurden dabei von ihrem Assistenten
Steven Izenour unterstützt, der bei der Durchführung
der Lehrveranstaltung wesentlich beteiligt war und bei
der Buchpublikation als dritter Autor firmieren sollte.
Venturi und Scott Brown definierten in ihrem Forschungsseminar an der Yale University eine Reihe von
thematischen Schwerpunkten, die von den Studenten
jeweils in Gruppen bearbeitet werden sollten. Die
­zentrale Zielsetzung bestand darin, ein adäquates Bild
der zeitgenössischen Stadt zu gewinnen. Die Aufgabe
«User Behavior» etwa sah vor, anhand eines «Commercial Strip» in New Haven die Verhaltensmuster der
(mobilisierten) Strassenbenutzer zu analysieren.
­Dabei sollte untersucht werden, welche Darstellungsformen sich dafür be­sonders eigneten, wobei neben
Karten und Diagrammen auch Filme zur Diskussion
gestellt wurden. Bei «Las Vegas Image» ging es darum,
herauszufinden, wie ein angemessenes «Bild» von
Las Vegas ermittelt werden könnte. Venturi und Scott
15
Brown wiesen darauf hin, dass die Literatur und Kunst
ein starkes Image der Stadt konstruiert und vermittelt
hatten. An anderer Stelle wurden die Studenten ermuntert, mit Darstellungsformen wie «mapping, movies,
collages, multi-media, multi-slide projection��������
» zu experimentieren. «Graphic and Other Techniques of
Representation���������������������������������������
» schliesslich machte Bild und Darstellung der Stadt offen zum Thema. Das Modul ging von
der These aus, dass traditionelle Repräsentationstechniken aufgrund ihrer statischen Natur das Verständnis
für die Form der zeitgenössischen Stadt behinderten
und deshalb nach alternativen Darstellungsmodi zu
suchen sei. 8) Die primäre Zielsetzung der Veranstaltung
wiederholten Venturi und Scott Brown in einem Zwischenbericht nach der Rückkehr aus Las Vegas: «Unsere Aufgabe ist es, grafische Mittel zu finden, um
­unser ‹hartes› Faktenwissen von der riesigen Vielfalt
eines subjektiven, aber dennoch bedeutsamen Wissens
zu unterscheiden, das wir alle aus Las Vegas mitgebracht haben.» 9) Aus dem zusammengetragenen Bildmaterial entstanden nach Massgabe des Arbeitsprogramms rund achtzig Karten, Tabellen und Diagramme
sowie Film- und Diase­quenzen. 10)
Den Abschluss der wissenschaftlichen Untersuchung
bildete die Schlusspräsentation des Se­minars am
10. Januar 1969 an der Yale School
���������������������������
of Art and Architecture. D) Zum einen wurden aus diesem Anlass die Filme
vorgeführt, die die Studenten während ihres Aufenthalts in Las Vegas gedreht hatten. 11) Zum anderen
wurde eine Ausstellung mit den verschiedenen Tabellen, Tafeln, Karten und Collagen eingerichtet. Die Dimension und Organisation dieser Darstellungsmittel
waren spezifisch auf die Ausstel­lungspräsentation hin
ausgelegt, das heisst grossformatig und zur Rezeption
eher in einem assoziati­ven als linear-diskursiven Rahmen geeignet. 12) Bei der Buchpublikation kam es dann
zu einer Sekundärverwendung desselben Bildmaterials,
die nicht in allen Fällen problemlos funktio­nierte. Aber
auch die Schlusspräsentation stiess auf teils harsche
Kritik. In einem Brief vom 16. Januar 1969, in dem sich
Venturi bei einigen prominenten Besuchern – etwa
beim Kunsthistoriker Vincent Scully, beim Architekten
Morris Lapidus und beim Schrift­steller Tom Wolfe
– für ihre Anwesenheit bedankte, heisst es dazu: «Wir
finden, [die Schlusspräsentation] lief grundsätzlich
gut, aber ich kann es immer noch nicht ganz glauben,
dass einige Leute nicht begreifen wollen, dass wir Las
Vegas ganz einfach in einer unvoreingenommenen und
teilnahmslosen Weise betrachten wollten; was auch
seit langer Zeit eine poetische Art der Betrachtung
ist.» 13)
Die mitunter vehemente Ablehnung des Projekts
durch die Kollegen nahm eine Debatte vorweg, die den
14) Vgl. [Robert Venturi]:
«��������������������������������
A Significance for A and P Parking Lots or Learning from Las
Vegas», in: «Manuscript LV», Box
VSB 27, Architectural Archives,
University of Pennsylvania and
Pennsylvania Historical and
Museum Commission.
15) Vgl. etwa den Brief von
­Robert Venturi an Michael Connelly,
11. Februar 1972, «LLV Book
­Current Notes Things to Do», Box
47626827, Architectural Archives,
University of Pennsylvania and
Pennsylvania Historical and
Museum Commission.
16)����������������������������
Zum populären, durch Literatur und Medien verbreiteten
Bild von Las Vegas in der amerika­
nischen Wahrnehmung vgl. die
nicht publizierte Dissertation von
Edward E. Baldwin: Las Vegas in
Popular Culture. Diss. University
of Nevada, Las Vegas 1997. Vgl.
auch Mike Tronnes (Hrsg.): Literary Las Vegas. The Best Writing
About America’s Most Fabulous
City. New York (Henry Holt), 1995.
Zur (Architektur-) Geschichte
von Las Vegas allgemein vgl. ins­
besondere Eugene P. Moehring:
Resort City in the Sunbelt. Las
Vegas, 1930–1970. Reno und Las
Vegas (University of Nevada
Press), 1989; Alan Hess: Viva Las
Vegas. After-Hours Architecture.
San Francisco (Chronicle Books),
1993; Mark Gottdiener, Claudia
C. Collins und David R. Dickens:
Las Vegas. The Social Production
of an All-American City. Malden,
Mass. und Oxford (Blackwell),
1999.
17) Vgl. dazu Julian Halevy:
«Disneyland and Las Vegas», in:
The Nation 186 (7. Juni 1958),
Nr. 23, S. 510–513; John Pastier:
«The Architecture of Escapism»,
in: AIA Journal 67 (1978), Nr. 14,
S. 26–37. – Zur Problematik von
Las Vegas zwischen Realität, Repräsentation und Simulation (in
der Gegenwart) vgl. Joy Ramirez:
«The Desert of the Real: Las
Vegas and the Production/Reproduction of the Postmodern City»,
in: Yearbook of Comparative and
General Literature 49 (2001),
S. 177–191.
E1)
E2)
18) Vgl. Jay Robert Nash und
Stanley Ralph Ross: The Motion
Picture Guide, 12. Bde. Chicago
(Cinebooks), 1985−1987, S. 1602.
19) Stanislaus von Moos:
«Die Zukunft liegt in der Wüste»,
in: NZZ am Sonntag, 8. Mai 2005,
S. 67.
16
E) Titelseiten der ersten und
zweiten Auflage von Learning from
Las Vegas, 1972 und 1977
Architekturdiskurs nach der Veröffentlichung von
Learning from Las Vegas nachhaltig bestimmen sollte.
Diese wurde nach der Lehrveranstaltung an der Yale
University zügig in Angriff genommen. Ein frühes handschriftliches Manuskript, das bereits der Erstveröffentlichung im Architectural Forum 1968 zugrunde lag,
lässt auf Venturi als Erstautor schliessen, obschon die
Beschäftigung mit der alltäglichen amerikanischen
Stadtlandschaft und dem Bild der Stadt zunächst von
Scott Brown initiiert worden war. Spätestens in der
Überarbeitungsphase ist dann von einer Gemeinschaftsarbeit auszugehen.14) Mit dem sprachlichen Duktus des Texts war der Leser bereits aus Venturis Erstling Complexity and Contradiction in Architecture aus
dem Jahr 1966 bestens vertraut. Der Sprachwitz und
der dort festzustellende Hang etwa zu Alliterationen
und eingängigen Formulierungen ist ohne Weiteres
auch in Learning from Las Vegas anzutreffen und äussert sich in solchen Begriffspaaren wie «learning» /
«Las Vegas», «vitality» / «validity» oder «duck» /
«decorated shed», aber auch in Wendungen wie
«(Billboards) Are Almost All (Right)».
Die Zusammenarbeit mit dem Verlag erwies sich insbesondere aus Sicht der Autoren als problematisch.
­Venturi und Scott Brown konnten dem aufwändigen
modernistischen Design der Buchgestalterin Muriel
Cooper von der MIT Press wenig abgewinnen und taten
ihren Unmut in zahlreichen Briefen kund. 15) Trotzdem
hielt die Grafikerin an ihren Prinzipien weitgehend
fest. Hingegen übernahmen die Autoren bei der grafischen Gestaltung der zweiten Auflage die alleinige
Verantwortung. Diese erschien als revidierte Taschenbuchausgabe 1977 und damit fünf Jahre nach der
grossformatigen und opulent gestalteten Original­
ausgabe. E) Die Unterschiede beschränken sich nicht
nur auf das stark verkleinerte Buchformat, sondern
auch auf eine starke Reduktion des Bildanteils. Aus
einem «coffee table book» für Connaisseurs wurde
ein wissenschaftlicher Traktat, in dem die Ebene des
Texts jene des Bildes deutlich überwog. Ironischerweise war es nicht zuletzt die von Venturi und Scott
Brown verschmähte grafische Gestaltung der Erstausgabe, die Aufsehen erregte und erheblich zum
­legendären Ruf der Studie beitrug.
Las Vegas in der populären Wahrnehmung
Als Venturi und Scott Brown sich mit Las Vegas zu beschäftigen begannen, verfügte die Stadt in der populären Wahrnehmung über ein Image, das sie von allen
anderen Städten deutlich abhob. Aufgrund seiner Gründung als kleine Eisenbahnstadt im Mai 1905 in der unwirtlichen Mojave-Wüste, mehr noch aber wegen seines
rasanten Aufstiegs zum nationalen Unterhaltungs-
17
und Glücksspielmekka ab den 1930er Jahren war Las
Vegas ein bevorzugter Ort der kollektiven Imagination
Amerikas. Zum einen kam der Stadt in der puritanisch
geprägten amerikanischen Gesellschaft so etwas wie
der karnevaleske Gegenpart zur dominanten WASP(White Anglo-Saxon Protestant) Kultur zu. Hier war
vieles von dem erlaubt, was andernorts tabu, verpönt,
verboten war; hier konnte sich die dionysisch-dunkle
Seite der amerikanischen Psyche austoben. Zum
­anderen funktionierte Las Vegas als Ventil für den Wohlstand der Nachkriegszeit, wo eine zu Geld gekommene Mittelklasse ihr Bedürfnis nach Zerstreuung befriedigte. In den literarischen Schilderungen von Las
Vegas rückten ab den 1940er Jahren immer wieder die
Welt des Glücksspiels sowie seine (angeblichen) Verstrickungen mit dem organisierten Verbrechen in den
Blickpunkt. 16) Kulturkritische «Apokalyptiker» verglichen Las Vegas wiederholt mit dem 1955 eröffneten
Disneyland und geisselten es als Sammelbecken eskapistischer Träume, wo der Durchschnittsamerikaner
seinem Alltag entfliehen konnte, dabei aber erst recht
in die kapitalistische Verwertungsmaschinerie geriet. 17)
Als populäres Bildmedium par excellence war der Film
– mehr noch als die Printmedien – hervorragend dazu
angetan, Vorstellungen über Las Vegas in der kollektiven Wahrnehmung zu generieren und zu transportieren. Die lokale Tourismusindustrie profitierte vom exotischen Image der Stadt und setzte alles daran, dieses
zu stärken, auch wenn es kaum mit der Realität übereinstimmte, ja diese oftmals in grotesker Weise verzerrte. Hollywood bot dazu gerne Hand. Der früheste
Film, der Las Vegas ins Zentrum des Geschehens
rückte, war Ralph Murphys Musical Las Vegas Nights
aus dem Jahr 1941. 18) Für das Image von Las Vegas
nicht unbedeutend war der kurze Auftritt von Frank
Sinatra und der Tommy Dorsey Band. Diese Vorgabe
griff Lewis Milestone 1960 mit der Gangsterkomödie
Ocean’s Eleven auf. Darin waren Sinatra und den
­anderen im «Rat Pack» versammelten Jazz-Musikern,
die zu dieser Zeit in Las Vegas täglich Auftritte absolvierten, die Hauptrollen beschieden. Mit dem Film
etablierte sich Las Vegas im kollektiven Gedächtnis
der Amerikaner endgültig als ernst zu nehmendes
Unterhaltungsmekka. Die Allianz mit dem Showbusiness kam auch darin zum Ausdruck, dass Las Vegas
den Hintergrund für immer neue Musical-Produktionen
ergab, so etwa in Roy Rowlands Pro­duktion Meet Me
in Las Vegas aus dem Jahr 1956. Im Unterschied zu
früheren Schwarzweiss­filmen erstrahlte das Setting
hier in leuchtenden Technicolor-Farben und liess die
Stadt im besten Licht erscheinen. Mit George Sidneys
Viva Las Vegas aus dem Jahr 1964 erhielt Las Vegas
endgültig die «Weihen der Popkultur» 19), figu­rierte
20) Vgl. Nash/Ross 1985–1987
(wie Anm. 18), S. 1603.
21) Venturi und Scott Brown
zitierten Wolfes Artikel in der Erstveröffentlichung ihres eigenen
Las-Vegas-Texts in der Zeitschrift
Architectural Forum. Vgl. Venturi/
Scott Brown 1968 (wie Anm. 4),
S. 42. Auch figurierte der Essay
auf der obligatorischen Leseliste
ihrer Lehrveranstaltung zu Las
Vegas an der Yale University. Vgl.
Robert Venturi, Denise Scott
Brown und Steven Izenour: «Introduction», in: Venturi/Scott Brown/
Izenour 1968 (wie Anm. 8), S. 2.
22) Vgl. Tom Wolfe: The KandyKolored Tangerine-Flake Streamline
Baby. New York (Bantam), 1977
(1. Aufl. New York [Farrar, Straus
and Giroux], 1965).
23) «America’s first unconscious
avant-garde!», Wolfe 1977 (wie
Anm. 22), S. xvii.
24) «It is no accident that Las
Vegas and Versailles are the only
two architecturally uniform cities
in Western history.» Wolfe 1977
(wie Anm. 22), S. xvi.
28) Vgl. Reyner Banham, «The
Missing Motel», in: The Listener,
5. August 1965, S. 6; ders.:
­«Toward a Million-Volt Light and
Sound Culture» in: The Architectural Review 141 (Mai 1967),
Nr. 843, S. 331–335; ders.: «Mediated Environments or: You can’t
build that here», in: C. W. E. Bigsby
(Hrsg.): Superculture. American
Popular Culture and Europe.
­Bowling Green (Bowling Green
University Popular Press), 1975,
S. 69–82.
Scott Brown kannte Banham aus
ihrer Londoner Studienzeit und war
mit seinen Schriften bestens vertraut. Vgl. Denise Scott Brown:
«Learning from Brutalism», in:
David Robbins (Hrsg.): The Independent Group: Postwar Britain
and the Aesthetics of Plenty.
­Cambridge, Mass. und London
(MIT Press), 1990, S. 203–206,
hier S. 203.
F)
25) «The important thing about
the building of Las Vegas is not
that the builders were gangsters
but that they were proles.» Wolfe
1977 (wie Anm. 22), S. xvi.
26) Vgl. Siegfried Kracauer: Das
Ornament der Masse. Frankfurt
am Main (Suhrkamp), 1977.
27) Vgl. dazu insbesondere
­Herbert Gans: The Levittowners.
Ways of Life and Politics in a
New Suburban Community. New
York (Pantheon), 1967 (dt.: Die
Levittowner. Soziographie einer
«Schlafstadt», Bauwelt Fundamente 26. Gütersloh und Berlin
[Bertelsmann], 1969); ders.:
«Popular Culture in America:
Social Problem in a Mass Society
or Social Asset in a Pluralist
Society?», in: Howard S. Becker
(Hrsg.): Social Problems. A Modern Approach. New York (Wiley),
1966, S. 549–620; ders.: Popular
Culture and High Culture. An
Analysis and Evaluation of Taste.
New York (Basic Books), 1999;
Denise Scott Brown: «Between
Three Stools. A Personal View
of Urban Design Pedagogy», in:
dies.: Urban Concepts, Architectural Design Profile 83. London/
New York (Academy Editions/
St. Martin’s Press), 1990, S. 9–20,
hier S. 10.
18
G)
F) George Sidney: Viva Las
Vegas, 1964, Stills aus der Eröffnungssequenz
G) Las Vegas als Emblem der
Popkultur? Billboard am Strip
doch Elvis Presley in dem Musical um einen mittellosen
Rennfahrer in der Hauptrolle. F) Der Streifen diente
nicht nur der Selbstinszenierung des Rockstars, sondern rückte auch die spektakuläre Ästhetik des nächtlich erleuchteten Strip und der Fremont Street in
­farbenprächtige Bilder. Viva Las Vegas hat wie kein anderer Film die Verführungskraft der Lichtarchitektur
von Las Vegas in Szene gesetzt und damit zugleich das
klassische Image der Stadt in der populären Wahrnehmung der 1960er Jahre geschaffen.
Hollywood setzte sich bisweilen aber auch kritisch mit
der Stadt und ihrer Ökonomie auseinander. Der Schatten des film noir ereilte die Stadt mit Robert Stevensons The Las Vegas Story aus dem Jahr 1952. 20) Auch
Sidney Salkows Las Vegas Shakedown von 1955 war
im Kasino-Milieu angesiedelt. Die Handlung des Films
knüpfte an die Ereignisse rund um einen (realen)
­Untersuchungsausschuss an, der zu Beginn der 1950er
Jahre die Verbindungen der Glücksspielindustrie mit
dem organisierten Verbrechen aufzudecken versucht
hatte. Francis Ford Coppola griff den Faden 1972 mit
seinem Kriminalepos The Godfather auf, worin er die
Romantisierung des amerikanischen Mafia-Milieus betrieb. Es waren diese Interpretationen, die das schillernde Image von Las Vegas prägten und die auch Venturis und Scott Browns eigene «Entdeckung» der
Stadt konditionierten. Statt der Mythenbildung weiteren Vorschub zu leisten, war ihre Untersuchung darauf bedacht, ein Bild der Stadt und ihrer Architektur
zu gewinnen, das durch keinerlei Werturteile verzerrt
werden sollte.
Las Vegas als Emblem der Populärkultur
Das schillernde, medial vermittelte Image von Las Vegas
rief früh auch eine intellektuelle Auseinandersetzung
auf den Plan. Im Zentrum stand dabei die Frage, welchen Platz die Stadt in der amerikanischen Gegenwartskultur einnahm. Einen frühen Schlüsseltext bildete
in dieser Hinsicht der Essay «Las Vegas (What?)
Las Vegas (Can’t hear you! Too noisy) Las Vegas!!!!»
des amerikanischen Autors Tom Wolfe. Dieser Beitrag
nährte nicht nur Venturis und Scott Browns Interesse
an einer eingehenden Auseinandersetzung mit der
Wüstenstadt massgeblich; er prägte überdies ihre
Wahrnehmung von Las Vegas entscheidend mit. 21)
Erstmals publiziert wurde der Beitrag im Februar 1964
in der Zeitschrift Esquire. 1965 – und damit rechtzeitig
vor Venturis und Scott Browns erster gemeinsamer
Reise nach Las Vegas – folgte der Wiederabdruck im
Rahmen des Sammelbandes The Kandy-Kolored Tangerine-Flake Streamline Baby, in dem sich Wolfe, ein
an der Yale University ausgebildeter Anglist, zu verschiedenen Themen der amerikanischen Populärkultur
19
äusserte. 22) Im Kontext der Zeit ungewöhnlich an seinem
Zugang war, dass er den massenkulturellen Phänomenen nicht als elitärer Snob begegnete, sondern darin
ganz im Gegenteil eine vitale und authentische neue
amerikanische Volkskultur erkannte. Wolfe sah in den
mitunter skurrilen Ausprägungen dieser Populärkultur
einen eigentlichen amerikanischen Stil, ja «Amerikas
erste unbewusste Avantgarde!». 23) G) Was den Strip von
Las Vegas betraf, so beschrieb ihn Wolfe neben dem
Versailles des Sonnenkönigs gar als die einzige «architektonisch einheitliche Stadt der abendländischen
Geschichte». 24) Erstmals in der Geschichte hatte sich
die Massengesellschaft hier seiner Auffassung nach
eine Stadt nach ihren eigenen Werten und Vorstellungen geformt: «Das Wichtige an Las Vegas ist nicht,
dass seine Erbauer Gangster, sondern dass sie Proleten
waren.» 25) Die Ästhetik des Las Vegas Strip war demnach, frei nach Siegfried Kracauer, ein «Orna­ment der
Masse» der Gegenwart. 26) Kulturelle Entwicklung
­vollzog sich gemäss Wolfe nicht (mehr) im Sinne eines
«Top-down»-Prozesses, in dem die ästhetischen Präferenzen der privilegierten sozialen Schichten von den
übrigen Klas­sen imitiert wurden, sondern im Gegenteil als eine «Bottom-up»-Bewegung. Wolfes Darstellung gemäss war das sozial Periphere/Marginale zugleich das ästhetisch und kulturell Relevante. Diese
These lieferte Venturi und Scott Brown, die selbst der
architektonischen Hochkultur angehörten, eine Rechtfertigung für ihre Beschäftigung mit Las Vegas. Neben
Wolfe spielten in dieser Hinsicht auch die Schriften
des Soziologen Herbert Gans eine entscheidende Rolle,
auf die sich Venturi und Scott Brown wiederholt bezogen. 27) Die kulturelle Bedeutung von Learning from
Las Vegas lag mithin, soziologisch gesprochen, in der
Orientierung der Architektur am «Unten», an der
­Ästhetik der amerikanischen Populärkultur. Dafür erhielten Venturi und Scott Brown in Wolfes Schriften
entscheidende Impulse, in denen sich freilich die Inter­
essen der zeitgenössischen Pop Art spiegelten.
Las Vegas im Architekturdiskurs der Zeit
Nicht zuletzt unter dem Eindruck von Tom Wolfes Ausführungen waren auch andere wichtige Stimmen im
Architekturdiskurs auf Las Vegas aufmerksam geworden. Im Diskurs, der sich abzeichnete, stand die Frage
im Vordergrund, inwiefern Las Vegas als Modell einer
Stadt der Zukunft gelten könne. Besonderes Gewicht
erhielten in diesem Zusammenhang die Ausführungen
des britischen Architekturhistorikers Reyner Banham,
der sich in der Folge Wolfes in einer Reihe von Texten
mit Las Vegas auseinandersetzte. 28) Bereits 1967, also
noch vor dem Erscheinen der ersten Fassung von
Venturis und Scott Browns Las-Vegas-Text, konstatierte er: «Las Vegas ist heutzutage eine verbindliche
29) «Las Vegas is now a ������
mandatory stop-over in the English
­architectural student’s grand tour
of North America.» Banham 1967
(wie Anm. 28), S. 331.
30) «What defines the symbolic
places and spaces of Las Vegas
– the superhotels of The Strip, the
casino-belt of Fremont Street – is
pure environmental power, manifested as coloured light […] [I]n a
view of architectural education
that embraced the complete art of
environmental management, a visit
to Las Vegas would be as mandatory as a visit to the Baths of Caracalla or La Sainte Chapelle.» Vgl.
Reyner Banham: The Architecture
of the Well-tempered Environment.
Chicago (The University of Chicago
Press), 1969, S. 269. – Für die
­(abweichende) offizielle deutsche
Übersetzung vgl. Reyner Banham:
«Die Architektur der wohl-temperierten Umwelt», in: Arch+ 93
(1988), S. 20−98, hier S. 84.
31) «[…] one of the great works
of collective art in the Western
World.» Vgl. Reyner Banham:
«Q: What Is the Main Drag of the
­American Fantasy? A: The Las
Vegas Strip, in Case You Hadn’t
Noticed … », in: Los Angeles Times
WEST magazine, 8. November
1970, S. 36–41, hier S. 39.
32) Mendelsohns Faszination für
Lichtarchitektur kam etwa in seinem Amerika-Buch zum Ausdruck.
So hiess es neben einer Nacht­
aufnahme aus New York: «Tagsüber
füllt sich die Stadt mit Energie,
nachts sprüht sie alles Leben von
sich.» (S. 25). Interessant ist
­Mendelsohns Kommentar zum
Broadway, den er unter der Überschrift «Das Groteske» einordnet:
Hier wird sorgsam zwischen Tagund Nachtarchitektur unterschieden. Zum Broadway bei Nacht
heisst es: «Unheimlich. Die Konturen der Häuser sind ausgewischt.
Aber im Bewusstsein steigen sie
noch, laufen einander nach, überrennen sich […]. Noch ungeordnet,
aber doch schon von phantastischer Schönheit, die einmal vollendet sein wird.» (Tafel 44). Dagegen
bei Tage: «Verliert das Geheimnisvolle, Rauschende, Gleissende der
Nacht. Ist nur ungezügelt, wild,
überschreit sich selbst. Grandiose
Tölpelei des Weltjahrmarktes»
(Tafel 45). Vgl. Erich Mendelsohn:
Amerika. Bilderbuch eines Architekten. Berlin (Rudolf Mosse),
1926. – Zu Scheerbart vgl. Paul
Scheerbart: Glasarchitektur. Berlin
(Gebr. Mann), 2000, S. 99 und
S. 71.
20
33) «The point of studying Las
Vegas, ultimately, would be to see
an example of how far environ­
mental technology can be driven
beyond the confines of architectural practice by designers who
(for worse or better) are not inhibited by the traditions of architectonic culture, training and taste.»
Banham 1969 (wie Anm. 30),
S. 269f. − Für die (abweichende)
offizielle deutsche Übersetzung
vgl. Banham 1988 (wie Anm. 29),
S. 84.
34) Banham 1969 (wie Anm. 30),
S. 270. Vgl. dazu auch ein weiteres
Statement Banhams aus dem Jahr
1975: «Decades ago the great
movie palaces transformed themselves by draping their structures
in neon and lights. More recently
the casinos of Las Vegas revealed
that with enough light one could
almost aban­don structure. The
spaces of that wild city tend to be
defined by masses of light that
often have no building around
them or behind them. It may sound
strange, almost blasphemous, to
say so, but it is in Las Vegas that
one comes nearest to seeing gross
matter transformed into aetherial
[sic] substance by the power of
light.» Reyner Banham: Age of the
Masters. A Personal View of
­Modern Architecture. London
­(Architectural Press), 1975, S. 62.
H)
35) Vgl. dazu Nigel Whiteley:
Reyner Banham. Historian of the
Immediate Future. Cambridge,
Mass. und London (MIT Press),
2002, S. 187–243.
36) Peter Cook, Dennis Crompton
und Ron Herron: «Instant City.
First Stage», in: Architectural Design 39 (1969), Nr. 5, S. 276–280.
37) «The use of electrics-as-place
is important. Las Vegas suggests
that a really powerful environment
can be created simply by passing
an electric current – in daytime the
hardware is nothing. Lights com­
bined with cinema projection can
make the whole place a city where
there is no city. It is suggested
that the visitor himself could play
with large areas of this lighting so
that he makes it happen rather
than gawp at it.» Cook/Crompton/
Herron 1969 (wie Anm. 36), S. 280.
– Mit ihrer Einschätzung nahmen
sie Tom Wolfes Beitrag vorweg, der
in der gleichen Zeitschrift zwei
Nummern später erschien als
«Electrographic Architec­ture», in:
Architectural Design 39 (1969),
Nr. 7, S. 380–382.
I)
H) Der New Yorker Broadway
bei Nacht: Abbildung aus Erich
Mendelsohns Amerika. Bilderbuch
eines Architekten, 1926
I) Archigram (Peter Cook,
Dennis Crompton, Ron Herron):
«Instant City», 1969
Zwischenstation, wenn englische Architekturstudenten ihre Grand Tour durch Nordamerika machen». 29)
In seinem Standardwerk The Architecture of the Welltempered Environment kam Banham 1969 neuerlich
auf Las Vegas zu sprechen. An der Wüstenstadt interessierte ihn in erster Linie die spektakuläre nächt­
liche Lichtarchitektur, während er der Form und Ästhetik der Stadt bei Tage weit weniger Relevanz beimass:
«�������������������������������������������������
Was die symbolischen Räume und Plätze von Las Vegas ausmacht – die Superhotels am Strip, der Kasinogürtel an der Fremont Street –, ist reine umwelttech­
nische Energie, die als farbiges Licht zum Ausdruck
kommt. […] [D]ie Effektivität, mit der Raum definiert
wird, [ist] überwältigend […], die Schaffung virtueller
Volumina ohne sichtbare Konstruktion ist einmalig, die
Vielfalt und Genialität der Lichttechnik ist unendlich
gross. […] Aus der Sicht einer Architekturausbildung,
die die gesamte Kunst der Behandlung und Gestaltung
der gebauten Umwelt umfassen würde, wäre ein Besuch von Las Vegas ebenso unverzichtbar wie ein Besuch der Caracalla-Thermen oder der Sainte Cha­
pelle.» 30)
Für Banham war Las Vegas erst in der Nacht «ganz
sich selbst» («truly itself»); die nächtlich erleuchtete
Stadt erschien ihm gar, frei nach Wolfe, als «eines der
grossen Werke kollektiver Kunst in der westlichen
Welt». 31) Banham bewegte sich hier auf den Spuren
der deutschen Expressionisten wie Erich Mendelsohn,
der zu Beginn des 20. Jahrhunderts der Sublimation
architektonischer Form im Licht entgegengesehen
hatte, oder wie Paul Scheerbart, der von den «unbeschreiblichen» «Lichtnächten» und von «anderem»,
das heisst «farbigem» Licht geträumt hatte. 32) H)
Zwar verwies Banham implizit auf Venturis und Scott
Browns Las-Vegas-Seminar, indem er wiederholt die
Wichtigkeit betonte, die dem Besuch der Wüstenstadt
in der zeitgenössischen Architekturausbildung zukam.
Im Unterschied aber zu Venturi und Scott Brown interessierte ihn weder der Aspekt räumlicher Organisation
und zeichenhafter Kommunikation noch jener des Austauschverhältnisses zwischen der Ästhetik der Populärund der architektonischen Hochkultur. Für Banham
stand vielmehr der technologische Aspekt im Vordergrund: «Der springende Punkt bei der Beschäftigung
mit Las Vegas ist letztlich, darin ein Beispiel zu sehen,
wie weit die Umwelttechnologie über die herkömmlichen Grenzen der Architekturpraxis hinaus ­getrieben
werden kann, und zwar von Entwerfern, die sich – bei
allen Vor- und Nachteilen – weder von den Traditionen
der architektonischen Kultur noch von ihrer Ausbildung oder ihren Geschmacksurteilen einschüchtern
lassen.» 33)
21
Die Aufmerksamkeit des Architekten verdiente Las
Vegas gemäss Banham weder weil es den Prototyp
­einer auf die automobilisierte Wahrnehmung ausgerichteten Form der Stadt darstellte, noch weil seine Form
und Ästhetik einen Bilderschatz für die zeitgenössische Architekturproduktion bereithielt, wie Venturi und
Scott Brown suggerierten. Vielmehr bestand die Relevanz von Las Vegas für Banham darin, dass es gebaute
architektonische Substanz in ätherische Lichtform
überführt hatte. Las Vegas markierte daher für Banham
den Übergang «von Formen im Licht zu Licht als
Form» («������������������������������������������
from forms assembled in light to light assembled in forms»). 34) Darin kam seine grundlegende
Überzeugung zum Ausdruck, dass Architektur zusehends ihre traditionelle Rolle als Formgeberin verlieren
und zu einer Art amorpher Software für eine Lebensumwelt mutieren würde. Architektur interessierte ihn
zusehends nicht mehr im Sinne eines formalen Pro­
blems, sondern als «den menschlichen Aktivitäten angepasste Umwelt» («fit environment for human activ­
ities»), die sich von einer rigiden Struktur zu einem
wandelbaren und unarchitektonischen Behältnis emanzipiert hatte. 35) In diesem Denksystem war Las Vegas
für ihn ein Testfall dafür, wie weit die Verwandlung von
Architektur ins Ätherische gehen könnte.
Wohl nicht zuletzt auf Anregung Banhams hin setzte
sich in diesen Jahren auch die britische Architektengruppe Archigram mit Las Vegas auseinander. I) Mit
«Instant City» präsentierten die Architekten Peter
Cook, Dennis Crompton und Ron Herron im Mai 1969
einen utopischen Entwurf für eine ephemere Stadt,
die als eine Art Wanderzirkus durch die englische Provinz ziehen sollte. 36) Mit ihrem provisorischen Cha­
rakter, ihrer Verwendung von Gasballons, ihren grafischen Zeichen, insbesondere aber aufgrund ihrer
Licht- und Tonspektakel, die auf grossfor­matigen Leinwänden projiziert werden sollten, mutete «Instant
City» wie ein Stück Fest- oder Ausstellungsarchitektur an. Zugleich rezipierte sie aber auch die flächige
und bildbezogene «Billboard»-Architektur des Las
Vegas Strip. In der Tat verwies Archigram am Schluss
des Beitrags auf Las Vegas als real existierendes Vorbild für «Instant City». Dabei strich die Gruppe ganz
in Einklang mit Banham den technoiden Charakter im
Sinne einer reinen, nicht an architekto­nische Form gebundenen elektrischen Lichtarchitektur hervor: «Der
Gebrauch einer den Ort definierenden Elektrik ist
wichtig. Las Vegas suggeriert, dass allein durch das
Fliessen von elektrischem Strom eine kraftvolle architektonische Umwelt geschaffen werden kann – tagsüber sind diese Apparaturen nichts. Licht, durch Filmprojektionen ergänzt, kann aus einem Ort eine Stadt
machen, wo es eigentlich gar keine Stadt gibt.» 37)
38) Sala geisselte in seinem unter
dem Titel America Revisited 1883
publizierten Reisejournal «the
coarseness and indecency of the
quicksalvers’ announcements […]
which alarm and disgust the eye
at every turn […] [T]he loveliest
spots in the scenery of this vast
continent are blighted with these
loathsome stigmata – the portents
of shameless imposture and rapacious greed for gold.» Zitiert nach
Charles F. Floyd und Peter J.
Shedd: Highway Beautification.
The Environmental Movement’s
Greatest Failure. Boulder (Westview), 1979, S. 16.
39) Paul Schultze-Naumburg:
Kulturarbeiten, Band IX. Die
­Gestaltung der Landschaft durch
den Menschen, III. Teil, hrsg. vom
Kunstwart. München (Callwey),
1917, S. 315 und S. 324.
40) Vgl. Architectural Review 108
(Dezember 1950), Nr. 648.
41) «Townscape», aber auch die
zugrunde liegende «picturesque
tradition» übten einen eminenten
Einfluss auf das Architektur- und
Stadtverständnis von Venturi und
Scott Brown aus. Aus Platzgründen
kann an dieser Stelle nicht vertieft
auf diesen Zusammenhang eingegangen werden.
46) «Is not Main Street almost all
right?» Robert Venturi: Complexity�������������������������������
and Contradiction in Architec���������
ture, The Museum of Modern Art
Papers on Architecture 1. New York
(The Museum of Modern Art),
1966, S. 102.
47) «Mine is an African view of
Las Vegas.» Vgl. Denise Scott
Brown: «Some Ideas and Their
History», in: Robert Venturi und
Denise Scott Brown: Architecture
as Signs and Systems. For a
­Mannerist Time. Cambridge, Mass.
und London (The Belknap Press of
Harvard University Press), 2004,
S. 105–119, hier S. 105–108.
48) «These early African experiences first raised the polarity of ‹is›
and ‹ought› for me. Here it was
the ‹is› of the ‹colony› and the
‹ought› of the ‹mother country›,
and it could be translated���������
�������������������
artistically into a question: What environment lies around us, and how is
this different from what the media
of the dominant culture (mostly
English) suggest should be there?»
Scott Brown 2004 (wie Anm. 47),
S. 107.
J)
42) Vgl. «What City Pattern?»,
in: Architectural Forum 105 (September 1956), Nr. 3, S. 103–137.
43) Vgl. Philip Morris: «Architect
Casts Vote for BIGGER Billboards»,
in: Oklahoma Journal, 10. November
1967, in: «Ed Bacon & Billboards»,
Box VSB 26, Architectural Archives, University of Pennsylvania and
Pennsylvania Historical and Mu­
seum Commission; Rose DeWolf:
«Billboard Fans And Lady Bird», in:
The Philadelphia Inquirer, 14. November 1967, in: «Ed Bacon &
Billboards», Box VSB 26, Architectural Archives, University of Pennsylvania and Pennsylvania Historical
and Museum Commission.
44) Wie Anm. 14.
45) Vgl. Peter Blake: God’s Own
Junkyard. The Planned Deterioration of America’s Landscape. New
York, Chicago und San Francisco
(Holt, Rinehart and Winston),
1964.
K)
J) Bildseite aus dem Themenheft «Man Made America» der
Zeitschrift The Architectural
­Review, Dezember 1950
22
K) Peter Blake: God’s Own
­Junkyard, 1964, Titelseite
Venturi und Scott Brown setzten bei ihrer eigenen Erkundung von Las Vegas abweichende Schwerpunkte.
Zwar zeigten auch sie sich von der nächtlichen Lichtarchitektur des Strip und der Fremont Street im
Stadtzentrum fasziniert. Mehr noch stand für sie aber
der Blick des mobilisierten Betrachters im Zentrum
des Interesses, der ihrer Auffassung nach die Form und
Ästhetik der zeitgenössischen Stadt mit ihren Bill�����
boards und in ihrer zeichenhaften Dimension erklärte.
Stadtbild im Disput
Die unvoreingenommene Betrachtung dieser Form und
Ästhetik der zeitgenössischen Stadt, die Venturi und
Scott Brown mit Learning from Las Vegas unternahmen, musste sich gegen einen Kanon von Stimmen
durchsetzen, die den Niedergang des Stadtbildes in der
Nachkriegszeit beklagten. Freilich blickte dieses Lamento selbst auf eine eigene kulturelle Tradition zurück,
wobei insbesondere die übergrossen Werbetafeln
Stein des Anstosses waren. So hatte sich der englische
Journalist George Sala bereits Ende des 19. Jahrhunderts besorgt über das amerikanische Landschaftsbild
geäussert, das von der Allgegenwart der hässlichen
Reklametafeln bedroht werde. 38) Im deutschen Kulturkreis war es insbesondere Paul Schultze-Naumburg,
der in seinen Kulturarbeiten seiner diesbezüglichen Besorgnis Ausdruck verlieh. 39) Mit der rapiden Automobilisierung erhielt das Thema im amerikanischen Kontext nach 1945 neue Brisanz. Einen Auftakt machte
das Sonderheft «Man Made America» der britischen
Architectural Review vom Dezember 1950. 40) J) Die
Nummer stellte eine als Bilderbogen formulierte Anklageschrift gegen das Bild der amerikanischen Stadt
der Gegenwart dar und stand im Zeichen der «Town­
scape»-Philosophie, die damals von der Architectural
Review vertreten wurde. 41) In die gleiche Richtung und
mit vergleichbar bildbezogener Argumentation zielte
das amerikanische Architectural Forum im September
1956 mit einer Sondernummer, die sich um die Frage
«By 1976 What City Pattern?» drehte. 42) Diese Publikationen widerspiegelten die herrschende Stimmung
der Zeit, wurden doch im Laufe der 1950er Jahre
­zusehends politische Forderungen laut, die nach einer
Reglementierung der Aussenwerbung entlang den
amerikanischen Schnellstrassen und in den Stadtzentren riefen und die 1965 in der sogenannten «Highway Beautification Act» resultierten. Learning from
Las Vegas stellte zweifellos den Versuch einer Replik
auf Publikationen dieser Art dar.
Diese Entwicklungen bildeten den Hintergrund für
Venturis Engagement zugunsten der «Billboard».
In einer Kampagne setzte er sich in mehreren Referaten
für die (wohl nicht ganz ernst gemeinte) Gründung
23
eines «Committee To Preserve our Billboards» ein, 43)
die in direktem Zusammenhang mit der Abfassung des
Manuskripts zu Las Vegas steht. 44) Einen weiteren
­Anlass für diese Aktion gab eine weitere Publikation, in
der mit der Form und Ästhetik der amerikanischen
Stadt Gericht gehalten wurde, nämlich Peter Blakes
God’s Own Junkyard aus dem Jahr 1964. 45) K) In bewährter Manier beklagte der Autor darin den angeb­
lichen kulturellen Zerfall, der sich in der Verschandelung der Landschaft und der Städte zeigte. Bereits in
seiner ersten Buchpublikation Complexity and Contradiction in Architecture aus dem Jahr 1966 reagierte
Venturi auf diese These mit der Frage: «Ist die Main
Street nicht beinahe ganz in Ordnung?». 46) Die Frage
bildete gleichsam den Auftakt zur Auseinandersetzung mit dem Strip von Las Vegas, die zum Zeitpunkt
der Veröffentlichung von Complexity and Contradiction bereits ihren Anfang genommen hatte. Wie wichtig
die Rolle von Blakes Buch für Learning from Las
­Vegas als eine Art Kontrastfolie war, kommt überdies
auch darin zum Ausdruck, dass Venturi und Scott
Brown für ihre Architekturtheorie jene «Ente» adoptierten, die Blake am Strassenrand auf Long Island
«entdeckt» und zur Illustration seiner Ausführungen
in God’s Own Junkyard herangezogen hatte. L)
Neben Venturi hatte sich auch Scott Brown früh für
eine unvoreingenommene Bestandesaufnahme der
Stadt und der gebauten Umwelt der Gegenwart stark
gemacht. Zu dokumentarischen Zwecken machte sie
sich früh die Fotografie zunutze. Gemäss eigener Darstellung war ihre Kindheit in einem neokolonialen
Umfeld in Südafrika ausschlaggebend für ihr späteres
Interesse an populärkulturellen Phänomenen wie dem
Strip von Las Vegas, dessen kommerzielle Ästhetik
gegen die kulturellen Normen und Werte der architektonischen Hochkultur der Zeit verstiess: «Mein Blick
auf Las Vegas ist ein afrikanischer.» 47) Denn: «Diese
frühen afrikanischen Erfahrungen haben mir den
­Gegensatz von ‹ist› und ‹sollte› eröffnet. In Afrika
war es das ‹Ist› der ‹Kolonie› und das ‹Sollte› des
‹Mutterlands›; dies liess sich in die künstlerische Frage
übersetzen: Welche Umwelt umgibt uns und wie
­unterscheidet sie sich von dem, was die Medien der
dominanten Kultur (der englischen vor allem) vorgeben,
wie sie sein sollte?» 48)
Zur Diskussion stand damit nicht die Stadt, wie sie sein
sollte, sondern die Stadt, wie sie tatsächlich ist. In
Scott Browns frühen Erfahrungen war aber auch eine
Sensibilisierung für marginalisierte Subkulturen und
eine Wertschätzung von deren ästhetischen Präferenzen angelegt. Die populärkulturelle Bildwelt der ame­
rikanischen Städte gehörte aus der Sicht Scott Browns
zu diesen marginalisierten Phänomenen. Am Strip von
49) Denise Scott Brown, Interview,
23. August 2003, Petit Saconnex,
Genf.
50) Vgl. Jonathan Green: American Photography. A Critical History
1945 to the Present. New York
(Abrams), 1984, S. 164.
51) Vgl. Venturi and Rauch: Signs
of Life: Symbols in the American
City, Ausstellungskatalog Renwick
Gallery of the National collection
of Fine Arts, Smithsonian Institu­
tion, Washington, DC. Washington,
DC (Aperture Inc.), 1976. – Zu
Baeder vgl. John Baeder: Diners.
New York (Abrams), 1978; ders.:
Gas, Food, and Lodging. New York
(Abbeville Press), 1982; sowie
ders.: Sign Language: Street Signs
as Folk Art. New York (Abrams),
1996.
52) «I had a vision that I was
being a great reporter when I did
the gas stations […]. It was just a
simple, straightforward way of
getting the news and bringing it
back.» Ed Ruscha zitiert nach
David Bourdon: «��������������
Ruscha as Publisher (or All Booked Up)», in:
Artnews 71 (April 1972), Nr. 2,
S. 32 – 36, hier S. 33.
L)
53) Vgl. Henri Man Barendse:
«Ed Ruscha: An Interview», in: Ed
Ruscha: Leave Any Information
After the Signal: Writings, Interviews, Bits, Pages, hrsg. von
­Alexandra Schwartz. Cambridge,
Mass. und London (MIT Press),
2002, S. 210–219, hier S. 215. Vgl.
dazu auch Katherine A. Smith:
Sign Language: Pop Art, Vernacular
Architecture, and the American
Landscape. Diss. New York University, 2003, S. 63f.
54) Bourdon 1972 (wie Anm. 52),
S. 33f.
55) Auf diesen Zusammenhang
hat Phyllis Rosenzweig hingewiesen. Vgl. Phyllis Rosenzweig:
«Ed Ruschas Künstlerbücher», in:
Neal Benezra und Kerry Brougher:
Ed Ruscha. Zürich (Scalo), 2002,
S. 178–188, hier S. 181f. – Dem­
gegenüber hat Margit Rowell die
Verbindung zur Konzeptkunst jüngst
in Frage gestellt: Vgl. Margit Rowell:
Ed Ruscha, Photographer. New
York/Göttingen (Whitney Museum
of American Art/Steidl), 2006,
S. 21.
M)
L) «Dekorierter Schuppen» vs.
«Ente»: Die zwei Modi architektonischer Kommunikation gemäss
Learning from Las Vegas
24
M) Denise Scott Brown:
«Approaching New York», 1963
Las Vegas sah sie diese in ihrer reinsten Form manifestiert.
Scott Browns Prägung kommt in zahlreichen ihrer
­Fotografien seit den frühen 1960er Jahren und nicht
­zuletzt in ihren Las-Vegas-Bildern klar zum Ausdruck.
Als Fotoamateurin begegnete sie nach der Übersiedlung in die Vereinigten Staaten ihrem neuen städtischen und architektonischen Umfeld mit wachem und
unverbrauchtem Auge. Bereits unter den frühen Aufnahmen von 1959 finden sich Zeugnisse für den Blick
des automobilen, sich bewegenden Betrachters von
der Strasse auf die Stadt, der in Learning from Las
Vegas bestimmend wird. M) Eine Reihe von Aufnahmen,
die im Sommer 1964 im Bundesstaat Tennessee entstanden, belegt eine entscheidende Entwicklung in
Scott Browns Bild der urbanisierten Landschaft. Neben herkömmlichen Motiven rücken vermehrt Themen
in den Vordergrund, die auch in Learning from Las
­Vegas im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen: Plakatwerbung als Teil der Ästhetik der zeitgenössischen
Stadtlandschaft, der Blick von der Strasse auf die suburbane Siedlungsform sowie, ganz grundsätzlich, die
visuellen Auswirkungen der Automobilisierung auf die
Umwelt. Scott Browns visuelle Erkundung des ame­
rikanischen Westens datiert auf das Jahr 1965, wo sie
im Frühjahrssemester in Berkeley unterrichtete. Auf
ihrer Reise von Philadelphia an die Westküste boten
Städte wie Austin, Houston, Dallas, Phoenix oder Las
Vegas An­lass zu zahlreichen Zwischenhalten. 49) Die
entstandenen Aufnahmen dokumentieren das Interesse
an den angesprochenen Aspekten des Stadtbilds, mit
denen sich zeitgleich eine Reihe professioneller Fotografen beschäftigte.
Stadtbilder in der Pop-Fotografie
Die Ästhetik der automobilisierten amerikanischen
Stadt rückte ab den 1950er Jahren in der Kunst und
insbesondere der Fotografie zusehends in den Blickpunkt. Das galt etwa für Dennis Hopper, der 1961 eine
Standard-Tankstelle aus dem fahrenden Auto fotografierte. Der Blick für das Alltägliche und Banale zeigte
sich aber auch in den Werken von Fotografen wie
­Robert Adams, Lewis Baltz, Joe Deals, Frank Gohlke
und Stephen Shore, deren Bildsprache nach einer
gleichnamigen Ausstellung im Jahr 1979 als «New Topographics» bekannt wurde. 50) N) Neben den Aufnahmen Shores erwiesen sich auch die Arbeiten von John
Baeder im Hinblick auf Venturi und Scott Brown einflussreich, der sich vor allem mit farbenprächtigen
Aufnahmen alltäglicher amerikanischer Kommerzarchitektur einen Namen machte. Venturi und Scott Brown
scheinen die Arbeiten dieser beiden Fotografen zum
Zeitpunkt ihrer Beschäftigung mit Las Vegas noch
25
nicht gekannt zu haben; sie fanden aber 1976 Eingang
in die von den Venturis in Washington ausgerichtete
Ausstellung Signs of Life: Symbols in the American
City. 51)
Von herausragender Bedeutung für die Rezeption der
amerikanischen Stadt sowie der autoorientierten
(Stadt-) Landschaft im Medium des Bildes war in den
1960er Jah­ren der in Los Angeles ansässige Edward
Ruscha. Besonders wichtig waren in diesem Zusammenhang seine typologisch geordneten Fotoserien,
die die banale urbane Alltagswirklichkeit Südkaliforniens
dokumentierten. Ruscha stellte diese Bildserien zu
­einer Reihe von Künstlerbüchern zusammen. Den Auftakt dazu bildete die Arbeit Twentysix Gasoline Stations
von 1963. Neben diesem Erstling drehten sich fünf
weitere Publikationen um die Ästhetik der zeitgenössischen Stadt: Some Los Angeles Apartments (1965),
Every Building on the Sunset Strip (1966), Thirtyfour
Parking Lots in Los Angeles (1967), Nine Swimming
Pools and a Broken Glass (1968) sowie Real Estate
Opportunities (1970). O) Verschiedene der von Venturi
und Scott Brown veranlassten und von Scott Brown,
Steven Izenour und ihren Studenten gemachten Aufnahmen zu Las Vegas sind deutlich von Ruschas Blick
auf die Stadt angeregt.
Ruschas Fotografien der Stadtlandschaft zeichnen sich
durch einen dezidiert unter­kühlten, emotionslosen
und dokumentarischen Zugriff aus, der scheinbar jede
künstlerische Ambition vermissen liess. Seiner eigenen
Auffassung gemäss agierte der Künstler bei seinen
Aufnahmen als eine Art journalistischer Reporter. 52)
Im Vordergrund stand damit vielmehr die Suche nach
Faktizität und getreuer Wirklichkeitsabbildung denn
nach künstlerischem Ausdruck. Diese (angebliche)
Absenz jeden artistischen Anspruchs hat der Künstler
mit einem (ebenso angeblichen) Desinteresse an der
Fotografie bekräftigt. Demnach drehte sich sein Interesse einzig und allein um das abgebildete Objekt,
nicht aber um den künstlerischen Wert der Abbildung
selbst. 53) Ruscha bestritt gar, Gedanken an die Bildkomposition zu verschwenden, und behauptete, seine
Bilder spontan – im Sinne des amateur­haften Schnapp­
schusses – zu schiessen. 54) Die
����������������������
intendierte Auslöschung des künstlerischen Subjekts bzw. seines Verschwindens hinter der Faktizität des Vorgefundenen
bildet eine Parallele zur Art und Weise, wie Venturi und
Scott Brown in Learning from Las Vegas die Stadt
­behandelten: als ein Vorgefundenes, das primär dokumentiert und beschrieben werden soll. Ruscha ging
dabei in einer der Konzept­kunst verwandten Weise
vor. 55) Nicht nur die tendenzielle Abwertung des
handwerklichen Aktes gegenüber der theoretischen
Konzeption verbindet Ruschas Fotografie mit der
56) Zur Verbindung von Ruscha
zur Konzeptkunst vgl. Benjamin
Buchloh: «Conceptual Art 1962–
69: From the Aesthetic of Administration to the Critique of Institutions», in: October 55 (Winter
1990), S. 105–143, hier S. 119.
57) Vgl. Robert Venturi in «The
Summit», in: Alex Farquharson
(Hrsg.): The Magic Hour. The
��������
Convergence of Art and Las Vegas/
Die Konvergenz von Kunst und Las
Vegas. Graz (Neue Galerie Graz
am Landesmuseum Joanneum),
2001, S. 38–50, hier S. 48.
58) Vgl. Brief von Robert Venturi
an Ed Ruscha, 17. Dezember 1968,
«Correspondence», Box VSB 27,
Architectural Archives, University
of Pennsylvania and Pennsylvania
Historical and Museum Commission.
N)
59) Denise Scott Brown:
«On Pop Art, Permissiveness, and
Planning», in: Journal of the
American Institute of Planners 35
(Mai 1969), S. 184–186.
60) Scott Brown 1969 (wie
Anm. 59), S. 185f.
61) «[M]arked by an impassive
matter-of-fact manner, style or
expression». URL: http://merriamwebster.com/dictionary/deadpan
(16. Juli 2007).
62) «Es war eine als Objektivität
verkleidete Subjektivität – ein Wolf
im Schafspelz sozusagen. Wir
waren uns dessen völlig bewusst.»
(«It was a subjectivity garbed as
objectivity – a wolf in sheep’s
clothing. We were quite aware of
it.») Denise Scott Brown, persönliche Mitteilung, September 2008.
O1)
63) Zum «Deadpanning» vgl.
auch Michael Golec: «‹Doing it
Deadpan›. Venturi, Scott Brown
and Izenour’s Learning from Las
Vegas», in: Visible Language 37
(2003), Nr. 3, S. 266–287.
64) Venturi/Scott Brown/Izenour
1972 (wie Anm. 4), S. 26.
65) Bourdon 1972 (wie Anm. 52),
S. 35f.
O2)
N) Stephen Shore: La Brea Ave.,
1975, Blick auf die Route 66
26
O) Edward Ruscha: Some Los
Angeles Apartments, 1965,
Künstlerbuch, Titelseite und eine
Doppelseite
Konzeptkunst, sondern ebenso das Bestre­ben, künstlerische Subjektivität und erkennbare Autorschaft
auszulöschen, was anhand solcher Eigenschaften wie
der oft benannten «Coolness» oder der Nähe zum
Dokumenta­rischen sichtbar wird. 56) P)
Ruschas Bild der zeitgenössischen amerikanischen
Stadt bildete für Venturi und Scott Brown im Rahmen
von Learning from Las Vegas einen zentralen Referenzpunkt. Scott Brown war während ihres Aufenthalts
in Los Angeles in Zusammenhang mit einem Lehrauftrag an der University of California at Los Angeles
(UCLA) 1965−1967 auf den Künstler aufmerksam geworden. 57) Ihr Interesse an den (fotografischen) Bildern
des Künstlers deckte sich mit ih­rem eigenen Projekt
der fotografischen Dokumentation der alltäglichen
amerikanischen Stadtlandschaft. Im Herbst 1968 besuchte Denise Scott Brown mit ihren Studenten von
der Yale University Ruscha in seinem Atelier, bevor die
Gruppe für ihre Feldforschungen nach Las Vegas weiterreiste. 58) Auch verwiesen Venturi und Scott Brown
in verschiedenen ihrer Publikationen auf Ruscha, erstmals 1969 in Scott Browns Artikel «On Pop Art, Permissiveness, and Planning», der mit Abbildungen aus
Ruschas Künstlerbüchern illustriert war. 59) Scott
Brown hob überdies hervor, wie wichtig diese künstlerische Position für das Ansinnen sei, Form und Ästhetik der zeitgenössischen Stadt wahrzunehmen und
darzustellen. Von besonderer Bedeutung im Hinblick
auf Learning from Las Vegas war der Umstand, dass
Scott Brown darin Ruschas Blick auf die Stadt mit
dem Adjektiv «deadpan» («ausdruckslos») in Verbindung brachte. 60) Gemäss Wörterbuch bezeichnet das
Adjektiv «eine teilnahmslose, neutrale Art, ein eben­
solcher Stil oder Ausdruck». 61) Ab den 1940er Jahren
wurde auch das Verb «deadpan» in der Bedeutung
von «to speak, act or utter in a deadpan matter; to
maintain a dead pan» gebräuchlich. Der Terminus bedeutet also, äussere Eindrücke ohne sichtbare Gefühlsregung aufzunehmen. Mit «Deadpanning» bezeichnet Scott Brown mithin eine spezifische Art und
Weise, einen visuellen Sachverhalt zu betrachten und
zu dokumentieren. Durch das «Deadpanning» wird
dieser Sachverhalt (vermeintlich) auf seine Faktizität
reduziert, währenddem «gestalterische» Eingriffe
weitgehend vermieden werden. Es versteht sich von
selbst, dass diese Haltung ihrerseits eine höchst artifizielle künstlerische Setzung bedeutet. Statt von einer
dokumentarischen oder «objektiven» Sicht auf die
Welt müsste man beim «Deadpanning» vielmehr von
einer Rhetorik der Objektivität sprechen. 62)
«Deadpanning» wurde in Lear­ning from Las Vegas zu
einer konkreten Handlungsanweisung, als es darum
ging, ein Bild der Stadt der Gegenwart zu gewinnen. 63)
27
Das gilt insbesondere für eine Abbildung, die sich in
der ersten Auflage von Learning from Las Vegas über
volle vier Seiten erstreckt. Q) Diese Illustration bildet
eine lückenlose, im Bildmedium der Collage repräsentierte fotografische Wiedergabe der Bebau­ung des
Strip von Las Vegas auf beiden Seiten der Strasse
zwischen Tropicana Avenue und dem Hotel Sahara ab.
Somit folgt diese Abbildung konzeptuell direkt der
Vorgabe von Ruschas Leporello Every Building on The
Sunset Strip; eine Verbindung, die Venturi und Scott
Brown mit der Bildlegende «‹Edward Ruscha›�������
elevation» 64) deutlich auswiesen. Nicht nur konzeptuell,
­sondern auch auf der Ebene der Technik folgten Venturi
und Scott Brown Ruscha bei der Erarbeitung eines
Bildes der Stadt, das auf Faktizität und Emotionslosigkeit bedacht war. Wie der Künstler ersetzten sie die
selektive Wahrnehmung des menschlichen Auges
durch den mechanischen Blick der Kamera (und waren
dabei höchst selektiv!). Für die Aufnahme des Strip
wurde eine Kamera, die mit einem Motor ausgerüstet
war, auf der Haube eines Autos platziert. Auf der
anschlie­ssenden Fahrt dokumentierte die Kamera beide
Strassenseiten lückenlos und ohne menschliches
­Zutun. Es handelte sich mithin um den Versuch, das
Stadtbild mit der von Georg Simmel in «Die Großstädte und das Geistesleben» beschriebenen Haltung
der «Blasiertheit» zu erfassen, die emotionale Ebene
also auszuschalten.
Indes lässt sich Venturis und Scott Browns Sichtweise
nicht auf den Aspekt des Dokumentarischen reduzieren. Auch behaupteten sie keineswegs, ein solches Ziel
zu verfolgen, begegneten sie ihrem Untersuchungs­
gegenstand doch mit Ironie. Zahlreiche ihrer Fotografien zeugen von diesem ästhetisch motivierten Blick,
der ihnen − unter Ausblendung der dokumen­tarischen
Erforschung des Bildes der Stadt – in der Rezeption
verschiedentlich als Glorifizierung vorge­worfen wurde.
Auch bei Edward Ruscha sind zwei deutlich verschiedene Strategien der Visualisierung der zeitgenössischen
Stadt auszumachen. Dabei fällt auf, dass der Künstler
klar zwischen den Medien bzw. Gattungen trennt.
Während seine Fotografie einem ausgesprochen dokumentarischen Blick verpflichtet ist, überhöht der
Künstler in seinen Drucken und Gemälden seine Motive
durch Eingriffe wie die Verschiebung des Blickwinkels,
eine leuchtende Farbgebung oder die Steigerung des
Massstabs und trägt damit zu deren Idealisierung bei.
David Bourdon hat in diesem Zusammenhang von
­einer «dualen Ästhetik» gesprochen. 65) Sie gilt gleichermassen auch für die visuelle Annäherung Venturis
und Scott Browns an Las Vegas.
66)������������������������������
Für eine ausführliche Darstellung dieser Fragestellung vgl.
­Martino Stierli: «Die ‹Er-fahrung›
der Stadt. Las Vegas, Film, Automobilität, in: Andreas Beyer,
­Matteo Burioni und Johannes Grave
(Hrsg.): Das Auge der Architektur.
München (Fink), 2009 (in Vorbereitung).
67) Wie Anm. 2.
P)
Q)
P) Edward Ruscha: Every Build­
ing on the Sunset Strip, Leporello,
1965, Detail
28
Q) «‹Edward Ruscha› elevation
of the Strip» aus Learning from
Las Vegas, Detail
Die «Er-Fahrung» der Stadt
Die neue, auf das Automobil ausgerichtete Form der
Stadt verlangte gemäss Venturi und Scott nach veränderten, dynamischen Formen der Darstellung. Aus­
gehend von der Prämisse, dass die Wahrnehmung des
urbanen Raumes in erster Linie durch einen sich bewegenden, automobi­lisierten Betrachter erfolge, dieser
Raum also buchstäblich «er-fahren» werde, stützten
sich Venturi und Scott bei ihrer Analyse des Strip auf
bewegte Bilder, Techniken des Films und protofilmische Bildsequenzen. Damit schlossen sie nicht nur an
den modernen Topos der Dynamisierung des Raumes,
aber auch etwa an Experimente im Umfeld des Deutschen Werkbunds an; sie konnten sich überdies auf
eine Reihe zeitgenössischer Forschungen stützen, die
die Stadtwahrnehmung als filmisches Erlebnis beschrieben hatten. 66) Denise Scott Brown im Besonderen
wies verschiedentlich auf die Möglichkeiten des Me­
diums Film zur Analyse und Darstellung der zeitgenössischen Stadt hin, die im Rahmen des Las-Vegas-­
Seminars mit den Studenten erprobt wurden. 67) Dieser
Fokus auf filmische Techniken der Stadtdarstellung
ist in der Buchpublikation deutlich ablesbar. Das gilt besonders für eine Sequenz aus schwarzweissen Filmstills, die über volle zwei Seiten des Buches ausgebreitet ist und die eine Autofahrt auf dem Strip illustriert.
Die zeitliche Abfolge, die im statischen Medium des
Buches nicht abgebildet werden kann, wird hier in eine
räumlich-lineare Ordnung übersetzt.
Während ihres Forschungsaufenthalts in Las Vegas
fertigten die Studenten des Yale-Seminars mehrere
Filme an, die aus je unterschiedlichen Blickpunkten die
Wahrnehmung des Stadtraumes durch einen sich bewegenden Betrachter ins Bild rückten. Steven Izenour
kam bei der Herstellung dieser Filme eine Schlüsselrolle zu. Der erste davon hat eine Laufdauer von rund
21 Minuten und trägt die Bezeichnung «Las Vegas
Deadpan». Dieser Titel verweist auf den Modus des
(scheinbar) emotionslosen Rapportierens, den Venturi
und Scott Brown in Anleh­nung an Ed Ruschas Fotografie, aber auch als Reaktion auf jene Architekten
entwickelt hatten, die sich als Visionäre gebärdeten. R)
Es handelt sich um eine unkommentierte Aufzeichnung einer Autofahrt auf dem Strip. Sie wird dem Aspekt des «Deadpanning» insofern gerecht, als die fix
auf dem Auto montierte Kamera ohne jede hori­zontale
oder vertikale Bewegung die sich vor der Linse abzeichnende Stadtlandschaft doku­mentiert. Im Unterschied zu diesem unaufgeregten «Stadtporträt»
zeichnet sich ein zweiter Film durch eine vergleichsweise bewegte Kameraführung aus. Er trägt die Bezeichnung «Las Vegas Strip LfLV Studio (Day: Night)»,
hat eine Laufzeit von rund 14 Minuten und wurde vom
29
Semi­narteilnehmer Dan Scully angefertigt. Der stark
divergierende Habitus der Darstellung verweist auf
das Arbeitsprogramm, demgemäss mit verschiedenen
Methoden der Visualisie­rung experimentiert werden
sollte. Im Unterschied zur «blasierten» Stossrichtung
des «Deadpan»-Filmes geht es hier primär um den
Aspekt der Zei­chenhaftigkeit der Architektur entlang
dem Strip. Dasselbe gilt auch für einen weiteren Kurzfilm, der einen bei Tageslicht ge­filmten Helikopterflug
über den Strip dokumentiert. Der Fokus der Kamera
liegt hier auf den turmhohen Werbeschildern der HotelCasinos entlang der Strasse, die die einzigen archi­
tektonischen Elemente dieser eigentümlichen Stadtlandschaft darzustellen scheinen.
Der spektakulärste der überlieferten Filme trägt die
Bezeichnung «Las Vegas Electric» und hat eine Laufzeit von nur rund vier Minuten. S) Wiederum handelt
es sich im Wesentlichen um eine Fahrt durch Las Vegas,
wobei hier im Unterschied zu den vorgängig besprochenen Filmen die nächtliche Beleuchtung insbesondere an der Fremont Street im Zentrum von Las Vegas
im Vordergrund steht. Im Unterschied zur lockeren
Be­bauung am Strip ist der Aspekt relativer städtischer
Dichte an der Fremont Street deutlich in Szene gesetzt, womit der Massstabsprung einer fussgänger- zu
einer autoorientierten Form der Stadt zur Darstellung
kommt. Die ausschliesslich bei Nacht erstellten Aufnahmen unterstreichen das Interesse an der Ästhetik
der Lichtarchitektur. Im Vergleich zum «Deadpan»Streifen zeichnet sich dieser Film durch einen ausgesprochen artistischen und bisweilen experimentellen
Zugang aus. In einer quasi-surrealen Sequenz finden
sich die Lichtspektakel der Stadt, die sich vor dem
schwarzen Hintergrund abheben, an einer hori­zontal
verlaufenden Achse gespiegelt. Eine weitere Passage
zeigt eine Untersicht der grellbunten Neonröhren über
dem Trottoir an der Fremont Street und verwandelt
diese in eine psychedelische Abstraktion aus Farben,
Formen und Licht. Die Aufnahmen erscheinen bisweilen als geradezu «wörtliche» Zitate der Einführungssequenz von George Sidneys Produktion Viva Las
­Vegas aus dem Jahr 1964.
Indem Venturi und Scott Brown die Sequenzialität der
automobilisierten Wahrnehmung in der zeitgenössischen Stadt betonen, konnten sie in gewisser Hinsicht
an ein Forschungsprojekt am Massachusetts Institute
of Technology (MIT) zur «Wahrnehmungsform der
Stadt» anknüpfen, das unter der Leitung von Gyogy
Kepes und Kevin Lynch stand. Letzterer publizierte
seine Forschungsresultate 1960 in dem berühmt gewordenen Buch The Image of the City. Bereits darin machte er darauf aufmerksam, dass die Stadt der Gegenwart in protofilmischen Bildsequenzen «er-fahren»
68) Kevin Lynch: The Image of
the City. Cambridge, Mass. (The
Technology Press/Harvard University Press), 1960, S. 113.
69) «[T]he perceptual impact of
the urban highway on the driver
and his passengers». Gyorgy Kepes und Kevin Lynch: «Summary of
Accomplishments: Research Project on the Perceptual Form of the
City», ca. 1959, 8, Box 4,
Kepes Papers, AAA, zitiert nach
Reinhold Martin: The Organization­
al Complex. Architecture, Media,
and Corporate Space. Cambridge,
Mass. und London (The MIT
Press), 2003, S. 138.
R)
70) Vgl. Venturi/Scott Brown/
Izenour 1972 (wie Anm. 4), S. 9.
71) «The sense of spatial
­sequence is like that of large-scale
architecture; the continuity and
insistent temporal flow are akin to
music and the cinema.» Donald
Appleyard, Kevin Lynch und John R.
Myer: The View from the Road.
Cambridge, Mass. (MIT Press),
1964, S. 4.
72) «We are […] tempted to go
into motion pictures, which record
sequences in a permanent form
that can be shown to large groups
of people. Movies may be taken
of existing highway sequences,
either at normal speed or at exaggerated speeds, to convey in brief
the essentials of the major visual
effects.» Appleyard/Lynch/Myer
1964 (wie Anm. 71), S. 20.
S)
73) Vgl. Martino Stierli: «Die
Stadt ins Bild gerückt. Der ‹Alameda Report› als Beispiel visueller
Stadtanalyse bei Venturi und Scott
Brown», in: Vittorio Magnago
­Lampugnani und Matthias Noell
(Hrsg.): Stadtformen. Die Architektur der Stadt zwischen Imagination
und Konstruktion. Zürich (gta),
2005, S. 282–299.
T)
R) Sequenz aus dem Film
Las Vegas Deadpan, erstellt von
Studenten des «Learning from
Las Vegas Research Studio», 1968
S) Sequenz aus dem Film Las
Vegas Electric, erstellt von
Studenten des «Learning from Las
Vegas Research Studio», 1968
T) Donald Appleyard, John Myer,
Kevin Lynch: The View from the
Road, 1964, Titelseite
30
werde. 68) Die zentrale Bedeutung dieser These für das
gesamte Forschungsprojekt unterstrichen Kepes und
Lynch überdies in ihrem Abschlussbericht. Dort ist von
der Analyse «der Wirkung der ­städtischen Schnellstrasse auf die Wahrnehmung des Fahrers und seiner
Passagiere» die Rede. 69) Zu diesem Zweck waren Fahrten über verschiedene Highways in Neuengland in
­einer Kombination aus Foto­grafie, Film und schriftlichen
Zeugnissen dokumentiert worden. Das Auto wurde
so zu einer Maschine für eine neue Wahrnehmung der
Stadt, ein «Sehen in der Bewegung», eine «Vision in
Motion». Zum zentralen Untersuchungsgegenstand
schliesslich wurde der Zusammenhang von Auto­
mobilität, Wahrnehmung und Stadtform in dem Band
The View from the Road, den Lynch 1964 in Zusammenarbeit mit Donald Appleyard und John Myer publizierte und der direkt an das MIT-Forschungsprogramm anschloss. T) Auf diese Publikation wurde in
Learning from Las Vegas direkt verwiesen. 70)
Das Ziel des Buches bestand darin, Gestaltungsrichtlinien speziell für städtische Schnellstrassen zu ent­
wickeln, die es dem Autofahrer erlauben würden, die
Stadt als ästhetisch ansprechende Einheit wahrzunehmen. Der Architekt wird zu einem Regisseur des
Blicks. Hier knüpfte Learning from Las Vegas an. Wie
für Venturi und Scott Brown war auch für die Autoren
von The View from the Road die Wahrnehmung der
Stadt eine sequenzielle, dem Kino wesensverwandte
Erfahrung: «Der Sinn einer räumlichen Sequenz ist
wie der der grossen Architektur; die Anschlüsse und
der nachrückende zeitliche Fluss sind verwandt mit
Musik und Kino.» 71) Entspre­chend war ihrer Auffassung nach das Medium Film zur Darstellung der Stadt
der Gegenwart am besten geeignet. 72) Die Bedeutung
von The View from the Road in Bezug auf Learning
from Las Vegas wird zu­sätzlich durch den Umstand
unterstrichen, dass Venturi und Scott Brown sich auf
Notations­techniken abstützten, die Appleyard, Lynch
und Myer zur Dar­stellung der Sequentialität der dynamischen Wahrnehmung der Stadt entwickelt hatten.
Das gilt insbesondere für die Arrangierung von Bildsequenzen zu vertikalen Reihen. Die Autoren von The
View from the Road lieferten ihren Lesern überdies
eine «Leseanleitung» in Form von lateral angeordneten
Pfeilen – dies ist nur eine von mehreren Darstellungstechniken, die Venturi und Scott Brown verwendeten
und die sie teils aus so architekturfremden Disziplinen
wie Musik oder Tanz übernommen hatten. U) Die Technik kommt zwar in Learning from Las Vegas selbst
nicht zur Anwendung, wohl aber in dem wenig bekannten «Alameda Report», aus dem Jahr 1977, der sich in
vielfacher Hinsicht auf die Las-Vegas-Studie abstützte. 73)
31
Learning from Las Vegas im Kontext
Mit Learning from Las Vegas knüpften Venturi und
Scott Brown inhaltlich und methodisch an bestehende
Diskurse an. Gleichwohl hat sich die Studie einen
­festen Platz in der Architektur- und Städtebautheorie
des 20. Jahrhunderts verschafft. Dafür gibt es gewichtige Gründe. Venturi und Scott Brown gehörten
zu den Ersten, die den Aspekt des Alltäglichen, des
Banalen und Hässlichen in die Architektur- und Städtebaudiskussion einbrachten. Learning from Las Vegas
verfolgte das Ziel, die Ästhetik des Strip als Produkt
einer authentischen amerikanischen Populärkultur zu
begreifen, die gleichsam spontan und ohne Zutun eines
Architekten oder einer anderen planenden Instanz
zu einer gültigen Form gefunden hatte, in der sich die
Idee einer Stadt «von unten» manifestierte. Mit ihrer
Programmschrift traten Venturi und Scott Brown
nicht nur dafür ein, dass Architekten die Ästhetik der
kommerziellen Populärkultur Amerikas akzeptieren
sollten, sondern dass diese Ästhetik den Ausgangspunkt für eine zeitgemässe Entwurfspraxis darstellen
könne. Entscheidend war, dass die real existierende
Stadt vorausgesetzt und akzeptiert wurde. Venturi
und Scott Brown sahen sich in erster Linie in der Rolle
von Lesern und Interpreten eines bestehenden kulturellen und städtischen Aggregats. Mit dieser Haltung
gingen sie auf Distanz zum Rollenbild, das sich der
moderne Architekt zugedacht hatte, nämlich dasjenige
des gottähnlichen Demiurgen, der sich nicht der urbanen Realität verpflichtet sah als vielmehr einer sozialen und architektonischen Utopie, die es erst noch zu
verwirklichen galt. Das Revolutionäre am Ansatz von
Venturi und Scott Brown bestand darin, der Rhetorik
der Revolution abzuschwören zugunsten einer Zentrierung architektonischen Denkens und Handelns auf
das Hier und Jetzt, das sie mit ihrer fotografischen
und filmischen Forschung am Strip visualisierten. Die
Arbeit mit dem und am Bild der Stadt wurde somit zu
einem zentralen Anliegen. Dieses Insistieren auf der
real existierenden Stadt ist das bleibende Vermächtnis
von Learning from Las Vegas.