32 - Ensuite

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32 - Ensuite
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august 2005 | 3. jahrgang
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kultur: ein jahr progr_zentrum für kulturproduktion
mein name ist eugen!
musik: von murten classics zu marilyn manson
NEU: artensuite
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Unverbraucht.
Lange Erfahrung schärft den Blick. Die NZZ schildert Ihnen in unverbrauchter, pointierter Sprache jeden
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KULTUR&GESELLSCHAFT
der progr: ein treibhaus 6/ 45
ich schutte also bin ich 10
der behelmte mann: kriegserfahrungen 13
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LITERATUR
kurt aebli, thomas lang und eva menasse 11
letzte lustseite 32
MUSIK
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Titelseite und rechts: Mein Name ist Eugen: Ein Boot bricht durch die Decke der Familie Wrigley (Patrick Frey, Sabina Schneebeli, Janic Halioua)
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Vor allem...
■ ...möchte ich alle LeserInnen nach unserer Sommerpause wieder ganz
herzlich begrüssen. Eigentlich hätte diese Nummer gar ein 72-Seiten-Heft
werden sollen, doch in Bern ist im August nichts los - das mussten wir
in letzter Sekunde feststellen und bauten das gesamte Heft wieder um.
Redaktionell sind wir gut bestückt und es fehlt uns nicht an Material: Über
20 RedaktorInnen schreiben unterdessen monatlich für ensuite – und es
werden immer mehr. Die Kehrseite ist auch klar: Wir müssen bis Ende Jahr
40‘000 Franken zusätzlich auftreiben. Das fordert, gibt uns aber auch ein
klares Ziel und Vision vor. (Helfen sie mit: Bestellen sie doch jetzt schnell
das Abonnement… www.ensuite.ch oder 031 318 60 50).
In unserem kurzen Ferien-Unterbruch hatten wir Zeit zum Denken und
Basteln. Da ist eine Idee gezüchtet worden, die wir in dieser Ausgabe vorstellen möchten und natürlich Euer Feedback erwarten: artensuite. Eine
Art «Feedback» ware zum Beispiel in Form eines Abos…
Ansonsten beruht die grosse Kinolastigkeit dieser Ausgabe auf der
Tatsache, dass wieder gute Schweizer Filme in die Kinos kommen und
natürlich auch, dass die SchauspielerInnen und Veranstalter der Berner
Bühnen auf der faulen Sommerhaut rumliegen. Apropos Kino: Wir haben
– nach dem Ergebnis der erfolgreichen «Rhytm is it» -Vorpremiere – wieder eine solche für Bern erhalten: Angry Monk (seite 14) – eben von einem Schweizer Filmemacher. Und dies gerade jetzt, wo der Tibet und Dalai
Lama in aller Munde ist.
Dass «Mein Name ist Eugen» ebenfalls in die Kinos kommt, freut mich
ungemein und erinnert mich an meine Physik- und Chemiestunden in
der Sekundarschule. Ich weiss mehr über Eugen, als über Newton oder
chemische Prozesse. Hätte man eine Eugen-Prüfung absolvieren können,
so wären unsere Klassen einsame Spitzen gewesen. Ich kann auch nicht
sagen, dass ich in diesen Vorlese-Schulstunden überlebenswichtiges verpasst hätte. Im Gegenteil: Der eugensche Humor hat in meinem Leben
wohl mehr Spuren hinterlassen und meinem «Kind-in-mir» das Lächeln
gelassen.
Und in diesen Gedanken wünsche ich einen schönen August und drehe
meine Vegi-Grillwurst auf die andere Seite.
Lukas Vogelsang
sommerfestspiele murten classics 22
cd-tipps 23
marilyn manson in avenches 24
sommerfoyer - wott nur tanze 27
one chip - wo willst du hin...? 27
yoro massa – der mit den kühen tanzt 43
KINO/FILM
ballernde pazifisten - dear wendy 15
mein name ist eugen 16
in my father‘s den 18
antikärper 18
the island 19
das andere kino 20
DIVERSES
kulturnotizen 4
romy und delon - wiedersehen am swimmingpool 28
menschen: die freude am leben 29
stadtläufer 30
menschen & medien: was hat paul klee mit dem
terror in london zu tun? / fauser cartoon 31
ensuite - Sommerspiel 47
LIFESTILE
esstipp: st. gervais in biel 30
A G E N D A 32
kulturagenda bern 33
NEU:
artensuite
art in bex :: bex und art 50
galerien in bern 52
museen bern/biel/thun 55
kulturagenda biel 57
NEU: kulturagenda thun 63
4
K U L T U R N O T I Z E N
In eigener sache:
DIE ZEIT:
BESTER ARTIKEL 2005…
IM ENSUITE - KULTURMAGAZIN
■ Die deutsche Wochenzeitung DIE ZEIT kürte
den ensuite Artikel «Mit Deep Throat & Koks im
Hinterzimmer der Mafia» von Stephan Fuchs zum
besten Blog-Artikel 2005. Der Porno Film Deep
Throat schrieb 1972 Filmgeschichte, räumte mit den
letzten Resten des Hayes-Code-Filmzensursystems
auf und holte den Pornofilm aus der Illegalität in
den Mainstream.
Eine Heerschar ausgehungerter Männer und
Frauen strömte in die Kinos, um die neue freie
Nacktheit zu sehen und einen Hauch der sexuellen
Revolution mitzubekommen. Linda Boreman, die
Hauptdarstellerin des Filmes, wurde später zur radikalen Sprecherin der Frauen im Pornogeschäft… als
Gegnerin der Branche. Sie stand auf gegen die Bestialität, die sie jahrelang an sich erduldete. Stephan
Fuchs beschrieb in seinem Artikel die Umstände
hinter der Kamera: Die Mafia Familie Colombo kontrollierte die Filmproduktion. Es ging um das Geld
der Paten, um Koks, um Massen- Vergewaltigung mit
Waffengewalt. Die Frau starb drei Tode… überlebte
Drogen, brutale Pimps in Goldketten und Prügel…
nicht aber die versagenden bremsen ihres Autos.
Der Artikel erschien, nach der Erst-Publikation
im ensuite kulturmagazin in diversen Printmedien,
unter anderem auch in Pornomagazinen und online
Medien sowie auf dem Blog von Stephan Fuchs, bei
oraclesyndicate.twoday.net. Die Geschichte wurde
von der ZEIT nominiert und die Jury, bestehend aus
Katharina Borchert, Wolfgang Harrer, Dirk Hesse,
Nico Lumma und Gero von Randow (DIE ZEIT), haben sich nach zweiwöchiger Klausur für den Artikel
von Stephan Fuchs entschieden. (vl)
DAS KLEINE SCHWARZE
IM MALO BOLO
10 Jahre Farben klecksen, auf Kissen rumsitzen nicht
rumrennen und schon gar nicht rumhüpfen. sila’s müssen sein, bei so vielen ibus... auch in einem Malo Bolo,
dem Haus der kleinen und grossen Utopien. Utopien?
Eigentlich nicht, abgesehen von der Namensgebung
Malo Bolo, die sich anschmiegt an das grossartige kleine schwarze Buch bolo bolo des Schweizer Utopisten
P.M. Jener schuf die utopische Welt, in der wir wohl nie
leben werden. Die Welt in jener sich die Menschen, die
ibus, in bolos zusammenschliessen und die Abmachung
zwischen den ibus und der Gesamtheit der bolos eben
sila heisst.
Braucht es ein Malo Balo in der Welt des High-techs,
des rasend schnellen Sturmes der erweckten Schreckgespenster die über die wildwüchsigen bolos hinwegfegen? Unbedingt und je länger desto dringender.
Simone Eisenhut und Mauro Bruni haben die Notwendigkeit bereits vor 10 Jahren realisiert, 1999 übernahm
Eisenhut die Atelierleitung und feiert dieses Jahr die
Oase. Malo Bolo ist Malen und Gestalten für jedermensch. Pädagogisch und gestalterisch ausgebildetes
Fachpersonal bietet klare Inhalte und Strukturen mit
viel Freiraum im Atelier an. Nicht nur Knirpse gehen ins
Malo Bolo, sondern auch Firmen die ein Stück Utopie
Wirklichkeit werden lassen wollen, Männer und Frauen,
die entdecken wollen, das kann auch durchaus therapeutischen Charakter haben. Muss aber nicht. Malo Bolo
weckt die Kinder, schenkt ihnen eine wichtige Zeit und
Erfahrung. Es setzt die Keimlinge für kreative, mutige
und einfühlsame Menschen von morgen, Menschen die
wir dringendst brauchen, die den Sturm bändigen können. Das Konzept von Eisenhut hat die Werte der gesellschaftlichen Veränderungen und Bewegungen miterlebt und ist in den vergangenen zehn Jahren nicht darin
ertrunken. Im Gegenteil, es ist Motivation immer wieder
neue Wege zu suchen, neugierig und offen zu sein, sich
begeistern zu lassen und zu wagen.
Solange es ibus wie Simone Eisenhut gibt, besteht die
filigrane Hoffnung, dass die Welt nicht vor die Hunde
geht... das soll keine Utopie sein! (sf)
Kontakt: Atelier Malo Bolo, Tscharnerstrasse 11, Bern.
Tel: 031-371.67.68
WENN NICHT
FLIEGEN
DANN SCHWOFEN
Dass die aufmunternde Süssstoff Bude Redbull Flügel
verleiht bleibt weiterhin ein Gerücht. Wahr ist jedoch,
dass sich bereits zum achten mal die Crème de la Crème
der internationalen Gleitschirm- und Deltapiloten zum
Bullschen Flugmeeting trifft. Jenes findet vom 18. bis
21. Juni in Villeneuve (VD) statt. Dieses Jahr wird jedoch
nicht nur unter allen Umständen geflogen, sondern auch
unumständlich geschwoft. Sounds aus aller Welt wollen
sich jeweils am Freitag und Samstag auf dem Place de
l’Ouchettaz mit internationalen Bands und Musikern am
Red Air Festival treffen. Openair Liebhaber erwartet
eine breite Palette von Ska, Reggae und Funk bis Ragga.
Also Grund genug wenn nicht zu fliegen, dann wenigstens zu schwofen. Die Live Acts finden vom 19. bis 21.
August von 19:30 bis 2:00 statt... und gibt es das noch?
Der eintritt ist kostenlos. Infos: www.redbull-vertigo.com
(sf)
K U L T U R N O T I Z E N
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ALTE HASEN MIT
NEUEM JOB
Jüre Hofer wird neuer Kulturverantwortlicher der Kulturbeiz Bären in Münchenbuchsee. Er wird der Nachfolger von Alex von Hettingen, dem langjährigen Strippenzieher des hochwertigen Kulturprogrammes im Bären.
Hofer ist Gründungsmietglied der Bären Buchsi AG und
war in den letzten Jahren als ihr Verwaltungsratspräsident in beratender Form tätig. Der Kulturjournalist,
Radiopionier und DJ übernimmt von seinem Vorgänger
eine in Besucher- und Künstlerkreisen äusserst beliebte
Bühne. Der in aller Freundschaft wegziehende von Hettlingen hat den Bären durch Qualität, Vielfalt und Konsequenz zu einem der renommiertesten Kultur- und Kultorte der Region gemacht. Dies wird auch in zukunft so
bleiben: Jüre Hofer denkt nicht im Traum daran, an dem
erfolgreichen konzept etwas zu ändern. auch in Zukunft wird im Bären Buchsi Musik der unterschiedlichsten
töne und Kleinkunst aller Art neben den kulinarischen
Schleckereien und edlen tropfen zu hören, sehen, riechen, schmecken und geniessen. sein. (sf)
OLIVER STONES NEUER
FILM ODER SCOTTLAND
YARD NR. 2
6. BIS 7. AUGUST 2005
AFRIKANISCHES KULTURFEST UND MÄRIT
■ Mit dem dritten Afrikanischen Kulturfest auf der
kleinen Schanze in Bern am Wochenende des 6./7. August bietet das Swiss African Forum zwei Dinge an:
Erstens: Den Afrikanerinnen und Afrikanern die
Gelegenheit zu zeigen, wie Afrika auch ist, einen bunten
inter-afrikanischen Stadtplatz in Bern aufleben zu lassen und sich damit zu öffnen, in den afrikanischen Alltag und zum Kennenlernen einzuladen.
Zweitens: Den Bernerinnen und Schweizern die
Gelegenheit, Afrikas Migranten kennenzulernen, auf sie
einzugehen und besser zu verstehen. Der Markt wird
die Besuchenden mit ungewohnten Speisen verwöhnen, mit Tänzen begeistern, mit Mode und Hairstyle
verschönern, mit Gerüchen und Trank verzaubern, mit
Touristen-Informationen entführen. Und plötzlich wird
sich die Zeit entschleunigen: So gemütlich ist Afrika in
Bern. Das OK hofft auf viel Besuch und afrikanisches
Wetter. (bg)
SWEET LORRAINE BRINGEN DEN SWING INS
DÄHLHÖLZLI
■ Das Publikum in Bikini und Badehose, die Bandmitglieder stilecht mit weissem Hemd und schwarzer
Hose bekleidet – so trat das Quintett Sweet Lorraine
im letzten Sommer in der Lorraine-Badi auf. Bei anderer Gelegenheit sollen auch schon Bundesräte das
Tanzbein geschwungen haben, als Sweet Lorraine mit
ihrem gepflegtem Swing das Betriebsfest einer Bundesbehörde bereicherten. Sweet Lorraine – der Name ist
Programm: Zum einen ist das Quintett in ebendiesem
Berner Quartier zuhause, zum andern zelebrieren sie
genüsslich Nat King Coles gleichnamigen Song aus den
50ern und überhaupt die Gassenhauer aus dem Great
American Songbook von All The Things You Are bis zu
What A Wonderful World... Nun werden Sweet Lorraine
zur Hausband im Restaurant Tierpark Dählhölzli; jeden
Dienstag abend bietet sich fürderhin die Gelegenheit zu
prüfen, ob die nicht unbescheidene Selbstdarstellung
des Quintetts zutrifft: «Die herbe Sinnlichkeit unserer
Musik erlaubt es dem Publikum, in Sentimentalitäten zu
baden, ohne dass sich der Festanlass in ein schunkelndes und grölendes ,Oktoberbierfest‘ auflöst»... (kb)
Sweet Lorraine. Restaurant Tierpark Dählhölzli. Jeweils
Dienstags von 19.00 bis 21.30 h
■ An die Perversionen des Alltages gewöhnen wir
uns ja nur allzu schnell. Die Zeitungen vermarkten
das Elend der Welt für einen Lumpigen Haufen Geld,
das Fernsehen lässt uns mit Mord und Totschlag
unterhalten - die Soap-Opera gibt nicht allzu viel
erbauliches her. Hollywood, in steter Bemühung
unübertrefflich zu sein, trifft mit der neusten
Meldung tatsächlich einen Vogel: Oliver Stone, ein
umstrittener Eposregisseur, hat soeben den Vertrag
für ein noch Titelloses Projekt unterzeichnet über
das World Trade Center – und dessen Fall, versteht
sich. In der Hauptrolle spielt niemand weniger als
Nicolas Cage – bekannt als Sammler und Jäger
aus einem seiner letzten Filme «National Treasure» (sucht er jetzt in den WTC-Trümmern weiter?).
Terrorakte werden also mit Stars und Sternchen
gewürdigt, es werden ihnen Denkmäler errichtet
und schon bald können wir die Heldentaten auf
der Kinoleinwand beklatsch – später gar auf DVD
im Heimkino mit Replay. Cool: Terrorist zu sein, ist
tatsächlich würdevoller, als grauender Tellerwäscher
im Casino. Die Geschichte hat die Redaktion von
ensuite – kulturmagazin auf den Plan gerufen und
wir vergeben hier ganz inoffiziell offiziell die Lizenz
für den erfolgreichen Spielbrettklassiker Scottland
Yard - nun mit der Nr. 2 und mit dem Titel: Eine
Stadt sucht Terroristen. Gemäss der vorangehenden
Spielanleitung können sie hier sogar die Bomben
selber legen und Fluchtwege austüfteln. Bewerbungen für diese Spiellizenz senden bitte gleich direkt
an die Britischen Oberhäupter… (vl)
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K U L T U R
&
G E S E L L S C H A F T
BEATE ENGEL / KATRIEN REIST
der progr:
ein treibhaus für kulturprodukte
■ Vor einem Jahr wurde das ehemalige Progymnasium am Waisenhausplatz, der
«Proger», in das «PROGR_Zentrum für Kulturproduktion» umgetauft und als Zwischennutzung und Förderprojekt der Abteilung Kulturelles in ein Atelierhaus mit Veranstaltungsprogramm umgewandelt. Am 28.August 2004 konnten wir die Eröffnung
gemeinsam mit dem Kunstmuseum feiern. Inzwischen hat sich viel getan: Die geplante Abteilung für Gegenwartskunst des Berner Kunstmuseums wird nicht wie anfangs
vorgesehen in dieses Gebäude einziehen, sondern in einen Neubau direkt beim Kunstmuseum. Trotzdem wird im PROGR weiterhin an den Grundlagen der Gegenwartskunst
und damit an der Zukunft junger herausragender KünstlerInnen gearbeitet, interdisziplinär und praxisbezogen und in enger Zusammenarbeit mit verwandten Institutionen
in Bern.
Auf 4’500 qm Raum bieten wir ca.70 Ateliers zu günstigen Bedingungen für mehr
als 100 ausgewählte Kulturschaffende vor allem aus dem Bereich der visuellen Künste, sowie aus den Sparten Theater, Tanz und Musik. Gleichzeitig ist der PROGR Projektwerkstatt und Veranstaltungsort. Dabei geht es uns nicht nur um die Präsentation
von Ausstellungen und Projekten, sondern darum, aktiv Begegnungen und Prozesse
zu initiieren und einen lebendigen Diskurs zwischen den Produzierenden aller Sparten
und dem Publikum zu fördern.
Das Ausstellungsprogramm zeigt, was in unseren Ateliers entsteht und knüpft Verbindungen zu den Aktivitäten der Berner Stadtgalerie. «Projekte in residence» halten
temporär Einzug, wie z.B. «Pass auf!», ein interaktives Passbüro zum Thema Einbürgerung von Adela Picon, oder das «BauBüro», ein künstlerisch genutzter Baucontainer, der unter Leitung von Rudolf Steiner und Barbara Meyer Cesta im Innenhof des
PROGR für Unruhe sorgt. Wir bauen auf die Eigeninitiative der PROGR_KünstlerInnen.
Die Plakataktion «Selbstporträt als Strasse» z.B., die vom 15. bis zum 27.08 auf dem
Waisenhausplatz präsentiert wird und an der 27 AtelierkünstlerInnen verschiedene
Strassen Berns in Plakatform porträtieren, wurde von Roland Lanz, Renée MaÐaÐa,
Martin Möll, Ana Roldan und Martin Wiesli initiiert. Auch die Ateliergemeinschaft «5
Freunde» ist inzwischen zur festen Grösse geworden. An jedem 5. im Monat wird ein
Programm gezeigt, in dem sich die fünf vertretenen Kultursparten immer wieder neu
vermischen, von der Multimedia-Performance zum Schlagerfestival. Demnächst eröffnet in der Ausstellungszone der «Leerraum [ ]», der von den Ateliermietern Michael Pfister und Zimoun kuratiert wird. Hier werden Installationen mit zeitgenössischer
Klangkunst präsentiert, und damit auch die Grenzen der visuellen Kunst hörbar gesprengt.
Die Erfahrungen des letzten Jahres haben gezeigt, dass ein grosses Bedürfnis bei
jungen Veranstaltern und Kulturschaffenden nach temporären Probe- und Veranstaltungsräumen vorhanden ist, um experimentelle Produktionen zu realisieren, die
immer öfter spartenübergreifenden Charakter haben. Hier übernimmt der PROGR
eine Förderfunktion, die eng verknüpft ist mit den Aufgaben der Berner Abteilung
Kulturelles. Wir betreuen und koordinieren ausgewählte Gastprojekte in Zusammenarbeit mit anderen Kulturinstitutionen in Bern. So konnte hier die Preisverleihung des
jungen Kurzfilmfestival SHNIT in Zusammenarbeit mit dem Kino Kunstmuseum in der
Turnhalle gefeiert werden, die erste grosse Modeschau der Modedesignerin Denise
Batumike in der Aula zelebriert werden oder die Berner Autorennacht mit gemeinsamen Produktionen von SchriftstellerInnen und SchauspielerInnen stattfinden. Vernetzt mit verwandten Institutionen arbeiten wir an der Umsetzung des erweiterten
Kulturbegriffs und am Brückenschlag zwischen den Kulturen, zum Beispiel mit einem
Beitrag visueller Kunst im Rahmen des Arabischen Festivals «La Mer Blanche» des
Schlachthaus Theaters. Bereits bahnen sich gemeinsame Projekte an von PROGR_
KünstlerInnen mit internationalen KuratorInen und KünstlerInnen, die hier als artists
in residence oder Ausstellende zu Besuch waren.
Durch den Einzug verschiedener Vereine und Kulturinstitutionen in den PROGR
ist ein Kraftfeld entstanden, das in die ganze Stadt und darüber hinaus ausstrahlt.
Die im Haus ansässige Künstlervereinigung Visarte Bern zum Beispiel erreicht über
ihre Mitgliederstruktur einen grossen Teil der Berner Künstlerschaft und ruft mit Ihrer
Diskussionsreihe Tacheles regelmässig dazu auf, Klartext zu reden, z.B. über Kulturpolitik, Stipendien, das Galerienwesen oder Off Spaces. Das Kino Kunstmuseum veranstaltet Kino-Events gegen den Mainstream. Die Hochschule der Künste hat nicht
nur Proberäume gemietet, sondern zeigt auch die Ergebnisse ihres interdisziplinären
Ausbildungsprogramms.
Das Interdisziplinäre ist gelebte Realität im Haus: Kulturmanager und Grafiker,
Elektromusiker und TänzerInnen entwickeln gemeinsame Projekte. Der Know How Transfer startet oft bei einem Gespräch auf dem Gang oder in der Cafébar. Die Wege
sind kurz: Hier werden Videofilme nicht nur in der Galerie Videokunst.ch gezeigt, sondern auch vor Ort geschnitten, ein Service, den die im PROGR ansässige Firma Videoedit nicht nur den PROGR-KünstlerInnen anbietet.
Das in der Schweiz einzigartige Projekt PROGR trägt bei zur Aufbruchstimmung in
Bern: neben grossen Institutionen wie dem Zentrum Paul Klee wird mitten im Stadtzentrum ein Zeichen gesetzt für die zentrale Bedeutung eines aktiven und vernetzten
jungen Kunstschaffens als Nährboden der Kulturstadt Bern. Mit Führungen durch die
Ateliers und mit Veranstaltungen und Ausstellungen möchten wir zeigen, wie heute
die Kunst von morgen entsteht und welche Themen für sie relevant sind.
Mehr über die Zukunftsaussichten des PROGR und über das, was in den Ateliers
passiert, erfahren Sie am Samstag dem 27. August. Dann feiern wir das einjährige Bestehen des PROGR mit offenen Ateliers und vielen Aktionen. Wir freuen uns auf neue
Begegnungen! / siehe www.progr.ch und PROGRammteil dieser ensuite (Seite 45).
Bilder: zVg.
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1 von 311 Haltestellen:
Wankdorf.
L I T E R A T U R
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Ein nicht alltäglicher Blick
Kurt Aebli:
Der ins Herz getroffene Punkt.
Verstörende Hirngespinste
Thomas Lang: Than. Roman.
Schnitzlers Erbin
Eva Menasse: Vienna. Roman.
■ Dem 1955 in Rüti geborenen Kurt Aebli ist mit «Der
ins Herz getroffene Punkt» nach mehreren Prosa- und
Gedichtbänden sein wohl bis anhin persönlichstes Werk
gelungen. Der Leser begleitet den müssiggängernden
Dichter Wellenberg, Aeblis alter ego?, durch ereignislose Tage, die erst durch die Beobachtungsgabe Wellenbergs beziehungsweise Aeblis zum Ereignis werden. So
beispielsweise: «Unserer gesamten unmöglichen Anlage entsprechend, werden wir in einen Krisenzustand hineingeboren und ahnen das ganze Leben hindurch nur
momentweise, wie der Normalzustand beschaffen sein
könnte.» (S. 105)
Aebli versucht uns hier nicht eine Handlung zu erzählen, sondern stellt neben den punktuellen Blicken
Wellenbergs auf dessen unmittelbare Umgebung und
das Weltgeschehen vor allem Gedanken über das Schreiben und den Schreibenden an sich an. Im Zentrum steht
die Entstehung eines Gedichts oder eines Stücks Prosa,
nicht das Geschriebene selbst. Aebli erschafft geradezu
eine Enzyklopädie des Schreibens sowie des Lebens eines Schreibenden. So thematisiert er auch immer wieder das Misstrauen, das einem wie ihm, der sich dem
unsteten Alltag eines Schriftstellers verschrieben hat,
entgegengebracht wird. Mitunter, wenn sich Wellenberg
eher als «Laufkäfer», denn als «Schriftsteller» bezeichnet, scheint er jenes Misstrauen sogar gewissermassen
zu teilen. Denn das Schreiben wird ihm scheinbar nur
durch das erlebte Schweigen auf langen Spaziergängen möglich,» ja, geradezu von diesem bedingt. Um
des Schreibens Willen wird folglich ein «normaler» Arbeitsalltag verunmöglicht.
Das vorliegende Werk ist weder Roman noch Erzählung, neben einzelnen Gedichten ist es vor allem eine
Sammlung an Aphorismen, die den Leser tatsächlich
mitten ins Herz zu treffen vermögen. Markus Bundi,
seines Zeichens Rezensent der Aargauer Zeitung, bedauert, dass solche Bücher heute kaum noch publiziert
werden. Freuen wir uns, dass Urs Engeler den Mut dazu
gefunden hat.
■ Der diesjährige Gewinner des Ingeborg BachmannPreises Thomas Lang beschert uns einen zutiefst verstörenden Roman.
Der Ich-Erzähler Moritz Than, durch einen Unfall verstummt, begibt sich auf eine schwach bevölkerte Insel
im Süden Deutschlands. Reagiert die Bevölkerung zunächst mit einem gewissen Interesse an seiner Person,
schlägt die anfängliche Symphatie schnell in Misstrauen
um. Dies vor allem in Zusammenhang mit einem Mordfall an einem Jungen. Und ähnlich wie Frischs Juden
in «Andorra», die dem von ihnen gemalten Stereotyp
zunehmend zu entsprechen beginnen, nährt auch Than
den Verdacht, der schon nach kurzer Zeit auf ihn fällt.
Nicht nur unterhält er mit der unehelichen Mutter und
Töpferin Ursula, in der er die erotische fotografische
Vorlage seiner Pubertät wieder zu erkennen glaubt,
eine sexuelle Beziehung, welche den Inselbewohnern
suspekt ist. Auch rettet er ein Kind zwar vor dem Ertrinken im See, sein Rettungsversuch wird jedoch, insbesondere von Hofer, dem Geliebten seiner Wirtin Liesthal, als Entführungsversuch dargestellt. Than versucht
in keinster Weise, diesen auf der Insel kursierenden
Gerüchten entgegenzuwirken. Und gerade diese lethargische Handlung der Hauptfigur wird für den Leser an
manchen Stellen nahezu unerträglich.
Neben den Charakteren aus dem Dorf taucht von
Zeit zu Zeit die mythologisch anmutende Figur des «Jägers» auf, die auch als alter ego Thans gelesen werden
kann. Doch auch Than scheint mit der Zeit die Gefahr,
die ein längerer Aufenthalt seinerseits mit sich bringen
würde, zu spüren. So beschliesst er aufzubrechen. Als
er sich von Ursula verabschieden will, findet er diese
bewusstlos in einem zerstörten Haus, ihre Tochter tot
in der Töpferwerkstatt. Daraufhin unternimmt er eine
virtuelle Reise zu seiner Exfreundin Agnes, welche er
bei seinem Gegenspieler Joél in Lyon vermutet. Doch
zu guter Letzt gibt es doch noch so etwas wie ein Happy
End.
■ Die FAZ-Feulletonistin Menasse gibt mit dem im Februar erschienen Roman Vienna ein fulminantes literarisches Debut. Die über mehrere Generationen erzählte Geschichte einer jüdischstämmigen Familie in Wien
fasziniert nicht zuletzt dadurch, dass die Autorin sich
vorgenommen hat, möglichst umfassend zu erzählen,
bishin zur abenteuerlichen Namensgebung einzelner
Protagonisten.
Interessanterweise bleiben aber gerade die Hauptfiguren des Romans, die beiden ungleichen Brüder,
namenlos, möglicherweise um eine autobiographische
Lektüre zu vermeiden. Diese werden während des Krieges nach England verschickt, wo der Jüngere sich zum
späteren Fussballwunder mausert, der Ältere, der eigentlich gegen die Faschisten ins Gefecht ziehen wollte,
hingegen als Mitglied der englischen Armee in Burma
gegen die Japaner kämpft. Mit ihrer Rückkehr nach
Österreich setzen zwei unterschiedliche Nachkriegserfolggeschichten ein. Der Fussballer mit sonnigen Gemüt
wird zum Profi und betreibt nebenher ein Geschäft, das
Westartikel an Ostsportler verkauft. Der ehemalige,
eher mürrische Soldat hingegen wird ein erfolgreicher
Geschäftsmann. Beide gründen nicht nur eine, sondern
gleich zwei Familien, deren Mitglieder sich wundersamerweise alle untereinander zu verstehen scheinen,
wie uns die jüngste Tochter des Fussballers als Ich-Erzählerin nahelegt. Nicht zuletzt ist der Roman aber eine
Erzählung über das Judentum an sich beziehungsweise
über die Selbstwahrnehmung der einzelnen Protagonisten in Bezug auf ihr Jüdischsein, welche sich von Generation zu Generation verändert. Weiter wird hier eine
Familiengeschichte in der Erinnerung ihrer Mitglieder
heraufbeschworen, deren zentrale Punkte mittels eines
schier unerschöpflichen Anekdotenfundus immer wieder aufs Neue zum Leben erweckt werden.
Eva Menasse ist, wenn auch heute in Berlin lebend,
eine Wienerin, die den Vergleich mit Arthur Schnitzler
nicht zu scheuen braucht und in vielen Bereichen dessen Erzählgestus fortzuführen vermag.
Auch wenn manche Rezensenten kritteln mögen,
dass ihr der Start in die Welt der Literatur zu leicht
gemacht worden sei, wünschen wir uns mehr Autoren,
denen die Lust am Fabulieren auf jeder Seite derart anzumerken ist.
Aebli, Kurt: Der ins Herz getroffene Punkt. Hrsg. von
Urs Engeler. Basel, Weil am Rhein, Wien 2005. ISBN3905591-87-1. S. 150.
Lang, Thomas: Than. Roman. Verlag Klaus Wagenbach.
Berlin 2002. ISBN 3 8031 3166 9. www.than-details.de.
S. 192.
Menasse, Eva: Vienna. Roman. Kiepenheuer & Witsch.
Köln 2005. ISBN 3-462-03465-0. S. 428.
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G E S E L L S C H A F T
Bild: zVg.
TILL HILLBRECHT
ich schutte also bin ich
Fussball gleich Schutten, gleich Spass, gleich Perspektive.
■ «Louis, Duncan und Lumbani, fussballspielende
Strassenkinder, betteln mich immer und immer wieder
an. Statt Geld schenke ich ihnen einen Fussball, damit
sie nicht mehr mit ihrem aus Plastiktüten zusammengebastelten Schutti-Bölle spielen müssen. Das Geschenk
stellt sich als sehr kostbar heraus: Die Kinder tragen
Sorge und bestimmen einen Delegierten, der für den
Ball verantwortlich ist. Es funktioniert. Dieser Moment
ist die Geburtstunde des Turniers.»
Helfen. Dieses Wort mag der Berner Martin Schaer
nicht mit seinem Tun in Malawi verbinden. Helfen wollte
der Lehrer, als er mit einer Hilfsorganisation das erste
Mal den Kontinent Afrika betrat. Seither weiss er, dass
Helfen in der Regel bedeutet, «viel Geld zu machen und
gut da zu stehen.» Helfen heisst auch: «Hier bestimmen
was dort passiert, ohne das Dort jemals gesehen zu haben.» Schaer entledigte sich deshalb kurzum der Bürokratie einer Organisation und geht nun nicht mehr nach
Afrika um zu helfen, sondern um zu geben und zu nehmen – auf eigene Faust: Er baut zusammen mit Einheimischen Schulhäuser und lernt und lehrt Kulturen kennen.
Er entdeckt das Ticken einer anderen Uhr, einer anderen
Gegenwart. Vier Schulhäuser sind es inzwischen geworden, jedes davon kostet rund 10 000 Franken. Ein Lehrer
aus der Schweiz also, der in Afrika Schulhäuser baut.
Speziell schon, aber doch irgendwie naheliegend. Was
aber, wenn die Kinder nicht im Schulhaus sind? Wenn
sie gar nicht erst dorthin gelangen, weil sie die Umstände des Lebens auf die Strasse gebracht haben? Dann
hebt sie Martin Schaers neuestes Projekt auf, «hilft»
den Kindern eben nicht sondern stellt sie lieber gleich
selbst in den Mittelpunkt: Als Schütteler von Schaers
lanciertem «Schutti-Projekt» – notabene der offizielle
Name – für die Strassenkinder Malawis.
Malawi ist ein Staat in Zentralafrika und gehört zu den
ärmsten Ländern der Welt. Man stellt sich in einem solchen Land nicht unbedingt asphaltierte Strassen vor,
wie wir sie hier kennen. Aber es gibt sie doch, nur in
weitaus schlechterem Zustand. Und ein Phänomen der
heutigen Zeit sei: Je schlechter die Verfassung der
Strasse, je mehr Kinder leben auf ihr.
Nun kommt ein Fremder nach Malawi und schenkt
genau diesen Kindern statt Geld ein Fussballturnier
– das Einfache liegt so nahe: Anstatt mit Franken Volksselbstwertgefühl und mit Coca-Cola Kultur zu zerstören,
schenkt er Ihnen mit einem Schutti-Turnier Vertrauen,
Sicherheit und die Gewissheit, dass jemand gekommen
ist, der ihnen bloss das bringen will, was hierzulande und
in der ganzen westlichen Welt so selbstverständlich ist.
Von der Plastiktüte zum Leder. Ein Rückblick: Eigentlich hat Schaer mit Fussball direkt nicht viel am
Hut. Die Geschichte mit den Strassenkindern und dem
Schutti-Bölle lassen ihn aber weniger an die Kraft der
Münze, sondern viel mehr an die des Spiels glauben. Wie
ermöglicht man diesen Kindern eine Zukunft? Der Berner findet im Ball den springenden Punkt, mit dem er
die Kinder für seine Projekte gewinnen kann. Dass das
Prinzip funktioniert, beweisen kurze Zeit später Duncan,
Lumbani und Louis: Sie gründen mit anderen eine Fussballmannschaft in Chirimbe, das «Team Mavuto» – Problem-Team. Und mit dieser Idee, Kindern für einmal nicht
Moral aufzutischen oder sie wie üblich mit Sachgütern
zu unterstützen, baut Schaer sein Konzept des SchuttiProjektes auf. Das war vor Jahresfrist. In diesem Sommer ist es nun soweit: Mit 100 Bällen und 200 T-Shirts
im Gepäck reist ein kleine Delegation um Schaer zum
Austragungsort Chirimbe, um rund 150 Kinder für zwei
Wochen aus dem Alltag zu reissen, sie nicht zu belehren,
sie nicht zu missionieren, sondern um sie Spass haben
zu lassen. Das Schüttele überlässt der Lehrer aber lieber denen, die es können. Und von diesen reisen sechs
mit Schaer nach Malawi. Unter ihnen ein Name, der dem
fussballinteressierten Schweizer durchaus bekannt sein
dürfte: Bernard Challandes, Trainer der Schweizer U21Nationalmannschaft. Das Ressort des Talentschmiedes
kann Challandes also sein Eigen nennen und bringt mit
fünf weiteren Fussballern Kompetenz genug mit, um
die Kids eine Woche lang in Gruppen zu trainieren und
danach während einer weiteren Woche am Turnier zu
coachen.
Township Chirimbe, Malawi. Austragungsort des Turniers ist Chirimbe, ein Township nördlich von Blantyre.
Ein Aussenbezirk, der im wesentlichen aus nicht mehr
als aus unzähligen zusammengebastelten Hütten besteht. Ausser einem grossen Platz aus Sand und Gras:
Dem Chirimbe Football Pitch, das Fussballfeld, auf welchem die Kinder Schüttelen werden. Nun, das Europäische Auge mag in diesem Platz nur entfernt ein Fussballfeld erkennen; Aber in Chirimbe wird darauf immer
gespielt, nicht in organisierten Klubs, sondern einfach
mit den Leuten die gerade dort sind. Im Sommer nun,
dürfte sich das Areal wenn nicht gerade in ein Stadion,
zumindest aber in einen Schauplatz von grossem Interesse verwandeln: Die Chiefs der Dörfer und Stämme
haben ihren Besuch angekündigt – was grundsätzlich
als grosse Ehre angesehen werden darf. Denn diese (die
treffendste Übersetzung ist wohl «Häuptling») haben
zwar keinen direkten politischen Einfluss, für das Volk
sind sie jedoch nach wie vor das Mass der Dinge. Selbst
der T/A ( Traditional Authority ) der Chiefs, vergleichbar
im Rang eines Königs, will sich den ungewöhnlichen Anlass nicht entgehen lassen. Und man stelle sich jetzt vor,
dass dieser ganze Tross nur zum Football Pitch kommt,
um den Kids beim Schutten zu zuschauen. Welche Entwicklungshilfe mag eine derart grosse Wirkung hervorrufen?
Die Vision. Eines scheint klar: Mit Schutten wird
Schaer den Kindern nicht helfen, auf der Strasse zu
überleben. Zum Überleben benötigt es grundsätzlich
Geld und Güter. Von Geld aber können die Kids nichts
lernen, es gibt ihnen keine Perspektive – im Gegenteil.
Im Mittelpunkt eines angesehen Ereignisses zu stehen
aber kann einem Kind eine Erinnerung bedeuten, die ein
Leben lang hält. Das Wissen, etwas aus eigener Hand
erreicht zu haben, dürfte an Nachhaltigkeit schwierig zu
überbieten sein. Mit dem Prinzip, «Wir zeigen wie etwas
funktioniert, aber machen müsst ihr es selbst», soll den
Kindern nicht westliche Hilfe oder weisses Gedankengut
in den Schoss gelegt werden. Vielmehr sollen sie auf
diese Weise ein Werkzeug erhalten, mit dem sie ihre eigene Kultur erlernen und erhalten können, mit dem sie
sich Selbstvertrauen aufbauen und sich schlussendlich
aus mehrheitlich eigener Kraft von der Strasse zu holen
vermögen. Es soll ihr eigener Erfolg und nicht jener eines Fremden sein.
Und man mag sich fragen, ob für diesen finanziellen
Aufwand nicht besser das Hungerleiden gelindert würde anstatt beim Schüttele Durst zu produzieren. Sicher,
ein leerer Magen spielt nicht gerne Fussball. Was aber
macht ein Magen, der keine Perspektive hat? Wer hilft
jenen Kindern, die zwar vielleicht die Grundgüter besitzen aber trotzdem auf der Strasse landen, weil keine
Schule sich darum kümmert, keine Organisation dieses
Problem anpackt und niemand dem Nachwuchs eine Zukunft bieten kann? Mit dem Schutten will Schaer Langfristiges bewirken: Perspektiven schenken, den Kindern
Gestaltungsspielraum zeigen und sie dazu zu bewegen,
von der Strasse weg zu kommen. Wenn alles rund läuft,
baut Schaer eine neue Schule, in welcher Sport eine
gewichtige Rolle einnimmt. Sport als Lebensschule. Hat
das nicht schon ein gewisser Herr Ogi gesagt?
Ein weiterer Effekt des Turniers soll dazu dienen, dass
sich Menschen zweier im Grundsatz verschiedenen
Kontinenten kennen- und schätzen lernen. Sport als gemeinsamer Nenner – Beim Schuttibölle sind die Farben
Schwarz und Weiss sogar zusammengenäht.
«Mein Freund Sergio Tivane aus Mozambique und
die Schriftstellerin Paulina Chiziane kommen auch zum
Schutti-Turnier. Das freut mich wahnsinnig. Sie wollen
mich besuchen, weil ich sie im April auch besucht habe.
Die beiden Leben in Quelimane und bis zur Grenze Malawi gibt’s noch asphaltierte Strassen. Danach bleibt
den beiden nur noch die Reise auf der Ladefläche eines
Pick-Ups übrig, und das ganze auf einer ziemlich holprigen Piste. Das dürfte für die, naja, eher gewichtige Dona
Paulina, eine ziemlich ungewöhnliche Fahrt werden…».
Infos und Kontakt:
Martin Schaer: forbici@bluewin.ch
Kultur Casino Bern
Mittwoch, 28. September 2005, 19.30 Uhr
Brünner Philharmoniker
Petr Altrichter, Leitung
Stephan Genz, Bariton
Martinu, Mahler, Smetana
Sonntag, 19. März 2006, 19.30 Uhr
Radio-Sinfonieorchester Stuttgart
Sir Roger Norrington, Leitung
Christopher Maltman, Bariton
Wagner, J.S. Bach
Sonntag, 6. November 2005, 19.30 Uhr
Münchener Kammerorchester
Christoph Poppen, Leitung
J.S. Bach, Jean Françaix, Mozart
Freitag, 21. April 2006, 19.30 Uhr
Sinfonie-Orchester des Polnischen
Rundfunks Katowize
Christian Arming, Leitung
Bruno Leonardo Gelber, Klavier
von Webern, Rachmaninow, Strawinskij
Sonntag, 27. November 2005, 19.30 Uhr
Belgisches Nationalorchester
Mikko Franck, Leitung
Akiko Suwanai, Violine
Honegger, Ravel, Milhaud, Strawinskij
Sonntag, 14. Mai 2006, 19.30 Uhr
SWR Sinfonieorchester Baden-Baden
und Freiburg
Michael Gielen, Leitung
Wagner, Berlioz, Strauss
Abonnementspreise: Fr. 102.-- bis 432.--.
Im Abo inbegriffen sind auch die halbstündigen Vorkonzerte «Zauber des Augenblicks»
Auskunft über Tel. 031 859 77 43
(Di - Fr 15 - 18 Uhr, ansonsten Anrufbeantworter) oder via e-mail:
lilian.schlatter@gmaare.migros.ch.
Die Klubhaus-Konzerte sind Veranstaltungen des Migros-Kulturprozentes.
Abonnemente nur noch kurze Zeit erhältlich!
K U L T U R
&
G E S E L L S C H A F T
13
BERNHARD GERBER
der behelmte mann:
kriegserfahrungen –
eine spurensuche
■ Eine künstlerische Recherche führte die Performerin
und Tänzerin Cécile Keller und mich, Bernhard Gerber,
Plastiker im vergangenen Juni nach Bosnien Herzegowina. Diese Riese wurde ermöglicht durch den Förderbeitrag KUNSTSCHUB 2004 des Atelier Worb. Wir
besuchten die Hauptstadt Sarajevo und das Dorf Srebrenica, wo im Juli 1995 durch serbische Einheiten ein
unsägliches Massaker an der muslimischen Bevölkerung
verübt wurde. Die künstlerische Umsetzung unserer Reiseerfahrungen zeigen wir im Rahmen einer Ausstellung
im August 05 im Atelier Worb (siehe Kasten).
Nach einer 27 stündigen Busfahrt, treffen wir am
späten Nachmittag des 8. Juni 05 in Sarajevo ein.
Unsere Recherche beginnt am Folgetag mit Leckereien
vom Bäcker, einem türkischen Kaffe und einer Zitronenlimonade in einem Café im osmanisch geprägten Teil
der Altstadt. Im Brennpunkt unseres Interesses stehen
die Orte Sarajevo und Srebrenica. Neben Gesprächen
mit Mitarbeitende von Institutionen, NGOs und der
Schweizerbotschaft lernen wir viele Einheimische kennen. Unaufgefordert erzählen sie uns von ihren Kriegserfahrungen und dem Leben heute.
Wir hören viele grauenvolle und unglaubliche Geschichten. Die vielen persönlichen Stimmungsbilder
verweben sich für uns allmählich zu einem Bild der Geschehnisse. In all unseren Gesprächen begegnen uns
offene, gastfreundliche und hilfsbereite Menschen. Verschiedentlich sieht man in Sarajevo noch Fassaden mit
Einschusslöchern. Sie dokumentieren als Zeitzeugen
die bittere Zeit der Kriegsjahre.
Ein Reiseschwerpunkt bildet Srebrenica, wo wir eine
Woche bleiben. Das Dorf liegt ca. drei Autostunden in
nordöstlicher Richtung von Sarajevo entfernt nahe an
der serbischen Grenze. Die Landstrasse führt durch wunderschöne Hügellandschaft, Wälder und blühende Wiesen. Einige Kilometer außerhalb von Sarajevo beginnt die
Republika Serbska. Diese erstreckt sich nahezu über die
Hälfte der Fläche von Bosnien Herzegowina. Hier leben
vorwiegend bosnische Serben. Admir, unser Fahrer ist
Muslime. Er erzählt, dass er mit Serben zusammen arbeite. Das sei eigentlich kein Problem. Man unterlasse es
aber tunlichst über den Krieg zu sprechen.
Kurz vor Srebrenica machen wir Halt beim riesigen
Gedenkfriedhof in Potocari. Bis zum heutigen Tag sind
hier die identifizierten sterblichen Überreste von ca.
1300 Menschen des Massakers von Srebrenica beigesetzt. Man geht davon aus, dass 1995 über 8 000 Muslime, vorwiegend Männer aber auch Jugendliche und
Frauen massakriert worden sind. Fadila ist Muslimin und
lebt in Srebrenica. Sie führt zusammen mit ihrem Mann
ein kleines Café. Sie meint «In Srebrenica kann man
nicht über Zukunft sprechen sondern nur über Morgen,
weil hier die Zeit so langsam fließt». In der Tat, hat man
den Eindruck, als ob hier der Krieg soeben erst zu Ende
gegangen sei. Es ist wenig Innovation zu spüren. Ältere
Menschen sitzen auf Balkonen, vor mit Schüssen verletzen Wohnblockfassaden. Jüngere Menschen gehen irgendeiner Tätigkeit nach. Einige bauen an Häusern. Die
Strasse wird gerade neu asphaltiert für die Gendenkfeier vom 11. Juli 05. An diesem Tag jährt sich das Massaker von Srebrenica zum zehnten mal. Die Hauptverantwortlichen leben unglaublicherweise bis heute auf
freiem Fuß. Srebrenica war früher ein Badekurort. Die
Heilquellen entspringen oberhalb des Dorfes in einem
wunderschönen Wald. Die Menschen holen das begehrte Wasser hoch heute an den verschiedenen Quellen.
Zwei große Heilbäder stehen zerbombt am Dorfrand.
In unserem Hotel treffen wir Namir, den Leiter des Projekts «Bauern helfen Bauern». Zwei Tage sind wir mit
ihm unterwegs und besuchen einige abgelegene Dörfer
in der Umgebung. Die meisten Menschen dort haben im
Krieg alles verloren. «Bauern helfen Bauern» leistet direkte und unkomplizierte Wiederaufbauhilfe mit einfach
konstruierten Holzhäusern und Milchkühen. Unterlagen
zu diesem Aufbauprojekt werden während der Ausstellung aufgelegt.
Nachdenklich kehren wir nach Sarajevo zurück. In
unserem Café werden wir freudig empfangen, was wir
sehr genießen. In den folgenden Tagen besuchen wir das
Zentrum für Gegenwartskunst. Die Direktorin und Kuratorin des Zentrums informiert uns über Kunstprojekte
zum Thema Krieg. Wir besuchen die Nationalgalerie.
Diese wurde im Krieg zerstört und mit finanzieller Unterstützung der Schweiz wieder aufgebaut. Wir führen
Gespräche mit Kunstschaffenden der lokalen Kunstszene. Wir bearbeiten Dokumentationsmaterial bosnischer
Kunstschaffender zum Thema Krieg.
Mit einem reichen Erfahrungsschatz an Erarbeitetem, Erlebtem und Erfahrenem treten wir am 27. Juni
die Heimreise an. Im Reisegepäck liegen aufgezeichnete
Videokassetten und eine grosse Anzahl Fotos und Notizen. Bewegende innere Bilder begleiten uns. Wir sind
in jederlei Hinsicht froh für die gemachten Erfahrungen. Wir sind dankbar für die durchwegs schönen und
wertvollen Begegnungen mit den Menschen vor Ort.
In der Hoffnung unseren Erfahrungsschatz im Rahmen
der bevorstehenden Ausstellung in einer konstruktiven
Art und Weise umsetzen zu können, treten wir die lange
Busreise in die Schweiz an.
Geschichte des Projekts
Bernhard Gerber baute erste Installationen zum Thema
Krieg und Gewalt während dem Krieg in Bosnien 1995.
Die Ereignisse rund um den Irakkrieg, waren ausschlaggebend für die Begründung des Ausstellungsprojekts
«Der behelmte Mann». Anlässlich einer ersten Ausstellung im Kornhausforum Bern 2003 wurden Stenogramme von Lukas Hartmann und Objekte und Installationen
von Bernhard Gerber ausgestellt. Anlässlich des Kirchensonntags 2004 zum Thema «Gewalt eine mächtige Herausforderung» wurde das Ausstellungsprojekt
in adaptierter Form erneut öffentlich präsentiert. Als
Erweiterung erarbeitete die Performerin Cécile Keller
in Zusammenarbeit mit Bernhard Gerber eine Performance zum Thema.
Im vergangenen Jahr wurde das Projekt «Der behelmte Mann: Kriegserfahrungen – eine Spurensuche»
mit dem Förderpreis KUNSTSCHUB 2004 des Atelier
Worb ausgezeichnet. Das Preisgeld ermöglichte es den
beiden Kunstschaffenden nach Bosnien-Herzegowina
zu reisen.
Ausstellung
12. bis 28. August 2005
Vernissage Freitag, 12. August 2005, 18 h/ Performance, 20 h Finissage Sonntag, 28. August 2005, 16
h/ Performance, 17 h // Öffnungszeiten der Ausstellung: Fr 18-20 h/ Sa 14-17 h/ So 10-12 h oder nach Vereinbarung // Am Freitag den 19. August sind Bernhard
und Cécile anwesend.
Atelier Worb
Enggisteinstrasse 2 3076 Worb
beim Bahnhof RBS/ Info-Line 031 839 12 41
Bernhard Gerber,
bernhard.gerber@dplanet.ch, Tel 079 292 81 15
Cécile Keller, cecile.keller@tiscali.ch, Tel 031 337 71 71
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SARAH STÄHLI
ballernde pazifisten
» Dear Wendy» von Thomas Vinterberg
■ Das letzte Mal als die dänischen Regisseure Lars von
Trier («Dogville») und Thomas Vinterberg («Festen»)
zusammen spannten, kam das einflussreiche Dogma
Manifest dabei heraus. Ihr aktuelles gemeinsames Projekt, der Film «Dear Wendy», ist nicht ganz so weltbewegend, jedoch nicht minder interessant. Von Trier schrieb
das Drehbuch, Vinterberg führte Regie bei dem Kleinstadtdrama, das erneut in von Triers Lieblings-location
spielt: In einem Amerika voller Mythen und Klischees.
Dick (trotzig verkörpert von «Billy Elliot»-Schauspieler Jamie Bell) bezeichnet sich selbst als Verlierer und
verweigert es stur, in der Bergmine zu arbeiten, dort
wo alle «richtigen» Männer sind. Er wächst nach dem
Tod seiner Eltern mehr oder weniger auf sich gestellt
auf. Als er eines Tages per Zufall einen Revolver in die
Hand bekommt, ist dies der Beginn einer tragischen Liebesgeschichte. Mit dem Revolver in der Tasche schiesst
sein Selbstbewusstsein in die Höhe und das Leben ist
plötzlich wunderbar. Dick ist verliebt: in einen altmodischen Damenrevolver mit Perlmuttergriff namens Wendy. Eines unterscheidet ihn jedoch von anderen Waffennarren: Dick ist überzeugter Pazifist und würde seine
Pistole niemals in der Öffentlichkeit zücken, es geht
ihm allein um die Kraft, die das Tragen des Revolvers
mit sich bringt. Bald schon bildet sich eine Gruppe von
jungen Aussenseitern um den untypischen Anführer.
Gemeinsam ist ihnen die Liebe zu ihrer Waffe und ihre
pazifistische Lebenseinstellung. Ähnlich wie im Film
«Fight Club» wird nur im geschützten Rahmen geschossen, - auf Zielscheiben - niemals in der Öffentlichkeit.
«The Dandies» nennt sich der Club und Stil ist ihr wichtigstes Credo.
Eine wichtige Änderung am Drehbuch nahm Vinterberg vor: Er machte die Figuren um etliche Jahre jünger,
als das von Trier vorgesehen hatte und veränderte da-
mit den Charakter der Geschichte tief gehend, machte
sie so vielleicht auch glaubwürdiger.
Lars von Triers Handschrift ist in «Dear Wendy» unverkennbar. Die Geschichte handelt von Aussenseitern
die einem Ideal folgen und schliesslich an der (schlechten) Gesellschaft scheitern. Von «Breaking the Waves»
bis «Dogville» scheint dies in von Triers Werk das durchgehende Leitmotiv zu sein. So sind auch die «Dandies»
Idealisten die an ihrem Glauben an den Pazifismus festhalten. Natürlich kann bewaffneter Pazifismus nicht
ewig bestehen, in einer Welt in der Waffen immer noch
primär fürs Schiessen gedacht sind. Wie üblich bei von
Trier müssen die unschuldigen Idealisten ihre Überzeugungen aufgeben, weil sie mit der Gesellschaft in
Konflikt treten. In «Dear Wendy» ist es ausgerechnet
ein Polizist, der die Bande dazu zwingt, ihre Pistolen
schliesslich doch einzusetzen.
Mit ihren Überzeugungen und selbstauferlegten Einschränkungen erinnern «The Dandies» auch entfernt an
die Dogma-Brüder, auch sie mussten einsehen, dass Regeln zum Brechen da sind.
Für von Trier ist das Hauptthema des Filmes angeblich die unheimliche Leidenschaft, die wir Menschen zu-
weilen für Waffen entwickeln. In einem Interview meinte
er, die Welt wäre wohl ein friedlicherer Ort, würden manche ihre Faszinationen besser unter Kontrolle halten.
Der stark konstruierten Geschichte und dem leicht moralischen Ton des Autors von Trier hält der Regisseur
Vinterberg nun einen verspielten Inszenierstil entgegen,
der dem Film einen gewissen anarchistischen Charme
verleiht. «Dear Wendy» ist eine Art Western, ein Western mit Oscar Wilde-lesenden Antihelden, ein Western
in dem im ausführlichen Showdown am Ende die Guten
zugrunde gehen und die Mächtigen siegen.
Trotz der teilweise etwas klischierten Figurenzeichnung, besitzt der Film eine Originalität und Frische, die
ihn auf jeden Fall sehenswert macht. Die dynamische
visuelle Umsetzung und der coole Soundtrack kollidieren mit der Gewichtigkeit des Themas, «Dear Wendy»
funktioniert gerade deshalb und genau das macht das
Seherlebnis so aufregend. Der Film ist die geglückte
und inspirierte Zusammenarbeit zweier doch sehr unterschiedlicher kreativer Köpfe.
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K I N O
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ISABELLE LÜTHY
mein name ist eugen...
■ Erinnern Sie sich noch an Ihre Kinderstreiche? Versetzen Sie sich ruhig einmal zehn, zwanzig, dreissig oder
mehr Jahre zurück. Mir kommt da allerlei in den Sinn.
Rühmliches und Unrühmliches. Die Rizinus-Pralinen
zum Beispiel, mit denen wir unsere Lehrer beschenkten
oder die grausamen Aufnahmerituale mit dem «glühenden Eisen» (keine Angst, es waren nur Eiszapfen). Oft
endeten solche Streiche tragisch, das heisst, sie zeigten
nicht die erhoffte Wirkung oder schossen über das Ziel
hinaus - Kollateralschäden würde man das wohl euphemistisch nennen. Stundenlang trieben wir uns im Wald
herum und suchten nach Abenteuern und wenn gerade
keine vorbeiliefen, erfanden wir sie kurzerhand selbst.
Wem trotz angestrengtestem Nachdenken partout
nichts einfallen will, für den wird es höchste Zeit, sich
wieder einmal den «Eugen» zu Gemüte zu führen, um
das Gedächtnis aufzufrischen oder das Versäumte
nachzuholen.
«Mein Name ist Eugen» ist ein Klassiker. Wer in kanonischen Massstäben denkt, kann es ruhig auf die Liste der dreissig besten Kinderbücher setzen. Seit seinem
Erscheinen, 1955, ging es ca. 200’000-mal über den Ladentisch und hat zahlreiche Generationen von Jung bis
Alt erheitert und inspiriert. Das Buch schildert die Streiche und Abenteuer des Berner Lausbubenquartetts
Eugen, Wrigley, Eduard und Bäschteli aus der Sicht des
zwölfjährigen Eugen – oder besser gesagt ihre Schicksalsschläge, denn eigentlich seien sie brave Buben,
versichert uns Eugen zu Beginn des Buches, und das
meiste gehe auf die Kappe der Erwachsenen. Die Buben
tun sich schwer mit den Erwachsenen, den Lehrern, den
Eltern und Pfadiführern. Und wer mag es ihnen verdenken, wenn sie angesichts langweiliger Zeichenstunden
im Historischen Museum auf die fatale Idee kommen,
den alten Ritterrüstungen neues Leben einzuhauchen
und ihnen auf diese Weise zu neuen ruhmvollen Taten
zu verhelfen . Unvergesslich sind auch die Aktionen mit
Tante Melanie’s Rock, dem angeschweisten Geldstück
oder der Sirupflasche. Die Liste ihrer Heldentaten, die
fast immer in einem Desaster enden, ist lang und jeder Leser wird seine eigenen Favoriten haben. Meine
persönlichen Lieblingsstellen sind ohne Frage alle jene
zahlreichen pathetischen und neunmalklugen Reden
von Wrigley, dem Kopf der Bande, in denen viel Sinniges
und Unsinniges wild durcheinander purzelt.
Der Schöpfer dieser Fibel aller Lausbuben und Lausmädchen, Klaus Schädelin (1918-1987), war Pfarrer an
der Petruskirche in Bern und sechzehn Jahre lang städtischer Fürsorge- und Gesundheitsdirektor. Wer angesichts des beruflichen Hintergrunds des Autors im «Eugen» einen erhobenen Zeigefinger oder pädagogischen
Anspruch vermutet, wird eines Besseren belehrt. In einem Selbstinterview erklärte Schädelin geradeheraus,
dass der «Eugen» ganz und gar keinen erzieherischen
Wert habe, und überhaupt halte er nicht viel von solchen Werten. Es dünke ihn manchmal, «es wäre besser,
die Eltern hätten ihre Kinder etwas mehr gern, sogar
dann, wenn sie etwas blödes angestellt haben». Dem
gibt es nichts mehr hinzuzufügen.
Im September ist es nun endlich soweit. Rechtzeitig
zum fünfzigsten Geburtsjahr des Buches werden die
Abenteuer der vier Berner Lausbuben auf den Leinwänden der Deutschschweizer Kinos zu sehen sein.
Dass die Verfilmung eines Kultbuches immer besondere
Probleme aufwirft, versteht sich von selbst. Beim «Eugen» bestand die Schwierigkeit vor allem darin, dass
die Buchvorlage episodenhaft geschrieben ist, ein Film
jedoch einen dramaturgischen Bogen erfordere, erklärt
der Drehbuchautor Michael Sauter («Strähl», «Achtung
Fertig Charlie»). Dies machte eine Rahmenhandlung
notwendig, in die einige der bekanntesten Episoden
verwoben werden konnten. Manche Streiche wurden
sogar neu erfunden, andere wiederum modifiziert, um
mehr Spannung und Action zu erzeugen. So zum Beispiel die Szene mit dem Faltboot, welches die Buben
auf dem Estricht ausgraben und zwecks Überprüfung
seiner Seetauglichkeit mit Wasser füllen. Die Idee an
sich wäre gut, die Folgen allerdings sind katastrophal.
Durch ganze drei Stockwerke lässt Regiesseur Michael
Steiner («Nacht der Gaukler») das Boot krachen und die
familiäre Idylle der Pfisters und Stalders durchbrechen,
um schliesslich der Tante Melanie samt Frau Büsi nasse
Füsse zu bescheren. Nach diesem Malheur gibt es für
Eugen und Wrigley nur noch einen Ausweg, sich dem
elterlichen Zorn zu entziehen: Sie reissen aus, mit der
Absicht Fritzli Bühler, den legendären König aller Lausbuben und ehemaligen Besitzer einer dreihundert Jahre
alten Schatzkarte, in Zürich zu suchen. Er soll Ihnen hel-
fen, den Schatz vom Titicacasee zu heben. Doch vorerst
verschlägt sie das Schicksal ins Pfadilager im Tessin.
Hier stossen auch Eduard und, etwas unfreiwillig, der
Bäschteli («Tarantula», wie er in der Pfadi heisst!) hinzu.
Gemeinsam begeben sie sich auf die Reise nach Zürich.
Unterwegs haben die vier Jungs mit einigen Steigungen
und anderen Hindernissen wie gierigen Hühnern, wütenden Bauern und einem wilden Stier zu kämpfen. Die
Eltern sind ihnen stets dicht auf den Fersen, eine landesweite Suchaktion der Polizei ist in vollem Gange. Das
schweisst zusammen, die Buben lernen, was es heisst,
als Freunde durch dick und dünn zu gehen. In Zürich angekommen treffen sie allerdings auf den falschen Fritz
Bühler und dessen Tochter Kathrin, die dem Wrigley
einiges Herzklopfen bereitet, freilich nur im Geheimen,
man will ja schliesslich nicht als Meitlischmöcker gelten.
Als sie ihre Suche schon fast aufgeben wollen und an
der Existenz des wahren Fritzlis zu zweifeln beginnen,
zeigt sich der Zufall gnädig und beschenkt die Buben
mit einer Begegnung der ganz besonderen Art.
Die schauspielerische Leistung der vier Hauptdarsteller Manuel Häberli (Eugen), Janic Halioua (Wrigley),
Dominic Hänni (Eduard) und Alex Niederhäuser (Bäschteli) ist beachtenswert. Ohne Probleme können sie
neben dem riesigen Aufgebot an Schweizer Filmprominenz (Mike Müller, Beat Schlatter, Sabrina Schneebeli,
Patrick Frey, Viktor Giaccobo, Max Rüdlinger, Nella Martinetti etc.), die in den Nebenrollen für zusätzliche Lacher sorgen, bestehen.
Michael Steiner hat die Geschichte ins Jahr 1964 verlegt, sozusagen als Kompromiss zwischen der eigenen
Kindheit in den Siebzigern und derjenigen der Buchfigur Eugen in den Fünfzigern. Wer es gerne ein bisschen
nostalgisch hat, wird sich über die alten SBB-Uniformen,
das «Krokodil», die alten Postautos und Kostüme freuen. Alles in allem ist den Machern des Films die Mixtur
zwischen Heimatfilm, Roadmovie und Familienkomödie
sehr gut gelungen. Ein Kinovergnügen für alle, die im
Herzen jung geblieben sind.
Der Film dauert 100 Minuten und startet am 15. September in den Kinos.
18
K I N O
SONJA WENGER
antikörper
IN MY FATHER’S DEN
■ Weil sein Vater gestorben ist, kehrt der desillusionierte Kriegsreporter Paul (Matthew Macfadyen) in
seine Heimatstadt in Neuseeland zurück. Dort wird
er nicht nur mit seiner Vergangenheit konfrontiert,
sondern lernt auch Celia (Emily Barclay) kennen,
die Tochter seiner damaligen Freundin. Wie Paul,
sehnt sich Celia nach der Welt jenseits ihrer kleinen
Stadt und die beiden verwandten Seelen finden
schnell zueinander. Familie und Umgebung der
beiden beäugen diese Freundschaft misstrauisch
und als Celia vermisst wird, gilt Paul schnell als der
Hauptverdächtige. Um die schmerzhafte Wahrheit
herauszufinden, muss Paul sich jener Familientragödie stellen, welche ihn in seiner Jugend dazu
brachte, wegzugehen.
Dem Drehbuchautor Brad McGann ist mit «In
my Father’s Den» ein eindrückliches Regiedebut
gelungen. Es ist wahrhaft nicht leicht, eine vordergründig einfache Geschichte mit der Komplexität
zu verbinden, die eine Familie zeigt, welche wirklich
jedes Problem hat, für das die Psychiatrie ein Wort
kennt. Inzest, Ehebruch, häusliche Gewalt und
sexueller Missbrauch, Oedipus-Komplex, Suizid und
tiefsitzender Puritanismus kreieren eine permanente Anspannung und eine unterschwellige Ahnung
kommenden Unheils. Schlimmer noch, dieser Film
macht keinen Hehl daraus, dass hier das Opfer
seine Geschichte quasi aus dem Grab erzählt. Diese
Erzählmethode, gepaart mit dem Aneinanderreihen
immer neuer Probleme und Hinweise, verstrickt
sich ins Unendliche, so dass die Auflösung am Ende
kaum eine Erleichterung darstellt.
So sind es denn auch die schauspielerischen
Leistungen, welche einen in den Bann ziehen und
bei der Stange halten. Neben Emily Barclay und
Miranda Otto ist vor allem Matthew Macfadyen ein
Name, den es sich zu merken lohnt. Der britische
Schauspieler vermittelt Pauls emotionale Komplexität und intelligente Stärke so glaubwürdig, dass
Fragmente des Films einen noch lange begleiten
werden. (sw)
Der Film dauert 126 Minuten und ist seit dem
7.7.2005 in den Kinos.
■ Blut, viel Blut! Der Film beginnt so, wie man es von einem anständigen Psychothriller auch erwartet. Mit Action, Polizei, Toten und vielen Fragen. In einem Berliner
Hinterhaus wird der Serienkiller Gabriel Engel (André
Hennicke) von der Spezialeinheit um Kommissar Seiler
(Heinz Hoenig) überwältigt. Doch die Freude um den Erfolg hält nicht lange an. Bereits die ersten Verhöre lassen die Vermutung aufkommen, dass der Täter längst
nicht alles gestanden hat und dieser Mörder ein perfides, intelligentes Katz- und Maus-Spiel mit der Polizei
treibt. In der Hoffnung, endlich den bestialischen Mord
an einem Mädchen in seinem Heimatdorf aufklären zu
können, reist der Polizist Michael Martens (Wotan Wilke
Möhring) nach Berlin. Doch statt die erwartete Bestätigung zu erhalten, wird er mit seinen eigenen Dämonen
konfrontiert. Wenn Engel nicht der Mörder des Mädchens war, wie gefährlich nahe müsste dann der wahre
Täter sein?
Nun leiden Film, TV und Krimiliteratur ja bereits seit
langem an einem wahren «Overkill» von Geschichten
über psychopatische Serienmörder. Auch wenn es sich
bei dieser Verbrechensform um ein sehr modernes Phänomen handelt, fragt man zu recht, weshalb man sich
noch weitere Abgründe der menschlichen Seele ansehen soll. Der Film «Antikörper» geht jedoch tiefer als
die üblichen Gemetzel. Vom Moment der Konfrontation
zwischen Michael Martens und Gabriel Engel – Nomen
est Omen – nährt der Film kontinuierlich und mit viel
Geduld eine Spannung, welche bis zum Schluss durchhält. Diese unheimliche Ruhe vor dem Sturm bietet den
Schauspielern eine Plattform, in der sie aus dem Vollem
zu schöpfen vermögen. In dieser schnörkellosen Inszenierung ist alles wichtig. Jeder Blick impliziert einen
neuen Verdacht, jede Handlung wird mit der Goldwaage
gemessen und das Publikum erhält unendlich viele Hinweise um zu spekulieren. Doch gerade wenn man den
Fall für sich bereits gelöst hat und sich in den Sessel
zurücklehnt, kommt alles anders. Der Drehbuchautor
und Regisseur Christian Alvart webt ein dichtes Geschichtennetz, welches sich mit Themen auseinandersetzt, die den Rahmen einer klassischen Krimihandlung
sprengen.
Es geht um ethische Werte und die Frage, was einen
Menschen dazu treiben kann, zu töten. Es geht um Religiosität in unserer Zeit und die Frage, ob ihre moralischen Schranken einen Halt gegen die innere Zerrissenheit des Menschen bietet. Der Film spielt gekonnt
mit den Gegensätzen der düsteren Grossstadt und der
lichten Dorfgemeinschaft. Der einen sind die altvertrauten Werte und der Glaube an das Gute abhanden
gekommen, aber zumindest wird hier Klartext geredet.
Wohingegen die vermeintliche Sicherheit und heile Welt
auf dem Lande vom katholischen Mief erstickt und zutiefst erschüttert wird durch Misstrauen und der Konfrontation mit dem Bösen. Im ersten Moment wirken
diese Themen beinahe antiquiert, doch vor allem die
beiden Hauptdarsteller verkörpern diese Widersprüche
so nuancenreich und überzeugend, dass viele Bilder im
Gedächtnis kleben bleiben.
Doch nicht nur die Schauspieler und die raffiniert
gestrickte Geschichte mit all ihren Metaphern machen
diesen Film sehenswert. Er verzichtet verdankt auf
Quäl- und Folterbilder. Stattdessen wartet er auf mit
Experimentierfreude (man achte auf die Titelsequenz),
mit Geschick bei Schnitten und Einstellungen und vor
allem mit einer Musik, welche die Filmbilder vortrefflich
ergänzt und intensiviert. Man fühlt sich als Zuschauer
und Zuschauerin ernst genommen und der Film kann
sich absolut mit US-Produktionen messen.
Der Film dauert 126 Minuten und ist seit dem 28.7.2005
in den Kinos.
K I N O
19
SONJA WENGER
the island
■ Die Kamera fliegt atemberaubend tief über eine paradiesisch anmutende Inselküste. Auf dem Meer kreuzt
eine futuristische Yacht durch schäumende Wellen.
Zwei schöne, in weiss gewandete Menschen gehen aufeinander zu. Doch dann der Überfall, ein Kampf, Blut, sie
werden ins Wasser gestossen, der Mann ertrinkt – und
wacht schweissgebadet auf. Also ein Psychothriller mit
schönen, in weiss gewandeten Menschen und Alptraumelementen. Glaubt man.
Regisseur Michael Bay («Armageddon», Pearl Harbour», «The Rock») ist bekannt für handfeste, solide
Action-Filme, in denen viele Sachen explodieren. Das ist
hier nicht anders und der Fan des Genres kommt voll auf
seine Kosten. Seit «The Matrix» scheint es zudem ein
ungeschriebenes Gesetz in Hollywood zu sein, sich bei
den Verfolgungsszenen gegenseitig überbieten zu wollen. Mit der Konsequenz, dass nicht erst seit «Minority
Report» das Meiste zwar rasant, aber nur noch künstlich aussieht.
Der Film «The Island» bietet allerdings noch etwas
mehr. Er handelt in einer erschreckend nahen Zukunft
und führt uns in die Welt von Lincoln Six-Echo (Ewan
McGregor) und Jordan Two-Delta (Scarlett Johansson).
Sie leben in einer isolierten, keimfreien Umgebung,
nach Geschlechtern getrennt und in einer überwachten Welt, die Big Brother vor Neid erblassen lässt. Die
einzige Perspektive ist der Hauptgewinn in der Lotterie,
welche den Gewinner auf eine Insel führt und ihm ein
Leben in Luxus verspricht. So weit, so gut. Doch weshalb quälen Lincoln seine Alpträume, weiss er Dinge, die
er nie gelernt hat und weshalb kriegt er nie Antwort auf
alle seine Fragen?
Als Lincoln der Überwachung entschlüpft und sich
auf eigene Faust in den verzweigten Gängen umsieht,
entdeckt er Grausiges. Der letzte Lotteriegewinner wird
gerade ausgeweidet und Lincoln findet heraus, dass die
Bewohner seiner kleinen Welt aus geklonten Menschen
besteht. Sie sollen als Ersatzteillager für ihre «Schöpfer» herhalten und werden nach Gebrauch «entsorgt».
Lincoln wird entdeckt, flüchtet mit Jordan und die Jagd
ist eröffnet.
Nun ist das Thema Klonen ja nicht neu und die Diskussion darüber in den Medien schon längst eröffnet.
Darf man zum Beispiel ein Kind zeugen «nur» damit
es als Organspender für den grossen Bruder herhalten
kann? Oder ist alles in der Genforschung gerechtfertigt, damit man eines Tages schwere Krankheiten heilen kann? Die Antwort darauf darf sich jeder und jede
selber suchen, wird sie aber irgendwann geben müssen.
Unsere Gesellschaft wird um diese Thematik nicht herumkommen und Filme wie «The Island» bilden nur eine
unterhaltsame Vorhut.
Denkt man an Vorläuferfilme wie den grottenschlechten «The 6th Day» mit Arnold Schwarzenegger oder
den schon etwas älteren, aber immer noch sehenswerten «Gattaca» mit Uma Thurman, so jagt einem auch
hier die Möglichkeit der totalen Kontrolle und Nutzung
des Menschen einen kalten Schauer über den Rücken.
Der in «The Island» dargestellte Versuch der Ausrottung jeglicher Individualität ist nur erträglich mit dem
Wissen, dass sich der menschliche Geist niemals völlig
unterdrücken lässt. Der Instinkt zu überleben und die
Fähigkeit zu lernen wird jedem System der Unterdrückung früher oder später zum Verhängnis. leider wird
die Diskussion der ethischen Werte im Film weitgehend
ausgeklammert. Sie reduziert sich auf die Empathie des
Publikums mit den verfolgten Protagonisten, welche
– wen wundert’s – am Schluss gewinnen.
Nichtsdestotrotz beschert uns «The Island» den
spitzbübischen Schotten Ewan McGregor gleich im Doppelpack. Besonders die humorvollen Einschübe, welche
er so vollendet beherrscht, lockern die ganze Sache auf.
Das neue It-Girl Scarlett Johansson ist nun endlich in
der Rolle einer starken jungen Frau zu sehen, die sich
zu wehren weiss. Sie nimmt aber auch ihre eigene Popularität auf die Schippe, etwa wenn Jordans Original
auf einem Calvin Klein Werbeplakat zu sehen ist. Ihre
Darstellung von Menschen auf dem Niveau von naiven
Teenagern, welche sich in gewiefte Erwachsene wandeln geht zwar etwas schnell, aber es macht trotzdem
Spass, diesem Wechsel zuzusehen. Der Einsatz von Steve Buscemi als Fluchthelfer und Sean Bean als eiskalter Wissenschaftler trägt zusätzlich zum Gelingen des
Filmes bei und endlich ist mal NICHT Hans Zimmer, der
die Musik für einen Action-Film komponiert hat. Eine
wohltuende Abwechslung!
Der Film dauert 132 Minuten und kommt am 4.8.2005
in die Kinos.
20
D
MA
U SS I A
KN D E R E
K I N O
www.cinematte.ch / Telefon 031 312 4546
www.kellerkino.ch / Telefon 031 311 38 05
www.kinokunstmuseum.ch / Telefon 031 328 09 99
Filme am Fluss - 5. Cinématte Openairkino
Erstmals werden die Filme auch Openair im 35mm-Format (dem «richtigen» Filmformat) auf grösserer Leinwand und mit 200 Sitzplätzen gezeigt, wiederum mit
gemütlicher Openairbar.
Folgende Filmperlen sind am Openair zu sehen:
Di, 2.8. Amores Perros/ Mi, 3.8: Le Grand Bleu/ Do, 4.8.
Nueve Reinas/ Fr, 5.8. Kill Bill/ Sa, 6.8. Ten Minutes
Older – The Trumpet (7 Kurzfilme – ein Episodenfilm)/
So, 7.8. Barbarella/ Mo, 8.8. Léon/ Di, 9.8. Chat Noir
Chat Blanc/ Mi, 10.8 Blow Up/ Do, 11.8. Nicotina/ Fr,
12.8. Kill Bill 2/ Sa, 13.8. Jour De Fête/ So, 14.8. Dr.
Strangelove/ Mo, 15.8. High Fidelity/ Di, 16.8. King
Kong (Originalversion 1933)/ Mi,17.8.: Swiss Shorts.
Keine Reservationen möglich. Bitte Vorverkauf Münstergass Buchhandlung (Münstergasse 35) oder Globetrotter Travel Service (Aarbergergasse 21 oder Neuengasse
23) benutzen. Abendkasse und Bar ab 19.30h.
5 Jahre Cinématte - das Fest!
Vom Freitag, 12.8. bis Sonntag, 14.8. finden unsere Jubiläumsfestivitäten statt. Infos nachlesen bitte unter
www.cinematte.ch
Best of Cinématte
Ebenfalls zum Jubiläum zeigen wir diesen Sommer noch
bis Ende September eine kleine Auswahl unserer Publikumslieblinge der letzten fünf Jahre. Im August sind dies
«Les Vacances de M. Hulot» und «The Third Man».
The Hunter
(Serik Aprimov, Kasachstan 2004, 90’, Kasachisch/d/f)
Ein als «Wolfskind» verrufener Junge und seine verführerische Mutter sowie ein Jäger und Schamane stehen
im Mittelpunkt dieser elegischen, zum Teil burlesken
Erkundungen menschlicher Begierden, Fähigkeiten und
Einsamkeiten. Nachdem der Junge einen Überfall begangen hat, bricht er mit dem Jäger und Liebhaber seiner Mutter zu einer Initationsreise auf. Serik Aprymov
gelingt eine spannende genreübergreifende Erzählweise, eine reizvolle Mischung aus Legende, Epos und sozialem Realismus und dies eingebettet in die Natur der
kasachischen Berglandschaft. Während Initiationsreise
versucht der Jäger, dem Jungen, seine Lebensfreude
und Erkenntnisse zu vermitteln, indem er ihm die Schönheit der Natur nahe bringt und ihn Freundschaft und Tod
entdecken lässt. Seine Probe besteht Erken, als er seine Mutter findet, die auf der Suche nach ihrem Sohn in
den Bergen vor Kälte in Ohnmacht fällt. Serik Aprimov
bringt uns ein schönes Stück gesellschaftlichen Alltags
in seiner Heimat näher. (Ab 18.8.2005)
El último tren
(Diego Arsuaga, Uruguay 2002, 93’, Spanisch/d/f)
Ein grosses Hollywood-Filmstudio will für ein Projekt im
fernen Uruguay eine historische Lokomotive aus dem 19.
Jahrhundert kaufen und in die USA transportieren. Das
allerdings ist für viele Eisenbahnliebhaber ein herber
Schlag. Veteranen des Eisenbahn-Klubs beschliessen,
die Lok mit allen Mitteln im eigenen Land zu behalten.
Sie sind Patrioten und überzeugt, dass das nationale
Erbe nicht zum Verkauf stehen darf. Also entführen
sie die «Lok 33». Auf längst stillgelegten Bahnstrecken
beginnt eine Reise ins Landesinnere. Natürlich sind
abenteuerliche Ereignisse vorprogrammiert, weil die
Behörden die Aktion mit allen Mitteln stoppen wollen.
Was aber nicht einfach ist, weil die ehrwürdige Maschine - dank der aktiven Schützenhilfe einer Dorfgemeinschaft - gewissermassen zum rauchenden Symbol der
Hoffnung in schwierigen Zeiten wird. Regisseur Arsuaga
wurde für sein Werk unter anderem an den Festivals von
Montreal, Valladolid und Taormina ausgezeichnet. (Ab
4.8.2005)
Juli I August
Sommerpause
Saisonstart
3. September ‚05
Vorschau:
Von Mao zu Techno – Neues chinesisches Filmschaffen
In den letzten zehn Jahren ist eine neue Generation von
Filmschaffenden herangewachsen. Diese so genannte
sechste Generation die fünfte legte in den 80-er und
frühen 90-er Jahren hervorragende und neuartige Filme vor, wirft einen genauen und schonungslosen Blick
auf die Realität des heutigen Alltags in China und bricht
dabei erneut mit formalen und thematischen Tabus. Die
rasante Modernisierung und wachsende Individualisierung der chinesischen Gesellschaft ist ebenso ein Thema wie ihre Schattenseiten. Bekannte Vertreter dieser
neuen Generation sind Jia Zhangke, Ning Ying, Zheng
Yunan sowie die Dokumentarfilmer Wang Bing und Wu
Wenguang.
Greta Garbo (1905-1989)
Zum ihrem hundertsten Geburtstag widmet das Kino
Kunstmuseum dieser unvergänglichen Filmdiva im September eine kleine Hommage.
F ü r d a s Ta g e s p r o g r a m m d i e Ta g e s z e i t u n g o d e r d a s I n t e r n e t W W W . B E RBNI EE R
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LICHTSPIEL
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Science est fiction
Jean Painlevé dokumentierte von 1928 bis in die 70erJahre in über 200 Filmen das wimmelnde Leben der Unterwasserwelt - mit einmaligen Bildern, trocken-witzigen
Kommentaren und passender musikalischer Begleitung.
Er filmte in den Aquarien des hauseigenen «Institut
dans la cave» mit Hilfe von Mikroskopie, Zeitraffer und
Zeitlupe Krabben, Kraken, Seeigel und andere Krustenund Weichtiere. (3.8., 21h)
Open Air
Endlich ist es wieder soweit! Der Sommer ist da und wir
öffnen unsere Türen für das Freiluftkino 2005.
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BETRIEBSFERIEN
Abenteu(r)er Hans Hass
Der Erfinder, Tauchpionier und Unterwasserfotograf
produzierte 1951 mit «Abenteuer im Roten Meer» (17.8.,
21h) den ersten Unterwasser-Tonfilm der Geschichte und
baute gleichzeitig eine Art Spielhandlung in seine Dokumentation ein: die Crew macht sich auf die Suche nach
einem sagenumworbenen Meeresungeheuer. Der Film
sorgte weltweit für Schlagzeilen: Nie zuvor war ein Walhai von einer Filmkamera aufgenommen worden. Die
über fünfzig Jahre alten Bilder haben bis heute nichts
von ihrer Faszination verloren. Mit neuartigen Sauerstoffgeräten dringen Hass und sein Team in «Unternehmen Xarifa» (24.8., 21h) 1954 vor idyllischen karibischen
Palmeninseln in noch unberührte Meerestiefen vor.
Dank Generatoren und Scheinwerfern lösen sich aus
dem Dämmerlicht der Korallenriffe Farben, wie sie noch
kein menschliches Wesen je erblickt hatte. Die Unterwasseraufnahmen wurden damals als wahre Farbexplosion
empfunden, doch auch der deutliche Spielfilmcharakter
und die Unterwasserdialoge trugen zum sensationellen
Erfolg bei und brachten dem Film gar einen Oscar ein.
Von Bergen und Beamten
Gleich fünf restaurierte Kurzfilme aus dem Archiv der
Cinémathèque suisse sind am 29.8. (ab 21h) zu sehen,
darunter «La bourse et la vie» (1927/28) von Jean Brocher, dem Meister des religiösen und moralischen Films,
der mit diesem Bergdrama dem Alkohol den Kampf ansagte, oder «Mitenand gahts besser» von Kurt Früh und
Paul Ruffi (1949), mit dem im Rahmen der «Aktion des
guten Willens» humorvoll versucht wurde, Unstimmigkeiten zwischen dem Bundespersonal und der Öffentlichkeit aus dem Weg zu räumen.
Zusammengestellt wurde das Programm von Beat
Borter und Nicole Buchser, zwei langjährigen Vorstandsmitgliedern, die dieses Jahr dem Filmpodium «Adieu»
sagen. Der Bieler Filmemacher Beat Borter gehörte vor
knapp zwanzig Jahren zu den Gründern des Filmpodium
und war während elf Jahren Präsident des Vereins. Nicole Buchser arbeitete über zwölf Jahre im Vorstand
mit. Mit je sechs ausgewählten Titeln zeigen sie ihre
Lieblingsfilme, Filme, die sie besonders prägten, oder
einfach solche, die sie gerne wiedersehen möchten.
So stehen fast siebzig Jahre Filmgeschichte auf dem
Programm, doch auch der älteste Film von 1937 ist noch
lange nicht grau und verstaubt: «Way Out West» mit
Laurel & Hardy ist vielleicht der witzigste aller Western
überhaupt und bezaubert Gross und Klein mit seinem
Charme.
Gleich dreimal ist Marcello Mastroianni auf der Leinwand zu bewundern: In «Otto e Mezzo» und «I Soliti
Ignoti» spielte er als knapp 40-Jähriger einen Filmregisseur, bzw. einen Kleinkriminellen. Und in «Les Yeux
Noirs» von Nikita Mikhalkov schlüpfte Mastroianni in die
Haut eines Herzensbrechers, der 1987 auch die Jury in
Cannes verführte: Er gewann mit seiner Rolle in diesem
Jahr die goldenen Palme.
In «Suite Habana», dem neusten Film von Fernando
Pérez, wird Fidel Castros Hauptstadt porträtiert. Der
Film beobachtet Menschen im heutigen Havanna und
bringt uns deren Bewohner auch ohne Worte näher.
«Brodeuses» von Eléonore Faucher, Gewinnerin des
grossen Preis der Kritik in Cannes 2004, und «Depuis
qu’Otar est parti» von Julie Bertucelli zeichnen Bilder
von Frauen aus verschiedenen Generationen, die gemeinsam ein Stück (Lebens-) Weg zurücklegen.
Und als Abschluss schliesslich «C’eravamo tanto amati», Ettore Scolas politisch engagierter und witziger Film
über drei Freunde im Italien der Nachkriegsjahre.
Die Vorführungen beginnen um 21h30, die Bar ist vor
und nach dem Film geöffnet. Bei schlechtem Wetter
wird die Vorstellung in den Kinosaal verlegt.
22
K L A S S I S C H E
M U S I K
KASPAR ZEHNDER
sommerfestspiele murten classics
■ «England» ist das Thema für die Sommerfestspiele
Murten Classics 2005, darunter ist Musik von englischen
Komponisten von Thomas Tallis bis Caecilia MacDowall
zu verstehen, aber auch Musik, die kontinentale Berühmtheiten wie Georg Friedrich Händel, Joseph Haydn
oder Felix Mendelssohn während ihres Aufenthaltes
oder ihrer Reisen in Britannien schrieben.
Im Brennpunkt des Programms stehen die Konzerte
im Schlosshof Murten, welcher sich während dreier Wochen in einen optisch und akustisch stimmungsvollen
Konzertsaal verwandeln wird. Hier finden die Sinfonieund Serenadenkonzerte statt. An diesem Ort nahmen
die Sommerfestspiele Murten vor bald zwanzig Jahren
auch ihren Anfang. Das Programm der Openair-Konzerte ist durchwegs für ein breites Publikum attraktiv
gestaltet, wobei einzelne Raritäten wie das selten gespielte Klavierkonzert von Benjamin Britten (18. August)
die Gegenüberstellung von «Romeo und Julia»–Vertonungen durch Prokofjew und Tschaikowsky (19. August),
«The lark ascending» und das Tubakonzert von Ralph
Vaughan Williams (26. August) oder die Schottische
Fantasie von Max Bruch neben Mendelssohns Schottischer Symphonie (3. September) besondere Erwähnung
verdienen.
Die Protagonisten Edward Elgar, Benjamin Britten
und Daniel Zisman heissen die Hauptpersonen in Murtens diesjähriger Ausgabe. Den nach Henry Purcell
grössten englischen Komponisten Elgar und Britten ist
ein Zyklus mit Werken verschiedener Besetzung gewidmet, der sich als programmatischer Roter Faden durch
alle Konzertlokale und Konzertformen, vom Sinfoniekonzert bis zur Reihe «offen für neues» zieht.
Daniel Zisman ist der diesjährige «Artist in Residence»
und wird Werke von Edward Elgar (Violinkonzert, Violinsonate, Faure, Ravel und Piazolla) zur Aufführung bringen.
Ebenfalls «in Residence» sind das Orchester der Nationaloper Litauen (18.-20. August), die Sinfonietta Cracovia (26./27. August) und «the Prague Philharmonia»
(2./3. September).
Vokalmusik mit dem Cambridge University Choir
Murten Classics ist stolz auf die Zusammenarbeit mit
dem Cambridge University Choir, der unter der Leitung
von Stephen Cleobury das Festival gleich mit mehreren
Konzerten bereichern wird. Der Chor blickt auf eine
jahrhundertealte Tradition zurück und hat sich auch
jüngerer Zeit seinen hervorragenden Namen bestätigt.
In einem Vokalkonzert werden Orgelwerke von Johann
Sebastian Bach bedeutenden Beispielen englischer
Chorliteratur aus vier Jahrhunderten (Thomas Tallis,
Henry Purcell, Benjamin Britten und Michael Tippett)
gegenübergestellt (28. August).
Alte und Neue Musik Im Barockkonzert in der wunderbaren Schlosskirche Münchenwiler stellt das Ensemble die Freitagsakademie Werke von Johann Sebastian Bach und Henry Purcell improvisativen Schöpfungen
des Bassisten Barry Guy gegenueber (1. September).
Neuartiges ist jeweils samstags auch im Kulturlokal im
Beaulieu Murten zu erleben: Nach einem Afternoon Tea,
zu welchem Kaspar Zehnder das Programm der kommenden Woche einführt, findet je ein Konzert im Rahmen von «Offen fuer Neues» statt:
Bettina Sartorius (Violine) und Christian Glinz (Klavier) interpretieren Werke von Powerfrauen (Germaine
Tailleferre und Amy Beach), aber auch von Britten und
Vaughan Williams (20. August), Monica Buckland interpretiert zusammen mit dem Ensemble Musica Viva Basel und Kaspar Zehnder William Waltons Entertainment
«Facade» auf schräg-witzige Texte von Edith Sitwell (27.
August), und Seung-Yeun Huh (Klavier) geht mit Robert
Hunger-Bühler (Sprecher) zusammen mit Franz Liszt
und Lord Byron auf Europa-Reise (3. September).
Serenadenkonzerte Mozarts allererste (in London
geschriebene) Sinfonie KV 16, Benjamin Brittens ergreifende Serenade fuer Tenor, Horn und Streicher sowie
eine Sinfonie des «Londoner Bachs» Johann Christian
werden im ersten Serenadenkonzert (24. August) durch
Hans-Juerg Rickenbacher (Tenor), Olivier Darbellay
(Horn) und das Orchester der Akademie Tibor Varga un-
ter der Leitung von Monica Buckland aufgeführt, Händels Feuerwerksmusik, die unsterbliche Trauermusik
fuer Queen Mary von Henry Purcell und Gustav Holsts
monumentales Werk «die Planeten» im zweiten Serenadenkonzert (31. August) mit dem Swiss Brass Consort
und dem Cambridge University Choir.
Kammermusik Besonders prestigeträchtig gibt
sich die Liste der Kammermusik-Interpreten: das Sorrel
Quartet London – in Murten bereits zum zweiten Mal zu
Gast – interpretiert Werke von Benjamin Britten, Caecilia
MacDowall (CH-Erstauffuehrung) und Edward Elgar (28.
August), das Carmina Quartett Londoner Werke von
Joseph Haydn und im Verbund mit der Pianistin Hiroko
Sakagami das Klavierquintett von Edward Elgar (23. August). Karl-Andreas Kolly bringt in einer Klaviermatinee
(4. September) Werke von Haydn, Pieter Maxwell Davies
und Liszt zur Auffuehrung und Daniel Zisman mit Christina Bauer-Meyer Sonaten von Faure, Elgar und Ravel
(21. August).
Sommernachtskonzerte Im Zeichen der Kammermusik stehen auch die Konzerte, welche jeweils spätabends im Park (oder im Festsaal) des Hotels «Le Vieux
Manoir» in Meyriez stattfinden: Die Pianistin Verena
Pfenninger interpretiert Beethovens «Diabelli-Variationen» und als Kontrast zu diesem monumentalen Werk
die Miniaturen «Bits and Bytes» von Derek Bourgeois
(24. August). Die Klarinettistin Sarah Chardonnens, der
Bratschist Tobias Noss und Mira Wollmann am Klavier
spielen Werke von Robert Schumann (Maerchenerzaehlungen op. 132), W. A. Mozart (Kegelsatt-Trio), Benjamin
Britten und die jazzige Sonate von Jospeh Horovitz (31.
August), Kaspar Zehnder (Floete) bringt mit der Harfenistin Jasmine Vollmer Werke von Händel, Arnold Bax,
Faure und Britten (23. August) zur Aufführung und
Daniel Zisman, diesmal mit dem Ensemble 676 Nuevo
Tango Werke aus seiner Heimatstadt Buenos Aires (30.
August).
Hit für die kleinen Konzertbesucher/innen Maurice Steger und Naoki Kitaya spielen die Musik zum
M U S I K
Herbert Henck
John Cage - Early Piano Music
Maerchen «Tino Flautino» von Jolanda Steiner, welches bereits in Buch- CD- oder DVD-Form den Weg in
die meisten Familien gefunden hat (27. August, 15Uhr,
Schiffstation Murten).
ValiantForum fuer Junge Orchester und Junge
Choere International geben sich die diesjaehrigen Gewinner: Je einen (anlässlich des Preisträgerkonzertes
durch die Jury noch genau zu definierenden) Preis haben das Orchester der Musikschule Cluj / Rumaenien,
der Stolyarski Choir Odessa / Ukraine und das Orchester I Sinfonietti 01 gewonnen (30. August).
Haendels «Messias» in internationaler Besetzung
Als krönender Abschluss des Festivals kann die Aufführung von Georg Friedrich Händels «Messias» mit dem
Cambridge University Choir, der Cappella Istropolitana
und den Solist/innen Franziska Hegi (Sopran), Sibylle Fischer (Alt), Clemens Löschmann (Tenor), Dominik Wörner (Bass), Vital Julian Frey (Cembalo) und Joerg-Ulrich
Busch (Orgel) unter der Leitung von Kaspar Zehnder
gelten (4. September).
■ John Cage muss man nicht gross erklären - obwohl
ihn fast keiner verstehen kann. Über Herbert Henck
könnte man fast mehr erzählen. Nur: wer ist denn auf
dieser CD wichtiger? Henck, der hervorragend, als Anwalt und Kommentator moderner Musik, Klavier spielt
und interpretiert - oder Cage und dessen zwischen 1935
- 48 komponierten Piano-Stücke? Die Musik ist sicher
nicht einfach - Cage ist ein Zufallist und liebt präparierte Klaviere - doch sind die Stücke inspirierend. Für
Einsteiger in dieses Genre Musik sei der Tipp, nicht die
ganze CD auf einmal hören zu wollen, angebracht. Ok,
vielleicht hat man diese bereits hinter sich, wenn man
das Booklet studiert hat. Der Text von Henck ist wunderbar und erklärt uns, worum es hier eigentlich dreht.
Fazit: Spannend - und dies sei nicht missverständlich als
unverständlich definiert, sondern als gelungenes Werk
mit viel Nachhaltigkeit. Und dies wiederum erstaunt nun
bei Cage... (vl)
www.ecmrecords.com
Trummer : : anyways
Der Autor
Kaspar Zehnder wurde nach seiner Ausbildung zum
Flötisten und Dirigenten in Bern, Paris und Siena 1999
Künstlerischer Leiter der Sommerfestspiele Murten
Classics. Daneben ist er Dozent an der Hochschule
der Künste Bern, Künstlerischer, Musikalischer Leiter des Zentrum Paul Klee und ab September 2005
Chefdirigent der Prager Philharmonie.
MURTEN CLASSICS 2005
Sommerfestspiele Murten
15. August bis 4. September
Kartenbestellung:
www.murtenclassics.ch // Starticket 0900325325
Bern: Bund Ticketzentrale Bubenberg
Bestellen Sie das detailliere Programm
unter Telefon 079 408 37 61
■ Anyways, für Bern ist Trummer ein herausragender
Nachwuchsmusiker - obwohl er schon eine Weile fix in
die Szene gehört. Der Singer-Songwriter hat mit dem
neuen Album sich selbst übertroffen. Das heisst nicht,
dass er schon zu den Besten gehört, doch was hier herauszuhören ist, verkündet noch einiges mehr, als je
zuvor. Die Songs sind um einiges reifer als früher, sie
haben mehr Drive und Charakter. Irgendetwas fehlt aber
noch. Vielleicht die Coolness, vielleicht der Schweiss der
Route 66 oder einfach etwas mehr Bernische Langsamkeit. Aber das ist dann auch schon alles: Denn damit
könnte er sehr weit kommen - also, über Bern hinaus
in die grosse weite Welt. Ich mag das Album. Trummer
ist frisch und absolut nicht depressiv. Im Gegenteil: Da
trägt einer die Hoffnung und das Sternchen wieder im
Herzen. An die Majors: Dieser Herr wäre übernahmefällig... (vl)
Tipp: Am 25. August im Chop Records am Waisenhausplatz spielt Trummer einen «Instore Gig» // 21:00 h
Eintritt frei! www.trummeronline.ch
23
Coldplay X & Y
■ Wann haben sie das letzte Mal im Regen getanzt?
Wann sind sie das letzte Mal barfuss durch die Stadt
spaziert? Coldplay liefert ein ganzes Handbuch dafür.
Wenn es sowas wie das beste Album des Jahres geben
würde, so hätten die 4 Jungs sicher die Nase weit vorne.
Selten ein Album angehört, welches so rund und durchdacht, stimmig und «zeitgeistlich» daherkommt.
Das Geheimnis kommt irgendwo aus der RevivalKultur, welche Coldplay geschickt und bewusst neu definiert. Zu Beginn mag die Musik belanglos anmuten,
nach dem 50igsten Mal hinhören (lange Ferien-Autofahren eignen sich besonders...) offenbaren sich aber neue
Welten. Sicher: Pop-Rock muss einem gefallen, sonst
wird‘s schwieriger.
Das musikalische Fundament ist rockig und teils
auch mit harten Gitarren untermauert. Doch nie zuviel.
Mit enormer Feinfühligkeit wurde in jedem Song eine
präszise Dramaturgie aufgebaut. Hier stimmt alles. Und
die sanfte Stimme von Chris Martin gibt dem Album die
Zerbrechlichkeit. Es grenzt an ein Wunder, dass seine
überaus ehrliche Stimme im Studio nicht korrigiert
wurde - sowas ist heute in einer hochtechnologisierten Musikindustrie selten geworden. Dabei macht es
die Musik und den Klang um so vieles persönlicher und
damit wertvoller... Sehr gelungen in der Dramaturgie ist
das gewonnene Klang-Volumen, wenn die Herren zum
Beispiel im «Fix You» richtig zulegen (sowieso FavoritStück auf dieser CD).
Sehr erstaunt war ich über die 70‘iger Gitarrenklänge im Hintergrund. Gemischt wurden sie mit einem
80‘er-Jahre-Beat und dazu noch ein versteckter Sythesizer im Bass. Man staunt - eigentlich gehört das nicht
mehr zum «guten Ton» - bei Coldplay wird‘s aber guter
Ton. Dem Bandnamen entsprechend spielen sie sauber
und in der neuen «Gefühlsleere» - ganz «neuer Mann»:
Zwar klingt alles emotional, doch bleibt es auf Distanz.
So wie es uns die Modebranche vorgibt. Aber Coldplay
ist ehrlicher: Sie sind es und wiederspiegeln dadurch
wirklichen Zeitgeist. Dass ihre Texte dazu noch politischen oder gesellschaftskritischen Inhalt aufweist, ist
schon fast zuviel des Guten. Wir könnten durchaus noch
mehr davon hören wollen... (vl)
Infos: www.coldplay.com
M U S I K
25
STEPHAN FUCHS
marilyn manson:
des teufels sekretärin liebster kerl
■ Rock Oz’ Arènes, das kleine grosse Festival im
schweizerisch –keltischen Dorf Avenches zelebriert am
17. August mit Schockrocker Marilyn Manson. Mit Marilyn Manson kommen auch die ganz brachialen und
bizarren Geschichten – jene, die sich in den Medien
immer gruslig gut verkaufen: Denn es gibt kaum einer
der sich mehr Todeswünsche auf den Hals jagt als «Es».
Kaum einer der die Medien und die Öffentlichkeit mehr
zu spalten vermag als «Es». «Es» wird verantwortlich
gemacht, wenn sich Massentötungen an Schulen und
rituelle Bluttaten im Umfeld okkulter Gruppen ereignen. «Es» ist schuld am Zerfall der Normen. Fernsehprediger halten beschwörend die Bibel hoch und vor
den Stadien verteilt die Christenheit Flugblätter. «Es»
gilt als die androgyne Missgeburt Satans, als Inbegriff
des Schreckens und des Bösen schlechthin - halb Biest,
halb Engel. Der erste Jugendverderber der Nation, der
Lieblingsfeind – das ist die Paraderolle des Mannes, der
den Vornamen eines Starlets und den Nachnamen eines
Mörders führt. Helter Skelter, synonym für den totalen
Kult findet aber nicht statt.
Nach Antichrist Superstar, dem Grosswerk von 1996,
das Manson den Durchbruch in den Mainstream bescherte und schwer überbietbare Massstäbe in punkto
satanistischem Stadion-Glamour setzte, wirkt Manson
manchmal wie des ewigen Provozierens müde. Sein Job
ist schwer und er wird immer dann ans Tageslicht gezerrt, wenn bessere Erklärungen Mangelware sind: zuletzt nach dem Highschool-Massaker von Columbine, als
Eric Harris und Dylan Klebold 1999 elf Mitschüler und
einen Lehrer erschossen und 23 Menschen verletzten.
Harris und Klebold waren mit Bestimmtheit keine NeoNazis, aber sie bewunderten sie. Ein Paar Wochen vor
dem Massaker schrieen sie in ihrer Bowlingklasse «Sieg
Heil» und «Heil Hitler» und hoben dazu ihre Arme zum
Nazigruß. Sie hörten sich die gleiche Musik an: Dunklen, düsteren Industrial Metal von Bands wie Rammstein
und KMFDM. Oberflächlich betrachtet sind diese «Bösartigkeiten» Faktum genug um elegant mit dem Finger
auf Manson und ähnliche Bands zeigen zu können. Die
brave Gesellschaft ist gerettet, schuld sind die anderen.
Dann rüstet ihn die Plattenindustrie großherzig wieder
auf und lechzt auf das neue Blutbad und das erneute
Klingeln der Kasse. Auch wir, die Journalisten freuen
uns auf das nächste Blutbad, denn auch bei uns klingeln
die Kassen, ohne allzu tief in die Trickkiste gucken zu
müssen. So kriegt der Liebling des Teufels Sekretärin
was er dringend braucht: Publicity.
Des Teufels Liebling weiss was «Es» tut. Manson
weiss was er tut – und macht sich seinen Reim auf die
Sachverhalte. Man muss ihn in Bowling for Columbine
gesehen haben, Michael Moores Oscargekrönte Dokumentation über eine Nation unter Waffen. In voller Montur, mit Leichenschminke und milchiger Lieblingskontaktlinse im linken Auge wirkt er entschieden weniger
verrückt als die anderen Irren die diesen Film, den Präsidenten der Vereinigten Staaten und der Boss der «National Rifle Association» inbegriffen, bevölkern. Wie er
in klaren, wohlgesetzten Worten das Böse als Schatten
des Guten beschreibt und die Abwehr als Funktion der
Angst. «Nicht Musik sondern Angst und Konsum sind
Ursachen der Gewalt», meint Manson. So spricht nicht
der Teufel, als vielmehr einer der die Mechanismen des
«teuflischen» verstanden hat. Einen posterboy of fear
nennt er sich vor laufender Kamera und rät seinen Kritikern der Jugend von heute lieber zuzuhören, statt sie
zu verurteilen.
Wer die Botschaft ernst nimmt und den Aufklärer unter der Teufelsfratze erkennt, kann aus seinen Werken
manches lernen. Über Kreuzzüge und Gegenkreuzzüge.
Über den latenten Fundamentalismus eines Landes, das
seine Missionen mit Feuer und Schwert verfolgt. Darüber, dass eine Nation seine Feinde braucht, um sich
selbst als Nation zu fühlen. Wie Michael Moore, doch
mit drastischeren Mitteln, hält Manson seinen Landsleuten einen Spiegel vor, in den die moral majority ungern
schaut, weil das Zerrbild der eigenen Kultur darin zu
sehen ist. Er singt von der Verkommenheit der Gesellschaft im Allgemeinen und der weißen Mittelstandsgesellschaft im besonderen, von toten Göttern, toten
Gefühlen, toten Präsidenten und einem Himmel, der
so blau ist «wie eine Schusswunde» … zu viel für eine
Gesellschaft die sich im Todeskampf befindet. In immer
neuen, grandios eitrigen Farben malt er die Apokalypse
an die Wand – und bleibt als Gefürchteter den Werten
verpflichtet, die er bekämpft. Manson und der amerikanische Traum: eine Zwangsgemeinschaft zum wechselseitigen Profit. Freilich hat er auch diesen Zusammenhang längst durchschaut und in ein Diktum gegossen:
«America needs Marilyn Manson as much as Marilyn
Manson needs America.» Die Plattenindustrie freuts.
Manson Runen schockieren nicht mal Europa Ob
die Plattenindustrie mit der Marilyn Manson Attacke auf
Europa ihre Erwartungen erfüllt und die Wellen der Empörung auch hier ihre Kreise ziehen und Millionen von
neuen Käufern dem Bösen in Popstar-Gestalt verfallen,
kann bezweifelt werden. Auch mit Nazi Outfit, SS Runen
und anderem nationalsozialistischem Klimbim, wird er
wohl nur die ohnehin verängstigten hinter dem Ofen
hervorlocken. Von den richtigen Neo-Nazis wird er verspottet, von den wirklichen Satanisten bemitleidet, von
der Heavy Szene in allen Schattierungen als Kommerzhure links stehen gelassen. Europa ist, im vergleich zu
Amerika zu aufgeschlossen und zu vielschichtig strukturiert. Vor allem aber fehlt in Europa die Macht des
Tabus das der Provokateur dringend braucht, um es zu
brechen: Ohne eine konservative Umgebung wirkt der
Angriff halb so schockierend. Die letzte Lektion aus Marilyn Mansons kleiner Horrorschau besteht darin, dass
Europa, nach einem halben Jahrhundert Demokratisierung durch amerikanischen Pop, liberaler geworden
ist als das Ursprungsland. Versteht man auch dies als
Spiegel, so hat seine Tournee eine durchaus positive
Botschaft: Unter aufgeklärten Bedingungen ist auch der
Teufel nur so ernst, wie man ihn nimmt.
Das Festivalprogramm
Rock Oz’ Arènes
vom 17. - 19. August 2005 in Avenches
Hauptbühne - 17.08.2005
20h00 Ghinzu
21H30 MARILYN MANSON
Casinobühne - 17.08.2005
19h00 Washington Dead Cats
23h00 Zatokrev
Hauptbühne - 18.08.2005
20h00 Joseph Arthur
22h00 Good Charlotte
00h00 The Cure
Casinobühne - 18.08.2005
19h00 The BeBa Orchestra
21h15 Rosqo
23h00 Buck 65
01h30 Super 700
Hauptbühne - 19.08.2005
20h00 Le Peuple de l‘Herbe
22h00 Sean Paul
00h15 Asian Dub Foundation
Casinobühne - 19.08.2005
19h00 Sous la surface
21h15 Zenzile
23h30 Stress
01h30 Bubble Beatz
Aaretal Garage AG
Bernstrasse 93, 3110 Münsingen
Telefon: 031 721 33 33
www.saabhess.ch
Hess Automobile AG
Dammweg 25, 3013 Bern
Telefon: 031 348 48 08
www.saabhess.ch
M U S I K
27
SARAH ELENA SCHWERZMANN
wott nur tanze
■ Man könnte sagen, sie ist ein Sprachgenie. Obwohl...
eigentlich doch nicht. Weil Schweizerdeutsch doch keine Sprache ist und Zürcher keine Sprachgenies sind.
Und doch: sie sammelt, erfindet und lässt Wörter auferstehen, mit denen man eine Badewanne füllen könnte.
Das macht sie wohl zu einer der besten Rapper, die die
Schweiz in letzter Zeit so hervorgebracht hat. Genau.
Rapper. Und nicht Rapperin. Denn Big Zis verdient es
nicht, in einer eigenen, speziellen, behüteten Kategorie
vorgestellt zu werden. Schlicht und einfach, weil das
nichts bringen würde. Die Typen hat sie nämlich schon
lange hinter sich gelassen: Sie schreibt tollere Texte als
Bligg, hat eine schönere Frisur als Baze und kann fast
(na ja übertreiben wollen wirs doch nicht) so gut Französisch wie mein persönlicher Held Greis. Und doch hat
ihr Album keine grossen Wellen geschlagen. Oder sollte
man besser sagen: genau darum.
Man könnte sagen, sie ist eine der weiblichen Djs, die
es in der Schweiz am weitesten gebracht haben (und
wir reden hier nicht von irgendwelchen Tralala-TranceHitparaden-Scheiss-Djs). Und doch kennen sie in der
Schweiz nur wenige. Einfach weil sich Sonja Moone-
ar darauf beschränkt, zu tun was zu tun ist, und nicht
sinnlos rumzulabern und Zeit zu verschwenden. Diese
Strategie hat die zierliche Genferin weit gebracht. Nicht
nur, dass sie ihre Bookings bis nach Südamerika und
New York führen, nein, Dj Hell hat sie auch noch auf sein
Label International Gigolo geholt. Und dann wären da
noch ihre diversen Nebenprojekte...
Man könnte sagen, sie passt, mit ihrer hellen Haut
und den dunklen Haaren, besser in ein verruchtes Marilyn Manson Video als alleine auf die Bühne. Auf jeden
Fall denken das die Männer, die schon mal Schiss kriegen, wenn sie sehen, dass Water Lilly ihre Sachen so
ganz alleine produziert. Lieber wäre es ihnen, da würde
noch ein Mann hinten auf der Bühne stehen. Aber da
gibt’s nichts zu machen. Zum Glück. 1996 hat Water Lilly mit dem Auflegen angefangen. Seit 1999 produziert
sie ihre eigenen Tracks. Sie tritt in Berlin, New York und
Paris auf, hat ihre eigene Radioshow und arbeitete mit
Plastique de Rêve und St-Plomb zusammen. Noch Fragen, Jungs?
Big Zis, Sonja Moonear, Water Lilly. Diese drei, und
noch viele andere interessante Powerfrauen werden im
Rahmen des diesjährigen Sommerfoyers in der Berner
Dampfzentrale auftreten. Nichts für schwache Nerven.
Und nichts für schwache Jungs. Besonders wenn Big
Zis Dj Mad Madam mitbringt. Eine Frau, deren Dj Skills
sogar langjährigen Scratchmeistern die Tränchen auf
die Backen zaubern. Nein, ich werd euch nicht verraten,
wer das in einer schwachen Stunde ausgeplaudert hat...
Aber wenn ihrs doch wissen wollt, könnt ihr ja hingehen
– er wird in der ersten Reihe stehen und sich einen abflennen. Und wenn ihrs nicht wissen wollt, dann könnt ihr
ja trotzdem hingehen. Lohnen tut es sich allemal.
Infos
Sommerfoyer – Frauen Spezial:
Water Lilly und Sonja Moonear
Freitag, 12. August 2005, 22 h
Sommerfoyer – Frauen Spezial:
Big Zis und Mad Madam
Donnerstag, 18. August 2005, 22 h
www.dampfzentrale.ch
WO WILLST DU HIN,
MEIN LIEBER?
Abonnement
schon bestellt?
www.ensuite.ch
■ One Chip ist Jim Lusted. Noch nie etwas von ihm gehört? Kein Wunder. Wer will denn schon wissen, wer der
Tontechniker der Stereo MCs ist? Umso besser für Jim
Lusted, dass ihn ausserhalb der Szene niemand kennt,
denn das würde nur von der Musik ablenken. Und das
ist genau das Gegenteil von Jim Lusteds Ziel. Er will das
Augenmerk gezielt auf die Musik richten, und hält sich
darum dezent im Hintergrund. Oder anders gesagt: Er
lässt seine Musik sprechen. Zielsicher kombiniert er als
One Chip Aufzugsglöckchen mit sympathischen amerikanischen Schizoparolen, wie das selbst DJ Shadow
nicht besser macht, nur um dann im nächsten Moment
einen housigen Groove mit einem Perkussions-Kit zu
paaren, das jede Wunden heilt. Wo willst du hin, lieber
One Chip? Falls du dir darüber noch keine Gedanken gemacht hast, hier ein Vorschlag: Geh ins Studio und mach
eine neue Platte. Ich warte währenddessen. Dein Fan.
(ses)
CD: One Chip, «brv nu wrld» -EP, Kompakt
www.zoralanson.net
28
D I V E R S E S
/
F I L M
HELEN LAGGER
wiedersehen am swimmingpool
■ Als Alain Delon, der französische Bürgerschreck,
Romy Schneider nach Paris mitnahm empfanden die
Deutschen es wie einen Raub. Man hatte Ihnen «Sissi»
gestohlen. Für Romy Schneider begann jedoch endlich
das wirkliche Leben. So muss es ihr jedenfalls vorgekommen sein.
«Liebelei» hiess der Film für den die beiden Jungschauspieler den Vertrag unterschrieben hatten, ohne
sich je gesehen zu haben. Wie eine Liebelei sollte ihre
Beziehung allerdings nicht anfangen und schon gar
nicht enden. 1958 flog Romy nach Paris und sollte Alain
erstmals auf dem Flughafen treffen. Ein von der Filmproduktion für die Presse arrangierte Begegnung.
Ex-Sissi war zu dieser Zeit bereits ein Star, Alain Delon
ein noch unbekannter Schauspieler.
Zwei Welten trafen aufeinander. Alain Delon aus einem Pariser Vorort stammend, war nach seiner Metzgerlehre ausgerissen um zur französischen Marine zu
gehen und kam als Dschungelkämpfer in die Kolonie
Indochina. Er wurde allerdings «unehrenhaft» entlassen. Ganz anders Romys Prägung. Sie kam 1938 in dem
grossdeutschen Reich angeschlossenen Wien zur Welt.
Die Eltern Magda und Wolf, beide Schauspieler, waren
dem Führer eng verbunden.
Romy wurde hauptsächlich von den Grosseltern und
einem Kinderfräulein betreut. Später schickte man sie
auf ein katholisches Internat. Alain Delon in seinem
Buch: «Sie stammt aus der Gesellschaftsschicht, die ich
auf der ganzen Welt am meisten hasse. Sie kann nichts
dafür, aber sie ist unglücklicherweise von ihr geprägt.
Ich konnte nicht in fünf Jahren das auslöschen, was ihr
zwanzig Jahre lang eingetrichtert worden war.
Die erste Begegnung verlief chaotisch, denn schon
sprachlich konnten sie sich kaum verständigen. Zwischen dem verrückten, schnell sprechenden Wilden und
der anständigen Romy herrschte erstmals Kriegszustand. Im Zug von Paris nach Brüssel, als sie gemeinsam
an einen Filmball fuhren, verliebten sie sich schliesslich.
Romy Schneider: «Ich war 19 Jahre alt, ich setzte zum
ersten Mal meinen Fuss auf das Pariser Pflaster, und ich
wollte eine grosse Liebe zu jemandem erleben, den ich
anbetete. Für mich war Paris zuerst Alain Delon.»
Mit Alains kleinem grünen Sportwagen brausten
sie durch die Umgebung von Paris, genossen die Restaurants von Saint-Germain-de Prés und besuchten
Theater und intellektuelle Filme. Er nannte sie Puppele (Püppchen) sie nannte ihn Pépé. Die freie Jugend,
die das Geld verachtete und zu der Alain gehörte, zog
Romy magisch an und flösste ihr gleichzeitig Angst ein.
Ihre Mutter Magda und der Stiefvater reagierten zuerst
einmal mit Ablehnung, als sie von der Beziehung vernahmen. Da sie einsehen mussten, dass sie nichts mehr
daran ändern konnten, beschlossen sie eine Verlobung
zu arrangieren, damit das Ganze wenigstens eine Form
bekäme. Unter Einberufung der Presse wurde Verlobung gefeiert. Romy empfand das ganze als Farce und
befürchtete bis zuletzt, dass Alain gar nicht erscheinen
könnte. Er erschien. Aus dieser Zeit stammen Fotos, die
den antibürgerlichen Alain beim Ausstechen von Weihnachtsplätzchen, beim Schäkern mit Magda und beim
Küssen mit Romy vor dem Tannenbaum zeigen. Zurück
in Paris begann Romy ihr Leben als Französin. «Meine
Heimat ist Frankreich. Ich will ganz französisch sein in
der Art wie ich lebe, liebe, schlafe und mich anziehe»,
postulierte die in der eigenen Heimat mit Häme übergossene Schauspielerin. Schwierig war es allerdings, in
Deutschland nicht mehr und in Frankreich noch nicht
gefragt zu sein. Das Blatt hatte sich gewendet. Alain Delon war jetzt viel berühmter als sie und Romy gab zu,
eifersüchtig auf seinen Erfolg zu sein. Durch Alain lernte
sie aber auch Schlüsselfiguren wie Visconti und Chabrol
kennen. Doch die Entwicklung zur Charakterdarstellerin
verlief alles andere als reibungslos. Romy Schneider
wurde immer wieder von Zweifeln geplagt und fühlte
sich oft wie in einer Sackgasse. Sie schwankte zwischen
den Rollen der Karriere orientierten Schauspielerin und
dem Wunsch sich ganz dem Mann zu widmen, den sie
liebte. Dieser hatte allerdings sowieso andere Pläne.
Alain heiratete 1964, vier Jahre und acht Monate nach
der Verlobung mit Romy eine andere.
Romy Schneider: «Er hat mich unentwegt betrogen.
Ich war zu Dreharbeiten in Amerika. Ich kam zurück, die
Wohnung in der Avenue de Messine war leer, niemand
mehr da. Da stand ein Rosenstrauss, daneben lag ein
Zettel, da stand drauf: Ich bin mit Natalie nach Mexiko,
alles Gute, Alain». Wenig später schenkte Natalie Alain
einen Sohn.
Romy gestand, dass die Liebe zu Alain oft eine Quälerei gewesen war. Sie selbst hätte ihn jedoch nie aufgegeben. Sie hatte einen Geliebten verloren, den sie
als Freund wiedergewinnen sollte. 1968 sahen sie sich
erstmals nach der Trennung wieder. Die Begrüssung
erfolgte wie beim ersten Treffen auf einem Flugplatz.
Romy war jetzt mit Harry Meyen verheiratet und hatte
einen Sohn. Alain hatte ihr am Telefon vorgeschlagen,
mit ihm als seine Partnerin im Krimi «Der Swimmingpool» mitzuwirken. Sie sagte zu. Ein glaubwürdigeres
Liebespaar konnte sich kaum finden. «Ich küsse ihn, wie
ich jeden anderen Schauspieler auch küssen würde»,
notierte Romy in ihr Tagebuch. Trotzdem liess sie sich in
einem Brief an eine Freundin lange über Alain Delon aus
und berichtet von den Dreharbeiten wie ein verliebter
Teenager. Die prickelnden Szenen im azurblauen Wasser eines Pools in Saint-Tropez gingen jedenfalls in die
Filmgeschichte ein. Der Film endet in einem Mord. Romy
und Alain trennten sich als Freunde. Und einen Freund
konnte Romy Schneider in den kommenden Jahren gebrauchen. Die Ehe mit Harry Meyen erwies sich als Irrtum, die kommenden Männer als Nieten und schliesslich
sollte der tragische Tod ihres innig geliebten Sohnes
David ihr das Herz brechen. Mit nur 43 Jahren schied
Romy aus dem Leben.
In einem im Paris Match veröffentlichen Brief nahm
Alain Delon Abschied von seiner einstigen Geliebten.
«Mein Püppchen, ich schau Dich immer wieder an, immer wieder. Ich will Dich mit meinen Blicken verschlingen und Dir immer wieder sagen, dass Du nie so schön
und ruhig warst. Ruhe dich aus. Ich bin da. Ich habe von
Dir ein wenig Deutsch gelernt. Die Worte: Ich liebe Dich.
Je t’aime. Je t’aime, mein Püppchen. Alain.»
Ein mörderischer Film für eine
heisse Sommerfilmnacht :
La Piscine Frankreich/Italien 1968
Regie Jacques Deray
DVD erhältlich bei Amazo.fr
M E N S C H E N
29
EVA MOLLET
die freude
am leben,
die liebe
und meine
waden treiben
mich an
■ Manchmal, wenn du am Strassenrand stehst, flitzt etwas Rot-Schwarzes an dir vorbei. Ein behelmtes Wesen
mit Tasche am Rücken. Eines von ihnen habe ich getroffen. Splint ist sein Name und Velokurier ist sein Beruf.
Das war nicht immer so. Neben der Liebe hat Splint zwei
grosse Leidenschaften: das Biken und die Fotografie.
Der Name Splint kommt aus der Jugendzeit. Er hat
gerade seine Schreinerlehre angefangen, als er als Leiter der Wölfe zu den Pfadfindern stösst. In einem Holzbuch wird nach dem passenden Namen gesucht, Splint.
Splintholz ist der Name für die lebenden jüngsten Jahresringe in einem Baumstamm, unverhärtetes Holz,
Nährstoffträger.
Splint arbeitet zuerst als Schreiner danach als Modellbauer bei einem Sitzmöbelfabrikanten. Er kann beim
Entwerfen neuer Produkte mithelfen. Dies ist sein erster
Traumjob. Er gibt ihn auf für seinen zweiten Traumjob
als Velokurier in Bern. Der Job passt zu seinem Bedürfnis, täglich in die Pedale zu treten. Als Kurier fährt Splint
an einem Arbeitstag ca. hundert Kilometer - und er versucht die Verkehrsregeln zu achten. Das Pedalen macht
Splint glücklich. «Ich bin den ganzen Tag für mich solo
unterwegs und bin trotzdem in einem guten Team.» Im
Job als Velokurier kommt alles Wichtige von früher zusammen. Als Schreiner hobelt er Holz, heute hobelt er
durch die Strassen. Früher war er Pfad-Finder, als Kurier
sucht er immer den kürzesten Weg. Die Schnelligkeit
löst das Immer-wieder-fahren-wollen-Gefühl aus. Aber
damit nicht genug. Jeden Donnerstag und Sonntag fegt
Splint mit seinen Bikerbuben, den Jurazen durch unwegsames Gelände, über Stock und Stein. Ohne Motor,
angetrieben aus der Kraft von strammen Waden. Vier
wilde Buben auf rollenden Pferden. Adventure zur Entspannung.
Zur Fotografie findet Splint mit sechzehn. Auf der
Suche nach neuen Blicken und Winkeln, kauft er sich
seine erste Pocketkamera. Er will alles Besondere festhalten, um nicht zu vergessen und um anderen zu zeigen, was er alles sieht. Die Kamera ist überall dabei.
Für die Reise nach Chile kauft sich Splint seine erste
Spiegelreflexkamera. Mit vierundzwanzig gewinnt er
den ersten Fotowettbewerb zum Thema 9.9.1999. Er fotografiert an diesem Tag seine Oma, im pink Pullover im
Garten vor dem TV-Gerät sitzend. Auf dem Bildschirm
ist das Datum zu sehen, im Hintergrund mäht ein junger
Gärtner den Rasen. Die damit gewonnene Spiegelreflex
verkauft er, um das Geld in eine Nikon F5 zu investieren. Mit der neuen Kamera entstehen s/w Bilder in der
Badeanstalt Langenthal. Er fotografiert im Winter ohne
Wasser, ohne Badegäste. Nach der Amerikareise organisiert Splint seine erste Fotoausstellung. Splint will alles
selber machen, denn alles macht irgendwer selbst. Was
fasziniert ihn am s/w Bild? Flächen und Linien, Hell und
Dunkel stechen klarer hervor als bei der Farbfotografie.
Heute kann Splint sein WG Zimmer im Hand umdrehen in ein Fotostudio umfunktionieren. Er wünscht sich,
dass ihm die Ideen nie ausgehen. Die Uhren sollten sich
langsamer drehen, damit er alle umsetzen kann.
Hast du zufällig die zweitägige Fotoausstellung
Flachland in der Backstube Bern gesehen? Er stellt Bilder von seiner Reise nach Holland aus. Die Bilder im
Mittelformat zeigen u.a. L andschaften, die er schon vor
der Abreise im Kopf sieht. Er findet, wonach er sucht.
Glatte Wasseroberflächen spiegeln die Umgebung, Sonnenstrahlen, Wolken, Gräser, Tannen und verlassene
Gebäude. Eine friedliche Einsamkeit. Zur Ausstellung
fertigt Splint fünfzehn handgebundene Bücher an.
Im letzten Sommer steigt Splint mit der Kamera und
den Badenden in die Aare. Die Bilder hängt er anschliessend an die Gitterzäune entlang dem Aareufer. In diesem Jahr fotografiert Splint die Aare-Schwimmenden
aus der Vogelperspektive. Dazu steigt er mit einem rutenähnlichen Konstrukt ins Wasser. Die alte Pocketkamera kommt hier wieder zum Einsatz. Wenn alles nach
Plan läuft, werden die Diabilder irgendwie, irgendwo,
irgendwann in Bern auf Glas projiziert zu sehen sein.
Übrigens wirst du Splint sofort erkennen, wenn er
mal ohne Helm durch die Strassen saust oder in einem
Cafe sitzt. An seinem glatt rasierten Kopf hängt eine
schwarze Krähenfeder. Sie ist an einem einzigen Haarbüschel befestigt. «Die Feder kann mir niemand nehmen, sie ist das Zeichen für meine Freiheit.»
Vor diesem Zeichen muss sich sogar das Militär beugen, weil sich kein Reglement findet, das Splints Kopfschmuck verbieten könnte. Die Feder trägt er schon seit
zwölf Jahren.
30
E S S T I P P
SANDRA D. SUTTER
st. gervais, biel
STADTLÄUFER
■ nr. 11 // bedingungslos. Im Sommer wäre diese Stadt
so wundervoll, aber jeder noch so schöne Platz, jede
sonst so gemütliche Ecke schmerzt. Alles erinnert an
– ach, nennen wir sie einfach Liebelei. Also alles erinnert an Liebelei, and Liebelei has gone. Und während
die Sonne draussen den Asphalt zum Kochen bring,
fühlt sich mein Inneres wie eine Kühltruhe an.
Vor vier Jahren hat es mich zum zweiten Mal hierher verschlagen, und nur die ersten sechs Monate davon waren ohne Liebelei. Wir frönten dem Nachtleben.
Hielten Händchen in Gartenbeizen. Sind vor dem Regen
unter die Vordächer geflüchtet.
Jetzt muss ich selber von hier flüchten, damit mich
Bern nicht erdrückt. Bin schon durch die Gassen meiner
Mutterstadt gestreunt, habe Obdach bei Freunden gefunden. Sogar in Zürich war ich schon, obwohl ich sonst
für die heimliche Hauptstadt nicht des Lobes voll bin.
Aber ich komme wieder. In emotional schwierigen
Zeiten hilft (pseudo)rationales Denken: In diese Stadt
verliebte ich mich schon 1996, und hängen geblieben
bin ich zum ersten Mal 1999. Dann zwei Jahre Pause und
seit 2001 wieder. In Liebelei verliebte ich mich hingegen
erst ein Jahr später.
Meine Liebe zu Bern ist also alt (nein, sehr viel älter!)
und ich werde sie mir zurückerkämpfen, wenn’s sein
muss Stück für Stück. Jeden schönen Platz, jede gemütliche Ecke werde ich wieder bedingungslos lieben. Und
während der Schnee draussen den Asphalt bedecken
wird, wird es in meinem Inneren wieder wärmer werden.
(al)
■ Schwüle... Gedonnert hat es um 6 Uhr in der Früh.
Das Frühstück ist längst verdaut. Ein paar Schokomints
am Mittag, eine Handvoll Kirschen zum Zvieri. 18.00
Uhr und mein Magen knurrt seit einer Stunde hartnäckig. Die Stoffe kleben auf der frischgeduschten Haut.
Himmel, was denn jetzt anziehen, bei diesem Wetter, ein
Sommerabend wie in den Tropen und die Beine unrasiert...18.30 Uhr. Mein Weg zum St. Gervais führt durch
den «Podring» (die Bieler Kulturwoche für Zuhausegebliebene in der Bieler Altstadt). Im Vennerbrunnen
wird geplantscht, gespritzt, wird mit herangefahrenem
Sand «wir sind am Meer» gespielt. Bandwechsel, ruhige
Feststimmung, es riecht nach Asiatisch-Indisch-KebabCrêpes, nach Hotdogs-Baguetteschauds. Mein Magen
drängt weiterzugehen, im weitesten Sinn Richtung Solothurn – Delémont, im näheren Richtung Obergasse,
dann rechts die Gewölbetreppe hinunter in die Untergasse. Beim «Haus gepflegter Gastlichkeit» im Hof findet eine Lesung statt: «...machen Sie sich auch einen
Höhepunkt...», tatsächlich, ja!, ich gehe essen. Die Leute
lachen, einige klatschen, dann bin ich beim St. Gervais,
auch Abten- oder Bellelayhaus genannt (Geschichte
nachzulesen auf www.stgervais.ch). 19.15 Uhr. Einige sitzen drinnen an langen Holztischen – Teller werden gerade serviert, worauf ein Bärtiger mit zwei erhobenen
Daumen in Richtung Küche zeigt und einen Namen ruft.
Ein anderer am gleichen Tisch winkt aus den riesigen
Fenster auf die Strasse.... man kennt sich. Das Grotto
würdige ich mit einem wohlwollenden Blick. Wir, das
sind er, sie und ich, sitzen draußen.
Er und sie kennen auch einige, grüßen und küssen
hier und dort auch – ein anderer Brunnen plätschert,
Regenbogenmobiles drehen über meinem Kopf. Ich
fühle mich in den Ferien – die blaue Tischplatte ist das
Mittelmeer, die gelben Tischsets sind die südliche Sonne die darauf glitzert. So sitzen wir und genießen die
Altstadtambiance ohne Verkehr. «...Ist das schön in Biel,
bluttfuß in Sandalen und mit roten Zehennägel....» sagt
sie. Spontan wollen wir alle das Gleiche. Die Bedienung
ist aufmerksam, wir sind unschlüssig. Das Angebot ist
groß, reicht von Leopoldsuppe bis zur Käseplatte, Salate, Fleisch, Teigwaren, Fische, bis in die weite Welt:
Biryani und Marokkanisches Couscous. Ein beachtliches
Tee- und Weinsortiment verzögern unseren Entscheidungsprozess. Schließlich bestellen wir zweimal das
Gleiche, also Lammgigotsteak an kalter Kräuter-Senf-
sauce mit Ofenkartoffeln und Gemüse, einmal Truthahnbraten an Calvadossauce Kroketten und Gemüse
und verschiedene Vorspeisen. Mit dem Achtuhrgeläut
der Stadtkirche kommen kalte Gurkensuppe, griechischer Salat - die kleinen aromatischen Oliven erinnern
mich an meine schönste Zeit auf Kreta... - Melonen mit
Schinken. Eine Taube nippt Wasser vom Brunnen, ein
Schwarm Mauersegler flitzt über unsere Köpfe.
Das St.Gervais ist ein Ort wo man sich trifft, Zeitung
liest, an langen Tischen trinkt und isst, - manche kommen speziell dafür. Sie zum Beispiel, regelmäßig seit 2
Jahren immer am Montagmittag, weil erstens geöffnet,
zweitens die Abwechslung der Menues bemerkenswert
– die Mittagsmenues ab sofort unter www.stgervais.ch
abrufbar - und drittens das Preis-Leistungs-Verhältnis
außerordentlich stimmt - wo man Schach spielt, raucht
oder auch nicht, erzählt, diskutiert oder einfach sitzt.
Wo Begegnungen über den eigenen Kreis hinaus stattfinden, wo Offenheit, Toleranz und Verantwortung erlebbar werden.
Nach einer Vorspeise und dem Hauptgang sitzen sie
und er mit glücklichen Bäuchen und einem weiteren
Glas biologischem Wein (Vinya Laya) zufrieden und ohne
weiteres zu begehren mir gegenüber. Ich begehre noch,
weil schließlich Sommer und Ferien, die Gelegenheit und
die Gesellschaft, alles so gut schmeckt und überhaupt
so viel passt und bestelle ein Kirschenparfait. Der Teller kommt mit drei Löffeln. Was in der lichtgedämpften
Atmosphäre optisch nicht mehr ganz erkennbar ist, er
tippt auf Schwartenmagen, schmeckt wunderbar erfrischend und nicht zu süß. In diesem Moment taucht einer
in seiner ganzen Länge in den Brunnen. Wassertröpfchen spritzen auf den Tisch – Gelächter.
23.00 Uhr. Am Podring spielt vor großem Publikum
das letzte Konzert. Die Sandburgen sind sich selbst
überlassen. Es riecht nach Asiatisch-Indisch-Kebab-Crêpes, nach Hotdogs-Baguetteschauds. Nach Bier. Nach
Liebespaaren. «...Oh, Sie haben ein schönes Lächeln...»
Ja, Höhepunkte machen das.
St. Gervais, Gastfreundschaft Bienne GmbH
Untergasse 21 2502 Biel/bienne
T+41 32 322 48 22
Mo – Sa 9.30 – 00.30, So 14.00 – 23.30, Di 9.30 – 15.00
www.stgervais.ch
C A R T O O N
31
www.fauser.ch
KLAUS BONANOMI
VON MENSCHEN UND MEDIEN
Was hat Paul Klee mit dem Terror in London zu tun?
■ Am 7. Juli 2005 vormittags, als die Bomben in der
Londoner Metro und im roten Doppeldeckerbus hochgingen, war ich im neuen Zentrum Paul Klee - versunken in die Betrachtung der Sammlung, der Sonderausstellung «Nulle dies sine linea» über das Schaffen Paul
Klees in seinem letzten Lebensjahr, versunken in die Betrachtung der wunderbar leichten, transparenten Architektur Renzo Pianos... Ich war für einige Stunden weit
weit weg, in einer anderen Welt. Und dann gegen Abend
eine heftige Rückkehr ins Hier und Jetzt: Am Bahnhof
verteilten Kolporteure eine Blick-Sondernummer zu den
Terror-Anschlägen von London. Keine acht Stunden
nach den Attentaten hatte es der Blick fertig gebracht,
mit einer Extra-Ausgabe in den Bahnhöfen von Zürich,
Basel und Bern präsent zu sein; die Blätter gingen weg
wie warme Weggli.
Neben vielen Fotos, einem Korrespondentenbericht
und Agenturtexten enthielt das achtseitige Extrablatt
auch eine Kopie des (angeblichen?) Al-Kaida-Bekennerschreibens in arabischer Schrift. Eine journalistische
und logistische Extraleistung: Damit das Extrablatt ab
17 Uhr den Pendlern in den grossen Bahnhöfen abgegeben werden konnte, musste unter grossem Zeitdruck
gearbeitet werden. «Gegen Mittag verdichteten sich die
Meldungen aus London zu einem immer schlimmeren
Bild. Wir merkten, dass dies wirklich ein grosses Ereignis
war, und entschieden uns deshalb gegen 13 Uhr, ein Extra-Blatt herauszugeben», erklärte mir Rolf Cavalli, der
für das Extrablatt verantwortliche Blick-Redaktor. «Vor
15 Uhr war bereits Redaktionsschluss. Dann legte die
Druckerei in Adligenswil eine Sonderschicht ein, und die
druckfrischen Zeitungen wurden an die Verteilzentren
gefahren und von eigens aufgebotenen Verträgern unter die Leute gebracht. Das alles funktionierte nur dank
gutem Teamwork!»
Und dann musste die Redaktion die «normale» BlickAusgabe des nächsten Tages produzieren – nochmals
zehn Seiten, diesmal mit mehr Hintergrund, Interviews
und Einschätzungen. – Viel Aufmerksamkeit also für die
Bombenleger! Betreiben der Blick und die anderen Medien damit nicht letztlich das Geschäft der Terroristen,
die ja buchstäblich um jeden Preis die öffentliche Wirkung suchen? Blick-Mann Cavalli antwortet auf meine
Frage klar: «Nein! Die weitaus grösste Wirkung haben
die TV-Bilder von CNN und BBC. Den Terroristen ist es
doch egal, ob in einem kleinen Land wie der Schweiz
noch einige zehntausend Extrablätter gedruckt werden!»
Dennoch: Ohne die Massenmedien rund um den Globus könnte der Terror seine verheerende Wirkung nicht
entfalten. Und da kommt ihnen noch eine weitere Entwicklung zugute: Schnell wie nie zuvor waren diesmal
am Fernsehen und tags darauf auch in den Zeitungen
Handy-Bilder von Augenzeugen der Attentate zu sehen.
Zwar oftmals verwackelt, unscharf und düster, brachten
sie doch einen ersten Eindruck von Authentizität in die
Berichterstattung der Zeitungen. Bereits wenige Minuten nach den Attentaten trafen bei der BBC erste Bilder
ein; nach einer Stunde habe man bereits über 50 Bilder
verfügt, später gar über Tausende von Bildern und auch
Videoclips, sagte eine BBC-Sprecherin. Auch an die
Nachrichtenagenturen und Zeitungen wurden Bilder geschickt; und auch via Internet wurden Bilder verbreitet.
Offenbar hat mittlerweile fast jedermann ein Handy mit
eingebauter Kamera; und es scheint so etwas wie einen
Reflex zu geben: Wenn etwas geschieht, wird das Handy
gezückt und das Bild weitergeschickt; und via Weblog
und Internet-Foren tauschen die Menschen gegenseitig
ihre Erlebnisse und ihre Einschätzungen aus.
«Die Technik verflacht die mediale Hierarchie zwischen Laien und Professionellen», schrieb dazu die NZZ
auf ihrer Medienseite treffend. «Das tragische Ereignis
von London dokumentierte erneut, wie die Interaktionen zwischen den etablierten Medienbetrieben und
dem Publikum zunehmen.» Eine Demokratisierung des
Mediengeschäfts also, weg von der Einweg-Kommunikation, hin zur Interaktivität also...? Das Publikum, so
scheint es, emanzipiert sich mehr und mehr von der
alleinigen Deutungsmacht der herkömmlichen Medien
und bildet sich seine eigene Meinung in der direkten
Kommunikation mit seinesgleichen. «We are not afraid»
– dieses Motto machte im Internet zehntausendfach die
Runde; ein kleines Zeichen gegen die mächtige Wirkung
des drohenden Terrors.
Doch was sich auf diese Art verbreitet, ist oftmals
ein wilder Mix aus Wahrheit und Lüge, Gerüchten und
Widersprüchen; üble Scherze stehen neben seriösen
Blog-Notizen... Hier liegt denn auch weiterhin die Aufgabe der «herkömmlichen» Medien: in der zuverlässigen Information und der kritischen Reflexion. Und dafür
braucht es nicht nur das schnelle Blick-Extrablatt, sondern auch die fundiertere Ausgabe vom nächsten Tag;
es braucht ebenso die Hintergrundsendungen von Radio und TV, und es braucht auch weiterhin gute Tagesund Wochenzeitungen.
32
L E T Z T E
L U S T S E I T E
Hinweis: Die Texte auf der letzten Lustseite sind nicht ganz
jugendfrei. Wir bitten die LeserInnen unter 18 Jahren, diese
Texte aufzubewahren und erst bei bei voller Reife zu lesen.
■ weil ich nicht schlafen kann. und mir vorstelle, was
denn deine hand machen würde, wenn man sie lassen
würde. wenn ich sie lassen würde genauer. wo sie hin gehen würde, welchen weg sie nehmen würde. deine hand
mit der kleinen narbe, mit den linien den feinen. mit den
blutbahnen, warm ist sie, deine hand, und deine finger
sind ganz zärtlich und doch auch ziemlich fordernd. und
diese härchen drauf, weisst du, ich kann mit meiner einen hand deinen daumen halten, fest halten, und mit
der anderen hand kann ich die härchen streicheln und
langsam die linien, die blutbahnen entlang fahren bis
dort, wo dein pullover beginnt. der ist zum glück nicht
grad eng und ich kann drunter, dort, wo es spannend
wird und dazu in deine augen schauen. du weisst ja
selbst, wie gefährlich das alles ist, oder? ich mein, diese tabuzone, die ist überschritten, schon nur dadurch,
dass ich die trennlinie des pullis überschreite. bewusst
überschreite, anders als wenn das zufällig geschehen
würde. deine augen zeigen die antwort. gut, das war
schon vorher so, du bist schon abgeschweift während
der gespräche, du hast dich ablenken lassen, während
dem ich erzählte. du hast plötzlich etwas neues an mir
entdeckt und registriert und gemeint das wäre nicht
spürbar. sichtbar war es nicht, spürbar schon. ich weiss,
nein falsch, meine hände wissen, was sie erwartet, jenseits der linie. die wissen, wie das immer weiter geht, wie
sich die haut anspürt und wie sich dein atem verändert.
die wissen, was sie tun müssen oder was sie tun wollen.
die spüren dein leeres schlucken, bevor du es denkst.
meine hände tasten sich deinen arm hinauf, überwinden
die heikle stelle innen im arm, die fahren langsam rauf,
bis sie die nächste hürde nehmen. drübergleiten, deine
schlüsselbeine ertasten, dann langsam runter fahren. zu
deiner brust, sicher bist du behaart (weiss ich das? von
wo weiss ich das, warum weiss ich das?). meine hände
warten auf deinen schnelleren herzschlag, sie warten
darauf, die feine temperaturveränderung der haut zu
spüren. die finger spüren sogar das zusammenziehen,
das sehnsüchtige, man weiss mit den fingerspitzen wie
du hoffst, es gehe nicht weiter. und dann, dann erst
werden diese hände deine brustwarzen finden und warten. dort warten. weil es wird an mir sein, jetzt, leer zu
schlucken und erstaunt über den eigenen mut inne zu
halten. die hände sind aber irgendwie eigenständiger
und denken nicht, sie fahren einfach weiter. spielen mit
deinen brustwarzen, die reagieren werden. sehr. und ich
weiss, dass sie noch weitergehen werden. auch deine
hände warten nicht und schüchtern sind sie auch nicht,
eher ungeduldig. deine finger sind flattrig und nervös
und wollen schon jetzt zwischen mittel- und zeigefinger hinunter fahren und sich in der mitte ausruhen und
dazu deine augen in meinen. sich versenkend. du hörst
genau so mein herz schlagen wie ich deines höre und
spürst genau so die änderung der haut. wie sie röter
und straffer und wärmer wird und wie alles innendrin dir
sagt, du sollst nicht aufhören. das spürst du, spürst du
auf dem handrücken mich streichelnd. dann, dann erst
fahre ich deinen bauch langsam runter und finde die li-
nie die mich weiter führt. die linie in der die härchen so
nach innen wachsen, du weisst schon, wie bei tierchen.
und diese grenze nun, die lässt mich sprachlos werden,
atemlos. ich warte auf dich hier, warte, das auch du den
weg zu meiner linie findest, den ganzen langen weg mit
all seinen abzweigungen und verästelungen und möglichkeiten. all die kuhlen und sanften hügel, täler. und
dann bist du am selben ort angekommen wie ich, und
beide halten inne und warten. stille, pause. deine augen
in meinen, und dann erst – langsam, zögernd überschreitest du eine weitere kleidergrenze. ein elastisches bördchen, fährst darunter, wartest. streichelst mein fliess
und deine finger sind wie wünschelruten, die, mit denen
man wasser findet. deine finger finden, wie schnell sie
finden! und nicht mehr weg wollen; sie bleiben, sie spielen, sie wollen alles und doch nicht wirklich und dann
plötzlich bist du in mir drin, in meiner weichheit, in meiner nässe, in meiner hitze. und ich, ich bin immer noch
wartend, anklopfend eigentlich, aber du kommst mir
entgegen und dann wird alles unübersichtlich und läuft
nicht mehr chronologisch. und deine bewegungen sind
eindeutig und auch deine finger die jetzt anderen linien folgen. was hast du dir bloss dabei gedacht! und der
ganze unübersichtliche, zusammengeschweisste körper,
der früher mal aus zwei körpern bestand kann sich gar
nicht mehr als zwei empfinden, deine finger in mir sind
schnell und rhythmisch und deine finger aussen an mir
auch und deine augen sind in meinen und... (vonfrau)
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