Paargeschichten Reader
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Gestaltungslehre 2 SoSe 2015 Paargeschichten Vorwort Paargeschichten Fachhochschule Münster Fachbereich 7 Design Sommersemester 2015 Schrift: Chronicle Umschlagillustration: Silvia Berheide Druck: Franke & Franke GmbH Münster Sämtliche Arbeiten sind im Kurs Gestalterische Grundlagen 2, Zeitbasierte Erzählformen, bei Vertr. Prof. Thomas Henseler entstanden. © FH Münster 2015 „Paargeschichten“ war das Thema des Sommersemesters 2015 in Gestaltungslehre 2. Mit den Erzählformen Songtext und Reportage sollten die Studierenden die Bandbreite zwischenmenschlicher Beziehungen ausloten. Im Songtext- Seminar erprobten wir, wie sich mit Hilfe von Metaphern ein Text thematisch strukturieren lässt und Bilder im Kopf des Hörers bzw. Lesers entstehen. Hendrik Otremba, Dozent in der Schreibwerkstatt an der FH Münster und Sänger in der Band Messer unterstützte uns dabei. Im Seminar stellte sich heraus, dass es gar nicht so einfach ist, Gefühle preiszugeben und in eine Textform zu gießen. Einer der beiden Songtexte, es gab eine Variante mit positiven und eine mit negativen Gefühlen, sollte zudem eine „Bridge“ aufweisen, einen erzählerischen Wendepunkt, einen Wechsel in der Perspektive. Sprachbilder zu entwickeln ist eine Fähigkeit, die z.B. im Bereich der Editorial Illustration verstärkt Anwendung findet, wo komplexe Sachverhalte auf einfache und ansprechende Weise bildlich dargestellt werden. Die Reportage sollte die Studierenden weg vom Schreibtisch und nach draußen führen, um interessante Geschichten aufzuspüren: Leute in ihrem Umfeld beobachten und interviewen, die eigenen Sinne auf Empfang stellen, und diese Eindrücke auch dem Leser vermitteln. Wie bei jeder Erzählung, ob fiktional oder nonfiktional, geht es hier auch um den Konflikt: Mit welchen Problemen bzw. Hindernissen hat die Hauptfigur zu kämpfen? Eine Reportage ist zwar ein subjektiv gefärbter Tatsachenbericht, im Kern aber auch eine Nachricht, das heißt, der Leser sollte auch allgemeine Informationen bekommen, die über das Einzelschicksal hinausgehen. Was könnte ein interessanter Einstieg ins Thema sein, der den Leser neugierig und ihn die Geschichte weiter lesen lässt? Was ist der rote Faden? Wie könnte ein gelungener Abschluss der Geschichte aussehen? Dramaturgische Überlegungen, die auch in anderen Erzählformen wie Bildergeschichten, Ausstellungen und Filmen von Bedeutung sind. Von Hebammen, Dating-Apps, Fernbeziehungen, Flirtberatern über Liebe zwischen verschiedenen Kulturen bis zu Swingerklubs und Sex im Altersheim reicht das Spektrum der gefundenen Geschichten. Nun viel Vergnügen beim Lesen und Mitsingen! Herzlich, Ihr Thomas Henseler Zwischen Bienen und Blümchen Auf einem roten Rennrad kommt sie mir entgegen geradelt. Ihr Name ist Sofia. Sie ist knappe 1.60, hat eine schlanke Figur und steckt voller Energie. Heute trägt sie sportlich legere Klamotten. Genau das richtige Outfit um einen frühlingshaften Sonntagnachmittag ausklingen zu lassen. Wir schieben unsere Räder. Sie schlägt vor, in ihren Garten zu gehen. Ich willige ein. Als wir den Südpark durchqueren verlangsamt sie ihre Schritte und erzählt, dass ihr Garten so groß wäre, dass sie manchmal sogar andere Leute reinlasse. Ich beobachte das bunte Treiben, auf der großen Parkwiese und erwähne grinsend, wie überaus freundlich das doch von ihr sei. Wir überqueren die Grünfläche, lehnen die Räder an einen Baum und suchen uns ein gemütliches Plätzchen. Ich habe zwei Bier dabei, sie eine große Decke. Sofia setzt sich mir im Schneidersitz gegenüber. Der Wind spielt mit den braunen Locken, die ihr schmales Gesicht umrahmen. Von ihren Haaren schweift mein Blick über die in Sonne getränkte Wiese, auf der sich allerlei Menschen tummeln. Jeder dort scheint sich ordentlich Mühe zu geben, den schönen Tag zu genießen. Unweit von uns beschäftigen sich einige Rentner mit Wikingerschach, einem Spiel, bei dem man mit einem Stock Holzklötze abwirft. Das gelegentlich Klackern der Hölzer mischt sich mit arabisch anmutenden Handymelodien, welche aus einer anderen Richtung herüber wehen. Normalerweise empfinde ich diese Art der Musik als penetrant und nervig. Heute passt das aber irgendwie ganz gut. Etwas weiter von uns entfernt picknicken zwei Frauen, geschätzte Anfang dreißig. Eine der beiden hat einen kugelrunden Bauch. „Der geb’ ich noch maximal eineinhalb Wochen“, sagt Sofia, die ebenfalls das ungleiche Pärchen entdeckt hat. Sofia ist Hebamme. Wir beginnen uns über ihren Beruf zu unterhalten. Mit 16 Jahren erlebte sie ihre erste Geburt. Damals rief nachts die Landhebamme an, bei der sie etwa ein halbes Jahr zuvor ein Schülerpraktikum machte. Eine Frau läge in den Wehen. Sie habe nichts dagegen, wenn noch jemand anwesend sei. Ihre Mutter fuhr sie dann dahin, erzählt Sofia. „Mitten in der Nacht. Ich hatte am nächsten Tag Schule. Und das war irgendwo am Arsch der Heide.“ 4 5 Für sie war es ein total schönes Erlebnis, wie das Kind früh morgens schlüpfte. Da war dann endgültig klar: Sie möchte eine von rund 21.000 deutschen Hebammen werden. Nach dem Abitur bewarb sie sich für eine Ausbildung und arbeitete einige Jahre freiberuflich. Sie machte Schwangerenvorsorge und Wochenbettbetreuung. Keine Geburten. Heute kommt es generell kaum noch zu Hausgeburten, weil es keinen Anbieter mehr gibt, der eine Haftpflichtversicherung für Hebammen anbietet. Deshalb gerät der Berufsstand der freiberuflichen Hebamme massiv in Gefahr. Sofia blinzelt in die Sonne. Sie ist nicht betroffen, weil sie mittlerweile angestellt ist. Dennoch hofft sie stark darauf, dass der Staat eine Lösung für diese Problematik finden wird. Sonst würde es zu einem großen Versorgungsproblem kommen. „Das wird der Bevölkerung und den Familien auf die Füße fallen“, meint sie mit gerunzelter Stirn. Seit einiger Zeit ist Sofia Chefhebamme in einem Krankenhaus. Ihr elfköpfiges Team begleitete letztes Jahr 530 Geburten. Keine Massenabfertigung. Sofia ist es wichtig, sich Zeit für die Familien nehmen zu können. Trotz ihrer dreißig Jahre wirkt sie extrem jugendlich, wie sie so über ihren Beruf spricht, ein Zeichen, dass sie noch immer Feuer und Flamme dafür ist. Sie bestätigt das. „Hebamme bist du von Herzen. Das ist mehr eine Berufung als Beruf“, sagt sie und lächelt dabei. Am schönsten sei es für sie eigentlich, wenn sie während der Geburt merke, dass sie die werdende Mutter einfach machen lassen kann. Da gibt es Frauen, die sind ganz ruhig und gehen in sich. Instinktiv wissen die, wie sie zu atmen haben. Das könne etwas ganz natürlich, meditatives haben, trotz der riesigen Schmerzen. Doch mit den Schmerzen gehen Frauen ganz unterschiedlich um, erzählt sie. Es gibt auch welche, die trauen sich nicht zu, ein Kind zu gebären. Gerade letztens war eine bei ihr, die meinte: Geburt sei nichts für sie. Sie wolle ´nen Wunschkaiserschnitt. So habe sie ihr Erstes bekommen und beim Zweiten, tue sie sich so´n Scheiß nicht an. Sofia blickt auf den Boden. Behutsam wählt sie ihre Worte. Das müsse man auch akzeptieren, sagt sie. Die müsse sie nicht missionieren, diese Frau. Das werde sie sich schon überlegt haben. Oder auch nicht. Zumindest habe sie sich entschieden, dass das ihr Weg ist, ihr Kind zu bekommen. Die Hebamme wirkt nachdenklich als sie fortfährt, dass sie es natürlich toll fände, es auf dem natürlichen Weg zu probieren. Ihre Miene hellt sich auf. „Weil ich einfach davon überzeugt bin, dass Frauen gebären können.“ Ich frage sie, wie das denn mit den Vätern während der Entbindung so sei. Also in Ohnmacht gefallen, sei in ihrem Kreißsaal noch keiner. Aber dennoch gäbe es da Männer aller Couleur. Manche könne man während der Geburt richtig gut gebrauchen. „Die machen das ganz toll mit ihren Frauen. Die wissen auch wie ihre Frau tickt. Die unterstützen. Die sind… super, einfach.“ Aber es gäbe auch Männer, die kontraproduktiv seien oder für eine schlechte Stimmung bei der Mutter sorgen. „Da denkste dann: alles klar. Du holst jetzt erst mal Zeitung. Und danach musste ´n Kaffee holen. Und dann schick ich dich noch dreimal um ´n Pudding. Und...“ Sie seufzt schwer, verdreht die Augen und zwinkert mir zu. Ernst fährt sie fort, manchmal merke man auch, da sei gerade total viel Unausgesprochenes zwischen den beiden werdenden Eltern. Sobald der Mann dann mal noch schnell heimfährt um den Hund wegzuorganisieren, oder eine Tasche zu holen, ginge dann alles ruck, zuck mit der Geburt. Oft sind es auch die Schwiegereltern, die auf diskrete Nachfrage der Mutter, von der Hebamme vor die Tür des Kreißsaals bzw. zum Kaffeetrinken geschickt werden. Sofia sieht ihre Rolle als Hebamme aber keinesfalls darin, den Rausschmeißer zu spielen. Vielmehr geht es ihr darum, die optimalen Bedingungen für eine Geburt zu schaffen. Jede Geburt ist anders. Denn jede Mutter ist anders. Diese müsse man bei der Entbindung bestmöglich unterstützen. Und wenn es nötig ist, müsse man dann eben auch schon manchmal aufräumen. Gerade auch weil die Menschen so unterschiedlich sind, ist eine Geburt dann auch immer extrem spannend. Deshalb wollte Sophia früher immer jede Geburt miterleben. Auch wenn diese zwölf, fünfzehn oder gar zwanzig Stunden dauerte. Heute beendet sie pünktlich zum Schichtwechsel ihren Dienst und sieht sich dann am nächsten Tag das Protokoll an. Sie ist routinierter geworden. Trotz der Routine kann natürlich immer etwas passieren. Die Hebammen müssen eine Menge auf dem Schirm haben. Und zu Überraschungen kann es jederzeit kommen. Gerade letztens hob eine Mutter ihr Kind nach einer Wassergeburt in die Luft. Dabei riss die Nabelschnur. Eine gefährliche Situation: Im warmen Wasser hätten sowohl Mutter als auch Kind rasch verbluten können. Da war dann schnelles Handeln angesagt und die beiden Enden der Nabelschnur mussten schnell abgeklemmt werden, was glücklicherweise auch gelang. Bei einer anderen Wassergeburt wiederum hatte die Hebamme die beiden Eltern und den Säugling nach der Entbindung kurz alleine gelassen. Als sie zurückkam, saß der Vater komplett entkleidet bei Mutter und Kind im Wasser. Das störe sie doch nicht, fragte er nach. Da musste Sofia im wahrsten Sinne des Wortes beide Augen zudrücken. Sie zeigte Verständnis dafür, da sie weiß, dass ein so emotionales und freudiges Ereignis wie eine Geburt, eine Menge bei den Beteiligten auslöst. Eine ganz andere, ganz besondere Atmosphäre herrscht bei den sogenannten stillen Geburten. So werden Geburten genannt, bei denen ein totes Kind zur Welt kommt. Während das Kind normalerweise schreit und Freude herrscht, 6 7 ist es in diesem Fall ganz still und eine große Trauer liegt auf dem Kreißsaal. Als dies vor einiger Zeit geschah, wollten die Eltern später noch mal ihren kleinen Sohn sehen. Sofia holte ihn aus der Leichenhalle, packte ihn ein und brachte ihn den Eltern. Diese verabschiedeten sich noch mal von ihm. Sofia redet langsam. Man spürt, wie nahe ihr dieses Erlebnis geht, welches sie als sehr würdevoll beschreibt. Sie spreche dann auch noch mit den Kindern. Wünscht Ihnen alles Gute. Zündet eine Kerze für sie an. Will den Eltern die Möglichkeit geben, das Beste aus dieser schwierigen Situation zu machen. Wie die Geburt auch abläuft, die Hebamme ist sich sicher, dass eine Geburt extrem viel mit einer Beziehung macht. „Hallo, du wirst Eltern. Wie krass ist das denn?“ Sie selbst hat keine Kinder. Ob sie mal welche haben will? Sie ist sich nicht so ganz sicher. Bei diesem Thema wirkt ihre Körperhaltung plötzlich angespannt. Obwohl die Sonne noch kräftig scheint, zieht sie sich nun ihre Jacke an. Ernst sagt sie, sie habe Schiss vor der Aufgabe, sich ein Leben lang um ein Kind zu kümmern. Eine Lebensaufgabe sei das ja. Das nehme sie schon ernst und wolle ihrem Kind konstante Rahmenbedingungen geben. Und das passt ihr gerade nicht so ins Leben. Sie genießt die Freiheit, die ihr der Schichtbetrieb einer Hebamme bietet, weil sie da auch oft abends weggehen und am nächsten Tag ausschlafen kann. Allerdings würde sie es auch mal gerne erleben, wie es ist schwanger zu sein. Oder auch wie sie gebärt. Trotz der Hammer Schmerzen habe sie keine Angst davor. „Aber…“ fährt sie fort und ich sehe, wie ihr das Reden sichtlich schwerfällt „…ich finde Kinder auch relativ nervig.“ Das verstünden die Leute dann oft nicht. Aber sie sei doch Hebamme, ob sie denn die Kinder nicht süß fände? „Nee“, sagt sie dann, „ich find die nicht süß.“ Bestimmt fände sie aber ihr eigenes Kind auch süß, fährt sie fort. Und falls ein Unfall passiere und sie schwanger werden sollte, dann wäre das auch nicht so wild. „Dann krieg ich das Kind.“ Und lächelnd fügt sie hinzu: „Aber sicher.“ Sofia und ihr Garten werden von den wärmsten Farben der Abendsonne in Szene gesetzt. Ich bin mir sicher du gibst eine super Mutter ab, Sofia, denke ich mir. Komm flanier mit mir Vergiss den Alltag und lass uns ein wenig flaniern Einfach 'n bisschen rumlatschen und dann schau'n was passiert Zwei schöne Menschen wie wir, sind wohl nicht zufällig hier Glaub mir, es ist das Geilste, wenn wir jetzt ein wenig flaniern Wir verfolgen gerade einfach kein Ziel – komm flanier mit mir Seh'n das Ganze mal so eher als Spiel – komm flanier mit mir Erwarten von dem Trip hier bloss nicht zu viel – Komm flanier mit mir Lass uns einfach mal sehn was geschieht – komm flanier mit mir Komm entspann dich und lass uns ein Stück weiter gehn Ganz egal wohin, Hauptsache wir bleiben nicht stehn Weil wir kein Ziel haben können wir es auch nicht verfehl'n Leute schau'n, als hätten sie noch nie jemand flanieren geseh'n Wir verfolgen gerade einfach kein Ziel – komm flanier mit mir Seh'n das Ganze mal so eher als Spiel – komm flanier mit mir Erwarten von dem Trip hier bloss nicht zu viel – komm flanier mit mir Lass uns einfach mal seh'n, was geschieht – komm flanier mit mir Es fühlt sich gut an, wie sich unsre Hände berühr'n Ich fänds echt traurig, würden sie sich wieder verlier'n Es tut so gut die Nähe von 'nem andern Menschen zu spür'n Doch plötzlich hast du das Gefühl, ich würde dich festschnür'n Du verfolgst ja gerade wirklich kein Ziel –Du flanierst mit mir Siehst das Ganze ja wirklich eher als Spiel –Du flanierst mit mir Ich erwart von dem Trip hier wohl viel zu viel –Du flanierst mit mir Ich kann nicht glauben, was hier gerade geschieht –Du flanierst mit mir 8 9 Liebe zwischen Rollator und Rollstuhl Stellen Sie sich vor, Sie haben ein Date. Sie sind schon sehr aufgeregt und haben Ihr gutes Jackett mit den glänzenden Silberknöpfen angezogen, Sie hoffen ihr zu gefallen. Sie haben die Dame zum Essen eingeladen und warten schon ungeduldig am Tisch, es ist halb sechs. Endlich kommt sie zur Tür herein, sie ist ziemlich adrett, verlegen blickt sie zu Ihnen herüber. Sie winken sie freudig heran, da bemerken Sie, dass Ihre Verabredung nicht allein ist. Sie kommt in Begleitung eines jungen athletischen Mannes, Arm in Arm durchqueren die beiden den Raum. Sie sind verwirrt, doch lassen sich nichts anmerken, denn er begrüßt Sie so freundlich, ist höflich und verlässt ja schließlich Ihren Tisch. Im Laufe des Abends tut er beschäftigt, doch behält Sie immer im Auge, Sie ignorieren es. Ihr Gegenüber ist sichtlich nervös und keiner von ihnen hat schon Appetit, aber das ist egal, es ist halb sechs. Am liebsten würden Sie einen Wein bestellen, um auf den Abend anzustoßen und die Zungen zu lockern, doch die Kellnerin erklärt Ihnen mit sanfter Stimme: ‘‘Abends gibt es Tee, möchten Sie Minze, Früchte oder Kräuter?‘‘ Also trinken Sie das, dazu lauwarmes Essen, doch Sie unterhalten sich gut. Fast vergessen Sie die einsamen Blicke der Menschen um Sie herum, allein an ihren Tischen stochern diese in den zu weichen Gerichten. Plötzlich öffnet sich die Tür, drei Männer in weißer Kleidung schieben eine Frau auf einer Trage herein, sie hängt an einem Tropf, das linke Bein in einem dicken Gips. Sie drehen sich besorgt um und schauen ihr nach. Außer Ihnen nimmt keiner von ihr Kenntnis, keiner hat sich gerührt. Die höfliche Begleitung Ihres Dates steht wieder bei Ihnen am Tisch. Er räuspert sich ungeduldig, möchte, dass Sie zum Ende kommen. ‘‘Frau Wessing, es ist Zeit für ihre Pillen! ‘‘ Es bleibt kaum Zeit für ein vernünftiges Auf Wiedersehen, da wird Ihre Begleitung schon unsanft unterm Arm gepackt und aus dem Raum geschoben. Nun sitzen Sie allein am Tisch und stochern wie die anderen Gäste in Ihrem inzwischen kalten Erbsenbrei. Erneut kommt jemand auf den Tisch zu, diesmal werden Sie aus dem Raum geschoben. Es ist ein stämmiger Kerl, er begrüßt Sie mit folgenden Worten: ‘‘Na, da haben sie der Frau Wessing heute wohl ganz schön den Kopf verdreht. ‘‘ Erstaunt schauen Sie zu ihm hoch, und während Sie sich fragen, wie er sie belauscht haben könnte, lesen Sie das kleine Schild, das an seinem blauen Hemd steckt. ‘‘St. Annen Rosengarten Altenpflegeheim‘‘. 10 11 Dass ein solches Date wohl in den seltensten Fällen zu einem Zweiten führen würde, ist wohl auch jedem klar, der es bisher erfolgreich verdrängt hat, dass auch ältere Menschen mit den Problemen des Datings und Beziehungen zu kämpfen haben. Doch lebt man als Pflegebedürftiger in einem Altenheim, dann hätte man wohl keine andere Wahl, als romantische Gespräche neben Pfleger und Betreuer zu führen. Aber spielt das überhaupt eine entscheidende Rolle? Um herauszufinden, welchen Stellenwert Beziehungen in Pflegeheimen haben, traf ich mich mit einer Pflegerin im St. Annen Rosengarten in Herzfeld. Also wie wahrscheinlich ist der zweite Frühling zwischen Rollator und Rollstuhl? Betritt man die Räumlichkeiten des St. Annen Rosengartens, fällt einem direkt auf, dass mit großer Mühe versucht wird dem Heimcharakter entgegenzuwirken. Die Ecken sind vollgestopft mit großblättrigen Zimmerpflanzen, die Gardinen auffällig mit gelben Blumen bedruckt und von jeder Kommode springt einem knallbunte Deko entgegen, die nach Frühling schreit. Doch während eines Besuches in dieser Pflegeeinrichtung kommt man nicht umhin zu bemerken, dass all diese Versuche nicht über den allgegenwärtigen Geruch von Desinfektionsmittel hinwegtäuschen können, auch verdecken sie nicht die Absperrungen der Treppen oder die ständige Sichtung eines Pflegers, der mit Gummihandschuhen bewaffnet durch die Gänge hastet. An der Rezeption werde ich von einer Frau in einem mintfarbenen Kittel begrüßt. Mit breitem Lächeln bietet sie Kaffee und Gebäck an, während wir uns in den kleinen Aufenthaltsraum setzen. Schnell werden noch diverse Unterlagen vom Tisch gefegt, bevor Tassen, Kanne, Zucker und einige Tüten mit Süßigkeiten nach und nach darauf zusammenfinden. Noch vor dem ersten Schluck entschuldigt Anette sich energisch für den angeblich zu schwachen Kaffee. ‘‘Der schmeckt eigentlich nie, der kommt unten aus der Küche, ist eben für die Bewohner. Aber unsere Kaffeemaschine hier ist kaputt.‘‘ Direkt nach meinem ersten Schluck, stimme ich ihr zu. Wir beginnen unser Interview. Nach ein paar Minuten Small talk und einigen allgemeinen Infos zu Haus und Angestellten, verstummt die Pflegerin abrupt und einem verlegenen Lachen folgt ein zu großer Schluck des faden Kaffees. Einige Huster später gelingt ihr ein ‘‘Oh nein, also ein Date gab es hier noch nie. Das wär ja was.‘‘ Darauf folgt weiter verlegene Stille, also geht es erst mal mit leichter verdaulichen Fragen weiter. Sichtlich entspannter setzt Anette die Tasse ab und lehnt sich in den hellbraunen Polsterstuhl, bereit für einen Wasserfall an Informationen über Essenszeiten, Dienstplanungen und der morgendlichen Pflege. Plötzlich schrillt ein lauter Pieps-Ton auf, der in regelmäßigen Abständen durch die Räume hallt. Jeder andere wäre vor Schreck zusammengezuckt, jeder andere, doch die Leute auf dem Flur und auch die Pflegerin scheinen total unberührt davon. ‘‘Ach das ist nur der Zimmeralarm, wahrscheinlich Herr Posch, der hat immer irgendwas.‘‘ Einen kurzen Moment hält sie inne und starrt auf den Flur, bis eine kleine untersetzte Frau im knallpinken Kittel vorbeihastet. Und wie Anette es schon unauffällig angedeutet hat, ertönt dieser Alarm im Laufe des Tages nervenaufreibend oft. Natürlich ist er sinnvoll, sogar unbedingt erforderlich, aber auch ein weiteres nicht zu überhörendes Indiz dafür, dass wir uns hier in einem Pflegeheim befinden, und daran wird man hier an jeder Ecke erinnert. Durch den Alarm an etwas erinnert kramt die blonde, etwa 30 Jahre alte Pflegerin die Unterlagen doch wieder hervor und notiert hastig etwas auf mehrere Seiten, gedankenverloren fährt sie ihre Ausführungen über das Leben im St. Annen Rosengarten fort: ‘‘Ja also jeden Dienstagabend gibt es hier einen Filmabend und zweimal wöchentlich gemeinsames Erinnerungstraining, außerdem machen wir auch Kegelrunden und Bingospieleabende …‘‘ Anette zählt rund ein Dutzend Aktivitäten auf, von der morgendlichen Messe bis hin zu speziellen Männerrunden mit Kartenspielen und Zigarren, alles natürlich spezielle Gruppenaktivitäten, um die zwischenmenschlichen Bindungen zu stärken ... und dennoch, wenn man aus der Glasfront hinausblickt, die in diesem Moment den Pausenraum vom Leben der Menschen in den Gängen trennt, sieht man vereinzelt nur ein paar Leute, die allein in einem Stuhl sitzen, lesen oder Löcher in gegenüberliegende Wände starren. Angeblich so viel Potenzial um soziale Kontakte aufzubauen, egal ob romantisch oder freundschaftlich und doch scheint sich dieser Umstand hier nicht einstellen zu wollen. Und obwohl die bisherige Unterhaltung sehr informativ war und man Anette nun wirklich nicht vorhalten kann, sie wolle sich nicht unterhalten, fehlen dennoch gerade die Informationen, die die Liebe im Altersheim scheinbar so schwierig machen. Also, zweiter Versuch. ‘‘ Wenn die Bewohner hier so viele Freizeitmöglichkeiten haben, entwickeln sich da auch echte Freundschaften?‘‘ Wieder gibt es eine längere Pause, aber schließlich antwortet Anette grübelnd: ‘‘Also es gibt schon einige Grüppchen, die sitzen halt beim Essen immer zusammen. Dann unterhalten die sich auch, aber wirklich enge Freundschaften, da bin ich mir nicht sicher …‘‘ Diese Antwort überrascht nicht besonders, allerdings enttäuscht sie ein wenig. Nach Anettes Angaben tut die Einrichtung im Vergleich zu anderen Pflegeheimen wirklich viel, um den Pflegebedürftigen das Leben so angenehm wie möglich zu gestalten. Aber so angenehm wie möglich bedeutet für die meisten eben doch eine Veränderung, die ihr vorheriges Leben komplett auf den Kopf stellt. Die Pflegerin wird aus ihren Grübeleien gerissen, denn es klopft an der Tür. Eine ältere Dame im Rollstuhl möchte hereingelassen werden. Anette öffnet ihr. Sie möchte auf den Balkon, nicht um die ersten warmen Sonnenstrahlen 12 13 des Jahres zu genießen, sondern um die mittlerweile vierte Zigarette heute zu rauchen. Es ist halb drei. Anette lacht laut auf: ‘‘Meinen Sie nicht, dass Sie heute schon genug geraucht haben? ‘‘Die Dame entgegnet: ‘‘Ja und? Meinen Sie das könnte es noch schlimmer machen? Ich bin doch eh schon hinüber.‘‘ ‘‘Na das haben Sie jetzt behauptet, nicht ich.‘‘ Sie scherzen beide herum, dann schiebt Anette die Bewohnerin auf die Terrasse und stellt auch ihr einen Teller mit Nussgebäck hin. Der Umgangston ist locker, fast freundschaftlich, doch die Pflegerin erklärt, dass das weiß Gott nicht bei jedem so sei. Viele reden nur sehr wenig, gerade am Anfang, wenn sie noch neu auf der Station sind. ‘‘Es gab mal eine Frau, die hat zwei Wochen lang mit niemandem geredet, aber auch heute sagt sie nur das Nötigste. ‘‘ Anette blickt hinaus auf den Flur, seufzt kaum hörbar und erklärt dann: ‘‘Man muss bedenken, für fast alle Bewohner ist der Einzug in ein Pflegeheim eine Extremsituation, sie müssen ihr gewohntes Umfeld, ihr Zuhause verlassen und leben von heute auf morgen mit 23 fremden Personen zusammen. Die Freunde und Verwandten, ehemalige Partner, sind der Verbindungspunkt zum alten Leben. An vergangene und schöne Tage. Eine Dame erzählte mir einmal, dass wir alle sie hier drin daran erinnern, dass sie alt und schwach geworden sei. Sie war depressiv, aber ich kann mir das schon gut vorstellen, dass es einigen so geht. ‘‘ Und so ist es für Anette durchaus verständlich, dass viele sich hier nicht auf neue Menschen einlassen möchten. Vielleicht auch, weil alles hier in einem gewissen Rahmen der Öffentlichkeit geschieht, kein Wunder natürlich, wenn so viele Menschen auf einem Raum leben. Auf der Station, wo Anette arbeitet, gibt es drei Gruppenräume und eben die Zimmer der einzelnen Bewohner. Die trotz der orangefarbenen Tapete, dank Ausstattung und Aufteilung, Krankenhausatmosphäre versprühen. Einen speziellen Rückzugsraum, indem man allein oder auch zu zweit etwas Privatsphäre hätte, gibt es hier zum Beispiel nicht. ‘‘Das wär schon was Gutes.‘‘, gesteht Anette. ‘‘Die Privatsphäre ist schon extrem eingeschränkt, aber meistens geht das gar nicht anders. Viele können sich gar nicht mehr allein waschen oder mühelos aus dem Bett aufstehen, da muss dann halt immer jemand dabei sein. Und dass man das Zimmer nicht abschließen kann, ist ja wohl klar. Aber bevor ich irgendwo reingehe, klopfe ich immer an und warte dann noch so 1-2 Minuten, damit die Bewohner sich darauf vorbereiten können. Also zumindest mach ich das so, für die anderen kann ich natürlich nicht sprechen.‘‘ Wir sind mittlerweile aufgestanden und machen einen kleinen Rundgang durch das Gebäude. Während wir durch die langen Flure und an den vielen beschilderten Zimmertüren vorbeilaufen, stelle man sich mal vor wie an einigen Klinken ein Schild mit der Aufschrift ‘‘Bitte nicht stören!‘‘ oder eine Socke hängt. Ich frage Anette danach, sie lacht. ‘‘Also seitdem ich hier arbeite, hab ich das noch nicht erlebt. Wir hatten hier mal ein Pärchen auf der Station, die haben in einem Doppelzimmer gewohnt. Für die war das bestimmt nicht einfach, man will ja auch ein bisschen Zweisamkeit, aber mitbekommen hab ich da nie was. ‘‘Also spielt Sexualität und Liebe im Alter gar keine Rolle mehr?‘‘ ‘‘Oh doch, doch‘‘, sagt Anette. ‘‘Sex spielt noch eine Rolle. Aber eher hinter verschlossener Tür, viele gehen ihren Gelüsten eben allein nach. Bei einem Mann, der war schwerhörig, da hab ich geklopft und gewartet, aber als ich da rein bin, hatte er das doch nicht mitbekommen, der war dann auch grad zugange. Dann bin ich leise wieder raus, um ihn nicht zu stören.‘‘ Zudem erklärt Anette dann noch, dass einige Bewohner, gerade Demenzerkrankte, schon oft und sehr offen über das Thema Sex reden. Da sind anzügliche Geschichten oder derbe Witze ganz normal. Sexualität im Alter also definitiv ja, aber dennoch keine Zweisamkeit. Klar, es scheint viele Störfaktoren zu geben, aber dass man sich hier gar nicht näher kommt, obwohl man jeden Tag zusammenlebt, das scheint doch paradox. Anette bleibt in einem großen Raum stehen, in dem sich mehrere Tischgruppen befinden. In einem Regal an der Wand stapeln sich verschiedenste Gesellschaftsspiele sowie eine kleine Auswahl an Büchern, am Ende des Raumes steht eine kleine Sofalandschaft. Während wir den Raum durchqueren, folgen uns die neugierigen Blicke der Menschen, die vereinzelt an den Tischen sitzen. ‘‘Du musst wissen, die meisten kommen hier hin, nachdem ihre Partner schon verstorben sind. Und bei den meisten ist das so, da heiratet man, ist seinem Partner für immer treu, auch nach dem Tod. Die meisten möchten sich aus Respekt vorm Partner nicht noch einmal auf jemanden einlassen. Das ist zumindest meine Erfahrung. Entweder erzählen die Bewohner hier gar nichts aus ihrer Vergangenheit oder aber, und das ist bei den meisten so, reden sie fast ausschließlich von ihren ehemaligen Partnern. Und ich höre diese Geschichten immer wahnsinnig gerne.‘‘ So scheint es also, dass die unterschiedlichsten Gründe zusammenkommen und an einem Strang ziehen, um so die zweite Liebe im Altersheim zu einer schwer überwindbaren Herausforderung zu machen. Da spielen das sterile Umfeld, die kaum vorhandene Privatsphäre, die Krankheitsbilder und die Vergangenheit der Bewohner zusammen, um dem Zweiten Frühling entgegenzuwirken. Wir haben unseren Rundgang beendet und sind wieder in dem kleinen Aufenthaltsraum angekommen, ich trinke den letzten Schluck des mittlerweile kalten Kaffees aus und bedanke mich höflich bei Pflegerin Anette. Sie begleitet mich noch zur Tür, und während ich hinaus in den Innenhof trete, hallt mir immer noch der schrille Pieps-Ton in den Ohren… 14 15 Papierherz Kriegstrophäen Strophe 1: Wir waren einst eine Einheit Du mein Kämpfer und Held Aber Ruhe hält nie lange Zeit Dast Waffen gegen mich gestellt Fielst ein, überranntest mein Land Diest Schutt und Asche zurück Dich zu neuen Opfern bekannt Verloren, Geflohen viel Glück Refrain: Dein Leben ist ein Krieg Weißt nicht, wofür du kämpfst Siehst Liebe nicht als Sieg Doch es ist leichter als du denkst Denn du ringst mit dir selbst Bitte lass mich endlich gehen Könntest loslassen fort von hier Doch du brauchst deine Trophäen Strophe 1: Deine Augen blickten verlegen Dein erstes Hallo, viel zu leise Doch war dir direkt erlegen Erahnte die kommende Reise Meine Seiten sind weiß und leer Du aber gezeichnet vom Leben Füllst meine Kapitel seither Ihr Anfang und Ende gegeben Refrain: Dein Leben ist ein Krieg Weißt nicht, wofür du kämpfst Siehst Liebe nicht als Sieg Doch es ist leichter als du denkst Denn du ringst mit dir selbst Bitte lass mich endlich gehen Könntest loslassen, fort von hier doch du brauchst deine Trophäen Bridge: Irgendwann dann die Erkenntnis Mein Unrecht, mein Geständnis Der Kampf wütend allein in mir Ich hebe die Hände, ich kapitulier‘ Refrain: Und mein kleines Herz aus Papier Schreibt jeden Takt nur von dir Deinen Namen schon 1000 Mal Jede Seite ist dein Denkmal Ein Buch und alle Kapitel Tragen dein Lächeln als Titel Strophe 2: Heimlich dann stehst du da Nicht in der Rolle des Gegners Bist verwirrt, denkst nicht klar Soldat sag mir, wieso der Fehler? Deine Blicke reden von Sehnsucht Doch bevor die Bomben hochgehen Hast du die Chance auf Zuflucht Ich bleib in der Schusslinie stehen Refrain(geändert): Mein Leben ist ein Krieg Weiß nicht, wofür ich kämpfe Sah die Liebe nie als Sieg Es ist leichter als ich denke Denn ich ringe mit mir selbst Lass dich nun endlich gehen Wollte loslassen, fort von hier Doch brauchte meine Trophäen 16 Strophe 2: Jeder Zentimeter meiner Haut Zeigt dein Leben, deine Figur Und flüstern so unendlich laut Jede Seite, deine Signatur Hab‘ mir deine Tränen kopiert Und jedes Lächeln nachgemalt Alles in mein Papierherz notiert Gebunden in deiner Gestalt Refrain: Und mein kleines Herz aus Papier Schreibt jeden Takt nur von dir Deinen Namen schon 1000 Mal Jede Seite ist dein Denkmal Ein Buch und alle Kapitel Tragen dein Lächeln als Titel Strophe 3: Das letzte Blatt, kein Happy End Denn es kommt, wie es kommen muss Unsere Leben wie Silben getrennt Schrieb noch schnell den letzten Kuss Und hör nicht auf, dich zu skizzieren Jeden Moment trag ich auf der Haut Deine Worte kann keiner radieren Flüstern noch immer so unendlich laut Refrain(geändert): Und mein kleines Herz aus Papier Schrieb jeden Takt nur von dir Dein Name, ewig im Gedächtnis Jede Seite ist dein Vermächtnis Ein Buch und alle Kapitel Trugen dein Lächeln als Titel 17 Ein Wisch - und weg Ein halbdunkler Raum. Die Jalousien sind hinuntergelassen. Durch die Ritzen fällt spärliches Licht. Lediglich eine kleine Lichtquelle lässt grobe Umrisse der Möblierung des Zimmers erahnen. Es scheint einfach eingerichtet zu sein. Auf der Fensterbank steht eine Pflanze, die ihre Blätter hängen lässt. Darüber hinaus sind ein Schreibtisch, zwei Regale mit Ordnern, ein Schrank und ein ungemachtes Bett mit einer großen Gestalt zu erkennen. Das Bett ist auch der Ursprung der Lichtquelle. Es handelt sich um ein Handy, dessen Display hell aufleuchtet und das Gesicht der Person erkennen lässt. Wir befinden uns im Zimmer von Markus B. (Name geändert). Er ist 26 Jahre alt, Sport- und Managementstudent an der BSA - Akademie in Saarbrücken. Seine noch vom Schlaf ganz kleinen Augen sind leicht zusammengekniffen und starren auf den kleinen Bildschirm. Dunkle Bartstoppeln umrahmen sein kantiges Gesicht. Unter seinem weißen T-Shirt zeichnet sich ein durchtrainierter Oberkörper ab. Ansonsten trägt er eine kurze Jeanshose und Socken, die unterschiedlich hoch gezogen sind. Er fährt sich durch sein verstrubbeltes Haar und gähnt laut. Sein Atem riecht nach Kaffee. Die Luft ist noch von der Nacht verbraucht. Immerhin bietet er mir einen Kaffee an, den ich dankend ablehne. Heute ist unser erstes Interview zum Thema Dating App. Er schaut auf das Display. Ein Lächeln umspielt seine Lippen. „Lust gleich zu treffen?“ „Klar, wann denn genau?“ „Um 20 Uhr im Barcelona?“ „Gerne, freu mich, bis später.“ Es ist 12 Uhr mittags und „MrAesthetic“, 26 ist online. Oben rechts auf dem Display ist der Schriftzug Lovoo zu erkennen, eine Dating-App, die in Single Kreisen hoch im Kurs steht. Sie ist größte europäische Kennenlern-App, seit 2011 auf dem Markt, und setzt ihren Fokus speziell auf das mobile Dating. Lovoo zeigt zusammen mit anderen Apps, wie beispielsweise Tinder, dass Angebote dieser Art großes Potenzial haben und ein enormer Andrang auf mobiles Dating, Flirts und Kennenlernen besteht. So wie Markus unter dem Namen „MrAesthetic“ firmiert, tummeln sich noch 20 Millionen weitere Menschen 18 19 weltweit auf dem Portal. Täglich kommen 20.000 neue Nutzer hinzu. Er sei durch Freunde an die App geraten und hätte sie, ohne große Ansprüche an diese, einfach mal ausprobiert, erklärt er mir. Er zeigt mir die Bilder von seinem bevorstehenden Date mit „Caroline91“ (Name geändert). Sie hat nur ein Bild hochgeladen, auf dem man dafür aber ihren kompletten Körper erkennen kann. Sie ist groß und hat lange schlanke Beine, eine hübsche Brünette mit großen braunen Augen, die verschmitzt in die Kamera lächelt. Laut Angabe ist sie 23 Jahre alt, Studentin, Nichtraucherin und Single. Auf Sinn für Humor beim Partner legt sie viel Wert und findet einen durchtrainierten Körper erotisch. „Das passt doch ganz gut“, murmelt Markus mehr zu sich selbst. „Mal sehen, was sonst noch so auf dem Markt ist. Es wird Zeit für ein Spielchen“. Gesagt, getan. Markus führt mir vor, wie das „Kennenlernen“ bei dieser App funktioniert. Er berührt unten in der Leiste das Icon mit den zwei Kartensymbolen. Sofort springen einem diese mit Bildern von Frauen entgegen. In der Mitte sind zwei Kreise abgebildet, in denen ein X und ein Haken zu sehen sind. Mit einem Wisch ist die abgebildete Frau weg. Es erscheint ein neues Bild auf dem Bildschirm. „Ein Wisch nach rechts bedeutet ‚hot’, einer nach links ‚not’“, kommentiert Markus. Die aktuell zu sehende Frau ist nicht sein Typ. Er zieht ihr Bild mit dem Finger nach links und es verschwindet mit einem rot aufleuchtenden Kreuz. Die Nächste, bitte! Er tippt das soeben aufgepoppte Bild an und bekommt weitere Fotos zu Gesicht. Zu jedem Bild wird auch gleich angezeigt, ob eine Interessenübereinstimmung besteht. Nach rechts: ‚Hot’! Match! „Schmetterling90“ hat auch Interesse an dir. Nehmt jetzt Kontakt miteinander auf und lernt euch kennen!“, blinkt plötzlich die Nachricht auf. Jetzt besteht die Möglichkeit ein Chat mit „Schmetterling“ zu starten oder dies auf später zu verschieben. Sein Finger wandert auf den Button „später“ und es erscheinen weitere Bilder von Frauen in seiner unmittelbaren Umgebung. Die Reichweite des Flirtradars, die mithilfe des GPS ermittelt wird, kann man unter Einstellungen variieren und so das Gebiet beliebig eingrenzen oder ausweiten. Aber reichen allein Bilder aus, um herauszufinden, ob eine Person passt oder nicht? Die prompte Antwort von Markus: „Klar, im realen Leben entscheidet doch auch erst einmal das Äußere bei der Frage, ob eine Person passt oder nicht und erst danach berücksichtigt man auch innere Werte“. Ein Freund allerdings, so erzählt er, fand seine jetzige Freundin auf den ersten Blick nicht so attraktiv, jedoch im Laufe des Gespräches wurde sie für ihn immer interessanter- und jetzt sind sie ein Paar. Manchmal lohnt es sich also auch einen zweiten Blick zu riskieren und genauer hinzusehen. Er blickt wieder auf sein Handy. „Eine richtige Sucht-App“, so sagt er. „Einmal dran geschnuppert, kann man nicht mehr damit aufhören!“ Markus erzählt mir Näheres über seine Erfahrungen mit Lovoo. Es sei immer wieder interessant, wen und was man alles bei der App entdecke. Viele seiner Freunde und Bekannten nutzten diese App auch. Allerdings seien manche Chatanfragen schon grenzwertig, es sei ihm schon passiert, dass Kontakte ihm nicht ganz jugendfreie Bilder geschickt hätten. Bei dieser Erzählung kann er ein schelmisches Grinsen nicht verkneifen. Dieses gerät jedoch in Schieflage, als er von einem speziellen Angebot einer reifen Frau berichtet, die ihm liebend gerne ihre reichhaltigen sexuellen Erfahrungen nahebringen wollte und ihn gerne unter ihre Fittiche genommen hätte. Auch Angebote von Männern waren darunter, die „einen schönen Arschfick wollten“, obwohl in seinem Profil heterosexuell angegeben war. In der Regel komme aber lediglich ein unkreatives „Hi, wie geht’s?:)“, wenn überhaupt. Meist müsse der Mann Eigeninitiative ergreifen. Und wehe es handle sich nur um ein langweiliges „Hey wie geht’s, deine Bilder sehen schön aus. Würde dich gerne kennenlernen.“ Er lacht mich herausfordernd an. Die App ist gut für Flirts und ein wenig Spaß, aber man findet auch viele Personen, die nach was Festem suchen. Unter „Details“ kann man persönliche Angaben machen, unter anderem, auch wonach man sucht, sodass von vorneherein geklärt ist, worauf man aus ist. Markus präsentiert mir nochmal stolz seine Matches des heutigen Tages, zu denen er auch schon einige Treffen für die nächsten Tage vereinbart habe. Seine Erfolgsquote sei mäßig. Die meisten seien zwar ganz nett, nur für mehr als etwas Spaß, reiche es dann doch nie aus. In der Realität sehen viele auch etwas anders aus als auf den Bildern. „Frauen sind schon gerissen. Sie wissen es, sich vorteilhaft in Szene zu setzen“, lacht er. „Männer sind da weniger talentiert“. Inzwischen ist es bereits Nachmittag des nächsten Tages. Wir haben uns verabredet, um uns über den Ausgang seines gestrigen Dates auszutauschen. Bei dem Gedanken an den Abend verzieht sich sein Gesicht. „Es war kurz und knackig. Immerhin bin ich so mal früher ins Bett gekommen!“, lacht er. Am Treffpunkt angekommen, so erzählt er mir, schien er trotz Verspätung der Erste zu sein. Keine Frau, die an ihm vorbei lief, stimmte mit dem Bild auf Lovoo überein. „Ich fühlte mich schon versetzt, als ich hinter mir eine Stimme fragen hörte: „Hey bist du Markus?“, erinnerte er sich. „Ein Lächeln breitete sich auf meinem Gesicht aus. Ich drehte mich auf der eigenen Achse um und wollte es gerade bestätigen, aber als ich die junge Frau zu Gesicht bekam, ver- 20 21 schlug es mir die Sprache. Das sollte Caroline sein?! Mein Lächeln erstarb. „ ... bin ich nicht. Tut mir leid, Sie müssen mich verwechseln.“. Denn vor ihm, so erzählte er mir, stand eine hochgewachsene Frau, die allerdings keinerlei Ähnlichkeiten mit ihrem Profilbild aufwies. Sie habe zwar braunes Haar gehabt, das zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden über ihren Rücken flöße und braune Augen, doch da hören die Gemeinsamkeiten auch schon auf. Er habe sich schnell wieder umgedreht und frustriert die Kneipe verlassen. Als er mir dieses Erlebnis berichtet, spiegelt sich auf seinem Gesicht Enttäuschung wider. „Schade, dass man in der realen Welt die Personen nicht auch „wegwischen“ kann, wenn sie einem nicht gefallen“, grinst er schief. Wisch und weg. 22 23 Schokolade Achterbahn Im MP3-Player Songs von Coldplay und John Mayer In Dauerschleife jeden Beat auf Repeat Doch je lauter die Musik, desto tiefer der Schmerz Kann nicht lachen - über keinen Scherz Kann bloß weinen mit zerrissenem Herz Der Moment der Trennung - lang wie eine Ewigkeit Verschwunden ist die Heiterkeit Verschwunden die Zweisamkeit - das Ende der Einheit Und beim nächsten Verlieben, Wird es wieder höher und schneller schlagen Schmetterlinge fliegen durch den Magen An meinem Stolz wird nichts mehr nagen Sondern er wird wie ein Wolkenkratzer emporragen Genesung ist wie eine Achterbahn Wechsel zwischen Ruhe und Wahn Im Looping steht man Kopf verkehrt ist die Welt Hab Angst dass man hinunterfällt Und am Ziel, was ist mein Part? Ausstieg oder neue Fahrt? Ich kann nur stärker werden Werde jemanden finden wie dich oder anders Mein Herz ist in Reparatur Bald wieder voll intakt Und schlägt im Rhythmus exakt 24 Beim ersten Blick auf deine Bilder bei Tinder So wunderschön, das sieht sogar ein Blinder Das erste Treffen auf neutralem Boden Trinkst heiße Schokolade, statt Latte macchiato Ich denk: "Ti amo!" Wir spüren gleich eine Konnexion Viel Emotion, das Herz in Rotation Der Startschuss für unsere Liaison Denn Liebe ist wie Schokolade Hab ich keine, ist dies schade Die Endorphine bringen mich in Fahrt Jeder Biss so süß und zart Der Abschied naht, Nervöses hin und her wippen Ich wage den Schritt und gebe dir den ersten Kuss Mir wird ganz heiß, die Knie weich Ich schmecke Schokolade auf deinen süßen Lippen Sie verführt meine Sinne, Gänsehaut von oben bis unten Ich konnte einfach nicht widerstehen Und hoffe wir werden uns bald wiedersehen. Ich hoffe es wird kein Hundertmeterlauf, Wir springen über jede Hürde und jedes Hindernis Unsere Liebe soll lang halten, wie ein ewiger Marathon Laufen bergauf Laufen bergab Wenn du nicht mehr kannst, nehme ich dich huckepack Oder gebe dir ’nen Stück Schokolade aus meinem Rucksack 25 Türkisch Heiraten - Liebe zwischen Prunk, Tradition und Ehre - Allah sagt: „Wer nicht heiratet, obwohl er in der Lage dazu wäre, gehört nicht zu mir.“ Kein Wunder eigentlich, dass Dilay Y. schon morgen wieder auf eine Hochzeit eingeladen ist. Es ist bereits die Zweite in dieser Woche und das im April, also außerhalb der typischen Sommer- und Herbstsaison, die in etwa von Mai bis November geht. Zu diesen Hoch-Zeiten ist Dilay mit ihrer Familie im Schnitt jeden Samstag und Sonntag auf einer Hochzeit - manchmal auch auf zweien an einem Tag. Dilay lacht und streicht sich eine Strähne ihres langen dunklen Haares aus dem Gesicht. Sie ist in Deutschland geboren und aufgewachsen und weiß deshalb genau, wie verrückt sich so ein Hochzeitsmarathon für uns vergleichsweise „heiratsfaule“ Deutsche anhört. Morgen geht es für sie auf die Hochzeit einer alten Freundin aus Kindheitstagen. Dass man bei dieser Vielzahl an Hochzeiten das Brautpaar persönlich kennt, ist nicht selbstverständlich. Dilay wohnt in Köln Chorweiler zusammen mit ihren Eltern, die beide bereits als Kinder nach Deutschland kamen. Sie studiert Journalismus und Unternehmenskommunikation und macht gleichzeitig ihre Ausbildung zum Mediengestalter Bild und Ton. Mit ihren 22 Jahren ist Dilay außerdem im besten Heiratsalter, das im türkischen Kulturkreis für Frauen idealerweise zwischen 18 und 24 Jahren liegt. Das durchschnittliche Heiratsalter deutscher Frauen von 31 Jahren, käme hiernach nur für die wenigsten infrage. Tatsächlich sind nach Dilays Erfahrung auch hier in Deutschland die ältesten türkischen Bräute im Schnitt 25 bis 26 Jahre alt. Bei türkischen Männern liegt das ideale Alter höher, bei 25 bis 29 Jahren. Heute finden die Paare größtenteils selbst zueinander. Dilay glaubt, dass in Deutschland arrangierte Ehen nicht mehr weit verbreitet seien, dass es das in seltenen Fällen aber noch gebe, auch wenn so etwas für sie selbst nie infrage käme. Doch in der ländlichen Osttürkei, wo die Menschen altertümlich in kleinen Dorfgemeinschaften leben, seien Zwangsehen nach wie vor gang und gäbe. Ob arrangiert oder nicht, wenn sich ein Paar schließlich gefunden hat, ist das nur der erste Schritt von vielen, denn im Gegensatz zu dem Ablauf einer 26 27 deutschen Hochzeit, wirkt eine traditionelle türkische Hochzeit wie eine regelrechte Prozedur. Für die Mehrheit der Deutschen ist bereits nach der standesamtlichen Eheschließung Schluss - für nur etwa ein Viertel der Paare folgt noch die kirchliche Trauung. Das anschließende Fest wird dann hier und dort mit einigen individuellen Ideen und Bräuchen ausgeschmückt, von deren Existenz die meisten erst bei den eigenen Hochzeitvorbereitungen erfahren. Dilay hingegen kann wie selbstverständlich und ohne groß nachzudenken den genauen Ablauf und die Bräuche einer traditionellen türkischen Eheschließung wiedergeben. Die prunkvolle Hochzeitsfeier am Schluss markiert dabei nur den Höhepunkt vieler einzelner Etappen, von deren Ablauf und Reihenfolge in den seltensten Fällen abgewichen wird. Zu Beginn steht der sogenannte Bewilligungsbesuch, bei dem die Eltern des Jungen bei den Eltern des Mädchens um dessen Hand anhalten. Obwohl das Paar heutzutage oft selbst zueinanderfindet, wird dieser Schritt wegen seines symbolischen Wertes nicht übergangen. Die Eltern treffen sich zu Kaffee und Kuchen im Haus des Mädchens, um sich kennenzulernen. Im Laufe des Gespräches ergreift der Bräutigamvater das Wort, um mit einem traditionellen Satz bei den Eltern des Mädchens eine Heiratserlaubnis zu erbitten: „Mit Erlaubnis Gottes und mit Einwilligung des Propheten bitte ich im Namen meines Sohnes um die Hand deiner Tochter“. Der Brautvater stimmt daraufhin mit dem Satz, „Wenn unsere Kinder es so wollen, soll es ihnen Glück bringen“, der Ehe zu. Anschließend kocht das Mädchen für alle türkischen Kaffee. Der Bräutigam muss nun beweisen, dass er bereit ist, alles für seine Zukünftige zu tun, indem er seinen Kaffee mit Salz, Pfeffer und Zitrone serviert bekommt. Dilay verzieht das Gesicht, als sie erzählt, dass inzwischen gerne noch Unangenehmeres als Prüfung verlangt wird: „Manche spucken in den Kaffee. Das find ich dann schon ekelhaft. Das muss einfach nicht sein.“ Das anschließende Versprechen und die Verlobung werden oft in den Bewilligungsbesuch integriert. Die Bräutigamfamilie bringt die Verlobungsringe mit, die mit einer roten Seidenschnur verbunden sind. Nachdem die Ringe getauscht wurden, wird das Band zerschnitten. Oft wird das Band in kleine Stücke geschnitten, von denen die unverheirateten Mädchen eines essen müssen, um ähnlich wie bei unserem „Brautstraußwurf“ bald selbst einen Ehemann zu finden. Dabei gilt, je größer das Stück, desto schneller wird man fündig. Dilay selbst durfte auch schon eines probieren. „Ich würd’s nicht weiterempfehlen“, sagt sie und lacht. Anschließend an das Versprechen kann eine Verlobungsfeier ausgerichtet werden, die immer die Brautfamilie finanziert. Ohnehin ist alles, was mit den Kosten einer Hochzeit zusammenhängt, durch die Tradition streng und ein- deutig geregelt. Auch auf die Größenordnung, in denen bei türkischen Festen gedacht wird, gibt die Verlobung bereits einen Ausblick. Sie werde eher im kleinen Kreis gefeiert, sagt Dilay, natürlich nie größer als die eigentliche Hochzeit. Manchmal werde dafür ein Saal gemietet, denn „kleiner Kreis“ bedeutet für Dilay 200 bis 250 Gäste. Anschließend kommt es zur standesamtlichen Hochzeit und danach wird zum Essen eingeladen, immer von der Familie des Bräutigams. Die darauf folgende Trauung vor Gott findet nicht wie eine kirchliche Hochzeit in Deutschland am selben Tag wie das große Fest statt. Es handelt sich eher um eine intime Zeremonie, bei der der Hoca, der islamische Geistliche, zum Brautpaar in die Wohnung kommt, nur noch die Eltern sind manchmal auch anwesend. Der Hoca fragt das Paar dreimal, ob sie einander heiraten wollen und erst nach dem dritten Jawort sind sie vor Allah vermählt. Passend zu der festgelegten Finanzierung der Feierlichkeiten, wird nach der Trauung vor Gott eine Art mündlicher Ehevertrag verhandelt, indem der Hoca die Eheleute fragt, was sie im Falle einer Trennung vom jeweils anderen erhalten würden. Noch kurz vor der eigentlichen Hochzeitsfeier findet der sogenannte „Henna-Abend“ statt - finanziert von der Familie der Braut. An diesem Abend wird der Abschied des Mädchens aus dem Elternhaus zelebriert. Die Zeremonie findet eigentlich nur unter Frauen statt, bei moderneren Paaren dürfen aber oft auch Männer teilnehmen. Wieder spricht Dilay von einem „kleinen Kreis“ an Gästen und meint damit rund 200 Leute. Es wird getanzt und gegessen, bis schließlich der Raum abgedunkelt wird. Es werden Kerzen angezündet und die Frauen ziehen traditionelle Gewänder an. Die Braut selbst trägt einen sogenannten „Bindalli“, ein besticktes, reich geschmücktes Kleid und ein rotes Kopftuch mit Pailletten, damit man nicht sieht, dass sie darunter weint, wenn anschließend die Mädchen in einem sehr emotionalen Moment Abschiedslieder für sie singen. Es wird sogar erwartet, dass sie weint, da es zeigt, wie traurig sie ist, das Elternhaus zu verlassen. Eine ältere Frau gibt Henna in die Handflächen der Braut und es wird anschließend ein Goldader dazugelegt. Auch die Gäste dürfen sich Henna an die Fingerkuppen geben und es wird bis in die Nacht gefeiert. Oft findet eine Woche nach dem Henna-Abend die Hochzeitsfeier statt. Sie ist groß, sie ist bunt, sie ist glitzernd. Eine Gästeliste von 500 bis 1000 Menschen ist ganz normal. Für die Kosten kommt ausschließlich die Familie des Bräutigams auf. Eine Ausnahme bildet hier nur der Hochzeitsanzug des Bräutigams, den die Brautfamilie bezahlt. Der Tag der Hochzeit beginnt mit der Abholung der Braut. Früher in Pferdewagen, heute in Limousinen fährt der Bräutigam mit Freunden und Bekannten 28 29 im Autokorso zum Haus der Braut. Dort angekommen, öffnet sich die Tür jedoch erst, wenn eine gewisse Summe an Geld bezahlt wurde. Abhängig von der Familie der Braut schwankt dieser Betrag zwischen 20 und 700 Euro. Bevor die Braut das Haus verlässt, bindet ihr der älteste Bruder zum Zeichen ihrer Jungfräulichkeit ein rotes Band dreimal um die Hüfte. Hier stockt Dilay, denn sie glaubt, dass dabei noch irgendetwas etwas gesagt wird. Sie ruft nach hinten „Anne“ - schnelle türkische Sätze unterbrochen von deutschen Wortfetzen. Dilays Mutter weiß, dass bei dem Brauch ein Gebet gesprochen wird und manchmal hängt der Brautvater noch einen Goldtaler an das Band als „letztes Taschengeld“. Begleitet von zwei Musikanten, die mit Davul und Zurna (Pauke und Oboe) Volkslieder spielen, führt der Bräutigam die Braut aus dem Haus. Bevor es dann für das Paar zum Fest geht, haben sie einen Fototermin und machen eine Stadttour, während die Gäste bereits den Saal betreten und tanzen. Zwei bis drei Stunden später kommen Braut und Bräutigam mit den beiden Musikern dazu. Jetzt darf der Bräutigam der Braut den Schleier öffnen und ihr eine Kleinigkeit schenken. Dann wird natürlich wieder getanzt. Man isst Fladenbrot mit Dips und traditionell Hähnchen oder Rind mit Reis und Salat. Anschließend folgt die Zeremonie der Geschenkgabe. Hierfür wird oft eigens ein Moderator engagiert. Beginnend mit den engsten Verwandten bilden die Gäste eine lange Reihe, um die Geschenke zu überreichen. Es wird öffentlich verkündet, was geschenkt wurde, um zu gewährleisten, dass im Falle einer Gegeneinladung ein Geschenk mit ähnlichem Wert zurückgeschenkt werden kann. Die engsten Familienmitglieder schenken traditionell viel Gold in Form von Münzen und Schmuck. Bei 1000 Gästen kann dieses Prozedere gut ein bis zwei Stunden in Anspruch nehmen. Dann wird der Kuchen angeschnitten und kurz darauf gehen die ersten Gäste, der Rest tanzt weiter und feiert bis zum Morgengrauen. Hier und da ist es Brauch, dass man sich nach der großen Feier nochmals trifft, um als Aussteuer Kisten mit ersten Haushaltsartikeln zu verschenken. Dilay ist aufgefallen, dass vor allem in Deutschland lebende Türken sehr stark an den Traditionen und der Einhaltung aller Hochzeitsrituale festhielten. So würde man hier zum Beispiel auf türkische Musik Wert legen, während in der Türkei viel amerikanische Popmusik gespielt würde. Zu diesem Festhalten am Überlieferten gehört auch der Umgang mit dem Begriff der Ehre. Zumindest nach außen muss sie gewahrt werden. Auch wenn man weiß, dass das Mädchen schon in anderen Beziehungen war, wird ihr am Tag der Hochzeit dennoch das rote Band zum Zeichen der Jungfräulichkeit umgebunden, so wie deutsche Bräute das weiße Kleid als Zeichen der Unschuld tragen. In diesem Zusammenhang erinnert sich Dilay an ein Erlebnis auf einer Hochzeit, von dem ihr eine gute Freundin erzählt hat. Das Mädchen war zuvor schon einmal in einer Beziehung gewesen und hatte ihren damaligen Freund verlassen. Ihr Ex-Freund fühlte sich in seiner Ehre so verletzt, dass er auf der Hochzeitsfeier intime Bilder aus der gemeinsamen Vergangenheit zeigte. Die Feier wurde abgebrochen und auch ihr Ehemann war so in seinem Stolz gekränkt, dass er sich von dem Mädchen trennte. Obwohl sie schon auf so vielen Hochzeiten war und viele der Etappen miterlebt hat, ist Dilay die Lust am Heiraten nicht vergangen. Selbst wenn ihr zukünftiger Mann kein Moslem sein sollte, möchte sie auf jeden Fall eine türkische Hochzeit feiern. Natürlich würde sie ihn da ein Wörtchen mitreden lassen, sagt sie, aber nach ihrer Erfahrung haben Paare, bei denen nur einer der beiden türkisch war, am Ende trotzdem immer türkisch geheiratet. 30 31 NACH HINTEN GEHEN KLOPFT LEISE Da ist ein zweites Klopfen Du bist nicht weit entfernt Klopft im selben Takt Zusammen werden wir gehört Klopf. Klopf. Klopf. Klopf Wer ist denn da schon wieder? Sicher dieses Eine Von schräg unten gegenüber Hinter meinen Rippen Klopft es ständig nur herum Ich weiß nicht, was es will Denn leider ist es taub und stumm Mein Kopf er sieht und hört und denkt Er hätte Plan, versteht und lenkt Mein Herz bleibt überseh’n und hört Fühlt nur leise, still empört Klopft leise weiter, still empört Mein Kopf er sieht und hört und denkt Er hätte Plan, versteht und lenkt Mein Herz klopft leise und bleibt still Zeig du mir, was es sagen will Dann weiß ich, was ich sagen will Hin und wieder glaub‘ ich dann Zu wissen, was es will Der Kopf wird überrumpelt Ist für kurze Zeit ganz still Doch wenn er dann begreift Was dieses Eine wieder fühlt Denkt er schnell was and‘res Merkt nicht, dass dann etwas fehlt Mein Kopf er sieht und hört und denkt Er hätte Plan, versteht und lenkt Mein Herz bleibt überseh’n und hört Fühlt nur leise, still empört Klopft leise weiter, still empört 32 Du sagst, ich würde dir den Kopf verdrehen Sagst, du willst uns gerne tanzen sehen Ich weiß, das wird nichts, will schon gehen Du rufst "warte", ich bleib stehen Fragst wie man denn mein Herz gewinnt Es ist kein Preis, den man sich nimmt Nichts, worum man Schlachten schlägt Etwas das fühlt und sich verliebt Sich einfach ab und zu verliebt Du willst nicht kampflos untergehen Deine Armeen siegen sehen Willst, dass ich ein Stück näher komme Doch unter glühend heller Sonne Kann ich die Waffen glänzen sehen Werd Schritt für Schritt nach hinten gehen Du willst nicht kampflos untergehen Deine Armeen siegen sehen Willst, dass ich ein Stück näher komme Doch unter glühend heller Sonne Kann ich die Waffen glänzen sehen Werd Schritt für Schritt nach hinten gehen Du findest, ich bin wunderschön Würdest mich gerne wiedersehen Sagst, das mit uns muss einfach sein Ich sag' Ja und meine Nein Du willst nicht kampflos untergehen Deine Armeen siegen sehen Willst, dass ich ein Stück näher komme Doch unter glühend heller Sonne Kann ich die Waffen glänzen sehen Werd Schritt für Schritt nach hinten gehen 33 Schließlich heiratet man heute nicht jeden Ein kräftiger Regenschauer ergießt sich über die Parkanlage. Dicke Tropfen fallen vom Himmel und laufen über das runde weiße Zelt zum Boden. Unter einem großen, alten Baum hängen Kronleuchter, die aus kleinen aneinander geketteten Reagenzgläsern bestehen und viele Blumen in Rosa und Grün halten. Leise klirren sie im Wind, während der Regen sich in die Erde saugt. Die Tische und Stühle sind leer, nur unter dem weißen Zelt stehen einige Leute, die eifrig einige letzte Vorbereitungen treffen. Irgendwann ziehen die schweren grauen Wolken vorbei und die Sonne bricht durch. Die vielen Stühle und Tische können gerade rechtzeitig trocknen, als die wenigen besonders ausgewählten Gäste ankommen und Platz nehmen. Um 15 Uhr fährt eine kleine Limousine vor und aus ihr tritt eine in weiß gekleidete Frau. Sie reicht ihre zittrige Hand ihrem Vater und richtet sich auf. Der Blumenstrauß, den sie in der Hand hält, ist nicht sehr groß und eher schlicht. Einige Meter vor ihr unter dem großen Baum steht ein Mann, der den gleichen Blumenstrauß nur in kleinerer Ausführung an seinem schwarzen geöffneten Anzug trägt. Seine Hände schwitzen, doch das will er sich heute nicht anmerken lassen. Schließlich ist es ein wichtiger Tag. Als sich die beiden gegenüberstehen beginnt ein freier Redner ausführlich die Geschichte ihres Kennenlernens vorzutragen. Anschließend begeben sie sich zur Sandzeremonie an den Tisch, die so funktioniert, dass jeder eine Vase mit verschieden farbigem Sand erhält. Der Mann beginnt etwas Sand in die Vase zu schütten, anschließend ist die Frau dran. So geht das im Wechsel immer weiter. Am Ende entleeren beide gleichzeitig den jeweiligen Rest des Sandes in das Gefäß, um so die neue Einheit zu verdeutlichen. Dann geben sich beide das Ja-Wort und Gitarrenmusik erklingt. Nun zittert keiner mehr von beiden. So beginnt die Hochzeit von Klara und Simon. Beide sind noch sehr jung, haben sich aber schon immer eine freie, lockere Sommerhochzeit in einem Garten gewünscht. Obwohl sie sehr traditionsorientiert sind, wollten beide keine Hochzeit, in der Kitsch die Oberhand gewinnt und beschlossen deswegen alles recht schlicht zu halten und eine moderne Hochzeit im Vintage-Stil zu gestalten. Zwischen den Gästen steht die Frau, die das alles organisiert und realisiert hat. Sie nickt dem Paar zufrieden zu, als sich dieses an ihr vorbei zum Buffet begibt. 34 35 Andrea ist Hochzeitsplanerin und übt ihren Beruf schon seit sechs Jahren sehr gerne aus. Dabei versucht sie für jedes Brautpaar ein individuelles Konzept zu entwickeln, das sich nach Interessen und Geschichte des Paares richtet. Die meiste Zeit arbeitet sie zu Hause, doch auch ihr Büro in der Innenstadt und vor allem den großen Besprechungsraum nutzt sie, um dort Kunden zu empfangen. In dem hellen modern eingerichteten Raum steht ein großer weißer Tisch mit leuchtend grünen Stühlen, auf dem sich unzählige Flyer und Zeitschriften über Hochzeiten verteilen. Oft ist sie an einem Samstag die Einzige, die in den Büroräumen noch arbeitet. Ihre Kunden sind meist finanziell besser gestellte Personen wie Akademiker, Unternehmer oder Firmenleiter. Nicht jeder kann sich eine aufwendige Hochzeit leisten. Wenn genug Geld vorhanden ist, übernimmt sie die gesamte Planung von dem Konzept und dem Ablauf bis hin zum Blumenschmuck oder der Einladungskarten. Dabei hat sie sich in den letzten Jahren ein großes Netzwerk aus Dienstleistern aufgebaut, mit denen sie eng zusammenarbeitet, um eine Hochzeit auch so zu realisieren, wie es sich ihre Kunden vorstellen. So eine Hochzeitsplanung und Vorbereitung dauere dann meist mindestens ein Jahr. Viele wollen dabei mit ihrer Hochzeit Prestige zeigen oder sich selbst repräsentieren. Doch es geht auch anders. „Vom Event her werden die Hochzeiten heute eigentlich sehr locker, sehr entspannt gefeiert“, sagt sie, „da gibt es gar nicht mehr diese strengen Regeln. Wer, wie, wo sitzen muss, wer eine Rede halten muss, wer was anzieht. Die Hochzeiten sind fast alle schon so wie Sommerfeste.“ So spiegelt eine Hochzeit wohl auch das neue Lebensgefühl wider, das sich in unserer Gesellschaft breitmacht. „Zurück zur Natur“ heißt hier das Motto, viele laufen bereits wieder mit Blumen im offenen Haar oder lockerer Kleidung herum und halten ein Bier in der Hand anstatt eines Sektglases. Aber vielleicht ist es auch einfach das Bedürfnis mit alten Konventionen zu brechen, alte Traditionen hinter sich zu lassen. Die neue Generation will schlicht sein, individuell sein, selbst bestimmen und vor allem sich neu erfinden. Überall wird darauf geachtet, etwas vor allem anders zu machen. Wenn dann auch mal eine Hochzeit in einer alten Industriehalle, im Wald oder auf einem Feld stattfindet, ist das eher besonders als ungewöhnlich. Erinnert das nicht alles stark an die sechziger Jahre? Ist die junge Generation also eine neue Hippie-Bewegung? Andrea meint dazu, dass es sich dabei wohl nur um einen Trend handelt. „Das hat alles mit Freiheit, mit freier Liebe zu tun. Es ist eine sehr ähnliche Lebenseinstellung. Ich kann mir aber gut vorstellen, dass es dann in ein paar Jahren so ist, dass wieder alle auf einem Schloss heiraten wollen.“ Andrea hat schon viele unterschiedliche Kunden gehabt. Die einen bevorzugten eine pompöse, protzige Hochzeit, wieder andere eine ganz einfache, schlichte und entspannte Feier. Das hänge in erster Linie mit der Persönlichkeit und der Geschichte des Paares zusammen. „Das hat zum einen viel mit den Farben zu tun, die die Paare auswählen und auch mit der Stilrichtung. Es ist immer etwas angelehnt an das, was man darstellen möchte.“ Auch wenn viele Paare meist eher Probleme haben über sich selbst und ihre Beziehung zu reflektieren, findet Andrea immer eine Möglichkeit die Besonderheit aus einer Beziehung herauszuholen und in der Hochzeit auszudrücken. So hatte sie auch schon ein Ärztepärchen, das eine EKG-Linie als Symbolik hatte. Auf dieser EKG-Linie sind die Umrisse zu sehen von Sehenswürdigkeiten und Orten, auf denen sie schon oft zusammen waren. Oder eine Hochzeit am Strand unter Palmen, weil das Paar sich im Urlaub kennengelernt hatte. Klara und Simon sind nun beim Fotografen und lassen Fotos von sich machen. Der Park bietet dabei eine gute Kulisse. Im Nachmittagslicht der Sonne lassen sie sich vor allem vor dem großen Baum oder am Waldrand fotografieren. Beide fühlen sich in der Natur sehr wohl und wollen das auch zeigen. Am Abend beginnt die Band zu spielen und die Gäste bedienen sich an dem reich ausgestatteten Buffet. Immer wieder werden spontane Reden gehalten oder dem Brautpaar gratuliert. Irgendwann erscheint ein Eisfahrrad auf der Hochzeit. Klara und Simon waren schon immer große Liebhaber von Eiscreme und da darf ein eigener kleiner Eiswagen auf der Hochzeit natürlich nicht fehlen. Als es dunkel wird, zünden die Gäste Fackeln an, die sie im Boden rund um das Zelt verteilen. Das Zelt selbst leuchtet in grün und blau inmitten des schwarzen Waldes. Bis spät in die Nacht wird ausgelassen getanzt und gefeiert. Eine Heirat ist wohl für jedes Paar auch heute noch ein großer Schritt. Sie bedeutet wohl wie nichts anderes einen neuen Lebensabschnitt. Man hat sein Studium überstanden, eine feste Arbeitsstelle gefunden und möchte jetzt eine Familie gründen und ein gemütliches Haus mit Garten kaufen. Es besteht nicht mehr der Zwang einer Heirat, wie es jahrhundertelang vorgeschrieben war. Früher wurde man nur schwer von der Gesellschaft akzeptiert, wenn man im hohen Alter noch unverheiratet war. Viele Ehen waren arrangiert oder die Partner wurden von den Eltern ausgewählt. Heute ist das anders. Eine Hochzeit dient dabei in erster Linie dem Feiern– die Feier der eigenen Liebe, die Feier mit sich selbst, ja, dass man überhaupt die wahre Liebe gefunden hat, was in unserer heutigen Gesellschaft gar nicht mehr so einfach ist. Eine Ehe hat heute eine andere Ernsthaftigkeit, eine andere Verbindlichkeit. Schließlich heiratet man nicht jeden. Diesen Schritt überlegt man sich erst einmal genau. Für viele wird so die Hochzeit zu einem Event. Und im Vergleich zu früher bieten sich hier auch deutlich mehr Möglichkeiten. Vor allem freie Trauungen sind jetzt sehr beliebt. Eine freie Zeremonie, 36 37 die von einem freien Theologen oder Redner geleitet wird. Der Ort, Ablauf und der gesamte Inhalt sind selbst bestimmbar. Diese sind heute besonders attraktiv, weil viele keine traditionellen kirchlichen Trauungen mehr wollen. Viele Leute sind heute nicht mehr so an die Kirche gebunden, wie das vielleicht vor zehn oder zwanzig Jahren der Fall war. Bei den meisten fehlt schlichtweg der Glaube oder eine kirchliche Heirat ist einfach aufgrund unterschiedlicher Religionen oder gleichgeschlechtlicher Partnerschaften nicht möglich. Auch Andrea geht dabei immer direkt auf ihre Kunden ein. „Spielt das eine Rolle in deinem Leben? Und wenn du jetzt heiratest, brauchst du dann Gottes Segen? Das ist die Frage, die ich meinen Brautpaaren auch immer stelle.“ Nur der Kulisse wegen in einer Kirche zu heiraten wäre hier wohl Heuchelei. Eine freie Trauung ist in dieser Hinsicht deutlich persönlicher. Dennoch finden sich immer noch genug junge Paare, denen die Kirche wichtig ist und die eine kirchliche Trauung vorziehen. So sei doch der Entschluss vor Gott zu heiraten, etwas das auf eine besondere Art verbindet. Und wie würde ihre eigene Hochzeit aussehen? Da muss Andrea erst lachen. Sie selbst ist nicht verheiratet, ist aber mit ihrem Freund schon lange glücklich zusammen. „Ich würde das ganz anders machen als die Hochzeiten, die ich immer plane. Irgendwo in Südafrika auf einem Weinberg in einem ganz engen Kreis. Oder ganz alleine auf Fuerteventura an einem Strand, den wir damals sehr schön fanden.“ Auch Andrea möchte es anders machen, vielleicht weil sie einfach schon so viele andere Hochzeiten gesehen hat und sich auch für sich selbst etwas Besonderes wünscht. Aber Heiraten möchte sie auf jeden Fall. 38 39 Eine enge Weste Ein in sich ruhender Sturm Lange schon kann ich sehen Wie du weiter kannst nur gehen Nie ein Blick, nie ein Wort Ich möcht dich kennen, sofort Eine Feder, eine Droge Bin wie vergessen, wie verloren Dich zu haben ist wie zu leben Ein Puzzle aus Löchern zu weben Wir waren wie Kinder am Meer Alles war voll, nichts war leer Wir holten aus, ließen uns treiben Wollten die Lippen aneinander reiben Wir sind eine Weste Wir sind ein Wir Ich lasse nicht los Warum gebe ich mich dir? Da ist ein gesenkter Blick Wie ein nerviger kleiner Tick Wir laufen und wir gehen Doch nie bleiben wir stehen Hier zu wissen, dich zu kennen Die Tiefe zu erklimmen Deine Nähe ist wie ein Turm Ein in sich ruhender Sturm Doch du spieltest ein Spiel Und wolltest mich nicht mehr Ich vertraute dir zu viel Plötzlich fühlte ich mich leer Eine enge Weste sind wir Nur Rauch gibst du mir Doch ich geb dir mich Ich geb dir mich Hier zu wissen, dich zu kennen Die Tiefe zu erklimmen Deine Nähe ist wie ein Turm Ein in sich ruhender Sturm Eine enge Weste waren wir Viele Wolken gabst du mir Doch ich gab dir mich Ich gab dir mich Tausend Blicke, tausend Wege Eh die Hand auf den Mund ich lege Eines Tages nur ein Wort Mit dir ein neuer Ort Leise drückst du mich herab Die Luft wird langsam knapp Ein Spiel, ein Stich, ein Loch Warum gab es uns noch? Hier zu wissen, dich zu kennen Die Tiefe zu erklimmen Deine Nähe ist wie ein Turm Ein in sich ruhender Sturm Eine enge Weste waren wir Nur Rauch gabst du mir Doch ich gab dir mich Ich gab dir mich Ich ließ mich treiben Ich ließ mich sinken Du kannst nur von oben Zu mir herunterwinken 40 41 Man schaut sich an und weiß genau, was der andere denkt: heute Abend nicht mehr. Als Stefanie, Julia und Claudia vor einigen Jahren Kinder bekamen, änderte sich alles für sie. Sie sitzen zwischen dicht bepackten Kinderwagen und Fahrrädern mit überfüllten Kinderanhängern im Park, unterhalten sich und verfolgen mit Adleraugen das Geschehen auf dem Spielplatz. „Jonas! Mit Stöcken wird nicht geworfen!“ Es geht einem in Fleisch und Blut über, immer überall seine Augen zu haben. Mit einem Mal hat man nicht mehr sich selbst im Fokus seiner Entscheidungen. Alles dreht sich um das Wohl des kleinen Familienzuwachses. Am Anfang braucht es Zeit, sich zu sortieren. Man versucht alles so zu machen, wie vor der Geburt und zusätzlich das Kind zu umsorgen, bis man ganz automatisch immer mehr Abstriche macht. Effizienter einkaufen, putzen, waschen. Zeit sparen, wo es nur geht. „Man gerät in einen passiven Trott, manchmal fühle ich mich total fremdgesteuert“, erzählt Julia. Sie steht morgens auf und weckt ihren Vierjährigen. Jeden Tag denkt der sich neue Sperenzchen aus, um den Morgen kompliziert zu machen. Immer in letzter Minute aus dem Haus. Für Gespräche mit dem Ehemann bleibt zwischendurch kaum Zeit. Immer quakt der Kleine dazwischen. Hauptsache für den Kindergarten ist alles da: Regenkleidung, Butterbrote, der letzte Elternbrief. Die eigene Regenjacke und der Führerschein liegen noch auf dem Küchentisch. Wird schon gut gehen, Hauptsache pünktlich. Nach der Arbeit wäre eine Pause gut, aber dann muss der Kleine auch schon wieder mit nach Hause. „Man geht mehr Arbeiten und hat trotzdem weniger Geld.“ Die anderen Beiden stimmen lachend zu. Und zu Hause geht die Arbeit weiter: Immer ist irgendetwas dran. Die Spülmaschine fertig, die Waschmaschine fertig, Essen auf den Tisch, aufräumen, heute kommt Besuch. „Man hilft sich doch gegenseitig. Wenn die eine gar nicht mehr kann, gibt es eine Verabredung zum Spielen. Wenn sie alt genug sind, können die sich dann ruhig mal drei Stunden mit sich selber beschäftigen und man hat die Hände frei für andere Dinge.“ Aber dies sind dann auch wieder die wichtigen Dinge, die seit Tagen und Wochen liegen bleiben, weil man die Zeit nicht hat. Rechnungen, Behördenpapiere, Anrufe. Für Freizeitfreuden wie Einkaufbum42 43 mel, Restaurantbesuch oder Kino reichen Zeit und Energie schon lange nicht mehr. Und die Gelegenheit, dass sogar beide Elternteile grade etwas davon aufbringen können, gibt es fast nie. Man kann natürlich einen Babysitter anheuern. Claudia verzieht das Gesicht. Ihr gefällt der Gedanke nicht, ihre Kinder mit jemand Fremdem allein zu lassen. Aber irgendwann war es dann doch mal dran. Ihr Mann plante einmal ein schönes Essen. Der Babysitter war also bestellt, die Kinder versorgt. Die letzten Erledigungen im Haushalt sind gemacht. Als es dann daran gehen soll, sich fürs Restaurant schön zu machen, lässt die Energie schon wieder nach. Man könnte ja auch entspannt ein bisschen Fernsehen und dann früh schlafen gehen. Dann hat man auch mehr Energie für den nächsten Tag. Man schaut sich an und weiß genau, was der andere denkt: Heute Abend nicht mehr. Natürlich ändert sich der Alltag auch mit dem Älterwerden der Kinder. Wenn sie noch ganz klein sind, schlafen sie so viel, dass man zwischendurch mal eine Stunde Ruhe hat. Dafür ist die restliche Zeit so anstrengend, dass man in dieser Zeit nur schlafen will. Später kommen immer neue Herausforderungen hinzu, die Kinder werden aber auch selbstständiger. Doch genug Zeit für Zweisamkeit bleibt selten. „Wenn wir dann mal richtig ausgehen – tanzen oder mit Freunden feiern – holt es uns jedes Mal wieder ein“, erzählt Stefanie mit bitterem Gesicht. „Ein paar Mal haben wir das gemacht. Aber wenn man dann um fünf wieder nach Hause kommt, kann man fest davon ausgehen, dass die Kinder an diesem Morgen um halb sechs wach sind.“ Die nächsten drei Tage hat man dann noch was vom Schlafentzug dieser Nacht. „Also haben wir damit aufgehört.“ Die gemeinsame Zeit wird also hauptsächlich dazu eingesetzt, den Alltag mit den Kindern durchzuorganisieren, zu besprechen und mit den Erledigungen hinterherzukommen. Man könnte sich also denken, dass die fehlende Zeit füreinander an der Beziehung zehrt. Offenbar verhält es sich mit Kindern anders, weil dieser Mensch als gemeinsames Projekt der beiden angesehen wird. „Wenn man sich selbst in ihnen wiedererkennt, geht uns beiden das Herz auf egal, wie gestresst wir sind.“ Man geht gemeinsam den „Leidensweg“, um den Kindern alles zu geben. Es gibt nichts, was einen so eng zusammenschweißt. Die Beziehung verändert also ihr Gesicht vom romantischen zweisamen Beisammensein zum gemeinsamen Meistern und Gestalten des Alltags. Und in dieser Art von Beziehung lernt man den Anderen dann erst richtig kennen. „Die Kinder sind das Beste, was meiner Ehe passieren konnte.“ 44 45 Nur Feuer Campari oder Bier? Wenn ich morgens aus der Türe geh‘ Und schon den ersten schönen Menschen seh‘ Entdeck ich gleich mein‘ Mann in spe Im Bus tret ich dir auf den Zeh Du sagst: "Nicht schlimm tat gar nicht weh!" Du fragst mich: "Gehen wir mal aus?" Wir kriegen Kinder, Hund und Haus Ich kann nicht ungeschminkt zum Einkaufen gehn' Vielleicht wird dort die wahre Liebe steh'n! Wenn meine Haare dann nicht top ausseh'n Könnte was Großes mir entgeh'n Wenn wir abends in der Bar rumsitzen Und deine Augen zu mir rüber blitzen Fängt mein Gehirn an los zu flitzen: Du trinkst den gleichen Schnaps wie ich Ich sag "Zufälle gibt es nicht!" Du stimmst mir zu und kniest dich hin zückst einen gold‘nen Ehering Ich kann nicht ungeschminkt zum Einkaufen geh'n Vielleicht wird dort die wahre Liebe steh'n! Wenn meine Haare dann nicht top aussehn Könnte was Großes mir entgehn Ich frage dich: "Hast du mal Feuer?" Du sagst, das sei dir nicht geheuer Du hättest gleich bei dir gedacht Ich hätte dich so angelacht Und dann noch meine Körpersprache: Das mit uns wär ne klare Sache Ich frag mich Was ist denn hier los? Das find ich gar nicht grandios Kommt für die Menschen heut zutage Ein bisschen Spaß nicht mehr infrage? Oder falln mir ständig bloß Die falschen Leute in den Schoß? Aber ich kam gar nicht ran an den Zeh von dir Außerdem trinkt ich Campari und du ein großes Bier Aber das macht gar nichts denk ich mir Die nächste große Liebe steht bestimmt schon vor der Tür Wir könnten mal ein‘ trinken gehen‘ Und uns dann täglich wiedersehn‘ Bald darauf schenkst du mir dein Herz Alter, das ist ja wohl ein Scherz Und da ist guter Rat jetzt teuer Denn Mann ich wollte doch nur Feuer! Wir könnten mal ein‘ trinken gehen‘ Und uns dann täglich wiedersehn‘ Bald darauf schenkst du mir dein Herz Alter, das ist ja wohl ein Scherz Denn Jung ganz ehrlich mal Ich bin kein Heiratsmaterial Ich kann nicht ungeschminkt zum Einkaufen gehn‘ Vielleicht wird dort die wahre Liebe steh'n! Wenn meine Haare dann nicht top aussehn Könnte was Großes mir entgehn 46 Ich frag dich: "Hättest du gern Spaß? Denn für den Spaß da weiß ich was Wir flüchten gleich aus dem Gedränge Hinaus aus der besoffnen Menge Denn außer Bier und Schnaps und so Macht bisschen Blödsinn einfach froh!" Wir könnten mal ein‘ trinken gehen‘ Und uns dann täglich wiedersehn‘ Bald darauf schenkst du mir dein Herz Alter, das ist ja wohl ein Scherz Denn was der Herr völlig vergaß: Ich wollte nur ein bisschen Spaß! 47 Kuscheltierhase, Gummihai, Stoffpenis Der aus Holz geformte Schriftzug „relax“ verziert eine gläserne Eingangstür. Die Öffnungszeiten lassen sich darunter auf einem Schild ablesen. (Mo. und Mi. von 15:00-18:00 Uhr, Termine nach Vereinbarung). Sonnenstrahlen scheinen durch das großzügig mit Plakaten dekorierte Schaufenster auf den hellbraunen Parkettboden. Fotos von grinsenden Promi-Gesichtern, wie das von Boris Becker oder Cameron Diaz, hängen an einer Magnetwand, die auf einer grauen Wand angebracht ist. Gleich neben den Promi-Bildern sind Muster von Hauttonfarben in verschiedenen Farbabstufungen angeheftet. Auch ein Schminktisch mit unzähligen Make-up Artikeln schmückt den Raum. Rechts davon ein gepolsterter Barhocker, der zu einem beleuchteten Schminkspiegel hin ausgerichtet ist. Der ganze Raum ist in einem schlichten Grauton gehalten. Es wirkt alles sehr sorgfältig platziert und irgendwie an Ort und Stelle. Ich bin zu Besuch bei der „Agentur Anziehungskraft“. Doch wie bin ich hier gelandet und was genau passiert hier eigentlich? Etwa drei Stunden zuvor wurde ich beim durchblättern der Zeitschrift „Nadann“ unter der Kategorie „Sehnsucht“ auf eine Anzeige aufmerksam, die folgendermaßen betitelt war - „Flirtkurs: Nie wieder sprachlos! Jetzt Anmelden - noch Plätze frei“. Mein Interesse war sofort geweckt mehr über diesen Kurs zu erfahren, beziehungsweise über die Person, die hinter dieser Anzeige steckt. Ich vereinbarte ein Interview mit der selbst ernannten Flirtexpertin. Bianca Büning ist Mitte dreißig und seit 2011 selbstständig als Coach und Typberaterin tätig. Die gelernte Fremdsprachenkorrespondentin hat bereits eine 10 jährige Berufserfahrung als Marketing & Vertriebsassistentin. Bei unserem Treffen erzählt Sie mir begeistert von Ihrem, auf den ersten Blick doch ungewöhnlich erscheinende Berufswahl. Auf die Frage, wie Sie zu diesem Beruf gekommen ist, muss sie ein wenig schmunzeln. Sie war selbst über eine lange Zeit Single und hat sich im Online-Dating ausprobiert, wurde daraufhin immer wieder von Männern gefragt: „Mensch, ich weiß immer nicht was ich einer Frau schreiben soll“. Sie erkannte die Marktlücke und kam so auf die Idee, Männern und auch Frauen dabei zu helfen einen offeneren Umgang miteinander zu ermöglichen und zu vermitteln. Das Angebot an Kursen und 48 49 Seminaren ist groß aufgestellt. Es reicht vom Einzelcoaching für 69,-- €/Std. bis hin zu verschiedenen Typberatungen, die mehrere Hundert Euro kosten. Es werden aber auch Make-up Workshops, Kleiderschrankchecks und Stilberatungen angeboten, um nur einige der Kursangebote aufzuzählen. In den Coaching-Kursen hilft Bianca Büning Ihren Klienten bei den unterschiedlichsten Anliegen. Das kann beispielsweise das Erstellen eines Online-Dating Profils, die Beratung für das äußerliche Auftreten, das Trainieren von Small Talk und Körpersprache mit dem anderen Geschlecht oder das Simulieren eines bevorstehenden Speeddating sein. Die Nachfrage von Coaching Sitzungen wird zu 90% von Männern wahrgenommen, wovon die meisten noch nie eine Beziehung und/oder auch noch nie Sex hatten. „Das hatte ich nicht so auf dem Schirm“, erzählt Bianca Büning. Diese Gruppe nennt Sie die „Absoluten Beginner“ abgeleitet von einem bekannten Song von David Bowie, der sich mit dem Tabuthema beschäftigt. „Das ist jetzt so mein Klientel, mein Spezialgebiet“, betont sie. Die Altersstruktur der Kursteilnehmer zieht sich von Anfang 20 bis Mitte 50. Um zu demonstrieren, wie so eine Coaching Sitzung ablaufen kann, greift Bianca Büning kurzerhand neben den Tisch und holt einen Silber schimmernden Stoffbeutel hervor. Mit einem etwas beschämenden Lächeln greift Sie in den Beutel und zieht einen lustig daher grinsenden Stoffpenis hervor. „Das hört sich jetzt ein bisschen esoterisch an“, aber um sein Problemthema auf spielerische Art zu behandeln, soll der Klient sich eine von vielen zur Auswahl stehenden Figuren, aus dem Beutel aussuchen. Sie greift nach weiteren Figuren die sich im Beutel befinden. Auf dem Tisch liegen jetzt alle Püppchen ausgebreitet. Darunter ein Kuscheltierhase, ein Gummihai und ein Playmobilmännchen im Doktorkittel. Durch die Wahl einer bestimmten Figur sollen die Eigenschaften des Klienten ermittelt werden, die dann auch auf die Problemthemen hinweisen. „Nehmen wir mal an, einer der Klienten entscheidet sich für den süßen Stofftierhasen“. Seine Wahl könnte also darauf schließen, dass er sich vielleicht gegenüber dem anderen Geschlecht zu schüchtern und zurückhaltend verhält. Ebenso kann man auch sein Problemthema durch die Wahl einer Figur definieren. So können zum Beispiel Themen wie „die letzte Beziehung“ oder „Ich hatte noch nie Sex“ in einer ungezwungen Atmosphäre besprochen werden. „Es ist niemals zufällig, was man sich aussucht“ erwähnt die Expertin. Dieser Teil des Coaching nennt sich „Die Aufstellung“ und dient als eine Art Warm-up. Nach den Seminaren oder Einzelcoachings sind die Beteiligten meist total euphorisch und gestärkt, mit mehr Mut in die Welt hinaus zu gehen. „Ich habe neulich noch zufällig einen ehemaligen Klienten getroffen und ihn gefragt, wie es denn so in letzter Zeit gelaufen ist. Er war wirklich vor 2 Jahren bei mir“ betont Bianca. „Bei ihm kam jetzt ganz klar die Rückmeldung, es hat sich noch nichts geändert“. Gerade weil es sich bei den meisten Klienten um die schwierige Gruppe der „Absoluten Beginner“ handelt, hängt der weitere Erfolg nach den Seminaren und Coachings von der Eigeninitiative und Motivation der Klienten selbst ab. Aber auch finanzielle Probleme, familiäre Angelegenheit und oft auch eine begleitende Therapie spielen eine große Rolle erklärt Bianca Büning. Das Interview mit der Flirtexpertin neigt sich dem Ende zu und ich stelle Ihr zu guter Letzt die Frage, was sie überhaupt antreibt, diesen Job auszuüben? Nach kurzem Innehalten erwidert sie, „Mein größter Wert im Leben ist die Liebe. Sie steht an erster Position, sei es jetzt zur Familie, zu Freunden oder zum Partner, und wenn ich das irgendwie weitergeben kann und das Leben eines Klienten dadurch erfüllter wird von Liebe, dann gebe ich das gerne weiter.“ 50 51 Tagträume bei Nacht Als sich das erste Mal unsere Blicke trafen Hab ich es dir nie verraten Ich konnte nachts nicht mehr einschlafen Du gehst mir nicht mehr aus dem Kopf Vielleicht bist du der Deckel und ich der Topf Tagträume bei Nacht Hab Zigaretten aber keinen Schmacht Zähle Schäfchen bis zur Unendlichkeit Durch dich vergesse ich Raum und Zeit Du sollst nur wissen, dass ich an dich denke Jede freie Minute an dich verschenke Ob es dir wohl genauso geht? Und für uns beide Hoffnung besteht Ich will gemeinsam mit dir Geschichten schreiben Erinnerungen die ewig bleiben Wie wir beide nebeneinanderliegen Und Stunden wie im Schlaf verfliegen Ich meine Augen schließe Und den Moment mit dir genieße Du sollst nur wissen, dass ich an dich denke Jede freie Minute an dich verschenke Ob es dir wohl genauso geht? Und für uns beide Hoffnung besteht 52 Soundtrack meines Lebens Du klingst anders und das mag ich an dir Auf meinem Mixtape - Track-Nummer vier Du bist etwas besonders Mein Highlight jeden Sommers Dein Beat geht Tick-Tack Du bist genau mein Musikgeschmack Du bist mein absolutes Lieblingslied Läufst dauernd auf Repeat Keine Melodie berührt mich so wie deine Manch einer sucht dich vergebens Du bist der Soundtrack meines Lebens Berauscht von deinen Klängen Losgelöst von allen Zwängen Tanzen wir total beknackt Neben der Spur und nicht im Takt Euphorie macht sich breit Das hier wird unsere Zeit Du bist mein absolutes Lieblingslied Läufst dauernd auf Repeat Keine Melodie berührt mich so wie deine Manch einer sucht dich vergebens Du bist der Soundtrack meines Lebens 53 Bis dass der Tod Euch scheidet? Das Fenster ist gekippt, fühlt sich an wie ein Luftballon, aus dem langsam die Luft entweicht. Und man ist froh drum. Das Gemisch aus Gerüchen von Desinfektionsmittel, Kantinenessen, älteren und kranken Menschen führt einem immer wieder vor Augen, wo man sich befindet. Schnell das Fenster kippen ... Herr F. hatte sich zunächst den Oberschenkelknochen gebrochen. Als dieser gerade verheilt war und er sich mit dem Rollator wieder frei bewegen konnte, stürzte er erneut und zog sich einen dreifachen Beckenbruch zu. Wieder Krankenhaus, wieder Reha. Und täglich grüßt das Murmeltier. Er: Jahrgang 1926, seine Frau: vier Jahre jünger. Sie kommt nicht täglich, zu hoch ist die psychische Belastung mittlerweile. Wenn sie ihn besucht, dann in Begleitung eines ihrer drei Kinder. Die beiden haben einen Sohn und zwei Töchter erfolgreich groß gezogen. Er war Postbeamter, sie Hausfrau und Mutter. Es herrschte die klassische Rollenverteilung. Doch zuletzt ging es zunehmend bergab mit Herrn F., die Anzeichen einer beginnenden Demenz waren nicht mehr zu ignorieren. Früher hatte er alles selber erledigt und auch handwerklich war er sehr geschickt. Vor ein paar Jahren mussten die beiden dann den liebevoll gehegten Schrebergarten verkaufen, weil es körperlich nicht mehr so ging. Seitdem ging er ihr zu Hause mit seiner Langweile auf die Nerven. Als dann auch noch die Schwerhörigkeit dazu kam, wurde es schwierig. Herr F. schaltete bei jeder Gelegenheit seine Hörgeräte aus. So konnte ihn nichts mehr erreichen, seine Frau eingeschlossen. Einige Zeit später war sein Gehirn die ständige Reizüberflutung bei eingeschalteter Hörhilfe nicht mehr gewohnt, jedes Geräusch trieb ihn in den Wahnsinn. Das Problem wuchs, als die zunehmende Abschirmung von Reizen von außen die Demenz vorantrieb. Auf Frau F.‘s Mahnen, er solle die Geräte anmachen, reagierte er trotzig mit Missachtung. Mittlerweile trägt auch sie welche. Und macht es ebenso. Nun beschäftigt er sich schon seit einigen Stunden mit dem Speiseplan für die kommende Woche – aus drei Menüs soll er eins für jeden Tag auswählen. Vollkommene Überforderung. „Ich weiß sonst gar nichts, ich bin ja doof. Mit so was habe ich ja noch nie was zu tun gehabt.“ Den Tränen nahe, sein Kopf ist rot, den Blick hat er nach unten gerichtet. Er sieht niemanden an, schämt sich. 54 55 Fühlt sich minderwertig. „Ich mach’ das jetzt für dich, ich weiß ja, was du magst.“ Frau F. geht die Liste durch. „Ja, danke“ entgegnet er ihr. Das mag er. Das nicht ... Leise spricht sie vor sich hin. Käsecremesuppe, Lachs, das Hähnchen nicht, das ist oft so dröge. Herr F. hat indes den Kopf in seine Hände gelegt. Fisch oder Germknödel will sie wissen. Er fasst sich ans Herz, das Gesicht verzerrt. „Dann lieber den Fisch, Fisch Natur“, beschließt sie. Sein Blick geht ins Leere und er schüttelt resigniert den Kopf. Als Demenz wird im Allgemeinen das Nachlassen der Denkfähigkeiten und Verlust der Gedächtnisleistung bezeichnet, welches auf einer Störung der Kommunikation der Gehirnzellen beruht. Hauptsächlich betroffen ist dabei das Kurzzeitgedächtnis, häufigster Grund für eine Demenz die Alzheimer-Erkrankung (ca. 60 Prozent). Daneben können jedoch auch z.B. Depressionen, weitere Krankheiten oder Medikamenteneinnahme die Ursache sein. Das Risiko an Demenz zu erkranken ist dabei statistisch gesehen für Frauen mit einem Verhältnis von 3:2 höher als für Männer. Im Jahr 2010 waren ca. 16,8 Prozent der über 65-Jährigen in Deutschland betroffen, bis 2040 wird ein Anstieg auf 23,9 Prozent erwartet. Die betroffene Person bemerkt gerade im Anfangsstadium seinen Verfall und realisiert sein Schicksal, was Depressionen und Minderwertigkeitsgefühle zur Folge haben kann. Dies belastet selbstverständlich auch das Verhältnis zu Freunden und Familie. Da diese ohnehin mit der Pflege des Erkrankten ausgelastet sind, sind die Personen in seinem Umfeld enormer psychischer Belastung ausgesetzt – so auch bei Herrn F. Seine Frau, selber Mitte 80, fand sich auf einmal in der Rolle der Pflegerin wieder. Die Verstimmungen ihres Mannes trafen sie immer häufiger. Alles lud er an ihr als die Person, die ihm am nächsten steht, ab. Dazu kamen die körperlichen Beeinträchtigungen, welche Hilfe beim Waschen und auch dem Toilettengang unumgänglich machten. Herr F. ist mittlerweile permanent müde, er möchte um acht Uhr ins Bett gehen. Als problematisch stellte sich dabei heraus, dass die gemeinsame Zwei-Zimmer-Wohnung neben dem Wohnzimmer, in dem das Schlafsofa steht, auf dem er schläft, weil er schnarcht, nur noch ein weiteres Zimmer mit ihrem Bett enthält. Wenn er sich nun zum Schlafen hinlegt, ist sie gezwungen, sich in dem kleinen Zimmer aufzuhalten. Den Fernseher ganz leise, sonst wacht er auf und das Gezeter geht los. Die Betten möchte er nicht tauschen, das ist für ihn keine Option und so fügt sie sich ihrem Schicksal. Obwohl sie sowohl körperlich als auch geistig vollkommen vital ist, lebt Frau F. das Leben ihres Mannes. Zwangsläufig. Verlässt sie die Wohnung, um sich mit ihren Freundinnen zu treffen, hat sie ihn als ständigen Begleiter im Hinterkopf. Weil sie gleich, wenn sie wieder nach Hause kommt, von ihm mit Missachtung gestraft wird. Dafür, dass sie ihn seiner Meinung nach wieder viel zu lange alleine gelassen hat. Dabei war sie nur eine halbe Stunde bei der Nachbarin, aber sein Kurzzeitgedächtnis spielt ihm einen Streich. Die Tür geht auf, das Abendessen kommt. Viertel vor sechs. Herr F. atmet schwer. Zwei Scheiben Graubrot, Wurst, Margarine, zwei Scheiben Tomate und warme Milch in der Schnabeltasse. Die Luft im Zimmer ist warm, viel zu warm. Draußen einer der ersten warmen Sommertage, drinnen läuft die Heizung. Frau F. hat ihm sein „Bütterchen“ geschmiert und in neun Stücke geschnitten. Stück für Stück auf die Gabel und ab in den Mund. Zu Hause hatte er sich immer Grießbrei gekocht, jeden Abend ein Töpfchen. Zu Hause roch es immer nach selbst gekochtem Essen. Und nach Vanille, weil das Frau F.‘s Lieblingsduft ist. Sie fragt ihn, ob sie ihm mal Grießpudding mitbringen soll. Ja, das könne sie mal machen, meint er. Drei Kinder haben sie zusammen großgezogen, mit warmer Milch gefüttert. Jetzt muss er sie gereicht bekommen. Wenn sie nicht da ist und auch keins der Kinder, muss er alleine essen. Letztens hatte er anstatt in den Käse in die Serviette gebissen. Kennen gelernt hatten sie sich 1946. Damals war sie 16 und Schülerin der Mittelschule und er, 20, arbeitete als Postbeamter. Beide waren im Jugendkreis der evangelischen Kirche engagiert. Dort traf man sich zur Bibelstunde, es wurde gesungen und Theaterstücke aufgeführt. Der Pastor wollte Jungen und Mädchen immer trennen, geklappt hatte das nur mäßig, denn auf der Straße traf man sich dann doch wieder. Es gab kein Fernsehen. Man ging raus, sie lud ihn ins Theater ein. Die Karten hatte sie in der Schule bekommen. So ging das zwei Jahre, sie trafen sich unverbindlich im Kreis der Freunde, gingen ins Kino, unternahmen Radtouren bis nach Schloss Burg oder schwammen im Baldeneysee. „Was man so als Jugendlicher da so gemacht hat, man war durch die Kriege ganz bescheiden geworden“, fasst Herr F. es zusammen. An die Vergangenheit kann er sich gut erinnern, und wenn er so erzählt, spürt man nichts von seiner Krankheit. Ein üblicher Verlauf. In den späteren Stadien der Demenz ist allerdings zu erwarten, dass diese auch vor den lang gehegten Erinnerungen keinen Halt machen wird. „Dass man sich einfach ins Kino gesetzt und geknutscht hat – das gab es nicht.“ Mit 18 und 22 kamen sie dann zusammen. Aber alleine zu Hause treffen konnten sie sich auch dann noch nicht. Sie wohnte mit ihrer vierköpfigen Familie zusammen in einem Zimmer. Er hatte zusammen mit seinen Eltern zwei Zimmer. Daher fassten die beiden im Alter von 21 und 25 den Entschluss zu heiraten, um eine eigene gemeinsame Wohnung beziehen zu dürfen. Ganz unromantisch, ganz rational, kein Heiratsantrag. Schließlich wollten sie zusammenbleiben und hatten immer gespart, um sich Möbel kaufen zu können. So schwer nachvollziehbar es auch scheint, aber sie sind sich einig: Die Zeit war damals freier. Zunächst heirateten sie standesamtlich und 56 57 ein halbes Jahr später kirchlich, denn das war notwendig, um gemeinsamen Urlaub machen zu dürfen. Auf der Hochzeitsreise passierte es schließlich, sie wurden schwanger. Völlig unerwartet, denn zwei Ärzte hatten Frau F. gesagt, sie müsse sich erst operieren lassen, bevor es mit Kindern klappen könne. Zwei weitere Kinder folgten, ohne Komplikationen. Die Kirchturmglocke schlägt, es ist sieben Uhr. Die beiden schwelgen gemeinsam in Erinnerungen. Damals wurde noch alles zu Fuß erledigt. Unerlaubt in der Ruhr geschwommen. Die Stimmung ist plötzlich gelöst. Früher hatte Frau F. viele ihrer Kleidungsstücke selbst genäht („Wir hatten ja nix ...“, wirft sie ein, ich muss grinsen und mache sie auf ihren klischeehaften Spruch aufmerksam), und er kann sich an jedes ihrer Kleider erinnern. Sie lachen gemeinsam und Herr F. schenkt seiner Frau ein Ferrero Küsschen. Guten Freunden gibt man doch ein Küsschen. „In der Hoffnung, dass so was nicht wieder kommt, verbleiben wir mit freundlichen Grüßen“, scherzt Herr F. völlig unerwartet. Seine Laune hat sich in kurzer Zeit um 180 Grad gedreht und ich wurde Zeuge eines der häufigen Symptome der Demenz – Stimmungsschwankungen. Das gemeinsame Schicksal? Ungewiss. In einer Woche kann er bis auf Weiteres wieder nach Hause. Als er ins Krankenhaus kam, war Frau F. erst mal froh, dass sie die Verantwortung abgeben und sich erholen konnte. Mittlerweile vermisst sie ihn und will ihn wieder zu Hause haben. Dann wird er ein gesichertes Krankenbett in das kleine Zimmer gestellt bekommen. Und sie schlafen wieder in einem Raum. Solange sie noch kann, wird sie sich um ihn kümmern. Und über das, was danach kommt, will sie sich solange es geht noch keine Gedanken machen. Herr F. blickt auf die Uhr. „Oh, schon halb elf.“ Eigentlich ist es erst zwanzig nach sieben. „Dem Glücklichen schlägt keine Stunde.“ Der Krankenhausmief ist nun aus dem Zimmer. Frau F. schließt das Fenster, wir gehen. Von Weitem kommt es ganz schwarz. Morgen soll aber wieder die Sonne scheinen. 58 59 Sandburgen Er nahm ihre Hand, dann sah er sie an Da war es passiert, er war jetzt ihr Mann Zehn Jahre später, da war er nicht da Vergessen der Schwur, sie strich durch ihr Haar Und wenn du nicht mehr daran denkst, passiert ein Wunder Erzwingen lässt sich nichts, denk daran Baust du wieder Luftschlösser, komm lieber runter Und zieh in eine Sandburg ein Zwanzig Jahre später, sie glaubte es kaum Stand er vor ihr im Regen, ein einziger Traum Als wär nichts gewesen, nahm er ihre Hand Seitdem unzertrennlich – der Sandkastenmann Und wenn du nicht mehr daran denkst, passiert ein Wunder Erzwingen lässt sich nichts, denk daran Baust du wieder Luftschlösser komm lieber runter Und zieh in eine Sandburg ein 60 61 Liebe erwischen Tinder. Dieses Wort höre ich zum ersten Mal, kurz, nachdem ich mich von meinem Freund getrennt habe, eine Empfehlung von Freunden. Im Nachhinein kann ich mir nicht erklären, wie sie bis dahin an mir vorbeigehen konnte, die App mit inzwischen 2 Millionen deutschen Nutzern, die eine neue Art zu daten verspricht. Ich melde mich schließlich an. Wenn so viele von meinen Freunden Tinder benutzen, muss es etwas haben, denke ich, vielleicht ein netter Zeitvertreib. Nachdem ich technische Schwierigkeiten überwunden habe, die neuesten Facebook- und Tinder-Apps heruntergeladen habe und mein Handy auf meinen Standort zugreifen lassen, tinder ich los. Das Profil ist schnell angelegt, das Alter wird per Facebook erkannt. Bilder, mit denen ich mich präsentieren möchte, darf ich nur aus meinen Facebook-Ordnern wählen. Die Möglichkeit, einen kleinen Text über mich zu schreiben, ignoriere ich. Für andere sind jetzt meine Bilder, Name, Alter und Wohnort zu sehen. Und klar ist auch: Ich bin Single. Ein eindeutiges Profil, keine komplizierten Fragebögen, die mir versprechen, einen perfekten Partner zu finden. In den Einstellungen passe ich dann noch schnell die Suchoptionen (Umkreis, Alter, Geschlecht) an, dann kann es losgehen. Ein Foto springt auf. Und ihm folgen Dutzende. Fotos, von Männern, die mir äußerlich nicht zusagen oder in ihrem Text nur darüber schreiben, wie groß und sportlich sie sind. Bis schließlich auch manche Profile angezeigt werden, die mir zusagen. Schnell gibt es „Matches“, was nicht direkt heißt, dass man Kontakt zueinander aufnimmt. Es entsteht nur die Möglichkeit dazu. Trotz der hohen Anzahl der schnell gesammelten Matches und der Gewissheit, dass man sich äußerlich nicht abstoßend findet, schreibe ich höchstens mit der Hälfte von ihnen, schnell bricht der Kontakt ab. Nachdem mir erneut die Frage gestellt wird, wonach ich bei Tinder suche, stelle ich mir diese Frage selber. Und komme zu dem Entschluss, dass ich sie nicht eindeutig beantworten kann. Keine Beziehung, keine One-Night-Stands, keine Freundschaft. Ich entscheide mich schließlich dazu, die Antwort auf 62 63 diese Frage im echten Leben zu suchen und beende meinen Tinder-Ausflug. Da ich mich frage, welche Erfahrungen andere mit der App sammelten, mache ich mich auf die Suche nach Geschichten. Schnell muss ich feststellen, dass Tinder zwar sehr verbreitet ist, jedoch kaum jemand offen darüber redet, die meisten behaupten, die App zwar installiert zu haben, aber kaum zu benutzen. Oder bisher nur uninteressante Gespräche geführt zu haben. Doch dann treffe ich Anna. Anna ist 20, studiert Kulturwissenschaften in Hildesheim, Schwerpunkt Literatur und hat sich im Dezember 2014 ein Tinderprofil zugelegt, nachdem ihr eine Freundin zum dritten Mal davon erzählte, sagt sie. Anna ist relativ groß und wirkt selbstbewusst. Wenn ich sie etwas frage, überlegt sie vorher genau, was sie sagt, achtet auf ihre Worte, wirkt aber locker dabei. Für sie scheint es vollkommen normal zu sein, Tinder zu benutzen. Was sie erlebt hat, hätte sie sich jedoch nicht erhofft. Zu dem Zeitpunkt, als sie die App installierte, war sie in keiner festen Beziehung, erwartete aber auch nicht, diesen Zustand per Tinder zu ändern. Was sie sich vor allem erhoffte, war ein Zeitvertreib für lange Zugfahrten oder Sonntagabende. Nichts erwartend, aber auch nichts gegenüber abgeneigt. Profilbilder wählte sie unterschiedliche, die sie in verschiedensten Situationen zeigten, jedoch keine Ganzkörperfotos. In ihrem Text schreibt Anna nur kurz, woher sie kommt, dass sie studiert und was sie mag. „Bier, Musik, Festivals und Seifenblasen“. Sehr reduziert. Dass sie in der App auf ihr Äußeres reduziert wird, glaubt sie jedoch nicht. Zumindest nicht, nach der ersten Entscheidung und bei ehrlichem Interesse. Für sie zählt eher das Schreiben, der Austausch von Wörtern, Gedanken. Daran merkt sie dann auch schnell, ob der Chatpartner ihr gefällt, ob es vielleicht zu einem Treffen kommt. Auch Anna stellt schnell fest, dass es ermöglicht wird, in kürzester Zeit dutzende Männer kennenzulernen. Angenehm findet sie, dass die erste Barriere genommen wird, dadurch, dass man die Gewissheit hat, dass eine gewisse Sympathie besteht. Oft brach der Kontakt jedoch schnell ab. Insgesamt vier Dates hatte Anna, seitdem sie sich bei Tinder angemeldet hat. An die Treffen stellte sie keine hohen Erwartungen, sie wollte einfach gucken, was kommt. HIER FEHLT WAS? Wer weiß, ob es dann zu einem Treffen gekommen wäre. Anders als Anna erging es Paula, 20, aus Köln. Sie wird im Sommer eine Ausbildung im Hotelfach beginnen.Ich würde sie als attraktive, junge Frau beschreiben, die bestimmt keine Probleme hat, Männer kennenzulernen. Ihre Einzimmerwohnung in der Kölner Altstadt ist detailliert dekoriert, an der Kleiderstange hängen bunte Sommerkleidchen. Sie wirkt fröhlich, aber um richtig glücklich zu sein, fehlt ein Partner, sagt sie. Um die Suche nach diesem zu erleichtern, meldete sie sich vor einigen Monaten bei Tinder an. Dort sei es leicht, Kontakt aufzunehmen, die Auswahl groß. Ihre Ansprüche seien zwar hoch, aber äußerlich sagen ihr einige Männer zu, sagt sie uns lässt mich einen kurzen Blick auf die Liste ihrer aktuellen Matches werfen. Keine schlechte Ausbeute. Doch geklappt hat es bisher mit keinem von ihnen. Da gab es z.B. Alexander. Zunächst schien alles zu passen. Wochenlang wurde geschrieben, stundenlang telefoniert, bis es schließlich zum ersten Date kam. Zu diesem Zeitpunkt hatten beide bereits die App gelöscht, für den anderen. Das Date läuft gut, Paula denkt, dass sie wahrscheinlich sogar zusammenkommen. Doch dann geht irgendwie alles zu schnell, es kommen Meinungsverschiedenheiten auf. Man erwartet Unterschiedliches – und ebenso schnell wie Paula Alexander kennenlernte, streicht sie ihn auch wieder aus ihrem Leben. Und installiert die App erneut. Über Alexander denkt sie nicht mehr lange nach, an seine Stelle tritt bald ein neues Match, die ersten Dates laufen gut. Aber auch hier müssen beide sich irgendwann eingestehen, dass sie nicht richtig zusammenpassen. Paulas Suche geht also weiter, bisher ohne Erfolg. Für Paula ist es kein Problem, viele Männer kennenzulernen, egal ob in der Realität oder mithilfe von Tinder. Letztendlich zeigt sich erst nach dem ersten Aufeinandertreffen, wie gut man zusammenpasst. Nur kann man sich bei Tinder zurechtlegen, was man schreibt, muss nicht direkt reagieren, das gibt Sicherheit. Am Ende bedeutet Tinder für Paula eine Abwechslung, keine erhöhte Erfolgschance. Die Geschichten von Anna und Paula zeigen, dass es eben doch so ist, dass man Liebe manchmal dann findet, wenn man nicht damit rechnet. Deswegen sollte Tinder nicht zu ernst genommen werden. Trotzdem darf alles einkalkuliert werden. Genauso wie es möglich ist, One-Night-Stands bei Tinder zu finden, versteckt sich dort manchmal auch die große Liebe. Außerdem fällt es leichter bzw. wird es erst ermöglicht, Menschen kennenzulernen, zu denen man in der Realität keinen Kontakt aufnehmen würde. Denn über Tinder erhält man gleich das Signal, dass das Gegenüber einen sympathisch findet. Tinder ist allem in allem also ein interessanter Zeitvertreib, der für Überraschungen gut ist. Und man ist nicht mehr gezwungen, in die Bar zu gehen, um eine nette Unterhaltung zu führen. 64 65 Lieblingsmensch Kölner Gold Denke auf dem Klo: was ein guter Tag Und dabei so froh dass ich wirklich alles hab Im kalten Februar will fliehen aus der Zertanzte Schuhe, doch kein bisschen Stadt Die grad nur Schminke und Bier zu matt bieten hat Am Morgen auf den Trümmern der Stadt Packe sieben Sachen drei Schritte zum Gleis acht Schweigen ist Gold, die Wahrheit kannte Dass ich bleib hat dann deine SMS ich nicht geschafft Denn Gold schenkt uns Köln, nur durch sein Licht "Geht ihr als Stress?", der einzige Satz Eli mit mir aufm Weg, Chlodwigplatz Heut werde ich nur zu deiner Musik Weiß, dass ich heut von nichts die Fin- tanzen ger lass Der Tod der Nacht wird dann alles zerstören Zertanzte Schuhe, doch kein bisschen Denke ich noch bevor die Sonne dann matt aufgeht Am Morgen auf den Trümmern der Stadt Doch wir tanzen blind weiter, noch bis halb zehn Schweigen ist Gold, die Wahrheit kannte ich nicht Und berühren sich jetzt unsere Lippen Denn Gold schenkt uns Köln, nur durch Schmeckt das nicht nur nach Kippen sein Licht Zertanzte Schuhe, doch kein bisschen Eine Reise, die durch Bars und Kioske matt führt Am Morgen auf den Trümmern der Stadt Uns lenkt und am Ende nur uns gehört Rauche Freiheit durch die Lucky Strike Schweigen ist Gold, die Wahrheit kannte will nur rennen ich nicht Da sind Leute die, denken dass wir uns Denn Gold schenkt uns Köln, nur durch schon ewig kennen sein Licht 66 Erinnerst du dich an die tausend Stunden? Sobald die Sonne rauskam, an den Knien die Wunden Wo du mir zeigst, dass der erste Eindruck nicht zählt So lang man nicht die Liebe wählt Spürte immer den ersten Kuss Kam dann zu spät, doch ließ mich nicht los Bis wir den Zweiten zu Weihnachten hinrotzten Im Gespräch danach dann nur noch Gemotze Kenn dann mehr und mehr von dir Wird zum Geheimnis und Glauben von mir Deine Bücherdiebin klaut mein Herz Und Melancholie schreit der "richtige Schmerz!" Du gabst mir eine Knarre, ohne den Schuss zu verlangen Wusste nicht, wohin wir so jemals gelangen Wusste nicht, dass sich Wellen im Meer nie legen Für all das werd ich dir immer vergeben Du gabst mir eine Knarre, ohne den Schuss zu verlangen Wusste nicht, wohin wir so jemals gelangen Wusste nicht, dass sich Wellen im Meer nie legen Für all das, werd ich dir immer vergeben Die Narbe eine der Guten Schmerzt nicht mehr, gibt nur Mut Auf dem Festival das Handy in die Luft genommen "HOFF ES GEHT DIR GUT; DA WO DU BIST!" Seh inzwischen die drei Worte nur verschwommen Immer gewusst, dass uns das nie ganz verlässt 67 Die Quelle der Liebe An einem Ort wie diesen bedeutet hinter der Theke vor der Theke. Wer hier seinen Arbeitsplatz wählt, muss damit rechnen, dass sein Gehalt gleich nach Feierabend wieder ausgegeben oder die große Liebe gefunden wird. Freitagabend, 22 Uhr. Die erste Sommerwärme lässt es zu, dass ich nicht den Haupteingang, sondern gleich den Nebeneingang zur Terrasse nutze. Das rege Treiben der kleinen Gaststätte namens “Umtrunk“ (Name geändert) ist bereits aus weiter Ferne zu hören. Bunte Lichterketten hängen in den Bäumen und elektronische Musik ertönt dezent aus zwei kleinen Boxen an der Hausfassade. Wer die Stadt Bergisch Gladbach kennt, dem ist auch das “Umtrunk“ sofort ein Begriff. Ich selbst kenne das Lokal schon seit einigen Jahren, zähle jedoch nicht zu den Leuten, die dieses regelmäßig besuchen. Die kleinen Paargeschichten der Gaststätte konkurrieren allerdings schon lange mit den Geschichten der Stadt. Personal und Gast stehen hier in besonderem Verhältnis zueinander. Ich treffe mich heute mit einem der beiden Köche des Lokals. Timo (Name geändert) ist Anfang 20 und diesmal selber als Gast bei seiner Arbeitsstätte. Ich sehe ihn an einem der großen Klapptische sitzen und zu meiner Überraschung in voller Gesellschaft. Jeder der knapp acht langen Tische ist besetzt. Das Durchschnittsalter geschätzte 18 Jahre. Ich schiebe mich durch die sitzende Menge trinkender Leute. Der bunte Kiessand unter meinen Füßen knirscht laut und die Hitze der Heizpilze schlägt mir ins Gesicht. Als ich den Tisch von Timo erreiche, ertönt es lauthals: „Jenny ist das Herpes!“ Schallendes Gelächter ertönt in der Runde. Timo schiebt einen der Holzklappstühle an die Ecke des Tisches und ich nehme Platz. Der Tisch ist bedeckt mit Biergläsern. Die einen halb voll, die Mehrzahl jedoch leer. Ein Keks steckt in dem überquellenden Aschenbecher und aufgeweichte Servierten und leere Pommes-Schalen schwimmen in kleinen Bierpfützen über das dunkle Holz. Kerzen in Papiertüten und Decken gegen die frische Abendluft sorgen dabei für eine eher gemütliche Atmosphäre. Das junge Mädchen, das gerade zum “Herpes“ ernannt wurde, nimmt einen tiefen Schluck Bier und schüttelt den Würfelbecher mit wahrnehmbarer Spannung. Sieben! Ein schmaler Typ mit dunklen Haaren und halb geöffneten Hemd, verdreht die Augen und jault ein 68 69 unüberhörbares: „Nicht schon wieder!“ Es folgt ein kräftiger Schluck. Timo erzählt mir, dass dies ein sehr beliebtes Trinkspiel sei. Jeder Spieler wird einer Zahl zugeordnet. Das arme “Herpes“ muss bei bestimmten Zahlkombinationen sein Glas komplett leeren, es sei denn, jemand anderes wird dazu ernannt. Ich blicke mich um und stelle fest, dass auch an den anderen Tischen “Herpes“ im vollen Gange ist. Die Leute kreischen herum und schütteln sich vor Lachen. Am Nachbartisch wird unterdessen eifrig ein Turm aus leeren Zigarettenschachteln gebaut. Ein amüsanter Anblick und keiner scheint sich wirklich ernst zunehmen. Das “Umtrunk“ ist ein beliebter Treffpunkt der Bergischen Jugend und steckt zugleich voller Tradition. Während die älteren Stammgäste vor allem zum Fußballgucken kommen, genießt die junge Generation das Flirtleben mit allen Facetten. Getrunken wird dabei ausschließlich Kölsch. Laut Timo geht es hier am Wochenende immer so wild zu. Spätestens nach 23 Uhr ist in der Regel keiner mehr nüchtern. Ich bestell mir bei der nächsten Runde ein Bier mit. Die junge Bedienung kennt die Gäste gut. Während sie das Bier auf der Anschreibliste vermerkt, scheppern gleich drei Gläser irgendwo zu Boden. In einer Spielpause erzählt mir der Koch, dass er bereits seit zwei Jahren hier im “Umtrunk“ arbeite. Ein Nebenjob. Ansonsten studiert er. In der Regel absolvieren hier alle Hilfskräfte neben dem Job ihr Abitur. Es gibt lediglich nur einen Festangestellten. Dass die Servicekraft nach Feierabend gleich den Laden verlässt, kommt eher selten vor und auch er habe vor allem am Anfang Erfahrungen mit finanziellen Verlusten machen müssen. Bis zu dreitausend Euro Schulden sollen allein durch die Feierabendgestaltung bei manch einem Angestellten erreicht sein. Ich blicke durch den verglasten Anbau zur Theke rüber. Auch dort herrscht reger Menschenbetrieb. Knutschende Pärchen und singende Gruppen und fast alle scheinen sich untereinander zu kennen. Ein junger Mann spült Gläser, während das kleine Mädchen die Kundschaft an der Bar bedient. Belustigt greift Timo zu seinen Zigaretten. „Jaja, die Zwei haben sich auch vor einem Jahr hier kennengelernt. Die sind unzertrennlich. Belegen immer dieselbe Schicht zusammen.“ Er zündet die Zigarette an, ich greife zum Kölsch. Letzter Schluck. - Na so was! Die kleine Kellnerin kommt zu mir und stellt mir überraschend ein neues Bier auf den Tisch. „Hat dir der Typ da vorne ausgegeben. Der mit dem Fahrrad.“ Ihrem schlanken Finger folgend, erblicke ich nur noch einen davon radelnden Mann, der Richtung Bahnhof steuert. „Du fällst hier auf!“, sagt Timo. Er zieht noch einmal kräftig an dem qualmenden Stängel. „Doppelherpes!“, ertönt es in der Runde und der ganze Tisch fängt an zu jubeln. „Durch das Umtrunk haben sich bereits viele Paare gefunden“, erzählt Timo. „Nervig wird es nur, wenn sich die Paare untereinander zoffen, trennen oder durch den Suff Scheiße bauen. Fremdgehen und so. Wenn die Servicekraft in solchen Beziehungsdramen verwickelt ist, wirkt sich das oft auf die anderen Gäste und den ganzen Laden aus. Jeder ist dann irgendwie darin verwickelt, weil er als Beratung, Verursacher, Zeuge oder Gerüchtestifter seinen Senf dazugibt. Die Stimmung ist dann am Boden, und wenn der Chef das mitbekommt, ist das gar nicht cool. Dieses Chaos meine ich.“ Timo würfelt und ich muss trinken. Das Mädchen neben mir setzt den Kritikpunkt fort: „Wenn man sich den Chef anguckt, ist das doch alles kein Wunder! Der versucht doch auch immer bei all seinen Angestellten zu landen. Stellt generell nur junge Mädchen ein, der Jäck! Aber der hat auch kein Problem damit, wenn er lauter Körbe kassiert. Ist halt selbst noch recht jung.“ - Zustimmung in der Runde! Die Würfel landen in der Pommes-Schale. Ein Grund wieder kreativ zu werden und diese mit zwei Zahnstochern heraus zu fischen. Der Koch versucht mir zu erklären, wer sich an dem Tisch durch das “Umtrunk“ wie kennengelernt hat. Ich arbeite mit Zahlen und ziehe Verbindungslinien über meinen Block. Vergebens. Solche verstrickten Paargeschichten habe ich noch nie gehört. Mir wird klar, dass man in dieses Konstrukt von Freundschaft und Liebesbeziehung reingeboren sein muss, um es zu verstehen. Ein Generationen prägender Ort, der sich durch die Beziehungsgeschichten seiner Gäste ganz besonders von anderen Gaststätten abhebt. Das Angebot des Lokals ist breit gefächert. Oft werden Konzerte organisiert, Fußballspiele ausgestrahlt oder auch private Feten in einem Nebenraum unterstützt. „Die Pärchen kommen gerne zum gemeinsamen Trinken. Sind sie dann ohne Partner unterwegs, kann sich auch schnell etwas Neues in Sachen Beziehung ergeben. Eine Sache, von der generell abgeraten wird. Das sind dann die sogenannten “Stressphasen“. Später ist dann alles wieder gut.“, sagt Timo belustigt. Als er versucht seine eigene Geschichte zu schildern, nehmen meine Aufzeichnungen fast schon mathematische Züge an. Eine Runde Schnaps geht auf mich. Mittlerweile ist es 1:00 Uhr. Die ersten Drecksäcke (ein Mischgetränk aus Cola und Bier) werden bestellt. Fast jeder an diesem Tisch hatte sich vorgenommen, heute nur zwei Bier zu trinken. Eine tendenzielle Unmöglichkeit. Morgen arbeiten... Typisch “Umtrunk“! Ich bekomme an diesem Abend gleich zweimal ein sogenanntes “Anonym-Bier“ ausgegeben. Oft wurde mir zugezwinkert oder ein Platz am Tisch angeboten. „Zeit zu gehen“, denke ich. Ein Blick ins Portemonnaie bestätigt mir, dass man hier nur finanzielle Verluste machen kann, wenn man nicht gerade auf der Suche nach einem Partner ist. 70 71 Nachbarschaftsliebe Liebeskater Ich streich dir den Kopf und du blickst mich an Deine funkelden Augen, oh man oh man Wir kennen uns lang und vertrauen uns sehr Damals fing ich dich auf, verdammt war das schwer Du warst so schüchtern und ich erzählte dir viel Neugier war da und Mut war das Ziel Wir durchstreiften die Felder und du vertrautest mir schnell Sodass die Gefühle fuhren Karussell Ich hab den absoluten Kater nur von Dir Und er wird immer rabiater ich will zurück zu dir Ein echter Liebeskater nur von Dir Liebeskater Manchmal bist du gestresst und du fauchst mich an Keifst wie ein Löwe im Kampfe, doch das bin ich gewohnt Ich setz` mich dann zu dir und du stupst mich an Ich rücke näher und du verfällst mir dann In tiefer Trance und sabberst mich an Vibration Und mein Kopf fängt wieder an Ich hab den absoluten Kater, nur von Dir Und er wird immer rabiater, ich will zurück zu dir Ein echter Liebeskater, nur von Dir Liebeskater Vögel zwitschern und die Sonne scheint Stille im Garten und nur ein Baby schreit Ich blicke nach drüben und da sitzen sie Die Nachbarn am Fester mit ganz spezieller Energie Du bist die Begleitung meines Lebens und ich verwöhne dich sehr Mache dir ständig Essen und du futterst es leer Musst du zum Arzt, dann bring ich dich hin Halte deine Pfote und erklär dir den Sinn Tiefe Freundschaft verbindet uns Hast mir soviel gegeben Sodass mein Kopf anfängt zu beben Ja das ist Liebe im Garten Liebe im Garten Ich hab den absoluten Kater, nur von Dir Und er wird immer rabiater, ich will zurück zu dir Ein echter Liebeskater, nur von Dir Liebeskater Und immer wenn wir rausgehen ja da sitzen sie Hoch oben am Fenster mit ganz speziUnd immer wenn wir rausgehen, ja da eller Energie sitzen sie Sie starren uns an und beschimpfen Hoch oben am Fenster mit ganz spezi- uns schwer eller Energie Wir weichen zurück und suchen Abwehr Sie starren uns an und beschimpfen uns schwer Ja das ist die Krise im Garten Wir weichen zurück und suchen Abwehr Krise im Garten 72 Nicht lange her und wir waren eins Tobten zusammen ohne Deins und Meins Eine Zeit mit Vertrauen Hilfe und Spaß So wie man im Garten eben gerne leben mag Viel wurde gesprochen und man hatte sich gern Die Chemie stimmte egal ob nah oder fern Nachbarschaft funktionierte Doch was passierte intern? Ja das ist tote Liebe im Garten Liebe im Garten Eine traurige Wende ohne Grund und Verstehn Was ist nur passiert und wie konnte es geschehn Hochspannung im Garten die jeder sieht Sodass auch der letzte Vogel von uns flieht Plötzliches Schweigen breitet sich aus Wir suchen nach Antwort und gehen hinaus Worte mit Fäusten schlagen jetzt bei uns ein Große Verzweiflung, ja wie kann das sein Und es fällt zunehmend schwer Diese Krise im Garten Und ein Zuhause voller Glück muss plötzlich warten 73 Sex & Gewalt Part 1 Anonymität Bevor man auf ein Date geht, zieht man sich am besten etwas Schickes an vielleicht etwas Aufreizendes oder etwas Verführerisches - je nachdem wie das Date ausgehen soll. Das, was ich mir zu unserem heutigen Date anziehe, ist Anonymität. Die in der heutigen Zeit vielversprechendste Art Menschen kennenzulernen. Nach meinen Recherchen lernen sich: 27% im Freundeskreis, 16% an der Bar, 11% im Büro und 2% über Singleportale kennen. 2% ist vielleicht nicht die größte Zahl, aber wenn man das Ganze auf eine Szene bezieht, die es nicht so leicht hat sich öffentlich kennenzulernen, klingt diese Zahl sehr vielversprechend. Part 2 BOY MEETS BOY Wie in einem großartigen Film schon zitiert, sind wir doch alle nur ein Mädchen, das vor einem Jungen steht und ihn bittet, es zu lieben. Allein die Vorstellung davon, vielleicht nicht auf das gleiche Maß von Gegenliebe zu stoßen, treibt den meisten jungen, sich nach Liebe sehnenden Boys and Girls schon Schweiß auf die Stirn. Trotzdem ist das angeführte Beispiel noch eine leichtere Variante der Liebesspiele, die von allen so geliebt werden. In der Fortgeschrittenenversion des Spiels spielen die Homosexuellen die Hauptrolle. Denn diese, sowieso schon sexuell bestraften Bürger, müssen in der Öffentlichkeit viel länger, mit einer erhöhten Aufmerksamkeit nach einem Partner suchen. Leider reagieren die meisten Hauptcharaktere auf Nachfrage eines Außenstehenden auf ihre vermeintliche Homosexualität eher mies gelaunt. Den Hardcore-Modus im Expertenlevel des „FindYourLove“ Indie Games allerdings, spielen die Homosexuellen, die ländlicher Leben. Fern ab von den sexuellen Freiheiten legitimierender Großstädte. Wer keine Lust hat seine Liebe in Neonfarbe getränkt, auf Klischee-Techno wummernden Tanzflächen, auszutragen und dafür mit der handverlesenen 74 75 besten Freundin weit zu reisen, um die angeführte Schwulen-Party zu besuchen, sucht sich unauffälligere Wege seiner Sexualität nachzugehen. Was macht also der Otto Normal Schwule vom Land? Derjenige, der seine Augen so zärtlich aufschlägt wie sein Spiegelei? Er betritt bekleidet, mit weit aufgespannten Augen, getarnt durch einen sorgfältig, nach seiner Persönlichkeit ausgewählten Namen, ein Single-Portal. An genau dieser Stelle beginnt meine Recherche. Part 3 Die schmierigen Pommesbuden machen die besten Pommes. Um nachzuempfinden wie sich eine unbelastete Person in der digitalen Welt der Partnerbörsen, oder wie wir später noch rückwirkend sagen können: „Wie man sich in Bumsbörsen zurechtfindet“, starte ich hiermit meinen Test. Ich habe mir die Ziele gesetzt, herauszufinden wie sehr es in diesen digitalen Liebeshöhlen ums „Liebe finden“ geht. Wie einfach ist es? Wie viele haben dort ihr Glück gefunden? Gibt es dort bereits Pärchen? Wenn es nicht um Liebe geht, warum findet dort ein BOY MEETS BOY statt? Ich finde schnell nach einer Runde Google Bingo eine angepriesene Homo-Pärchen Börse. Diese scheint in der Szene sehr bekannt zu sein und wird dort als „Blaue Seite“ betitelt. Nach einem kleinen Klick finden wir uns schon auf besagter Seite wieder – das Blau des Himmels wurde also nicht als Farbpalette zur Gestaltung der Seite genutzt. Alles ist in dunklem Blau gehalten, soll wohl bei der nächtlichen Jagd nach Liebe und Ähnlichem nicht zu sehr in den Augen brennen. Nach einer kurzen Anmeldung, den wichtigsten Angaben zu Penis Länge und sexuellen Vorlieben, von denen ich einige (meinem Wortgefühl nach zumindest) für Krankheiten hielt, möchte die Seite auch noch ein Paar Hobbys, mein Gewicht, Lieblingsessen und andere Größen von mir wissen. Dann kann es auch schon losgehen. Vor mir stehen anklickbare Chaträume und diverse andere auswählbare Themenchats, die dem sich hier tummelnden Publikum die Suche nach dem passenden Partner-Profil leicht machen sollen. Mein erstelltes, frei erfundenes Profil ist 18 Jahre alt, hat eine mittlere Größe und blonde Haare. Die Fotos, die mein vermeintlich echtes Fake-Profil vervollständigen, sind aus dem Internet gesucht und mit Photoshop manipuliert. Mal sehen, ob meine kleine, zusammengebastelte Singlemaus einen Abnehmer findet. Der Plan zu meiner kleinen Recherche war die Suche nach ein paar netten unterschiedlichen Probanden, die bereit waren, sich anonym ein paar Fragen zum Thema „BOY MEETS BOY“ stellen zu lassen. Doch was dann auf mich ein hagelte, hätte wahrscheinlich so manche langjährig eingesetzte Kiezschwalbe 76 erröten lassen. Es mag nicht auf alle zutreffen, aber ein Großteil der mich erreichenden Mails sagte mehr als deutlich aus, was Anonymität aus einem Menschen machen kann. Ein Zitat von Edgar Allan Poe sagte mal: “Erstaunlich, dass der Mensch nur hinter seiner Maske ganz er selbst ist.“ Die ersten 3 Mails, die ungefragt und unverbindlich in meinem Profil-Briefkasten auftauchten, waren von älteren Herren geschrieben (laut Altersangabe zwischen 46 und 53). Auf Ihren Bildern waren nur behaarte, alte Körperteile zu sehen. Sie fragten mich, ob ich entweder an Sex interessiert wäre, oder TG möchte. TG, eine von vielen gängigen Bezeichnungen, die zum guten Ton des Sex-Vokabulars gehörten. Zu meinem bis hier gesammelten Sex Jargon sollte allerdings noch einiges an Fachbegriffen hinzukommen. Ich beschloss, dass mein Test-Charakter trotzdem weiterhin nach Liebe suchen würde und nicht nach TG, oder wie wir sagen: „Taschengeld von digital vergreisten Herren“. Auch die Mails, die sich in den nächsten Tagen in meinem Profil Postfach sammelten, waren wenig charmant und so verlor ich langsam die Angst davor, die versammelte Sex Gemeinde anzuschreiben und zu befragen. Zwischen “Dreamboys“, “BigCocksJocks43“ und anderen vielversprechenden Usernamen fand sich leider wenig Pärchen-Glück und wenige Anfragen nach der großen Liebe. Viel mehr begegnete mir oft die Fragen: „Hast du Pixs“ und „Suchst du Fun?“ Den Fun hatte ich inzwischen aber leider verloren. Sollte mich die digitale anonyme Liebeswelt so enttäuschen? Es begegneten mir Profile mit lustigen Sammlungen kurioser Bilder – von bis zur Hüfte fotografierten Hinterteilen, aus dessen oberen Jeansabschluss Windeln ragten, bis hin zu Nahaufnahmen von unrasierten Männerbeinen in Frauen-Strumpfhosen. Das Ansehen dieser Bilderreihen versprach mir eine andere Art von „Boy meets Boy“ zu treffen. Die Frage, ob ich ein BOY MEETS BOY mit jemand hatte (das möchte ich hier vorwegnehmen), kann ich direkt verneinen, denn bis zum Schluss meiner Recherche wurde ich nur vom Kuriositäten-Kabinett der Blauen Seiten immer wieder negativ überrascht. Immer, wenn ich ein paar interessierte Fragen gestellt hatte, war die Antwort: No response! Oder ich bekam weiterhin nette Angebote meinen jungen Körper irgendwelchen sexuellen Treffen hinzugeben. Nein danke! Part 4 Pimmelbingo Zwischen meinen Zweifeln an der Menschheit und der Überlegung, ob Hetero Dating Portale wohl noch schlimmere Benimmregeln haben, erreichten mich meine Highlight Mails, die ich definitiv niemandem vorenthalten möchte. 77 Außer er ist streng gläubig, oder unter 18 Jahren. Sollte das nicht der Fall sein, befreien Sie sich in (und zwischen) den nächsten Zeilen von Ihrem Glauben an die Gute Seite des Internets. Abgesehen von einer beachtlichen Sammlung zugeschickter Pimmel Bilder, erhielt ich sexuelle Vorlieben und Ergüsse, die so machen 50tyShadesofGrey Kino Besucher neidisch machen sollten. Es ging um Sex, oder Zwang zum Sex, oder Gewalt und Sex. Ein Mann mit Bildern, in denen er unkenntlich fotografiert im Rollstuhl sitzt, fragte, ob ich nicht Lust habe ihn voll zu++++, und ihn zu benutzen. Ein weiterer junger Mensch, etwa um die 20 Jahre, wollte sich in einem Stall mit mir treffen, damit ich ihm auf die Stiefel w+++ Robert, wie sein Name erstmal nicht vermuten ließ, suchte kein “BOY MEETS BOY“, sondern begrüßte mich nett mit: „Hi, bin bi, gut im f+++, Glatze, gut bestückt, mag es gern zärtlich und intensiv. Ich suche netten Freund, auch für zärtlichen Sex.“ Schon fast ein Romantiker zwischen den Irren. Mein persönliches Highlight möchte ich natürlich nicht vorenthalten. Das Beste kommt zum Schluss - Ein Name, der hält was er verspricht. Genussf+++er – und der Name war bei ihm wohl Programm. Denn er schickte mir eine nette Liste seiner Ideen für ein nettes “BOY MEETS BOY“. Er wollte Rollenspiele. Ein Sandwich, das sicher nichts mit Nahrungsmitteln zu tun hatte und er wollte von mir an sein Bett gefesselt werden. Das Ganze brachte mir außer Angst, Würgereiz und dem baldigen Ende der Befragung in diesem Portal nicht viel, außer einer weiteren Mail von ihm. Die bekam ich ohne Vorwarnung, ohne auf seine vorherige Mail geantwortet zu haben. Die zweite Mail enthielt folgendes: Eine Anleitung für sein Rollenspiel „Vater und Sohn“. Wie das ablaufen sollte, darf sich jeder gerne selbst ausmalen! Ok, ich bin raus hier. 78 Part 5 Go Hard or Go Home Was sind nun also meine Erkenntnisse und mein Abschlussfazit zur digitalen Liebes-Traum-Welt? Sind aus meinen Hoffnungen irgendwann Befürchtungen geworden? Aus den Befürchtungen die nackte Wahrheit? Kann man, wenn man einem normalen Menschen eine Portion Anonymität spritzt, daraus einen sexuellen Fetisch Superheld werden lassen? Oder ist es schön, dass in der digitalen Welt ein vollkommen neues, freies Land entstanden ist, in dem jeder selbst interpretieren kann, wie sein perfektes „BOY MEETS BOY“ aussieht? Beeinflusst das oben geschilderte Verhalten die Szene, in der ich mich bewegt habe, oder wird das Verhalten von der Szene bestimmt? Ich weiß auf jeden Fall, dass ich diese wilde Fahrt auf der digitalen sozialen Achterbahn nicht noch einmal machen werde, denn am Ende ist mir schwindelig und ich muss kotzen. 79 Ich will dich noch so lange sehen wie möglich Du bist ein Du bist ein Du bist mein Du bist mein Du mein Schiff, das sicher untergeht Mein Vertrag, der nicht lang besteht Meine Wäsche im Gewitter und meine Kälte, zu der ich zitter Du mein Schiff, das sicher untergeht Mein Vertrag, der nicht lang besteht Meine Wäsche im Gewitter und meine Kälte, zu der ich zitter Doch als ich an deine Küste kam War da kein Hafen Ich schlug an die Steine und sah, wie die Wellen mich warfen Ich weiß noch Ich segelte so schön mit meinem Schiff an deine Küste Lila Wolken und Gelüste Du mein Schiff das sicher untergeht Mein Vertrag, der nicht lang besteht Meine Wäsche im Gewitter und meine Kälte, zu der ich zitter Ich sah dich da und mir war klar Jetzt zugreifen... bei dem Angebot Lass das nicht zu lange schleifen Zweifel gab es nicht... Zweifel brauchte ich nicht 80 Was immer ich bin Was immer ich bin, ich hab was im Sinn Wohin ich auch geh, trag ich etwas bei mir Mein kleines Paket, kommt es mit auf den Weg Was immer ich bin, ich hab was im Sinn Was immer ich bin, ich hab was im Sinn Wohin ich auch geh, trag ich etwas bei mir Mein kleines Paket, kommt es mit auf den Weg Was immer ich bin, ich hab was im Sinn Ich gehe mit dir, und du gehst bei mir Fein ist es, klein ist es Es klebt an mir ,ich kleb an dir Es wiegt so schwer, es wiegt so leicht Schön, dass es mir nie von der Seite weicht Manchmal pack ich es ein, und damit bin ich nie allein Ich trag dich und du trägst mich Du hast mich verwickelt, in Fäden gesponnen Deine Begleitung ist schön, so viel mit dir dazu gewonnen Reiße nicht von mir ab, brich dein Geleit nicht ab Schenkst mir Freude und nimmst nichts zurück Du tust mir nichts und das tut so gut Was immer ich bin, ich hab was im Sinn Wohin ich auch geh, trag ich etwas bei mir Mein kleines Paket, kommt es mit auf den Weg Was immer ich bin, ich hab was im Sinn Was immer ich bin, ich hab was im Sinn Wohin ich auch geh, trag ich etwas bei mir Mein kleines Paket, kommt es mit auf den Weg Was immer ich bin, ich hab was im Sinn Eine mysteriöse Silhouette, ein zweiter Mantel Im Sommer nicht zu warm und sicher in meinem Arm Ich fühl mich so verfolgt, und begleitet ungewollt Doch werde ich nicht beengt und nicht vom Weg gedrängt Und wird es dir irgendwann in meiner Tasche zu eng Dann komm zurück wo du hingehörst Wenn ich so lache und du strahlst weiß ich genau Du begleitest mich Meine Erinnerung an dich 81 Partnersuche im Wandel der Zeit Herr M. prüft die Wetterstation im Flur und geht zum Kühlschrank. Der Inhalt lässt sich an einer Hand abzählen. Mehr brauche er schließlich nicht und sonst würde ja nur etwas schlecht werden. Heute trägt Herr M. eine rote Cordhose und einen roten Wollpulli mit einem Hemd darunter. Die braunen Lederhausschuhe hat er schon viele Jahre was man ihnen aber nur bedingt ansieht. Der 67-jährige, groß gewachsene Mann mit dem strahlenden Lächeln hat sich mittlerweile gut in seiner Singlewohnung eingelebt. Es ist sein Reich mit diesem speziellen Altherren-Duft, den wahrscheinlich nur Besucher anderer Altersklassen wahrnehmen. Überall stehen selbst gemachte Holzskulpturen herum und an den Wänden hängen Schwarz-Weiß Fotografien von ehemaligen Zechengeländen im Ruhrgebiet. Vor allem hängen dort aber Fotos von seiner Familie. Ein Sohn aus erster Ehe und eine Tochter und ein Sohn aus zweiter Ehe. Herr M. lebt seit einem Jahr von seiner Frau getrennt. Vorher waren sie 22 Jahre lang verheiratet gewesen. Nach einer schweren Zeit mit einigen kräftezehrenden Monaten war nach dem Umzug in die neue Wohnung erst einmal nicht an eine neue Beziehung zu denken. Er habe nicht den Kopf dafür gehabt und musste sich in seinem neuen Lebensabschnitt positionieren. So sitzt heute ein in sich ruhender Rentner in seinem gemütlichen Wohnzimmersessel und legt die Beine hoch. Seine Bewegungen sind zwischendurch etwas beschwerlich, jedoch nicht leidend. Herr M. ist optisch und auch seelisch jung geblieben. Er wolle einfach nicht allein bleiben, erklärt er und nimmt einen Schluck Kaffee. Bei seinen täglichen Spaziergängen halte er die Augen offen nach ansprechenden Damen. Genauso wenn er zu Konzerten, Lesungen, VHS-Kursen oder ins Kino gehe. Man müsse allgemein offen in Situationen gehen, findet Herr M. Seine neueste Errungenschaft ist jedoch ein ganz anderer Weg des Kontaktaufnehmens: Eine Partnerbörse im Internet. Als Herr M. die Seite am Laptop aufruft, fällt direkt die Information „Eine neue Nachricht“ ins Auge. Er bekomme pro Woche ca. 2-3 Vorschläge für potenzielle Partnerinnen, was wohl in Ordnung sei, findet er. 82 83 Die Seite gleicht alle Informationen, die man dort angibt, mit den Angaben potenzieller Partner ab und gibt dann das Ergebnis der sogenannten Matchingpoints bekannt. Umso höher die Matchingpoints, desto höher die Wahrscheinlichkeit, dass man sich versteht und gut zusammenpasst. Herr M. ruft sein eigenes Profil auf, woraufhin erst einige Minuten vergehen, bis sich die Seite aufgebaut hat. Sein Laptop sei immer so langsam und er habe schon alles versucht, um das Problem zu beheben. „Jetzt ist es aber nun mal so, ist schon in Ordnung. Ich habe ja Zeit“, sagt er. In der oberen Zeile sind die drei Adjektive zu lesen, die Herr M. ausgewählt hat, um sich selber zu beschreiben: humorvoll, selbstbewusst und attraktiv. Daneben sind einige Fotos von ihm zu sehen, die seine positive Ausstrahlung deutlich werden lassen. Die Fotos der Frauen kann man nur ansehen, wenn diese bereit sind, sie für den Betrachter freizuschalten. Herr M. lehnt sich zurück und erinnert sich an das erste Treffen mit einer Frau, die er über diese Plattform kennengelernt hat. Er sei extra mit der Bahn nach Wuppertal gefahren, um dort den Tag mit ihr zu verbringen. Am Bahnhof angekommen, stieg er aus dem Zug und hielt Ausschau. Als er sie nicht sah, habe er sie gerade anrufen wollen, da fiel sein Blick auf eine Frau. Sein direkter Impuls sei es gewesen umzudrehen und wieder in den Zug zu steigen, aber da war es schon zu spät. Sie hatte ihn gesehen und so folgten drei relativ unangenehme gemeinsame Stunden. So etwas Ähnliches habe er dann noch einmal erlebt. Es sei eben problematisch, wenn auf den Fotos nur die Gesichter der Frauen zu sehen sind. So komme es dann vor, dass eine recht beleibte Frau, mit nicht mehr ganz so blondem Haar und einem etwas fragwürdigen Humor bei einem Treffen erscheint. Und dann müsse man die Zeit rumkriegen. Genauso hat Herr M. aber auch schon eine positive Erfahrung gemacht. Mit einer Dame aus Frankfurt hat er sich des Öfteren getroffen. Sie konnten sich gut unterhalten und hatten ähnliche Interessen. Trotzdem sei es in letzter Zeit nicht mehr zu einem Wiedersehen gekommen, weil immer etwas dagegen sprach. Schon wieder etwas zu kompliziert findet Herr M. Grundsätzlich sei er aber entspannter geworden. Mit dem Alter werde man gelassener, könne mehr über sich selber lachen und alles mit etwas Abstand betrachten. Trotzdem werde es nicht gerade einfacher, noch mal eine passende Partnerin zu finden. Humorvoll, neugierig, aktiv, sportlich und attraktiv sollte sie sein. Möglichst interessiert an ähnlicher Musik und Literatur, sowie gerne auch ein Faible für Soziales haben. Herr M. ist pensionierter Sozialarbeiter und nach wie vor sehr interessiert an diesem und verwandten Metiers. Nun spielen aber auch noch andere Dinge eine wichtige Rolle, erklärt Herr M., als er sich wieder in seinen Sessel setzt. Er habe in seinem Leben schon einige Beziehungen gehabt, sowie zwei Ehen erlebt. „Ich bin mittlerweile reich an Erfahrungen und weiß somit, welche Eigenschaften eine Frau lieber nicht haben sollte, wenn es mit einer gemeinsamen Zukunft klappen soll“, erklärt er. Ist man offiziell geschieden? Will man wieder heiraten? Wie und wo leben die Kinder? Wie flexibel ist man? Und wie sieht die finanzielle Lage aus? Es stellen sich einfach viele Fragen, die pragmatisch angegangen werden müssten, sonst mache das keinen Sinn. Früher, Mitte der 80er Jahre, hat Herr M. nach dem Ende seiner ersten Ehe Kontaktanzeigen in der Zeitung aufgegeben. Dies sei eben damals der übliche Weg gewesen, die Suche anzutreten. Alles war noch etwas lockerer und man verguckte sich schon mal ab und zu. Heute passiere das nicht mehr so schnell. Bei der Suche übers Internet gehe er langsam vor und taste sich vorsichtig heran. Es gelte schließlich zunächst, einige Dinge zu prüfen und dann noch das Gefühl zu haben, dass man sich verstehen könnte. Wenn das auf beiden Seiten gegeben ist, verabrede man sich zu einem Telefonat. Das sei immer noch so aufregend wie früher, findet Herr M. Er sei gespannt auf die Stimme der Frau und ihre Art und Weise, sich auszudrücken. Wenn man sich dann sogar zu einem Treffen verabredet, würde sich die Aufregung noch mal mehr steigern. Wie wirkt sie in echt, ihr Geruch, ihre Bewegung, ihr Lächeln. Herr M. schaut ruhig aus dem Fenster und nimmt den letzten Schluck Kaffee. Es gäbe wirklich einiges zu beachten. Dann komme noch hinzu, dass die Auswahl in diesem Alter sowieso schon geringer sei. Der Tod sei durchaus ein Thema, gibt Herr M. zu. „So trivial es auch ist, die Zeit läuft eben ab.“ Aber man müsse einfach offenbleiben. Gut, dass das Alter ihm Gelassenheit geschenkt habe und gut, dass er mit seinen 67 Jahren nicht wie 67 aussehe. Herr M. steht auf und geht in den Flur. Auf der Wetterstation ist Sonnenschein für den Nachmittag angekündigt und Herr M. macht sich fertig für einen Spaziergang. 84 85 Seidener Faden Fallen lassen Immer zusammenhalten Hast du mir versprochen Doch dein Netz hat Risse bekommen Hätte mir das jemand früher gesagt Und mein Vertrauen hast du gebrochen Du bist ein Fass ohne Boden Und ich lobte den Abend vorm Tag Deine Worte verblassen Und deine Arme spüre ich nicht mehr Die Prioritäten verschoben Aber nie ganz verzagt Du hast mich fallen lassen Wir waren jung und froh Wussten alles voneinander Die Geheimnisse und Macken Unsere Träume sowieso Wie durch ein dickes Seil verbunden Immer für den anderen da Wird das Seil gekappt? Oder wird es halten? Wie weit bist du weg und wie nah dabei? Ich kann nichts sehen Was werden wir noch wagen? Alles hängt am seidenen Faden Alles hat gestimmt Nur die Zeit war falsch Ein unsichtbares Band zwischen uns Und ein Versprechen für die Zukunft Dass wir wieder zusammen sind Gefühle für die Zeit ganz blind Alles hat gestimmt Nur die Zeit war falsch Ein unsichtbares Band zwischen uns Und ein Versprechen für die Zukunft Dass wir wieder zusammen sind Gefühle für die Zeit ganz blind Hätte mir das jemand früher gesagt Du bist ein Fass ohne Boden Und ich lobte den Abend vorm Tag Die Prioritäten verschoben Aber nie ganz verzagt Jahre später viel geschehen Haben uns ewig nicht gesehen Das Seil ist merklich dünn geworden Vieles hat es schwachgemacht Ich denke an dich und an morgen Sich anvertrauen ist nicht leicht Aber unsere Liebe hat gereicht Und ich habe mich fallen lassen Du hast mir ein Netz gespannt Und das Glück war schwer zu fassen Die Risse selber knüpfen Wir sind nicht mehr wir Ich fahr allein mit meinem Tretboot weiter Und mein Horizont wird breiter Ich bin nur halb so schnell wie mit dir Aber keine Chance zu scheitern 86 87 Phasen der Liebe Liebe ist eine Kraft, die Leute zu verschiedenen Handlungen bringen kann. Sie verursacht zarte, wundervolle Gefühle in einigen Menschen, und ist gleichzeitig dazu fähig, Gefühle und Beziehungen zu zerstören. Hier ist eine dieser Geschichten, in der Liebe kein Happy End bereitet, sondern eine unübliche Wendung nimmt. Die Geschichte der beiden Partner begann in einer der Kneipen Münsters, im Tinnef, das heute den Namen Nippes trägt. Dort verbrachte Frau R. aus M, die anonym bleiben will, ihre Zeit. Es war ein üblicher Abend für sie, nach einem anstrengenden Arbeitstag besuchte sie immer die kleine Kneipe, um sich dort von der Musik und einem Bierchen entspannen zu lassen. Zufällig landete ihr Blick auf einem der Tische, an dem ein Mann allein saß. Als sie ihn genauer anschaute, merkte Frau R, dass er groß und hübsch war. Außerdem strahlte der Mann irgendwie eine mysteriöse Aura aus. Ihr Interesse war nun völlig geweckt. Frau R. ging zu dem mysteriösen Mann herüber. Als sie miteinander sprachen, stellte es sich heraus, dass der Mann gerade auf eine andere Frau wartete. Diese Antwort überraschte sie, obwohl sie sich diese Möglichkeit im Kopf schon überlegt hatte. Frau R. ließ sich aber nicht entmutigen und sie unterhielt sich weiter mit ihm. Irgendwie zog dieser Mann sie an und es konnte ja nicht schaden, ihm ein paar Fragen zu stellen. Der Mann, trotz seiner anfänglichen Zweifel, entspannte sich schnell und schien auch nichts gegen das Gespräch zu haben. Ihr Mut lohnte sich schließlich. Es stellte sich heraus, dass der Mann, Herr S, in die Kneipe gekommen war, um sich mit einer Frau aus einer Anzeige zu treffen. So sprachen sie weiter und erfuhren mehr über einander. Herr S. fand sie interessant, ein bisschen zurückhaltend aber sehr sympathisch und intelligent. Das Gefühl war anscheinend gegenseitig, da er sie anschließend nach ihrer Telefonnummer fragte. Sie trafen sich weiter ab und zu. Er spielte Billard und sie kam mit. Langsam fing Frau R. an zu begreifen, dass sie ähnliche Interessen und die gleiche Weltanschauung der Dinge hatten. Das brachte sie mehr und mehr zusammen. Bald waren sie ein Paar und kurz darauf schon, zogen sie gemeinsam in eine gemütliche neue Wohnung mit einem Garten ein. 88 89 So vergingen zwei Jahre glücklicher, junger Liebe. Eines Tages erfuhr Frau R. aber, dass sie schwanger war. Diese Nachricht brachte ihr bisher ruhiges Leben durcheinander. Sie war jung und Kinder waren derzeit nicht in ihren Plänen. Außerdem wusste sie nicht, ob sie überhaupt bereit war, eine Familie zu gründen. Weiterhin wurde mehr Druck erzeugt, weil Herr S. unbedingt heiraten wollte, ein Wunsch, den Frau R. nicht teilte. Er war aber davon überzeugt, dass das der richtige Weg war und dass es seine Verantwortung war. Am Ende traf sie die Entscheidung zu heiraten und bald hatte die neue Familie einen Sohn. Die Ängste, die Frau R. vor dem Ehe-Leben hatte, verwirklichten sich langsam. Herr S. schien keine Arbeit finden zu können und sie musste auf ihr neugeborenes Kind aufpassen und konnte auch kein Geld verdienen. Auch einige Jahre später, als sie wieder arbeiten ging, war sie diejenige, die gleichzeitig das Geld verdienen und den Haushalt führen musste. Seine Unfähigkeit oder vielleicht Unwilligkeit, einen richtigen Job zu finden, wurde schnell zu einem häufigen Grund für Streit. Was Frau R. aber am meisten auffiel, war die plötzlich entstandene Distanz zwischen ihr und Herrn S. Sie schienen sich nicht mehr für das Gleiche zu interessieren und seine Anwesenheit brachte ihr keinen Trost mehr. Er schien auch immer distanzierter und verschlossener zu werden. Die Spannungen und der Stress fingen an, die Beziehung zu belasten, und die intensive Liebe begann langsam zu schwinden. Als der Sohn 6 Jahre alt war, hatten sich die Eltern komplett auseinandergelebt. Die Erinnerungen an diese Jahre bringen immer noch etwas Dunkles und Kaltes in Frau R’s Augen hervor. Schließlich nahm sie ihren Sohn und zog aus der gemeinsamen Wohnung aus. Sie brauchte jetzt einen neuen Anfang und ihr erster Schritt war ihr Leben neu zu organisieren. Sie fand eine neue kleinere Wohnung, wo sie und ihr Kind sich wohlfühlen konnten und ihr gelang es, ihren alten Job in einem Möbelhandel zurückzubekommen. Es war nicht einfach, ein Kind allein zu erziehen aber sie hielt alle Schwierigkeiten aus. Ihre Beziehung mit Herrn S. war aber immer noch angespannt also entschieden sich die Beiden, einige Zeit ohne einander zu verbringen. So verließ die Liebe das Paar und hinterließ in ihrem Gefolge eine zerteilte Familie und ein kleines Kind mit getrennten Eltern. Auch auf diese Weise funktioniert sie manchmal, die Liebe. Sie bringt Leute zuerst zusammen, um sie später zu verlassen. Und es passiert häufiger als man denken mag. Fast ein Drittel der Ehepaare in Deutschland befindet sich in der gleichen Situation. Die Folgen solcher Liebe müssen aber nicht immer katastrophal sein. Falls zwei Leute reif genug sind und ihre Differenzen beiseitelegen können, dann kann aus der erfolglosen Liebe eine neue Beziehung erblühen. Weil das Paar einen Sohn hatte, konnten sie einander nicht einfach igno- rieren. Beiden wollten das Beste für ihr Kind und so verabredeten sie sich so, dass der Sohn auch genug Zeit mit seinem Vater verbringen konnte. Als die Bindung zwischen dem Sohn und den beiden Eltern sich verstärkte, erwuchs eine neue Bindung zwischen dem ehemaligen Paar. Sie waren beide sicher, dass es zwischen ihnen keine romantischen Gefühle mehr geben würde aber da war etwas anderes, etwas Neues. In Gesprächen, die sie manchmal im Park führten, während ihr Sohn mit den Nachbarkindern spielte, entdeckten die Beiden neue gemeinsame Interessen, deren sie sich nicht bewusst gewesen waren. Die alte Spannung verließ das ehemalige Paar und anstelle der vergangenen Liebe entwickelte sich ein neues Gefühl. “Wir haben eine Möglichkeit gefunden, uns auf eine neue Weise kennenzulernen. Wir wurden Freunde.” Als die Liebe schwand, konnten sie sich von einer anderen Seite sehen und fanden neue Gemeinsamkeiten und Interessen. Seitdem treffen sich Frau R. und Herr S. alle zwei bis drei Monate und verbringen ihre Zeit in Kneipen oder, wenn das Wetter schön ist, draußen. Manchmal nehmen sie sich die Zeit, um gemeinsam zur See zu fahren. Dort können sie sogar den ganzen Tag verbringen und die Gesellschaft des anderen genießen. Ihr Sohn ist schon 15 Jahre alt, er wohnt bei seiner Mutter, fährt aber fast jedes Wochenende zu seinem Vater und übernachtet dort. Frau R. hat einen Mann aus einer Anzeige angeschrieben und ist jetzt in einer Beziehung. Herr S. hat zurzeit keinen Wunsch nach einer neuen Beziehung und konzentriert sich auf seine Arbeit und andere Ziele. Obwohl die Liebesgeschichte dieser zwei Leute kein übliches Happy End hat, haben sie im Endeffekt mehr durch ihre Beziehung gewonnen als verloren. An der Stelle, an der ihre Liebe endete, fing für die Beiden eine Freundschaft an. Diese Metamorphose stellte diese Beziehung auf eine andere Stufe. Auch wenn dieser Text nun vorbei ist, ist dies noch nicht das Ende der Geschichte, sondern nur ein geschlossenes Kapitel in der Geschichte des Lebens. 90 91 Handschuh Spiele Einmal spielten sie Darts und er hat ihr Herz getroffen Sie war nun sein Preis er hat ihn aber weggeworfen Sie schoss ihren Bogen und traf ihr Ziel Jetzt hatte sie einen Preis, doch er blieb nicht bei ihr Er nutzte sie aus, hat ihren Bogen genommen Am Ende hatte sie nur Kopfschmerzen gewonnen Man spielt dieses Spiel, ohne klare Idee Was passieren wird - es tut manchmal weh Sie war verletzt und müde von all diesen Spielen Sie wollte nur Ruhe, doch jemand wollte auf sie zielen Ein Stein traf sie dann und hat sie verletzt Wie konnte das passieren? Das hat sie entsetzt Verwundet und wütend nahm sie eine Pistole Und schickte den Steinwerfer direkt in die Hölle Man spielt dieses Spiel, ohne klare Idee Was passieren wird - es tut manchmal weh 92 Niemand wusste, woher er kam Vielleicht war er von Anfang an da Ein Handschuh aus braunem Leder war er Er lag da verloren, seine Seele war leer Dann kam jemand vorbei, eine Hand hob ihn auf Die Wärme versetzte sein Herz in schnellen Lauf Doch dieses Gefühl, es dauerte nicht lang Da der Handschuh bald schon im Fundbüro hang Die Wärme verließ ihn, doch es blieb eine Spur Ein eiskaltes Feuer spürte er nur Nun ein Teil eines Ganzen Er ist nicht mehr allein Wird er endlich vollständig sein? Der Handschuh erzählte von seinen Gefühlen Endlich konnte er all dies spüren "Wir fanden einander warum bleiben wir hier? Wir verlassen das Fundbüro komm doch mit mir!" Der Andere starrte ihn nun lange an "Mein lieber Freund du hast dich vertan Ich bin doch keine Hand Wir sind nur ein Paar" Das Feuer in ihm war beißend und kühlend Einen Teil von sich konnte er nicht mehr fühlen Nur ein Teil eines Ganzen "O.k. wie du meinst. Viel Glück und bleib froh Verlassen und allein Damit verließ der Handschuh das Fundbüro Wird er jemals wieder vollständig sein? Etwas später konnte er das Loch in sich spüren Es spürte ein Wesen direkt neben ihm Ein anderer Handschuh der plötzlich Es ließ sich auf das Feuer zurückführen erschien! Er schien freundlich zu sein, war gefärbt Nur ein Teil seines Ganzen wie die Erde Verlassen und allein Sie entschieden sich dann, ein Paar zu werden Wird er jemals vollständig sein? Doch dann spürte der Handschuh wieder die Wärme Wie damals von der Hand, wie aus weiter Ferne Er wollte sie schützen, zur zweiten Haut ihr werden Er würde sogar für den Anderen sterben 93 Kein einziges WORT Drei Mal klingelte es an meiner Tür stürmisch, bevor ich den Hörer abnahm und die Tür öffnete. Ich wohne im vierten Stock in einer Altbauwohnung in Münster und erwartete meinen eingeladenen Besuch aus Köln. Langsam aber zunehmenden lauten Schritten näherte sich eine große, schlaksige junge Frau mit lockigen blonden schulterlangen Haaren, nähert sich mit immer lauter werdenden Schritten, bis sie mich am Türrahmen erreicht. Wir begrüßten uns mit einem Handgruß in der Luft, lächelten uns an und geben uns eine lange, freundschaftliche und innige Umarmung. Heute ist das Wetter traumhaft und ich habe für meinen Besuch den Balkon hergerichtet, sodass wir gemütlich zusammensitzen und plaudern können. Die Sonne knallt, es sind sommerliche 21 Grad, der Kaffee und Kuchen steht bereit zum Verzehr. Für das Interview, das ich heute vorbereitet hatte, kam mein Besuch extra zu mir und ich wollte es so gemütlich wie möglich gestalten. Diese junge Frau, die vor mir im hübschen sommerlichen Blümchenkleid sitzt, heißt Mandy und ist 26 Jahre alt. Sie ist in der Großstadt Köln in NRW geboren, lebt im Stadtteil Deutz und ist von Beruf Monteurin. Beim ersten Eindruck ist Mandy eine ganz normale junge Frau, die auf eigenen Füßen steht und das Leben zu schätzten weiß. Sie nippte an ihrem Kaffee, bevor ich mit der ersten Frage begann. Vor ihr liegt ein Notizblock und ein Kulli. Wieso das so ist, das verrate ich jetzt. Was viele Menschen gar nicht erkennen, sehen oder wissen ist, dass Mandy eigentlich gehörlos geboren ist und keine Lautsprache sprechen kann, sondern nur die Gebärdensprache. Sie sagt, dass sie in der 3. Generation gehörlos ist, das heißt Ihre Mutter sowie ihre Großmutter sind ebenfalls gehörlos. Ihr Vater und seine Familie sind hörend aufgewachsen. Warum Mandy und ihre Familie gehörlos sind, weiß niemand so genau. Aber Tatsache ist, dass sie es ist. Mit jungen Jahren lernte sie zwischen der gehörlosen und der hörenden Welt beide Sprachen kennen. Sie beherrscht beides recht gut. Natürlich überwiegend mehr die Sprache der Gehörlosen, die sogenannte Gebärdensprache. Diese Sprache ist überall auf der Welt verständlich. Ihr Vater, der hörend ist, hat für Ihre Mutter, die er 94 95 kennen und lieben gelernt hat, die Gebärdensprache gelernt. In der Familie war das Hauptbestandteil des Lebens, aber Mandy fand es zu wenig und beschloss sich in beiden Welten zu bewegen. Sie erklärt fest und deutlich, dass sie sich in beiden Welten wohlfühlt und sich nicht nur für eine entscheiden möchte. Auch wenn sie weiß, dass es sehr anstrengend und eine Last sein kann. All das erzählt Mandy mir in Gebärdensprache, die ich selber auch ein wenig beherrsche, und mit dem Notizblock und Stift für komplizierte Sachen und Unklarheiten. Sie zeigt mir mit viel Gestik und Mimik in Gebärden auf die Frage, wie gut sie mit ihrem Handicap zurechtkommt: „Eigentlich gut, weil ich weltoffen bin, ich bin mutig und nicht scheu vor den hörenden Leuten. Ich kenne mich gut aus, aus eigener Erfahrung, wie ich mit den hörenden Leuten umgehe. Im Beruf bin ich alleine unter den Hörenden, ich ruhe mich ein bisschen dort aus oder alberne mit ihnen rum. Im Alltag gehe ich einfach auf das ein, was auf mich zukommt, zum Beispiel, ein hörender Mann fragte mich nach der Straße und ich antwortete dann freundlich: Ich bin gehörlos, nehme die Karte und schaue, welche Straße er meint. Manche hauen ohne ein Wort zu sagen einfach ab. Aber ich gebe nicht auf und muss auch nicht aufgeben, weil alle nur Menschen sind, egal welche Behinderung sie auch haben. Ich habe einen besten Freund, der hörend ist, ich habe ihn mal zu einer gehörlosen Veranstaltung mitgenommen, damit er uns besser verstehen konnte, wie wir so sind und warum wir so sind. Er fand die Gehörlosen sehr sympathisch, offen und integriert. Mit anderen Worten: Er war begeistert, wie toll doch gehörlose Menschen sind ohne jegliche Lautsprache. Nach den ersten 10-25min Unterhaltung ist mir aufgefallen, dass Mandy weder ein Hörgerät noch ein Cochlea Implantat (Innenohr-Prothese) trägt. Das fand ich unglaublich überraschend und interessant und fragte, warum es so sei. Die Sonne wandert langsam Richtung Westen, strahlt in vollen Zügen auf den Balkon, die Wasserkaraffe schimmert und Mandy trinkt ihren letzten Schluck Kaffee aus ihrer Tasse, bevor sie zu gebärden begann: „Nein, ich trage weder Hörgeräte noch ein Implantat. Ich fühle mich nicht wie ich selbst, wenn ich die Hörgeräte trage. Es fühlt sich nicht dazugehörig an. Ich habe es natürlich schon mal ausprobiert, aber es war grausam für mich. Weil ich nur noch das Sprechen lernen musste, um mich selber mit den Hörgeräten zu verstehen. Ich wollte schon immer frei und selbstbewusst entscheiden und das tue ich heute immer noch. Ich glaube dadurch eröffne ich den hörenden Leuten, dass manche Gehörlose mit dem Hilfsmittel mehr große Last als Hilfe haben. Gerade wenn man selbst nichts hört, so wie ich mit 120% an Taubheit. Auch wenn das Cochlea Implantat mehr helfen würde, lehne ich dies ab, weil man da sonst auch nicht man selbst ist und dadurch keine Selbstbewusstheit hat. Zudem habe ich die Erfahrung gemacht, dass man mehr respektiert und akzeptiert wird, wenn man zeigt, was man hat und dazu steht und daraus das Beste macht. Auch mein Freund Eric trägt auch nichts davon. Keine Hörgeräte bzw. CI“ Sie ging damals auf die Schule für Hörgeschädigte und besuchte in Ihrer Freizeit hörende Vereine und übte Sachen wie Leichtathletik, Yoga oder Meditations-Sportarten aus. In diesem Verein hat sie Ihren jetzigen Freund Eric kennengelernt, das war im Jahr 2002. Eric ist 30 Jahre alt, auch gehörlos und kommt aus Frankfurt an der Oder. Seine Familie ist hörend und er selbst ist stark hörend aufgewachsen, beherrscht aber die Lautsprache und die Gebärdensprache. Viele verstehen ihn besser als Mandy. Mit seinen Eltern kommuniziert Eric völlig normal trotz seines Handicaps. Mandy und Eric haben sich im Leichtathletik Verein kennengelernt, leider aber aus den Augen verloren und stoßen 10 Jahre später bei Facebook wieder aufeinander und lernten sich kennen und lieben. Sie sind jetzt seit 2 Jahren ein Paar und führen eine Fernbeziehung. „Gar nicht so einfach“, sagte Mandy mir. Es gibt ab und zu Kommunikationsschwierigkeiten, die nicht gravierend sind aber aufgrund des Schreibens über Whatsapp und anderen Messenger Diensten auftauchen und passieren können. Sie sagt, dass das typisch ist für eine gehörlose Partnerschaft. Es ist nicht immer leicht, aber man muss sich Zeit geben, sich gegenseitig vertrauen und verstehen. „Er hat ja mehr hörende Freunde. Manchmal fühle ich mich unwohl, weil alle schnell sprechen und gegenseitig mehr mitbekommen als ich selbst. Ich bin offen und auch direkt, aber ich lache dann nicht mit ihnen mit, nur, weil andere den Witz verstanden haben und hake dann nach. Wir Gehörlosen verstehen nicht was Hörende für Witze erzählen, oft müssen sie uns erklären, was der Witz war. Das ist das größte Problem zwischen Hörenden und Gehörlosen. Manchmal fühle mich wie eine „Extrawurst“. Mandy ist wie erwähnt in einer gehörlosen Familie aufgewachsen und bekam somit auch alles mit: Diskussionen, Meinungen, Witze und alles, was schnell kompliziert abläuft, war „hörbar“ für sie. Es gibt einige Freunde von Eric, die auch gut gebärden können. Es ist sehr unterschiedlich, aber ich gebe nie auf und gebe mein bestens. Eric und ich unterstützen uns dabei gegenseitig und geben uns Mut den nicht zu verlieren.“ Das junge Paar trennt täglich 650km. Man braucht einen ganzen Tag, um von Köln nach Frankfurt an der Oder oder umgekehrt zu kommen. Wie hält das die junge Liebe aus, vor allem wie läuft eine Kommunikation zwischen Gehörlosen trotz dieser Entfernung. Mandy erzählt, dass sie und Eric ein Mal am Tag versuchen über FaceTime den Kontakt in Echtzeit zu halten. Die Whatsapp oder Messenger Schreiberei 96 97 ist dagegen zu lästig und mit zu viel Arbeit und Konzentration verbunden. Da das Telefonieren, welches bei hörenden Partnern ein Muss ist, nicht möglich ist, müssen sie zu anderen Mitteln greifen. Aber auch das klappt nicht immer. Beide sind voll berufstätig, haben Hobbys und andere Sachen neben der Beziehung im Leben. Trotzdem versuchen sie, so oft wie möglich Kontakt zu halten. Und wenn sie sich dann sehen, dann versuchen die beiden das ganze Wochenende zusammen zu sein. Und wenn sie zusammen sind, wie läuft dann so eine Partnerschaft unter Gehörlosen eigentlich ab, wie sieht z.B. ein Streit zwischen ihnen aus oder haben sie Tricks/Tipps eine „stumme“ Partnerschaft erfolgreich zu meistern? Mandy nickte mir zu, setzte Ihren Notizblock auf dem kleinen Tisch auf dem Balkon ab. „Wenn wir uns streiten, nehmen wir meistens die Mimik wahr. Da ich sehr starke Mimik und Gestik aufgrund meiner gehörlosen Familie gelernt habe und die anwende, missversteht Eric diese manchmal. Danach muss ich ihm in Ruhe erklären, was meine Mimik meinte oder nicht meinte. Manchmal vergesse ich, was mein Gesicht für Ausdrücke oder Erscheinungen macht. Also kann man zusammenfassen, dass wir von Auge zu Auge streiten. Es wird dann schlimmer, wenn wir uns beim Streiten nicht in die Augen sehen und uns wahrnehmen.“ Hörende Menschen nehmen sich eher verbal und akustisch wahr, als sich auf das Visuelle zu beschränken. Das ist ein großer Unterschied zwischen Gehörlosen und Hörenden Menschen. Gehörlose Menschen fühlen und spüren mehr miteinander und durch die Gestik und Mimik wird eine emotionalere Basis bzw. Verbundenheit geschaffen. Mandy wohnt alleine in Ihrer kleinen, aber feinen Drei-Zimmer-Wohnung in Köln. Wie gut kommt sie alleine zurecht, wenn sie doch nichts hören kann und immer ein Teil fehlt, der für andere Menschen normal und wichtig ist. Sie hat da bestimmt ein paar Tricks, dachte ich und hakte nach. „Wenn ich alleine wohne und lebe, gibt es für alles eine Hilfe und Unterstützung. Es gibt eine sogenannte Blitzklingel, so eine brauche also in jedem Zimmer. Ich habe kein Telefon Zuhause, ich bin mit E-Mails immer erreichbar, aber ich freue mich immer über Briefe. Wenn es mal ein Notfall gibt, dann sage ich meine Nachbarin bescheid, die schon sehr lange mit mir in einem Haus wohnt, sie soll für mich anrufen. Ich habe auch den Wecker mit dem Vibrationskissen, damit ich täglich pünktlich zur Arbeit gehen kann. Also es gibt für viele Dinge eine nützliche Lösung.“ Ein weiterer Punkt in Ihrer gehörlosen Beziehung ist, dass sie sich vor oder nach dem Streit gegenseitig fragen, ob sich die Auseinandersetzung lohnt oder nicht. Meistens schreiben sie sich das auf, um den Streit festzuhalten. Schriftlich fällt dann dem jungen Paar mehr auf, warum sie sich gestritten haben oder worum es ging. Jeder für sich allein und danach wird sich ausgetauscht. So kann der eine oder die andere das Geschehene besser verstehen und nachvollziehen. Da dies nicht verbal möglich ist, bringen sie es eben halt auf Papier. Alles kein Problem! Mandy sagt, dass sie sehr zufrieden und glücklich in ihrer Beziehung mit Eric ist. Sie sind sich sehr ähnlich, einfühlsam und verständnisvoll. Streiten tun sich die Zwei nicht all zu oft, allein schon wegen ihrer Distanz und Fernbeziehung muss man sich gegenseitig vertrauen und verstehen können. Akzeptieren und Zusammenhalten ist das A und O. Sehr erstaunlich wie die beiden trotz Handicap alles meistern und durch das Leben gehen. Kein Wunder, Mandy strahlt eine sehr lebensfrohe und weltoffene Art aus. Sie akzeptiert ihr Handicap und macht das Beste daraus. Ich fragte sie, wo sie sich am besten wohlfühlt und zu Hause ist. Bei dieser Frage war es ein paar Minuten still. Sie nahm sich ihre Zeit und überlegte: „Beides. Ich bin sehr neugierig auf ihr Wissen, Alltag, Sprache usw ... Aber für mich persönlich fühle ich mich mehr mit den Gehörlosen wohler, weil wir einfach Spaß zusammenhaben und wissen, was wir wollen. Wir müssen den hörenden Leuten erklären, warum wir dies und das machen. Egal wo ich hingehe oder stehe ich gebe den hörenden Leuten gerne weiter, wie toll die Gehörlosenkultur sein kann. Sie sollten einfach mehr über uns wissen und das wir auch nur Menschen sind.“ Es ist fast alles gesagt, aber eins interessierte mich noch sehr und wollte es für den Schluss aufheben. Ich stellte mir die Frage, warum sie sich für einen Freund mit Handicap entschieden hat. Sie überlegte nicht lange und blickte mich an und sagte dazu mit klaren und festen Worten: „Weil ich keine Lust habe, jemandem immer wieder zu erklären, dass ich immer die Augen zum Unterhalten brauche, oder er sollte mich nicht unterbrechen, wenn ich mit jemandem spreche. Das ist typisch Hörende, die lassen sich immer leicht und schnell durch ihr Gehör ablenken. Ich würde dann vielleicht misstrauisch sein, weil ich dann wahrscheinlich nie alles erfahren werde, ob er mir treu ist oder nicht“ Kurz gesagt: „Ich habe immer Gefühl, der Mann braucht eine Stimme zum Hören und das Kommunizieren in Lautsprache ist mir dann doch zu anstrengend und schwierig.“ 98 99 Zu schnell vorbei Unvergesslich Die Tage mit Dir, waren unvergesslich Es war Sommer, unsere gemeinsame Zeit Lippen öffnen sich Hände berühren sich Wir haben alles miteinander geteilt Sonnenstrahlen verblassen sich Kälte zog sich zu und die ersten Blätter fielen Was Du wohl so machst, fragte Ich mich Wie konnte das Schicksal nur mit so Karten spielen Unvergesslich, nur mit Dir Unvergesslich, nur mit Dir Unvergesslich, nur mit Dir Aus und vorbei Wir haben in den Tag gelebt Die Nacht durchgemacht und uns geliebt Ich liebte alles, von Kopf bis Fuß von Dir Du wirst’s nicht glauben Ich war verrückt, bis ich fast explodier Unvergesslich, nur mit Dir Unvergesslich, nur mit Dir Unvergesslich, nur mit Dir Es war viel zu kurz, ich verstehe das alles nicht Es war viel zu kurz, ich verstehe das alles nicht Es war viel zu kurz, ich verstehe das alles nicht Unser Sommer kommt mir wie eine Ewigkeit vor Erinnerungen sind nun wie Puzzlestücke zu sehen Haben uns zu schnell aus den Augen verloren Mein Herz blutet, ich versuch’ nicht durchzudrehen Aus und vorbei! Mein Glück, dass teilte ich nur mit Dir Gingen auf Festivals, in Freibäder und tranken Bier Schrieben uns nächtelang, stellten uns die Zukunft vor Du mit deinem Bass auf der Bühne Mein Herz ganz an Dich verlor 100 101 Eine lustvolle Begegnungsstätte Ich stehe vor einem alten zweistöckigen Haus mit schwarzen Dachziegeln. Die Wand ist weiß verputzt und die Fensterrahmen sind aus rotem Klinker. Die Tür befindet sich in der Mitte unter einem kleinen Vordach. Ein ganz normales Haus. Nur, dass die Fenster des Erdgeschosses aus Milchglas bestehen, macht einen etwas stutzig. Ich gehe nun drei kleine Stufen hinauf und stehe vor der bronzefarbenen Eingangstür. Eine junge Frau öffnet mir die Tür und bittet mich herein. Michael (Name geändert), ein dunkelhaariger, etwas untersetzter Mann ende Zwanzig begrüßt mich freundlich. Er ist der Geschäftsleiter des Swingerklub Amoroso. Ich befinde mich nun in einem offenen Raum mit orange-roten Wänden. Gegenüber des Eingangs befindet sich eine Theke. Mit Walnussholz verkleidet und einer marmornen Arbeitsplatte, macht sie einen edlen Eindruck. Einige Leute wuseln hektisch herum. Michael führt mich in einen kleinen Raum neben dem Eingang. Dort stehen ein bis zwei Dutzend rote Spinde und ein paar Bänkchen und Stühle. „Hier können die Gäste sich umziehen“, erklärt er mir. Eine Tür gibt es nicht und auch keine Geschlechtertrennung, da man sich ja hinterher vermutlich sowieso nackt sieht. Wir gehen nun rechts an der Theke vorbei durch einen kleinen Flur und kommen in einen Raum mit einem Whirlpool. Die Laternen an der grob verputzten Wand schaffen eine gemütliche Atmosphäre. Von dort kann man direkt in den Duschraum kommen, der durch die Naturkacheln und die großen Duschköpfe einen gewissen Wellnesscharakter hat. Direkt neben an befindet sich die hauseigene Sauna, die Platz für ca. neun Leute bietet. Michael erklärt mir, dass so ein Wellnessbereich in fast jedem Swingerklub zu finden ist. Wir gehen wieder auf den Flur und stehen vor einer schmalen Treppe, als ein Mitarbeiter vorbei kommt. „Wenn jemand fragt, wie wir (der Mitarbeiter und Michael) uns kennengelernt haben, sag ich immer: Ich hab’ seine Frau gevögelt“ sagt der groß gewachsenen Mann lachend und geht weiter. Michael führt uns nach oben in einen dunkles Zimmer. Als er die roten Lampen einschaltet, erkennt man, was sich dort befindet. „Das ist unserer Gloryhole-Zimmer“, sagt 102 103 er und zeigt mir eine Kabine mit schwarzen Wänden, die weder bis zur Decke, noch bis zum Boden reichen, wie in einer öffentlichen Toilette. Der einzige Unterschied: In einer der Wände sind vier Löcher in unterschiedlicher Höhe, durch die sich der Mann von der Frau „verwöhnen lassen kann“, wie Michael mir erklärt. Dann zeigt er mir stolz seine Erfindung. Ein etwa hüfthohes Holzpodest, auf dem eine schmale, gepolsterte Liegefläche angebracht ist. Die Liegefläche liegt auf einer Schiene und lässt sich der Länge nach hin und her bewegen. An einem Ende des Podests ist ein ca. einen Meter breites und gut zwei Meter hohes Holzbrett aufrecht befestigt. Auf Höhe der Liegefläche hat es ein großes herzförmiges Loch, durch welches man die Liegefläche durchziehen kann. Über diesem Loch sind nebeneinander zwei Lederriemen montiert. Um die Apparatur zu benutzen, legt sich die Frau rücklings auf die Liegefläche, mit dem Hintern vor das herzförmige Loch. Ihre Füße schnallt sie an den Lederriemen fest. Nun kann der Mann von der anderen Seite die Frau ein Stück weit durch das Loch ziehen. Dadurch werden ihre Schenkel an den Bauch gedrückt, sodass für den Mann nur der Hintern und die Vulva zusehen sind, die er dann stimulieren kann. Es ist also eine Version des Gloryhole bei dem der Mann den aktiven Part übernimmt. Diese Konstruktion hat er selbst entworfen und mithilfe eines Schreiners gebaut. Wir gehen weiter. Der nächste Raum beinhaltet einen Gynäkologenstuhl, einen Käfig und ein sogenanntes Andreaskreuz, welches aus zwei schlecht verschraubten Holzlatten besteht. Dort kann man sich fesseln lassen. Aber bis auf das Kreuz macht alles einen soliden Eindruck. SM sei in den letzten Jahren immer beliebter geworden, erzählt uns der Geschäftsführer. Auf die Frage ob er Fifty Shades of Gray gelesen habe, antwortet er: „Warum sollte ich das lesen? Ich habe so etwas jeden Tag“. Wir verlassen den „Folterkeller“ und kommen direkt in den Dschungel. Tigerfelle auf dem Boden, ein Camouflage-Netz an der Decke und eine Felshöhle. Dort können sich Pärchen zurückziehen, wenn sie ein bisschen Privatsphäre bevorzugen. Doch so ganz intim ist es dann doch nicht, da andere Besucher ihre Hände durch Löcher in die Höhle stecken können und so am Geschehen teilhaben können. Für diejenigen, die vollkommen ungestört sein wollen, gibt es noch „Poseidons Reich“, eine Art Schlafzimmer im Unterwasserthema. Der Raum ist ganz in blau mit Fischernetzen und Plastikfischen an der Decke. Die Gestaltung stammt noch von den Vorbesitzern. Michael hat den Laden erst vor ein paar Monaten mit seiner Freundin übernommen und findet das Fischthema eher abtörnend: „Fische versetzen mich nicht gerade in Stimmung“, meint er. Die Gäste, die mehr den öffentlichen Verkehr bevorzugen, können sich auf der orientalischen Spielwiese austoben. Vier große Matratzen, Rotlicht und orientalische anmutende Laternen sorgen für eine erotische Atmosphäre. Fünfunddreißig Leute sollen sich dort mal auf einmal getummelt haben. „Bei so vielen Leuten, die sich alle ausgiebig vergnügen, kommt man nicht drum rum mal das ein, oder andere Fenster aufzumachen, ein einfacher Luftentfeuchter reicht da nicht mehr aus.“ Nachdem ich die Räumlichkeiten begutachten konnte, gehen wir wieder nach unten. Wir kommen wieder an der Theke vorbei, wo einige Mitarbeiter, die letzten Vorbereitungen für die bevorstehende Swingerparty erledigen. Durch einen Backsteinbogen gelangen wir in den Tanzsaal des Hauses. Zur Linken stehen einige schwarze Ledersofas und schwarze Couchtische. Auf der anderen Seite des Raumes ist eine kleine Bühne. Aus den kleinen Lautsprecherboxen, die in den oberen Ecken montiert sind, ertönt leise Musik. Ich setze mich auf ein Sofa, während Michael uns etwas zu Trinken holt. Dort erzählt er mir dann, dass er auf einem Jungeninternat war, wodurch er kaum Kontakt zu Mädchen in der Pubertät hatte. Da er den Umgang mit dem anderen Geschlecht nie richtig lernte, hielt sich der Erfolg bei den Frauen erst mal in Grenzen. Also informierte er sich darüber, was es noch für Möglichkeiten gibt, um an Sex zukommen. So kam er dann in die Swingerszene. Seine ersten Paarpartys organisierte er in seiner WG. Michael erkannte schnell, dass er ein Händchen für so etwas und Spaß daran hatte. Er hatte mit seinen Partys Erfolg und als er erfuhr, dass die Besitzer des Swingerklub Amoroso eine neue Geschäftsleitung suchten, hatte Michael die Chance sein Hobby zum Beruf zumachen. Schließlich kommt Michaels Freundin Sandra (Name geändert) hinzu. Die beiden haben sich auf einer Swingerparty kennengelernt. Sie studiert Jura. „Michael ist sehr offen, was das Swingen angeht und erzählt es wirklich jedem. In dem Berufszweig, den ich anstrebe, kann man das nicht einfach so herausposaunen. Das Swingen hat eben einen schlechten Ruf“, erzählt sie mir. Sie sind der Meinung man solle das Ganze gar nicht mehr Swingerklub nennen. Sie sehen ihren Laden eher als Begegnungsstätte. Um Werbung zu machen, nutzt man hauptsächlich das Internet, da es ja eine spezielle Zielgruppe gibt, die darauf anspringt. Die Internetplattform Joyclub sei das Facebook für Sextreffen, erklären die beiden uns. Hierüber wird vieles organisiert. Mitglieder können sich über Joyclub für die Swingerpartys anmelden, wodurch sie weniger Eintritt zahlen. Erotische Fotos in außergewöhnlichen Locations sind in der Community sehr beliebt. Sandra und Michael wollen die alten Kellergewölbe für solche Fotoshootings nutzen, um so für ihren Klub zu werben. „Allerdings muss man dort noch einiges herrichten“, sagen sie. Neben dem Internet nutzen sie auch Flyer um Gäste ins Haus zubringen. Die beiden drücken uns einen Flyer ihrer U40-Party in die Hand. Er zeigt eine Schwarzweiß- 104 105 fotografie eines weiblichen Oberkörpers. Eine offene, karierte Bluse verdeckt gerade noch das nötigste. Auf der Rückseite stehen ein paar Infos: Paare 55€, Männer 80€, Frauen 15€. „Frauen 15 und Männer 80€ ?“ frage ich die beiden. „Damit man keinen Überschuss an Männern hat“, klären sie mich auf. Das Internet ist dennoch der beste Weg um Kunden anzulocken, da die meisten Gäste von weiter weg kommen, um nicht ihren Nachbarn zu treffen. Aber auch wenn man 200 km fährt, kann es sein, dass man seinen Nachbarn, seinen Arbeitskollegen, oder gar seine Eltern, oder Kinder trifft. Sandra und Michael finden, dass man mit seinen Kindern darüber reden sollte, wenn sie alt genug sind, um möglichen peinlichen Begegnungen vorzubeugen. Aber auch das Ansprechen dieses Interesses in einer Beziehung kann schwierig sein. Man sollte so etwas deshalb früh klären. Sandra erzählt uns von einem Paar, bei dem beide Partner bei Joyclub angemeldet waren, ohne es voneinander zu wissen. Als einer der beiden beim Surfen auf dieser Seite vom anderen „erwischt“ wurde, schloss er schnell die Webseite und behauptete, er würde etwas für die Arbeit tun. Der Partner hatte die Seite aber erkannt gehabt und so klärte sich dann alles auf. Es sei wichtig mit seinem Partner über diese Sache zu sprechen, bevor man eine Swingerparty besucht, berichten sie. „Wer hier hin kommt, um seinen Partner zu hintergehen, ist bei uns sofort unten durch“, sagt Michael. Auch wer Single ist und nur eine „schnelle Nummer“ sucht, sei hier fehl am Platz. Wenn man eine Party besucht, wird man erst einmal begrüßt und wer zum ersten Mal so etwas macht, dem wird auch alles gezeigt, falls er dies wünscht. Man zieht sich um, trinkt und isst etwas und unterhält sich mit den anderen Gästen. Es soll eine lockere und entspannte Atmosphäre geschaffen werden, bei der sich alle wohlfühlen. Wer dann Lust auf etwas mehr Spaß bekommt, kann dann die entsprechenden Räumlichkeiten aufsuchen, um sich dort zu vergnügen. Dies ist aber kein muss. Das sei auch ein Grund, weswegen viele Leute Angst haben so etwas mal auszuprobieren, dass sie denken, sie müssten mit allen Leuten Sex haben, wenn sie dort hingehen. Es passiert alles freiwillig und durch gegenseitiges Einverständnis. Auch mein Bild von einem Swingerklub war zu nächst so, doch durch die Eindrücke, die ich im Swingerklub Amoroso sammeln konnte, habe ich ein anderes Bild bekommen. Ein Swingerklub ist eine lustvolle Begegnungsstätte zum wohlfühlen und amüsieren und um sexuellen Vorlieben auszuleben. 106 107 Der Bäckers Junge Schatzkiste Du läufst entlang an weißem Strand Die Wolken machen der Sonne Platz Du findest etwas im weißen Sand Vergraben wie einen Schatz Du gräbst den weißen Sand beiseit’ Hältst eine Kiste in der Hand Sie erstrahlt in schönem Glanz Doch der Schlüssel einst verschwand Du kannst dich nicht entscheiden Das Risiko ist hoch Dass kein Schatz in der Kiste Und du sie für immer los Die Wolken werden dunkler Du hältst es nicht mehr aus Du nimmst dir einen Hammer Und schlägst verzweifelt drauf Du hast ’ne Kiste ohne Schlüssel Doch das ist dir egal Du hast ’ne Kiste ohne Schlüssel Doch das ist dir egal Du hattest ’ne Kiste ohne Schlüssel Nun hast du einen Schatz Denn die Kiste ohne Schlüssel War der Schlüssel zu deinem Schatz Du hörst nicht auf sie zu betrachten Denkst immerzu an sie Du fängst an dich zu fragen, Was sie wohl verbirgt Aus Neugier wächst Verlangen Nach Nahem was zugleich ist fern Doch um Gewissheit zu erlangen Musst du sie zerstör’n Als der Bäckers Junge sie das erste Mal sah Da wusste er nicht, was mit ihm geschah Er schaute sie an, sein Blick war gefang’ Seine traurig’ Geschichte begann Er wollte ihr Herz, das wurde ihm klar Beweisen, dass er der Richtige war Er backte ihr Kuchen und Torten mit Fleiß Doch ihr Herz war wie aus Eis Wie eine lodernd’ Flamme, War sie schön anzuseh’n Wie eine lodernd’ Flamme Konnt’ er sie nicht berühr’n Sie war schon versprochen einem anderen Mann Es stach ihm durchs Herz, wie ein Schwert Denn wurde dem Bäckers Jung endgültig klar Dass sie ihm für immer verwehrt Wie eine lodernd’ Flamme War sie schön anzuseh’n Wie eine lodernd’ Flamme Konnt’ er sie nicht berühr’n Wie eine lodernd’ Flamme War sie schön anzuseh’n Wie eine lodernd’ Flamme Er wusste nicht, was er noch tun könnt’ Konnt’ er sie nicht berühr’n Um zu ergreifen die köstliche Frucht So besuchte er sie und nahm ihre Hand Und sagte ihr, was er empfand Du hast ’ne Kiste ohne Schlüssel Es ist dir nicht egal Du hast ’ne Kiste ohne Schlüssel Es ist ’ne einz’ge Qual 108 109 Wenn ich nicht drangehe, dann war´s das für die Woche Gegen 8 Uhr war unter einem grauen, Wolken behangenem Himmel nur noch die Schiffsbesatzung an Bord. Alle Verwandten und Bekannten mussten das Schiff verlassen und blickten nun von Land aus in die Gesichter ihrer Lieben, oben an der Reling des grauen Stahlriesen, den die Soldaten für die nächsten sechs Monate ihr Heim und ihren Arbeitsplatz nennen. Das Ablegen der Fregatte war für 8:30 Uhr angesetzt, das Marineorchester setzt zu einem weiteren Stück an. Aufgrund eines technischen Defektes verzögert sich die Abfahrt um gut 45 Minuten. 45 Minuten, in denen Annika am Anleger steht, auf den Regen nicht vorbereitet und bis auf die Knochen durchnässt ist. Die Stunden zuvor hatte sie mit ihrem Freund Thomas noch ihren Geburtstag auf dem Schiff verbracht, Thomas hatte schon früh am Morgen seine Kabine bezogen, um sich dann ganz auf sie konzentrieren zu können. Dies waren die letzten gemeinsamen Stunden vor seiner Abreise nach Somalia. Zum Abschied der Soldaten auf die Operation Atalanta spielt das Marineorchester ein weiteres martialisches Stück Marschmusik, während die Angehörigen ihren Töchtern und Söhnen, Brüdern und Schwestern, Freunden und Partnern auf der Fregatte zuwinken, ihnen alles Gute wünschen und hoffen, dass sie alle heile wieder nach Hause kommen. „Es war ganz furchtbar, diese Blasmusik ... Und ich hab irgendwann gedacht, gleich nimmst du dir den Regenschirm von dem Opa neben dir und stichst in diese große Trommel!“ Annika taumelt zwischen Nervosität und Verzweiflung. Wann legt das Schiff endlich ab? Es soll nicht ablegen! Aber dieser schreckliche Moment soll vorbei gehen. Der Regen verdeckt die Tränen in den Augen aller, die von Kummer verzerrten Gesichter können aber die Qual des Abschiedes und der sich verzögernden Abfahrt nicht verstecken. „Ja und dann siehste ihn da oben stehen, und denkst dir: Ich würd´ dich jetzt gern auch noch ne halbe Stunde in den Arm nehmen.“ Aber ein weiteres an Bordgehen ist Annika nicht erlaubt. Annika beschreibt die Situation als ganz absurd. Der Freund der Marinesoldat, ein Abschied für eine lange Zeit, die pathetische Blasmusik, technische Störung beim Ablegen, der Regen. Die Szene wirkt wie aus einem Hollywoodfilm. Die ersten Wochen nach Thomas' Abreise beinhalten für Annika das Ge110 111 wöhnen ans wieder alleine sein. Sie baut sich einen Schutzwall, sagt sie, der aus Arbeit und intensiver Freizeitgestaltung geformt ist, um möglichst wenig darüber nachdenken zu müssen, was er grade macht und ob es ihm gut geht. Schließlich befindet er sich in einer der gefährlichsten Regionen der Erde. Seit 2008 werden von der EU militärische Schiffe zum Horn von Afrika geschickt, um neben dem Schutz der freien Seefahrt und humanitärer Hilfeleistungen für Somalia vor allem gegen die Piraterie vor der Küste Somalias zu kämpfen. Eine Arbeitskollegin, deren Partner ebenfalls Marinesoldat ist, bestätigte ihr, dass es normal sei, in den ersten Wochen nach Einsatzbeginn zu trauern, es aber irgendwann normal wird alleine zu sein, man sich dran gewöhnt. Für Annika war es nach zwei Monaten des Ablenkens durch Arbeit und Unternehmungen zu viel. Sie war fertig vom ganzen beschäftigt sein, vom nie Pause machen, vom Verdrängen und sie fiel in ein seelisches Loch. Annika war traurig und demotiviert. Thomas wurde rund um Ostern eine Woche Heimaturlaub genehmigt. Schon drei Wochen bevor er wieder nach Hause kam war Annika innerlich ganz aufgewühlt. Sie war voller Vorfreude, hatte allerdings Angst, dass sie ihn vielleicht nicht wiedererkennen würde. Was könnte in den letzten Monaten passiert sein? Thomas hatte von früheren Einsätzen schreckliche Geschichten erzählt, von Zivilisten, die von den Piraten angegriffen, gefangen genommen oder gar getötet worden sind. Dabei bewahrt er immer die Fassung. Nicht, dass es ihn nicht berührte, sein Gemüt erlaubt es ihm jedoch ganz sachlich und entspannt davon zu erzählen und im nächsten Moment euphorisch über die von ihm frisch abgeschlossene Restauration seines Alfa Romeo Oldtimers zu reden. Mit dem dunkelgrünen Alfa verbringen Annika und Thomas die Osterfeiertage. Sie gehen auf Partys, diskutieren bei Rotwein am Osterfeuer und holen alles das nach, was in den letzten Monaten nicht möglich war. Das Wetter zu Thomas' Rückkehr steht im starken Gegensatz zu dem seiner Abreise im Januar. Beide tragen Sonnenbrillen, die Jacken haben sie nur eingepackt, weil der Fahrtwind durch die offenen Fenster des Sportwagens im April noch etwas kühl ist. Sein Heimaturlaub spiegelt ein komprimiertes Bild des Lebens Zuhause wieder. Nicht nur Annika wünscht sich Zeit mit ihrem Freund, auch Thomas' Tochter, aus einer früheren Beziehung, möchte Zeit mit ihrem Vater verbringen. Und dann sind da noch die Eltern und Freunde denen man zumindest kurz „Hallo!“ und „mir geht es gut“ sagen möchte. Am Donnerstag nach Ostern muss Thomas wieder abreisen. Mit dem Flugzeug nach Abu Dhabi und von da aus wieder aufs Schiff. Die Kommunikation zwischen Annika und Thomas ist jetzt wieder nur über E-mails möglich, allerdings nur beschränkt. Auf dem Schiff gibt es nur alle 24 Stunden für eine kurze Zeit eine offene Verbindung um E-mails zu senden und zu empfangen. Ein Skype Chat oder ein Grußvideo verschicken ist gar nicht möglich, Bilder nur in äußerst geringer Auflösung und Qualität und die Mails kommen teilweise mit tagelanger Verspätung erst bei ihr oder ihm an. Es gibt noch ein Satellitentelefon, dass jeder der Besatzung ein bis zwei Mal die Woche benutzen darf. Dafür wird jedem ein Platz in einer Warteliste gewährt, 15 Minuten darf dieses Telefonat dann maximal lang sein. Dann ist der Nächste an der Reihe. „Wenn er mich anruft, dann muss ich auch dran gehen, wenn ich nicht drangehe, dann war´s das für die Woche. Das hatte ich einmal ...das war richtig scheiße ...“ Und sowieso ist das eine schwierige Art und Weise so komprimiert zu kommunizieren sagt Annika. Dieses Telefonat möchten beide unter allen Umständen wahrnehmen, es tut ihnen gut, wenngleich in Somalia die Piraten wieder für höchste Alarmstufe sorgen. Die Gespräche sind dann oft nicht so erbaulich, wie sie sein sollten. Auch wenn es schön ist, den Partner am anderen Ende der Leitung zu hören, die Ruhe, um dem Gegenüber etwas anderes als seinen groben Tagesablauf mitzuteilen, fehlt bei diesen Telefonaten. Das Bild, was man von seinem Partner hat, verschwimmt nach einer Zeit, sagt Annika. Wenn man sich so lange nicht sieht und nur so eingeschränkt Kontakt über zeitverzögerte E-mails und kurz angebundene Telefonate führen kann, das kann auch zu Konflikten führen. „Du weißt nicht mehr, wie sich seine Haut anfühlt, wie er sich bewegt ...“ sie leidet darunter sehr und kann es gar nicht verstehen, wie ein Mensch, den man so gern hat, nach einer Zeit einem so fremd werden kann. „Da musste ich erst mal wieder mit warm werden.“ Thomas ist seit ein paar Tagen wieder auf See, Annika ist wieder alleine zu Hause. In ihrer Wohnung hat jedes Möbel und jede Dekoration seinen Platz. Es hängen kaum Bilder an den Wänden, Fotos von Thomas hat sie auf ihrem Smartphone und ihn damit immer bei sich, sollte sie mal sein Lächeln sehen wollen. Annika hat außerdem eine Flasche seines Parfüms, das gleichermaßen die Sehnsucht stillen und wecken kann. An die Marine erinnert nichts. Sie sitzt auf dem Balkon vor der Küche. Die Vögel in den nahen Fichten singen ihre Lieder, die Sonne am späten Nachmittag hält eine angenehm milde Temperatur, hin und wieder pustet ein kalter Windstoß zwischen den Häusern hindurch über den Balkon. Ihr ist kalt, ihre Arme verschränkt sie vor ihrer Brust. Es scheint als würde sie sich nicht nur vor der Kälte des Windes schützen wollen, sondern auch nach der Wärme von Thomas sehnen. Die Tränen in ihren Augen unterstreichen diesen Eindruck. Jetzt beginnt wieder die Zeit der Umgewöhnung. Durch die offene Balkontür hört man ein Rascheln in der Küche. Stefan, einer von Annikas beiden Katern steht auf den Hinterläufen, die vorderen Pfoten in die Tischplatte gekrallt, und 112 113 versucht eine Zigarettenschachtel vom Tisch zu schubsen. Sie ruft den Kater zu sich, er gehorcht und setzt sich auf ihren Schoß. Sie krault ihn hinterm Ohr, er schließt die Augen. In etwas weniger als drei Monaten ist Thomas' Einsatz vorbei. Sie haben jetzt schon Pläne, was sie unternehmen wollen, wenn er wieder da ist. Vielleicht nach Rügen, Konzerte besuchen, vor allem aber nicht an Somalia denken. Wenn alles gut läuft, ist Thomas dann ein Jahr zu Hause. Der aktuelle Einsatz ist für Annika der Erste und sie hofft, dass ihre Arbeitskollegin recht behält und sie sich in Zukunft an die Abschiede und das Alleinsein gewöhnen wird. Zumindest soweit, dass sie die Ruhe findet, sich nicht durchgehend Sorgen zu machen. Thomas hat schon übers Aufhören nachgedacht, schließlich ist er schon einige Jahre dabei. Zwei oder drei Einsätze will er aber noch fahren. Die Sonne verschwindet langsam hinter den Nachbarhäusern, es wird kalt. Annika nimmt ihren Kater auf den Arm und geht in die Wohnung. Das für den Vormittag geplante Telefonat mit Thomas konnte nicht stattfinden. Für sie ist der Tag heute gelaufen. 114 115 Sicher entfernen Calcium Ich will dir nicht die Knochen brechen ich möchte für dich Calcium sein Ich will dir nicht die Zähne ziehen In der Menge lass´ ich dich nicht allein Du hast mich nicht sicher entfernt Du hast mich einfach rausgezogen aus deinem System Ohne sicherzustellen, dass alles ok ist Musste ich gehen, auf dein Begehren Das Mineral das dich stärkt, das dich hält, das dich stützt Deinen Armen die nötige Kraft geben, die dir nützt Allem zu trotzen, zu entgegnen, zu erwidern, zu verneinen Was dir nur schadet und nicht hilft Ich will dein Calcium sein Du bist für meinen Verlust verantwortlich Dafür, dass ich nicht mehr richtig geh´ Und alle mich ständig fragen "ist alles O.k.?" Zu wertvoll, um zu zerbrechen Essenziell bin ich für dich Starke Hilfe kann ich dir versprechen Was ich dir gebe, erschaffst du nicht allein Und wenn ich doch mal nicht bei dir bin Und du dann fällst und du sogar zerbrichst Dann will ich da sein, damit es besser wird Dann fang ich ganz klein an Das Mineral, das dich stärkt ,das dich hält das dich stützt Deinen Armen die nötige Kraft geben, die dir nützt Allem zu trotzen, zu entgegnen, zu erwidern, zu verneinen Was dir nur schadet und nicht hilft Ich will dein Calcium sein 116 Alles, was ich früher zu besitzen glaubte Gehört nun zu den Dingen die du mir raubtest Nur noch beschädigte Erinnerungen Fragmente eines Ganzen Du bist für meinen Verlust verantwortlich Dafür, dass ich nicht mehr richtig geh´ Und alle mich ständig fragen "ist alles O.k.?" Und was soll ich nun mit all den Stücken? Ich werf´ sie weg ich setz´ alles auf null Keine Lust auf sicher entfernen Ich bin froh, wenn ich all das hier nicht mehr seh´! 117 Kassetten hören In dem kleinen Zimmer befinden sich lediglich ein Bett, ein Schrank und ein kleiner Tisch mit zwei Stühlen. Die Wände sind weiß. Bernard* sitzt auf seinem Bett, als es an seiner Tür klopft. Gerade hört er eine Kassette von Benjamin Blümchen, weshalb er das Klopfen erst beim zweiten Mal wahrnehmen kann. Es ist Lina*. Sie lugt mit dem Kopf gerade so zwischen Tür und Türrahmen durch und ein breites Grinsen blitzt in ihrem Gesicht auf: „ Darf ich mit dir mit hören?“, fragt sie Bernard. „Ja!“, und auch seine Mundwinkel gehen automatisch nach oben. Seine grünen Augen fangen an zu leuchten- wie Sterne - findet Lina. Seit über 20 Jahren sind Bernard, 53, und Lina, 49, ein Paar. Gemeinsam mit 10 anderen Bewohnern wohnen sie in einem 2-stöckigen Wohnheim. Es gehört zu einer sozialtherapeutischen Einrichtung für Menschen mit Behinderung. Beide haben das Downsyndrom, jedoch ist es bei Bernard wesentlich ausgeprägter. Die Bewohner des Heimes arbeiten tagsüber in einer Werkstatt an verschiedenen Aufgaben. Bernard beispielsweise verpackt Dekoartikel wie seine Mutter mir erzählt. Lina ist für die Produktion und Verzierungen dieser handgefertigten Dekorationsartikel zuständig. Als Gertrud* über die Beziehung der beiden spricht, fangen ihre Augen an zu glänzen: „Ja das ist sogar ganz innig mit den beiden. Manchmal kann das auch zu viel werden. Aber wie sie sich umarmen, ist ganz toll.“ Kennengelernt haben sich die beiden in dem Wohnheim. Damals wohnten sie auf zwei unterschiedlichen Etagen und fingen an sich gegenseitig zu besuchen. Sie hörten gemeinsam Kassetten oder spielten zusammen Musik. Lina spielt Blockflöte, und wie Bernard sie so spielen sah, wurde er in ihren Bann gezogen. Es war so wundervoll, dass Bernard sich ihr anschloss und sie gemeinsam musizierten. Im Lauf der Zeit wurde Bernard so durch Lina beeinflusst, dass er alles tat, was sie von ihm verlangte. Gertruds Blick wurde ernster. Wir saßen gemeinsam auf ihrem kleinen Sofa, während sie so erzählte. Plötzlich wurde sie ganz nervös: „Ich hab dir ja gar keine Tasse Kaffee angeboten! Wie unhöflich von mir. Möchtest du irgendetwas trinken?“ Ich sagte: „Ja, das wäre sehr nett,“ und schnell huschte sie in die Küche um etwas Kaffee auf zusetzten: „So, also, wo waren wir stehen geblieben?“ Mit einem freundlichen Lächeln kam sie 118 119 zurück ins Wohnzimmer und setzte sich auf einen Holzstuhl, der gegenüber dem braunen Sofa stand. Den Kaffee stellte sie auf dem kleinen Tisch mit den hübschen Holzverzierungen an den Tischbeinen ab. Nachdem ich ihr erklärt hatte, dass wir bei Lina stehen geblieben waren, die scheinbar sehr dominant über Wolfgang bestimmen konnte, fuhr sie fort: „ Ja richtig! Alles, was Lina gesagt hat, hat Bernard auch getan. Das ging sogar so weit, dass Bernard kein Fußball mehr gucken durfte - er hatte ja dann in dem Moment keine Zeit mehr für sie. Aber die Heimleitung hat dann dafür gesorgt, dass er sich da durchsetzen durfte und weiter Fußball sah. Und das ist auch gut so! Er kann ja selbst gar nicht so gut damit umgehen was mit ihm passiert und was nicht, aber er sollte schon seine Hobbys beibehalten. Also nachdem er das eine Zeit lang mitgemacht hatte, dass sie alles bestimmte, was er durfte und was er nicht durfte, wurde sie ihm sogar zu aufdringlich. Das konnte er nicht haben.“ Gertrud blickte ständig von ihrer Kaffeetasse zu mir und wieder zurück. Sie wirkte etwas angespannt und dennoch lächelte sie mich freundlich an. Ich nippte an meiner Kaffeetasse und probierte eines der selbst gebackenen Plätzchen, die Gertrud mit auf den Tisch gestellt hatte: „ Oh, die schmecken wirklich sehr gut! Wie ging es weiter mit den beiden? Hat Lina ihm noch mehr verboten oder hat es sich dann wieder eingerenkt?“ „Lass mich überlegen. Also beispielsweise, wenn Bernard gerne zu mir nach Hause wollte, verbot sie ihm das. Sie wollte einfach nicht alleine im Heim bleiben. Da habe ich mich dann aber auch durchgesetzt, dass er hierhin kommt. Es ging einfach nicht, dass er immer nur macht, was sie will. Dafür war dann die Freude umso größer, als er wieder ins Heim zurück kam. Das ist schon wirklich sehr süß, wie sich die beiden dann freuen. Es ist wie, als wären sie ständig frisch verliebt.“ Linas Krankheit ist nicht so ausgeprägt wie Bernards Downsyndrom. Ihr war es möglich eine Schule zu besuchen, sodass sie Lesen und Schreiben kann. Auch wenn sie spricht, ist sie deutlich besser zu verstehen als Bernard. Ihm war es aufgrund seiner geistigen Behinderung nicht möglich eine Schule zu besuchen. Ich nippe wieder an meinem Kaffee und stelle die Tasse zurück auf den mit Blümchen verzierten Unterteller: „Haben dich die beiden denn auch schon mal zu zweit besucht?“ Auch Gertrud stellt ihre Tasse wieder auf den Tisch, nimmt sich eines der Plätzchen und fährt fort: „ Ja, zwei Mal waren sie zu zweit hier. Das hat den beiden auch supergut gefallen aber mir war das einfach zu anstrengend, das kann ich leider nicht noch einmal machen.“ Gut, das ist durchaus verständlich. Gertrud ist 80 Jahre alt und Bernard braucht ständige Betreuung. Also stelle ich eine neue Frage: „Und was machen die beiden so, wenn sie zusammen sind? Also unternehmen sie die Dinge wie jedes andere Paar auch oder gibt es da Unterschiede?“ Gertruds Blick wandert zum Holzregal, das an der Wand steht. In diesem befinden sich eine schwarze Musikanlage, ganz unten sind einige Schallplatten und die oberen Fächer sind komplett mit Hörspielkassetten versehen: „Ja also das Kassetten hören ist ja ein großes gemeinsames Hobby der Beiden.“, antwortet sie. „Aber sie gucken auch gerne zusammen fernsehen oder schmusen rum. Das ist schon wie bei anderen Liebespärchen auch, aber sexuell nicht, nur küssen und schmusen.“ Gertrud dreht ihren Kopf wieder zu mir: „Einmal wollte die Heimleitung, dass sie in unterschiedliche Häuser ziehen „aber wenn Lina nicht mitkommt, ziehe ich auch nicht aus!“, also da ist Bernard sich dann wieder sicher. Das will er auf gar keinen Fall. Zusammen frühstücken und so weiter wollen sie schon gerne. Einmal war es aber so weit, dass Lina nachts aufgestanden ist und sich zu Bernard ins Bett gelegt hat. Dann ist er in der Werkstatt bei der Arbeit einfach eingeschlafen, also wurde Lina das verboten. Sie hat dann ihr Kissen genommen, und sich bei ihm auf die Erde gelegt.“ Ein Lächeln blitzt über Gertruds Gesicht. „Jetzt achtet die Heimleitung aber darauf, dass das nicht mehr passiert.“ Sie ist weiterhin ganz vertieft in ihre Erzählung. Sie redet gerne über die beiden, das ist ihr anzumerken. Die Zeit vergeht so schnell, dass ich es selbst kaum wahrnehme. In den Werkstätten arbeiten Lina und Bernard jedoch nicht zusammen, damit sie nicht zu viel Zeit miteinander verbringen. Auch ihre Urlaubstage nahmen sie sich anfangs oft zusammen, mittlerweile achtet die Leitung darauf, dass auch das nicht mehr passiert. Jeder soll die Möglichkeit haben auch Dinge für sich zu tun. Gertrud erzählt mir noch, dass die beiden anfangs sehr viel zusammen unternommen haben. Mittlerweile ist dies auch wieder getrennt voneinander möglich. Bernard erzählt ihr selbst allerdings eher weniger über die Beziehung der beiden und wenn er darüber redet, begreift sie vieles nicht: „Lina ist immer lieb, aber manchmal kann ich sie nicht leiden“- Schluss machen will er aber auch nicht. Auf gar keinen Fall. Denn Lina hat den Bernard „ja soo lieb“! 120 121 *Namen geändert Schallplattenladen Tag am Meer Jetzt genau da, wo du liegst Ein kleiner Fleck in der Sonne Im Schatten, im Licht Ein Lächeln im Gesicht Sollte ich zu dir geh‘n oder nicht? Jetzt genau da, wo ich lieg Allein auf der Wiese am Berg Keine Sonne und kein Meer Ich vermisse dich so sehr Doch wo kommt dieser Traum nur her? Ein Tag am Meer Ein Tag mit dir Den wünsch ich mir Ein Tag am Meer Im Hier und Jetzt Wenn uns die Zeit nicht hetzt Ein Tag am Meer Ein Tag mit dir Den wünsch ich mir Mein Vater hat Geburtstag und ich denk: Ich husch rüber, er heißt Bill "Was wär denn wohl ein passendes Ich frag ihn, ob er Kaffee will Zögernd lächelt er mich an Geschenk?" "Gerne komm ich mit zu dir Ich gehe in den Plattenladen Und schau mich ‘n bisschen um Nur schnell weg von dem Klassik Scheiß Da steht ‘n wirklich süßer Typ mitten hier" in der Klassik rum Neulich gab‘s im Plattenladen Neulich gab‘s im Plattenladen Nicht nur Schallplatten zu haben Nicht nur Schallplatten zu haben Mitten in dem Klassik Scheiß Mitten in dem Klassik Scheiß Steht die first love of my life Steht die first love of my life Ein Verkäufer quatscht mich an "Gibt‘s was, wo ich helfen kann?" Leider ist mir nicht zu helfen Warum bin ich noch mal hier? Ich hab grade nur noch Augen für den Hübschen Typ vor mir Jetzt genau da, wo du liegst Verträumt neben den Dünen Am Wasser, am Strand Und doch elegant Komm reichst du mir deine Hand? Ein Tag am Meer Ein Tag mit dir Den wünsch ich mir Ein Tag am Meer Im Hier und Jetzt Wenn uns die Zeit nicht hetzt Neulich gab‘s im Plattenladen Nicht nur Schallplatten zu haben Mitten in dem Klassik Scheiß Steht die first love of my life 122 123 Liebe geht durch den Magen Während wir das rote Backsteingebäude betreten, steigt eine Mischung aus abgestandener Wartezimmerluft und Desinfektionsmittel in meine Nase. Wir melden uns kurz am Empfangsschalter und werden von einer freundlichen, bedachtsamen Frau abgenickt. Begleitet werde ich von einem Freund namens Philipp, aus meiner Heimatstadt. Mit dem Fahrstuhl begeben wir uns in den dritten Stock und betreten einen Gang, mit weißen, gelblich angelaufenen Wänden. Links und rechts stehen Krankenbetten, und kleine Vorratsschränke auf Rollen, in denen sich diverse Handschuhe, Schutzkleidungen und Utensilien befinden. Wir gehen noch ein paar Schritte ohne etwas zu sagen, klopfen und betreten das Zimmer 350. Vor mir ein alter Mann, halb liegend, halb sitzend auf seinem Krankenbett. Zwei dünne Plastikschläuche, durch welche eine dunkelrote Flüssigkeit rinnt, stecken in seinem Arm. Chronisches Nierenversagen, so war die Diagnose. Mit der Fernbedienung schaltet er den Fernseher aus, auf dem gerade noch Nachrichten liefen. Philipp stellt mir seinen Großvater vor. Alberic besucht viermal wöchentlich das Knappschaftskrankenhaus in Recklinghausen, zur Blutdialyse. Wir reden kurz über das Wetter, Alberics Wohlbefinden, und darüber, dass Krankenhäuser durchaus unangenehme Orte sind. Schließlich erkläre ich dem Mann, weshalb ich ihn aufgesucht habe und nach einer kurzen Denkpause, fängt er an zu erzählen. Um seine Geschichte zu rekonstruieren springt der 86 Jährige zurück in die Zeit, als das heutige Miedzyrzecz, ein 18.000 Einwohner starkes Kaff in Polen noch zum Preußischen Landkreis Meseritz gehörte. “Ich glaube damals war ich so 18 Jahre alt.”, beginnt der alte Mann. “Ich bin auf’s Gymnasium gegangen und war auch sehr gut in der Schule. Weil ich aber zu den Wehrpflichtigen gehörte, hatte ich ständig Angst davor, einberufen zu werden.”, erklärt er. Zu dieser Zeit schien es, als würden sich die internationalen Konflikte langsam dem Ende neigen. Während ein Teil der Bevölkerung bereits aufatmete, wurden hier und dort weitere junge Männer im kampffähigen Alter zum Wehrdienst einberufen. Alberic war ein durchaus schmächtiger junger Typ, der viel im Kopf hatte, aber wenig in den Armen. Er war sich nahezu sicher, von seinem Pflichtdienst verschont zu bleiben. Als er jedoch eines Nachmittags nach Hause kam, erwartete ihn seine Mutter, mit 124 125 Tränen in den Augen und einem Einberufungsbescheid in der Hand. Alberic blickt aus dem Fenster und wird nachdenklich. Er murmelt leise vor sich hin und erzählt betrübt, wie er und einige seiner Kameraden nahezu unvermittelt von “den Russen” gefangen genommen wurden.Auf seinem müden Gesicht zeichnet sich ein wehleidiger Ausdruck ab, und Alberic lässt uns seine Unlust spüren, über die Zeit bei der Wehrmacht zu sprechen. Als die Stimmung im Raum geradezu unangenehm wird, betritt ein Krankenpfleger das Zimmer, um nach dem Rechten zu sehen. “Jaja, alles gut.”, versichert der alte Mann. Ebenso versichere ich ihm, das wir nicht weiter über das Kriegsgeschehen sprechen müssen. Vielmehr interessiert mich, was Alberic erlebte und wen er kennenlernte, als er zurück in seine Heimatstadt gelangte. Ich bitte ihn also darum, an der Stelle fortzufahren, als er nach Meseritz zurückkam. “Als ich zurück bin, hab’ ich erst mal nach meinen Eltern gesucht, aber die waren in dem Durcheinander nicht aufzufinden. Vielen Jungs die aus’m Krieg zurück kamen ging es genauso, es war halt sehr chaotisch.”Alberic erzählt, wie er den Kontakt zu Freunden seiner Eltern wiederfinden konnte. Diese lebten nach seiner Rückkehr noch im selben Haus wie früher, ein kleines Stück außerhalb der Stadt. Als der junge Alberic ihnen seine Situation schilderte, sahen sich die Hellerts gezwungen, ihn vorübergehend bei sich aufzunehmen. “Die hatten selbst zwei Söhne und eine Tochter, aber auf der Straße sitzen lassen wollten sie mich auch nicht.”, erklärt alte Alberic, während sich seine faltigen Mundwinkel zu einem mitfühlenden Lächeln verziehen. Die beiden Söhne der Hellerts kannte er bereits von früher. Tim, mit 21 Jahren der Älteste, wurde ebenfalls zum Wehrdienst einberufen und kam zeitgleich mit Alberic zurück in die Heimat.Johannes, zwei Jahre jünger, hatte seinen Abschluss an der Volksschule gemacht und versuchte nun Anschluss zu finden. Hilde, knapp ein Jahr jünger als Alberic, war ein aufgewecktes Mädchen mit kurzen, brünetten Haaren und dunkelbraunen Augen. Dem alten Mann zufolge war sie um einiges begabter als ihre beiden Brüder und besuchte das Lyzeum, quasi ein Gymnasium für Mädchen. Bei den allsonntaglichten Kirchgängen, oder Treffen des elterlichen Bekanntenkreises hatten Alberic und Hilde sich schon öfters getroffen. Und nicht nur dort, denn in einer Kleinstadt wie Meseritz lief man sich sowieso ständig über den Weg. In der örtlichen Badeanstalt, auf dem Sportplatz, oder beim gemeinsamen Steine Werfen von der Eisenbahnbrücke war der junge Alberic schon mehrmals auf Hilde und ihre Mädchenclique getroffen. “Meiner Erinnerung zufolge hatte die sich nach meiner Rückkehr kaum verändert. Immer noch genauso frech wie hübsch. Wobei, um einiges reifer ist sie schon geworden. Und ihr unverschämtes Grinsen hatte sich mehr zu einem anmutigen Lächeln entwickelt.”, berichtet der alte Alberic, auf dessen Gesicht sich nun Freude abzeichnet. Zurück in Meseritz, besuchte sein jüngeres Ich wieder das Gymnasium und lebte - bis auf sein Gastquartier bei den Hellerts - den normalen Alltag eines jungen Mannes. “Eigentlich war alles ganz in Ordnung. Ich hab’ bei den Hellerts gewohnt, bin zur Schule und war immer noch richtig gut.”,sagt der alter Mann und erklärt mir im Weiteren, wie sich seine Beziehung zu Hilde mit der Zeit veränderte. Die früher kindliche, spielerisch unbeschwerte Beziehung verwandelte sich langsam und wich einer allmählich aufkommenden emotionalen Spannung zwischen den beiden. Es bestand kein Zweifel daran, dass Alberic und Hilde sich mochten.Der alte Mann erzählt, wie begeistert sein jüngeres Ich von Hildes intelligenter Eigenart war - und immer noch ist. Sie war tugendhaft, aber nicht gehörig und sie konnte sich keine ihrer frechen, aber geistreichen Bemerkungen verkneifen. Und wie es irgendwann kommen musste, standen Hilde und Alberic eines späten Abends allein in der Küche. Hilde spülte die letzten Teller und Alberic lungerte um sie herum. “Es fühlte sich ein bisschen befremdlich an, weil ich ja so was wie ihr Adoptivbruder war. Aber verwandt waren wir natürlich nicht. Und an diesem Abend konnte ich es mir einfach nicht verkneifen, den ersten Schritt zu machen.” Ein Knuff an die Schulter, ein flüchtiges Lächeln, dann ein kurzer Moment unerträglicher Spannung, während sich die beiden langsam näher kamen. An diesem Abend, erzählt Alberic, sei es um beide geschehen. “Manchmal kamen Hilde und ich von der Schule nach Hause, wenn die anderen Jungs und Vater Hellert noch unterwegs waren. Dann haben Hilde und ich gesagt, wir würden zusammen Hausaufgaben machen, oder lernen, oder was auch immer. Natürlich waren wir dann nur am herumknutschen.”, erzählt der Großvater und schmunzelt vor sich hin. Nicht alles jedoch erschien so rosig, wie die frische Beziehung der beiden Jugendlichen. Alltagswaren sowie Lebensmittel wurden auch in der Nachkriegszeit stark rationiert. Familien wie die Hellerts hatten oftmals nur wenig zur Verfügung, um über die Runden zu kommen. Alberic, wie die meisten jungen Männer in seinem Alter, war ein Typ mit großem Hunger. Seine zugeteilten Portionen waren nur selten genug, um ihn vollständig zu sättigen, und so war er oftmals nach der Schule unterwegs, um seinen knurrenden Magen zu stillen. “Wir sind dann immer mit ein paar Jungs aus der Schule “Hamstern” gegangen”, erklärt er mir.Anders gesagt, liefen die jungen Männer von Haus zu Haus, um die Bewohner nach übergebliebenen Essensresten zu fragen. “Manchmal war ich so hungrig, dass ich nachts aufgestanden bin. Dann hab’ ich so getan, als wäre ich zum Klo, bin aber runter in die Küche, um mir eine Scheibe Brot abzuschneiden.”, beichtet der alte Mann mit betrübtem Lächeln. “Hilde hat das schnell bemerkt, und als die beiden Jungs Wind davon bekamen, hat sie Tim und Johannes davon überzeugt, mich nicht zu verpfeifen.” Hilde 126 127 unterstützte ihren Freund, wo sie nur konnte. Ihr Mittagessen aß sie nie ganz auf und schob Alberic ihre Reste zu unter dem Vorwand, bereits satt zu sein. “Ein bisschen schlechtes Gewissen hatte ich dabei immer. Aber sie meinte, das wäre schon Ok. Sie könne sowieso ein wenig abnehmen.”, schmunzelt der alte Mann. “So ein Quatsch.” Als jedoch die Haushälter davon erfuhren, dass Alberic sich heimlich an den Vorräten bediente, sahen sie sich nicht mehr in der Lage, ihn bei sich zu behalten. Weil der junge Bursche nun stets so großen Hunger und außerdem keine Unterkunft hatte, sah er sich nicht mehr in der Lage, weiterhin das Gymnasium zu besuchen.“Um über die Runden zu kommen, brauchte ich halt eine Lebensmittelkarte mit Schwerarbeiterzulage”, erklärt mir der Alte. Der junge Alberic sah sich gezwungen, eine Maurerlehre zu beginnen und hauste von nun an mit zwei weiteren Gesellen in einer engen Bude. Hin und wieder besuchte Hilde ihn auf der Baustelle. Die Hellerts jedoch wollten nicht, dass sich ihre Tochter weiterhin mit dem Jungen trifft. Und so passten die beiden Söhne stets auf, dass ihre Schwester nach der Schule keinen Abstecher zu ihrem Geliebten macht. Der Kontakt wurde immer weniger und schließlich hatten Alberic und Hilde sich gänzlich aus den Augen verloren. Verwundert schaue ich den Großvater an, wie er vor mir sitzt.“Dann sind Sie heute gar nicht mit Hilde verheiratet?” Dieser ist amüsiert über meine Betroffenheit und er lacht:“Die Geschichte ist ja noch nicht zu Ende!” Was nach ihrer Trennung folgte, war eine harte Zeit für Alberic. Der Verlust seiner ersten Liebe hatte ihn arg mitgenommen und weder die mühselige Maurerlehre, noch die enge Behausung konnten Trost spenden. Schließlich erfuhr der Junge, dass Hilde ihre Heimatstadt nach Abschluss des Lyzeums verlassen hatte, um über tausend Kilometer Richtung Westen zu reisen - in das heutige Nordrhein-Westfalen. Wissend, dass er wahrscheinlich nie mehr von ihr hören würde, versank er in einem lethargischen Kreislauf aus Arbeit, Essen und Schlaf.Einige Jahre vergingen und Alberic erholte sich von seinem Verlust. Während er seine Lehre beendete, stellte er fest, dass seit geraumer Zeit eine Aufbruchstimmung unter den jüngeren seiner Heimatstadt herrschte.Sowie Hilde damals machten sich viele auf, um Richtung Westen zu ziehen, denn unter der Bevölkerung war durchgesickert, dass der Landkreis Meseritz nicht mehr lange zum deutschen Volk gehören sollte.„Ich wollte Hilde damals auf keinen Fall nacheifern. Aber es sind sowieso alle Richtung Westen, und ich hatte ja nichts zu verlieren. Also hab‘ ich einfach Tschüss gesagt und mich auf die Socken gemacht.“, berichtet der alte Mann. Gelandet ist der junge Alberic in „der Goldenen Stadt“ - heute bekannt als „Herne“, das Urgestein des Ruhrpotts. Die Innenstadt Hernes war während des Krieges zum Großteil von Bombenangriffen verschont geblieben, und deshalb zu einer beliebten Anlaufstelle für Anreisende geworden.Die 64 Bombenangriffe auf die restliche Stadt hinterließen jedoch eine schreckliche Trümmerbilanz und somit gab es vieles wieder aufzubauen. Schnell fand Alberic einen Arbeitsplatz im Rohbau und eine dezente Wohnung am Rande der Innenstadt, die er sich zunächst mit einem Arbeitskollegen teilte. Den jungen Mann kannte Alberic zwar erst seit Kurzem, aber die Ansprüche in der Nachkriegszeit seien nicht besonders hoch gewesen. Es stellte sich außerdem heraus, dass sein Mitbewohner ebenfalls vor einer Weile aus dem brandenburgischen Land hergezogen war. Die Monate vergingen und Alberic fand alsbald Anschluss in seiner neuen Heimat. Er lernte viele neue Freunde kennen und ging nach der Arbeit regelmäßig mit seinen Arbeitskollegen auf die Piste. „Was man halt so als Junggeselle macht!“, lacht der Alte. „Hab‘ natürlich auch ein paar Mädels kennengelernt, aber‘s hat nie länger gedauert als ein paar Monate.“ Zwei Jahre später erst, sollte der junge Alberic eine Begegnung mit seiner Vergangenheit machen. Wie junge Menschen im Alter von nicht mal dreißig Jahren heiraten konnten, war für Alberic nie verständlich. Trotzdem besuchte er gerne die eine oder andere Hochzeit, auch wenn es nur Freunde von Freunden waren, die sich dort vermählten. Warum auch nicht? Junge Menschen, die viel Spaß haben, viel Alkohol und gute Musik waren damals nicht so alltäglich, wie wir es heute kennen. So traf sich Alberic eines Nachmittags mit zwei Freunden, in guter Stoffhose, weißem Hemd und Krawatte, um gemeinsam zur Hochzeit eines Bekannten aufzubrechen. Es war bereits im Spätsommer und für die jungen Männer wahrscheinlich die letzte Gelegenheit im Jahr, eine warme Nacht durchzufeiern. Zu Fuß machten sich die Junggesellen auf, um der Hochzeitsfeier im Stadtgarten des neben liegenden Wanne-Eickel beizuwohnen. „Was dann passiert ist, nachdem wir ankamen, ist fast schon filmreif. Oder vielleicht kam es mir auch nur so vor.“, berichtet der alte Mann vor mir. „Ich hab‘ mich zunächst unters Volk gemischt und ein paar Bier getrunken. Und dann, nach nicht mal ‚ner Stunde, hab ich meinen Augen kaum getraut.“ Ungefähr zwanzig Meter vor ihm, erkannte Alberic eine junge Frau mit brünettem Haar, spitzen Gesichtszügen und dunkelbraunen Augen. Alberic wusste sofort, dass es sich um Hilde handelte. Ein gemischtes Gefühl aus Glück und Übelkeit überkam den jungen Mann. Hilde unterhielt sich offenbar angeregt in einer kleinen Gruppe junger Männer und Frauen, von denen Alberic keinen einzigen kannte. Während er die Gruppe aus sicherer Entfernung beobachtete, wirbelten seine Gedanken im Kreis und er überlegte, schnellstmöglich von der Hochzeit zu verschwinden. Er erinnerte sich an den großen Schmerz, mit dem die Trennung von Hilde vor all den Jahren verbunden war. Aber auch an das unglaublich gute Gefühl, das er hatte, wenn er mit ihr zusammen war. Während Alberic, weiterhin zögernd zu Hilde starrte, schaute sie plötzlich zu ihm herüber. 128 129 Alberic wusste nicht, ob sie ihn erkannt hatte, aber seine Gedanken wurden auf einen Schlag klar und ihn überkam ein Gefühl von Sicherheit, während er sich rührte und auf sie zu schritt. „Wie gesagt, filmreifer Auftritt!“, lacht der alte Mann vor mir. „Wir sind uns natürlich nicht weinend in die Arme gefallen, oder so. Aber es war schon ein verrückter Moment. Hilde hatte mich natürlich erkannt und sich gefreut mich wiederzusehen. Sie hat mich dann ihren Freunden vorgestellt, und naja, der Rest kam wie von selbst. Heute sind wir immer noch verheiratet. Wie Alberic erfuhr, hatte sich Hilde nach ihrem Aufbruch aus Meseritz in Datteln niedergelassen. Einige zeit später zog es sie in die damalige Großstadt Wanne-Eickel, welche heutzutage ein Teil von Herne ist.Nachdem sich also das einstige Paar in ihrer Jugend aus den Augen verlor, sind sowohl Hilde als auch Alberic quer durch Deutschland gereist, um zwei weitere Jahre so nahe beieinander, aneinander vorbeizuleben - bis sie sich letztendlich wiederfanden. Wir stellen fest, dass sie Blutdialyse längst abgeschlossen ist. Ich atme durch und bin beeindruckt von dem alten Mann, der trotz seiner belastenden Umstände durch und durch aufgeblüht ist, während er mir die Geschichte vom jungen Alberic und seiner Hilde erzählte. 130 131 Fairtrade Wir trafen uns auf eine Tasse daraus wurden zwei, drei, vier Die Sucht nach meinem Heißgetränk Sie wurde schnell zur Sucht nach dir Kein' Kaffee trinken könnt' ich nie Und wenn ich denk, ich schalt' gleich aus Gibst du mir Kraft und Energie Gibst mir 'nen kick und holst mich raus Aromatisch, elegant So steht sie da, im grellen Licht Seh' ich vor mir noch meine Tasse Oder seh' ich nur noch dich? Kein‘ Kaffee trinken könnt' ich nie Und wenn ich denk, ich schalt' gleich aus Gibst du mir Kraft und Energie Gibst mir 'nen kick und holst mich raus Doch der Kaffee wird zu schwach "Ich tu doch schon sechs Löffel rein!" Zu viel des Guten tut nicht gut Und Kaffee hält uns nicht mehr wach Kein' Kaffee trinken könnt' ich nie Doch du magst keinen Kaffee mehr Ich geb' dir alles, du mir nichts Ein solcher Handel, ist nicht fair 132 133 Tauchen Sie ein Ein langer roter Tresen gegenüber der gläsernen Eingangstür. Leise, rhythmische Musik. Ein heller, großer, offener Verkaufsraum mit beige gefliestem Steinboden. In warmen Grau gestrichene Wände mit Aubergine farbigen Akzenten und vereinzelten hohen Spiegeln zwischen den Regalen. Sorgsam drapierte und arrangierte Waren auf schwarzen Tüchern in schmalen hohen Vitrinen und auf dunklen Regalbrettern und einzelnen Verkaufstischen. In einem visuell abgegrenzten Teil des Raumes befindet sich eine Sitzecke. Dort stehen auf einem dunklen Teppich mit floralem Muster, ein graues Sofa, ein schlichter ebenfalls grauer Sessel und ein schmaler, quadratischer Glastisch. Einige Kleiderstangen sind an der einen Seite montiert, während auf der anderen zwei breite bodenlange goldfarbene Vorhänge und ein großer prunkvoll gerahmter Spiegel angebracht sind. „For Ladies And Gents“ könnte eine ganz normale Modeboutique sein. Modern und geschmackvoll eingerichtet mit einem sehr freundlichen und offenen Verkaufsraum. Wären da nicht die delikaten Auslagen, die stilvoll und mit viel Bedacht sortiert in der erotischen Boutique präsentiert und vertrieben werden. So reicht die breit gefächerte Produktpalette von sinnlichen Spitzendessous, zarten Stoffmasken über lederne Fesseln und Gerten bis zu flauschigen Federn. Duftende Öle, Kerzen und Geschmackspuder, Gleitgel, einigen Sex-Toys wie Tenga-Egg Eiern und Dildos bis zu erotischen Romanen, inspirierenden Büchern und DVDs. Sandra ten Weges, die Besitzerin der sinnlichen Boutique kommt strahlend auf mich zu und begrüßt mich freundlich. Sie ist eine schlanke Frau mit blondem Kurzhaarschnitt im mittleren Alter. Wir gehen in den hinteren Teil des Raumes und nehmen in der Sitzecke platz. Nach ein paar Sätzen Small Talk kommen wir schon zum Thema meines Besuches und ich frage Sandra, wie sie ihren Laden bezeichnet und was eigentlich der Unterschied zu einem Sexshop ist. Sie wird sehr ernst und sagt: „Wir sind komplett jugendfrei. Ein Sexshop ist von außen immer zugeklebt, damit Jugendliche und Kinder nichts sehen können. Bei uns sind auch auf den Werbeaufnahmen der Produkte keine Genitalien zu sehen. Außerdem haben wir auch 134 135 kein Kino, wo Pornos laufen.“, erklärt sie mir den grundlegenden Unterschied. Sie meint sogar, dass sie hin und wieder Familien mit Kleinkindern hier hat. Jetzt lächelt Sandra wieder und scheint sehr amüsiert darüber, wie die Kinder dann unbefangen mit ihren Eltern „Erwachsenenspielzeuge“ einkaufen gehen. Natürlich interessiert nun, wie sie überhaupt zu der erotischen Boutique gekommen ist und so erfahre ich, dass die Vorbesitzerin die Boutique schon an die 10 Jahre erfolgreich geführt hatte. Diese sei aber leider letztes Jahr wegen einer Krankheit verstorben. „Ich musste die Boutique übernehmen oder sie wäre geschlossen worden“, meint Sandra. Sie ist schon seit über 20 Jahren im Verkauf tätig, hatte aber bisher noch keine Erfahrungen mit dem erotischen Geschäftsbereich gehabt. „Ich lerne ja selbst noch was dazu“, strahlt sie förmlich und scheint äußerst zufrieden damit, dass sie sich durch die Übernahme des langjährig gut laufenden Geschäftes selbst weiterentwickeln kann. Sie lacht und sagt, „neue Werbung war wichtig und mir gefällt es dabei mit den Erwartungen der Menschen zu spielen.“ Bei einigen Messen hätte sie schon früher gerne damit gespielt. Derzeit reicht es ihr aber vollkommen die festgesetzten Bilder der Gesellschaft zu zerstreuen und überrascht gerne mit ihrem „außergewöhnlich“ normalen Kleidungsstil. Sie trägt eine schlichte helle Stoffhose und eine mit Blumen gemusterte Bluse mit dezenten Knöpfen. Alles in sanften, hellen Farben. Ebenso wichtig wie die Werbung, die hauptsächlich über Mundpropaganda läuft, ist ihr auch der Slogan des Ladens: „Tauchen Sie ein.“ Damit möchte Sandra ihren Wunsch für jeden ihrer Kunden ausdrücken, sich bei ihr ganz fallen und frei zum Stöbern inspirieren zu lassen. So beschreibt sie die Boutique auch ein bisschen als „Anlaufstelle“ für diejenigen, die auf der Suche nach Abwechslung und mehr Spaß im Schlafzimmer sind. Hier soll man ganz unbedarft nach neuen Möglichkeiten suchen um sich selbst und seinem Partner etwas Gutes zu tun. „Heute hat man immer Stress und wenig Zeit. Vieles bleibt da auf der Strecke, die Erotik ist da eine der ersten Sachen. Hier kann man dann herkommen und sich etwas Gutes tun“, meint Sandra. 70-80% der Frauen kommen beim Geschlechtsverkehr nicht allein durch Penetration zum Orgasmus. Die Dunkelziffer ist wahrscheinlich noch wesentlich höher und dem entsprechend hat Frau beim Sex meistens einfach weniger Spaß als Mann. Da Frauen durch die Frauenbewegung, vor allem um 1974/75, wesentlich mehr Rechte erhalten haben, hat sich auch die Einstellung der Gesellschaft zum Thema Sex und der Rolle der Frau zum Thema Sex etwas gewandelt. Frauen dürfen und sollen sich laut ihren Partnern beim Sex selbst berühren, jede Menge Spaß haben und dies auch lautstark kundtun. Das meinen viele Männer, wenn sie gefragt werden, was sie sich für den gemeinsamen Sex mit einer festen Partnerin wünschen. „Wir sind nicht nur Verkäufer, wir sind auch Seelsorger“, sagt Sandra und besonders toll fand sie es, als eine Dame Mitte 40 ganz aufgeregt hereinkam um sich ihren ersten Vibrator zu besorgen. Sie soll dann zu Sandra gemeint haben: „Danke, ich habe mich selbst wieder kennengelernt.“ Solche Momente sind für die Verkäuferin dann besonders schön, da sie so merkt, dass sie die Menschen wirklich erreichen und ihnen auch helfen kann. Es gibt natürlich auch Paare, bei denen es auf den ersten Blick weniger gut läuft, denen Sandra aber trotzdem durch ihre Beratung zu mehr Komfort im heimischen Schlafzimmer verhelfen kann. Dabei scherzt sie auch: „Ich bin die Mutter Theresa vom Münsterland.“ Gemeint ist damit aber hauptsächlich, dass sie sehr feinfühlig auf ihre Kunden eingeht und jeden dort abholt, wo er sich gerade wohlfühlt. Das ist ihr sehr wichtig und eines ihrer Prinzipien. „Ich verkaufe nichts, womit sich der Kunde nicht wohlfühlt. Auch wenn etwas anderes vielleicht besser steht, wenn die Dame oder der Herr dann die ganze Zeit daran rumzupfen und sich in dem Teil nicht wohl fühlen, dann empfehle ich etwas anderes.“ Um auch die Kunden zu erreichen, die sich in einen „gewöhnlich“ Sexshop nicht hineintrauen würden, sagt Sandra von sich selber, dass sie sehr „soft“ aufgestellt ist. Das heißt selbst die „härteren“ Spielzeuge bei ihr sind besonders für zarte Gemüter und Einsteiger geeignet. Außerdem sagt sie: „Wir sind hier sehr diskret. Privates ist bei uns privat.“ Das zeigt sich dann auch sogleich, als ein Kunde den Laden betritt und klar wird, dass einige Klamotten anprobiert werden sollen. Damit der sportliche junge Mann in Trainingsjacke Anfang 30 mit den blonden Haaren und hellen Augen in Ruhe die Teile seiner Wahl anprobieren kann, werde ich trotz Umkleidekabinen in das angrenzende Büro geschickt. „Das ist immer so“, sagt Sandra noch zu mir, bevor sie die Schiebetür schließt. Das Büro ist klein und in Weiß und Grau gehalten. Es gibt eine schmale Küchenzeile an einer der Stirnwände, an der andern ein hohe Glastür, die zur gepflasterten Terrasse führt. Zwei Orchideen stehen in farbigen Blumentöpfen auf einem Regalbrett, das über dem Schreibtisch an der Wand montiert ist. Außerdem gibt es ein sehr volles Bücherregal, das zwischen Schreibtisch und Terrassentür steht. Ein paar einzelne Dessous und Kunstlederoberteile hängen auf Kleiderbügeln an einer Kleiderstange. Ein Kalender mit erotischen aber jugendfreien Männerakten befindet sich an der Wand gegenüber dem Schreibtisch. Als der Kunde seine Wahl getroffen hat und den Laden wieder verlässt, verabschiede ich mich auch langsam von Sandra und trete nach einer kurzen Beratung in Sachen Gleitgel wieder den Heimweg an. Mal sehen, wann ich wieder eintauchen kann. 136 137 Biest und Tier Ich will fliegen Du erschienst wie ein Engel einst Kraft und Liebe du vereinst Mit wallend Haar mit wehend Tuch Mit aufrecht Blick und kessem Spruch Was lag ich dir zu Füßen bar Was liebtest du mich doch zurück Ich gab mein Leben dir Du flochtest es zu unsrem Glück Gebunden stellst du mich in deine Mitte Rahmst mich nur durch deine Kraft Eisern schwingen, stählern Hand Kalte Ketten, kein Verstand Schwingen, die einst mich schützten Jetzt ums Leben mich gebracht Kann nicht atmen, kann nicht sehen Muss ganz allein‘ bei dir vergehen Ich will fliegen himmelweit Will treiben grenzenlos Das Ende unsrer Zeit Die ich einst so sehr genoss Ich steh‘ im Sturm Sitze in der Stille Du bist der Wind, der Turm Zerstörst alles War das dein Wille? Du warst Gefährte mir zu aller Zeit Hast von jeder Bindung mich befreit Ich flog ohne Kette, ohne Bann Flog ohne Last und ohne Zwang Ich flog der Freiheit grad entgegen Da konntest du nicht ohne mich leben Nahmst die Kette schnell zur Hand Fesselst mich mit Tuch und Band Ich will fliegen himmelweit Will treiben grenzenlos Das Ende unsrer Zeit Die ich einst so sehr genoss Ich will fliegen himmelweit Will treiben grenzenlos Das Ende unsrer Zeit Die einst so sehr genoss 138 Schön, lässig, cool und klug Eroberst jedes Herz im Flug Sie verfallen wie die Fliegen Trotzdem kann dich niemand kriegen Was du suchst, ist weiter drin‘ Macht für niemand andren Sinn Nett? Normal? Natürlich? Triebe! Sie sind der Grundsatz deiner Liebe Lässt dich gehen und fallen Forderst Kratzer, Bisse, Krallen Kraftvoll, wild und ungestüm Trägst Schweiß als dein Parfüm Strahlen, zwinkern, lächeln Müssen sie sich Luft zu fächeln Charmant wie eh und je Sind alle Beute, Wild und Reh Du folgst jeder schwachen Fährte Ist das Wachs von einer Kerze? Du folgst jeder kleinen Spur Denn nur mein Blut ist deine Kur Hast du deinen Durst gestillt? Tiefe Wollust mich noch füllt Willst du hasten willst du jagen? Ich werd‘ stolz die Male tragen Schlag mich, beiß‘ mich Lieb, zerreiß mich Lass mich heulen, weinen Wenn wir uns in Lust vereinen Denn nur hier bei mir, mir Bist du du Das Biest und Tier Wispern, keuchen, schreien Endlich bin ich wieder dein Streicheln, kratzen, greifen Lass mich mit der Peitsche streifen Ich such nicht weiter nach dem Sinn Lass das Grübeln endlich sein Seh‘ das Tier tief in dir drin Endlich bin ich einzig dein Schlag mich, beiß‘ mich Lieb, zerreiß mich Lass mich heulen, weinen Wenn wir uns in Lust vereinen Denn nur hier bei mir, mir Bist du du, das Biest und Tier 139 Etwas anders „Ich war schon immer so“, sagt Janina und schaut nachdenklich auf das große Feld. „Aber habe es zuerst nicht bemerkt.“. „Ist angeboren“, fügt Ronja hinzu. Janina und Ronja (beide 20) fühlen sich zu Frauen hingezogen. Beide jungen Frauen sind lesbisch. Laut einer Umfrage von EUROGAY sind 3,1% aller Frauen in Deutschland homo- oder bisexuell orientiert, wobei es aufgrund von Zurückhaltung vermutlich weitaus mehr sein könnten. Bisher ist es noch ungeklärt, ob es eine genetische Ursache gibt oder das Umfeld bzw. ein Ereignis im Leben die sexuelle Orientierung beeinflusst. Es war ein Tag wie jeder andere. Draußen knallte die Sonne auf den hellen Asphaltboden des Schulhofes und der frische Luftzug durchs Fenster im warmen Klassenraum schien binnen Sekunden zu verschwinden. Leere Blicke, gähnende Mäuler und stöhnende Laute erschwerten den Unterricht. Der Lehrer analysierte irgendwelche Textstellen aus dem Schulbuch, doch für Janina gab es eine interessantere Sache. „Wir bekamen an jenem Tag in der 5. Klasse des Gymnasiums eine neue Schülerin aus Hamburg. Sie sah nicht außergewöhnlich aus und doch beobachtete ich sie stundenlang. Ich weiß nicht warum, aber ich wollte unbedingt eine Freundschaft erzwingen.“ Ronja fügt hinzu: „Das war der erste Tag, an dem wir uns das erste Mal im Leben gesehen hatten. Meine Eltern haben sich geschieden und meine Mama zog mit ihrem neuen Freund hierher.“ Janina erzählt weiter „Mit jedem Tag kamen die Sommerferien näher, ich aber Ronja leider nicht. Sie ist sehr zurückhaltend gewesen, und wenn wir in der Schule miteinander sprachen, so schwieg sie mich im Bus an, wenn wir nebeneinandersaßen. Wir hatten nicht viel gemeinsam und dennoch gab es irgendwie eine gute Basis für eine beste Freundschaft. Wir sprachen nicht viel miteinander, aber verstanden uns auch ohne Worte, wenn wir über die gleichen Situationen kicherten. „Als die Sommerferien anfingen, war ich im Urlaub gewesen.“ „Ich war zu dieser Zeit in Hamburg bei meinem Vater zu Besuch“, fügt Ronja hinzu. Nach den Sommerferien stellte Janina fest, dass Ronja für die 6. Klasse nicht versetzt wurde und fortan die Realschule besuchen würde. Sie war enttäuscht und verletzt, dass Ronja nie ein Wort davon erwähnte, dass sie die Schule 140 141 wechseln müsste. Es war eine kurze Begegnung der beiden, die etwa 4 Wochen anhielt. Somit vergaßen beide langsam einander. Nach etwa einem Jahr kippten Janinas schulische Leistung rapide und sie war den schulischen Anforderungen nicht mehr gewachsen. Sie entschloss sich dazu, das Gymnasium zu verlassen und in die 7. Klasse der Realschule versetzt zu werden. „Ich weiß es noch bis heute. An meinem ersten Schultag auf der Realschule traf ich auf einige Freunde aus meiner Grundschulzeit. Wir standen an dem sonnigen Tag auf der Treppe und unterhielten uns, während immer mehr Schüler meiner neuen Klasse eintrafen. Ich drehte mich immer wieder neugierig in alle Richtungen um, bis ich plötzlich Ronja erblickte. Sie grinste mich wortlos an.“, erinnert sich Janina. Beide waren in derselben 7. Klasse. In den laufenden 2 Jahren entwickelte sich eine sehr gute Freundschaft und sie trafen sich auch außerhalb der Schulzeit immer öfter. „Wir waren beste Freundinnen aber so sollte es wohl nicht sein“, sagt Ronja. In der 9. Klasse, einen Tag vor Janinas Geburtstag, kam Ronja auf sie zu und gab ihr zu verstehen, dass sie sehr bald wieder zu ihrem Vater nach Hamburg zieht. Was Janina zunächst als Scherz auffasste, bewahrheitete sich jedoch einige Wochen später. Ronja war wieder weg. Janina fiel es sehr schwer, dies zu akzeptieren. Sie weinte tagelang und konnte sich die weitere Schulzeit ohne Ronja nicht mehr vorstellen, obwohl sie noch viele andere Freunde dort hatte. Sie wollte Ronja bei sich haben und schaute sich oft Bilder von den beiden am Computer an. Sie fühlte sich unvollständig und alleine. Nach einem Jahr besuchte Janina ein Berufskolleg in der Nachbarstadt und fand dort einen neuen Freundeskreis, jedoch war sie in Gedanken oft noch bei Ronja. Dass sie eine Neigung zu Frauen hat, wurde ihr kurze Zeit später, nachdem Ronja nach Hamburg zog, klar und sie gestand sich ihre Homosexualität ein. Ob die Gefühle für sie bereits in der 5. Klasse darauf zurückführen, kann sie nicht zu 100% sagen, ist sich aber sicher, dass es schon irgendwie in dem jungen Alter „geknistert“ haben muss oder dass es irgendeinen Auslöser gab. „Meine Mutter wusste es vor mir. Es war aber nie ein großes Thema“, erzählt Janina. „Alle haben es später einfach hingenommen. Haben es entweder toleriert und akzeptiert oder sogar bewundert.“. Während Janina sich in ihrer Ausbildung befand, erfuhr sie zwischenzeitlich von ihrer Schwester, welche in einer Frauenmannschaft Fußball spielt, dass Ronja wieder in ihrer Stadt sei und sich in der Mannschaft angemeldet habe. „Zwar ist es ein Vorurteil zu glauben, dass prozentual mehr Lesben Frauenfußball spielen, dennoch glaubte ich fest daran bzw. hoffte, dass Ronja dazugehört.“, sagt Janina. Als Janina ihre Schwester vom Training abholt, erblickt sie nach 4 Jahren Ronja. „Es war, als würde mein Herz zusammenkrampfen und als ob ich auf Gummibeinen stehen würde. Es war dann tatsächlich Liebe, von der man nun sprechen konnte, auf den dritten Blick“ erinnert sich Janina und lacht. Von ihrer Schwester erfuhr sie in den nächsten Tagen, dass Ronja bereits eine feste Freundin hatte und somit erschien es nun mehr als eindeutig, dass sie ebenfalls an Frauen interessiert ist. „Von da an war mir klar, dass ich nur sie haben wollte und es sogar von ihrer Seite aus auch eine Chance geben könnte.“,sagt Janina. Heute sind beide seit fast einem Jahr in einer Beziehung. Janina strahlt „Es ist so unglaublich, dass ausgerechnet wir beide uns so entwickelt haben und bereits Gefühle von beiden Seiten aus vorhanden waren, ehe wir voneinander wussten, homosexuell zu sein geschweige denn, es von uns selbst genau zu wissen.“ Ronja hatte bereits zwei feste Freunde. „Die Jungs, mit denen ich zusammen war, sind eher distanziert gewesen. Natürlich kann es an deren Persönlichkeiten gelegen haben. Aber eine Beziehung mit einer Frau empfand ich als viel intensiver, verständnis- sowie gefühlvoller.“ Dabei schaut sie Ronja grinsend an und nimmt ihre Hand. Sie gehen den Feldweg Händchen haltend entlang. Eine ältere Dame mit einem kleinen Hund kommt vorbei. Ihr Blick ist dabei auffällig auf das verliebte Pärchen fixiert. Als wäre sie einem Außerirdischen begegnet. Janina und Ronja grinsen. Dann schauen sie sich sehr ernst an. „Wenn ich die Chance hätte, auf Knopfdruck heterosexuell zu werden, dann würde ich selbstverständlich ablehnen. Ich habe es nie bereut so zu sein, wie ich bin. Mittlerweile bin ich gegenüber einer sexuellen Beziehung zu einem Mann sehr abgeneigt. Es reizt mich in keinster Weise und ich bin glücklich mit meinem Liebesleben“, erzählt Ronja. Die jungen Frauen schauen zu, wie die Abendsonne immer schwächer wird. „Es gibt einfach mehr Vor- als Nachteile als Lesbe.“, sagt Janina. „Man glaubt gar nicht, was man an Geld für Verhütungsmittel spart!“ „Und man kann nicht ungewollt bzw. versehentlich schwanger werden.“ ergänzt Ronja „Letztendlich liebt man doch den Menschen und nicht sein Geschlecht.“ 142 143 Reset Trampolin Oft halt‘ ich dich an kurzer Leine Doch dann kannste ruhig Leine ziehen Bin stolz zu sagen "Ich bin Deine" Doch dann kommt’s anders als es schien Fängst mich auf wie’n Trampolin Dann stößt du mich auf einmal ab Du bist meine Medizin Auf die ich nicht verzichten mag Als auch meine Krankheit Die ich zu bekämpfen wag’ Tust mir gut und tust mir leid Machst mich schwach und machst mich stark Bist ‘n Fliegenpilz: Hübsch aber giftig Zuviel von Dir? Das wäre nicht richtig Trotzdem gewagt? Überdosiert Das Ende vom Lied? Qualvoll krepiert Du bist Tesa ich bin Kleber Du bist Nehmer und ich Geber Du bist Wodka, ich die Leber Du am stürzen und ich heb’ ab Du bist Döner und ich Kebab Du bist Tinte, ich die Feder Du gehst weg und ich steh’ da Du kommst wieder und ich geh ma Du hast ne Lösung ich hab Fehler Bist du mein Obst, bin ich dein Schäler Beide so gleich und doch so verschieden Oftmals am hassen, letztendlich am lieben Hass oder Liebe, die ewige Wende Ist wie GZSZ Es nimmt nie ein Ende 144 Ich lese gerade Zeitung Das Tageshoroskop Bist weg seit langer Zeit und So bleibt‘s beim Monolog Damalige Bilder Haften noch im Hirn Zeig auf Ausgangsschilder Und fass mir an die Stirn Ein Liebespaar auf ewig? Ohne Pech und Leid? Horoskop sagt: geht nicht Keine Neuigkeit Du bist ein langes Wimpernhaar Sitzt fest in meinem Auge Du störst. Musst raus. Wär‘ wunderbar Ein Traum an den ich glaube Erst war ich hin Dann warst du weg Wo bleibt der Sinn? Hab‘s nie gecheckt Du Säure, ich Lauge Und beides vermischt Das Fazit, ich glaube Es knistert wohl nicht Hab kein Bock und bin es leid Will vergessen voll komplett Als wäre es ne Kleinigkeit Knopf Gefunden. Gedrückt. RESET Es ist mit uns wie Haarausfall Es wurd immer weniger Das mit uns war nie so prall Dass das nicht hält, das seh‘ ich ja 145 Ich würde es für mich tun! „Nächste Woche ist es so weit ...“, berichtet Sabrina B. (Name geändert) und schenkt ein Glas aus einer Karaffe mit gefiltertem Wasser ein, stellt es vor mich und setzt sich zu mir auf das rote Sofa mit den gelben Kissen. Einige Notizen über internationales Marketing liegen neben einem Laptop auf dem Couchtisch, anscheinend hat sie sich vor meinem Eintreffen auf eine anstehende Klausur vorbereitet. „Ja, nächste Woche entscheidet sich dann, wie es weiter gehen wird ...“ fährt die junge Frau, groß, schlank und mit langen, zu einem Pferdeschwanz zusammengebundenen, blonden Haaren fort. Sabrina B. ist Auszubildende bei dem Veranstalter EUROFORUM und studiert nebenbei an der Fernuniversität Hagen BWL; später möchte sie gerne als Veranstaltungskauffrau Karriere machen. „Nachdem ich in der elften Klasse ein Jahr in Amerika war, bin ich auf das Berufskolleg gewechselt, weil ich dort Abitur mit dem Schwerpunkt „Wirtschaft“ machen konnte und dort haben wir uns kennengelernt. In der Schule selber hatten wir eigentlich gar nichts miteinander zu tun, erst auf der Abschlussfahrt Anfang Mai 2011 haben wir das erste Mal richtig miteinander gesprochen und seit Ende Mai sind wir ein Paar.“ Fast vier Jahre sind Sabrina B. und ihr muslimischer Freund Faris M. (Name geändert), der mit zehn Jahren aus seiner Heimat Pakistan nach Deutschland kam, nun zusammen. In den ersten zweieinhalb Jahren haben sie sich nur selten gesehen, nach der Schule oder bei Sabrina B. zu Hause, da niemand von ihrer Beziehung wissen durfte, denn als gläubiger Moslem ist es Faris M. nicht erlaubt eine andersgläubige Freundin zu haben, und obwohl er bereits volljährig ist, muss er sich an strenge Ausgehzeiten halten. „Manchmal war es wie in einer schlechten Komödie“, erzählt Sabrina B. zuerst mit leicht amüsierten, dann mit einem traurigen Ausdruck im Gesicht. „Einmal war ich bei ihm zu Hause, weil seine Eltern in Urlaub waren und dann kamen spontan zwei Tanten vorbei und ich musste mich tatsächlich im Schrank verstecken. Und vor unserem Abiball waren wir heimlich zusammen beim Fotografen, weil wir auf dem Abiball vor seiner Familie so tun mussten, als ob wir uns nicht richtig kennen würden.“ 146 Unbenannt-1 1 147 26.05.2015 17:37:01 Vor anderthalb Jahren dann haben die beiden der Mutter von Faris M. von Ihrer Beziehung erzählt: „Das war ein großer Schritt, Faris und seine Mutter stehen sich sehr nahe, ich weiß nicht, was geschehen wäre, wenn sie gesagt hätte, er solle sich von mir trennen ...“ Eine kurze Pause entsteht, Sabrina B. greift zu ihrem Wasserglas und nimmt einen Schluck. Ich lasse meinen Blick derweil durch das Zimmer der 23-Jährigen schweifen: Schreibtisch, Bett, Fernseher, das Zimmer ist hell und modern eingerichtet, an der einen Wand hängt ein Bild mit einem Zebra und ein Poster mit einem Sonnenuntergang darauf. Gegenüber eine Fotocollage: ein Selfie von Sabrina mit ihren Freundinnen, wie sie Grimassen ziehen, ihre Familie und sie vor dem Weihnachtsbaum und ein Bild von Faris und ihr am Strand. Sabrina B. sieht meinen Blick und erklärt, dass das Bild aus ihrem letzten gemeinsamen Urlaub in der Türkei stammt. Obwohl Faris Mutter zu dieser Zeit von der Beziehung ihres Sohnes wusste, mussten sie den Urlaub vor ihr geheim halten und bis heute glaubt sie, dass ihr Sohn den Sommer mit einem Freund verbracht hat; Sabrinas Eltern hatten das Pärchen zum Flughafen gefahren und auch wieder abgeholt. Die beiden mögen Faris und glauben seit dem ersten Treffen mit dem Freund ihrer Tochter auch nicht mehr, dass die Pakistaner noch in Lehmhütten hausen und Internet für sie ein Fremdwort sei. Schwieriger war es, als Sabrina ihrem Großvater von Ihrer Beziehung erzählte „Er ist total ausgeflippt und hat sich fürchterlich über die Ausländer und meine Naivität aufgeregt, bis ich dann weinend nach Hause gefahren bin“. Sabrina weiß, dass nicht nur ihr Großvater, sondern auch viele andere, insbesondere vor dem Hintergrund der aktuellen Gräueltaten des Islamischen Staates, viele Vorurteile gegenüber Muslimen haben. „Faris hofft jedes Mal, wenn ein Anschlag geschieht, dass es kein Moslem war, der unter dem Deckmantel der Religiosität seine Attentate begeht. Es ist unglaublich, mit welcher Abneigung die Leute plötzlich allen Muslimen gegenüberstehen, dabei wissen die meisten gar nicht richtig, was der muslimische Glauben beinhaltet; vielen ist gar nicht bewusst, dass sie an den gleichen Gott glauben wie die Christen“. Aber nicht nur die Vorurteile der Menschen gegenüber den Muslimen erschwert die gemeinsame Zeit des jungen Paares, sondern auch der Glaube selbst: „Wenn wir gemeinsam in den Urlaub fahren wollen, müssen wir uns immer nach dem Ramadan richten und im Urlaub selber ist es manchmal schwer, Restaurants zu finden, die koscheres Essen anbieten. Auch die täglichen fünf Gebete kann er oft nicht einhalten, wenn wir zusammen unterwegs sind. Komisch war auch, dass er letztes Weihnachten im Fitnessstudio war, während ich gemeinsam mit meiner Familie feierte.“ Bei diesen Worten fällt ihr Blick auf das Foto von ihr und ihrer Familie vor dem Weihnachtsbaum und auf die Frage, ob sie schon darüber gesprochen hätten, wie die Feierta- ge und auch die Kindererziehung in ihrer gemeinsamen Zukunft aussehen sollen, antwortet sie nur ausweichend, dass das ein schwieriges Thema sei. Hier ist zum ersten Mal Unsicherheit zu spüren und es wird deutlich, dass die junge Frau, die zuvor selbstbewusst von Ihrem Tränenausbruch nach dem Gespräch mit Ihrem Großvater und den Vorurteilen Fremder und ihr nahe stehenden Menschen gesprochen hat, hier vor einem Problem steht, das sie noch nicht gelöst hat. Aber der erste Schritt vor der Familienplanung ist sowieso erst einmal der Einzug in eine gemeinsame Wohnung. Die Zwei suchen schon seit mehreren Monaten nach einer passenden Immobilie und im Mai, spätestens im Juni wollten sie dann offiziell zusammenziehen. Auf den Einwand hin, ob es nicht problematisch sei, wo sie selbst ihren gemeinsamen Urlaub geheim halten mussten, erwidert Sabrina B. wie selbstverständlich: „Wir müssen uns vorher schon verloben, sonst würde das nicht gehen … ich glaube, dass er mir diesen Monat noch einen Antrag macht ...“ Bei diesen Worten ist die Vorfreude in den Augen des hübschen Mädchens zu erkennen, ein leichtes Lächeln umspielt ihre Lippen und fast ein bisschen aufgeregt erzählt sie, dass Faris sie schon unauffällig nach Ringvorlieben gefragt habe, aber dass sie sich da überraschen lassen möchte und auf seinen guten Geschmack vertraue. Dann wendet sie aber noch ein, als wolle sie selbst ihre Vorfreude ein wenig bremsen „Aber erst einmal müssen wir seinem Vater von uns erzählen, Faris Mutter wird es ihm nächste Woche sagen und dann müssen wir schauen, wie er reagiert und dann sehen wir weiter.“ Eine Hochzeit würde sowieso erst nach Beendigung ihres Studiums infrage kommen, also frühestens in zwei Jahren; aber trotzdem hat sich Sabrina B. bereits mit der Frage beschäftigt, noch vor ihrer Hochzeit zu konvertieren. „Wir können auch heiraten, wenn ich katholisch bleibe. Faris erzählt mir auch wenig über seine Religion, weil er mich keines Falls bei meiner Entscheidung beeinflussen möchte, aber natürlich wäre es ihm und seiner Familie lieber, wenn ich muslimisch wäre. Ich war nie richtig religiös und mich hält auch nichts in meiner Religion. Ich hab einige Bücher über den islamischen Glauben gelesen und auch Biografien von Leuten, die konvertiert sind, ich glaube schon, dass es was für mich sein könnte. Aber ich würde es für mich tun, nicht für ihn!“ Die junge Frau sagt dies voller Überzeugung und Selbstsicherheit, aber würde sie auch konvertieren wollen, wenn sie mit einem Christen zusammen wäre? Und ist es dann nicht doch eher für ihn als für sie? Aber was sie auf jeden Fall für sich tut, ist ihren Namen trotz Heirat zu behalten, um Ihrer Karriere keine Steine in Weg zu legen, wenn auf Ihrem Lebenslauf Sabrina Muhamet und muslimisch steht anstatt Sabrina Bauer und römisch-katholisch. 148 149 Ihre berufliche Zukunft ist Sabrina B. sehr wichtig, genau wie Faris. Bis vor drei Monaten hat dieser neben dem Studium seinem Vater bei dem Vertrieb von Kleinmetallgegenständen geholfen, dann aber begonnen sich seinen eigenen Onlineshop für Uhren aufzubauen. Durch seinen Shop ist er finanziell unabhängig von seinem Vater, denn es könnte durchaus passieren, dass er ihn hinauswirft, wenn er von der Beziehung seines Sohnes erfährt. Seit letztem Jahr sucht er für Faris bereits potenzielle muslimische Frauen in Pakistan, wobei sich sein Sohn bisher immer geweigert hat, mit ihm in die Heimat zu fliegen mit der Begründung, dass er zunächst sein Studium beenden wolle. „Das ist schon komisch, wenn du weißt, dass deinem Freund Bilder von Mädchen gezeigt werden, die er kennenlernen und heiraten soll. Zeitweise sah es auch so aus, als müsste er mit seinem Vater fliegen und sie persönlich kennenlernen ... da war ich schon ziemlich erleichtert, als Faris sich durchgesetzt hat und das Thema von Tisch war!“ Ganz aktuell wird das Thema allerdings nächste Woche wieder, wenn Faris Vater von den Zukunftsplänen seines Sohnes mit der blonden Katholikin erfährt. „Nächste Woche ist es soweit, ich hab schon ein bisschen Angst vor der Reaktion aber ich bin auch froh, wenn die ganze Versteckspielerei endlich ein Ende hat und egal wie er reagiert, dann wissen wir es jedenfalls und können sehen, wie es weitergeht.“ 150 151 Liebe – eine Reise ohne Ziel Wie die zwei Seiten einer Münze Es wagen, aufbrechen losgeh`n Auch ohne Karte, Plan und Ziel Wo es lang - und wo es hingeht Das werden wir schon seh`n Getrennt durch unsere Welten Unvergleichbar wie Süd und Nord Wo unterschiedliche Gesetze gelten Und man fremd ist am anderen Ort Liebe – eine Reise ohne Ziel Nach Japan, Namibia oder entlang am Nil Unsere ganz eigene Route nehmen wir Schauen nicht zurück, nicht nach vorn – leben im Hier Wie Sonne und Mond, Ebbe und Flut Berg und Tal, Böse und Gut Mal ist es einfach, mal ist es schwer Vieles gibt es zu entdecken Der Reiz des Neuen, des Fremden Manchmal auch müde und leer Liebe – eine Reise ohne Ziel Nach Japan, Namibia oder entlang am Nil Unsere ganz eigene Route nehmen wir Schauen nicht zurück, nicht nach vorn – leben im Hier Geprägt von der Reise – es gibt kein zurück Gemeinsam geht man weiter Für immer oder nur ein Stück Mal bedrückt und einsam mal unbeschwert und heiter Getrennt in unseren Köpfen Unvergleichbar wie Nase und Mund Mauern in unseren Köpfen Und dazwischen ein tiefer Schlund Wie Sonne und Mond, Ebbe und Flut Berg und Tal, Böse und Gut Getrennt und doch untrennbar Unerreichbar und doch so nah Wie die zwei Seiten einer Münze Ich glaube, es ist wahr Liebe – eine Reise ohne Ziel Wir gehen immer weiter, weiter, weiter 152 153 Liebe mit Aussicht auf... Am einprägsamsten an Maries Wohnung ist insbesondere die muskelbepackte und bauchfreie Anime-Figur auf einem Regal, dessen schwarze Haare sich senkrecht etwa 30 cm in die Luft türmen. Sie pikt mich spaßeshalber mit dem spitzen Ende der Haare, als wäre die Figur ein Schwert. Die Figur thront über einer ganzen Reihe weiterer Figuren von Sailor Moon. Ansonsten ist ihr Einzelappartement mit dem Nötigsten ausgestattet. Der Eingangsbereich ist sowohl der Flur, als auch die Küche und das Esszimmer, mit einem dreieckigen Grundriss. Rechts ist ein kleiner Tisch mit zwei Stühlen und auf dem Boden sind Kartons. Nicht unordentlich. In wenigen Schritten ist hinter dem Tisch die Tür zu ihrem Zimmer, schätzungsweise 15qm groß. In der Hausordnung steht, dass an den Wänden nicht gebohrt werden darf, ansonsten wird man aus der Wohnung geworfen. Marie hat trotzdem eine Pinnwand aufgehängt, auf der bereits Notizzettel gepinnt sind. “Ach, ich habe selber welche aus dem Studentenwohnheim bohren hören”, sagt Marie dazu. Sie ist Mitte zwanzig, hat bereits eine Ausbildung abgeschlossen, gearbeitet und studiert nun. Sie kann kochen und ist nicht wie viele, die zum Beispiel direkt aus der Schule kommen, auf das Mensaessen angewiesen. Außerdem redet und lacht Marie gerne und viel. Bis jetzt hat sie aber noch nie alleine gewohnt. Das ist für sie eine neue Erfahrung, mit der sie sich anfreunden möchte und muss. Marie ist aber der Ansicht, dass sie das Zusammenleben mit ihrer Partnerin Claudia schöner findet. Vor dem Umzug nach Münster, lebten sie nämlich 2 Jahre zusammen. Ihre Beziehung hält seit 4 Jahren stand. Die andere Hälfte ihrer gemeinsamen Zeit war es eine Fernbeziehung und die Zwei haben sich bestenfalls alle 6 Wochen gesehen. Kennengelernt haben sie sich über die Internetseite Animexx, wo beide ihr Interesse für Anime und Manga ausleben. Auf Beziehungssuche waren sowohl Marie als auch Claudia zunächst nicht. Bevor sie sich näher kamen, trafen sie sich auf dem Japan-Tag und Claudia besuchte sie im Sommer. Am 15. Dezember kamen sie zusammen. “Kommunikation ist in jeder Beziehung wichtig”, betont Marie. “Und ob jemand für eine Fernbeziehung geschaffen ist, muss jeder für sich selbst einschätzen. 154 155 Man muss sich auch nicht dafür schämen, falls es nicht klappt. Ich selber war sehr unsicher. In einer vorherigen Fernbeziehung hat es nicht geklappt, weil beide Parteien sich kein Ziel gesetzt haben. Man muss eine Fernbeziehung als eine Art Übergangsding betrachten.” Da sie nun im selben Bundesland wohnen, können sie sich mit dem Semesterticket jedes Wochenende in Person treffen. Claudia suchte eine Universität, damit sie ihren Master machen konnte und passenderweise bot eine in Maries Stadt diesen Studiengang an. Sie sahen es als Chance, zusammenzuziehen. Wenn beide miteinander reden, quillt Marie fast über mit ihrem Wissen, ihren Erlebnissen und Meinungshaltungen, während Claudia geduldig zuhört. Hin und wieder necken sie sich. Dass Marie heute offen und mit wichtigen Informationen über sexuelle Orientierungen reden kann, hat lange gedauert. Sie selbst identifiziert sich als bisexuell bzw. pansexuell und hat einige gescheiterte Beziehungen hinter sich. Während ihrer Schulzeit und Ausbildung ist sie möglichen Konflikten aus dem Weg gegangen und hat sich deshalb nicht geoutet. Claudia kann das gut nachvollziehen. “Ich habe relativ früh erkannt, dass ich mich zu Mädchen hingezogen fühle. Als ich das meinem Vater mitteilte, war ich 13 und er erst mal überfordert. Seine Reaktion hat mich allerdings nicht verletzt.” Mit 13 hatte Marie ihren ersten Freund und bei ihr machte sich eine Erleichterung breit. Sie konnte also ein normales Liebesleben haben. Allerdings war sie zeitgleich in ihre beste Freundin verliebt. Mit 17 hatte sie ihre erste Freundin und ihr Vater konnte sich 4 Jahre lang darauf vorbereiten, dass seine Tochter mal eine Freundin haben würde. Claudia hingegen ist, wie sie sagt, ein “Spätzünder” gewesen. Aufgewachsen in einem Dorf, wo jeder jeden kennt, hat sie irgendwann mal bemerkt, dass sie kein Interesse am anderen Geschlecht hat. Sobald sie Zugriff zum Internet hatte, hinterfragte sie sich selbst. Dass sie lesbisch ist, hätte ihre verstorbene Großmutter wahrscheinlich austicken lassen. “Ich hatte ein krasses Verhältnis zu meiner Großmutter. Sie war ziemlich homophob. Nur die Leute, die mir wichtig sind, wissen darüber Bescheid. Mein Opa wusste es und hat nichts gesagt. Er ist toleranter und respektvoll. Einmal fragte er mich, wie das denn funktioniere, wenn ich Kinder haben wolle.” Kinder wollen beide unbedingt haben. “Wie war das? Ich bekomme einen Sohn und du Zwillinge?”, lacht Marie. Claudia hingegen wirkt ernster. “Erst mal 1 Kind und dann abwarten.” “Was? Aber kennst du nicht die ganzen Vorurteile gegenüber Einzelkindern? Du als Einzelkind bist eine Ausnahme, die Erziehung hat bei dir geklappt. Aber wenn ich nur ein Kind erziehe, dann geht das nach hinten los.” Claudia ist immer noch skeptisch. “Ich habe irgendwo mal über Pärchen gelesen, für die es ein Grund gewesen ist sich zu trennen, weil einer der Partner keine eigenen Kinder bekommen konnte. Und Adoption kam für sie nicht infrage.” Auf die Frage hin, wie Marie und Claudia sich vorstellen können, Kinder zu haben, sagt Marie aufbrausend: “Wir machen das über eine dritte Partei. Man will es nicht glauben, aber es gibt immer noch genug Leute, die das missverstehen und sich fragen, ob das eine polygame Beziehung werden soll. Als ob sie nicht wissen, dass es auch übers Labor mit einer Samenspende funktioniert.” Sie verdreht die Augen und gestikuliert wild mit den Händen. “Genauso wie es Leute an meiner Schule gab, die sich total kindisch aufführen und Dinge über Homosexuelle sagen wie: Ich fühl mich unwohl in der Anwesenheit von dieser und jener homosexuellen Person, vielleicht hat sie ein Auge auf mich geworfen. Gott sei Dank meinte die Lehrerin, dass das Unfug ist.” Maries Missbilligung ist kaum zu übersehen. Claudia reagiert darauf prompt: “Das finde ich gut, dass eine Lehrerin so was sagt!” An Claudias Universität gibt es oft offene Treffs für Homosexuelle, aber weder sie noch Maria sind “in der Szene unterwegs” oder haben jegliche Erfahrung damit gemacht. Sie empfinden es als bedeutungsvoll, aber Claudia ist der Meinung, dass die Plakate dazu relativ penetrant sind. Außerdem wollen sie lieber von Mitmenschen umgeben sein, die sie mögen, wie sie sind. Sie wollen nicht sagen: “Ah, diese Menschen haben die gleiche sexuelle Orientierung wie ich, zu denen geselle ich mich mal.” 156 157 Ich halte dich fest Mausklick Sprich mich an, fass mich an Das was in mir aufwallt Kommt nicht über Finger Und Tasten an dich ran Ich wusste nicht woran du dachtest Obwohl wir das Gleiche aussprachen Das wusste ich schon längst Ich musste dich ausfragen Das Display vor Augen Deine Worte im Blick Wie soll ich’s dir sagen Nur mit einem Mausklick Unsicherheit verfolgte mich nun lang genug Vertrauen hatte ich nie in mich Aber die frische Brise die einzog Umschmiegte mich behaglich Ich entspannte mich Solange ich empor hob Ich lieb dich liebst du mich Seh’ ich dich in Smileys Ob grinsend ob rollend Das ist nicht mehr wichtig Langsam enthülltest du dich Ich beobachtete schweigend Deine Antwort war ehrlich Und dein Ausdruck bildgebend Das Display vor Augen Deine Worte im Blick Wie soll ich’s dir sagen Nur mit einem Mausklick Solange ich nichts wusste, hielt ich dich fest Sobald ich dich kannte ließ ich dich nicht gehen Stürmisch ziehst du mich mit Ich lasse mich treiben Ich hab dich, HASST du mich Wirst du dich abwenden Angesichts anderer Daran dachte ich nicht Unsicherheit verfolgte mich nun lang genug Vertrauen hatte ich nie in mich Aber die frische Brise die einzog Umschmiegte mich behaglich Ich entspannte mich Solange ich empor hob 158 159 Man weiß ja schon, worauf man sich einlässt Ein hektischer, von Maschinengeräuschen erfüllter Raum. An langen Tischreihen und Fließbändern wird im Akkord gearbeitet. Es riecht nach Pappkartons und Industrie. Es gibt bessere Orte als diesen, um mit einer geliebten Person Zeit zu verbringen. Doch Willi und Erika Hoffmann (Namen geändert), haben ihn als ihren gemeinsamen Arbeitsplatz ausgewählt. Nun ist Pause in der Versandabteilung der Firma „Arvato“. Geschlossen gehen die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter nach oben in den Pausenraum, vorbei an den Fließbändern und Regalen, dann die Treppe hinauf an den Büros und Toilettentüren vorbei. Oben ist es deutlich ruhiger. Ein Automat steht dort an der Wand: Kaffee und andere Heißgetränke für 35 Cent. Neben einer Zimmerpflanze ist der Raum mit einem Kleiderständer und vier Tischgruppen ausgestattet. Auf einen der Tische hat jemand eine kleine Vase mit Blumen gestellt; Narzissen und Weidenkätzchen. Erika Hoffmann stellt die Vase beiseite, setzt sich mit einigen Kolleginnen an den Tisch und unterhält sich angeregt mit ihnen. Sie ist eine Frau in ihren Sechzigern, mit Brille und fransigem, blonden Kurzhaarschnitt, heute „passend zum Frühlingswetter“ im gelben Baumwollpullover. Man hört das Klimpern von Münzen und das Surren des Kaffeeautomaten, dann kommt auch ihr Ehemann Willi dazu. Für sein hohes Alter wirkt auch er noch recht fit. Mit seinem kahlen Kopf, der eckigen Brille und dem karierten Oberhemd, das er sich in die Hose gesteckt hat, erscheint er wie ein Großvater aus dem Bilderbuch. In jeder Hand hält er einen der kleinen, dampfenden Plastikbecher. Einen davon reicht er Erika und setzt sich auf den Stuhl neben sie. „Pass auf, dass der nicht wieder umkippt“, mahnt er, worauf sie scheinbar genervt, aber mit dem Anflug eines Lächelns „Ja, ja“ antwortet. Die beiden Rentner arbeiten auf Teilzeit in der Firma und gehören zu den ältesten Mitarbeitern. Und dazu sind sie momentan das einzige Pärchen, das zusammen dort arbeitet. „Das ist auch nicht immer so einfach“, meint Erika leicht neckisch. „Andere sehen sich ja nicht den ganzen Tag, weil beide woanders arbeiten.“ „Aber hier kann man sich ja ganz gut aus dem Weg gehen“, fügt Willi hinzu. Ihre Kollegen grinsen, für solche Neckereien kennen sie das Ehepaar. 160 161 Nur wenigen von ihnen ist bewusst, dass Erikas und Willis erstes Treffen nicht sehr lange her ist. Vor zehn Jahren haben sich die Beiden kennen gelernt. Zuvor sind die Zwei schon einmal verheiratet gewesen, doch die Lebenspartner beider sind ihnen genommen worden. Bei Willis Ehefrau kam der Tod ganz plötzlich, sie erlitt einen Herzinfarkt. Inzwischen redet er gefasst über diesen Vorfall, die Betroffenheit merkt man ihm aber immer noch an. Der unerwartete Todesfall hat ihn damals völlig aus der Bahn geworfen. Da er es gewohnt war, dass seine Frau den Haushalt übernahm, während er arbeitete, fand er sich in einer völlig neuen Situation wieder. Von Willis damals schon erwachsenen Sohn kam zwar Hilfe, doch dies war keine dauerhafte Lösung, da er selbst gerade dabei war eine Familie zu gründen. Willi musste der Trauer standhalten und lernen allein zu leben. Damals hätte er es sich nicht vorstellen können, erneut zu heiraten. Erika erging es ähnlich. Ihr Mann starb nach einer Lungenerkrankung im Krankenhaus. Kurz vor seiner Entlassung bekam Erika einen Anruf. Ihr Mann sollte nie wieder nach Hause kommen. „Ich dachte im ersten Moment, das wäre ein schlechter Scherz. Ich wollte das gar nicht glauben“, erinnert sie sich. Nach dem Tod ihres Mannes suchte sie Ablenkung in der Arbeit. Heute weiß sie, dass ihr das nicht gut tat und sie sich lieber hätte Zeit nehmen sollen, um zu trauern. „Zum Glück hatte ich Hilfe von meinen Geschwistern. Die haben verhindert, dass ich mich zu sehr überlaste.“ Erst Jahre später sah sie sich bereit dazu, eine neue Beziehung anzufangen. Willi steht auf und öffnet das Fenster. Die kühle Luft weht herein. Es ist sonnig draußen. Die einzelnen Bäume an der Straße tragen Blüten. An einem solchen Tag hat sich das Paar zum ersten Mal getroffen. Willis Sohn setzte damals ein Inserat für seinen Vater in die Zeitung. Mit der Zeit hatte dessen Trauer zwar nachgelassen, doch Willi dachte nicht selten darüber nach, wieder jemanden kennenzulernen. „Man bekommt dann aber so was wie Schuldgefühle“, gibt der 75-Jährige zu. „Ich hab´ mich gefragt, ob es nicht noch zu früh ist. Wenn man so lange verheiratet war, kann man sich das schlecht vorstellen, noch mal mit jemandem zusammenzukommen.“ Wie Willi geht es vielen verwitweten Menschen. Die Verbindung zum verstorbenen Partner ist noch da, aber von Person zu Person verschieden stark. Eine feste Eingrenzung, die besagt, wann es in Ordnung ist, wieder einen Partner zu suchen lässt sich nicht machen. Doch seine Frau hätte ihn nicht einsam sehen wollen, so sagt Willi nun. Neben Erika meldeten sich viele Frauen auf seine Anzeige. Nach Sichtung ihres Fotos entschied sich Willi dazu sie zu treffen. Die ersten Gehversuche ihrer Beziehung waren jedoch recht holprig: „Als Erika mich zum ersten Mal gesehen hat, ist sie erst mal weggelaufen, als da auf einmal so ein alter Opa vor ihr stand“, erinnert sich Willi. Sie kannte sein Gesicht im Gegensatz zu ihm noch nicht. Als sie nach dem ersten Blickkontakt einfach umdrehte, folgte Willi Erika sofort. Nach diesem ersten „Schock“ stimmte die Chemie dann doch. Erika leert ihren Kaffeebecher und schaut auf die Uhr. Um 2 Uhr ist Feierabend, dann will sie mit ihrem Mann und seinem Sohn nach Wiedenbrück in die Altstadt gehen. Sie versteht sich gut mit ihm und seinen Kindern, ihren Enkeln, obwohl sie nicht blutsverwandt sind. Auch ihre erneute Hochzeit haben die Verwandten der beiden gut aufgenommen. Das Paar war sich einig, keinen großen Aufwand zu betreiben und verzichtete auf eine riesige Feier. Generell gingen sie ihre Beziehung nüchterner an, als in ihren jungen Jahren. „Man weiß ja schon, worauf man sich einlässt“, meint Willi. „Aber man hat nicht mehr diese rosarote Brille oder die Vorstellung von der einen großen Liebe. Es reicht einfach, jemanden bei sich zu haben.“ Es sei aber nicht immer einfach. Man könne den alten Partner nie ganz vergessen, sagt Erika. Vor allem am Anfang hat das Paar oft darüber geredet, da der jeweils andere sich in ihre Lage versetzen konnte. Am Ende hat es aber beiden gut getan, nicht mehr zu sehr an der Vergangenheit festzuhalten. 162 163 Die Frau ohne Gegenstück Fallen gelassen Ich bin bei dir Doch wie soll es anders sein Du nicht bei mir Zu zweit, doch du lässt mich allein Gönnst du dir nicht zu viel? Du leierst mich noch aus Zu weit treibst du dein Spiel Doch ich, wie kann ich raus? Wieder zurück Ein netter Abend, mehr auch nicht Sie hat kein Glück So schwindet ihre Zuversicht Nun Schluss damit Was macht sie sich Gedanken auch Warum denn "Mit?" Denn "Ohne" geht doch sicher auch Die Waage schwankt Bin federleicht, du schwer wie Blei Schuldest mir Dank Denn sind ein Paar nicht immer zwei? Ich trag´ dich wie auf Händen Zu schwer bist du ich bin am Ende Weißt du, ich lass dich fallen Mein Körper hält es nicht mehr aus Kann sie ihr Gegenstück nicht finden? Ist sie nicht fähig, sich zu binden? Kann sie ihr Gegenstück nicht finden? Ist sie nicht fähig, sich zu binden? Gönnst du dir nicht zu viel? Du leierst mich noch aus Zu weit treibst du dein Spiel Doch ich, ich kann nicht raus Ja, du gönnst dir zu viel Du leierst mich noch aus Zu weit treibst du dein Spiel Doch endlich brech ich aus Kein Puzzleteil das passt zu ihr Und sie fragt sich: Was tu ich hier? Kein Jemand da für sie, na und Zum Traurig sein gibt´s keinen Grund Sieh mich doch an Ich bin hier, nur wegen dir Ich seh´ dich an Doch du, nein du entziehst dich mir Doch braucht sie es? Nur ein Gefühl doch, mehr auch nicht Macht sie sich Stress? Hat dieser Fehlschlag denn Gewicht? Kann sie ihr Gegenstück nicht finden? Ist sie nicht fähig, sich zu binden? Kein Deckelchen für ihren Topf Sie hat halt ihren eig´nen Kopf Ich trockne aus Während ich dir einfach alles gebe Wann komm ich raus Ob ich den Tag je noch erlebe? 164 165 Den Mut haben sich außerhalb der Norm zu bewegen Marie (Namen geändert) sitzt auf dem dunkelbraunen Teppichboden ihres Wohnzimmers, während sie ungeduldig den vor ihr liegenden Stapel Videospiele durchsucht. Als sie fündig wird, hält sie einen Moment lang inne und erinnert sich an die letzten Jahre. „Call of Duty und Battlefield - Diese sinnlosen Ballerspiele sind genau sein Ding.“, bemerkt sie und fügt hinzu, dass sie die als Erstes einpackte. Auf dem Weg ins Badezimmer nimmt sie seine riesigen Yeti-Hausschuhe mit, die sie ihm zum letzten Geburtstag geschenkt hatte, sowie diverse Kleidungsstücke, zwischen denen zwei länger nicht gewaschene, blau karierte Hemden stecken. Alles, was sie von ihm in ihrer Wohnung findet oder auch nur im Geringsten etwas mit ihm zu tun hat, packt sie in eine ranzige, alte Plastiktüte von ALDI, die bereits am Boden mehrere Löcher hat und allein durch die lediglich aus Plüsch bestehenden Hausschuhe so aussieht, als würde sie jeden Moment platzen. Gegen den Rat ihrer Mutter, das Problem mit ihrem Freund Paul anders zu lösen, steigt sie in ihren silbernen Opel Corsa, legt den ersten Gang ein und fährt mit aufheulendem Motor über den Schotterweg, welcher eine dicke Staubwolke mit sich zieht, davon. „Ich erinnere mich noch genau daran, wie wir uns im November 2011 kennengelernt haben.“, sagt Marie, während sie neben mir ins Leere blickt, um sich die Erinnerungen genauer vor Augen zu führen. Eigentlich wollte sie sich einen entspannten Samstagabend machen, bis sie ihr Klassenkamerad Sebastian noch nach Mitternacht dazu überredet, mit ins “Roxy” zu kommen. In der Stadt Damme mit knapp 17.000 Einwohnern gibt es nicht viele Möglichkeiten am Wochenende loszuziehen. Genau genommen ist das Roxy hier die einzige Diskothek, in der man vernünftig tanzen und trinken kann. Draußen vor dem Eingang wird man bereits mit den allerneusten Beats von House und Electro bekannt gemacht, während eine schmale Wendeltreppe aus rotem Backstein die Besucher in den kleinen, aber geräumigen Diskokeller führt. Die Wände des Flurs und des Innenbereiches schmücken exzessive, schwarzweiße Partybilder, während man auf den Frauentoiletten großflächige Collagen von entkleideten Männern begutachten kann. Die Wände der Män166 167 nertoiletten haben dementsprechend andere „Muster“. Vielleicht eine ganz hilfreiche Methode, sich völlig betrunken nicht ausversehen auf die falsche Toilette zu begeben. Der spontane Besuch wird schnell zum spontanen Partyabend. Zwei Lederhirsche, ein Becks und das fünfte Glas Cola-Korn– dann hört Marie auf zu zählen, begibt sich sichtlich betrunken auf die Tanzfläche und lässt sich von der Musik mitreißen, während sie und die anderen Partygäste im Qualm der Nebelmaschine verschwinden. Danach erinnert sie sich nur noch an Bruchstücke des Abends, welche sie nur mit Hilfe von Erzählungen ihrer Klassenkameraden rekonstruieren kann. Sebastian macht sie wenig später mit seinem Kollegen Paul bekannt, der sie gleich nach ihrer Handynummer fragt. Es funkt bereits an diesem Abend zwischen den beiden, obwohl sie gleichermaßen betrunken sind. Marie erinnert sich aufgrund ihres Alkoholkonsums am nächsten Morgen nur sehr verschwommen an ihn, weiß aber noch, dass sie ihn für sehr muskulös und attraktiv befunden hat. Sie schmunzelt ein wenig, als sie erzählt, dass sich dieses zunächst wahrgenommene Bild nach der ersten nüchternen Begegnung widerlegte. „Ich hätte bis zu diesem Abend nie gedacht, dass Alkohol die Körperform eines Menschen derart verändern kann“, sagt sie mir mehrmals mit weit aufgerissenen Augen, als würde sie mich versuchen eindringlich davor zu warnen. Ungefähr zwei Wochen lang halten sie Kontakt über Facebook sowie Whatsapp und verbringen viel Zeit damit, sich näher kennen zulernen. Sie merken beide ziemlich schnell, dass sie denselben Humor teilen und es langsam Zeit für ein gemeinsames Treffen ist. Paul lädt sie daher eines Abends spontan zu einem DVD-Abend seiner Freunde ein. Nach langer, gut durchdachter Outfitwahl sagt sie ihm schließlich zu und er holt sie kurze Zeit später mit seinem blank polierten, schwarzen Mercedes ab. Als Marie zu ihm ins Auto steigt, ist sie sichtlich nervös und muss sich eingestehen, dass sie sich bereits ein wenig in ihn verguckt hat. An diesem Abend stellt Paul sie bei seinen Freunden bereits als seine feste Freundin vor, obwohl von einer Beziehung noch nie die Rede war. Sie schaut ihn für einen Moment lang ziemlich überrascht und ein wenig entsetzt an. Als Paul das bemerkt, lächelt er sie an, kneift ihr neckisch in die Hüfte und geht, ohne ein weiteres Wort zu sagen an ihr vorbei. Marie lächelt zurück, überlegt eine Weile und kommt zu dem Entschluss, dass es sich nicht falsch anfühlt, eine Beziehung mit ihm einzugehen, und obwohl sie sich noch nicht lange kennen, lässt sie es zu. Nach zwei Monaten glücklicher Beziehung stellt sich plötzlich durch einen Zufall heraus, dass Paul nicht wie gedacht 25, sondern bereits 30 Jahre alt ist. Bis zu diesem Zeitpunkt nimmt Marie an, dass er genauso alt wie sein Klassenkamerad Sebastian ist, der die beiden im Roxy miteinander bekannt gemacht hat. Sie bekommt ein mulmiges Gefühl, während sie realisiert, dass das zwölf Jahre Unterschied bedeutet. Zwölf Jahre! Und sie ist gerade mal 18. Gleichzeitig schämt sie sich in Grund und Boden, ihren eigenen Freund nicht nach dem Alter gefragt zu haben. „Ausgerechnet meine Mutter fragt ihn danach“, sagt sie mit aufgeregter Stimme. Als ihre Mutter erfährt, dass er bereits 30 ist, schaut sie Marie fragwürdig und ziemlich entsetzt an, während sie bemerkt, dass ihre Tochter sie gleichermaßen fragend anblickt. Natürlich erzählt sie Paul nichts von ihrer Sorge und lässt sich ihm gegenüber nichts anmerken, doch auch Tage danach kann sie keinen klaren Gedanken fassen, geschweige denn schlafen oder essen. Sie fühlt sich, als würde sie ein Verbrechen begehen, denn es ist alles andere als leicht der Familie, Freunden und dem Umfeld verständlich zu machen, dass eine Beziehung nicht gleich zum Scheitern verurteilt ist, nur weil sich das Paar im Alter deutlich unterscheidet. Laut einer Statistik von 2009 beträgt der Altersunterschied allerdings bei nur 6% aller Paare in Deutschland mehr als zehn Jahre. Die meisten Menschen haben nicht den Mut sich außerhalb der Norm zu bewegen und lassen sich von Beziehungen mit großem Altersunterschied irritieren und abschrecken. Im Durchschnitt liegt der Altersunterschied bei ca. drei bis vier Jahren. Marie überlegt durch den Druck und die heftigen Meinungen ihres Umfeldes die Beziehung mit Paul ernsthaft zu beenden. Während sie an die letzten schönen, zwei Monate zurückdenkt, ist sie sich allerdings unsicher. Natürlich gibt es auch Paare, die sich trotz ihres hohen Altersunterschiedes wunderbar ergänzen. Der Schauspieler Bruce Willis ist beispielsweise 24 Jahre älter als seine Frau Emma Heming. Sie sind seit sieben Jahren glücklich verheiratet und haben zwei Töchter. Den Politiker Franz Müntefering und Michelle Schumann trennen sogar 40 Jahre. Schließlich entscheidet Marie sich für die Beziehung mit Paul, der bereits seit ihrem Kennenlernen über den hohen Altersunterschied bescheid weiß. Nachdem sie eineinhalb Jahre neuen Mut schöpft und ihre Beziehung völlig normal verläuft, hat Paul nun verstärkt den Wunsch eine Familie zu gründen. Zwar sagt er, dass er sie zu nichts drängt, aber redet trotzdem ständig auf sie ein. Marie fühlt sich unter Druck gesetzt, da sie aus ihrer Sicht noch viel zu jung dafür ist und sich außerdem noch in der Ausbildung befindet. „Ich befürchte, dass er mir das ziemlich übel nahm, denn dann änderte sich alles“, sagt sie ernst. Er interessiert sich nicht mehr dafür, etwas mit ihr zu unternehmen. Paul macht ihr klar, dass er bereits überall auf der Welt gewesen ist, alles gesehen 168 169 hat was er sehen wollte und seine Zeit am Wochenende loszuziehen, bereits abgelaufen ist. Doch Marie war jung und unternehmungslustig, ungebunden und in der Blütezeit ihres Lebens. Sie möchte feiern, nächtelang Wachbleiben und das Leben genießen. Seit Monaten sehen sich die beiden, wenn überhaupt, für ein paar Stunden am Wochenende. Ihm fallen immer neue Ausreden ein, weshalb er nicht bei ihr sein kann. Paul ist kaum wiederzuerkennen und hasst plötzlich alles an ihr. Er hasst ihre bunten, mit Blümchen bedruckten Hosen, ihre allgemein farbenfrohe Kleidung, die er sonst doch so gemocht hatte. Er hasst ihr Aussehen und ihr Gewicht und vor allem ihren jugendlichen Elan. Marie befasst sich mit dem Gedanken die Beziehung einfach aufzugeben. Letztendlich streben sie durch ihren Altersunterschied jeweils unterschiedliche Ziele an, welche das reibungslose Zusammenleben erheblich erschweren. Wenn es zum Streit kommt, nimmt er seine Schlüssel, fährt seinen Mercedes mit quietschenden Reifen davon und wartet, bis sich das Problem von alleine löst oder Marie sich bei ihm entschuldigt. „Mehrfach habe ich ihn um ein Gespräch gebeten, doch er beschäftigte sich mit diesen sinnlosen Ballerspielen intensiver als mit unserer Beziehung. Seine Gelassenheit und seine festgefahrene Meinung ärgerten mich sehr“, fügt sie hinzu. Wenn man sich auf eine Beziehung mit einem hohen Altersunterschied einlässt, sollte man offen und ehrlich sein, nicht nur gegenüber dem anderen, sondern auch vor allem zu sich selbst. Darüber hinaus muss man lernen die verschiedenen Lebensphasen, in der sich die Partner befinden, zu akzeptieren. Das wichtigste ist jedoch, dass die Partner gerade in dieser Art von Beziehung Probleme und Zukunftsperspektiven offen diskutieren und die Meinung des anderen akzeptieren lernen. Im April 2014 wartet sie den ganzen Abend und die ganze Nacht auf Paul. Doch er taucht nicht auf. Marie macht sich Sorgen, da sie sich bereits um 18 Uhr verabredet haben. Er nimmt ihre Anrufe nicht entgegen und auf ihre Nachrichten antwortet er auch nicht. Als sie am nächsten Morgen von seinen Freunden erfährt, dass er bei einer anderen Frau übernachtet hat, zögert sie nicht länger und fängt an seine Sachen zu packen, da sie eine Trennung nun als unumgänglich ansieht. Marie parkt ihren silbernen Opel Corsa direkt auf dem Gehweg, der zu Pauls Haustür führt. Sie umklammert die beiden Henkel der Plastiktüte mit zittriger Hand und wartet einen Moment, bevor sie aussteigt. Als sie darüber nachdenkt wieder nach Hause zu fahren, führt sie sich die letzte Nacht und sein Verhalten der letzten Monate vor Augen. Ihre Hände ballen sich bei dem Gedanken zu Fäusten. Doch dann erinnert sie sich daran, dass das Ende der Beziehung auch das endgültige Aus bedeuten würde. Marie erinnert sich, dass sie Paul einmal fragte, was er von Beziehungen hält, die es nach einer Trennung noch ein zweites Mal versuchen. Daraufhin nahm Paul das neben ihr stehende Glas und schmiss es mit aller Kraft zu Boden, während er sagte: „So - und jetzt versuch das mal wieder zusammenzusetzen.“ Sie holt tief Luft und steigt aus dem Auto. Wer den Mut hat eine durch Altersunterschied geprägte Beziehung einzugehen, sollte auch den Mut haben sie wieder zu beenden, wenn sie maßlos zu scheitern droht und daran zerbricht. Dann hämmert sie mit zusammengeballten Fäusten gegen seine Haustür. Als er öffnet, schmeißt sie ihm die Plastiktüte direkt vor die Füße. Mit wutverzerrtem Gesicht, unter dem sie ihre Tränen nicht verstecken kann, sagt sie ihm, dass es aus ist. In der Hoffnung eine Erklärung für sein Verhalten letzte Nacht zu bekommen, bleibt sie noch einen Augenblick stehen. Doch Marie wartet vergebens auf eine Antwort, geschweige denn eine Reaktion, die alles vielleicht ein wenig verändert hätte. Mit seinen Händen in den Hosentaschen beobachtet er das Geschehen und alles was er sagt bevor er die Tür schließt ist: „O.K.“ Das hätte sie von einem Mann, der in seinem Alter eigentlich längst erwachsen sein sollte, nicht gedacht. Marie hat nie erfahren, was in der Nacht wirklich geschehen ist. Alles, was sie weiß ist, dass ihm die Trennung anscheinend nichts ausmachte. Vielleicht kam sie ihm sogar gerade recht. Auch wenn sie heute froh ist, die Beziehung beendet zu haben, wünscht sie sich im Herzen nichts sehnlicher als das eine Gespräch, mit dem sie die Beziehung endgültig abschließen und offene Fragen hätte beseitigen können. 170 171 Auf eigene Gefahr Rettungsboot Du könntest mein Kompass sein Für die Reise der Freifahrtschein Das ruhige Meer nach jedem Sturm Der Hafen und der Leuchtturm Könnten wir nicht beides sein? Schiff und Rettungsboot vereinen Dem Horizont entgegen treiben Zusammen auf den Meeren bleiben Das unfassbar große Loch Wird vielleicht heilen, doch Unter Schutt und Asche begraben Kann es nicht im Rhythmus schlagen Ich könnte dein Anker sein Und im Regen der Sonnenschein Der Wind als treibende Kraft Aus uns die besten Schiffer macht Ja, wir sind das Rettungsboot Wenn das Schiff zu sinken droht Wenn es nicht mehr weiter geht Und sich einfach nichts bewegt Ja wir sind das Rettungsboot Helfen uns auch in der Not Mit Steuer, mast- und Segel bloß Werden wir die Zweifel los Ja wir sind das Rettungsboot! Die Verbindungen sind getrennt Waren nicht verlässlich, denn Diese Trümmer sind von dir Warst vor langer Zeit schon hier Sag bist du mein Rettungsboot Wenn das Schiff zu sinken droht Wenn ich nicht mehr weiter weiß Und der Strick des Segels reißt Sag bist du mein Rettungsboot Und mein Retter in der Not Kein Steuer, mast- und segellos Wie werden wir die Zweifel los? Sag bist du mein Rettungsboot? Mein Herz ist eine Baustelle Der Zugang nur für Notfälle Betreten auf eigene Gefahr Für die Liebe unbewohnbar Die weiträumige Absperrung Schützt das Umfeld, und Soll warnen, ganz und gar Vor baldiger Einsturzgefahr Mein Herz ist eine Baustelle Der Zugang nur für Notfälle Betreten auf eigene Gefahr Für die Liebe unbewohnbar 172 173 Zwei Geschichten, eine Berufung Liebe ist der Grund, warum sie heute da sind, wo sie sind. Das haben beide Frauen gemeinsam, mit denen ich mich treffe. Der Raum, in dem wir uns befinden ist hell und ein grüner Teppich verschönert den Boden. Er erinnert an das frische Gras, das der Frühling nun auch überall hervor bringt. An der Wand hängt ein großes Bild, auf dem ein lichtdurchfluteter Wald abgebildet ist. Die Menschen sollen sich hier wohlfühlen. Sie sollen ihre Ängste und die Scheu verlieren. Ich befinde mich im Gruppenraum der Hospizbewegung Münster. Jede Woche treffen sich hier Gruppen von Trauernden, um über ihre Erfahrungen zu reden. Die beiden Frauen sind dort ehrenamtliche Mitarbeiterinnen. Die Bewegung ist ein 1991 gegründeter gemeinnütziger Verein der Menschen in ihrer letzten Lebensphase begleitet. An einem langen Tisch sitzen wir uns gegenüber. Ich lehne mich mit dem Rücken an eine Holzbank. Zwischen uns auf dem Tisch steht eine Vase mit frischen Rosen. Anita (Name geändert) hat ihre Arbeit erst vor Kurzem begonnen. In einem mehrwöchigen Grundkurs wurde sie für die Sterbebegleitung ausgebildet. Nun kommt sie zu den Sterbenden, um ihnen Gesellschaft zu leisten und die Angehörigen zu entlasten. In den meisten Fällen sind es alte Leute, viele haben niemanden mehr. Ihre erste Begegnung mit der Bewegung hatte sie nach dem Tod ihres Mannes, der im Mai 2004 an Krebs starb. Beide waren Musiker, und sie ist es noch immer. Sie spielt die Geige, er spielte das Cello. Lächelnd erzählt sie davon, wie sie sich im Orchester kennenlernten. Am 2. Juni 1982. Er war 20 Jahre älter, hatte damals noch eine Frau und schon zwei Kinder. Dann stand er auf einmal vor ihrer Tür, den Cellokoffer gefüllt mit seiner Kleidung. Während die Frau mit dem blauen Schal erzählt, lächelt sie. Es war, eine schwierige Zeit nachdem er starb, erzählt sie. Ihr Sohn war erst 13, und auf einmal war sie alleinerziehende Mutter. Als sie dann in die Rente kam, wollte sie etwas tun, Menschen helfen. Da entschied sie sich bei der Hospizbewegung anzufangen. Ihr Mann wurde vor seinem Tod im Johanneshospiz betreut, das hat sie sehr entlastet. Dieses gehört auch zum sogenannten „Trauernetz Müns174 175 ter“, zusammen mit der Hospizbewegung und einigen anderen Einrichtungen wie zum Beispiel auch dem Universitätsklinikum Münster. Sie bemühen sich vor allem auch um eine palliative Behandlung der Sterbenden. Als palliative Therapie oder Palliativtherapie bezeichnet man eine medizinische Behandlung, die nicht auf die Heilung einer Erkrankung abzielt, sondern darauf, die Symptome zu lindern. Die Sterbenden sollen in ihren letzten Momenten keine Schmerzen mehr haben. „Als mein Mann starb, war das noch nicht so selbstverständlich wie heute“ erzählt Anita. „Er wurde jedoch sehr gut versorgt. Aber das Morphium hat er nicht vertragen.“ Morphium ist ein starkes Opiat. Es wird zur Behandlung von starken und stärksten akuten und chronischen Schmerzen verwendet. Anita kommt nun oft mit ihrer Geige zu den Sterbenden. „Die Musik versteht jeder. Sie trifft alle genau hier.“ sagt die zierliche Frau und deutet auf ihre Brust. Eine Kollegin hat einmal ein Bild auf dem Tisch einer sterbenden Frau gesehen, das ihren Mann mit einer Geige zeigte. Da sei sie auf Anita zugekommen und hatte gefragt ob, sie einmal für sie spielen wolle. „Sie war schon sehr teilnahmslos, aber als sie meine Musik gehört hat, ist sie richtig aufgelebt, hat auch mit uns gesprochen. Das war ein schönes Erlebnis.“ Auch meine zweite Interviewpartnerin hat ihren Mann verloren. Er hatte eine Hirnblutung, davon gibt es meistens vorher keine Anzeichen. „Es war als würde einem der Boden unter den Füßen weggezogen.“ Von einem auf den anderen Tag war alles anders. Die gemeinsamen Pläne, und Zukunftswünsche hatten keinen Bestand mehr. „Irgendwie hatte ich die irrationale Hoffnung, dass alles noch besser werden könnte.“ sagt die Frau mit den dunklen, von weißen Strähnen durchzogenem Haar. „Ich wollte es nicht verstehen. Ich wollte ihn nicht gehen lassen.“ Er war ihre Jugendliebe. Zum ersten Mal trafen sie sich im Gymnasium als sie die gleiche Klasse besuchten. Sie schrieb ihm einen Liebesbrief auf einem dieser Sarah Kay Briefpapiere und danach waren wir dann immer zusammen. Sie studierten gemeinsam in Münster. Sie Biologie und er Geschichte. „Er war Autor. Sein letzter Roman ist dann leider nie fertig geschrieben worden. Nach seinem Tod konnte ich mir nicht vorstellen, jemals wieder zu lieben.“ Auch für Judith (Name geändert) wurde der Tod zu einem wichtigen Thema. „Damals hatte ich auch die erste Begegnung mit der Hospizbewegung“ erzählt die schlanke Frau. Sie war zu einer der Trauergruppen gegangen, ins Trauercafé. Hier treffen sich trauernde Menschen bei Kaffee und Kuchen, um mit anderen Hinterbliebenen über ihren Verlust und über das Leben mit der Trauer zu reden. Jeden 1.Freitag im Monat findet in der Sonnenstraße 70, um 15.00 Uhr ein solches Treffen stand. „Ich konnte das dort nicht ertragen. All diese alten Menschen, die davon erzählten, dass sie ihren Partner nach so vielen Jahren verloren hatten. Mein Mann war 39 gewesen. Ich wollte sie anschreien. Sie sollten glücklich sein, dass sie so viel Zeit miteinander hatten.“ Sie lacht traurig. „Das war natürlich falsch. Aber damals konnte ich nur an meinen eigenen Schmerz denken.“ Trauer lässt sich nun mal nicht messen. Das Trauercafé gehört zu einem der vielen Angebote, die die Hospizbewegung anbietet. Genauso werden einem auch Einzelgespräche, Trauergruppen oder gemeinsame Aktivitäten wie Spaziergänge und Kochen angeboten. Alle Angebote sind kostenfrei. Die Hospizbewegung organisiert sich über Spenden. Sie soll ein Ort sein, an dem Menschen Trost finden und sich mit anderen auseinandersetzen können, die vielleicht ein ähnliches Schicksal teilen. „Nach seinem Tod war jede Erinnerung so schmerzhaft, auch die schönen“ erzählt Judith. „Nun bin ich froh. Es gibt Menschen, die leben ein Leben lang und finden niemals das, was ich hatte.“ 176 177 Der Samen Waldspaziergang Meine Augen trafen auf Augen Die tosend die Welt in sich saugten Das Gesicht eine steinerne Maske Die ein trauriges Lachen einfasste Du pflanztest in meinen Kopf einen Samen Und er schlug Wurzeln ohne Erbarmen Bis aus meinen Augen sie traten Und durch mein Gehirn sie sich fraßen Mit einem Pinsel malte ich Farben Die in deinen Lachfalten starben Zart umfassten die dünnen Glieder Meine Schultern wieder und wieder Schon bald trug ich an meinen Trieben Die Früchte von all diesem Lieben Und mit den Früchten Ich fasste sie sachte Zerschlug ich die steinerne Maske Pflanztest in meinen Kopf einen Samen Und er schlug Wurzeln ohne Erbarmen Bis aus meinen Augen sie traten Und durch mein Gehirn sie sich fraßen Du pflanztest in meinen Kopf einen Samen Und er schlug Wurzeln ohne Erbarmen Bis aus meinen Augen sie traten Und durch mein Gehirn sie sich fraßen 178 Geschlechter und Namen gingen verloren Und wir wanderten durch leere Straßen Prall trat uns die Liebe aus all unseren Poren Während wir Freiheit auflasen Und am Ende der Straße sah ich ein Schild Dessen Worte die Ankunft versprachen Du trugst das Wissen und ich trug ein Bild Und an den Füßen schmerzten die Blasen Hinter uns in der Ferne verbrannten sie Geld Der Geruch stach in unsere Nasen Wir lachten und weinten über die Welt Die Lungen gefüllt mit berauschenden Gasen Und am Ende der Straße sah ich ein Schild Dessen Worte die Ankunft versprachen Du trugst das Wissen und ich trug ein Bild Und an den Füßen schmerzten die Blasen Wir fühlten uns frei und waren allein Genau an dem Platz wo wir saßen Wir waren verloren in unserem Dasein So das wir die Wahrheit vergaßen Und am Ende der Straße sah ich ein Schild Dessen Worte die Ankunft versprachen Du trugst das Wissen und ich trug ein Bild Und an den Füßen schmerzten die Blasen 179 Kursteilnehmer Adrian Szymanski S. 124–132 • Liebe Geht durch den Magen • Fairtrade Alina Graeser S. 134–139 • Tauchen Sie ein • Ich will fliegen • Biest und Tier Alina Pickshaus S. 18–25 • Ein Wisch - und weg • Achterbahn • Schokolade Anna Breitling-Stenner S. 174–179 • Zwei Geschichten, eine Berufung • Der Samen • Waldspaziergang Annika Bauchrowitz S. 54–60 • Bis dass der Tod Euch scheidet? • Sandburgen Helena Klaas S. 82–87 • Partnersuche im Wandel der Zeit • Fallen lassen • Seidener Faden Jana Kerkmann S. 118–123 • Kassetten hören • Tag am Meer • Schallplattenladen Jonas Neudorf S. 102–109 • Eine lustvolle Begegnungsstätte • Schatzkiste • Der Bäckers Junge Judith Becker S. 68–73 • Quelle der Liebe • Liebeskater • Nachbarschaftsliebe Katrin Uude S. 146–153 • Ich würde es für mich tun! • Liebe – eine Reise ohne Ziel • Wie die zwei Seiten einer Münze Clara Klein S. 42–47 • Man schaut sich an und weiß genau, was der andere denkt: heute Abend Laura Niggemeier S. 94–101 • Kein einziges Wort nicht mehr • Unvergesslich • Campari oder Bier? • Zu schnell vorbei • Nur Feuer Dominik Kolm S. 68–75 • Offroad Richtung Liebe • In Ruhe lieben • Ein Riss durch mein Geschicht Laura Tschorn S. 10–17 • Liebe zwischen Rollator und Rollstuhl • Kriegstrophäen • Papierherz Malin Neumann S. 26–33 • Türkische Heiraten - Liebe zwischen Prunk, Tradition und Ehre • KLOPFT LEISE • NACH HINTEN GEHEN Eva Scholz S. 166–173 • Den Mut haben, sich ausserhalb der Norm zu bewegen • Rettungsboot • Auf eigene Gefahr Marina Polezajeva S. 88–93 • Phasen der Liebe • Spiele • Handschuh Silvia Berheide S. 160–165 • Man weiß ja schon, worauf man sich einlässt • Fallen gelassen • Die Frau ohne Gegenstück Menso von Ehrenstein S. 110–117 • Wenn ich nicht drangehe, dann wars das für die Woche • Calcium • Sicher entfernen Nora Däuper S. 62–67 • Liebe erwischen • Kölner Gold • Lieblingsmensch Philip Hüwel S. 48–53 • Kuscheltier, Gummihai, Stoffhase, • Tagträume bei Nacht • Soundtrack meines Lebens Sasha Düvel S. 74–81 • Sex und Gewalt • Ich will dich noch so lange sehen wie möglich • Was immer ich bin Valentin Krayl S. 4–9 • Zwischen Bienen und Blümchen • Komm flanier mit mir Veronica Broll S. 34–41 • Schliesslich heiratet man nicht jeden • Ein in sich ruhender Sturm • Eine enge Weste Vivien Filipzik S. 140–145 • Etwas anders • Trampolin • Reset Vivien Helders S. 154–159 • Liebe mit Aussicht auf... • Mausklick • Ich halte dich fest