Die postpartale Beckentorsion
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Die postpartale Beckentorsion
Die postpartale Beckentorsion URSACHE, DIAGNOSE UND THERAPIE VON RÜCKENSCHMERZEN KURZ VOR, WÄHREND UND NACH DER ENTBINDUNG Dr. med. Edgar Berbuer iele gesunde junge Frauen erleben im letzten Schwangerschaftsdrittel, während der Entbindung und insbesondere nach der Geburt erstmals in ihrem Leben starke, quälende Rückenschmerzen. Vielfach sind sie bereit, diese Beschwerden als »normal« hinzunehmen. Oh jedoch halten die Schmerzen über Monate und Jahre an, ohne dass eine Ursache dafür gefunden wird. Nicht selten werden sie dann als »psychogen« oder gar als »hysterisch« eingestuft. Zuletzt glauben die Patientinnen schließlich selbst, »sie haben es an den Nerven«. Eine der häufigsten Ursachen dieser Schmerzen ist die »Beckentorsion« durch eine Blockierung der Kreuz-Darmbeingelenke (ISG = Iliosakralgelenk). Zwei Beispiele mögen dies verdeutlichen: Margarete H., 38 Jahre alt, sucht mich erstmals am 12.Dezember 94 auf. Seit 17 Jahren - nach Geburt ihres ersten Kindes! - hat sie Rückenprobleme. Sie hat zwei Kinder, arbeitet halbtags als Verkäuferin. Ihr Hobby: Tanz in einer Volkstanzgruppe. Der Befund lautete: Druckschmerz über dem rechten Iliosakralgelenk, Beckentorsion, scheinbare Verkürzung des rechten Beines um einen Zentimeter. Die Therapie gestaltete sich folgendermaßen: Nach chirotherapeutischer Lösung der Blockade war die Beinlänge wieder ausgeglichen, das Iliosakralgelenk noch druckschmerzhaft. Die Kontrolle nach zwei Wochen ergab: Beinlänge nach wie vor gleich, die Patientin konnte problemlos stehen, insgesamt war eine deutliche Besserung zu verzeichnen. Karin P, 34 Jahre, kommt im Januar 1994 im achten Schwangerschaftsmonat zu mir. Sie erwartet Zwillinge. Sie war auf einer Treppe ausgerutscht, hatte seitdem kaum zu ertragende Schmerzen. Sie wird vorn Ehemann gestützt zur Untersuchung gebracht. Der Befund lautete: Iliosakralgelenk-Blockade rechts, Beinverkürzung rechts um einen halben Zentimeter. Als Behandlung erfolgte Chirotherapie, mehrfache Reblockaden bis zur Entbindung (dreimal ist das Gelenk erneut blockiert). An 1. April 94 wurden zwei gesunde Buben geboren. Danach instabiles Becken, massive Blockade beider Iliosakralgelenke. Zweimal erfolgte Chirotherapie und kurzzeitige Fixierung mit Beckengurt. Danach war die junge Mutter schnell beschwerdefrei. Diese kurzen Darstellungen zweier typischer Fälle zeigen die Problematik deutlich auf. Wie kommt es nun zu diesen Beschwerden? Komplizierte anatomische Verhältnisse Der Mensch ist das einzige Lebewesen, das in gestreckt-aufrechter Haltung auf zwei Beinen läuft. Dabei sind wir gezwungen, unsere gesamte Wirbelsäule quasi auf dem Becken zu balancieren. Um dies störungsfrei zu bewerkstelligen, ist ein Federungsmechanismus erforderlich, der die Stöße vom auftretenden Bein abfedert und so den empfindlichen Halsund Kopfbereich schützt. Der Federungsmechanismus unserer Wirbelsäule Dies geschieht einerseits durch eine S-förmige Krümmung der Wirbelsäule, andererseits durch eine geringfügige Torsion (Verwindung) unseres Beckens, was wir als Hüftschwung sicherlich alle schon einmal beobachtet haben. Störungen dieses Federungsmechanismus sind gegeben durch Verschleiß (Arthrose), Entzündung (Arthritis) und Blockierung (Verklemmung) von Gelenken im Wirbelsäulen- und Beckenbereich. Arthrosen kommen bei Frauen im gebärfähigem Alter wohl kaum, Entzündungen (Arthritis, Morbus Bechterew, Chronisches Gelenkrheuma oder ähnliches) nur sehr selten vor. Hingegen ist die Blockierung von Gelenken gerade bei jungen Frauen mit oft überbeweglichen Gelenken nicht selten. Insbesondere nach Stürzen, Verheben und so weiter können Blockierungen auftreten, die als »Hexenschuß« fast jeder schon einmal erlebt hat. Hier gilt: Je mehr Beweglichkeit desto häufiger Blockierungen. Hormonelle Beckenlockerung In der letzten Phase der Schwangerschaft wird über eine hormonelle Steuerung das Gelenkgefüge des Beckens gelockert, um bei der Geburt das Durchtreten des Kinderkopfes zu erleichtern. Dadurch bedingt haben nun die Gelenke mehr Spiel, so dass das Risiko einer Blockierrung (Verklemmung, Verdrehung und damit Funktionsstörung) deutlich höher wird. Jetzt genügt ein Vertreten, Stolpern oder ähnliches, um einen »Hexenschuß« oder Dauerschmerzen im Rücken auszulösen. Noch empfindlicher ist der Beckenring in den ersten Tagen nach der Entbindung, besonders nach schweren Geburten. Bereits das erste Aufstehen aus dem Bett oder die Umlagerung vom OP-Tisch nach Kaiserschnitt können hier zur Torsion des Beckens mit Blockierung eines oder beider Iliosakralgelenke führen. Zwangsläufig kommt es dabei zu »Symphysenstörungen« (die Symphyse verbindet die Beckenhälften vorn oberhalb der Scheidenöffnung). Fortgeleitete Schmerzausstrahlung Im Becken, vor den Iliosakralgelenken, liegt ein Nervengeflecht, von wo aus Nerven in Leiste, Schamlippen, Scheide und Gebärmter sowie den gesamten Unterbauch ausstrahlen. Eine Blockierung dieser Gelenke kann dann zu Symptomen in den genannten Bereichen führen. Oft ergibt dann eine gynäkologische Untersuchung keinerlei pathologischen Befund. Nicht selten haben dann die verzweifelten Patientinnen sich schließlich - ohne Erfolg - die Gebärmutter entfernen lassen. Bei entsprechenden Beschwerden sollte man also unbedingt auch an die Wirbelsäule als mögliche Ursache denken. Scheinbare Beinverkürzung Da die Hüftgelenke jeweils in einer Beckenhälfte liegen, kann es durch eine Beckentorsion zum einseitigen Hüft-Hochstand und damit zu einer scheinbaren Beinverkürzung auf dieser Seite kommen. Gleichzeitig fällt der Federungsmechanismus aus. Jeder Schritt wird dann ungedämpft auf die untere Lendenwirbelsäule übertragen und kann dabei zu andauernden Rückenschmerzen führen. Untersuchung und Diagnose Die Untersuchung kann ohne jegliche technische Hilfsmittel durchgeführt werden. Sie erfolgt im Stand und in gestreckter Bauch und Rückenlage: Im Stand betrachten wir das Becken, speziell die Beckenkämme, dann die beiden Grübchen über dem Kreuzbein (Spina iliaca posterior superior). Im Normalfall stehen sowohl Beckenkämme als auch Grübchen gleich hoch. Befinden sie sich jedoch unterschiedlich hoch, speziell das Becken auf der einen und das Grübchen der Gegenseite höher, besteht Verdacht auf eine Torsion des Beckens. Dann markiert man die Grübchen beiderseits mit den Daumenkuppen und bittet die Patientin, sich nach vorn zu beugen. Im Normalfall laufen dann die beiden Daumen gleichmäßig mit, bei einer einseitigen Blockierung des Iliosakralgelenkes läuft ein Daumen voraus (Vorlauf-Phänomen). Im Liegen auf dem Rücken (bei Schwangeren) oder besser in Bauchlage legt man die Innenknöchel der Füße aneinander und kontrolliert so die Beinlänge. Der Körper muß dabei absolut gerade liegen, der Kopf darf nicht zur Seite gedreht sein. Es kann eine echte Beinverkürzung vorliegen (zum Beispiel nach Frakturen) aber auch eine scheinbare, durch Beckentorsion vorgetäuschte. Dies muß ein erfahrener Therapeut klären. Warum lassen uns Röntgen, Computertomogramm und Kernspin -Tomogramm im Stich? Diese sogenannten »bildgebenden Verfahren« liefern zweidimensionale Abbildungen, obwohl zumindest Computer- und KernspinTomogramm im Prinzip dreidimensional arbeiten. Die Beurteilung jedoch geschieht am Bildschirm oder dem zweidimensionalen Bild. Die Beurteilung einer Torsion des Beckens ist somit kaum möglich. So ergeben sich oft Normalbefunde, und die Patienten schließen häufig und fälschlich daraus: »sie haben nichts«. Nur die manuelle Untersuchung hilft hier weiter. Die Chirotherapie hilft hier schnell und sicher Nach Absicherung der Diagnose kann der erfahrene Chirotherapeut selbst langjährig bestehende Iliosakralgelenk Blockierungen beseitigen. Dieses Verfahren ist schwierig besonders bei der Schwangeren - und nur etwas für geübte Hände. In spezieller Lagerung wird mit kurzem »Ruck« das Gelenk aus seiner Fehlstellung befreit, begleitet von deutlich hörbarem »Knacken«. Bei sehr gelockerten Gelenken oder bereits veränderter Gelenkkapsel ist kurzzeitig eine Beckenfixiereng mit einer Bandage erforderlich. Dann bis zur nächsten Schwangerschaft ` Barbara H. sah ich 1992 mit einer Beckentorsion fünf Monate nach ihrer ersten Ent bindung. Nach zwei Behandlungen war sie beschwerdefrei. Vor vier Wochen erschien sie erneut - drei Monate nach ihrer zweiten Entbindung. Der Befund war fast identisch. Nach der zweiten Behandlung haben wir uns lachend bis nach der nächsten Geburt verabschiedet. Es scheint also eine gewisse Veranlagung zu bestehen, eine IliosakralgelenkBlockade zu bekommen, abhängig vom sogenannten »individuellen Gelenkspiel«. Wer darum weiß, kann entsprechend vorbeugen: Wer »hypermobil« ist, das heißt, wessen Gelenke lockerer sind, sollte zumindest in der Schwangerschaft auf ruckartige Bewegungen (Jogging, Tennis, Ballspiele, Aerobic und ähnliches) verzichten. Dies gilt auch für die ersten sechs Wochen nach der Entbindung. Wenn eine Frau nach der Entbindung noch »watschelt«, als sei sie noch schwanger, sollte an eine Beckentorsion gedacht werden. »Watscheln« ist Selbsthilfe der Natur bei gestörter Federung. Frühzeitig sollte mit Schwangerschaftsgymnastik begonnen werden. Bei auftretenden Schmerzen sollte man selbst oder mit Hilfe des Partners die Beinlänge kontrollieren. Appell an unsere Hebammen Man kann nur diagnostizieren, was man kennt. Nur wer um die Möglichkeit einer Beckentorsion, einer Iliosakralgelenk-Blockade mit all ihren Auswirkungen weiß, kann sie auch feststellen. Hier sind insbesondere die Hebammen gefordert, die den engsten Kontakt mit der Schwangeren haben. Aber auch Gynäkologen sollten sich mit den - zugegeben: auf den ersten Blick etwas außerhalb ihres Fachgebietes liegenden - Problemen von Wirbelsäule und Becken beschäftigen. D a r a n D e n k e n i s t a l l e s! Das weitere kann der Spezialist besorgen. Ich hoffe, dass ich mit dieser Einführung in ein leider - wenig bekanntes Problem der Schwangeren und jungen Mutter Verständnis und Aufmerksamkeit für Rückenschmerzen in dieser Phase wecken kann. Vielleicht bleibt dann diesen Frauen ein langer Leidensweg erspart, vielleicht werden dann derartige Beschwerden nicht mehr aus Unwissenheit als »psychosomatisch« abgetan.