Character-Ausgabe 8
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Character-Ausgabe 8
echtes. private. banking. Ausgabe 8 — Januar 2016 Character im Porträt Nico Hofmann Der Filmproduzent über Kreativität, Stress und seine weibliche Seite 6 — 17 Erfolgreich mit Asperger Das IT-Unternehmen Auticon und die Stärken seiner Mitarbeiter 52 — 5 5 Das Ding mit dem Swing Das Comeback einer alten Partykultur 58 — 6 5 Gegenwart 2 Editorial Die Freiheit der Phantasie ist keine Flucht in das Unwirkliche; sie ist Kühnheit und Erfindung. Eugène Ionesco, 1909 – 1994, französisch-rumänischer Autor Character 3 Januar 2016 Liebe Leserin, lieber Leser, wie entsteht unser Bild von der Welt? Letztlich basiert es – wenn wir es genau nehmen – aus vielen kleinen und persönlichen Erlebnissen, die wir täglich machen und die wir zu einem großen Ganzen zusammensetzen. Tun wir dies immer mit kühler Überlegung? Oder spielen dabei nicht vielmehr Emotionen und Kreativität eine Rolle? Letztlich macht doch das Unberechenbare, das NichtPerfekte die Welt erst bunt und besonders. Unser Bild von der Welt setzt sich aus den verschiedensten Ausschnitten zusammen. Die meisten sind geprägt von Charakteren! Jemand, der im wahrsten Sinne des Wortes Bilder von der Welt entwirft, ist unser Character Nico Hofmann. Er ist ein „Kreativer“ im besten Sinne – ein Regisseur und Filmproduzent, der uns mit seinen Werken in die verschiedensten Welten führt. Seine Geschichten unterhalten uns, weil sie mit Emotionen spielen, Spannung erzeugen, einen eigenen Blick auf die Welt gewähren. Um dies alles zu schaffen und die Menschen immer wieder zu begeistern, dazu braucht es zweifellos Charakter. Ein buntes Bild bietet die Kultur der Tamilen in Dortmund. Die Stadt liegt zwar im Herzen von Westfalen, doch zugleich ist sie eine zweite Heimat für viele Flüchtlinge des sri-lankischen Bürgerkriegs. Mit ihren farbenfrohen Traditionen ergänzen die Tamilen heute das Stadtbild. In einer ganz eigenen Welt leben dagegen AspergerAutisten: Sie nehmen ihre Welt nicht so wahr wie wir, sondern tun dies tatsächlich streng strukturiert. Sie besitzen somit eine ganz besondere Stärke, mit der sie dank des ITUnternehmens Auticon auf dem Arbeitsmarkt Fuß fassen können. Das Bild der Welt wandelt sich mit der Zeit – doch finden sich immer wieder Überbleibsel der Vergangenheit darin. Das betrifft einerseits die Technik: Die Schallplatte, die wir in Zeiten von CD und HD-Streaming längst als Relikt von damals verstanden haben, erlebt derzeit einen immensen Boom. Davon profitiert das Unternehmen Pallas, das alte Vinyl-Pressen nie zum alten Eisen gegeben hat. Wieder up to date sind andererseits auch Manieren und Mode von früher: Dies zeigt eine besondere Partyszene, die das Lebensgefühl der Swing-Ära aus den 1920ern und 1930ern – darunter auch der Handkuss – wieder aufleben lässt. Apropos: Der respektvolle Umgang miteinander ist nicht nur beim Feiern gefragt. Viel wichtiger ist er in der Wirtschaft: Das Unternehmen GEPA setzt sich deshalb für fairen Handel ein und sorgt dafür, dass die Erzeuger in den Schwellenländern angemessen bezahlt werden. Dies alles zeigt: Die Welt um uns herum ist bunt. Das Bild von ihr ist mal chaotisch, mal strukturiert, mal kreativ, selten perfekt. Und es ist stets geprägt von besonderen Charakteren. Bleiben wir im Dialog! Aus dem Bethmannhof grüßt Sie herzlich horst schmidt Vorstandsvorsitzender der Bethmann Bank Gegenwart tradition Neue alte Schallplatte Das niedersächsische Unternehmen Pallas und der Vinyl-Boom Inhalt 4 gegenwart 26 Kreativer Globetrotter Nico Hofmann: Co-CEO der UFA, Regisseur, Filmproduzent, Gründer und Erfinder 6 58 Tradition bes(ch)wingt! Die Partykultur entdeckt die Ausgelassenheit der 1920er und -30er Jahre Alles rauslassen – aber richtig! Über die Vorteile des kleinen Ärgers www.bethmannbank.de 20 Character Januar 2016 5 zukunft Überblick 6 Character im Porträt Nico Hofmann Co-CEO der UFA, Regisseur, Filmproduzent, Gründer und Erfinder 32 Eine ganze Menge Holz Der unterschätzte Rohstoff und die nachhaltige Nutzung 18PERSPEKTIVenWECHSEL Der Service Hohe Schule des Willkommens 20Werte im Wandel Gelassenheit ist auch keine Lösung Die Kunst, sich richtig aufzuregen 24Hello / Goodbye Ohne App ein Depp? Vom Festnetz zum Smartphone 26Unternehmen mit Tradition Alte Technik – neue Musik Pallas: Eines der letzten Vinylpresswerke 32 Für morgen Auf dem Holzweg Ein unterschätzter Rohstoff 34 12 Dinge, die man tun sollte Visionen wachsen lassen Von Nico Hofmann 36Mehrwerte Shiva auf Westfälisch Die tamilische Gemeinde in Dortmund 42Kleine Schätze des Alltags Wirtschaftskrimi und Technikwunder Der ReiSSverschluss Asperger auf dem Arbeitsmarkt Das IT-Unternehmen Auticon nutzt die Stärken von Autisten 52 44Zwischen kommerziell und karitativ Ist fair wirklich fair? Das Fair-Trade-Unternehmen Gepa 48Zahlen, bitte! Intelligenz Eine Sache der Gene oder der Umwelt? 50 Lieblingsstücke 7 Schauspieler, die mir am Herzen liegen Von Nico Hofmann 52Unternehmen der Zukunft Strukturiert und direkt Auticon: Asperger auf dem Arbeitsmarkt 56 2 ausgewählte Zitate 1 Von Nico Hofmann 58Panorama Das Ding mit dem Swing Eine Partyszene mit alten IDEALEN 66Impressum Gegenwart 6 Porträt Co-CEO der UFA, Regisseur, Filmproduzent, Gründer und Erfinder Nico Hofmann Interview: Dona Kujacinski Fotos: marc krause Vor einem Altbau in Berlin-Charlottenburg stoppt eine Limousine. Im Fond sitzt Nico Hofmann, der vielfach ausgezeichnete Regisseur, Filmproduzent, Gründer der Filmproduktionsfirma teamWorx und Erfinder der Eventmovies wie „Der Tunnel“, „Die Flucht“, „Der Turm“ oder „Unsere Mütter, unsere Väter“. Er ist auf die Minute pünktlich, gut gelaunt, aber in Eile. Wie immer. Time is money. www.bethmannbank.de Character Seltener Auftritt: Nico Hofmann eilt in seine Dachgeschosswohnung. Unter dem Arm klemmt die Bild, die er täglich liest. Über der Schulter hängt eine Umhängetasche mit Papieren, an der Wand ein Gemälde der Künstlerin Bettina Schünemann. Eine Stunde später ist er wieder weg. 7 Januar 2016 Gegenwart 8 Im Laufschritt geht es in seine Dachgeschosswohnung, die nicht nur auf den ersten Blick unbewohnt wirkt. Sie ist es. Nicht ein Staubkorn weit und breit. Nico Hofmann fröhlich, aber irgendwie auch ein klein bisschen schuldbewusst: „Ich lebe vielleicht 30 Tage im Jahr hier. Die restliche Zeit verbringe ich meist in Flugzeugen, Hotelzimmern und bei Besprechungen. Meine Putzfrau hat mich erst neulich wieder gefragt, warum sie hier so oft saubermachen muss.“ Herr Hofmann, wo ist Ihr Zuhause? Zuhause ist da, wo ich mich wirklich wohlfühle. Das ist meine Berliner Stadtwohnung, aber auch meine Dependance am Wannsee, in der ich momentan etwas öfter bin, seit die UFA ihren Firmensitz von Berlin nach Potsdam-Babelsberg verlegt hat. Aber ich gebe zu, dass ich die meiste Zeit in Flugzeugen und Hotelzimmern lebe. Für manche Menschen ist das eine bizarre Vorstellung, aber es ist so. Um wenigstens eine einigermaßen vertraute Umgebung zu haben, buche ich in den Hotels der Städte, in denen ich dauernd bin, immer das gleiche Zimmer. In Hamburg ist es die Nummer 664 im Park Hyatt, in München die 2001 im Westin Grand, in Mainz die 501 im Hyatt Regency und in L.A. die 535 im Beverly Hilton. Welche Bedeutung hat Ihr Zuhause für Sie? Es hat für mich mit Geborgenheit zu tun, mit einem Ort innerer Freiheit, der auch Inspiration zulässt. Und das kann ab und zu auch schon mal ein Transatlantikflug sein. In den letzten Jahren ist allerdings meine Wohnung am Wannsee zu einem Sehnsuchtsort geworden. Von meinem Schlafzimmerfenster aus sehe ich den Yachthafen. Ich wollte die Wohnung vor drei Jahren verkaufen und bin froh, dass ich das nicht getan habe. Aus welchem Grund? Weil die Natur, die Ruhe dort für mich mit zunehmendem Alter immer mehr an Bedeutung gewinnt. Ich habe gerade den Bootsführerschein gemacht und verbringe, sooft es geht, viele Stunden auf meinem Boot. Meine Vision ist es, auf meiner 12 Meter langen Bavaria-Sportyacht drei Tage lang allein über die Müritz zu fahren, um mich von allem komplett zu entfernen. Mir tut Wasser einfach gut. Die Liebe dazu habe ich von meinem Großvater mütterlicherseits geerbt, der Chefangler etlicher Angelvereine war. Sie stammen aus einer Mannheimer Journalistenfamilie. Ihr Vater schrieb für die Rheinpfalz und Reden für Willy Brandt. Ihre Mutter war Wirtschaftsredakteurin bei der „FAZ“. Als Sie Oma, Mutter, Schwester. Männliche Wesen um mich herum gab es nicht. dreizehn waren, ließen sich Ihre Eltern scheiden. Wie tief hat Sie das getroffen? Tief, weil meine Gefühle natürlich verletzt wurden. Die nächste große Herausforderung nach der Scheidung war meine emanzipatorische, alleinerziehende Mutter mit einem entsprechenden Erziehungsstil. Bevor Simone, meine jüngere Schwester, die Küche www.bethmannbank.de Porträt putzen musste, durfte ich das tun. Ich kann mir das heute nur damit erklären, dass sich meine Mutter als damals einzige Frau in der Männerdomäne Wirtschaftsredaktion emanzipieren musste und dies auch bei der Erziehung ihrer beiden Kinder für notwendig hielt. Bei uns zu Hause stand die Emanzipation über allem. Ein Nachteil? Im Gegenteil. Ich kann überhaupt nicht mit Frauen arbeiten, die nicht emanzipiert sind. Emanzipation reizt mich nicht nur, ich will die Gleichberechtigung auch. Wenn ich das Gefühl habe, eine Frau biedert sich an, ist nicht emanzipiert, habe ich kein Interesse. Ich brauche solche weiblichen Gegenparts wie meine Assistentin Anke Westedt oder unsere Juristin Susanne Bergmann. Ich habe auch teamWorx mit drei starken Frauen gegründet: Mit Ariane Krampe und Doris Zander, die heute erfolgreich als selbstständige Produzentinnen unterwegs sind, und mit Bettina Reitz, die jetzt Präsidentin der Hochschule für Fernsehen und Film in München ist. Bei der UFA arbeite ich daran, dass wir ein noch ausgewogeneres Männer-Frauen-Verhältnis bekommen. Haben Sie eine weibliche Seite? Sogar ganz massiv. Ich gucke jeden Film weiblich. Immer. Das liegt einerseits daran, dass die Mehrzahl meiner Zuschauer Frauen sind, andererseits, dass ich in einem Frauenhaushalt aufgewachsen bin: Oma, Mutter, Schwester. Männliche Wesen um mich herum gab es nicht. Meine Großväter waren tot, mein Vater weg. Dadurch ist in meiner Jugend mein tiefes Verständnis für Frauen entstanden. Wie ist das Verhältnis zu Ihrer Mutter heute? Meine Mutter ist 85 und noch mehr unterwegs als ich. Das muss man erst mal hinkriegen. Sie ist kulturell unheimlich gebildet, immer noch eine ausgesprochen kommunikative Frau mit einer enorm hohen Durchsetzungskraft und einem sehr starken Ehrgeiz. Sie ist die Patin von Mannheim. Meine Mutter hat nicht nur zwei Mal aktiv im Bürgermeis- Character terwahlkampf mitgewirkt, den der Mann auch jedes Mal gewann, sie ist nach wie vor auch unglaublich gut mit Wirtschaftsgrößen verzahnt. An unserem Wohnzimmertisch wurde schon der eine oder andere interessante Deal geschlossen. Wenn man meiner Mutter gegenübersitzt und mit ihr spricht, denkt man, sie ist 30 Jahre jünger. Partizipiert sie an Ihrem Erfolg als Produzent? Nein, sie ist autonom. Ich habe eher von ihren guten Beziehungen profitiert und in ihrem riesigen Bekanntenkreis gute Kontakte knüpfen können. Aber ich denke, sie ist stolz auf mich. Fragen Sie sie gelegentlich nach ihrer Meinung? Ich frage sie massiv danach. Bei der Weichenstellung in Bezug auf den Chefposten bei der UFA war das für mich ganz wichtig, weil es Januar 2016 9 dabei um meine letzten entscheidenden zehn Berufsjahre ging. Es gab ja auch noch die Idee der Selbstständigkeit mit meinem Kollegen Jan Mojto in dessen Familienunternehmen. Welchen Rat gab Ihnen Ihre Mutter? Sie hat gesagt: Du musst dahin gehen, wo dein Herz schlägt. Am Ende war die Entscheidung klar: Ich bleibe da, wo ich mich immer wohlgefühlt habe – bei Bertelsmann und der UFA. Dort habe ich, ohne dass es eitel klingt, alles erreicht, was ich in meinem Berufsfeld erreichen kann. Bis auf den „Oscar“ vielleicht … Was ist das Wichtigste, das Sie von ihr mit auf den Lebensweg bekommen haben? Absolute Integrität gegenüber Freunden und Menschen, mit denen man arbeitet. Keine Kreativität? Kreativität kann man nicht erben und auch nicht lernen. Kreativität hat man oder man hat sie nicht. Aber man kann Menschen, die kreativ sind, auf ihrem Weg, noch kreativer zu werden, begleiten. Das tue ich als Professor für den Fachbereich „Szenischer Film“ an der Filmakademie in Ludwigsburg in BadenWürttemberg. Sind Frauen kreativer als Männer? Die guten Männer haben einen sehr starken weiblichen Anteil, gute Frauen haben einen sehr starken männlichen Anteil. Als Produzent muss man eine sehr starke weibliche Seite haben – geschmacklich und in der Sensibilität. Sonst funktioniert es nicht. Salonlöwe: Der designierte CEO der UFA in seinem Wohnzimmer. Das Bild hinter ihm ist ebenfalls von Bettina Schünemann, die farblich passenden Vasen sind aus Murano Glas. Der alte Sessel von Walter Knoll ist seit Ewigkeiten in seinem Besitz. Gegenwart 10 Porträt Von der Garage in den Olymp der deutschen Filmwirtschaft Nico Hofmann, der zu den erfolgreichsten Filmschaffenden Deutschlands gehört, wird 1959 in Heidelberg geboren. Mit zwölf entdeckt er seine Leidenschaft für den Film, dreht mit einer Super-8-Kamera die Lesebuchgeschichte „Kapitän Frisell operiert“ und zeigt ihn in der Garage seiner Eltern. Der Eintritt kostet 10 Pfennig. Nach dem Abschluss an der Münchner Filmhochschule wird er 1983 Regisseur, feiert Erfolge mit „Der Sandmann“ oder „Solo für Klarinette“. 1998 wechselt er ins Produzentenfach, erreicht mit „Tanz mit dem Teufel – die Entführung des Richard Oetker“, „Mogadischu“, „Der Fall Jakob von Metzler“ oder „Der Medicus“ Millionen Menschen. Auszeichnungen wie der „Adolf Grimme Preis“, „Bambi“, der „Deutsche Filmpreis“, „Die Goldene Kamera“ oder der Internationale „Emmy Award“ krönen sein Werk. Seit 1995 lehrt er als Professor den Fachbereich „Szenischer Film“ an der Filmakademie Baden-Württemberg in Ludwigsburg. Seit dem 1. September 2015 ist er Co-CEO der UFA, im September 2017 übernimmt er die alleinige Leitung. Nico Hofmann lebt in Berlin. www.bethmannbank.de Character 11 Januar 2016 Perfekte Ordnung: Im Regal sind Bücher und CDs penibel nach Themen geordnet. Hinter Hofmann ist ein Blick in sein Büro zu erhaschen, in dem auch ein Laufband steht. Gegenwart Kreativität kann man nicht erben und auch nicht lernen. Kreativität hat man oder man hat sie nicht. Was ist das Schöne am Produzentendasein? Die Begegnung mit Menschen. Ich persönlich habe immer wieder Begegnungsmöglichkeiten, die andere vielleicht nicht haben. Im September dieses Jahres war ich bei Siegfried und Roy in Las Vegas, bin mit Siegfried im Golfwagen durch sein „Little Bavaria“ gefahren und habe anschließend mit ihm bei 40 Grad Außentemperatur in einem Leopardenkäfig Champagner getrunken. Das sind Momente, die man im Leben nicht allzu oft hat. Im September 2017 scheidet Ihr Vorgänger und jetziger Co-CEO Wolf Bauer aus der Spitze der UFA-Gruppe aus. Sie führen das Unternehmen von da an allein. Gibt es eine Vision für Ihre zukünftige Aufgabe? Ich möchte noch zwei, drei Produktionen im Jahr selber machen. Mehr geht nicht. Als ich neben der UFA-Fiction noch die UFA-Cinema mitgeführt habe, habe ich gelernt: Man kann nicht zwei Firmen mit der gleichen Intensität leiten. Dafür ist die UFA als europäischer Marktführer auch zu wichtig. Deshalb ziehe ich mich am 1. Januar 2016 aus der Geschäftsführung der UFA-Fiction zurück. Wolf Bauer brauchte sich um die fiktionalen Produktionen kaum Sorgen zu machen. Er hatte Sie. Ihr Gespür für erfolgreiche Filmstoffe, neue talentierte Schauspieler oder Ihr Verkaufstalent gelten in der Branche als Rarität. 12 Wer füllt die Lücke? Ich habe eine starke Vision von einem Kreativteam um mich herum und den Ehrgeiz, das große Schiff UFA noch erfolgreicher zu machen. Dass sich meine Tätigkeit als CEO ausschließlich auf eine höhere Verwaltungstätigkeit beschränkt, könnte ich mir auch nicht vorstellen. Verraten Sie uns, wie Sie den Erfolg der UFA-Gruppe steigern wollen? Da gibt es nur die Maßgabe der qualitativen Exzellenz. Das ganze Team muss nicht nur den Ehrgeiz haben, am Zeitgeist dranzubleiben, wir müssen auch mit größtmöglichem Einsatz dafür sorgen, dass die beste Qualität, die besten Programme aus unserem Haus kommen. Das gilt für die Fiction ebenso wie für den Showbereich, die Soaps, die Serials oder die Kinoformate. Sie werden in Zukunft noch weniger Freizeit haben. Das Gute daran könnte sein, dass Sie keine eigene Familie haben. Haben Sie dieses Lebensmodell je vermisst? Nein, weil ich überzeugter Einzelgänger bin. Was fasziniert Sie daran? Die Unabhängigkeit, die man hat. Die geht jedoch nur, wenn man einen stabilen und verlässlichen Familien- und Freundeskreis hat. Dazu gehören natürlich meine Mutter, mein Vater und meine Schwester mit ihrer Familie, aber auch meine Assistentin Anke Westedt, Marc Eiselt, der mich seit Jahren fährt, weil ich keinen Führerschein habe, oder Maria Furtwängler. Alles Menschen, die mich dermaßen gut kennen und denen ich komplett so vertraue, dass ich mich völlig fallen lassen kann. Gelingen in so einem stressigen Berufsleben noch längere Pausen wie Urlaube? Diese Pausen nehme ich mir. Früher war ich viel auf Bali und auf Mauritius, heute bevorzuge ich Dubai und dort das Park Hyatt, weil mir deren Fitnessprogramm sehr zusagt. Meine größte Entdeckung in letzter Zeit ist jedoch die Villa Stefanie im Brenners Park Hotel in Baden-Baden. Dort hat man sich komplett auf www.bethmannbank.de Porträt den Medical Spa fixiert. Die Güteklasse liegt mittlerweile auf internationalem Top-Niveau. Ich war dieses Jahr bereits dreimal zehn Tage dort und muss sagen: Der Erholungseffekt war genial. Ich durchlaufe jedes Mal das komplette Ernährungsprogramm Detox, mache Yoga, Pilates und absolviere mit einem Trainer ein Thai-Kickbox-Programm. Pilates mache ich übrigens jeden Morgen, egal wo. Zu Hause kommt ein leichtes Lauftraining auf dem Laufband dazu. Wenn Sie in der Villa Stefanie sind, bleibt dann das Telefon stumm? Ich habe das schon hinbekommen, weil ich besser abschalten kann als früher und die Erfahrung gemacht habe, dass sich viele Dinge von allein erledigen. Können Sie auch mal an nichts denken? Höchstens auf meinem Boot am Wannsee. Da bin ich weg von der Welt in einer anderen Beruhigung. Sie sprechen meist schnell, man hat das Gefühl, dass Sie ständig unter Hochspannung stehen. Was treibt Sie an? Die Lust und die Neugier auf Menschen, auf neue Stoffe, das ist Tag und Nacht meine Triebfeder. Wenn Sie in den Spiegel schauen, welche Stärken erkennen Sie und welche Schwächen? Meine größte Stärke ist sicher, dass ich Menschen auf eine Reise mitnehmen kann und dass ich sehr überzeugungsstark bin. Meine größte Schwäche ist meine Ungeduld, die ich langsam in den Griff bekomme. Früher war sie ganz schlimm. Alles musste gleich sein. Sofort. Vorgestern. Ungeduld ist ein großes Problem, da aus ihr eine Cholerik, ein falscher Tonfall, eine falsche Entscheidung entstehen kann. Je älter ich werde, desto mehr versuche ich emotional ruhiger zu werden, erstmal in Ruhe zuzuhören und nicht gleich aus der Haut zu fahren. Alles mit Bedacht zu tun, wird für mich immer wichtiger. Character Hofmann am Schreibtisch: auch hier kein kreatives Chaos. Er liest im Pressespiegel der Nibelungen-Festspiele Worms, deren Intendanz er 2015 von Dieter Wedel übernahm. Am Empfang von Ex-Bundespräsident Christian Wulff und seiner Frau Bettina nahm er am 12. Februar 2012 teil. Am 17. Februar 2012 trat Wulff zurück. 13 Die Lust und die Neugier auf Menschen, auf neue Stoffe, das ist Tag und Nacht meine Triebfeder. Januar 2016 Gegenwart 14 www.bethmannbank.de Porträt Character 15 Januar 2016 Lederjacken-Fan: Hofmann liebt das kurze Modell. Dazu trägt er gern akkurat gebügelte Hemden in Weiß- oder Blautönen. Die Bücher von Erich Fromm und Christa Wolf gehören zu seiner Lieblingslektüre. Gegenwart Spaziergang: von zu Hause zum Termin beim Italiener in der Nähe. Dazu gehört stets ein kurzer Stopp vor der „Filmkunst 66“, dem Kino von Hofmanns Kolleginnen Regina und Tanja Ziegler. 16 Porträt Character Aus falschen Entscheidungen können Niederlagen entstehen. Wie gehen Sie damit um? Niederlagen sitzen bei mir extrem tief, weil ich sehr schmerzempfindsam bin. So etwas kann mich komplett weghauen, auch für Tage. Aber es gelingt mir am Ende meistens durch eine gnadenlose und selbstkritische Analyse zu verhindern, dass dasselbe noch mal passiert. Fürchten Sie Niederlagen? Nein. Ich fürchte mich vor Ignoranz, Nichttalent und schlechten Filmen. Für wie gefährlich halten Sie Erfolg? Erfolg ist nur dann gefährlich, wenn er zu einer gewissen Selbstgenügsamkeit, zu einer gewissen Selbstbeweihräucherung verführt. Solange er anstachelt, eine Dynamik in einem freisetzt, ist er etwas, das einen weitertreibt, vorantreibt. Sie sind extrem erfolgreich. Wie viel Egoist steckt in Ihnen? In mir steckt ein ganz gehöriger Egoist, wobei in meiner Welt Egoismus auch bedeutet, eine gewisse Durchsetzungskraft, ganz klare Ziele zu haben. Einen gesunden Egoismus erwarte ich auch von meinen Mitarbeitern. Dinner-Time: Nico Hofmann im „Il Calice“ in Berlin. Hier traf er Größen wie Hape Kerkeling, Sandra Maischberger oder Natalia Wörner. Das Prickelende daran: Der Produzent trinkt ausschließlich Champagner, weil er kein anderes alkoholisches Getränk verträgt. 17 Mögen Sie sich? Ja, ich mag mich. Nicht überall, aber ich finde, dass ich mein Berufsleben bis jetzt so hinbekommen habe, wie ich es mir vorgestellt habe. Manchmal auch mit dem Mut zu Risiken, von denen ich nicht wusste, wie sie ausgehen und ob sie mich beschädigen. Sind Sie manchmal auch feige oder konfliktscheu? Konfliktscheu ganz sicher gar nicht. Im Gegenteil. Feige bin ich im tiefsten Privatleben, also bei wirklich intimer körperlicher Nähe. Da gibt es auch Beziehungsängste. Wenn ich an dieser Stelle mutiger wäre, würde ich mein Privatleben ganz sicher anders leben. Liegt das möglicherweise daran, dass Sie glauben, man könnte Sie wegen Ihres Erfolges mehr lieben anstatt um Ihrer selbst willen? Keine Sorge, ich kann sehr genau unterscheiden, wer an mir als Person interessiert ist und wer nicht. Auf meine Menschenkenntnis kann ich mich verlassen. Auf Ihr Bauchgefühl auch? Unbedingt, und auf meinen Instinkt. Beides kann ich aber nicht erklären. Januar 2016 Sie haben täglich mit Stars zu tun. Viele von ihnen sind kapriziös, haben Allüren. Wie viel Diva steckt in Nico Hofmann? Ich habe gelernt, meine Wirkung, auch die mediale, ganz klar einzusetzen. Auch strategisch. Das gebe ich gern zu. Aber eine Diva bin ich nicht. Was war das Verrückteste, das Sie sich bis jetzt in Ihrem Leben geleistet haben? In der Umbruchsphase vom Regisseur zum Produzenten habe ich in Wiesbaden mit Hannelore Elsner die Anwaltsserie „Alles Paletti“ gedreht. In einer Nacht war ich so unglücklich, dass ich mit ihr die komplette Minibar leer getrunken habe. Danach war ich so betrunken, dass ich über ihrer Suite im obersten Stock des Hotels auf dem Dachfirst saß und mich fünf Leute von dort entfernen mussten. Diese Nacht werde ich nie vergessen. Auch weil sie wirklich lebensgefährlich war. Gegenwart 18 Perspektivenwechsel der service Sich in den Gast hineinversetzen Man braucht Kraft, physisch wie psychisch. Das frühe Aufstehen, die Überstunden, das viele Gehen und lange Stehen. Schwer fiel mir am Anfang, die Tabletts zu stemmen und zu tragen. Inzwischen sind meine Armmuskeln stark genug, und ich kann das Gewicht besser balancieren. Im Hotel durchlaufe ich vom Empfang über die Restaurants bis zum Zimmerservice alle Stationen. Am spannendsten ist der Bankettservice. Er reicht von kleinen Geschäftsbesprechungen bis zu Gala-Dinners mit 700 Personen. Sie sind meine Highlights. Ich genieße die Exklusivität, die prominenten Gäste und vergesse die Anstrengung. Wer in diesem Beruf arbeiten will, muss den Kontakt mit Menschen lieben. Entscheidend ist, sich in den Gast hineinzuversetzen. Ich beobachte deshalb sein Verhalten, wenn ich anfange, ihn zu bedienen. Will er eine Weinempfehlung, achtet er auf Etikette? Oder ist er locker, unterhält sich, macht eine lustige Bemerkung? Am meisten Spaß machen mir Gäste, die das Hotel zum ersten Mal erleben und von allem begeistert sind. Die meisten Gäste sind freundlich, aber es gibt einige, die legen es darauf an, zu nörgeln. Da heißt es: lächeln, weitermachen, ruhig bleiben. Frauen sind auf andere Art anstrengend als Männer, sie können wählerisch oder zickig sein. Männer neigen dazu, einen herablassend zu behandeln. Am meisten stört mich, wenn mich jemand duzt. Dann sieze ich strikt zurück, auch Menschen in meinem Alter. bediente zwei Tische mit Amerikanern, die ständig Coca Cola und Bier nachbestellten. Meine Kollegin war am Nachbartisch für chinesische Gäste zuständig, die Bier ins Weinglas kippten und dauernd fotografiert werden wollten. Es war sehr komisch – zwei Klischees direkt nebeneinander! Guter Service bedeutet für mich, auch wenn es wie eine Floskel klingen mag: Immer ein bisschen mehr geben, als verlangt wird. Fehler können jedem passieren. Wenn etwas schiefläuft, geht mir das nahe, auch wenn ich selbst nicht die Ursache war. Manchmal sind wir vom Personal her knapp, die Gäste müssen warten, manche werden ärgerlich. Auf keinen Fall ignorieren! Höflich erklären, dass wir gerade unterbesetzt sind, aber uns nun umso mehr beeilen. Am wirksamsten ist es, zusätzlich zum Bestellwunsch ein kleines Extra zu servieren. Zu uns kommen Gäste aus allen Kulturen. Einmal erlebte ich eine Veranstaltung, bei der ein Unternehmer Vertriebspartner aus der ganzen Welt eingeladen hatte. Ich www.bethmannbank.de LEONIE OBERMAYER, 21 Auszubildende im dritten Lehrjahr im Münchner Luxushotel Bayerischer Hof. Character Januar 2016 19 perspektivenwechsel HOHE SCHULE DES WILLKOMMENS Service kann vieles bedeuten. Die Facetten von gutem Service unterscheiden sich von Beruf zu Beruf und von Kultur zu Kultur. Fakt ist aber: Service ist immer wichtig. Und setzt ein breites Spektrum an Eigenschaften voraus: Handwerk und Einfühlungsvermögen, Menschenkenntnis und Erfahrung, Motivation – und auch eine sehr gute physische Kondition. Das Schlüsselwort heiSSt Respekt Meinen Gästen soll es gut gehen. In meiner Bar bin ich der Gastgeber. Wie erreiche ich das? Die Basis ist das GastronomieHandwerk. Es zu beherrschen, ist Voraussetzung. Meine Mitarbeiter haben in Tophotels gelernt, ich selbst war zuvor 23 Jahre lang an der Seite von Charles Schumann tätig. Die zweite Säule von gutem Service ist die Persönlichkeit des Gastgebers. Es ist die emotionale, atmosphärische Seite. Meine goldene Regel: Bevor der Gast weiß, was er will, musst du es wissen. Dafür – etwa zu merken, ob er eher Distanz oder Nähe sucht – braucht man Einfühlungsvermögen, Menschenkenntnis, Erfahrung. Wie ich ihn empfange, ist entscheidend. Eine Geste kann Wunder bewirken, zum Beispiel, unaufgefordert ein Glas Wasser zu bringen. Der Gast fühlt sich willkommen, empfiehlt die Bar weiter, wird vielleicht Stammgast. Jedem von uns passiert mal ein Missgeschick. Mir flog einmal der Champagnerkorken aus der Flasche und einem bekannten Filmprodu- zenten auf den Kopf. Er nahm es mit Humor. Die größte Herausforderung ist, die Konzentration zu behalten. Es kann ein körperlich anstrengender Job sein. Der Gast hat immer Recht? Nein, auch der Gast kann sich nicht alles erlauben. Dabei die Balance zu finden, ist die Kunst. Auch das Motto „Wer zahlt, schafft an“, gilt nur bedingt. Es gibt neureiche Kundschaft, die glaubt, sie bekäme alles für ihr Geld. Die setzen sich an einen reservierten Tisch und halten dir einen dicken Geldschein hin. Wie sagte der Philosoph Theodor W. Adorno: Im Hotel spielt das Bürgertum Adel. Es gibt noch genug Gäste, die benehmen sich, als bestünde das Personal aus Haussklaven. Das geht nicht. Dazu fällt mir eine Geschichte ein, die ich im Hotel Savoy, dem ersten Grandhotel Europas, erlebt habe. Dort gab es früher die Vorschrift „Anzug und Krawatte“. Ich sitze an der Bar, ein Amerikaner in Jeans und offenem Hemd kommt herein, der sofort bestellen will. „Jacket and tie required, Sir“, sagt der Barchef dezent. Die Antwort: „Ich komme vom Flughafen und habe eine wichtige Verabredung“. Der Barchef lächelt und geht weiter. Drei Minuten später kommt wieder ein Barkeeper vorbei, lächelt und geht weiter – das Ganze dauert eine Viertelstunde lang. Endlich merkt der Amerikaner, worum es geht, zieht sich um und bekommt seinen Drink. Das ist die hohe Schule: Die Contenance bewahren, das Problem elegant lösen, ohne dass die anderen Gäste etwas merken. Das Schlüsselwort heißt Respekt. Es gilt für alle, auch für die Gäste. Protokoll: Dr. Eva Karcher STEFAN GABANYI, 58 Studierter Ethnologe, Gastronom und Inhaber der Münchner Bar Gabanyi. Gegenwart 20 Werte im Wandel Gelassenheit ist auch keine Lösung Die Kunst, sich richtig aufzuregen Wer laut wird, dem gehen die Argumente aus, heißt es. Und wer brüllt, der hat sowieso Unrecht. Doch so ganz stimmt das nicht. Wenn Sie sich aufregen, können Ihnen auch die Sympathien zufliegen. Sie bekommen keine Magengeschwüre. Sie setzen sich durch, wie durch Zauberhand, ohne zeitraubende Diskussionen und ohne Argumente. Außerdem macht es noch Vergnügen – wenn Sie einige grundlegende Dinge beachten. www.bethmannbank.de Werte im Wandel Character 21 Januar 2016 Gegenwart Werte im Wandel 22 „Wir reiSSen uns den Arsch auf!“ Uli Hoeneß Sich aufzuregen hat einen miserablen Ruf. Wer sich aufregt, macht alles noch schlimmer, heißt es. Wir sollen ganz entspannt durchs Leben schlendern, gleichmütig wie ein skandinavischer Yogalehrer im Kamillenteerausch. Anderen Menschen sollen wir mit Respekt begegnen, auch wenn sie sich schlecht benehmen, uns ignorieren oder furchtbar auf die Nerven gehen. Ja, dass sie uns so furchtbar auf die Nerven gehen, ist ja schon Teil des Problems. Bleiben Sie ruhig, sagt man uns. Wer sich ärgert, ist selber schuld. Dabei wissen wir doch schon im Säuglingsalter: Gelassenheit ist auch keine Lösung. Man kommt nur halbwegs komfortabel voran, wenn man gelegentlich Krach schlägt. „Ein Baby, das seine Eltern in Ruhe Zeitung lesen lässt, hat seinen Beruf verfehlt“, meint der holländische Biologe Midas Dekkers. Und was sich in der Welt von Windel, Schnuller und Brei so prächtig bewährt hat, das gilt auch später noch. Im Beruf, im Restaurant und auf Reisen. Nicht den Sanftmütigen gehört die Erde, sondern denen, die auch mal auf den Tisch hauen. Gepflegt Dampf ablassen Natürlich ist es ganz entscheidend, bei welcher Gelegenheit wir das tun. Leute, die sich über jede Kleinigkeit aufregen, sind nicht zu ertragen. Ebenso abstoßend ist es, wenn jemand einen andern herunterputzt, der ihm unterlegen ist und sich nicht wehren kann. Doch da bleiben immer noch genügend Anlässe übrig, um gepflegt Dampf abzulassen. Jawohl, gepflegt. Denn auch darauf kommt es an: Dass man nicht grob und ausfallend wird. Laut – ja, wenn es sein muss. Aber niemals bösartig oder vulgär. Verständlicher Ärger Solche Fälle gibt es natürlich auch. Hochrangige Politiker, die hinter verschlossenen Türen mit Aktenordnern nach ihren Büroleitern werfen. Oder Führungskräfte, die in Besprechungen lautstark einen aufstrebenden Mitarbeiter „schlachten“, damit der nicht „auf dumme Gedanken kommt“. „Jeder kann wütend werden, das ist einfach“, wusste schon Aristoteles. „Aber wütend auf den Richtigen zu sein, im richtigen Maß, zur richtigen Zeit, zum richtigen Zweck, auf die richtige Art, das ist schwer.“ Richtig wütend werden ist eine Kunst, die nicht viele beherrschen. Manche regen sich über die falschen Dinge auf, andere übertreiben, sagen schlimme Dinge, oder man merkt es ihrem Ärger an, dass er nicht ganz echt ist. An solchen Fragen entscheidet sich, ob die andern betreten zu Boden schauen, weil sie sich fremdschämen. Oder ob sie anerkennend nicken, weil sie der Ansicht sind: Das war ja schon längst mal fällig. Es kommt nämlich www.bethmannbank.de immer darauf an, ob die anderen unseren Ärger nachvollziehen können. Teilen müssen sie ihn nicht, aber verstehen. Außenminister Frank-Walter Steinmeier gilt als ruhiger und besonnener Typ. Umso überraschender war es da, dass er bei einer Veranstaltung für die Europawahl 2014 einige Demonstranten zusammenstauchte. Die hatten seine Rede gestört und ihn, der gerade in der Ukraine verhandelt hatte, als „Kriegstreiber“ beschimpft. Steinmeier änderte seinen Tonfall, donnerte los und erwarb sich für diesen Temperamentsausbruch viele Sympathien. Der Redeausschnitt wurde auf YouTube gestellt und bekam über eine Million Klicks. Als Roboter bekommt man wenig Sympathie Dem Politiker war anzumerken, dass es ihn maßlos ärgerte, so verhöhnt zu werden. Man konnte sehen: Da nimmt einer seinen Job ernst und setzt sich zur Wehr, wenn ihm jemand Böses unterstellt. Unvergessen ist auch der Körpereinsatz von Helmut Kohl, der 1991 auf einen jungen Mann losging, der ihn mit Eiern beworfen hatte. Er wurde von seinen eigenen Personenschützern zurückgehalten. Doch dass er da ohne Zögern auf Gegenwehr umgeschaltet hatte, konnte man gut verstehen, ja, es nötigte einem Respekt ab. Character Wer hingegen immer kontrolliert bleibt und vernünftig oder mit Dauerlächeln über die alltäglichen Übel hinweggeht, mit dem haben wir so viel Sympathie wie mit einem Roboter. Der Demokrat Michael Dukakis lag bei den US-Präsidentschaftswahlen 1988 in den Umfragen vor dem Amtsinhaber George Bush Senior. Da wurde ihm von einem Fernsehmoderator eine sehr üble Frage gestellt. Dukakis, ein erklärter Gegner der Todesstrafe, möge sich vorstellen, seine eigene Frau sei vergewaltigt und ermordet worden. Würde er da für den Täter nicht die Todesstrafe wünschen? Anstatt diese Frage entrüstet zurückzuweisen, antwortete Dukakis brav: „Nein, das würde ich nicht tun. Wie Sie wissen, bin ich seit jeher ein Gegner der Todesstrafe.“ Wie bitte? Der Kandidat für das Präsidentenamt soll sich mal eben die Vergewaltigung und Ermordung seiner Frau vorstellen? Ist der Moderator noch bei Trost? Über so eine Frage muss man doch den Kopf schütteln, sich empören oder wenigstens fassungslos sein. Doch „unser“ Mann nannte sie nicht mal geschmacklos. Vielleicht kein Zufall, dass sich anschließend der Trend drehte. Dukakis fiel zurück, Bush Senior wurde Präsident. Bei Gotthold Ephraim Lessing hätte Dukakis nachlesen können: „Wer über gewisse Dinge den Verstand nicht verliert, der hat keinen zu verlieren.“ 23 StoSSlüften der Seele Es kommt etwas hinzu: Wenn wir uns richtig aufregen, geht es uns anschließend besser. Es ist wie ein „Stoßlüften der Seele“. Wir lassen unseren Ärger raus. Kurz und schmerzlos. Und das tut gut. Es ist gesünder, als die Sache in sich reinzufressen. Wenn uns etwas stört, belastet oder auf die Nerven geht, dann kommt das auf den Tisch. Nicht selten können wir die Angelegenheit danach abhaken. Wir haben Dampf abgelassen, das genügt. Wer sich nicht richtig aufregt, der kann sich in seine Wut auch hineinsteigern. Man redet sich in Rage. Es wird immer schlimmer. Soweit darf man es nicht kommen lassen. Und die Könner beweisen genau an diesem Punkt ihre Meisterschaft. Sie bohren sich nicht immer tiefer in ihren Zorn hinein, sondern sie werfen Ballast ab. Zweitens aber schlagen sie nie unter die Gürtellinie. Wenn wir etwa beim Temperamentsausbruch von Frank-Walter Steinmeier einmal den Wortlaut notieren, dann sind wir erstaunt, wie moderat seine Worte eigentlich sind. Der Ton macht die Musik. Das Gleiche gilt für eine weitere berühmte „Wutrede“: die von Uli Hoeneß, als er noch Präsident von Bayern München war und die Fans attackierte, weil die meinten, beim Lokalrivalen 1860 Januar 2016 München sei die Stimmung besser. Die Wortwahl war drastisch, aber sie bezog sich nicht auf die Fans: „Wir reißen uns den Arsch auf!“ Nicht immer zeigte Uli Hoeneß bei seinen öffentlichen Äußerungen so viel Geschick. Aber hier muss man sagen: Ein mustergültiger Ausraster, der allen klarmachte: Mit mir könnt ihr nicht so umspringen. Änderungen anschieben Und das führt uns zu unserem letzten Punkt, warum es manchmal besser ist, sich aufzuregen, als die Widrigkeiten des Lebens gelassen zu ertragen. Wer Ärger macht, der hat Interessen und Wünsche. Er nimmt am Leben teil. Er will, dass sich etwas verändert. Und häufig gelingt ihm das auch. Denn die andern wollen häufig keinen Ärger. Wer alles geduldig hinnimmt, der ist so lebendig wie ein Möbelstück. Und er sollte sich nicht wundern, wenn die andern mit ihrem Hintern auf seinem breiten Rücken Platz nehmen. Wer sich aufregt, bringt die Dinge voran. Auch wenn es immer wieder Ärger gibt. Doch wer sich richtig aufregt, der scheut keinen Ärger, er macht ihn. Denken Sie daran: Wenn Sie sich nicht aufregen, dann ändert sich nichts. Ein Gastbeitrag von Matthias Nöllke Dr. Matthias Nöllke, Autor für Management und Kommunikation, Keynote-Speaker (www.noellke.de). Mehr als 20 Bücher hat er geschrieben, darunter „Vertrauen“, „In den Gärten des Managements. Für eine bessere Führungskultur“ sowie „Ich WILL mich aber aufregen. Das Buch für den kleinen Ärger zwischendurch“. Er lebt in München, ist verheiratet und hat zwei Kinder. Gegenwart 24 HELLO / GOODBYE Ohne App ein Depp? Vom Festnetz zum Smartphone Die einen wollen nicht per Festnetz telefonieren, die anderen können es sich nicht leisten. Gefragt ist dagegen Schwarmkommunikation per Mobiltelefon: Einmal fragen, viele Antworten bekommen. Das Ergebnis: Ständige Erreichbarkeit – und wer sich der verschließt, bekommt vieles einfach nicht mit. www.bethmannbank.de Hello / Goodbye Character Januar 2016 25 - Goodbye - Festnetz Wer sich heute als Handymuffel outet und lieber per Festnetz telefoniert, wird zunehmend ignoriert. Und zwar nicht etwa von Kollegen oder Kunden, sondern von Freunden und Bekannten. Es fängt schon damit an, dass die Eltern eines Schulkindes nichts über eine wichtige Veranstaltung erfahren – von der erstaunlicherweise alle anderen wissen. Es geschieht ohne böse Absicht, aber auch und gerade im Privatleben erwartet das eigene Umfeld die ständige Erreichbarkeit per Smartphone. Menschen treffen ihre Verabredungen immer spontaner und sagen sie auch immer spontaner ab. „Die gegenwärtige Verabredungskultur hat sich durch den omnipräsenten Gebrauch von Smartphones und Co. deutlich verändert. Pünktlich am vereinbarten Ort sein – das war einmal. Heute wird sich per WhatsApp kurzgeschlossen, wann und wo man sich genau trifft, oder eben auch spontan abgesagt“, sagt Prof. Ulrich Reinhardt, wissenschaftlicher Leiter der Stiftung für Zukunftsfragen in Hamburg. Heißt konkret: Wer Lust und Zeit hat, antwortet auf eine Nachricht. Wer nicht, lässt es oder war halt gerade im Funkloch. Wer Pech hat, bekommt eine Nachricht erst gar nicht mit. Die Denkweise des Absenders: Ich muss nicht jeden einzeln anrufen und für einen wird es schon passen. Die des Empfängers: Alles kann, nix muss, ich entscheide mich fünf Minuten vorher, ob ich Lust dazu habe. Diese Unverbindlichkeit kann man gut oder schlecht finden, scheint jedoch ein Grundbedürfnis der heutigen Zeit zu sein. Reinhardt: „Unser Leben verläuft schneller, man muss mehr in gleicher Zeit schaffen, und Termine finden im Zwei-Stunden-Takt statt. Dies hat natürlich Auswirkungen auf unsere Beziehungen. Sie werden ebenso unverbindlich und locker wie Verabredungen an sich.“ Beim Festnetz legt man sich dagegen vorher fest, wen man warum anruft. Laut Bundesnetzagentur haben die Deutschen 2010 noch 193 Milliarden Minuten über Festnetz telefoniert, 2014 sind es noch 154 Millionen Minuten gewesen. Das Festnetz stirbt. Und die feste Verabredung auch. - Hello - Mobilfunk Ein Mobiltelefon ist nicht mehr nur ein Telefon. Es ist ein Computer, mit dem sein Besitzer im Internet surfen, E-Mails abrufen und SMS verschicken kann. Es ist zudem Adressbuch, Terminkalender und Kamera zugleich, stets parat, um Selfies zu schießen oder dem Foodporn, also dem Fotografieren von Essen, zu frönen. Laut Bitkom, dem Branchenverband der digitalen Wirtschaft, nutzen in Deutschland 65 Prozent der Bundesbürger ab 14 Jahren ein Smartphone. Und das lassen sich die Deutschen gerne etwas kosten: Ohne Vertrag beläuft sich der Kauf auf mehrere hundert Euro bis zu locker 1.000 Euro. Die monatlichen Summen betragen bei Vielnutzern schnell 50 Euro und mehr. Daraus ließe sich schließen: Wer ein Mobiltelefon nutzt, hat Geld. Doch dies stimmt nur zum Teil, denn das Marktforschungsunternehmen Infas hat folgende Beobachtung gemacht: Rund 13 Prozent aller Deutschen leben in einer Wohnung ohne Festnetzanschluss, Tendenz steigend. Bei diesen sogenannten „MobileOnlys“ handelt es sich überwiegend um junge Männer, die als Singles in Ein-Personen-Haushalten leben und eher über ein geringes Einkommen von weniger als 1.000 Euro brutto im Monat verfügen. Übersetzt heißt das: Es gibt immer mehr Deutsche, die sich die Grundgebühr für einen Festnetzanschluss nicht mehr leisten können. Sie satteln auf ein günstiges Prepaid-Handy ohne Vertrag um, denn das ist auch ohne Schufa-Auskunft zu bekommen. Der Vorteil: Sie bleiben auch ohne Geld auf dem Konto erreichbar. Etwas anders verhält sich die Situation in Schwellenländern, in denen ein flächendeckendes Festnetz überhaupt nicht existiert. Da Mobilfunk einfacher und schneller als Festnetz zu verlegen ist, sind Mobiltelefone dort die einzige Chance, telefonisch erreichbar zu sein. „Der große Vorteil besteht darin, dass viele Menschen in relativ kurzer Zeit ans Netz gebracht werden können, die andernfalls womöglich weiterhin außen vor blieben. Dies erhöht ihre Chancen auf wirtschaftliche und gesellschaftliche Teilhabe“, erklärt Nick Kriegeskotte, Bereichsleiter für Breitbandpolitik bei Bitkom. So haben unterschiedliche Umstände ein und dasselbe Ergebnis: Die Mobiltelefonie wächst – und zwar in allen Gesellschaftsschichten. In Deutschland werden es 2015 voraussichtlich 111 Milliarden Gesprächsminuten sein – und damit bald mehr als im Festnetz. Text: Geraldine Friedrich Tradition Unternehmen mit Tradition 26 UNTERNEHMEN MIT TRADITION Alte Technik – neue Musik Pallas: Eines der letzten Vinylpresswerke Als CDs die Musikbranche zu revolutionieren versprachen, zählten viele Musikfirmen ihre Vinyl-Pressen zum alten Eisen. Bei Pallas in Diepholz lagerte man sie ein. Heute laufen sie auf Hochtouren. Ein Lehrstück über Standhaftigkeit in Zeiten von schnellen Trends. Gerade ist es Daft Punk. Hunderte Platten der französischen House-Superstars stapeln sich in Plastikkisten. Schwarzes Vinyl mit roten Etiketten, fertig zum Einpacken und Verschicken. Diesmal in die USA, per Luftfracht nach Washington und dann zu den Clubs und zu den Fans. Das nächste Mal geht es vielleicht nach Australien oder Singapur, Bands wie Daft Punk hört man schließlich auf der ganzen Welt. „Die Pressen hier laufen im Dreischichtbetrieb, 24 Stunden pro Tag, fünf Tage die Woche“, schreit Holger Neumann. Neben ihm rattern ein Dutzend Maschinen, es zischt und stampft und die Luft riecht nach heißem Plastik. „Wir stellen hier 28.000 Schallplatten pro Tag her“, sagt Neumann. „Dieses Jahr werden es insgesamt wahrscheinlich um die 4,5 Millionen sein.“ Neumann ist Geschäftsführer der Pallas Group in Diepholz, Niedersachsen, einer Kleinstadt zwischen Bremen und Osnabrück, inmitten von Wiesen, Mooren und Weiden mit schwarzweißen Kühen. Knapp 16.000 Einwohner hat Diepholz, es gibt kleine Häuschen aus rotem Backstein, ein paar Supermärkte und Restaurants – und die Pallas Group, eines der letzten Vinylpresswerke der Welt. Das ist Fluch und Segen zugleich: Pallas kommt der Nachfrage kaum hinterher. Denn Vinyl boomt: Im Jahr 2014 wurden allein in Deutschland so viele Platten verkauft wie zuletzt 1992, insgesamt 1,8 Millionen Alben. In den USA, dem größten Musikmarkt der Welt, hat sich im gleichen Zeitraum der Verkauf von Schallplatten sogar verdoppelt: Dort wurden 2014 etwa 9,2 Millionen Platten verkauft. Und die Umsätze steigen rasant, in Deutschland von 2013 auf 2014 um 33 Prozent auf 38 Millionen Euro. Die längst totgesagte Schallplatte ist wieder zum Trend geworden – und damit hat niemand gerechnet, auch nicht Holger Neumann. Doch die Pallas Group hat etwas, was andere nicht, oder besser, nicht mehr haben: Pressmaschinen. Der Grund dafür ist Glück, ein bisschen norddeutsche Dickköpfigkeit und das Erbe eines Betriebes, der bald seit vier Generationen in Familienbesitz ist. Mucke in vierter Generation Holger Neumann ist 55, ein großer Mann mit schwarzer Brille, er spricht ein trockenes Norddeutsch und sagt „Mucke“, wenn er www.bethmannbank.de Musik meint. Seit 1949 presst Pallas sie auf Platten, Holger Neumanns Großvater Karl hatte das Geschäft einst gegründet, mitten auf dem freien Feld. „Früher gab es hier nichts“, sagt Neumann, „nur Wiese und das Haus meiner Großeltern.“ Das steht immer noch, doch außen herum sind über die Jahre erst Schuppen und dann Fabrikhallen in die Höhe gewachsen. Auf die Nachkriegszeit folgt das Wirtschaftswunder und in den 60ern baut Karl Neumann ein neues Werk, einen dreistöckigen Bau mit Flachdach, in dem heute immer noch die Firmenzentrale ist. Im Treppenhaus hängt ein alter gedrehter Leuchter aus Metall, an den Wänden erzählen Fotos von der Zeit, als Elvis, die Beatles oder die Stones dank Langspielplatten zu Weltstars geworden waren. 1974 stirbt Karl Neumann. Sein Sohn Rolf – Holger Neumanns Vater – übernimmt die Firma und baut sie weiter aus. Er beginnt erst Musikkassetten zu produzieren und schließlich auch noch CDs. „Wir sind erst Mitte der 80er in das Geschäft mit CDs eingestiegen“, erzählt Holger Neumann. Character 27 Januar 2016 Rot und rund: Die Kunden von Pallas schätzen die Möglichkeit, etwas Unverwechselbares auf Vinyl zu schaffen. Dazu zählen auch ungewöhnliche Farben, oftmals passend zum Etikett. Tradition 28 Angefangen hat das mit der Love Parade in Berlin. Da wollten die DJs auf den Lkw Platten auflegen. Holger Neumann, Geschäftsführer der Pallas Group www.bethmannbank.de Unternehmen mit Tradition Character 29 Januar 2016 Bunte Tonträger: Holger Neumann, Geschäftsführer der Pallas Group, vor einer Wand mit Schallplatten. Bei der Gestaltung sind der Kreativität kaum Grenzen gesetzt – ob mehrfarbig, mit Foto oder mit Lasergravur. Die „Scheiben“ werden auf Sondermaschinen gefertigt. Tradition Unternehmen mit Tradition 30 Hip aus der Presse: Transparente Farben, in diesem Fall Gelb, sind sehr beliebt. „Die erste CD, die wir hier gemacht haben, war „Moskauer Nächte“ von Ivan Rebroff. Die habe ich immer noch zu Hause.“ Mit Bauchgefühl gegen schnelle Trends Die Erfindung der CD löst damals eine Revolution auf dem Musikmarkt aus. Sie ist klein und robust, im Auto abspielbar und im Discman, dem Nachfolger des Walkmans. Die Branche ist elektrisiert, niemand zweifelt daran, dass CDs die Zukunft sind – und die Tage von Vinyl gezählt. „Die Presswerke haben in kürzester Zeit ihre Vinylpressen verschrottet“, sagt Neumann. „Der alte Mist sollte raus – und Platz machen für die CDs.“ Neumann ist damals gerade ins Geschäft bei Pallas eingestiegen. Mit seinem Vater überlegt er, was sie mit ihren Pressen machen sollen. Am Ende entscheiden sie sich, sie zu behalten. Fragt man warum, sagt Neumann: „Bauchgefühl. Und weil wir ein Familienunternehmen sind. Da ist man vorsichtiger als andere.“ Neumann und sein Vater sind beide mit der Firma aufgewachsen. „Unter der Woche ging es bei uns zu Hause immer um den Betrieb, er war unser täglich Brot. Da kriegt man einfach eine andere Denke als bei einem Großkonzern, wo man morgens kommt und abends geht.“ Als Jugendlicher hat Neumann im Sommer im Presswerk gejobbt oder Platten eingetütet, um dann mit dem Geld nach Berlin zu fahren. Bevor er in die Firma einstieg, musste er sich erst durch alle Abteilungen arbeiten. Die Neumanns kennen ihre Firma, ihre Mitarbeiter und auch ihre Maschinen. Statt ihre Pressen zu verschrotten, lagern sie sie ein. „Einfetten. Einschmieren. Folie drüber. Warten“, sagt Neumann. Es dauert ein bisschen, dann kommen die ersten Anrufe. „Angefangen hat das mit der Love Parade in Berlin. Da wollten die DJs auf den Lkw Platten auflegen. Und wir bekamen langsam wieder mehr Anfragen.“ Es gibt kleine Labels, die immer weiter Platten bei Pallas in Auftrag geben. Erst für DJs, dann immer mehr auch für Liebhaber, Sammler und Musikfans. Und dann passiert etwas, mit dem niemand so rechnet: Der Trend schwappt über auf die breite Masse. Alte Maschinen und gute Kunden In Zeiten, in denen komplette Musiksammlungen aus dem Netz abrufbar sind, erinnern sich viele zurück an die Platte, die knarzt und knackt und ihre Fehler hat, aber mehr ist, als ein paar Einsen und Nullen. Ein paar kaufen die Platten wegen des warmen Klangs, ein paar wegen der Nostalgie oder aus ästhetischen Gründen. Die Nachfrage wächst und wächst und irgendwann stellen die Plattenlabels fest, dass etwas fehlt: Die Pressen, um Vinyl herzustellen. Und auf einmal kann sich Pallas vor Anfragen nicht mehr retten. www.bethmannbank.de Zehn alte Toolex Alpha Vollautomaten hat Pallas, mehr als 30 Jahre alte grüne Ungetüme. Zudem stehen in der Halle noch drei Maschinen für Single-Platten und drei für Platten aus farbigem Vinyl. Pallas erwirtschaftet laut Neumann pro Jahr einen Umsatz im einstelligen MillionenEuro-Bereich. 130 Mitarbeiter hat Neumann heute, viele von ihnen sind schon seit Jahrzehnten im Betrieb, doch allein in den vergangenen Monaten hat Neumann 18 Personen eingestellt und geschult. Einerseits wegen des Platten-Booms, andererseits auch als Investition in die Zukunft. Denn von außen, sagt Neumann, ist es schwer, Mitarbeiter mit dem nötigen Know-how zu bekommen. Um der Nachfrage Herr zu werden hat Neumann neue Maschinen entwickeln lassen, insgesamt sechs Stück, doch auch sie reichen nicht, um die Nachfrage zu befriedigen. Der Boom ist mittlerweile so groß, dass die kleinen Label, die ja einst dafür gesorgt haben, das Vinyl am Leben zu halten, heute Probleme haben, Produktionskapazitäten zu bekommen. Ein paar Presswerke, sagt Neumann, wollen lieber große Aufträge von großen Firmen. Bei Pallas ist das anders. „Bei uns gehen Stammkunden vor. Die Großen kommen und gehen – die Kleinen aber waren immer da. Es wäre nicht fair, sie nicht zu bedienen. Da ticken wir einfach anders.“ Text: Christoph Gurk Character 31 Plattenproduktion Wenn eine Firma eine neue Platte bei Pallas in Auftrag gibt, dann schickt sie erst eine Lackfolie: eine schwarze biegsame Scheibe mit Rillen, auf denen, wie Neumann sagt, „die Mucke“ aufgezeichnet ist. Die Lackfolie kommt dann in ein GalvanikBad. Pallas hat dafür eine Reihe von Becken, gefüllt mit blauer Flüssigkeit, in denen die Lackfolie in einem chemischen Prozess versilbert wird. Im Anschluss werden Abzüge angefertigt, die in die Pressen kommen. Mit 200 Bar, also 200 Kilo Druck pro Quadratzentimeter, drücken diese einen Klumpen aus rohem PVC zusammen und formen so die Schallplatte. Ein kleiner Arm schneidet die Ränder ab, und am Ende hebt ein Greifer die warmen Platten in Papierhüllen, in denen sie dann auskühlen. All das dauert im Schnitt etwa 30 Sekunden. Aber die Maschinen laufen eben schon auf Hochtouren, sagt Neumann. Und sie sind auch nur der Anfang: „Es reicht nicht, einfach nur einen Knopf zu drücken, wenn man eine Platte machen will. Das ist ein langwieriger Prozess und man muss wissen, was man tut. Dies alles geht nur mit einem langjährigen und gut motivierten Team. Das Know-how ist unbezahlbar.“ Soll heißen: Neumanns Mitarbeiter müssen wissen, wie man gute Abzüge von den Lackfolien macht, die Pallas von den Plattenfirmen bekommt. Und sie müssen wissen, was zu tun ist, wenn eine Platte nicht so aus der Maschine kommt, wie es sein soll, wie Einstellungen an den alten Maschinen zu justieren oder Fehler zu beheben sind. Januar 2016 Zukunft Für morgen 32 für morgen AUF DEM HOLZWEG Ein unterschätzter Rohstoff Die Energiequelle der Zukunft? Sonne? Wind? Alles falsch. Fachleute sind sich einig: Holz ist der wichtigste Rohstoff, um die Energiewende hinzubekommen. Aber das ist auch schon fast alles, worüber sie sich einig sind. Gäbe es eine Landkarte der Energiewende, wäre Rottleberode ein bedeutender Ort darauf. Seit drei Jahren ist das 1.500-EinwohnerStädtchen in Sachsen-Anhalt Sitz des Holzimpulszentrums (HIZ). Und das beschäftigt sich mit einem Rohstoff, der für den Ersatz von fossiler Energie wichtiger werden könnte als Sonnen- und Windkraft: Holz. Zugegeben – nicht alles, was am HIZ passiert, lässt das auf den ersten Blick erkennen. Eines der wichtigsten Projekte etwa ist die Entwicklung des „Buchen-Hybrids“, eines Trägers für den Gebäudebau, der aus Buche und Fichte besteht. „Herausfordernd“ sei das, sagt Christian Schiffner, einer der Mitarbeiter des Projekts. Denn die zwei Holzarten sind nur schwer miteinander zu verarbeiten. Aber sollten die Forscher erfolgreich sein, könnten Hybrid-Balken sogar Betonträger ersetzen – und damit die Energie für die Herstellung des Betons. Gleichzeitig hätten die HIZ-Leute eine Frage beantwortet, die derzeit alle umtreibt, die sich mit dem Rohstoff Holz beschäftigen: Wie fügt man zusammen, was nicht zusammengehört? HOLZ ALS BAUSTEIN DER ENERGIEWENDE Denn nicht nur Buche und Fichte vertragen sich von Natur aus nicht gut, sondern auch die Interessen von Ökonomie und Ökologie. Im Falle von Holz laufen die Diskrepanzen manchmal sogar quer durch die Lager. Einigkeit besteht darin, dass Holz ein wichtiger Baustein der Energiewende ist. „Der richtige Weg, dem Klimawandel sinnvoll zu begegnen, kann nur die nachhaltige Nutzung von Holz sein“, sagt Marcus Kühling, Geschäftsführer des Deutschen Forstvereins. Jeder Baum absorbiert beim Wachsen Kohlenstoffdioxid (CO2 ). Eine knappe Tonne davon wird pro Kubikmeter Holz gespeichert. Wo immer Holz andere Werkstoffe wie Stahl und Kunststoff ersetzt, wird pro Kubikmeter zusätzlich im Schnitt mehr als eine weitere Tonne CO2 eingespart, das bei der Produktion dieser Stoffe entstanden wäre. Und: Holz gibt es in rauen Mengen. So scheint es zumindest. 11,4 Millionen Hektar Wald bedecken ein Drittel der Gesamtfläche von Deutschland. Das ist mehr als in jedem anderen Land der EU. Und deutlich mehr als noch vor ein paar Jahrhunderten. Schon im Mittelalter wurden die Wälder geplündert: Mit Beginn der Neuzeit etwa wurde der Rohstoff so wichtig für den Bergbau, zum Abstützen von Gruben oder dem Schmelzen von Erzen, dass Deutschland vor 300 Jahren fast komplett entwaldet war. Die Wende kam in Gestalt von Carl von Carlowitz. 1713 beschrieb der sächsische Oberberghauptmann in einem Buch erstmals das Prinzip der Nachhaltigkeit und erfand dabei nebenbei das Wort gleich mit. Seitdem wächst der Waldbestand kontinuierlich, von kriegsbedingten Einbrüchen abgesehen. Die jüngste Bundeswaldinventur aus dem Jahre 2012 vermeldete gar einen Rekord. Deutschland verfüge über einen Vorrat von 3,7 Milliarden Kubikmetern Holz, heißt es darin: „Es wächst mehr Holz nach, als wir nutzen.“ www.bethmannbank.de Character VERBAUEN VERSUS VERBRENNEN Aber es gibt noch einen weiteren Rekord. Eine Studie der Uni Hamburg stellte 2012 fest, dass in Deutschland zum ersten Mal mehr als die Hälfte des Baumbestands energetisch eingesetzt wird, schlichter formuliert: Es wird verbrannt. Grund dafür ist der gestiegene Bedarf von Biomasse-Kraftwerken und Pelletheizungen. Denn die stehen im ökologischen Vergleich zum Heizen mit Öl oder Gas gut da. „Im Wärmebereich liefert Holz mehr Energie als Strom, Wind, Photovoltaik und Wasserkraft zusammen“, sagt Martin Bentele, Geschäftsführer des Deutschen Energieholz- und Pelletverbands (DEPV). Rund 400.000 pelletbetriebene Heizungen und Öfen sind nach DEPVSchätzungen derzeit deutschlandweit im Einsatz. In Privathäusern, in Schulen, in Bäckereien und sogar im Fußballstadion des FC Hoffenheim. Auch weil die Bundesregierung die energetische Verwertung von Holz durch das Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG) förderte. Die Folge: Der Holzpreis ist dadurch rasant gestiegen, in den vergangenen vier bis fünf Jahren um gut 30 Prozent, schätzt Peter Sauerwein, Geschäftsführer des Verbands der Deutschen Holzwerkstoffindustrie. Doch was die Waldbesitzer freut, ist ein Problem für den Verband und seine Mitgliedsunternehmen. Denn die produzieren Spanplatten und Furnierholz, also Produkte mit niedrigen Margen, für die vor allem Sägereste verwendet werden oder Altholz, das zuvor schon als Werkstoff im Einsatz war. Lange Zeit war beides ein günstiges Abfallprodukt. Jetzt ist es ein Rohstoff, um den sie mit den Betreibern von Biomassekraftwerken und Pelletherstellern konkurrieren. Auch die Sägeindustrie leidet unter hohen Preisen. „Teilweise nutzen die Sägewerke die Reste jetzt selbst thermisch, um Kosten zu sparen“, sagt Sauerwein. Immerhin habe die Bundesregierung die EEG-Förderung inzwischen zurückgefahren. Nach wie vor aber werde Holz, das stofflich genutzt wird, mit 19 Prozent versteuert, Brennholz jedoch nur mit 7 Prozent. FUNKTIONSWÄSCHE UND HOCHHÄUSER Gegen das Verbrennen sprechen jedoch auch ökologische Gründe. „Holz sollte erst stofflich verwendet werden, inklusive Recycling, und erst ganz am Ende des Produktzyklus thermisch genutzt werden“, sagt Dirk Berthold vom Fraunhofer-Institut für Holzforschung. „Dieser Prozess sollte sich über einen möglichst langen Zeitraum ziehen, am besten über mehrere Jahrzehnte.“ Kaskadennutzung lautet der Fachbegriff für diesen Kreislauf. Durch Kaskadennutzung stünde auch mehr Holz für die Entwicklung neuartiger Produkte zur Verfügung. Das Fraunhofer-Institut beispielsweise forscht an einem Holzschaum, der auf Dauer Dämmmaterial aus petrochemischen Kunststoffen Januar 2016 33 ersetzen könnte. Schon jetzt wird aus Holz hergestellte Lignocellulose zu Kunststoffen in Flugzeugen, Autos und sogar in Funktionsbekleidung verarbeitet. Vor allem aber im Baugewerbe geht noch einiges: In Deutschland werden nach und nach die Landesbauordnungen gelockert. Vor allem, weil modern verarbeitetes Holz Bränden besser standhält. So dürfen etwa in Rheinland-Pfalz seit August dieses Jahres bereits fünfstöckige Häuser aus Holz gebaut werden. Im Ausland geht es sogar schon um zweistellige Geschosszahlen, in Wien sollen in diesem Herbst gar die Bauarbeiten an einem 24-stöckigen Hochhaus beginnen, das zu mehr als 70 Prozent aus Holz bestehen soll. WIDERSPENSTIGES LAUBHOLZ Um solche hochfliegenden Pläne auch in Deutschland umzusetzen, muss aber noch ein anderes Problem bewältigt werden: die Zunahme von Laubhölzern. Denn die Aufforstungspläne des Oberbergbaumeisters von Carlowitz schufen Wälder, die bis zu 90 Prozent aus Nadelhölzern wie Fichte bestanden. Weil sie schneller und gerader wachsen als Laubhölzer. Und weil sie sich einfacher verarbeiten lassen. Laubhölzer aber sind härter und darum nicht leicht zu zersägen. Obendrein sind sie weniger witterungsbeständig. Aus ökologischen Gründen aber werden in Deutschland seit Jahren kontinuierlich mehr Laubbäume angepflanzt, vor allem Buche. Denn Mischwälder stehen für mehr Artenvielfalt und sind zudem resistenter gegen Stürme und Insektenbefall. „Die Knappheit der Ressource Holz ist vor allen Dingen eine Knappheit von Nadelholz“, sagt Berthold. Diese Entwicklung ist der Grund dafür, dass sich Wissenschaftler zunehmend mit der Frage beschäftigen, wie Laubholz besser verarbeitet werden kann. So wie die Forscher in Rottleberode, die gemeinsam mit Christian Schiffner am HIZ das Buchen-Hybrid entwickeln. Aber Schiffner verfolgt sein Projekt nicht nur aus Notwendigkeit, sondern sieht auch Chancen. Denn die harten Laubbäume haben den Vorteil, dass daraus gefertigte Baumaterialien größere Belastungen aushalten – und darum bei der Produktion weniger Material eingesetzt werden muss. „Das spart Ressourcen.“ Jetzt müssen sie nur noch herausfinden, wie sie widerspenstige Buchenspäne mit den Fichtenteilen verleimen und mit einem Druck zusammenpressen, bei dem die starren Buchenanteile nicht zerbröseln. Am Ende ist alles eine Frage der richtigen Mischung. Text: Claus Hornung Zukunft 12 Dinge, die man tun sollte 34 12 dinge, die man tun sollte Visionen wachsen lassen Als Filmemacher ist Nico Hofmann medialer Profi. Als Mensch überzeugter Einzelgänger. Zwei Welten, die unvereinbar scheinen, es aber nicht sind, da die eine das Gegengewicht zur anderen bildet. 12 Dinge, die man tun sollte 1. Ruhe-Inseln schaffen, damit Visionen wachsen können. 5. Den Willen trainieren. Er ist unsere stärkste Rettungsleine. 2. Natur atmen. Zum Beispiel auf meinem Boot mitten auf dem Wannsee. 6. Niemals die Lebensneugierde verlieren. 3. D eutschlands Osten bereisen und die Herzlichkeit der Menschen genieSSen. 7. Musicals gucken. Unbedingt Sönke Wortmanns „Wunder von Bern“. 8.Trotzdem lächeln. 4.Lernen, angstfrei zu leben. 9. Loyal bleiben, auch wenn es unbequem ist. www.bethmannbank.de 10.Ehrlich sich selbst gegenüber bleiben. 11. Prioritäten regelmäSSig überdenken – Beziehungen auch. 12.Aktiv bleiben, nur dann geschehen Veränderungen. Character Szene aus dem Musical „Das Wunder von Bern“: Helmut Rahn machte Deutschland 1954 durch seinen Siegtreffer zum Fußballweltmeister. Im Foto lehnt Richard Lubanski (Detlef Leistenschneider) den Kopf an die Schulter seiner Mutter Christa (Vera Bolten). Nico Hofmann mag die Verfilmung dieser Geschichte auch deshalb so gern, weil ihn mit dem Fußballer und Nationalhelden Rahn von Kindesbeinen an der unbedingte Wille zum Erfolg verbindet. 35 Januar 2016 Gegenwart 36 Mondfest in Hamm: Priester Paskarakurukal (l.) gibt Früchte in ein Feuer und sagt Mantren auf. Er predigt im Sri Kamadchi Ampal-Tempel in Hamm, dem zweitgrößten Hindu-Tempel in Europa. www.bethmannbank.de MehrWerte Character 37 Januar 2016 mehrwerte Shiva auf Westfälisch Die tamilische Gemeinde in Dortmund Dortmund – das ist Ruhrgebiet. Das ist Industriegeschichte und Strukturwandel. Und das ist natürlich Fußball. Dortmund ist aber noch mehr, nämlich ein kleines Zentrum für Menschen mit sri-lankischen Wurzeln aus ganz Deutschland. Seit den 1980ern wurden hier viele Flüchtlinge des Bürgerkriegs in dem Inselstaat ansässig und tragen heute zum Leben in der Stadt bei. Die Bierkisten türmen sich direkt neben der Straße. Doch die bunte Auswahl an Bieren, die einige Passanten zum Hingucken verleitet, ist lediglich auf einen Verteilerkasten aufgemalt. Beschriftet sind die zahlreichen Flaschen auf dem Bild nicht nur mit deutschen Namen, daneben prangen gleichberechtigt fremde Schriftzeichen. „Das ist Tamil“, sagt Jeyakumaran Kumarasamy. Und muss schmunzeln, denn: „Es gibt kein tamilisches Bier. Wir haben Stout, und das haben früher die Engländer auf Sri Lanka eingeführt.“ Kumarasamy schlendert weiter, die Rheinische Straße im Dortmunder Unionviertel entlang. Vorbei an Schaufenstern, gefüllt mit schwerem Goldschmuck und farbenfrohen Saris, mit exotischen Gemüsesorten und hinduistischen Figuren. Ein Reisebüro teilt sich den Raum mit der deutschen Niederlassung des tamilischen Fernsehsenders GTV. „Das ist ein komplett tamilisches Viertel“, sagt Kumarasamy, der alle paar Meter stehen bleibt, um jemandem die Hand zu schütteln oder den Kopf in ein Geschäft reinzustecken. „Und ich kenne alle hier“, meint der 54-Jährige selbstbewusst. Integration seit der Kolonialzeit Dortmund ist für Tamilen so etwas wie eine zweite Heimat in Deutschland. Zwar wohnen nur rund 250 Familien der Bevölkerungsgruppe im Stadtgebiet. Doch zieht das Unionviertel, wo früher die Stahlwerke von Hoesch und Thyssen arbeiteten, jedes Jahr Zehntausende Besucher mit tamilischen Wurzeln in die Westfalenmetropole. Etwa, um am 27. November der Opfer des sri-lankischen Bürgerkriegs zu gedenken. Oder schlicht, um einzukaufen: „Denn hier gibt es Dinge, die man sonst nirgends in Deutschland bekommt“, sagt Kumarasamy. Kumarasamy, der nur Kumar genannt wird, kam als Flüchtling nach Deutschland. Er floh 1981 – mit 19 Jahren – wie viele andere aus seiner Heimatstadt Jaffna und kam über die DDR nach Dortmund. Dort lernte er die Sprache, machte Bekanntschaft mit einer deutschen Frau und arbeitete fortan als Dolmetscher. Integration, so sagt er, war ihm von Anfang an sehr wichtig. Tamilen kennen es, mit anderen Kulturen zusammenzuleben. Das ist eine Erfahrung, die noch aus der Kolonialzeit stammt. Jeyakumaran Kumarasamy Gegenwart 38 Und er nennt dafür einen einfachen Grund: „Tamilen kennen es, mit anderen Kulturen zusammenzuleben. Das ist eine Erfahrung, die noch aus der Kolonialzeit stammt.“ Tamilische Rezepte und deutsche Gaumen Deshalb war es Kumarasamy auch ein Anliegen, dass die Tamilen und ihre Kultur in Dortmund stärker wahrgenommen werden. Er gründete Anfang der 1990er Jahre zusammen mit Freunden den Tamilischen Kulturverein am Rande des Unionviertels, veranstaltete tamilische Konzerte und Theaterstücke, um den deutschen Mitbürgern etwas von ihrer Kultur nahezubringen – und legte damit gewissermaßen den Grundstein für das tamilische Viertel. Denn im Laufe der Zeit folgten Geschäfte und Restaurants, darunter auch das „Sweet Chilli“ von Mohideen Hanafi. Der 63-Jährige, der von seinen Bekannten schlicht Nana genannt wird, stellt intensiv duftende Chutneys mit Teigfladen wie Rotti und Dhosai oder Gemüse wie Murangai oder Paithaingai zu einer bunten Platte zusammen. Dann serviert er Reis auf Bananenblättern und demonstriert damit: „Unser Essen ist original. Das kriegt man nur auf Sri Lanka oder hier.“ Hanafi legt seit der Gründung seines Restaurants sehr viel Wert darauf, seine Rezepte nicht an europäische Gaumen anzupassen – und hätte sein Restaurant deshalb beinahe wieder schließen müssen, da zunächst die Gäste ausblieben. Unser Essen ist original. Das kriegt man nur auf Sri Lanka oder hier. Mohideen Hanafi. MehrWerte Bittermelonen und lange Bohnen liegen bei TKS Best Foods in den Regalen. „Und wir haben auch viele Gebetsartikel hier“, sagt Juniorchef Birijanth Ratnalingam. Damit meint der 22-Jährige Götterporträts, Räucherstäbchen und Gebetstücher. Und resümiert: „Zu uns kommen immer mehr deutsche Kunden und fragen: Wie funktioniert das? Denn viele deutsche Frauen und Männer sind heute mit Tamilen verheiratet und machen sich mit unserer Kultur vertraut.“ Cricket in Schwarz-Gelb Götterporträts auch für Deutsche „Früher dachten die Leute, dass unser Essen stinkt“, resümiert der Restaurantchef. „Doch seit zwei Jahren kommen sehr viele Deutsche und wollen, dass ich ihnen etwas über unsere Esskultur beibringe.“ Dazu gehört auch, mit den Händen zu essen, weshalb ein Waschbecken mitten im Restaurant steht. Kürzlich hat eine deutsche Kundin sogar ihren 96. Geburtstag im Restaurant gefeiert. „Früher hatten die Leute viele Vorurteile, dass Tamilen kriminell sind und Alkoholiker“, sagt Hanafi. Und lacht: „Dabei darf ich als Moslem gar keinen Alkohol trinken.“ Die speziellen Zutaten für die sri-lankische Küche sind auf der anderen Seite der Rheinischen Straße erhältlich: Kochbananen, www.bethmannbank.de Der Cricket-Schläger bleibt momentan im Schrank. Bei dem Tamil Star Cricket Club herrscht Winter- und damit auch Trainingspause. Was nicht bedeutet, dass die Sportart in der tamilischen Gemeinde keine Rolle spielt: „Cricket hat auf Sri Lanka den Stellenwert, den Fußball in Deutschland hat“, sagt Lingeswaran Subramanian. Der 42-Jährige sitzt im Vorstand des Clubs, der bei Spielen – wie es sich für Dortmunder gehört – in schwarz-gelben Trikots antritt und bei Turnieren in ganz Europa erfolgreich unterwegs ist. Einmal im Jahr richtet der Club auch ein eigenes Turnier aus. Doch trotz der Erfolge hat der Club Nachwuchssorgen – und das wegen der lokalen Sportkonkurrenz. „Cricket ist uns auch wichtig für die Jugendarbeit. Character Sweet Chilli: Restaurantchef Mohideen Hanafi kocht in Dortmund original sri-lankische Küche. Die deutschen Gäste waren zunächst sehr zurückhaltend, sind inzwischen aber sehr an der fremden Esskultur interessiert. 39 Januar 2016 Gegenwart Doch viele der Jugendlichen, die hier aufgewachsen sind, interessieren sich mehr für Fußball – für den BVB.“ Künftig soll auch Cricket dazugehören. Subramanian und seine Mitstreiter wollen den Club als Verein eintragen lassen und hoffen darauf, dann wieder einen geeigneten Trainingsplatz zu bekommen. Bislang hatten sie auf dem alten BVB-Gelände im Dortmunder Hoeschpark trainiert, der aber einem anderen Zweck zugeführt wurde. Shiva im Hinterhof Stadtteil Hombruch, im Hinterhof einer Werkstatt: Rund 150 Menschen haben sich dort eingefunden und umrunden mit aneinander gelegten Händen oder mit kleinen Feuerschalen eine Statue des Gottes Shiva. Der Priester Theivendrakurukkal steht vor der Statue und predigt auf Tamil über die Hindus in Westfalen: Der Sri Kamadchi Ampal-Tempel in Hamm (oben) und der Shiva-Tempel in Dortmund mit Priester Theivendrakurukkal (unten). MehrWerte 40 72 Eigenschaften von Shiva. „Das hier war der erste Hindu-Tempel in Deutschland“, sagte Shanmugam Jegatheesvaran. Der 64-Jährige ist einer der Vorsitzenden des Gotteshauses, das 1984 gegründet wurde, und begrüßt heute bei den verschiedenen Hindu-Festen bis zu mehrere Tausend Tamilen. „Der Tempel kennzeichnet das Gesellschaftsleben der Tamilen“, erklärt Jegatheesvaran. „Und zuweilen kommen auch Deutsche her.“ Dabei handelt es sich um Neugierige genauso wie um Besucher, die einmal nach Indien wollen oder die sogar selbst Hindu glauben. Das Interesse der Deutschen ist zwar noch überschaubar, doch der Tempelgründer gibt sich optimistisch und bemüht ein Sprichwort: „Man nimmt einen Tropfen Milch und gibt ihn in Wasser – und das Wasser wird weiß.“ Bürokratie und Lockerheit Mit anderen Worten: Es tut sich was im deutsch-tamilischen Miteinander. Das meint auch Kumar, der zu Beginn seiner Arbeit noch schlechte Erfahrungen mit der deutschen Bürokratie und ebenso mit der allzu unverbindlichen Mentalität seiner Landsleute machen musste. Doch inzwischen ist eine zweite Generation an Tamilen in Dortmund herangewachsen. Und auch die Kommunalpolitik hat sich den neuen „Nachbarn“ geöffnet. So resümiert Kumarasamy sichtlich zufrieden: „Was ich heute in Dortmund erlebe, ist eine gegenseitige Akzeptanz.“ Text: Frank Paschen Character 41 Januar 2016 „Man muss seine Grenzen haben“ Mondfest im Sri Kamadchi Ampal-Tempel in Hamm: Rauch wabert durch die Halle des zweitgröSSten Hindu-Tempels in Europa. Priester Paskarakurukal hockt vor einem Feuer, gibt Bananen und Orangen in die Glut und sagt Mantren auf. Gleichzeitig winkt er immer wieder deutsche Besucher herein, die neugierig im Eingang stehen bleiben. SchlieSSlich soll die Zeremonie die Energie des Vollmonds auf alle Anwesenden übertragen. Am Feuer hockt auch Malikarchchuna Paskaran, eine der Töchter des Priesters. Die 18-Jährige erklärt ihre Rolle im Tempel – und auch im deutschen Alltag. Was ist das Besondere, als Tochter des Priesters aufzuwachsen? Das ist schon eine große Rolle: Die Gemeinde achtet stärker darauf, was wir tun. Wenn wir etwas falsch machen, dann ist das ein großes Thema. Wir müssen uns genau mit der Religion auskennen und natürlich auch gastfreundlich sein. Wir sind die nächste Generation, und meine Brüder werden das Amt im Tempel übernehmen. Sie sind schon als Priester geweiht und werden das fortführen, was mein Vater aufgebaut hat. Welche Rolle spielt das im Umgang mit Ihren Freunden? Wir wachsen als Vorbild für die Gemeinde auf. Das bedeutet zum Beispiel, dass wir gar kein Fleisch essen. Ich treffe mich mit Freunden, das ist ganz normal. Aber deutsche Freunde trinken Alkohol und rauchen, das mache ich nicht. Meine Freunde empfinden das zwar als streng, aber ich verstehe es vielmehr als Grenze. Man muss seine Grenzen haben, und dazu stehe ich. Wie fühlt sich Ihre Generation? Deutsch oder tamil? Wenn ich in der Schule bin, dann fühle ich mich deutsch. Doch wenn ich im Tempel bin, dann fühle ich mich tamil. Diese Umstellung ist schon anstrengend, aber ich würde es nicht ändern wollen. Das betrifft auch Freundschaften: Deutsche Jugendliche suchen sich irgendwann einen Freund oder eine Freundin. Doch wenn wir uns einen Freund aussuchen, dann muss er zur Familie passen. Er muss auch ein Priester sein oder zumindest unsere Religion verstehen. Welchen Stellenwert hat denn Religion für Sie? Unsere Religion ist eigentlich keine Religion, sondern ein Lebensweg. Wir bewahren unsere alten Werte natürlich, aber wir leben auch in Europa im Jahr 2015. Meine Eltern wurden auf Sri Lanka noch ganz anders erzogen: Frauen wie meine Mutter wurden dort nach der Schule auf die Ehe vorbereitet und ergriffen keinen Beruf. Das erwarten meine Eltern von mir nicht. Welcher Beruf interessiert Sie denn? Ich mache jetzt mein Abitur und habe einen Schwerpunkt auf BWL gelegt. Ich habe auch überlegt, ob ich Rechtsanwältin werde, aber das Studium dauert sehr lange, und ich möchte lieber etwas in wirtschaftlicher Richtung machen. Deshalb hatte ich die Idee, Bürokauffrau zu werden und anschließend BWL zu studieren. Ich möchte später auf eigenen Beinen stehen und selbst Geld verdienen. Und mein Mann muss das dann akzeptieren. Gegenwart 42 Kleine Schätze des Alltags kleine schätze des alltags Der Alltag ist voll von kleinen Gegenständen: Taschentücher, Messer, Streichhölzer, Kaffeemaschinen oder Kugelschreiber – sie alle gelten heute als so selbstverständliche Accessoires des täglichen Lebens, dass sie kaum noch eines Gedankens oder eines zweiten Blicks würdig erscheinen. Dabei sind sie oft unentbehrlich und besitzen eine lange Geschichte. Grund genug, die „kleinen Schätze des Alltags“ einer genaueren Betrachtung zu unterziehen. www.bethmannbank.de Character Januar 2016 43 Verschlusssache Wirtschaftskrimi und Technikwunder: Der ReiSSverschluss „Kein Mensch weiß, wie es ‚gemacht’ wird. Kein Mensch kann sich erklären, warum der Reißverschluss funktioniert“, schreibt Kurt Tucholsky 1928 über dieses Wunderwerk der Technik, das wir alle erst zur Kenntnis nehmen, wenn es nicht funktioniert. Tucholsky vermutet, dass der Erfinder als Clochard in Paris endete. Könnte auch gut sein, denn der Reißverschluss hat viele Väter – und viele davon auf dem Gewissen. Rund 1.000 (!) Patente wurden für ihn eingereicht. Aber fast alle „Erfinder“ des von der BBC zum Weltwunder des 20. Jahrhunderts gewählten Reißverschlusses starben arm. Weder sie noch ihre Nachfahren profitierten von den 500.000 Metern Reißverschluss, die täglich im ostfriesischen Rhauderfehn, dem Sitz der Opti GmbH, dem neben dem japanischen Branchenriesen YKK zweitgrößten Reißverschlusshersteller der Welt produziert werden. Kriegsgewinnler Ursprünglich war der Reißverschluss nicht als Alternative zu Knöpfen an Kleidungsstücken gedacht, sondern um die üblichen Stiefelknöpfe zu ersetzen. Daran tüftelte man seit 1851. Erst 1893 erhielt der New Yorker Erfinder Whitcomb Leonard Judson das USPatent für einen „Klemmöffner und -schließer für Schuhe“. Es beginnt ein Wirtschaftskrimi, bei dem Judson bald auf der Strecke bleibt. Er stellt seinen Verschluss Colonel Lewis Walker vor. Dieser gründet 1894 in der Nähe von New York die Universal Fastener Company, die erste Reißverschlussfabrik der Welt – und boxt Judson aus dem Unternehmen. geworden. Von einer Stoffleiste verdeckt, wird der Verschluss Ende der 1920er Jahre bei einem großen Teil der Kleidung die Norm. 1935 setzt die Modeschöpferin Elsa Schiaparelli ihn sogar erstmals als Stilmittel ein. 1904 nennt sich die Firma Automatic Hook and Eye Company. Slogan: „Ein Zug, und es ist vollbracht“. Walker stellt einen Schweden namens Aronson ein, welcher wiederum Walker aus dem Unternehmen boxt. Der Schwede hat eine Tochter, die im New Yorker Boom-Taumel der Jahrhundertwende einen Landsmann und Star-Ingenieur, Gideon Sundback, kennenlernt. Er verliebt sich in Aronsons Tochter, heiratet und legt 1913 seinem Schwiegervater – und der Welt – den ersten wirklich funktionierenden Reißverschluss vor. Die letzte Revolution erlebt der Reißverschluss 1953: Der deutschen Firma Opti gelingt es, den Reißverschlüssen die metallenen Zähne zu ziehen, sie in Kunststoff zu fertigen und in jeden beliebigen Farbton einzufärben. Damit wird dieses Alltagsding sogar für Industrie und Medizin interessant. Nichts klemmt mehr. Die Firma nennt sich nun Hookless Fastener Company, und Sundback wird dank Reißverschluss zum Multimillionär. Sein Reichtum gründet sich auf den Ersten Weltkrieg: Zunächst hält der praktische Verschluss nur Taschen und Gürtel zusammen, 1918 jedoch bereits 10.000 Fliegeranzüge. Dem militärischen Siegeszug des Verschlusses folgt der zivile. 1923 wird das „action word“ des American Way of Life kreiert: „Zipper“! Aus den 24.000 Reißverschlüssen von 1917 sind 1934 schon mehr als 60 Millionen Praktisch und schmuck Die erotische Konnotation als „Reizverschluss“ erreicht der Reißverschluss erstmals 1957 im Film „Pal Joey“. Frank Sinatra attestiert seiner Rita Hayworth eine Karriere als „Vera of the vanishing zipper“. Und 1971 brennt sich, nach einer Idee Andy Warhols, der ZipVerschluss als Rolling-Stone-Cover der LP „Sticky Fingers“ in das Bewusstsein ein. So dient der Reißverschluss längst nicht mehr nur dem Zusammenhalt von Taschen, Federmäppchen, Verpackungen, Kleidung und sogar hochtechnisierten AstronautenAnzügen. Sondern er wird, seit den 1980er Jahren des Punk zusätzlich auch als ebenso aggressives wie trivial schmückendes Modeaccessoire eingesetzt. Text: Pascal Morché Zukunft 44 Zwischen kommerziell und karitativ Zwischen Kommerziell und karitativ Ist fair wirklich fair? Das Fair-TradeUnternehmen GEPA GEPA gehört zu den Pionieren des Fairen Handels. Lange hat das Wuppertaler Unternehmen seinen Kaffee, Tee oder Orangensaft über Kirchenbasare und Weltläden verkauft. Heute, im Jahr seines 40. Jubiläums, bekommt der Pionier der Szene viel Rückenwind von anderen Anbietern, denn Fair Trade hat sich im Lebensmitteleinzelhandel etabliert. Was GEPA aber auch vor neue Herausforderungen stellt. Ausgezeichnet: GEPA-Geschäftsführer Robin Roth mit dem Deutschen Nachhaltigkeitspreis. Das Unternehmen wurde 2014 als „Deutschlands nachhaltigste Marke“ geehrt. www.bethmannbank.de Character 45 Januar 2016 Kakaoproduktion: Nelson Cruz (23) lebt auf der afrikanischen Insel São Tomé und baut Kakao an. Durch die Zusammenarbeit mit GEPA erzielt er gute Preise und trägt zur Entwicklung seines Dorfes bei. Dieser Chef ist sich selbst der beste Kunde: Robin Roth kommt mit dem Fahrrad zur Arbeit, ernährt sich vegetarisch, bezieht seine heimischen Lebensmittel vom benachbarten Bauern, kauft ansonsten fair gehandelte Produkte und nutzt Strom von Greenpeace: Wollte GEPA einen Werbespot drehen, wäre Roth mehr als ein geeigneter Hauptdarsteller. Der Geschäftsführer des Wuppertaler FairTrade-Handelsunternehmens GEPA macht seinen Job offensichtlich aus Überzeugung. „Mich reizt die Idee des Fairen Handels“, sagt er. „Eigentlich ist sie ganz simpel, denn sie bedeutet, benachteiligte Produzentengruppen im Süden der Erdkugel fair zu behandeln.“ Roth, ein groß gewachsener schlanker Mann mit ernstem Blick hinter seiner schlichten Brille, verzieht die Lippen zu einem Lächeln: „Allerdings ist das Thema hochkomplex und fordert mich immer wieder aufs Neue intellektuell heraus.“ „Hard Core Fans“ nennt Roth seine Kunden. Wer GEPA-Kaffee, -Tee, -Schokolade oder -Orangensaft kauft, zahlt mehr als den doppelten Preis eines konventionell hergestellten Produkts. Weil die wirtschaftlich benachteiligten Bauern in ärmeren Ländern angemessen dafür bezahlt und behandelt werden sollen. Vom Geschäftsmann zum Überzeugungstäter Roth ist gebürtiger Engländer. Bevor der 49-Jährige nach Deutschland kam, um für den Fair-Trade-Sektor zu arbeiten, war er ein gewöhnlicher „schmutziger“ Geschäftsmann, wie er es schmunzelnd formuliert. Er leitete eine Textilfirma, die Ware aus Indien und Pakistan importierte. Heute, an einem trüben Herbsttag, sitzt er in seinem Büro der Wuppertaler Firmenzentrale und erzählt, dass es seine Frau war – als Quäkerin den Menschenrechten und der wirtschaftlichen Gerechtigkeit persönlich besonders verpflichtet –, die ihn in Richtung fairer Handel stupste. 2005 heuerte er bei Fairtrade International an, einer internationalen Standard- und Zertifizierungsorganisation, drei Jahre später wurde er von GEPA abgeworben. Seitdem will er all sein Handeln unter die zentrale Frage stellen: Was ist gerecht? Die einfache Antwort lautet: Kaffeebauern in Mexiko oder Orangen-Anbauer in Brasilien so zu bezahlen, dass sie davon leben und ihre Kinder zur Schule schicken können. Doch die umfassende Antwort ist sehr viel komplizierter und wirft neue Fragen auf: Ist es gerecht, fair produzierten Wein aus fernen Ländern den heimischen Sorten vorzuziehen? Ist es fair, Milch von benachteiligten Bauern weit weg zu beziehen, während es ausreichend Milchkühe in der Heimat gibt? GEPA beschäftigt in einer Grundsatzabteilung drei Mitarbeiterinnen, die sich solche Fragen stellen. „Oft haben wir keine eindeutige Antwort. Aber wir wägen das Für und Wider gut ab“, meint Roth. Im Falle der Milch verwendet die Firma inzwischen Bio-Ware aus hiesigen Breitengraden. Das Wein-Angebot hat seinen Ursprung in südafrikanischen Regionen, weil es in der Anti-Apartheitsbewegung ein Weg war, die Bauern vor Ort zu unterstützen. „Wir machen keineswegs alles richtig. Aber wir machen unsere Entscheidungen transparent.“ Zukunft Fair Trade passte nie besser in den Zeitgeist Zugrunde liegen drei Ziele des fairen Handels: Die Bauern im Süden des Globus‘ gerecht zu behandeln und zu fördern, die Verbraucher in entwickelten Ländern zu einem anderen Einkaufsverhalten und Lebensstil zu motivieren und somit die Welthandelsstrukturen in Richtung dieser „Gerechtigkeit“ zu beeinflussen. Aktuell bekommt der faire Handel Rückenwind von vielen Seiten, nie passten seine Ziele so sehr zum Zeitgeist wie heute: Der Atomausstieg ist beschlossen, Bio-Produkte boomen – und spätestens, seit im Frühjahr 2013 mehr als 1.100 Arbeiterinnen in einer Textilfabrik in Bangladesch ums Leben kamen, ist auch das Bewusstsein um prekäre Arbeitsbedingungen hierzulande gestiegen. 2014 wuchsen die Umsätze des fairen Handels um ein Viertel auf ein Rekordhoch von 827 Millionen Euro, meldet der Fair-Trade-Lizenzgeber TransFair. Denn inzwischen gibt es ausgewählte Fair-TradeProdukte sogar beim Discounter: Aldi bietet Bananen, Kaffee oder Rosen an, Lidl verkauft Kakao, Kaffee oder Tee. tigen Kredit an. „Wir unterstützen bewusst neue, oft kleine Organisationen, die durch die Weltmarktstrukturen benachteiligt sind“, erläutert Hans-Jürgen Wozniak, Produktmanager Kaffee, der umsatzstärksten Kategorie bei GEPA. „Wir öffnen ihnen die Tür zum Export, beraten sie bei der BioUmstellung und stabilisieren sie in dieser Übergangszeit durch die Garantie, ihre Produkte einzukaufen.“ Wir machen keineswegs alles richtig. Aber wir machen unsere Entscheidungen transparent. Robin Roth Fairer Handel als Form der Entwicklungsarbeit Für den 59-jährigen Wozniak laufen all seine Bemühungen auf dasselbe Ziel hinaus: „Wir wollen, dass unsere Anbauer ihr Produkt marktfähig kriegen und halten.“ Dafür verkosten er und seine Kollegen jeden zweiten Morgen Kaffeebohnen und Kaffee, um den Kooperativen vor Ort Feedback zu geben: zu unrein, zu feucht oder schlicht nicht wohlschmeckend? GEPA trainiert seine Bauern auf diese Weise kontinuierlich – auch auf die Gefahr hin, dass sie abspringen und ihre Ware komplett an einen konventionellen Hersteller verkaufen, der sein Sortiment um Fair-Trade-Produkte ergänzt. Das Unternehmen reinvestiert sämtliche Gewinne. Die Gesellschafter – ausnahmslos kirchliche Entwicklungs- und JugendOrganisationen – stellen keine Ansprüche. Und GEPA versucht, ohne Kredite auszukommen, bietet seinen Bauern aber sogar eine Vorauszahlung als eine Art zinsgüns- Die Wuppertaler teilen den Rohstoffhandel in drei Bereiche: den konventionellen – unfairen – Handel, die Fair-Trade-Siegelverwender und die Vertreter der Urform des fairen Handels, z. B. GEPA. Von Experten bestätigt wurde diese Sicht zuletzt 2014, als die Wuppertaler zum wiederholten Mal mit Robin Roth geht es hingegen gar nicht darum, möglichst groß zu werden: „Einen Milliarden-Umsatz könnten wir gar nicht stemmen“, sagt er selbstkritisch. GEPA vertreibt seine Waren traditionell über Weltläden. Das aktuelle Wachstum von gut 6 Prozent pro Jahr kommt über den Naturkost- und Biohandel – im Geschäftsjahr 2014/2015 setzte die Firma knapp 68 Mio. Euro zu Großhandelspreisen um, im Jahr davor waren es 63,7 Mio. Euro. Zwischen kommerziell und karitativ 46 www.bethmannbank.de dem Deutschen Nachhaltigkeitspreis geehrt und als „Avantgarde des Fairen Handels“ anerkannt wurde. Ist fair tatsächlich gerecht? Die Lizenznehmer des Fair-Trade-Siegels wurden hingegen häufiger von Verbraucherschützern kritisiert. Die Lieferkette sei nicht transparent, hatte etwa die Verbraucherzentrale Hamburg bemängelt, und Produzenten würden nicht fair bezahlt, heißt es beispielsweise in einer Studie aus Großbritannien. „Wir wollen das Siegel nicht kritisieren“, sagt Robin Roth. Immerhin gehörte GEPA zu den ersten Lizenznehmern. Es hatte geholfen, die Idee im Handel und bei Verbrauchern zu etablieren. „Wer das Fair-Trade-Siegel nutzt, macht vieles besser als der konventionelle Handel.“ Für den Agrar-Ingenieur Wozniak ist der GEPA-Weg der einzig richtige: direkter Ankauf bei den Kleinbauern und ihren Genossenschaften – ohne jeden Zwischenhändler. Zudem sind alle Partner zertifiziert. Da er aber auch weiß, dass Papier geduldig ist, fahren die Produktmanager jedes Jahr in die Anbauländer und treffen Vertreter der Genossenschaften, in denen die Bauern organisiert sind. „Weil wir nur dann tatsächlich auf Augenhöhe sprechen können“, sagt er. Auch mit seinen Kunden will sich GEPA künftig noch stärker auf Augenhöhe bewegen. Roths Wunsch: GEPA als Firma zu etablieren, in der möglichst viele Konsumenten strukturell eingebunden sind. In einer Art Genossenschaft oder als Organisation, getragen von einer neuen Form des Crowdfundings. In zwei Jahren will Roth seine Pläne spätestens offiziell bekannt machen. Doch er weiß heute schon: Nie waren die Zeiten besser, Konsumentenmacht für eine faire Sache einzusetzen. Text: Stefanie Bilen Character 47 Januar 2016 Meilensteine von Fair Trade 1964 gründet die Hilfsorganisation Oxfam eine eigene Handelsgesellschaft. 1973 importiert die niederländische Stiftung SOS den weltweit ersten fair gehandelten Kaffee aus Guatemala. 1975 wird GEPA gegründet, die „Gesellschaft zur Förderung der Partnerschaft mit der Dritten Welt“. 1989 wird die International Fair Trade Association gegründet. 1992 nimmt der Verein TransFair seine Arbeit in Deutschland auf. Zertifizierte Händler dürfen das Fair-Trade-Siegel nutzen. 1993 bietet Rewe als erste Handelskette bundesweit fair gehandelten Kaffee an. Kaffee-Ernte: Den Kaffee bezieht die GEPA ausschließlich von Kleinbauern-Organisationen wie Gumutindo in Uganda. In dem Kooperativen-Dachverband sind Frauen besonders aktiv – sie haben dort 50 Prozent der Leitungspositionen inne. Internationale Standards des Fairen Handels Fester Mindestpreis, der die Kosten nachhaltiger Produktion deckt. Verbot von Zwangsarbeit und ausbeuterischer Kinderarbeit. Diskriminierungsverbot. Umweltstandards, die den Gebrauch von Pestiziden und Chemikalien einschränken und gentechnisch veränderte Saaten verbieten. Aufschlag für biologisch angebaute Produkte. Prämie für die Bauern-Kooperativen, um lokale InfrastrukturProjekte für die Gemeinschaft zu finanzieren. Quelle: TransFair e. V. Chancen: Kinder wie dieses Mädchen aus Mexiko profitieren von fairem Handel, denn so können Schulbesuch und Gesundheitsvorsorge finanziert werden. Gegenwart Zahlen, bitte! 48 zahlen, bitte! Intelligenz Eine Sache der Gene oder der Umwelt? Was Intelligenz genau ist und wie diese entsteht, darüber streiten Wissenschaftler schon seit mehr als 100 Jahren. Fest steht: Der Intelligenzquotient der Menschen ist in dieser Zeit um fast fünfzig Prozent gestiegen. IQ — 1912 — wurde die Formel des Intelligenzquotienten (IQ) von dem deutschen Psychologen William Stern entwickelt. Der Intelligenzquotient beschreibt die kognitiven Fähigkeiten eines Menschen. Stern setzte dafür das per Test ermittelte Intelligenzalter ins Verhältnis zum Lebensalter und multiplizierte den Quotient mit 100, damit keine Dezimalstellen entstehen. Das Intelligenzalter definiert die Intelligenz einer Person über die in verschiedenen Altersstufen vorhandenen durchschnittlichen Intelligenzen. — Bei 4 — von 5 durch den Intelligenzforscher James Robert Flynn getesteten Industrienationen waren Frauen das schlauere Geschlecht. Frauen aus Neuseeland, dem „Weißen Südafrika“, Estland und Argentinien übertrafen die Männer. Nur die Australierinnen lagen leicht hinter den Männern. — Rund 80 — Prozent des Intelligenzzuwachses eines Menschen erfolgen durch die Schule. Im Durchschnitt nimmt der IQ eines Kindes pro Lebensjahr um 5 Punkte zu, pro Schulmonat liegt der Zuwachs bei 0,2 bis 0,5 Punkten. 1909 2013 — Um 30 — Punkte ist der Intelligenzquotient der Menschen von 1909 bis 2013 gestiegen. Das entspricht im Durchschnitt etwa drei Punkten pro Jahrzehnt. Ursache für die 1984 erstmals als „Flynn“-Effekt beschriebene Entwicklung, benannt nach James Robert Flynn, sind neben einer besseren Ausbildung auch bessere Ernährung sowie höhere Hygiene- und Medizinstandards. Sie verbessern die frühkindliche Entwicklung. — 2/3 — aller Menschen haben einen IQ zwischen 85 und 115 Punkten. 100 bedeutet durchschnittlich schlau. 130 gilt als Schwelle zur Hochintelligenz, bei 70 beginnt man von geistiger Behinderung zu sprechen. — 12 — Jahre alt ist die Britin Lydia Sebastian. Sie erreichte 2015 beim IQ-Test der britischen Hochbegabtenorganisation Mensa die maximal mögliche Punktzahl von 162. Character Januar 2016 49 — Bis zu 9,5 — Kilogramm wiegt das Gehirn eines Pottwals durchschnittlich, 1,45 Kilogramm wiegt das Gehirn eines Mannes, 1,33 Kilo das Gehirn einer Frau. Sind Pottwale jetzt schlauer als Männer, und Männer schlauer als Frauen? Nein, denn mitentscheidend für die Entwicklung der Intelligenz eines Lebewesens ist das Verhältnis vom Gewicht des Gehirns zum Körpergewicht. Und Frauen wiegen im Schnitt weniger als Männer. 2 9 — 2 bis 9 — Intelligenzarten werden von Wissenschaftlern unterschieden. Diese reichen vom Zwei-Faktoren-Modell, welches die angeborene „fluide Intelligenz“, bestimmt durch geistige Kapazität und Auffassungsgabe, von der erworbenen „kristallinen Intelligenz“ unterscheidet, und geht bis hin zu der umstrittenen Theorie der multiplen Intelligenzen, zum Beispiel der logisch-mathematischen oder der musikalisch-rhythmischen, von Howard Gardner. $ IQ — Für 82 — Länder ermittelten die Wissenschaftler Richard Lynn und Tatu Vanhanen IQMittelwerte der jeweiligen Bevölkerung. An der Spitze liegen die nordostasiatischen Staaten Hong Kong, Südkorea und Japan, gefolgt von Singapur und Taiwan. Deutschland liegt zusammen mit Italien, den Niederlanden und Österreich auf Platz 6. Schlusslicht bilden die Staaten Äquatorialguinea, Ägypten und Sierra Leone. Die Untersuchung ist umstritten, legt aber den Zusammenhang zwischen Wohlstand, Wirtschaftswachstum und Intelligenz einer Staatsbevölkerung nahe. — 190 — soll der IQ des ehemaligen Turnier-Schachspielers Garri Kimowitsch Kasparow betragen. Durch den Sieg gegen Anatoli Karpow im Jahr 1985 wurde er mit 22 Jahren jüngster Schachweltmeister der Geschichte. — 47 — Genabschnitte haben Forscher bislang identifiziert, die mit der Entwicklung der Intelligenz positiv korrelieren, möglicherweise sind es mehr. Nach aktuellem Stand der Forschung beeinflussen aber Erbanlagen nur bis zu 3 Prozent des Intelligenzquotienten eines Menschen. Intelligenz wird nicht nur durch zahlreiche Gene bestimmt, sondern durch Umweltfaktoren in Kindheit und Jugend. — Etwa 0,7 — beträgt die Korrelation zwischen IQ und Schulerfolg, damit ist der Zusammenhang zwischen Intelligenz und Schulerfolg hoch. Die Korrelation zwischen IQ und Berufserfolg ist mit etwa 0,25 dagegen deutlich geringer. Plakativ formuliert heißt das: Wer hochintelligent ist, ist mit hoher Wahrscheinlichkeit gut in der Schule, muss aber später nicht unbedingt erfolgreich im Job sein. Text: Geraldine Friedrich Gegenwart Lieblingsstücke 50 lieblingsstücke nico hofmann: 7 schauspieler, die mir am herzen liegen Foto: Niels Starnick Mario Adorf, 85 Wenn Mario einen Raum betritt, tritt der Sommer mit ein. Mich faszinieren seine ungebrochene Lebenslust, sein umwerfender Charme, sein Lebenswitz und seine Lebensklugheit. Mario Adorf ist eine große Persönlichkeit und ein großartiger Schauspieler. Foto: Getty Images Foto: Sabine Brauer Hannelore Elsner, 73 Hannelore, das Anarchiewesen! Ich verneige mich vor ihrem Spiel und ihrer kompletten Angstfreiheit. Hannelore Elsner ist für mich eine der großartigsten Frauen, die ich kenne, und die letzte Diva. Wenn sie einmal nicht mehr spielt, ist eine Ikone des Deutschen Films gegangen. Maria Furtwängler, 49 Es gibt nur sehr wenige Schauspielerinnen, die sich so positiv weiterentwickelt haben. Ich bewundere Marias viele Facetten: ihre Transparenz, ihre Zerbrechlichkeit und vor allem das Loslassenkönnen in ihrem Spiel. Für beneidenswert halte ich die Unbedingtheit, ja fast die Besessenheit, wie Maria Furtwängler an sich und ihrem Talent arbeitet. www.bethmannbank.de Character Januar 2016 51 Götz George, 77 Götz ist die wichtigste Erscheinung in meinem Leben. Alles, was ich von der Schauspielerei weiß, habe ich von ihm: Emotionen, die Choreografie eines Schauspielers in einem Raum. Wie gehen Körper, Geist und Gefühl ineinander über, wie spielt man raumgreifend, wie setzt man Rhythmus ein? Ohne Götz George wäre ich nicht da, wo ich jetzt bin. Foto: Alamy Foto: Getty Images Foto: Getty Images Alicia von Rittberg, 22 Alicia ist wie Jonas das Gesicht ihrer Generation. Und sie ist für ihr Alter unglaublich klug. So klug, dass ich mich bei Gesprächen mit ihr mächtig ins Zeug legen muss. Als Schauspielerin brilliert sie durch Direktheit und Furchtlosigkeit. Auch Alicia von Rittberg hat das Zeug zu einer Leading Actress international. Jonas Nay, 25 Jonas ist das Gesicht seiner Generation. Ich bin stolz, dass ich ihn für „Homevideo“ entdeckt habe und dass er jetzt eine so fulminante Weiterentwicklung bei „Deutschland 83“ hat. Ich prognostiziere, dass Jonas Nay einer der Leading Actors wird. Auch international. Foto: Ulrich Matthes © privat Ulrich Matthes, 56 Ulrich ist einer der großartigsten Schauspieler, die wir haben. Er vereint Klugheit, Bildung und Handwerk. Und er ist jemand, der in seinem Leben tief in Charaktere hineingeschaut hat, sicher auch in seiner eigenen Biografie. Mit seinem eindrucksvollen Gesicht, seinem ausdrucksstarken Spiel geht Ulrich Matthes grundsätzlich ans Existenzielle. Zukunft 52 Unternehmen der Zukunft UNTERNEHMEN DER ZUKUNFT Strukturiert und direkt Autismus auf dem Arbeitsmarkt: der IT-Dienstleister Auticon Ursprünglich war Auticon als Sozialunternehmen zur Beschäftigung von Asperger-Autisten gedacht. Doch nach schon wenigen Jahren ist die Firma auf dem Weg zu einer festen Größe der IT-Branche. Dabei hat alles mit einem Zufall begonnen. www.bethmannbank.de Character Lange muss Dirk Müller-Remus nicht überlegen, um den Moment zu schildern, in dem alles angefangen hat. Die Szene war zu eindrucksvoll, als dass er sie vergessen könnte. Sein damals 17 Jahre alter Sohn und er hatten ferngesehen, ein Video des Musikers Usher. Der Rapper ist nicht nur berühmt für seine Musik, sondern auch für seine Tanzschritte. Und kaum hatte der Sohn das Musikvideo des Stars gesehen, tanzte er das Video sofort nach – jeden Schritt, jeden Sprung, jede Armbewegung. Es war einer der Momente, in denen Müller-Remus (58) wieder klar wurde, dass der junge Mann Dinge kann, die für viele unvorstellbar sind: unter anderem sich komplexe Kombinationen beim ersten Sehen zu merken. Dass sein Kind besonders ist, wusste Müller-Remus zwar, seit bei seinem Sohn mit 14 Jahren Asperger-Autismus diagnostiziert wurde. Dass diese besondere Fähigkeit jedoch auch gezielt genutzt werden kann, darauf kam der Unternehmer erst, als der Sohn den tanzenden Musiker nachahmte. Die Szene hat er auch deshalb genau im Kopf, weil er sie längst oft erzählt hat – denn aus der ersten Überlegung im Jahr 2011 ist eine Firma mit 70 Mitarbeitern geworden. Angeborene Qualitätssicherung „Mich begeistert immer noch, wie einfach die Logik dieser Idee ist“, sagt Dirk Müller-Remus. Diese Logik geht so: Ein Teil der AspergerAutisten (siehe Infokasten) kann sich lange konzentrieren, wie Müller-Remus’ Sohn Muster erkennen und Details merken. Diese „angeborene Qualitätssicherungsdisposition“, wie Müller-Remus es mit einem Zwinkern ausdrückt, prädestiniert sie zum Beispiel für die Überprüfung von Software. Beschäftigt man sie in einem Unternehmen, sind sie nicht nur höchstwahrscheinlich besonders gut – sondern „zugleich fördern wir noch ein soziales Ziel“, sagt Dirk Müller-Remus. Als ihm diese Einsicht 2011 kommt, blickt er auf Jahrzehnte als Geschäftsführer von Telekommunikations- und Medizintechnik-Firmen 53 Januar 2016 zurück und will etwas Eigenes aufbauen. Also schreibt er einen Businessplan: ein Sozialunternehmen für Softwaredienstleistung mit Asperger-Autisten, gefördert unter anderem vom Arbeitsamt, das die Integration von Schwerbehinderten unterstützt. erklärt er, sehen Nicht-Autisten die Welt. Dann zeigt er auf eine zweite Abbildung: ein nackter Zweig, daneben Nadeln, einzeln aufgereiht. So, erklärt er, sehen AspergerAutisten die Welt. Der Tannenzweig in Einzelteilen, übersichtlich und strukturiert. Ein guter Plan. Hätte es nicht eine Hürde gegeben: Zwar sind rund 1 Prozent der Deutschen Autisten. Doch die Symptome – ob jemand sich Details merkt, Angst vor Schwierigkeiten auf dem Arbeitsmarkt Schwerbehindertenausweis, arbeitslos und Interesse für Computer Dirk Müller-Remus Berührungen hat oder Schwierigkeiten bei Alltagsgesprächen – variieren. Es gibt fast so viele Formen von Autismus wie Menschen mit der Diagnose. Darunter die zu finden, deren Symptome im sogenannten AspergerSpektrum liegen und die sich zudem für Computer begeistern, ist nicht leicht. Und so reist Müller-Remus mit einer ungewöhnlichen Idee und viel Optimismus zunächst durchs Land. Theoretisch zur Mitarbeiterakquise, praktisch für Abende wie diesen im Winter 2013: Es ist dunkel, draußen Matschwetter, die Feiertage sind vorbei, und der Gründer steht in einem neonbeleuchteten Raum. Gastgeber ist die Vereinigung „Autismus Oberbayern“. Normalerweise finden dort Kurse zur Alltagskommunikation oder Elterngespräche statt, doch an diesem Tag geht es um Jobs – oder zunächst um einen Tannenzweig. Dirk Müller-Remus hat einen solchen als Bild an die Wand projiziert. So, Routiniert erklärt er die Unterschiede mit einem tiefen, eindeutig in Hessen geprägten Tonfall – und einer guten Portion Humor. Der ist auch nötig, denn Autismus auf dem Arbeitsmarkt ist ein schwieriges Thema: Nicht umsonst ist der Raum gefüllt mit Jugendlichen und ihren Eltern. AspergerAutisten sind alles andere als begehrte Kandidaten auf dem Arbeitsmarkt: Sie benötigen gleichmäßige Abläufe. Der Umgang mit Kollegen fällt ihnen schwer, weil sie Zwischentöne und Andeutungen nicht verstehen. Doch für Behindertenwerkstätten ist ihre Auffassungsgabe zu hoch. Es klingt unfreiwillig komisch, wenn Müller-Remus erklärt, welche Eigenschaften sein idealer Arbeitnehmer hat: „Schwerbehindertenausweis, arbeitslos und Interesse für Computer“ – ein Jobprofil, wie es nie im Stellenmarkt einer Tageszeitung steht. Aber eines, das auf einige Anwesende zutrifft. So sind es diese Abende, die Müller-Remus die ersten Mitarbeiter bringen. Zur gleichen Zeit bekommt Auticon erste Kunden. Damals breitete sich gerade der Diversity-Gedanke unter Unternehmern aus, die Erkenntnis, dass eine heterogene Mitarbeiterschaft wirtschaftlich sinnvoll ist. Damit werden auch die Asperger-Beschäftigten von Auticon mit ihren besonderen Fähigkeiten und Stärken für viele potenzielle Kunden interessant. Doch so groß der Wille zur Vielfalt ist, so groß sind zunächst die Bedenken potenzieller Kunden. Das sagen sie allerdings selten offen: Einige gestehen Müller-Remus im Nachhinein, dass sie Muffensausen hatten, der ungewöhnliche Mitarbeiter könne falsch behandelt werden. Zukunft Unternehmen der Zukunft 54 Ausgefallene Geschäftsidee: Dirk Müller-Remus entdeckte dank seines Sohns die besonderen Stärken von Asperger-Autisten. haben, sind die Löhne zwar teils geringer als bei Kollegen gleichen Alters in anderen Unternehmen. Mit der Bezahlung in Werkstätten für Behinderte sind sie trotzdem nicht vergleichbar. Ein zweites Zeichen für den Erfolg: Auticon zählt mittlerweile große Unternehmen wie Siemens und Vodafone zu seinen Kunden. Der Umsatz liegt im unteren einstelligen Millionenbereich, die Zahl der Aufträge wächst. Ziel: höhere Beschäftigungsquote Asperger-Autisten nicht. „Sie binden keine sozialen Schleifchen an jeden Satz“, sagt Müller-Remus. Entsprechend verstehen sie sie auch oft nicht. Es ist jedes Mal ein Experiment, meist ein erfolgreiches. Dirk Müller-Remus Die fehlenden „sozialen Schleifchen“ Diese Bedenken sind berechtigt. Denn, das verschweigt Müller-Remus nicht, mit einem Asperger-Autisten zu arbeiten, erfordert Gewöhnung auf beiden Seiten. Bei Auticon gibt es daher ein festes Procedere: Jeder Mitarbeiter durchläuft eine Eignungsprüfung und eine Schulung. Steht ein Auftrag an, gibt es einen Vorstellungstermin vor künftigen Kollegen. Mit dabei: ein Jobcoach, der erläutert, wie der Alltag mit dem neuen Kollegen aussehen wird. Denn Missverständnisse drohen schon bei der Wortwahl. „Es wäre schön, wenn Du...“ wird zum Beispiel im Büroalltag gerne gesagt. Doch Füllwörter, Konjunktive und indirekte Aufforderungen verwenden Keine rauchenden Köpfe Es ist jedes Mal ein Experiment, meist ein erfolgreiches. Den ersten Aufträgen folgen weitere. Allmählich setzt sich bei den Auftraggebern eine Erkenntnis durch, mit der Müller-Remus gerne wirbt: „Unsere Mitarbeiter haben Stärken, die Nicht-Autisten nicht mitbringen.“ Die liegen in visueller, auditiver und kognitiver Mustererkennung und darin, dass ihnen bei Routinetätigkeiten auch nach Stunden der Kopf nicht raucht. Und in einem Detail, das Müller-Remus einst als Schwäche sah: Die fehlenden „sozialen Schleifchen“ sind beliebt bei Kunden. Wenn es, wie bei der Software häufig, um sicherheitskritische Bereiche und vertrauliche Daten geht, ist es besser, wenn Mitarbeiter unangenehme Dinge beim Namen nennen. Der Erfolg, der daraus resultiert, lässt sich an zwei Dingen ablesen. Zum einen tritt das klassische Social-Entrepreneurship-Modell in den Hintergrund. Nur noch einzelne Arbeitsplätze werden staatlich gefördert, vielmehr bekommen die Mitarbeiter branchenübliche Löhne. Weil viele aus der Langzeitarbeitslosigkeit kommen oder wenig Berufserfahrung www.bethmannbank.de Das Ziel ist, die Marktposition im Bereich Mustererkennung bei der Softwareüberprüfung auszubauen. Die Chancen dafür stehen gut. Denn IT-Sicherheit, die Verarbeitung großer Datenmengen und die Analyse von Daten, das sind die wichtigen Fragen, die große Firmen derzeit bewegen. „Und genau da liegen die Stärken unserer Leute.“ Denn Mustererkennung, wie sie Autisten beherrschen, logisch und extrem strukturiert, ist dabei besonders hilfreich. „Wir sind auf dem Weg zu einem richtig guten IT-Unternehmen mit dem Alleinstellungsmerkmal, dass wir Autisten beschäftigen“, sagt Müller-Remus stolz. Soziales Anliegen wird somit mit einem sinnvollen Geschäft kombiniert: „Da habe ich kein schlechtes Gewissen, wenn wir mehr Umsatz machen“, sagt er und lächelt. Vier Jahre nach der Gründung geht es dem Gründer längst nicht mehr nur um das Unternehmen, sondern um die Arbeitsmarktintegration von Menschen mit Autismus. Da reicht es ihm nicht, dass er dieses Jahr bereits das eigentlich für 2023 gesteckte Ziel von 50 Arbeitsplätzen für Autisten erreicht hat. Er plant schon den nächsten Schritt: die Auticon Academy. Dort soll es Bildungsangebote geben, um die allgemeine Beschäftigungsquote unter Autisten zu erhöhen – und um Menschen rechtzeitig zu fördern, die Talente haben, die sonst unter dem Stempel „Autismus“ unentdeckt blieben. „Das wäre mein Traum.“ Text: Lea Hampel Character 55 Asperger-Autismus Asperger-Autismus ist eine der drei Hauptformen von Autismus. Seit 1991 gilt er als offiziell von der World Health Organization (WHO) anerkannte Krankheit. Die Folgen variieren stark, Symptome sind aber unter anderem Schwierigkeiten, sich in sein Gegenüber zu versetzen, und eine Fixierung auf Wiederholungen. Aber auch ausgeprägte Spezialinteressen und große Loyalität gehören dazu. Asperger-Autisten machen etwa 0,3 Prozent der deutschen Bevölkerung aus. Auticon-Gründer Müller-Remus schätzt, dass davon jeder Zwanzigste ein potenzieller Mitarbeiter aufgrund seiner Begabung und einem Interesse für IT ist. Für eine Stadt wie Berlin beispielsweise hat Auticon ein Potenzial von ca. 400 Menschen im AspergerSpektrum errechnet, die als Bewerber interessant wären. Januar 2016 Gegenwart 56 Filmen i st k re atives MAX FRISCH, Schweizer Schriftsteller und Architekt, 1911 – 1991 Nico hofmann KARL JASPERS, deutscher Psychiater und Philosoph, 1883 –1969 NICCOLÒ MACHIAVELLI, florentinischer Philosoph, Politiker, Diplomat, Chronist und Dichter, 1469 –1527 JOHANN WOLFGANG VON GOETHE, deutscher Dichter, 1749 –1832 www.bethmannbank.de PABLO PICASSO, spanischer Maler, 1881 –1973 Character Januar 2016 57 ARISTOTELES, einflussreichster Philosoph der Geschichte, 384 v. Chr. – 322 v. Chr. FRANZ KAFKA, deutscher Schriftsteller, 1883 – 1924 GEORG WILHELM FRIEDRICH HEGEL, deutscher Philosoph, 1770 – 1831 HORST WENDLANDT, deutscher Filmproduzent, 1922 – 2002 ECKART TOLLE, kanadischer spiritueller Lehrer und Bestsellerautor spiritueller Bücher, geboren 1948 * von Nico Hofmann ROBERT LOUIS STEVENSON, schottischer Schriftsteller und Dichter, 1850 –1894 Tradition 58 Panorama Sie tragen Turban und Hosenträger, hören fast 100 Jahre alte Musik und sind aus der Berliner Partyszene nicht wegzudenken: Swing-Fans bringen die Hauptstadt mit ihren Veranstaltungen zum Schwingen. www.bethmannbank.de Panorama Character 59 Januar 2016 Tradition 60 „What the hell?“ Die beiden britischen Touristen stehen in der Tür der Bar Hackedahl in der Berliner Friedrichstraße und schauen sich mit großen Augen um. Aus den Lautsprechern zirpt Rosita Serrano „Küss mich, bitte, bitte küss mich“. Hinter dem Tresen schütteln Barkeeper in Knickerbockern Cocktails für die Gäste. Die drängen sich um die Bar und an den Tischen: blass gepuderte Frauen mit roten Kussmündern, die mit ihren Perlenketten und pailettenbesetzten in den Achtziger Jahren hat sich die Szene kontinuierlich weiterentwickelt, ist vielfältiger geworden. Kleidern wirken, als hätten sie sich aus einem Fritz-Lang-Film gestohlen. Ihre Begleiter tragen Frack. Manche auch Uniform. Die erfolgreicheren Partys in der Hauptstadt ziehen schon mal mehrere Tausend Gäste an. Noch keine Massenbewegung – aber längst mehr als nur eine Subkultur. Mit seinem Swing Dance Orchestra ist der Bandleader Andrej Hermlin einer der wichtigsten Vertreter der stetig wachsenden Szene. Die beiden Briten – in Jeans und Pullover – scheinen von der unverhofften Zeitreise überfordert. Dass Berlin eine Partystadt ist, steht ja in jedem Lifestyle-Magazin. Aber muss man sich dafür so in Retro-Schale werfen? „Zum Glück“, sagt der Pianist Andrej Hermlin, „dadurch sind immer wieder junge Leute dazugekommen. Die zweite Ära des Swings dauert nun schon wesentlich länger an als die erste.“ Zwanzigjährige besuchen die gleichen Konzerte wie Rentner. Schellack-Enthusiasten teilen sich die Tanzfläche mit Spotify-Hörern. Swing steckt ihm in den Kinderschuhen Der Remix einer Ära Kommt darauf an, wie ernst man den Swing nimmt. Und, wo man ausgeht. Die Berliner Szene ist groß – pro Abend listet der OnlineKalender swinginberlin.de im Schnitt drei Veranstaltungen – und so schwer zu fassen wie die Fransen an einem Flapper Dress, dem provokanten Minikleid der Ära. Swing in Berlin: Das sind Galas und Tanzstunden, Clubnächte und Burlesque-Shows. Ein Remix, der den Palast-Orchester-Galan Max Raabe mit den DJs der Partyreihe „Electro Swing Revolution“ oder den Swing-Surf-Punks der Band BudZillus in Einklang bringt. Seit dem ersten großen Swing-Revival Der Sohn des Schriftstellers Stephan Hermlin ist in Berlin aufgewachsen. Mit seinem auch international erfolgreichen Orchester spielt er Swing im Stil der Dreißiger Jahre. Er tritt in der Berliner Philharmonie auf, bei Bällen oder Fernsehgalas. Dazwischen bespielt er Berliner Kneipen oder auch mal ein Autohaus. Der hochgewachsene Musiker liebt und lebt den Stil der Dreißiger Jahre. Selbst am Wochenende öffnet er die Tür seines Pankower Elternhauses im Anzug mit Einstecktuch. Schon vor dem Frühstück Manschettenknöpfe anzulegen, ist für ihn so selbstverständlich, wie einer Frau aus dem Mantel zu helfen. www.bethmannbank.de Panorama Das Haus, das er mit Frau und zwei Kindern bewohnt, hat er mit Klassikern des Art-Déco und Bauhaus eingerichtet. Alles Originale, vom Sofa bis zum Bakelit-Telefon. Ein Retromane sei er aber nicht, sagt Hermlin. „Die Zwanziger und Dreißiger waren einfach eine Hochzeit modernen, ungewöhnlichen und vor allen Dingen auch zeitlosen Designs.“ Und die Maßanzüge seien lange Zeit seiner Figur geschuldet gewesen. „Seit ich 37 Kilo abgenommen habe, trage ich manchmal auch Jeans.“ Was er nicht abstreitet, ist seine Swing-Besessenheit. Mit vier Jahren ließ er seine Spielsachen liegen und tapste zum Plattenspieler, wenn der Vater eine Platte von Benny Goodman oder Django Reinhardt auflegte. Während andere Teenager Rock hörten, brachte er sich selbst am Klavier das Swingspielen bei. „Ich bin kein brillanter Pianist“, sagt er. „Aber ich habe gute Ohren.“ Von 1986 bis 1990 studierte er Klavier an der Berliner Hochschule für Musik Hanns Eisler. In dieser Zeit gründete er auch sein Swing Dance Orchestra. Seitdem sind 20 Alben erschienen. Zuletzt „Happy Birthday, Mr. Swing“ zur Feier des 50. Geburtstags des Bandleaders. Hermlins Orchester spielt Songs wie „Bei mir bist du scheen“ oder „In the Mood“ nach Originalarrangements und mit alten Mikrofonen (in denen neue Technik versteckt ist). Die Herren im Orchester tragen Smoking, die Damen Abendkleid. Hermlin gibt den Conferencier. Character 61 Januar 2016 Austernproduktion: In der Produktionshalle wachsen die Austern in der kalten Jahreszeit. Verpackt werden sie in Körbchen à 25 Stück. Der will doch nur spielen: Pianist Markus Schimpp aus Bonn mischt die Berliner Soirée mit frivolen Schlagern auf – begleitet von amüsiertem „Huch!“ und „Hach!“ aus dem Publikum. Tradition 62 Nachts sind alle Lider grau: Zigarettenspitze und „Smokey Eyes“ sind auf den Partys Standard. Auch bei den Herren. www.bethmannbank.de Panorama Character 63 Januar 2016 Tradition 64 Hier ist was los, Liebchen: Wenn Conférencier Daniel Malheur (l. o.) die Tombola moderiert, sind die Gäste ganz Ohr. Le Pustra www.bethmannbank.de Panorama Character Wenn dann noch Gäste in historischen Outfits Lindy-Hop oder Balboa tanzen, ist das wie eine Zeitreise in die Dreißiger. – „Aber mit Rückfahrschein“, sagt Hermlin. Denn leben wollte er in dieser Epoche nicht. „Mein Vater war Jude, meine Mutter Russin und ich bin mit einer Kenianerin verheiratet.“ Als engagierter Linker hätte der Musiker im Nazi-Deutschland um sein Leben fürchten müssen. Wo sich Vamps und Galane ausstaffieren Berlin in den Dreißigern – kein gutes Partymotto. Wenn überhaupt, beziehen sich Swing-Veranstaltungen deswegen eher auf die Dekade davor. Auch bei Le Boudoir, einem Kostümverleih im Stadtteil Friedrichshain, liegt der Fokus auf der Mode der Zwanziger Jahre. Das Ladengeschäft in der Boxhagener Straße ist kaum größer als ein begehbarer Kleiderschrank. Geführt wird es von Tilda Knopf (ein Künstlername). Die 26-jährige Stylistin mit den dunkelroten Locken empfängt Kunden nach Vereinbarung. Swingtänzer können sich bei ihr komplette Outfits leihen oder auch kaufen – von der Zigarettenspitze bis zum Spangenschuh. An diesem Nachmittag hat sich Charlotte Wesser, 43, mit ihrem Tanzpartner Sven Piersig, 49, zur Anprobe angemeldet. Die beiden wollen sich für eine Party ausstatten. Die ist zwar erst in drei Monaten, „aber wenn wir zu lange warten, sind die schönsten Kleider schon weg“, sagt Wesser. Mindestens zweimal pro Jahr geht die blonde Referentin mit Freunden zu Januar 2016 65 den Bohème-Sauvage-Partys. Diese finden mittlerweile in vielen deutschen Städten statt, ziehen mehrere Hundert Gäste an. Obwohl der Dresscode strikt ist: Nicht nur Jeans und Turnschuhe sind verboten, sondern auch billige Federboas oder Perücken. Handys müssen in der Tasche bleiben. „Aber gerade diese Einschränkungen machen die Abende besonders.“ Die Stimmung sei festlich bis ausgelassen. Der Umgangston ähnlich wie auf Bällen – höflich und charmant. Vielleicht ein wenig koketter. Tilda Knopf erklärt: „In den Zwanzigern wurde durchaus exzessiv gefeiert – aber eben mit Niveau.“ Vor der Party trifft sich Wesser mit ihren Freundinnen beim Friseur. Mit frischen Wasserwellen geht es zum Schminken und Umziehen. „Vier Stunden dauert es schon, bis wir alle fertig sind.“ Ein Ritual, das ihr genauso viel Spaß macht wie die Partys selbst. Das Fernsprechgerät bleibt heute in der Tasche Auch die Party in der Bar Hackedahl ist eine Bohème-Sauvage-Veranstaltung: Eine Soirée für 200 Gäste. Am Dresscode ändert der kleinere Rahmen nichts. Wären die britischen Touristen nicht von selbst gegangen, hätte sie der Türsteher höflich hinaus gebeten. Else Edelstahl (auch dies ein Künstlername), die Gastgeberin, kennt da kein Pardon. Sie veranstaltet seit 2004 Zwanziger-Jahre-Partys und -Bälle. Erst nur in ihrer Wohnung. „Die wurde aber schnell zu klein“, sagt die 34-Jährige mit den weißblonden Wellen. Mittlerweile organisiert sie auch Yachtausfahrten und managt das jährliche Berlin Burlesque Festival. Ihr Faible für diese Ära ist dem damaligen Frauenbild geschuldet – „Sie lebten so selbstbestimmt wie nie zuvor.“ –, aber auch der Etikette: „Mir ging das ewig Schlabberige der Berliner Partyszene auf die Nerven. Ich wollte interessante Menschen um mich versammeln, die das gewisse Etwas haben und sich zu amüsieren wissen. So wie die Künstler und Intellektuellen in den Salons zur Zeit der Weimarer Republik.“ Warum sich Menschen in Zeiten von Skinny Jeans, Kunstfasern und Smartphones für einen Abend Federhütchen und Kummerbund anziehen um auszugehen? Für Lars Schwuchow, einen von Edelstahls Stammgästen, steckt dahinter die Sehnsucht nach alten Werten: „Ich komme hierher, um mich gepflegt zu unterhalten. Ist doch toll, die Damen mit Handkuss zu begrüßen, ihnen ein Kompliment für ihr Kleid oder ihre Frisur zu machen.“ Während die meisten Soirée-Gäste nur für einen Abend im Stil der Zwanziger swingen wollen, mag der 39-jährige Dekorateur auch zu Hause nicht auf den Glamour dieser Dekade verzichten. Er fährt im Oldtimer zu den Kunden, besitzt mehrere Grammophone, sammelt Schellackplatten und diskutiert mit Freunden, wie eine Fliege korrekt zu binden ist. Veranstaltungen wie diese gäbe es viel zu selten, findet er. „Der Umgangston ist so angenehm. Hier plaudern 20-Jährige mit 60-Jährigen – wo in Berlin findet man das denn noch? Wenn ich nach so einem Abend wie heute in der Tram nach Hause fahre und sehe, wie alle nur in ihre Handys gucken, dann weiß ich: Ich war am richtigen Ort.“ Text: Jessica Braun Gegenwart HERAUSGEBER Fotos Bethmann Bank AG Bethmannstraße 7 – 9 60311 Frankfurt am Main www.bethmannbank.de S. 6 – 17 Feedback zum Heft: character@bethmannbank.de redaktion Frank Elsner Kommunikation für Unternehmen GmbH Kirchstraße 15a 49492 Westerkappeln office@elsner-kommunikation.de Autoren Dieser Ausgabe Character im Porträt Marc Krause S. 18 – 19Perspektivenwechsel S. 18vecteezy.com S. 20 – 23 Werte im Wandel nicolasberlin/photocase.de S. 24 – 25 Hello / Goodbye willma …/photocase.de S. 26 – 31 Unternehmen der Tradition Marc Krause S. 32 – 33 Für morgen stocksnap.io S. 34 – 35 12 Dinge stage entertainment/wb Presserechtlich verantwortlich Jens Heinen Bethmann Bank AG Bethmannstraße 7 – 9 60311 Frankfurt am Main www.bethmannbank.de Design Biedermann und Brandstift Creative Services GmbH Dreieichstraße 59 60594 Frankfurt am Main www.biedermannundbrandstift.com Impressum 66 S. 36 – 41MehrWerte Marc Krause S. 42 – 43 Kleine Schätze des Alltags iStock/AGorohov S. 44 – 47 S. 44 S. 45 S. 47 Zwischen kommerziell und karitativ GEPA – The Fair Trade Company K. 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Character 67 Januar 2016 Durch die Leidenschaften lebt der Mensch, durch die Vernunft existiert er bloß. Nicolas Chamfort, 1741– 1794, französischer Schriftsteller bleiben wir im dialog! Telefon: 069 2177 1712 www.bethmannbank.de