Character-Ausgabe 8

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Character-Ausgabe 8
echtes. private. banking.
Ausgabe 8 — Januar 2016
Character im Porträt
Nico Hofmann
Der Filmproduzent über Kreativität,
Stress und seine weibliche Seite
6 — 17
Erfolgreich mit Asperger
Das IT-Unternehmen Auticon und die Stärken seiner Mitarbeiter
52 — 5 5
Das Ding mit dem Swing
Das Comeback einer alten Partykultur
58 — 6 5
Gegenwart
2
Editorial
Die Freiheit
der Phantasie
ist keine Flucht in das
Unwirkliche; sie ist
Kühnheit und Erfindung.
Eugène Ionesco, 1909 – 1994,
französisch-rumänischer Autor
Character
3
Januar 2016
Liebe Leserin, lieber Leser,
wie entsteht unser Bild von der Welt? Letztlich basiert es –
wenn wir es genau nehmen – aus vielen kleinen und
persönlichen Erlebnissen, die wir täglich machen und die
wir zu einem großen Ganzen zusammensetzen. Tun wir
dies immer mit kühler Überlegung? Oder spielen dabei
nicht vielmehr Emotionen und Kreativität eine Rolle?
Letztlich macht doch das Unberechenbare, das NichtPerfekte die Welt erst bunt und besonders.
Unser Bild von der
Welt setzt sich aus den
verschiedensten Ausschnitten zusammen.
Die meisten sind geprägt
von Charakteren!
Jemand, der im wahrsten Sinne des Wortes Bilder von der Welt entwirft, ist unser
Character Nico Hofmann. Er ist ein „Kreativer“ im besten Sinne – ein Regisseur
und Filmproduzent, der uns mit seinen Werken in die verschiedensten Welten führt.
Seine Geschichten unterhalten uns, weil sie mit Emotionen spielen, Spannung erzeugen,
einen eigenen Blick auf die Welt gewähren. Um dies alles zu schaffen und die Menschen
immer wieder zu begeistern, dazu braucht es zweifellos Charakter.
Ein buntes Bild bietet die Kultur der Tamilen in Dortmund. Die Stadt liegt zwar im
Herzen von Westfalen, doch zugleich ist sie eine zweite Heimat für viele Flüchtlinge
des sri-lankischen Bürgerkriegs. Mit ihren farbenfrohen Traditionen ergänzen die Tamilen
heute das Stadtbild. In einer ganz eigenen Welt leben dagegen AspergerAutisten: Sie nehmen ihre Welt nicht so wahr wie wir, sondern tun dies tatsächlich streng
strukturiert. Sie besitzen somit eine ganz besondere Stärke, mit der sie dank des ITUnternehmens Auticon auf dem Arbeitsmarkt Fuß fassen können.
Das Bild der Welt wandelt sich mit der Zeit – doch finden sich immer wieder Überbleibsel
der Vergangenheit darin. Das betrifft einerseits die Technik: Die Schallplatte, die wir in
Zeiten von CD und HD-Streaming längst als Relikt von damals verstanden haben, erlebt
derzeit einen immensen Boom. Davon profitiert das Unternehmen Pallas,
das alte Vinyl-Pressen nie zum alten Eisen gegeben hat. Wieder up to date sind
andererseits auch Manieren und Mode von früher: Dies zeigt eine besondere
Partyszene, die das Lebensgefühl der Swing-Ära aus den 1920ern und 1930ern –
darunter auch der Handkuss – wieder aufleben lässt.
Apropos: Der respektvolle Umgang miteinander ist nicht nur beim Feiern gefragt. Viel
wichtiger ist er in der Wirtschaft: Das Unternehmen GEPA setzt sich deshalb
für fairen Handel ein und sorgt dafür, dass die Erzeuger in den Schwellenländern
angemessen bezahlt werden.
Dies alles zeigt: Die Welt um uns herum ist bunt. Das Bild von ihr ist mal chaotisch,
mal strukturiert, mal kreativ, selten perfekt. Und es ist stets geprägt von besonderen
Charakteren.
Bleiben wir im Dialog!
Aus dem Bethmannhof
grüßt Sie herzlich
horst schmidt
Vorstandsvorsitzender
der Bethmann Bank
Gegenwart
tradition
Neue alte Schallplatte
Das niedersächsische Unternehmen
Pallas und der Vinyl-Boom
Inhalt
4
gegenwart
26
Kreativer Globetrotter
Nico Hofmann: Co-CEO der UFA, Regisseur,
Filmproduzent, Gründer und Erfinder
6
58
Tradition bes(ch)wingt!
Die Partykultur entdeckt
die Ausgelassenheit
der 1920er und -30er Jahre
Alles rauslassen – aber richtig!
Über die Vorteile des kleinen Ärgers
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20
Character
Januar 2016
5
zukunft
Überblick
6
Character im Porträt
Nico Hofmann
Co-CEO der UFA, Regisseur,
Filmproduzent, Gründer und Erfinder
32
Eine ganze Menge Holz
Der unterschätzte
Rohstoff und die
nachhaltige Nutzung
18PERSPEKTIVenWECHSEL
Der Service
Hohe Schule des Willkommens
20Werte im Wandel
Gelassenheit ist auch keine Lösung
Die Kunst, sich richtig aufzuregen
24Hello / Goodbye
Ohne App ein Depp?
Vom Festnetz zum Smartphone
26Unternehmen mit Tradition
Alte Technik – neue Musik
Pallas: Eines der letzten Vinylpresswerke
32
Für morgen
Auf dem Holzweg
Ein unterschätzter Rohstoff
34
12 Dinge, die man tun sollte
Visionen wachsen lassen
Von Nico Hofmann
36Mehrwerte
Shiva auf Westfälisch
Die tamilische Gemeinde in Dortmund
42Kleine Schätze des Alltags
Wirtschaftskrimi und Technikwunder
Der ReiSSverschluss
Asperger auf dem Arbeitsmarkt
Das IT-Unternehmen Auticon nutzt
die Stärken von Autisten
52
44Zwischen kommerziell und karitativ
Ist fair wirklich fair?
Das Fair-Trade-Unternehmen Gepa
48Zahlen, bitte!
Intelligenz
Eine Sache der Gene oder der Umwelt?
50
Lieblingsstücke
7 Schauspieler, die mir am Herzen liegen
Von Nico Hofmann
52Unternehmen der Zukunft
Strukturiert und direkt
Auticon: Asperger auf dem Arbeitsmarkt
56
2 ausgewählte Zitate
1
Von Nico Hofmann
58Panorama
Das Ding mit dem Swing
Eine Partyszene mit alten IDEALEN
66Impressum
Gegenwart
6
Porträt
Co-CEO der UFA, Regisseur,
Filmproduzent, Gründer und Erfinder
Nico Hofmann
Interview: Dona Kujacinski Fotos: marc krause
Vor einem Altbau in Berlin-Charlottenburg stoppt eine
Limousine. Im Fond sitzt Nico Hofmann, der vielfach ausgezeichnete
Regisseur, Filmproduzent, Gründer der Filmproduktionsfirma teamWorx
und Erfinder der Eventmovies wie „Der Tunnel“, „Die Flucht“,
„Der Turm“ oder „Unsere Mütter, unsere Väter“. Er ist auf die Minute
pünktlich, gut gelaunt, aber in Eile.
Wie immer. Time is money.
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Character
Seltener Auftritt: Nico Hofmann eilt
in seine Dachgeschosswohnung.
Unter dem Arm klemmt die Bild, die er
täglich liest. Über der Schulter hängt
eine Umhängetasche mit Papieren, an
der Wand ein Gemälde der Künstlerin
Bettina Schünemann. Eine Stunde
später ist er wieder weg.
7
Januar 2016
Gegenwart
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Im Laufschritt geht es in seine Dachgeschosswohnung, die
nicht nur auf den ersten Blick unbewohnt wirkt. Sie ist es.
Nicht ein Staubkorn weit und breit. Nico Hofmann fröhlich,
aber irgendwie auch ein klein bisschen schuldbewusst: „Ich
lebe vielleicht 30 Tage im Jahr hier. Die restliche Zeit verbringe
ich meist in Flugzeugen, Hotelzimmern und bei Besprechungen. Meine Putzfrau hat mich erst neulich wieder
gefragt, warum sie hier so oft saubermachen muss.“
Herr Hofmann, wo ist Ihr Zuhause?
Zuhause ist da, wo ich mich wirklich wohlfühle. Das ist meine Berliner Stadtwohnung,
aber auch meine Dependance am Wannsee,
in der ich momentan etwas öfter bin, seit
die UFA ihren Firmensitz von Berlin nach
Potsdam-Babelsberg verlegt hat. Aber ich
gebe zu, dass ich die meiste Zeit in Flugzeugen
und Hotelzimmern lebe. Für manche Menschen ist das eine bizarre Vorstellung, aber
es ist so. Um wenigstens eine einigermaßen
vertraute Umgebung zu haben, buche ich in
den Hotels der Städte, in denen ich dauernd
bin, immer das gleiche Zimmer. In Hamburg
ist es die Nummer 664 im Park Hyatt, in
München die 2001 im Westin Grand, in Mainz
die 501 im Hyatt Regency und in L.A. die
535 im Beverly Hilton.
Welche Bedeutung hat Ihr Zuhause
für Sie?
Es hat für mich mit Geborgenheit zu tun, mit
einem Ort innerer Freiheit, der auch Inspiration zulässt. Und das kann ab und zu
auch schon mal ein Transatlantikflug sein.
In den letzten Jahren ist allerdings meine
Wohnung am Wannsee zu einem Sehnsuchtsort geworden. Von meinem Schlafzimmerfenster aus sehe ich den Yachthafen.
Ich wollte die Wohnung vor drei Jahren
verkaufen und bin froh, dass ich das nicht
getan habe.
Aus welchem Grund?
Weil die Natur, die Ruhe dort für mich mit
zunehmendem Alter immer mehr an
Bedeutung gewinnt. Ich habe gerade den
Bootsführerschein gemacht und verbringe,
sooft es geht, viele Stunden auf meinem Boot.
Meine Vision ist es, auf meiner 12 Meter
langen Bavaria-Sportyacht drei Tage lang
allein über die Müritz zu fahren, um mich
von allem komplett zu entfernen. Mir tut
Wasser einfach gut. Die Liebe dazu habe ich
von meinem Großvater mütterlicherseits geerbt,
der Chefangler etlicher Angelvereine war.
Sie stammen aus einer Mannheimer
Journalistenfamilie. Ihr Vater schrieb
für die Rheinpfalz und Reden für Willy
Brandt. Ihre Mutter war Wirtschaftsredakteurin bei der „FAZ“. Als Sie
Oma, Mutter,
Schwester.
Männliche Wesen
um mich herum
gab es nicht.
dreizehn waren, ließen sich Ihre Eltern
scheiden. Wie tief hat Sie das getroffen?
Tief, weil meine Gefühle natürlich verletzt
wurden. Die nächste große Herausforderung
nach der Scheidung war meine emanzipatorische, alleinerziehende Mutter mit einem
entsprechenden Erziehungsstil. Bevor
Simone, meine jüngere Schwester, die Küche
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Porträt
putzen musste, durfte ich das tun. Ich kann
mir das heute nur damit erklären, dass sich
meine Mutter als damals einzige Frau in
der Männerdomäne Wirtschaftsredaktion
emanzipieren musste und dies auch bei der
Erziehung ihrer beiden Kinder für notwendig
hielt. Bei uns zu Hause stand die Emanzipation über allem.
Ein Nachteil?
Im Gegenteil. Ich kann überhaupt nicht mit
Frauen arbeiten, die nicht emanzipiert sind.
Emanzipation reizt mich nicht nur, ich will
die Gleichberechtigung auch. Wenn ich das
Gefühl habe, eine Frau biedert sich an, ist
nicht emanzipiert, habe ich kein Interesse. Ich
brauche solche weiblichen Gegenparts wie
meine Assistentin Anke Westedt oder unsere
Juristin Susanne Bergmann. Ich habe auch
teamWorx mit drei starken Frauen gegründet:
Mit Ariane Krampe und Doris Zander, die
heute erfolgreich als selbstständige Produzentinnen unterwegs sind, und mit Bettina
Reitz, die jetzt Präsidentin der Hochschule
für Fernsehen und Film in München ist. Bei
der UFA arbeite ich daran, dass wir ein noch
ausgewogeneres Männer-Frauen-Verhältnis
bekommen.
Haben Sie eine weibliche Seite?
Sogar ganz massiv. Ich gucke jeden Film
weiblich. Immer. Das liegt einerseits daran,
dass die Mehrzahl meiner Zuschauer Frauen
sind, andererseits, dass ich in einem Frauenhaushalt aufgewachsen bin: Oma, Mutter,
Schwester. Männliche Wesen um mich herum
gab es nicht. Meine Großväter waren tot,
mein Vater weg. Dadurch ist in meiner Jugend
mein tiefes Verständnis für Frauen entstanden.
Wie ist das Verhältnis zu Ihrer Mutter
heute?
Meine Mutter ist 85 und noch mehr unterwegs
als ich. Das muss man erst mal hinkriegen.
Sie ist kulturell unheimlich gebildet, immer
noch eine ausgesprochen kommunikative
Frau mit einer enorm hohen Durchsetzungskraft und einem sehr starken Ehrgeiz. Sie
ist die Patin von Mannheim. Meine Mutter
hat nicht nur zwei Mal aktiv im Bürgermeis-
Character
terwahlkampf mitgewirkt, den der Mann
auch jedes Mal gewann, sie ist nach wie vor
auch unglaublich gut mit Wirtschaftsgrößen
verzahnt. An unserem Wohnzimmertisch
wurde schon der eine oder andere interessante
Deal geschlossen. Wenn man meiner Mutter
gegenübersitzt und mit ihr spricht, denkt man,
sie ist 30 Jahre jünger.
Partizipiert sie an Ihrem Erfolg als
Produzent?
Nein, sie ist autonom. Ich habe eher von ihren
guten Beziehungen profitiert und in ihrem
riesigen Bekanntenkreis gute Kontakte knüpfen
können. Aber ich denke, sie ist stolz auf mich.
Fragen Sie sie gelegentlich nach ihrer
Meinung?
Ich frage sie massiv danach. Bei der Weichenstellung in Bezug auf den Chefposten bei der
UFA war das für mich ganz wichtig, weil es
Januar 2016
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dabei um meine letzten entscheidenden zehn
Berufsjahre ging. Es gab ja auch noch die Idee
der Selbstständigkeit mit meinem Kollegen Jan
Mojto in dessen Familienunternehmen.
Welchen Rat gab Ihnen Ihre Mutter?
Sie hat gesagt: Du musst dahin gehen, wo dein
Herz schlägt. Am Ende war die Entscheidung
klar: Ich bleibe da, wo ich mich immer wohlgefühlt habe – bei Bertelsmann und der UFA.
Dort habe ich, ohne dass es eitel klingt, alles
erreicht, was ich in meinem Berufsfeld erreichen kann. Bis auf den „Oscar“ vielleicht …
Was ist das Wichtigste, das Sie von
ihr mit auf den Lebensweg bekommen
haben?
Absolute Integrität gegenüber Freunden
und Menschen, mit denen man arbeitet.
Keine Kreativität?
Kreativität kann man nicht erben und auch
nicht lernen. Kreativität hat man oder man
hat sie nicht. Aber man kann Menschen, die
kreativ sind, auf ihrem Weg, noch kreativer
zu werden, begleiten. Das tue ich als Professor für den Fachbereich „Szenischer Film“ an
der Filmakademie in Ludwigsburg in BadenWürttemberg.
Sind Frauen kreativer als Männer?
Die guten Männer haben einen sehr starken
weiblichen Anteil, gute Frauen haben einen
sehr starken männlichen Anteil. Als Produzent muss man eine sehr starke weibliche
Seite haben – geschmacklich und in der
Sensibilität. Sonst funktioniert es nicht.
Salonlöwe: Der designierte CEO der UFA in seinem Wohnzimmer. Das Bild hinter ihm ist ebenfalls von Bettina Schünemann,
die farblich passenden Vasen sind aus Murano Glas. Der alte Sessel von Walter Knoll ist seit Ewigkeiten in seinem Besitz.
Gegenwart
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Porträt
Von der Garage in den Olymp der
deutschen Filmwirtschaft
Nico Hofmann, der zu den erfolgreichsten Filmschaffenden Deutschlands gehört, wird 1959
in Heidelberg geboren. Mit zwölf entdeckt er seine Leidenschaft für den Film, dreht mit einer
Super-8-Kamera die Lesebuchgeschichte „Kapitän Frisell operiert“ und zeigt ihn in der Garage
seiner Eltern. Der Eintritt kostet 10 Pfennig. Nach dem Abschluss an der Münchner Filmhochschule wird er 1983 Regisseur, feiert Erfolge mit „Der Sandmann“ oder „Solo für Klarinette“.
1998 wechselt er ins Produzentenfach, erreicht mit „Tanz mit dem Teufel – die Entführung
des Richard Oetker“, „Mogadischu“, „Der Fall Jakob von Metzler“ oder „Der Medicus“
Millionen Menschen. Auszeichnungen wie der „Adolf Grimme Preis“, „Bambi“, der
„Deutsche Filmpreis“, „Die Goldene Kamera“ oder der Internationale „Emmy Award“ krönen
sein Werk. Seit 1995 lehrt er als Professor den Fachbereich „Szenischer Film“ an der Filmakademie Baden-Württemberg in Ludwigsburg. Seit dem 1. September 2015 ist er Co-CEO der
UFA, im September 2017 übernimmt er die alleinige Leitung. Nico Hofmann lebt in Berlin.
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Character
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Perfekte Ordnung: Im Regal sind Bücher und CDs
penibel nach Themen geordnet. Hinter Hofmann
ist ein Blick in sein Büro zu erhaschen, in dem auch
ein Laufband steht.
Gegenwart
Kreativität kann
man nicht erben und
auch nicht lernen.
Kreativität hat
man oder man hat
sie nicht.
Was ist das Schöne am
Produzentendasein?
Die Begegnung mit Menschen. Ich persönlich
habe immer wieder Begegnungsmöglichkeiten,
die andere vielleicht nicht haben. Im September
dieses Jahres war ich bei Siegfried und Roy in
Las Vegas, bin mit Siegfried im Golfwagen
durch sein „Little Bavaria“ gefahren und habe
anschließend mit ihm bei 40 Grad Außentemperatur in einem Leopardenkäfig Champagner
getrunken. Das sind Momente, die man im
Leben nicht allzu oft hat.
Im September 2017 scheidet Ihr Vorgänger
und jetziger Co-CEO Wolf Bauer aus der
Spitze der UFA-Gruppe aus. Sie führen
das Unternehmen von da an allein.
Gibt es eine Vision für Ihre zukünftige
Aufgabe?
Ich möchte noch zwei, drei Produktionen im
Jahr selber machen. Mehr geht nicht. Als ich
neben der UFA-Fiction noch die UFA-Cinema
mitgeführt habe, habe ich gelernt: Man kann
nicht zwei Firmen mit der gleichen Intensität
leiten. Dafür ist die UFA als europäischer
Marktführer auch zu wichtig. Deshalb ziehe
ich mich am 1. Januar 2016 aus der Geschäftsführung der UFA-Fiction zurück.
Wolf Bauer brauchte sich um die fiktionalen Produktionen kaum Sorgen zu
machen. Er hatte Sie. Ihr Gespür für
erfolgreiche Filmstoffe, neue talentierte
Schauspieler oder Ihr Verkaufstalent
gelten in der Branche als Rarität.
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Wer füllt die Lücke?
Ich habe eine starke Vision von einem Kreativteam um mich herum und den Ehrgeiz,
das große Schiff UFA noch erfolgreicher zu
machen. Dass sich meine Tätigkeit als CEO
ausschließlich auf eine höhere Verwaltungstätigkeit beschränkt, könnte ich mir auch nicht
vorstellen.
Verraten Sie uns, wie Sie den Erfolg der
UFA-Gruppe steigern wollen?
Da gibt es nur die Maßgabe der qualitativen
Exzellenz. Das ganze Team muss nicht nur den
Ehrgeiz haben, am Zeitgeist dranzubleiben,
wir müssen auch mit größtmöglichem Einsatz
dafür sorgen, dass die beste Qualität, die besten Programme aus unserem Haus kommen.
Das gilt für die Fiction ebenso wie für den
Showbereich, die Soaps, die Serials oder die
Kinoformate.
Sie werden in Zukunft noch weniger Freizeit haben. Das Gute daran könnte sein,
dass Sie keine eigene Familie haben. Haben Sie dieses Lebensmodell je vermisst?
Nein, weil ich überzeugter Einzelgänger bin.
Was fasziniert Sie daran?
Die Unabhängigkeit, die man hat. Die geht
jedoch nur, wenn man einen stabilen und
verlässlichen Familien- und Freundeskreis hat.
Dazu gehören natürlich meine Mutter, mein
Vater und meine Schwester mit ihrer Familie,
aber auch meine Assistentin Anke Westedt,
Marc Eiselt, der mich seit Jahren fährt, weil ich
keinen Führerschein habe, oder Maria
Furtwängler. Alles Menschen, die mich dermaßen gut kennen und denen ich komplett so
vertraue, dass ich mich völlig fallen lassen
kann.
Gelingen in so einem stressigen Berufsleben noch längere Pausen wie Urlaube?
Diese Pausen nehme ich mir. Früher war ich
viel auf Bali und auf Mauritius, heute bevorzuge ich Dubai und dort das Park Hyatt, weil
mir deren Fitnessprogramm sehr zusagt. Meine
größte Entdeckung in letzter Zeit ist jedoch
die Villa Stefanie im Brenners Park Hotel in
Baden-Baden. Dort hat man sich komplett auf
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Porträt
den Medical Spa fixiert. Die Güteklasse liegt
mittlerweile auf internationalem Top-Niveau.
Ich war dieses Jahr bereits dreimal zehn Tage
dort und muss sagen: Der Erholungseffekt war
genial. Ich durchlaufe jedes Mal das komplette
Ernährungsprogramm Detox, mache Yoga,
Pilates und absolviere mit einem Trainer ein
Thai-Kickbox-Programm. Pilates mache ich
übrigens jeden Morgen, egal wo. Zu Hause
kommt ein leichtes Lauftraining auf dem
Laufband dazu.
Wenn Sie in der Villa Stefanie sind,
bleibt dann das Telefon stumm?
Ich habe das schon hinbekommen, weil ich
besser abschalten kann als früher und die
Erfahrung gemacht habe, dass sich viele
Dinge von allein erledigen.
Können Sie auch mal an nichts denken?
Höchstens auf meinem Boot am Wannsee.
Da bin ich weg von der Welt in einer anderen
Beruhigung.
Sie sprechen meist schnell, man hat das
Gefühl, dass Sie ständig unter Hochspannung stehen. Was treibt Sie an?
Die Lust und die Neugier auf Menschen, auf
neue Stoffe, das ist Tag und Nacht meine
Triebfeder.
Wenn Sie in den Spiegel schauen,
welche Stärken erkennen Sie und
welche Schwächen?
Meine größte Stärke ist sicher, dass ich Menschen auf eine Reise mitnehmen kann und
dass ich sehr überzeugungsstark bin. Meine
größte Schwäche ist meine Ungeduld, die
ich langsam in den Griff bekomme. Früher
war sie ganz schlimm. Alles musste gleich
sein. Sofort. Vorgestern. Ungeduld ist ein
großes Problem, da aus ihr eine Cholerik, ein
falscher Tonfall, eine falsche Entscheidung
entstehen kann. Je älter ich werde, desto mehr
versuche ich emotional ruhiger zu werden,
erstmal in Ruhe zuzuhören und nicht gleich
aus der Haut zu fahren. Alles mit Bedacht zu
tun, wird für mich immer wichtiger.
Character
Hofmann am Schreibtisch:
auch hier kein kreatives Chaos. Er liest im Pressespiegel
der Nibelungen-Festspiele Worms, deren Intendanz er
2015 von Dieter Wedel übernahm.
Am Empfang von Ex-Bundespräsident Christian Wulff
und seiner Frau Bettina nahm er am 12. Februar 2012
teil. Am 17. Februar 2012 trat Wulff zurück.
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Die Lust und die
Neugier auf
Menschen, auf neue
Stoffe, das ist Tag
und Nacht meine
Triebfeder.
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Gegenwart
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Porträt
Character
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Lederjacken-Fan: Hofmann liebt das kurze
Modell. Dazu trägt er gern akkurat gebügelte
Hemden in Weiß- oder Blautönen. Die Bücher
von Erich Fromm und Christa Wolf gehören zu
seiner Lieblingslektüre.
Gegenwart
Spaziergang: von zu Hause zum Termin beim
Italiener in der Nähe. Dazu gehört stets
ein kurzer Stopp vor der „Filmkunst 66“, dem
Kino von Hofmanns Kolleginnen Regina und
Tanja Ziegler.
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Porträt
Character
Aus falschen Entscheidungen können
Niederlagen entstehen. Wie gehen Sie
damit um?
Niederlagen sitzen bei mir extrem tief, weil
ich sehr schmerzempfindsam bin. So etwas
kann mich komplett weghauen, auch für
Tage. Aber es gelingt mir am Ende meistens
durch eine gnadenlose und selbstkritische
Analyse zu verhindern, dass dasselbe noch
mal passiert.
Fürchten Sie Niederlagen?
Nein. Ich fürchte mich vor Ignoranz, Nichttalent und schlechten Filmen.
Für wie gefährlich halten Sie Erfolg?
Erfolg ist nur dann gefährlich, wenn er zu
einer gewissen Selbstgenügsamkeit, zu einer
gewissen Selbstbeweihräucherung verführt.
Solange er anstachelt, eine Dynamik in einem
freisetzt, ist er etwas, das einen weitertreibt,
vorantreibt.
Sie sind extrem erfolgreich.
Wie viel Egoist steckt in Ihnen?
In mir steckt ein ganz gehöriger Egoist, wobei in meiner Welt Egoismus auch bedeutet,
eine gewisse Durchsetzungskraft, ganz klare
Ziele zu haben. Einen gesunden Egoismus
erwarte ich auch von meinen Mitarbeitern.
Dinner-Time: Nico Hofmann im „Il Calice“ in
Berlin. Hier traf er Größen wie Hape Kerkeling,
Sandra Maischberger oder Natalia Wörner.
Das Prickelende daran: Der Produzent trinkt
ausschließlich Champagner, weil er kein
anderes alkoholisches Getränk verträgt.
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Mögen Sie sich?
Ja, ich mag mich. Nicht überall, aber ich
finde, dass ich mein Berufsleben bis jetzt so
hinbekommen habe, wie ich es mir vorgestellt habe. Manchmal auch mit dem Mut
zu Risiken, von denen ich nicht wusste, wie
sie ausgehen und ob sie mich beschädigen.
Sind Sie manchmal auch feige oder
konfliktscheu?
Konfliktscheu ganz sicher gar nicht. Im
Gegenteil. Feige bin ich im tiefsten Privatleben, also bei wirklich intimer körperlicher
Nähe. Da gibt es auch Beziehungsängste.
Wenn ich an dieser Stelle mutiger wäre,
würde ich mein Privatleben ganz sicher
anders leben.
Liegt das möglicherweise daran, dass
Sie glauben, man könnte Sie wegen
Ihres Erfolges mehr lieben anstatt um
Ihrer selbst willen?
Keine Sorge, ich kann sehr genau unterscheiden, wer an mir als Person interessiert
ist und wer nicht. Auf meine Menschenkenntnis kann ich mich verlassen.
Auf Ihr Bauchgefühl auch?
Unbedingt, und auf meinen Instinkt.
Beides kann ich aber nicht erklären.
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Sie haben täglich mit Stars zu tun.
Viele von ihnen sind kapriziös, haben
Allüren. Wie viel Diva steckt in
Nico Hofmann?
Ich habe gelernt, meine Wirkung, auch die
mediale, ganz klar einzusetzen. Auch strategisch. Das gebe ich gern zu. Aber eine Diva
bin ich nicht.
Was war das Verrückteste, das Sie
sich bis jetzt in Ihrem Leben geleistet
haben?
In der Umbruchsphase vom Regisseur zum
Produzenten habe ich in Wiesbaden mit
Hannelore Elsner die Anwaltsserie „Alles
Paletti“ gedreht. In einer Nacht war ich so
unglücklich, dass ich mit ihr die komplette
Minibar leer getrunken habe. Danach
war ich so betrunken, dass ich über ihrer
Suite im obersten Stock des Hotels auf dem
Dachfirst saß und mich fünf Leute von
dort entfernen mussten. Diese Nacht werde
ich nie vergessen. Auch weil sie wirklich
lebensgefährlich war.
Gegenwart
18
Perspektivenwechsel
der
service
Sich in den
Gast hineinversetzen
Man braucht Kraft, physisch wie psychisch.
Das frühe Aufstehen, die Überstunden, das
viele Gehen und lange Stehen. Schwer fiel
mir am Anfang, die Tabletts zu stemmen und
zu tragen. Inzwischen sind meine Armmuskeln stark genug, und ich kann das Gewicht
besser balancieren.
Im Hotel durchlaufe ich vom Empfang über
die Restaurants bis zum Zimmerservice
alle Stationen. Am spannendsten ist der
Bankettservice. Er reicht von kleinen Geschäftsbesprechungen bis zu Gala-Dinners
mit 700 Personen. Sie sind meine Highlights.
Ich genieße die Exklusivität, die prominenten
Gäste und vergesse die Anstrengung.
Wer in diesem Beruf arbeiten will, muss den
Kontakt mit Menschen lieben. Entscheidend
ist, sich in den Gast hineinzuversetzen. Ich
beobachte deshalb sein Verhalten, wenn ich
anfange, ihn zu bedienen. Will er eine Weinempfehlung, achtet er auf Etikette? Oder ist
er locker, unterhält sich, macht eine lustige
Bemerkung?
Am meisten Spaß machen mir Gäste, die
das Hotel zum ersten Mal erleben und von
allem begeistert sind. Die meisten Gäste sind
freundlich, aber es gibt einige, die legen es
darauf an, zu nörgeln. Da heißt es: lächeln,
weitermachen, ruhig bleiben. Frauen sind
auf andere Art anstrengend als Männer, sie
können wählerisch oder zickig sein. Männer
neigen dazu, einen herablassend zu behandeln. Am meisten stört mich, wenn mich
jemand duzt. Dann sieze ich strikt zurück,
auch Menschen in meinem Alter.
bediente zwei Tische mit Amerikanern, die
ständig Coca Cola und Bier nachbestellten.
Meine Kollegin war am Nachbartisch für
chinesische Gäste zuständig, die Bier ins
Weinglas kippten und dauernd fotografiert
werden wollten. Es war sehr komisch – zwei
Klischees direkt nebeneinander!
Guter Service bedeutet für mich, auch wenn
es wie eine Floskel klingen mag: Immer ein
bisschen mehr geben, als verlangt wird.
Fehler können jedem passieren. Wenn etwas
schiefläuft, geht mir das nahe, auch wenn
ich selbst nicht die Ursache war. Manchmal
sind wir vom Personal her knapp, die Gäste
müssen warten, manche werden ärgerlich.
Auf keinen Fall ignorieren! Höflich erklären,
dass wir gerade unterbesetzt sind, aber uns
nun umso mehr beeilen. Am wirksamsten ist
es, zusätzlich zum Bestellwunsch ein kleines
Extra zu servieren.
Zu uns kommen Gäste aus allen Kulturen.
Einmal erlebte ich eine Veranstaltung, bei
der ein Unternehmer Vertriebspartner
aus der ganzen Welt eingeladen hatte. Ich
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LEONIE OBERMAYER, 21
Auszubildende im dritten
Lehrjahr im Münchner Luxushotel
Bayerischer Hof.
Character
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perspektivenwechsel
HOHE SCHULE DES
WILLKOMMENS
Service kann vieles bedeuten. Die Facetten von gutem Service
unterscheiden sich von Beruf zu Beruf und von Kultur zu Kultur.
Fakt ist aber: Service ist immer wichtig. Und setzt ein breites
Spektrum an Eigenschaften voraus: Handwerk und Einfühlungsvermögen, Menschenkenntnis und Erfahrung, Motivation – und
auch eine sehr gute physische Kondition.
Das Schlüsselwort heiSSt
Respekt
Meinen Gästen soll es gut gehen. In meiner
Bar bin ich der Gastgeber. Wie erreiche
ich das? Die Basis ist das GastronomieHandwerk. Es zu beherrschen, ist Voraussetzung. Meine Mitarbeiter haben in Tophotels
gelernt, ich selbst war zuvor 23 Jahre lang
an der Seite von Charles Schumann tätig.
Die zweite Säule von gutem Service ist die
Persönlichkeit des Gastgebers. Es ist die
emotionale, atmosphärische Seite.
Meine goldene Regel: Bevor der Gast weiß,
was er will, musst du es wissen. Dafür –
etwa zu merken, ob er eher Distanz oder
Nähe sucht – braucht man Einfühlungsvermögen, Menschenkenntnis, Erfahrung.
Wie ich ihn empfange, ist entscheidend. Eine
Geste kann Wunder bewirken, zum Beispiel,
unaufgefordert ein Glas Wasser zu bringen.
Der Gast fühlt sich willkommen, empfiehlt
die Bar weiter, wird vielleicht Stammgast.
Jedem von uns passiert mal ein Missgeschick.
Mir flog einmal der Champagnerkorken aus
der Flasche und einem bekannten Filmprodu-
zenten auf den Kopf. Er nahm es mit Humor.
Die größte Herausforderung ist, die Konzentration zu behalten. Es kann ein körperlich
anstrengender Job sein.
Der Gast hat immer Recht? Nein, auch der
Gast kann sich nicht alles erlauben. Dabei
die Balance zu finden, ist die Kunst. Auch
das Motto „Wer zahlt, schafft an“, gilt nur
bedingt. Es gibt neureiche Kundschaft, die
glaubt, sie bekäme alles für ihr Geld. Die
setzen sich an einen reservierten Tisch und
halten dir einen dicken Geldschein hin. Wie
sagte der Philosoph Theodor W. Adorno: Im
Hotel spielt das Bürgertum Adel. Es gibt noch
genug Gäste, die benehmen sich, als bestünde
das Personal aus Haussklaven. Das geht
nicht.
Dazu fällt mir eine Geschichte ein, die ich im
Hotel Savoy, dem ersten Grandhotel Europas,
erlebt habe. Dort gab es früher die Vorschrift
„Anzug und Krawatte“. Ich sitze an der Bar,
ein Amerikaner in Jeans und offenem Hemd
kommt herein, der sofort bestellen will. „Jacket and tie required, Sir“, sagt der Barchef
dezent. Die Antwort: „Ich komme vom Flughafen und habe eine wichtige Verabredung“.
Der Barchef lächelt und geht weiter. Drei
Minuten später kommt wieder ein Barkeeper
vorbei, lächelt und geht weiter – das Ganze
dauert eine Viertelstunde lang. Endlich merkt
der Amerikaner, worum es geht, zieht sich
um und bekommt seinen Drink.
Das ist die hohe Schule: Die Contenance
bewahren, das Problem elegant lösen, ohne
dass die anderen Gäste etwas merken. Das
Schlüsselwort heißt Respekt. Es gilt für alle,
auch für die Gäste.
Protokoll: Dr. Eva Karcher
STEFAN GABANYI, 58
Studierter Ethnologe,
Gastronom und Inhaber der
Münchner Bar Gabanyi.
Gegenwart
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Werte im Wandel
Gelassenheit
ist auch
keine Lösung
Die Kunst,
sich richtig
aufzuregen
Wer laut wird, dem gehen die Argumente aus, heißt es.
Und wer brüllt, der hat sowieso Unrecht. Doch so ganz
stimmt das nicht. Wenn Sie sich aufregen, können
Ihnen auch die Sympathien zufliegen. Sie bekommen
keine Magengeschwüre. Sie setzen sich durch, wie durch
Zauberhand, ohne zeitraubende Diskussionen und ohne
Argumente. Außerdem macht es noch Vergnügen – wenn
Sie einige grundlegende Dinge beachten.
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Werte im Wandel
Character
21
Januar 2016
Gegenwart
Werte im Wandel
22
„Wir reiSSen
uns den
Arsch auf!“
Uli Hoeneß
Sich aufzuregen hat einen miserablen Ruf.
Wer sich aufregt, macht alles noch schlimmer, heißt es. Wir sollen ganz entspannt
durchs Leben schlendern, gleichmütig wie
ein skandinavischer Yogalehrer im Kamillenteerausch. Anderen Menschen sollen wir
mit Respekt begegnen, auch wenn sie sich
schlecht benehmen, uns ignorieren oder
furchtbar auf die Nerven gehen. Ja, dass sie
uns so furchtbar auf die Nerven gehen, ist ja
schon Teil des Problems. Bleiben Sie ruhig,
sagt man uns. Wer sich ärgert, ist selber
schuld.
Dabei wissen wir doch schon im Säuglingsalter: Gelassenheit ist auch keine Lösung.
Man kommt nur halbwegs komfortabel voran,
wenn man gelegentlich Krach schlägt. „Ein
Baby, das seine Eltern in Ruhe Zeitung lesen
lässt, hat seinen Beruf verfehlt“, meint der
holländische Biologe Midas Dekkers. Und
was sich in der Welt von Windel, Schnuller
und Brei so prächtig bewährt hat, das gilt
auch später noch. Im Beruf, im Restaurant
und auf Reisen. Nicht den Sanftmütigen
gehört die Erde, sondern denen, die auch mal
auf den Tisch hauen.
Gepflegt Dampf ablassen
Natürlich ist es ganz entscheidend, bei
welcher Gelegenheit wir das tun. Leute, die
sich über jede Kleinigkeit aufregen, sind nicht
zu ertragen. Ebenso abstoßend ist es, wenn
jemand einen andern herunterputzt, der ihm
unterlegen ist und sich nicht wehren kann.
Doch da bleiben immer noch genügend Anlässe übrig, um gepflegt Dampf abzulassen.
Jawohl, gepflegt. Denn auch darauf kommt
es an: Dass man nicht grob und ausfallend
wird. Laut – ja, wenn es sein muss. Aber
niemals bösartig oder vulgär.
Verständlicher Ärger
Solche Fälle gibt es natürlich auch. Hochrangige Politiker, die hinter verschlossenen
Türen mit Aktenordnern nach ihren Büroleitern werfen. Oder Führungskräfte, die in
Besprechungen lautstark einen aufstrebenden
Mitarbeiter „schlachten“, damit der nicht
„auf dumme Gedanken kommt“. „Jeder kann
wütend werden, das ist einfach“, wusste
schon Aristoteles. „Aber wütend auf den
Richtigen zu sein, im richtigen Maß, zur
richtigen Zeit, zum richtigen Zweck, auf die
richtige Art, das ist schwer.“
Richtig wütend werden ist eine Kunst, die
nicht viele beherrschen. Manche regen sich
über die falschen Dinge auf, andere übertreiben, sagen schlimme Dinge, oder man merkt
es ihrem Ärger an, dass er nicht ganz echt ist.
An solchen Fragen entscheidet sich, ob die
andern betreten zu Boden schauen, weil sie
sich fremdschämen. Oder ob sie anerkennend
nicken, weil sie der Ansicht sind: Das war ja
schon längst mal fällig. Es kommt nämlich
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immer darauf an, ob die anderen unseren
Ärger nachvollziehen können. Teilen müssen
sie ihn nicht, aber verstehen.
Außenminister Frank-Walter Steinmeier
gilt als ruhiger und besonnener Typ. Umso
überraschender war es da, dass er bei einer
Veranstaltung für die Europawahl 2014
einige Demonstranten zusammenstauchte.
Die hatten seine Rede gestört und ihn, der
gerade in der Ukraine verhandelt hatte, als
„Kriegstreiber“ beschimpft. Steinmeier änderte seinen Tonfall, donnerte los und erwarb
sich für diesen Temperamentsausbruch viele
Sympathien. Der Redeausschnitt wurde auf
YouTube gestellt und bekam über eine Million
Klicks.
Als Roboter bekommt
man wenig Sympathie
Dem Politiker war anzumerken, dass es ihn
maßlos ärgerte, so verhöhnt zu werden. Man
konnte sehen: Da nimmt einer seinen Job
ernst und setzt sich zur Wehr, wenn ihm jemand Böses unterstellt. Unvergessen ist auch
der Körpereinsatz von Helmut Kohl, der 1991
auf einen jungen Mann losging, der ihn mit
Eiern beworfen hatte. Er wurde von seinen
eigenen Personenschützern zurückgehalten.
Doch dass er da ohne Zögern auf Gegenwehr
umgeschaltet hatte, konnte man gut verstehen, ja, es nötigte einem Respekt ab.
Character
Wer hingegen immer kontrolliert bleibt und
vernünftig oder mit Dauerlächeln über die
alltäglichen Übel hinweggeht, mit dem haben
wir so viel Sympathie wie mit einem Roboter.
Der Demokrat Michael Dukakis lag bei den
US-Präsidentschaftswahlen 1988 in den
Umfragen vor dem Amtsinhaber George Bush
Senior. Da wurde ihm von einem Fernsehmoderator eine sehr üble Frage gestellt. Dukakis,
ein erklärter Gegner der Todesstrafe, möge
sich vorstellen, seine eigene Frau sei vergewaltigt und ermordet worden. Würde er da
für den Täter nicht die Todesstrafe wünschen?
Anstatt diese Frage entrüstet zurückzuweisen,
antwortete Dukakis brav: „Nein, das würde
ich nicht tun. Wie Sie wissen, bin ich seit
jeher ein Gegner der Todesstrafe.“
Wie bitte? Der Kandidat für das Präsidentenamt soll sich mal eben die Vergewaltigung
und Ermordung seiner Frau vorstellen? Ist
der Moderator noch bei Trost? Über so eine
Frage muss man doch den Kopf schütteln,
sich empören oder wenigstens fassungslos
sein. Doch „unser“ Mann nannte sie nicht
mal geschmacklos. Vielleicht kein Zufall, dass
sich anschließend der Trend drehte. Dukakis
fiel zurück, Bush Senior wurde Präsident.
Bei Gotthold Ephraim Lessing hätte Dukakis
nachlesen können: „Wer über gewisse Dinge
den Verstand nicht verliert, der hat keinen zu
verlieren.“
23
StoSSlüften der Seele
Es kommt etwas hinzu: Wenn wir uns richtig
aufregen, geht es uns anschließend besser. Es
ist wie ein „Stoßlüften der Seele“. Wir lassen
unseren Ärger raus. Kurz und schmerzlos.
Und das tut gut. Es ist gesünder, als die
Sache in sich reinzufressen. Wenn uns etwas
stört, belastet oder auf die Nerven geht, dann
kommt das auf den Tisch. Nicht selten können
wir die Angelegenheit danach abhaken.
Wir haben Dampf abgelassen, das genügt.
Wer sich nicht richtig aufregt, der kann sich
in seine Wut auch hineinsteigern. Man redet
sich in Rage. Es wird immer schlimmer.
Soweit darf man es nicht kommen lassen.
Und die Könner beweisen genau an diesem
Punkt ihre Meisterschaft. Sie bohren sich
nicht immer tiefer in ihren Zorn hinein,
sondern sie werfen Ballast ab. Zweitens aber
schlagen sie nie unter die Gürtellinie. Wenn
wir etwa beim Temperamentsausbruch von
Frank-Walter Steinmeier einmal den Wortlaut notieren, dann sind wir erstaunt, wie
moderat seine Worte eigentlich sind.
Der Ton macht die Musik. Das Gleiche gilt
für eine weitere berühmte „Wutrede“:
die von Uli Hoeneß, als er noch Präsident von
Bayern München war und die Fans attackierte,
weil die meinten, beim Lokalrivalen 1860
Januar 2016
München sei die Stimmung besser. Die
Wortwahl war drastisch, aber sie bezog sich
nicht auf die Fans: „Wir reißen uns den
Arsch auf!“ Nicht immer zeigte Uli Hoeneß
bei seinen öffentlichen Äußerungen so viel
Geschick. Aber hier muss man sagen: Ein
mustergültiger Ausraster, der allen klarmachte:
Mit mir könnt ihr nicht so umspringen.
Änderungen anschieben
Und das führt uns zu unserem letzten
Punkt, warum es manchmal besser ist, sich
aufzuregen, als die Widrigkeiten des Lebens
gelassen zu ertragen. Wer Ärger macht, der
hat Interessen und Wünsche. Er nimmt am
Leben teil. Er will, dass sich etwas verändert.
Und häufig gelingt ihm das auch. Denn die
andern wollen häufig keinen Ärger. Wer alles
geduldig hinnimmt, der ist so lebendig wie
ein Möbelstück. Und er sollte sich nicht wundern, wenn die andern mit ihrem Hintern auf
seinem breiten Rücken Platz nehmen. Wer
sich aufregt, bringt die Dinge voran. Auch
wenn es immer wieder Ärger gibt. Doch wer
sich richtig aufregt, der scheut keinen Ärger,
er macht ihn. Denken Sie daran: Wenn Sie
sich nicht aufregen, dann ändert sich nichts.
Ein Gastbeitrag von
Matthias Nöllke
Dr. Matthias Nöllke, Autor für Management und Kommunikation, Keynote-Speaker
(www.noellke.de). Mehr als 20 Bücher hat er geschrieben, darunter „Vertrauen“, „In den
Gärten des Managements. Für eine bessere Führungskultur“ sowie „Ich WILL mich
aber aufregen. Das Buch für den kleinen Ärger zwischendurch“.
Er lebt in München, ist verheiratet und hat zwei Kinder.
Gegenwart
24
HELLO / GOODBYE
Ohne App ein Depp?
Vom Festnetz zum
Smartphone
Die einen wollen nicht per Festnetz telefonieren,
die anderen können es sich nicht leisten. Gefragt ist
dagegen Schwarmkommunikation per Mobiltelefon:
Einmal fragen, viele Antworten bekommen. Das
Ergebnis: Ständige Erreichbarkeit – und wer sich
der verschließt, bekommt vieles einfach nicht mit.
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Hello / Goodbye
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Januar 2016
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- Goodbye -
Festnetz
Wer sich heute als Handymuffel outet und lieber per Festnetz
telefoniert, wird zunehmend ignoriert. Und zwar nicht etwa
von Kollegen oder Kunden, sondern von Freunden und Bekannten. Es fängt schon damit an, dass die Eltern eines Schulkindes nichts über eine wichtige Veranstaltung erfahren –
von der erstaunlicherweise alle anderen wissen. Es geschieht
ohne böse Absicht, aber auch und gerade im Privatleben
erwartet das eigene Umfeld die ständige Erreichbarkeit per
Smartphone.
Menschen treffen ihre Verabredungen immer spontaner und
sagen sie auch immer spontaner ab. „Die gegenwärtige Verabredungskultur hat sich durch den omnipräsenten Gebrauch
von Smartphones und Co. deutlich verändert. Pünktlich am
vereinbarten Ort sein – das war einmal. Heute wird sich per
WhatsApp kurzgeschlossen, wann und wo man sich genau
trifft, oder eben auch spontan abgesagt“, sagt Prof. Ulrich
Reinhardt, wissenschaftlicher Leiter der Stiftung für Zukunftsfragen in Hamburg. Heißt konkret: Wer Lust und Zeit
hat, antwortet auf eine Nachricht. Wer nicht, lässt es oder
war halt gerade im Funkloch.
Wer Pech hat, bekommt eine Nachricht erst gar nicht mit.
Die Denkweise des Absenders: Ich muss nicht jeden einzeln anrufen und für einen wird es schon passen. Die des
Empfängers: Alles kann, nix muss, ich entscheide mich fünf
Minuten vorher, ob ich Lust dazu habe. Diese Unverbindlichkeit kann man gut oder schlecht finden, scheint jedoch ein
Grundbedürfnis der heutigen Zeit zu sein. Reinhardt: „Unser
Leben verläuft schneller, man muss mehr in gleicher Zeit
schaffen, und Termine finden im Zwei-Stunden-Takt statt.
Dies hat natürlich Auswirkungen auf unsere Beziehungen.
Sie werden ebenso unverbindlich und locker wie Verabredungen an sich.“
Beim Festnetz legt man sich dagegen vorher fest, wen man
warum anruft. Laut Bundesnetzagentur haben die Deutschen
2010 noch 193 Milliarden Minuten über Festnetz telefoniert,
2014 sind es noch 154 Millionen Minuten gewesen. Das
Festnetz stirbt. Und die feste Verabredung auch.
- Hello -
Mobilfunk
Ein Mobiltelefon ist nicht mehr nur ein Telefon. Es ist ein
Computer, mit dem sein Besitzer im Internet surfen, E-Mails
abrufen und SMS verschicken kann. Es ist zudem Adressbuch, Terminkalender und Kamera zugleich, stets parat, um
Selfies zu schießen oder dem Foodporn, also dem Fotografieren von Essen, zu frönen. Laut Bitkom, dem Branchenverband der digitalen Wirtschaft, nutzen in Deutschland
65 Prozent der Bundesbürger ab 14 Jahren ein Smartphone.
Und das lassen sich die Deutschen gerne etwas kosten: Ohne
Vertrag beläuft sich der Kauf auf mehrere hundert Euro bis
zu locker 1.000 Euro. Die monatlichen Summen betragen bei
Vielnutzern schnell 50 Euro und mehr.
Daraus ließe sich schließen: Wer ein Mobiltelefon nutzt, hat
Geld. Doch dies stimmt nur zum Teil, denn das Marktforschungsunternehmen Infas hat folgende Beobachtung gemacht: Rund 13 Prozent aller Deutschen leben in einer Wohnung ohne Festnetzanschluss, Tendenz steigend. Bei diesen
sogenannten „MobileOnlys“ handelt es sich überwiegend um
junge Männer, die als Singles in Ein-Personen-Haushalten
leben und eher über ein geringes Einkommen von weniger
als 1.000 Euro brutto im Monat verfügen.
Übersetzt heißt das: Es gibt immer mehr Deutsche, die sich
die Grundgebühr für einen Festnetzanschluss nicht mehr
leisten können. Sie satteln auf ein günstiges Prepaid-Handy
ohne Vertrag um, denn das ist auch ohne Schufa-Auskunft
zu bekommen. Der Vorteil: Sie bleiben auch ohne Geld auf
dem Konto erreichbar.
Etwas anders verhält sich die Situation in Schwellenländern,
in denen ein flächendeckendes Festnetz überhaupt nicht
existiert. Da Mobilfunk einfacher und schneller als Festnetz
zu verlegen ist, sind Mobiltelefone dort die einzige Chance,
telefonisch erreichbar zu sein. „Der große Vorteil besteht
darin, dass viele Menschen in relativ kurzer Zeit ans Netz
gebracht werden können, die andernfalls womöglich weiterhin
außen vor blieben. Dies erhöht ihre Chancen auf wirtschaftliche und gesellschaftliche Teilhabe“, erklärt Nick Kriegeskotte,
Bereichsleiter für Breitbandpolitik bei Bitkom. So haben
unterschiedliche Umstände ein und dasselbe Ergebnis: Die
Mobiltelefonie wächst – und zwar in allen Gesellschaftsschichten. In Deutschland werden es 2015 voraussichtlich
111 Milliarden Gesprächsminuten sein – und damit bald
mehr als im Festnetz.
Text: Geraldine Friedrich
Tradition
Unternehmen mit
Tradition
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UNTERNEHMEN MIT TRADITION
Alte Technik – neue Musik
Pallas: Eines der
letzten Vinylpresswerke
Als CDs die Musikbranche zu revolutionieren versprachen, zählten viele
Musikfirmen ihre Vinyl-Pressen zum alten Eisen. Bei Pallas in Diepholz
lagerte man sie ein. Heute laufen sie auf Hochtouren. Ein Lehrstück über
Standhaftigkeit in Zeiten von schnellen Trends.
Gerade ist es Daft Punk. Hunderte Platten
der französischen House-Superstars stapeln
sich in Plastikkisten. Schwarzes Vinyl mit
roten Etiketten, fertig zum Einpacken
und Verschicken. Diesmal in die USA, per
Luftfracht nach Washington und dann zu
den Clubs und zu den Fans. Das nächste
Mal geht es vielleicht nach Australien oder
Singapur, Bands wie Daft Punk hört man
schließlich auf der ganzen Welt.
„Die Pressen hier laufen im Dreischichtbetrieb, 24 Stunden pro Tag, fünf Tage die
Woche“, schreit Holger Neumann. Neben
ihm rattern ein Dutzend Maschinen, es zischt
und stampft und die Luft riecht nach heißem
Plastik. „Wir stellen hier 28.000 Schallplatten pro Tag her“, sagt Neumann. „Dieses Jahr
werden es insgesamt wahrscheinlich um die
4,5 Millionen sein.“
Neumann ist Geschäftsführer der Pallas Group
in Diepholz, Niedersachsen, einer Kleinstadt
zwischen Bremen und Osnabrück, inmitten
von Wiesen, Mooren und Weiden mit schwarzweißen Kühen. Knapp 16.000 Einwohner hat
Diepholz, es gibt kleine Häuschen aus rotem
Backstein, ein paar Supermärkte und Restaurants – und die Pallas Group, eines der letzten
Vinylpresswerke der Welt. Das ist Fluch und
Segen zugleich: Pallas kommt der Nachfrage
kaum hinterher.
Denn Vinyl boomt: Im Jahr 2014 wurden
allein in Deutschland so viele Platten
verkauft wie zuletzt 1992, insgesamt 1,8
Millionen Alben. In den USA, dem größten
Musikmarkt der Welt, hat sich im gleichen
Zeitraum der Verkauf von Schallplatten sogar verdoppelt: Dort wurden 2014 etwa 9,2
Millionen Platten verkauft. Und die Umsätze
steigen rasant, in Deutschland von 2013 auf
2014 um 33 Prozent auf 38 Millionen Euro.
Die längst totgesagte Schallplatte ist wieder
zum Trend geworden – und damit hat niemand
gerechnet, auch nicht Holger Neumann. Doch
die Pallas Group hat etwas, was andere nicht,
oder besser, nicht mehr haben: Pressmaschinen.
Der Grund dafür ist Glück, ein bisschen norddeutsche Dickköpfigkeit und das Erbe eines
Betriebes, der bald seit vier Generationen in
Familienbesitz ist.
Mucke in vierter Generation
Holger Neumann ist 55, ein großer Mann
mit schwarzer Brille, er spricht ein trockenes
Norddeutsch und sagt „Mucke“, wenn er
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Musik meint. Seit 1949 presst Pallas sie auf
Platten, Holger Neumanns Großvater Karl
hatte das Geschäft einst gegründet, mitten auf
dem freien Feld. „Früher gab es hier nichts“,
sagt Neumann, „nur Wiese und das Haus
meiner Großeltern.“ Das steht immer noch,
doch außen herum sind über die Jahre erst
Schuppen und dann Fabrikhallen in die Höhe
gewachsen.
Auf die Nachkriegszeit folgt das Wirtschaftswunder und in den 60ern baut Karl Neumann
ein neues Werk, einen dreistöckigen Bau mit
Flachdach, in dem heute immer noch die
Firmenzentrale ist. Im Treppenhaus hängt ein
alter gedrehter Leuchter aus Metall, an den
Wänden erzählen Fotos von der Zeit, als Elvis,
die Beatles oder die Stones dank Langspielplatten zu Weltstars geworden waren.
1974 stirbt Karl Neumann. Sein Sohn Rolf –
Holger Neumanns Vater – übernimmt die
Firma und baut sie weiter aus. Er beginnt erst
Musikkassetten zu produzieren und schließlich
auch noch CDs. „Wir sind erst Mitte der 80er
in das Geschäft mit CDs eingestiegen“, erzählt
Holger Neumann.
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Rot und rund: Die Kunden von Pallas schätzen die
Möglichkeit, etwas Unverwechselbares auf Vinyl zu
schaffen. Dazu zählen auch ungewöhnliche Farben,
oftmals passend zum Etikett.
Tradition
28
Angefangen hat das
mit der Love Parade
in Berlin. Da wollten
die DJs auf den Lkw
Platten auflegen.
Holger Neumann,
Geschäftsführer der Pallas Group
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Unternehmen mit
Tradition
Character
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Januar 2016
Bunte Tonträger: Holger Neumann, Geschäftsführer der
Pallas Group, vor einer Wand mit Schallplatten. Bei der
Gestaltung sind der Kreativität kaum Grenzen gesetzt – ob
mehrfarbig, mit Foto oder mit Lasergravur. Die „Scheiben“
werden auf Sondermaschinen gefertigt.
Tradition
Unternehmen mit
Tradition
30
Hip aus der Presse:
Transparente Farben, in diesem
Fall Gelb, sind sehr beliebt.
„Die erste CD, die wir hier gemacht haben,
war „Moskauer Nächte“ von Ivan Rebroff.
Die habe ich immer noch zu Hause.“
Mit Bauchgefühl gegen
schnelle Trends
Die Erfindung der CD löst damals eine
Revolution auf dem Musikmarkt aus. Sie ist
klein und robust, im Auto abspielbar und im
Discman, dem Nachfolger des Walkmans. Die
Branche ist elektrisiert, niemand zweifelt daran, dass CDs die Zukunft sind – und die Tage
von Vinyl gezählt. „Die Presswerke haben in
kürzester Zeit ihre Vinylpressen verschrottet“,
sagt Neumann. „Der alte Mist sollte raus –
und Platz machen für die CDs.“
Neumann ist damals gerade ins Geschäft bei
Pallas eingestiegen. Mit seinem Vater überlegt
er, was sie mit ihren Pressen machen sollen.
Am Ende entscheiden sie sich, sie zu behalten.
Fragt man warum, sagt Neumann: „Bauchgefühl. Und weil wir ein Familienunternehmen
sind. Da ist man vorsichtiger als andere.“
Neumann und sein Vater sind beide mit der
Firma aufgewachsen. „Unter der Woche ging
es bei uns zu Hause immer um den Betrieb, er
war unser täglich Brot. Da kriegt man einfach
eine andere Denke als bei einem Großkonzern,
wo man morgens kommt und abends geht.“
Als Jugendlicher hat Neumann im Sommer
im Presswerk gejobbt oder Platten eingetütet,
um dann mit dem Geld nach Berlin zu fahren.
Bevor er in die Firma einstieg, musste er sich
erst durch alle Abteilungen arbeiten. Die
Neumanns kennen ihre Firma, ihre Mitarbeiter und auch ihre Maschinen. Statt ihre
Pressen zu verschrotten, lagern sie sie ein.
„Einfetten. Einschmieren. Folie drüber.
Warten“, sagt Neumann.
Es dauert ein bisschen, dann kommen die
ersten Anrufe. „Angefangen hat das mit der
Love Parade in Berlin. Da wollten die DJs auf
den Lkw Platten auflegen. Und wir bekamen
langsam wieder mehr Anfragen.“ Es gibt kleine
Labels, die immer weiter Platten bei Pallas in
Auftrag geben. Erst für DJs, dann immer mehr
auch für Liebhaber, Sammler und Musikfans.
Und dann passiert etwas, mit dem niemand
so rechnet: Der Trend schwappt über auf die
breite Masse.
Alte Maschinen und
gute Kunden
In Zeiten, in denen komplette Musiksammlungen aus dem Netz abrufbar sind, erinnern
sich viele zurück an die Platte, die knarzt und
knackt und ihre Fehler hat, aber mehr ist, als
ein paar Einsen und Nullen. Ein paar kaufen
die Platten wegen des warmen Klangs, ein
paar wegen der Nostalgie oder aus ästhetischen Gründen. Die Nachfrage wächst und
wächst und irgendwann stellen die Plattenlabels fest, dass etwas fehlt: Die Pressen, um
Vinyl herzustellen. Und auf einmal kann sich
Pallas vor Anfragen nicht mehr retten.
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Zehn alte Toolex Alpha Vollautomaten hat
Pallas, mehr als 30 Jahre alte grüne Ungetüme.
Zudem stehen in der Halle noch drei Maschinen für Single-Platten und drei für Platten aus
farbigem Vinyl.
Pallas erwirtschaftet laut Neumann pro Jahr
einen Umsatz im einstelligen MillionenEuro-Bereich. 130 Mitarbeiter hat Neumann
heute, viele von ihnen sind schon seit Jahrzehnten im Betrieb, doch allein in den vergangenen Monaten hat Neumann 18 Personen
eingestellt und geschult. Einerseits wegen des
Platten-Booms, andererseits auch als Investition in die Zukunft. Denn von außen, sagt
Neumann, ist es schwer, Mitarbeiter mit dem
nötigen Know-how zu bekommen.
Um der Nachfrage Herr zu werden hat
Neumann neue Maschinen entwickeln lassen,
insgesamt sechs Stück, doch auch sie reichen
nicht, um die Nachfrage zu befriedigen. Der
Boom ist mittlerweile so groß, dass die kleinen
Label, die ja einst dafür gesorgt haben, das
Vinyl am Leben zu halten, heute Probleme
haben, Produktionskapazitäten zu bekommen.
Ein paar Presswerke, sagt Neumann, wollen
lieber große Aufträge von großen Firmen. Bei
Pallas ist das anders. „Bei uns gehen Stammkunden vor. Die Großen kommen und gehen –
die Kleinen aber waren immer da. Es wäre
nicht fair, sie nicht zu bedienen. Da ticken wir
einfach anders.“
Text: Christoph Gurk
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Plattenproduktion
Wenn eine Firma eine neue Platte bei Pallas in Auftrag gibt,
dann schickt sie erst eine Lackfolie: eine schwarze biegsame
Scheibe mit Rillen, auf denen, wie Neumann sagt, „die Mucke“
aufgezeichnet ist. Die Lackfolie kommt dann in ein GalvanikBad. Pallas hat dafür eine Reihe von Becken, gefüllt mit blauer
Flüssigkeit, in denen die Lackfolie in einem chemischen Prozess
versilbert wird. Im Anschluss werden Abzüge angefertigt, die
in die Pressen kommen. Mit 200 Bar, also 200 Kilo Druck pro
Quadratzentimeter, drücken diese einen Klumpen aus rohem
PVC zusammen und formen so die Schallplatte. Ein kleiner
Arm schneidet die Ränder ab, und am Ende hebt ein Greifer die
warmen Platten in Papierhüllen, in denen sie dann auskühlen.
All das dauert im Schnitt etwa 30 Sekunden. Aber die Maschinen
laufen eben schon auf Hochtouren, sagt Neumann. Und sie
sind auch nur der Anfang:
„Es reicht nicht, einfach nur einen Knopf zu drücken, wenn man
eine Platte machen will. Das ist ein langwieriger Prozess und
man muss wissen, was man tut. Dies alles geht nur mit einem
langjährigen und gut motivierten Team. Das Know-how ist
unbezahlbar.“ Soll heißen: Neumanns Mitarbeiter müssen wissen,
wie man gute Abzüge von den Lackfolien macht, die Pallas von
den Plattenfirmen bekommt. Und sie müssen wissen, was zu tun
ist, wenn eine Platte nicht so aus der Maschine kommt, wie es
sein soll, wie Einstellungen an den alten Maschinen zu justieren
oder Fehler zu beheben sind.
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Zukunft
Für morgen
32
für morgen
AUF DEM HOLZWEG
Ein unterschätzter
Rohstoff
Die Energiequelle der Zukunft? Sonne? Wind?
Alles falsch. Fachleute sind sich einig: Holz ist der wichtigste
Rohstoff, um die Energiewende hinzubekommen.
Aber das ist auch schon fast alles, worüber sie sich einig sind.
Gäbe es eine Landkarte der Energiewende, wäre Rottleberode ein
bedeutender Ort darauf. Seit drei Jahren ist das 1.500-EinwohnerStädtchen in Sachsen-Anhalt Sitz des Holzimpulszentrums (HIZ).
Und das beschäftigt sich mit einem Rohstoff, der für den Ersatz von
fossiler Energie wichtiger werden könnte als Sonnen- und Windkraft:
Holz. Zugegeben – nicht alles, was am HIZ passiert, lässt das auf
den ersten Blick erkennen. Eines der wichtigsten Projekte etwa ist die
Entwicklung des „Buchen-Hybrids“, eines Trägers für den Gebäudebau, der aus Buche und Fichte besteht. „Herausfordernd“ sei das, sagt
Christian Schiffner, einer der Mitarbeiter des Projekts. Denn die zwei
Holzarten sind nur schwer miteinander zu verarbeiten. Aber sollten
die Forscher erfolgreich sein, könnten Hybrid-Balken sogar Betonträger ersetzen – und damit die Energie für die Herstellung des Betons.
Gleichzeitig hätten die HIZ-Leute eine Frage beantwortet, die derzeit
alle umtreibt, die sich mit dem Rohstoff Holz beschäftigen: Wie fügt
man zusammen, was nicht zusammengehört?
HOLZ ALS BAUSTEIN DER
ENERGIEWENDE
Denn nicht nur Buche und Fichte vertragen sich von Natur aus nicht
gut, sondern auch die Interessen von Ökonomie und Ökologie. Im
Falle von Holz laufen die Diskrepanzen manchmal sogar quer durch
die Lager. Einigkeit besteht darin, dass Holz ein wichtiger Baustein
der Energiewende ist. „Der richtige Weg, dem Klimawandel sinnvoll
zu begegnen, kann nur die nachhaltige Nutzung von Holz sein“, sagt
Marcus Kühling, Geschäftsführer des Deutschen Forstvereins. Jeder
Baum absorbiert beim Wachsen Kohlenstoffdioxid (CO2 ). Eine knappe
Tonne davon wird pro Kubikmeter Holz gespeichert. Wo immer Holz
andere Werkstoffe wie Stahl und Kunststoff ersetzt, wird pro Kubikmeter zusätzlich im Schnitt mehr als eine weitere Tonne CO2 eingespart, das bei der Produktion dieser Stoffe entstanden wäre. Und:
Holz gibt es in rauen Mengen. So scheint es zumindest.
11,4 Millionen Hektar Wald bedecken ein Drittel der Gesamtfläche
von Deutschland. Das ist mehr als in jedem anderen Land der EU.
Und deutlich mehr als noch vor ein paar Jahrhunderten. Schon im
Mittelalter wurden die Wälder geplündert: Mit Beginn der Neuzeit
etwa wurde der Rohstoff so wichtig für den Bergbau, zum Abstützen
von Gruben oder dem Schmelzen von Erzen, dass Deutschland vor
300 Jahren fast komplett entwaldet war. Die Wende kam in Gestalt
von Carl von Carlowitz. 1713 beschrieb der sächsische Oberberghauptmann in einem Buch erstmals das Prinzip der Nachhaltigkeit
und erfand dabei nebenbei das Wort gleich mit. Seitdem wächst der
Waldbestand kontinuierlich, von kriegsbedingten Einbrüchen abgesehen. Die jüngste Bundeswaldinventur aus dem Jahre 2012 vermeldete
gar einen Rekord. Deutschland verfüge über einen Vorrat von 3,7
Milliarden Kubikmetern Holz, heißt es darin: „Es wächst mehr Holz
nach, als wir nutzen.“
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VERBAUEN VERSUS VERBRENNEN
Aber es gibt noch einen weiteren Rekord. Eine Studie der Uni Hamburg stellte 2012 fest, dass in Deutschland zum ersten Mal mehr als
die Hälfte des Baumbestands energetisch eingesetzt wird, schlichter
formuliert: Es wird verbrannt. Grund dafür ist der gestiegene Bedarf
von Biomasse-Kraftwerken und Pelletheizungen. Denn die stehen im
ökologischen Vergleich zum Heizen mit Öl oder Gas gut da. „Im Wärmebereich liefert Holz mehr Energie als Strom, Wind, Photovoltaik
und Wasserkraft zusammen“, sagt Martin Bentele, Geschäftsführer
des Deutschen Energieholz- und Pelletverbands (DEPV). Rund
400.000 pelletbetriebene Heizungen und Öfen sind nach DEPVSchätzungen derzeit deutschlandweit im Einsatz. In Privathäusern,
in Schulen, in Bäckereien und sogar im Fußballstadion des FC Hoffenheim. Auch weil die Bundesregierung die energetische Verwertung
von Holz durch das Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG) förderte. Die
Folge: Der Holzpreis ist dadurch rasant gestiegen, in den vergangenen
vier bis fünf Jahren um gut 30 Prozent, schätzt Peter Sauerwein,
Geschäftsführer des Verbands der Deutschen Holzwerkstoffindustrie.
Doch was die Waldbesitzer freut, ist ein Problem für den Verband
und seine Mitgliedsunternehmen. Denn die produzieren Spanplatten
und Furnierholz, also Produkte mit niedrigen Margen, für die vor
allem Sägereste verwendet werden oder Altholz, das zuvor schon
als Werkstoff im Einsatz war. Lange Zeit war beides ein günstiges
Abfallprodukt. Jetzt ist es ein Rohstoff, um den sie mit den Betreibern
von Biomassekraftwerken und Pelletherstellern konkurrieren. Auch
die Sägeindustrie leidet unter hohen Preisen. „Teilweise nutzen die
Sägewerke die Reste jetzt selbst thermisch, um Kosten zu sparen“, sagt
Sauerwein. Immerhin habe die Bundesregierung die EEG-Förderung
inzwischen zurückgefahren. Nach wie vor aber werde Holz, das stofflich genutzt wird, mit 19 Prozent versteuert, Brennholz jedoch nur mit
7 Prozent.
FUNKTIONSWÄSCHE UND
HOCHHÄUSER
Gegen das Verbrennen sprechen jedoch auch ökologische Gründe.
„Holz sollte erst stofflich verwendet werden, inklusive Recycling, und
erst ganz am Ende des Produktzyklus thermisch genutzt werden“, sagt
Dirk Berthold vom Fraunhofer-Institut für Holzforschung. „Dieser
Prozess sollte sich über einen möglichst langen Zeitraum ziehen,
am besten über mehrere Jahrzehnte.“ Kaskadennutzung lautet der
Fachbegriff für diesen Kreislauf. Durch Kaskadennutzung stünde auch
mehr Holz für die Entwicklung neuartiger Produkte zur Verfügung.
Das Fraunhofer-Institut beispielsweise forscht an einem Holzschaum,
der auf Dauer Dämmmaterial aus petrochemischen Kunststoffen
Januar 2016
33
ersetzen könnte. Schon jetzt wird aus Holz hergestellte Lignocellulose
zu Kunststoffen in Flugzeugen, Autos und sogar in Funktionsbekleidung verarbeitet. Vor allem aber im Baugewerbe geht noch einiges:
In Deutschland werden nach und nach die Landesbauordnungen
gelockert. Vor allem, weil modern verarbeitetes Holz Bränden besser
standhält. So dürfen etwa in Rheinland-Pfalz seit August dieses Jahres bereits fünfstöckige Häuser aus Holz gebaut werden. Im Ausland
geht es sogar schon um zweistellige Geschosszahlen, in Wien sollen in
diesem Herbst gar die Bauarbeiten an einem 24-stöckigen Hochhaus
beginnen, das zu mehr als 70 Prozent aus Holz bestehen soll.
WIDERSPENSTIGES LAUBHOLZ
Um solche hochfliegenden Pläne auch in Deutschland umzusetzen,
muss aber noch ein anderes Problem bewältigt werden: die Zunahme
von Laubhölzern. Denn die Aufforstungspläne des Oberbergbaumeisters von Carlowitz schufen Wälder, die bis zu 90 Prozent aus
Nadelhölzern wie Fichte bestanden. Weil sie schneller und gerader
wachsen als Laubhölzer. Und weil sie sich einfacher verarbeiten lassen.
Laubhölzer aber sind härter und darum nicht leicht zu zersägen.
Obendrein sind sie weniger witterungsbeständig.
Aus ökologischen Gründen aber werden in Deutschland seit Jahren
kontinuierlich mehr Laubbäume angepflanzt, vor allem Buche.
Denn Mischwälder stehen für mehr Artenvielfalt und sind zudem
resistenter gegen Stürme und Insektenbefall. „Die Knappheit der
Ressource Holz ist vor allen Dingen eine Knappheit von Nadelholz“,
sagt Berthold.
Diese Entwicklung ist der Grund dafür, dass sich Wissenschaftler zunehmend mit der Frage beschäftigen, wie Laubholz besser verarbeitet
werden kann. So wie die Forscher in Rottleberode, die gemeinsam mit
Christian Schiffner am HIZ das Buchen-Hybrid entwickeln. Aber
Schiffner verfolgt sein Projekt nicht nur aus Notwendigkeit, sondern
sieht auch Chancen. Denn die harten Laubbäume haben den Vorteil,
dass daraus gefertigte Baumaterialien größere Belastungen aushalten –
und darum bei der Produktion weniger Material eingesetzt werden
muss. „Das spart Ressourcen.“ Jetzt müssen sie nur noch herausfinden, wie sie widerspenstige Buchenspäne mit den Fichtenteilen
verleimen und mit einem Druck zusammenpressen, bei dem die
starren Buchenanteile nicht zerbröseln. Am Ende ist alles eine Frage
der richtigen Mischung.
Text: Claus Hornung
Zukunft
12 Dinge,
die man tun sollte
34
12 dinge, die man tun sollte
Visionen wachsen
lassen
Als Filmemacher ist Nico Hofmann medialer Profi.
Als Mensch überzeugter Einzelgänger. Zwei Welten,
die unvereinbar scheinen, es aber nicht sind, da die
eine das Gegengewicht zur anderen bildet.
12 Dinge, die man tun sollte
1.
Ruhe-Inseln schaffen,
damit Visionen wachsen
können.
5.
Den Willen trainieren.
Er ist unsere stärkste
Rettungsleine.
2.
Natur atmen. Zum
Beispiel auf meinem
Boot mitten auf dem
Wannsee.
6.
Niemals die Lebensneugierde verlieren.
3. D
eutschlands Osten
bereisen und die Herzlichkeit der Menschen
genieSSen.
7.
Musicals gucken.
Unbedingt Sönke
Wortmanns
„Wunder von Bern“.
8.Trotzdem lächeln.
4.Lernen, angstfrei
zu leben.
9.
Loyal bleiben, auch wenn
es unbequem ist. www.bethmannbank.de
10.Ehrlich sich selbst
gegenüber bleiben.
11.
Prioritäten regelmäSSig
überdenken –
Beziehungen auch.
12.Aktiv bleiben,
nur dann geschehen
Veränderungen.
Character
Szene aus dem Musical „Das Wunder von Bern“: Helmut Rahn machte
Deutschland 1954 durch seinen Siegtreffer zum Fußballweltmeister. Im Foto
lehnt Richard Lubanski (Detlef Leistenschneider) den Kopf an die Schulter
seiner Mutter Christa (Vera Bolten).
Nico Hofmann mag die Verfilmung dieser Geschichte auch deshalb so gern,
weil ihn mit dem Fußballer und Nationalhelden Rahn von Kindesbeinen an der
unbedingte Wille zum Erfolg verbindet.
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Januar 2016
Gegenwart
36
Mondfest in Hamm: Priester Paskarakurukal (l.) gibt
Früchte in ein Feuer und sagt Mantren auf. Er predigt
im Sri Kamadchi Ampal-Tempel in Hamm, dem zweitgrößten Hindu-Tempel in Europa.
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MehrWerte
Character
37
Januar 2016
mehrwerte
Shiva auf Westfälisch
Die tamilische Gemeinde
in Dortmund
Dortmund – das ist Ruhrgebiet. Das ist Industriegeschichte und Strukturwandel.
Und das ist natürlich Fußball. Dortmund ist aber noch mehr, nämlich ein kleines
Zentrum für Menschen mit sri-lankischen Wurzeln aus ganz Deutschland. Seit den
1980ern wurden hier viele Flüchtlinge des Bürgerkriegs in dem Inselstaat ansässig
und tragen heute zum Leben in der Stadt bei.
Die Bierkisten türmen sich direkt neben der
Straße. Doch die bunte Auswahl an Bieren,
die einige Passanten zum Hingucken verleitet, ist lediglich auf einen Verteilerkasten
aufgemalt. Beschriftet sind die zahlreichen
Flaschen auf dem Bild nicht nur mit deutschen Namen, daneben prangen gleichberechtigt fremde Schriftzeichen. „Das ist Tamil“,
sagt Jeyakumaran Kumarasamy. Und muss
schmunzeln, denn: „Es gibt kein tamilisches
Bier. Wir haben Stout, und das haben früher
die Engländer auf Sri Lanka eingeführt.“
Kumarasamy schlendert weiter, die Rheinische Straße im Dortmunder Unionviertel
entlang. Vorbei an Schaufenstern, gefüllt
mit schwerem Goldschmuck und farbenfrohen Saris, mit exotischen Gemüsesorten
und hinduistischen Figuren. Ein Reisebüro
teilt sich den Raum mit der deutschen Niederlassung des tamilischen Fernsehsenders
GTV. „Das ist ein komplett tamilisches
Viertel“, sagt Kumarasamy, der alle paar
Meter stehen bleibt, um jemandem die
Hand zu schütteln oder den Kopf in ein
Geschäft reinzustecken. „Und ich kenne alle
hier“, meint der 54-Jährige selbstbewusst.
Integration seit der
Kolonialzeit
Dortmund ist für Tamilen so etwas wie
eine zweite Heimat in Deutschland. Zwar
wohnen nur rund 250 Familien der Bevölkerungsgruppe im Stadtgebiet. Doch zieht
das Unionviertel, wo früher die Stahlwerke
von Hoesch und Thyssen arbeiteten, jedes
Jahr Zehntausende Besucher mit tamilischen Wurzeln in die Westfalenmetropole.
Etwa, um am 27. November der Opfer des
sri-lankischen Bürgerkriegs zu gedenken.
Oder schlicht, um einzukaufen: „Denn hier
gibt es Dinge, die man sonst nirgends in
Deutschland bekommt“, sagt Kumarasamy.
Kumarasamy, der nur Kumar genannt wird,
kam als Flüchtling nach Deutschland. Er
floh 1981 – mit 19 Jahren – wie viele andere
aus seiner Heimatstadt Jaffna und kam
über die DDR nach Dortmund. Dort lernte
er die Sprache, machte Bekanntschaft mit
einer deutschen Frau und arbeitete fortan
als Dolmetscher. Integration, so sagt er, war
ihm von Anfang an sehr wichtig.
Tamilen kennen es,
mit anderen
Kulturen zusammenzuleben. Das ist eine
Erfahrung, die noch
aus der Kolonialzeit
stammt.
Jeyakumaran Kumarasamy
Gegenwart
38
Und er nennt dafür einen einfachen Grund:
„Tamilen kennen es, mit anderen Kulturen
zusammenzuleben. Das ist eine Erfahrung, die
noch aus der Kolonialzeit stammt.“
Tamilische Rezepte und
deutsche Gaumen
Deshalb war es Kumarasamy auch ein
Anliegen, dass die Tamilen und ihre Kultur in
Dortmund stärker wahrgenommen werden. Er
gründete Anfang der 1990er Jahre zusammen
mit Freunden den Tamilischen Kulturverein
am Rande des Unionviertels, veranstaltete
tamilische Konzerte und Theaterstücke, um den
deutschen Mitbürgern etwas von ihrer Kultur
nahezubringen – und legte damit gewissermaßen den Grundstein für das tamilische Viertel.
Denn im Laufe der Zeit folgten Geschäfte und
Restaurants, darunter auch das „Sweet Chilli“
von Mohideen Hanafi.
Der 63-Jährige, der von seinen Bekannten
schlicht Nana genannt wird, stellt intensiv
duftende Chutneys mit Teigfladen wie Rotti
und Dhosai oder Gemüse wie Murangai oder
Paithaingai zu einer bunten Platte zusammen.
Dann serviert er Reis auf Bananenblättern und
demonstriert damit: „Unser Essen ist original.
Das kriegt man nur auf Sri Lanka oder hier.“
Hanafi legt seit der Gründung seines Restaurants sehr viel Wert darauf, seine Rezepte nicht
an europäische Gaumen anzupassen – und
hätte sein Restaurant deshalb beinahe wieder
schließen müssen, da zunächst die Gäste
ausblieben.
Unser Essen ist
original. Das kriegt
man nur auf
Sri Lanka oder hier.
Mohideen Hanafi.
MehrWerte
Bittermelonen und lange Bohnen liegen
bei TKS Best Foods in den Regalen. „Und
wir haben auch viele Gebetsartikel hier“,
sagt Juniorchef Birijanth Ratnalingam.
Damit meint der 22-Jährige Götterporträts,
Räucherstäbchen und Gebetstücher. Und
resümiert: „Zu uns kommen immer mehr
deutsche Kunden und fragen: Wie funktioniert das? Denn viele deutsche Frauen und
Männer sind heute mit Tamilen verheiratet
und machen sich mit unserer Kultur vertraut.“
Cricket in Schwarz-Gelb
Götterporträts auch
für Deutsche
„Früher dachten die Leute, dass unser Essen
stinkt“, resümiert der Restaurantchef. „Doch
seit zwei Jahren kommen sehr viele Deutsche und wollen, dass ich ihnen etwas über
unsere Esskultur beibringe.“ Dazu gehört
auch, mit den Händen zu essen, weshalb ein
Waschbecken mitten im Restaurant steht.
Kürzlich hat eine deutsche Kundin sogar
ihren 96. Geburtstag im Restaurant gefeiert.
„Früher hatten die Leute viele Vorurteile,
dass Tamilen kriminell sind und Alkoholiker“, sagt Hanafi. Und lacht: „Dabei darf
ich als Moslem gar keinen Alkohol trinken.“
Die speziellen Zutaten für die sri-lankische
Küche sind auf der anderen Seite der Rheinischen Straße erhältlich: Kochbananen,
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Der Cricket-Schläger bleibt momentan im
Schrank. Bei dem Tamil Star Cricket Club
herrscht Winter- und damit auch Trainingspause. Was nicht bedeutet, dass die
Sportart in der tamilischen Gemeinde keine
Rolle spielt: „Cricket hat auf Sri Lanka den
Stellenwert, den Fußball in Deutschland
hat“, sagt Lingeswaran Subramanian. Der
42-Jährige sitzt im Vorstand des Clubs, der
bei Spielen – wie es sich für Dortmunder
gehört – in schwarz-gelben Trikots antritt
und bei Turnieren in ganz Europa erfolgreich unterwegs ist. Einmal im Jahr richtet
der Club auch ein eigenes Turnier aus.
Doch trotz der Erfolge hat der Club Nachwuchssorgen – und das wegen der lokalen
Sportkonkurrenz. „Cricket ist uns auch
wichtig für die Jugendarbeit.
Character
Sweet Chilli: Restaurantchef Mohideen Hanafi
kocht in Dortmund original sri-lankische Küche.
Die deutschen Gäste waren zunächst sehr
zurückhaltend, sind inzwischen aber sehr an
der fremden Esskultur interessiert.
39
Januar 2016
Gegenwart
Doch viele der Jugendlichen, die hier aufgewachsen sind, interessieren sich mehr für
Fußball – für den BVB.“ Künftig soll auch
Cricket dazugehören. Subramanian und
seine Mitstreiter wollen den Club als Verein
eintragen lassen und hoffen darauf, dann
wieder einen geeigneten Trainingsplatz zu
bekommen. Bislang hatten sie auf dem alten
BVB-Gelände im Dortmunder Hoeschpark
trainiert, der aber einem anderen Zweck
zugeführt wurde.
Shiva im Hinterhof
Stadtteil Hombruch, im Hinterhof einer
Werkstatt: Rund 150 Menschen haben sich
dort eingefunden und umrunden mit aneinander gelegten Händen oder mit kleinen
Feuerschalen eine Statue des Gottes Shiva.
Der Priester Theivendrakurukkal steht vor
der Statue und predigt auf Tamil über die
Hindus in Westfalen: Der Sri Kamadchi Ampal-Tempel
in Hamm (oben) und der Shiva-Tempel in Dortmund mit
Priester Theivendrakurukkal (unten).
MehrWerte
40
72 Eigenschaften von Shiva. „Das hier war
der erste Hindu-Tempel in Deutschland“,
sagte Shanmugam Jegatheesvaran. Der
64-Jährige ist einer der Vorsitzenden des
Gotteshauses, das 1984 gegründet wurde,
und begrüßt heute bei den verschiedenen
Hindu-Festen bis zu mehrere Tausend
Tamilen.
„Der Tempel kennzeichnet das Gesellschaftsleben der Tamilen“, erklärt Jegatheesvaran. „Und zuweilen kommen auch
Deutsche her.“ Dabei handelt es sich um
Neugierige genauso wie um Besucher, die
einmal nach Indien wollen oder die sogar
selbst Hindu glauben. Das Interesse der
Deutschen ist zwar noch überschaubar,
doch der Tempelgründer gibt sich optimistisch und bemüht ein Sprichwort: „Man
nimmt einen Tropfen Milch und gibt ihn in
Wasser – und das Wasser wird weiß.“
Bürokratie und Lockerheit
Mit anderen Worten: Es tut sich was im
deutsch-tamilischen Miteinander. Das
meint auch Kumar, der zu Beginn seiner
Arbeit noch schlechte Erfahrungen mit der
deutschen Bürokratie und ebenso mit der
allzu unverbindlichen Mentalität seiner
Landsleute machen musste. Doch inzwischen ist eine zweite Generation an Tamilen
in Dortmund herangewachsen. Und auch
die Kommunalpolitik hat sich den neuen
„Nachbarn“ geöffnet. So resümiert Kumarasamy sichtlich zufrieden: „Was ich heute
in Dortmund erlebe, ist eine gegenseitige
Akzeptanz.“
Text: Frank Paschen
Character
41
Januar 2016
„Man muss seine Grenzen haben“
Mondfest im Sri Kamadchi Ampal-Tempel in Hamm: Rauch wabert durch die Halle des zweitgröSSten
Hindu-Tempels in Europa. Priester Paskarakurukal hockt vor einem Feuer, gibt Bananen und Orangen in die Glut und sagt Mantren auf. Gleichzeitig winkt er immer wieder deutsche Besucher herein,
die neugierig im Eingang stehen bleiben. SchlieSSlich soll die Zeremonie die Energie des Vollmonds
auf alle Anwesenden übertragen. Am Feuer hockt auch Malikarchchuna Paskaran, eine der Töchter
des Priesters. Die 18-Jährige erklärt ihre Rolle im Tempel – und auch im deutschen Alltag.
Was ist das Besondere, als Tochter des Priesters aufzuwachsen?
Das ist schon eine große Rolle: Die Gemeinde achtet stärker darauf, was wir tun. Wenn wir etwas falsch machen, dann
ist das ein großes Thema. Wir müssen uns genau mit der Religion auskennen und natürlich auch gastfreundlich sein.
Wir sind die nächste Generation, und meine Brüder werden das Amt im Tempel übernehmen. Sie sind schon als Priester
geweiht und werden das fortführen, was mein Vater aufgebaut hat.
Welche Rolle spielt das im Umgang mit Ihren Freunden?
Wir wachsen als Vorbild für die Gemeinde auf. Das bedeutet zum Beispiel, dass wir gar kein Fleisch essen. Ich treffe mich
mit Freunden, das ist ganz normal. Aber deutsche Freunde trinken Alkohol und rauchen, das mache ich nicht.
Meine Freunde empfinden das zwar als streng, aber ich verstehe es vielmehr als Grenze. Man muss seine Grenzen haben,
und dazu stehe ich.
Wie fühlt sich Ihre Generation? Deutsch oder tamil?
Wenn ich in der Schule bin, dann fühle ich mich deutsch. Doch wenn ich im Tempel bin, dann fühle ich mich tamil. Diese
Umstellung ist schon anstrengend, aber ich würde es nicht ändern wollen. Das betrifft auch Freundschaften: Deutsche
Jugendliche suchen sich irgendwann einen Freund oder eine Freundin. Doch wenn wir uns einen Freund aussuchen, dann
muss er zur Familie passen. Er muss auch ein Priester sein oder zumindest unsere Religion verstehen.
Welchen Stellenwert hat denn Religion für Sie?
Unsere Religion ist eigentlich keine Religion, sondern ein Lebensweg. Wir bewahren unsere alten Werte natürlich, aber
wir leben auch in Europa im Jahr 2015. Meine Eltern wurden auf Sri Lanka noch ganz anders erzogen: Frauen wie meine
Mutter wurden dort nach der Schule auf die Ehe vorbereitet und ergriffen keinen Beruf. Das erwarten meine Eltern von
mir nicht.
Welcher Beruf interessiert Sie denn?
Ich mache jetzt mein Abitur und habe einen Schwerpunkt auf BWL gelegt. Ich habe auch überlegt, ob ich Rechtsanwältin
werde, aber das Studium dauert sehr lange, und ich möchte lieber etwas in wirtschaftlicher Richtung machen. Deshalb
hatte ich die Idee, Bürokauffrau zu werden und anschließend BWL zu studieren. Ich möchte später auf eigenen Beinen
stehen und selbst Geld verdienen. Und mein Mann muss das dann akzeptieren.
Gegenwart
42
Kleine Schätze
des Alltags
kleine schätze des alltags
Der Alltag ist voll von kleinen Gegenständen:
Taschentücher, Messer, Streichhölzer, Kaffeemaschinen oder Kugelschreiber –
sie alle gelten heute als so selbstverständliche Accessoires
des täglichen Lebens, dass sie kaum noch eines Gedankens oder eines zweiten
Blicks würdig erscheinen. Dabei sind sie oft unentbehrlich und besitzen
eine lange Geschichte. Grund genug, die „kleinen Schätze des Alltags“ einer
genaueren Betrachtung zu unterziehen.
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Character
Januar 2016
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Verschlusssache
Wirtschaftskrimi und Technikwunder:
Der ReiSSverschluss
„Kein Mensch weiß, wie es ‚gemacht’ wird.
Kein Mensch kann sich erklären, warum der
Reißverschluss funktioniert“, schreibt Kurt
Tucholsky 1928 über dieses Wunderwerk der
Technik, das wir alle erst zur Kenntnis nehmen, wenn es nicht funktioniert. Tucholsky
vermutet, dass der Erfinder als Clochard in
Paris endete.
Könnte auch gut sein, denn der Reißverschluss
hat viele Väter – und viele davon auf dem
Gewissen. Rund 1.000 (!) Patente wurden
für ihn eingereicht. Aber fast alle „Erfinder“
des von der BBC zum Weltwunder des 20.
Jahrhunderts gewählten Reißverschlusses
starben arm.
Weder sie noch ihre Nachfahren profitierten
von den 500.000 Metern Reißverschluss, die
täglich im ostfriesischen Rhauderfehn, dem
Sitz der Opti GmbH, dem neben dem japanischen Branchenriesen YKK zweitgrößten
Reißverschlusshersteller der Welt produziert
werden.
Kriegsgewinnler
Ursprünglich war der Reißverschluss nicht
als Alternative zu Knöpfen an Kleidungsstücken gedacht, sondern um die üblichen
Stiefelknöpfe zu ersetzen. Daran tüftelte man
seit 1851. Erst 1893 erhielt der New Yorker
Erfinder Whitcomb Leonard Judson das USPatent für einen „Klemmöffner und -schließer
für Schuhe“.
Es beginnt ein Wirtschaftskrimi, bei dem
Judson bald auf der Strecke bleibt. Er stellt
seinen Verschluss Colonel Lewis Walker vor.
Dieser gründet 1894 in der Nähe von New
York die Universal Fastener Company, die
erste Reißverschlussfabrik der Welt – und
boxt Judson aus dem Unternehmen.
geworden. Von einer Stoffleiste verdeckt, wird
der Verschluss Ende der 1920er Jahre bei
einem großen Teil der Kleidung die Norm.
1935 setzt die Modeschöpferin Elsa Schiaparelli ihn sogar erstmals als Stilmittel ein.
1904 nennt sich die Firma Automatic Hook
and Eye Company. Slogan: „Ein Zug, und es
ist vollbracht“. Walker stellt einen Schweden
namens Aronson ein, welcher wiederum
Walker aus dem Unternehmen boxt. Der
Schwede hat eine Tochter, die im New Yorker
Boom-Taumel der Jahrhundertwende einen
Landsmann und Star-Ingenieur, Gideon
Sundback, kennenlernt. Er verliebt sich in
Aronsons Tochter, heiratet und legt 1913
seinem Schwiegervater – und der Welt – den
ersten wirklich funktionierenden Reißverschluss vor.
Die letzte Revolution erlebt der Reißverschluss 1953: Der deutschen Firma Opti gelingt es, den Reißverschlüssen die metallenen
Zähne zu ziehen, sie in Kunststoff zu fertigen
und in jeden beliebigen Farbton einzufärben.
Damit wird dieses Alltagsding sogar für
Industrie und Medizin interessant.
Nichts klemmt mehr. Die Firma nennt sich
nun Hookless Fastener Company, und
Sundback wird dank Reißverschluss zum
Multimillionär. Sein Reichtum gründet sich
auf den Ersten Weltkrieg: Zunächst hält der
praktische Verschluss nur Taschen und Gürtel
zusammen, 1918 jedoch bereits 10.000
Fliegeranzüge.
Dem militärischen Siegeszug des Verschlusses
folgt der zivile. 1923 wird das „action word“
des American Way of Life kreiert: „Zipper“!
Aus den 24.000 Reißverschlüssen von 1917
sind 1934 schon mehr als 60 Millionen
Praktisch und schmuck
Die erotische Konnotation als „Reizverschluss“
erreicht der Reißverschluss erstmals 1957
im Film „Pal Joey“. Frank Sinatra attestiert
seiner Rita Hayworth eine Karriere als „Vera
of the vanishing zipper“. Und 1971 brennt
sich, nach einer Idee Andy Warhols, der ZipVerschluss als Rolling-Stone-Cover der LP
„Sticky Fingers“ in das Bewusstsein ein.
So dient der Reißverschluss längst nicht
mehr nur dem Zusammenhalt von Taschen,
Federmäppchen, Verpackungen, Kleidung
und sogar hochtechnisierten AstronautenAnzügen. Sondern er wird, seit den 1980er
Jahren des Punk zusätzlich auch als ebenso
aggressives wie trivial schmückendes Modeaccessoire eingesetzt.
Text: Pascal Morché
Zukunft
44
Zwischen kommerziell
und karitativ
Zwischen Kommerziell und karitativ
Ist fair wirklich fair?
Das Fair-TradeUnternehmen GEPA
GEPA gehört zu den Pionieren des Fairen Handels. Lange hat das Wuppertaler
Unternehmen seinen Kaffee, Tee oder Orangensaft über Kirchenbasare und Weltläden
verkauft. Heute, im Jahr seines 40. Jubiläums, bekommt der Pionier der Szene viel
Rückenwind von anderen Anbietern, denn Fair Trade hat sich im Lebensmitteleinzelhandel etabliert. Was GEPA aber auch vor neue Herausforderungen stellt.
Ausgezeichnet: GEPA-Geschäftsführer Robin Roth mit dem
Deutschen Nachhaltigkeitspreis. Das Unternehmen wurde 2014
als „Deutschlands nachhaltigste Marke“ geehrt.
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Character
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Kakaoproduktion: Nelson Cruz (23) lebt auf der
afrikanischen Insel São Tomé und baut Kakao an.
Durch die Zusammenarbeit mit GEPA erzielt er gute
Preise und trägt zur Entwicklung seines Dorfes bei.
Dieser Chef ist sich selbst der beste Kunde:
Robin Roth kommt mit dem Fahrrad zur
Arbeit, ernährt sich vegetarisch, bezieht
seine heimischen Lebensmittel vom benachbarten Bauern, kauft ansonsten fair gehandelte
Produkte und nutzt Strom von Greenpeace:
Wollte GEPA einen Werbespot drehen, wäre
Roth mehr als ein geeigneter Hauptdarsteller.
Der Geschäftsführer des Wuppertaler FairTrade-Handelsunternehmens GEPA macht
seinen Job offensichtlich aus Überzeugung.
„Mich reizt die Idee des Fairen Handels“,
sagt er. „Eigentlich ist sie ganz simpel, denn
sie bedeutet, benachteiligte Produzentengruppen im Süden der Erdkugel fair zu
behandeln.“ Roth, ein groß gewachsener
schlanker Mann mit ernstem Blick hinter
seiner schlichten Brille, verzieht die Lippen
zu einem Lächeln: „Allerdings ist das Thema
hochkomplex und fordert mich immer wieder
aufs Neue intellektuell heraus.“
„Hard Core Fans“ nennt Roth seine Kunden. Wer GEPA-Kaffee, -Tee, -Schokolade
oder -Orangensaft kauft, zahlt mehr als
den doppelten Preis eines konventionell
hergestellten Produkts. Weil die wirtschaftlich
benachteiligten Bauern in ärmeren Ländern
angemessen dafür bezahlt und behandelt
werden sollen.
Vom Geschäftsmann zum
Überzeugungstäter
Roth ist gebürtiger Engländer. Bevor der
49-Jährige nach Deutschland kam, um für den
Fair-Trade-Sektor zu arbeiten, war er ein gewöhnlicher „schmutziger“ Geschäftsmann, wie
er es schmunzelnd formuliert. Er leitete eine
Textilfirma, die Ware aus Indien und Pakistan
importierte. Heute, an einem trüben Herbsttag,
sitzt er in seinem Büro der Wuppertaler
Firmenzentrale und erzählt, dass es seine Frau
war – als Quäkerin den Menschenrechten und
der wirtschaftlichen Gerechtigkeit persönlich
besonders verpflichtet –, die ihn in Richtung
fairer Handel stupste. 2005 heuerte er bei
Fairtrade International an, einer internationalen Standard- und Zertifizierungsorganisation, drei Jahre später wurde er von GEPA
abgeworben. Seitdem will er all sein Handeln
unter die zentrale Frage stellen:
Was ist gerecht?
Die einfache Antwort lautet: Kaffeebauern
in Mexiko oder Orangen-Anbauer in Brasilien so zu bezahlen, dass sie davon leben
und ihre Kinder zur Schule schicken können.
Doch die umfassende Antwort ist sehr viel
komplizierter und wirft neue Fragen auf: Ist
es gerecht, fair produzierten Wein aus fernen Ländern den heimischen Sorten vorzuziehen? Ist es fair, Milch von benachteiligten
Bauern weit weg zu beziehen, während es
ausreichend Milchkühe in der Heimat gibt?
GEPA beschäftigt in einer Grundsatzabteilung drei Mitarbeiterinnen, die sich
solche Fragen stellen. „Oft haben wir keine
eindeutige Antwort. Aber wir wägen das
Für und Wider gut ab“, meint Roth. Im Falle
der Milch verwendet die Firma inzwischen
Bio-Ware aus hiesigen Breitengraden. Das
Wein-Angebot hat seinen Ursprung in
südafrikanischen Regionen, weil es in der
Anti-Apartheitsbewegung ein Weg war, die
Bauern vor Ort zu unterstützen. „Wir machen
keineswegs alles richtig. Aber wir machen
unsere Entscheidungen transparent.“
Zukunft
Fair Trade passte nie besser in
den Zeitgeist
Zugrunde liegen drei Ziele des fairen
Handels: Die Bauern im Süden des Globus‘
gerecht zu behandeln und zu fördern, die
Verbraucher in entwickelten Ländern zu
einem anderen Einkaufsverhalten und
Lebensstil zu motivieren und somit die
Welthandelsstrukturen in Richtung dieser
„Gerechtigkeit“ zu beeinflussen.
Aktuell bekommt der faire Handel Rückenwind von vielen Seiten, nie passten seine
Ziele so sehr zum Zeitgeist wie heute: Der
Atomausstieg ist beschlossen, Bio-Produkte
boomen – und spätestens, seit im Frühjahr
2013 mehr als 1.100 Arbeiterinnen in einer
Textilfabrik in Bangladesch ums Leben kamen, ist auch das Bewusstsein um prekäre
Arbeitsbedingungen hierzulande gestiegen.
2014 wuchsen die Umsätze des fairen
Handels um ein Viertel auf ein Rekordhoch von 827 Millionen Euro, meldet der
Fair-Trade-Lizenzgeber TransFair. Denn
inzwischen gibt es ausgewählte Fair-TradeProdukte sogar beim Discounter: Aldi
bietet Bananen, Kaffee oder Rosen an,
Lidl verkauft Kakao, Kaffee oder Tee.
tigen Kredit an. „Wir unterstützen bewusst
neue, oft kleine Organisationen, die durch
die Weltmarktstrukturen benachteiligt
sind“, erläutert Hans-Jürgen Wozniak, Produktmanager Kaffee, der umsatzstärksten
Kategorie bei GEPA. „Wir öffnen ihnen die
Tür zum Export, beraten sie bei der BioUmstellung und stabilisieren sie in dieser
Übergangszeit durch die Garantie, ihre
Produkte einzukaufen.“
Wir machen keineswegs alles richtig.
Aber wir machen
unsere Entscheidungen transparent.
Robin Roth
Fairer Handel als Form der
Entwicklungsarbeit
Für den 59-jährigen Wozniak laufen all seine
Bemühungen auf dasselbe Ziel hinaus:
„Wir wollen, dass unsere Anbauer ihr
Produkt marktfähig kriegen und halten.“
Dafür verkosten er und seine Kollegen jeden
zweiten Morgen Kaffeebohnen und Kaffee,
um den Kooperativen vor Ort Feedback zu
geben: zu unrein, zu feucht oder schlicht
nicht wohlschmeckend? GEPA trainiert
seine Bauern auf diese Weise kontinuierlich – auch auf die Gefahr hin, dass sie
abspringen und ihre Ware komplett an einen
konventionellen Hersteller verkaufen, der
sein Sortiment um Fair-Trade-Produkte
ergänzt.
Das Unternehmen reinvestiert sämtliche
Gewinne. Die Gesellschafter – ausnahmslos
kirchliche Entwicklungs- und JugendOrganisationen – stellen keine Ansprüche.
Und GEPA versucht, ohne Kredite auszukommen, bietet seinen Bauern aber sogar
eine Vorauszahlung als eine Art zinsgüns-
Die Wuppertaler teilen den Rohstoffhandel
in drei Bereiche: den konventionellen –
unfairen – Handel, die Fair-Trade-Siegelverwender und die Vertreter der Urform des
fairen Handels, z. B. GEPA. Von Experten
bestätigt wurde diese Sicht zuletzt 2014, als
die Wuppertaler zum wiederholten Mal mit
Robin Roth geht es hingegen gar nicht
darum, möglichst groß zu werden: „Einen
Milliarden-Umsatz könnten wir gar nicht
stemmen“, sagt er selbstkritisch. GEPA
vertreibt seine Waren traditionell über
Weltläden. Das aktuelle Wachstum von gut
6 Prozent pro Jahr kommt über den Naturkost- und Biohandel – im Geschäftsjahr
2014/2015 setzte die Firma knapp 68 Mio.
Euro zu Großhandelspreisen um, im Jahr
davor waren es 63,7 Mio. Euro.
Zwischen kommerziell
und karitativ
46
www.bethmannbank.de
dem Deutschen Nachhaltigkeitspreis geehrt
und als „Avantgarde des Fairen Handels“
anerkannt wurde.
Ist fair tatsächlich gerecht?
Die Lizenznehmer des Fair-Trade-Siegels
wurden hingegen häufiger von Verbraucherschützern kritisiert. Die Lieferkette
sei nicht transparent, hatte etwa die
Verbraucherzentrale Hamburg bemängelt,
und Produzenten würden nicht fair bezahlt,
heißt es beispielsweise in einer Studie aus
Großbritannien. „Wir wollen das Siegel
nicht kritisieren“, sagt Robin Roth. Immerhin gehörte GEPA zu den ersten Lizenznehmern. Es hatte geholfen, die Idee im Handel
und bei Verbrauchern zu etablieren. „Wer
das Fair-Trade-Siegel nutzt, macht vieles
besser als der konventionelle Handel.“
Für den Agrar-Ingenieur Wozniak ist der
GEPA-Weg der einzig richtige: direkter Ankauf bei den Kleinbauern und ihren Genossenschaften – ohne jeden Zwischenhändler.
Zudem sind alle Partner zertifiziert. Da er
aber auch weiß, dass Papier geduldig ist,
fahren die Produktmanager jedes Jahr in
die Anbauländer und treffen Vertreter der
Genossenschaften, in denen die Bauern organisiert sind. „Weil wir nur dann tatsächlich
auf Augenhöhe sprechen können“, sagt er.
Auch mit seinen Kunden will sich GEPA
künftig noch stärker auf Augenhöhe bewegen.
Roths Wunsch:
GEPA als Firma zu etablieren, in der
möglichst viele Konsumenten strukturell
eingebunden sind. In einer Art Genossenschaft oder als Organisation, getragen von
einer neuen Form des Crowdfundings. In
zwei Jahren will Roth seine Pläne spätestens offiziell bekannt machen. Doch er weiß
heute schon: Nie waren die Zeiten besser,
Konsumentenmacht für eine faire Sache
einzusetzen.
Text: Stefanie Bilen
Character
47
Januar 2016
Meilensteine von Fair Trade
1964
gründet die Hilfsorganisation Oxfam eine eigene
Handelsgesellschaft.
1973
importiert die niederländische Stiftung SOS den weltweit ersten
fair gehandelten Kaffee aus Guatemala.
1975
wird GEPA gegründet, die „Gesellschaft zur Förderung der
Partnerschaft mit der Dritten Welt“.
1989
wird die International Fair Trade Association gegründet.
1992
nimmt der Verein TransFair seine Arbeit in Deutschland auf.
Zertifizierte Händler dürfen das Fair-Trade-Siegel nutzen.
1993
bietet Rewe als erste Handelskette bundesweit
fair gehandelten Kaffee an.
Kaffee-Ernte: Den Kaffee bezieht die GEPA ausschließlich
von Kleinbauern-Organisationen wie Gumutindo in Uganda.
In dem Kooperativen-Dachverband sind Frauen besonders
aktiv – sie haben dort 50 Prozent der Leitungspositionen inne.
Internationale Standards
des Fairen Handels
Fester Mindestpreis, der die Kosten nachhaltiger
Produktion deckt.
Verbot von Zwangsarbeit und ausbeuterischer Kinderarbeit.
Diskriminierungsverbot.
Umweltstandards, die den Gebrauch von Pestiziden und
Chemikalien einschränken und gentechnisch veränderte
Saaten verbieten.
Aufschlag für biologisch angebaute Produkte.
Prämie für die Bauern-Kooperativen, um lokale InfrastrukturProjekte für die Gemeinschaft zu finanzieren.
Quelle: TransFair e. V.
Chancen: Kinder wie dieses Mädchen aus Mexiko profitieren von
fairem Handel, denn so können Schulbesuch und Gesundheitsvorsorge finanziert werden.
Gegenwart
Zahlen, bitte!
48
zahlen, bitte!
Intelligenz
Eine Sache der Gene
oder der Umwelt?
Was Intelligenz genau ist und wie diese entsteht, darüber
streiten Wissenschaftler schon seit mehr als 100 Jahren.
Fest steht: Der Intelligenzquotient der Menschen ist in
dieser Zeit um fast fünfzig Prozent gestiegen.
IQ
— 1912 —
wurde die Formel des Intelligenzquotienten (IQ) von dem deutschen Psychologen William Stern
entwickelt. Der Intelligenzquotient beschreibt die kognitiven Fähigkeiten eines Menschen. Stern
setzte dafür das per Test ermittelte Intelligenzalter ins Verhältnis
zum Lebensalter und multiplizierte den Quotient mit 100, damit keine Dezimalstellen entstehen. Das Intelligenzalter definiert
die Intelligenz einer Person über
die in verschiedenen Altersstufen
vorhandenen durchschnittlichen
Intelligenzen.
— Bei 4 —
von 5 durch den Intelligenzforscher James Robert Flynn getesteten Industrienationen waren
Frauen das schlauere Geschlecht.
Frauen aus Neuseeland, dem
„Weißen Südafrika“, Estland und
Argentinien übertrafen die Männer. Nur die Australierinnen lagen
leicht hinter den Männern.
— Rund 80 —
Prozent des Intelligenzzuwachses eines Menschen erfolgen durch
die Schule. Im Durchschnitt nimmt der IQ eines Kindes pro Lebensjahr um 5 Punkte zu, pro Schulmonat liegt der Zuwachs bei
0,2 bis 0,5 Punkten.
1909
2013
— Um 30 —
Punkte ist der Intelligenzquotient der Menschen von 1909 bis 2013 gestiegen. Das entspricht im Durchschnitt etwa drei Punkten pro Jahrzehnt. Ursache für die 1984 erstmals als „Flynn“-Effekt beschriebene Entwicklung, benannt nach James Robert Flynn, sind neben einer besseren Ausbildung auch bessere Ernährung
sowie höhere Hygiene- und Medizinstandards. Sie verbessern die frühkindliche Entwicklung.
— 2/3 —
aller Menschen haben einen IQ zwischen 85 und
115 Punkten. 100 bedeutet durchschnittlich schlau.
130 gilt als Schwelle zur Hochintelligenz, bei 70
beginnt man von geistiger Behinderung zu sprechen.
— 12 —
Jahre alt ist die Britin Lydia Sebastian. Sie
erreichte 2015 beim IQ-Test der britischen
Hochbegabtenorganisation Mensa die maximal mögliche Punktzahl von 162.
Character
Januar 2016
49
— Bis zu 9,5 —
Kilogramm wiegt das Gehirn eines Pottwals durchschnittlich, 1,45 Kilogramm
wiegt das Gehirn eines Mannes, 1,33 Kilo das Gehirn einer Frau. Sind Pottwale jetzt schlauer als Männer, und Männer schlauer als Frauen? Nein, denn
mitentscheidend für die Entwicklung der Intelligenz eines Lebewesens ist das
Verhältnis vom Gewicht des Gehirns zum Körpergewicht. Und Frauen wiegen
im Schnitt weniger als Männer.
2 9
— 2 bis 9 —
Intelligenzarten werden von Wissenschaftlern unterschieden. Diese reichen
vom Zwei-Faktoren-Modell, welches
die angeborene „fluide Intelligenz“, bestimmt durch geistige Kapazität und
Auffassungsgabe, von der erworbenen
„kristallinen Intelligenz“ unterscheidet,
und geht bis hin zu der umstrittenen
Theorie der multiplen Intelligenzen,
zum Beispiel der logisch-mathematischen oder der musikalisch-rhythmischen, von Howard Gardner.
$ IQ
— Für 82 —
Länder ermittelten die Wissenschaftler Richard Lynn und Tatu Vanhanen IQMittelwerte der jeweiligen Bevölkerung. An der Spitze liegen die nordostasiatischen Staaten Hong Kong, Südkorea und Japan, gefolgt von Singapur und Taiwan.
Deutschland liegt zusammen mit Italien, den Niederlanden und Österreich auf Platz
6. Schlusslicht bilden die Staaten Äquatorialguinea, Ägypten und Sierra Leone. Die
Untersuchung ist umstritten, legt aber den Zusammenhang zwischen Wohlstand,
Wirtschaftswachstum und Intelligenz einer Staatsbevölkerung nahe.
— 190 —
soll der IQ des ehemaligen Turnier-Schachspielers
Garri Kimowitsch Kasparow betragen. Durch den
Sieg gegen Anatoli Karpow
im Jahr 1985 wurde er mit
22 Jahren jüngster Schachweltmeister der Geschichte.
— 47 —
Genabschnitte haben Forscher bislang identifiziert,
die mit der Entwicklung der
Intelligenz positiv korrelieren, möglicherweise sind es
mehr. Nach aktuellem Stand
der Forschung beeinflussen
aber Erbanlagen nur bis zu
3 Prozent des Intelligenzquotienten eines Menschen.
Intelligenz wird nicht nur
durch zahlreiche Gene bestimmt, sondern durch Umweltfaktoren in Kindheit
und Jugend.
— Etwa 0,7 —
beträgt die Korrelation zwischen IQ
und Schulerfolg, damit ist der Zusammenhang zwischen Intelligenz
und Schulerfolg hoch. Die Korrelation zwischen IQ und Berufserfolg
ist mit etwa 0,25 dagegen deutlich
geringer. Plakativ formuliert heißt
das: Wer hochintelligent ist, ist mit
hoher Wahrscheinlichkeit gut in der
Schule, muss aber später nicht unbedingt erfolgreich im Job sein.
Text: Geraldine Friedrich
Gegenwart
Lieblingsstücke
50
lieblingsstücke
nico hofmann:
7 schauspieler, die
mir am herzen liegen
Foto: Niels Starnick
Mario Adorf, 85
Wenn Mario einen Raum betritt, tritt
der Sommer mit ein. Mich faszinieren
seine ungebrochene Lebenslust, sein
umwerfender Charme, sein Lebenswitz
und seine Lebensklugheit. Mario Adorf
ist eine große Persönlichkeit und ein
großartiger Schauspieler.
Foto: Getty Images
Foto: Sabine Brauer
Hannelore Elsner, 73
Hannelore, das Anarchiewesen! Ich verneige
mich vor ihrem Spiel und ihrer kompletten
Angstfreiheit. Hannelore Elsner ist für mich
eine der großartigsten Frauen, die ich kenne,
und die letzte Diva. Wenn sie einmal nicht
mehr spielt, ist eine Ikone des Deutschen
Films gegangen.
Maria Furtwängler, 49
Es gibt nur sehr wenige Schauspielerinnen,
die sich so positiv weiterentwickelt haben. Ich
bewundere Marias viele Facetten: ihre Transparenz, ihre Zerbrechlichkeit und vor allem
das Loslassenkönnen in ihrem Spiel. Für beneidenswert halte ich die Unbedingtheit, ja
fast die Besessenheit, wie Maria Furtwängler
an sich und ihrem Talent arbeitet.
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Character
Januar 2016
51
Götz George, 77
Götz ist die wichtigste Erscheinung in meinem Leben. Alles, was ich von der Schauspielerei weiß, habe ich von ihm: Emotionen,
die Choreografie eines Schauspielers in einem
Raum. Wie gehen Körper, Geist und Gefühl
ineinander über, wie spielt man raumgreifend,
wie setzt man Rhythmus ein? Ohne Götz
George wäre ich nicht da, wo ich jetzt bin.
Foto: Alamy
Foto: Getty Images
Foto: Getty Images
Alicia von Rittberg, 22
Alicia ist wie Jonas das Gesicht ihrer Generation. Und sie ist für ihr
Alter unglaublich klug. So klug, dass ich mich bei Gesprächen mit ihr
mächtig ins Zeug legen muss. Als Schauspielerin brilliert sie durch
Direktheit und Furchtlosigkeit. Auch Alicia von Rittberg hat das Zeug
zu einer Leading Actress international.
Jonas Nay, 25
Jonas ist das Gesicht seiner Generation. Ich
bin stolz, dass ich ihn für „Homevideo“ entdeckt habe und dass er jetzt eine so fulminante
Weiterentwicklung bei „Deutschland 83“ hat.
Ich prognostiziere, dass Jonas Nay einer der
Leading Actors wird. Auch international.
Foto: Ulrich Matthes © privat
Ulrich Matthes, 56
Ulrich ist einer der großartigsten Schauspieler, die wir haben. Er
vereint Klugheit, Bildung und Handwerk. Und er ist jemand, der
in seinem Leben tief in Charaktere hineingeschaut hat, sicher auch
in seiner eigenen Biografie. Mit seinem eindrucksvollen Gesicht,
seinem ausdrucksstarken Spiel geht Ulrich Matthes grundsätzlich
ans Existenzielle.
Zukunft
52
Unternehmen der
Zukunft
UNTERNEHMEN DER ZUKUNFT
Strukturiert und direkt
Autismus auf dem Arbeitsmarkt: der IT-Dienstleister
Auticon
Ursprünglich war Auticon als Sozialunternehmen zur Beschäftigung
von Asperger-Autisten gedacht. Doch nach schon wenigen Jahren
ist die Firma auf dem Weg zu einer festen Größe der IT-Branche.
Dabei hat alles mit einem Zufall begonnen.
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Character
Lange muss Dirk Müller-Remus nicht überlegen, um den Moment zu schildern, in dem
alles angefangen hat. Die Szene war zu eindrucksvoll, als dass er sie vergessen könnte.
Sein damals 17 Jahre alter Sohn und er
hatten ferngesehen, ein Video des Musikers
Usher. Der Rapper ist nicht nur berühmt
für seine Musik, sondern auch für seine
Tanzschritte. Und kaum hatte der Sohn das
Musikvideo des Stars gesehen, tanzte er
das Video sofort nach – jeden Schritt, jeden
Sprung, jede Armbewegung.
Es war einer der Momente, in denen
Müller-Remus (58) wieder klar wurde, dass
der junge Mann Dinge kann, die für viele
unvorstellbar sind: unter anderem sich komplexe Kombinationen beim ersten Sehen zu
merken. Dass sein Kind besonders ist, wusste
Müller-Remus zwar, seit bei seinem Sohn mit
14 Jahren Asperger-Autismus diagnostiziert
wurde. Dass diese besondere Fähigkeit jedoch
auch gezielt genutzt werden kann, darauf
kam der Unternehmer erst, als der Sohn den
tanzenden Musiker nachahmte. Die Szene
hat er auch deshalb genau im Kopf, weil er
sie längst oft erzählt hat – denn aus der ersten
Überlegung im Jahr 2011 ist eine Firma mit
70 Mitarbeitern geworden.
Angeborene
Qualitätssicherung
„Mich begeistert immer noch, wie einfach die
Logik dieser Idee ist“, sagt Dirk Müller-Remus.
Diese Logik geht so: Ein Teil der AspergerAutisten (siehe Infokasten) kann sich lange
konzentrieren, wie Müller-Remus’ Sohn
Muster erkennen und Details merken. Diese
„angeborene Qualitätssicherungsdisposition“,
wie Müller-Remus es mit einem Zwinkern
ausdrückt, prädestiniert sie zum Beispiel für
die Überprüfung von Software. Beschäftigt
man sie in einem Unternehmen, sind sie
nicht nur höchstwahrscheinlich besonders
gut – sondern „zugleich fördern wir noch ein
soziales Ziel“, sagt Dirk Müller-Remus. Als
ihm diese Einsicht 2011 kommt, blickt er auf
Jahrzehnte als Geschäftsführer von Telekommunikations- und Medizintechnik-Firmen
53
Januar 2016
zurück und will etwas Eigenes aufbauen.
Also schreibt er einen Businessplan: ein
Sozialunternehmen für Softwaredienstleistung mit Asperger-Autisten, gefördert unter
anderem vom Arbeitsamt, das die Integration
von Schwerbehinderten unterstützt.
erklärt er, sehen Nicht-Autisten die Welt.
Dann zeigt er auf eine zweite Abbildung:
ein nackter Zweig, daneben Nadeln, einzeln
aufgereiht. So, erklärt er, sehen AspergerAutisten die Welt. Der Tannenzweig in
Einzelteilen, übersichtlich und strukturiert.
Ein guter Plan. Hätte es nicht eine Hürde
gegeben: Zwar sind rund 1 Prozent der
Deutschen Autisten. Doch die Symptome –
ob jemand sich Details merkt, Angst vor
Schwierigkeiten auf dem
Arbeitsmarkt
Schwerbehindertenausweis,
arbeitslos und
Interesse
für Computer
Dirk Müller-Remus
Berührungen hat oder Schwierigkeiten bei
Alltagsgesprächen – variieren. Es gibt fast so
viele Formen von Autismus wie Menschen
mit der Diagnose. Darunter die zu finden,
deren Symptome im sogenannten AspergerSpektrum liegen und die sich zudem für
Computer begeistern, ist nicht leicht.
Und so reist Müller-Remus mit einer
ungewöhnlichen Idee und viel Optimismus
zunächst durchs Land. Theoretisch zur Mitarbeiterakquise, praktisch für Abende wie diesen im Winter 2013: Es ist dunkel, draußen
Matschwetter, die Feiertage sind vorbei, und
der Gründer steht in einem neonbeleuchteten
Raum. Gastgeber ist die Vereinigung „Autismus Oberbayern“. Normalerweise finden
dort Kurse zur Alltagskommunikation oder
Elterngespräche statt, doch an diesem Tag
geht es um Jobs – oder zunächst um einen
Tannenzweig. Dirk Müller-Remus hat einen
solchen als Bild an die Wand projiziert. So,
Routiniert erklärt er die Unterschiede mit
einem tiefen, eindeutig in Hessen geprägten
Tonfall – und einer guten Portion Humor.
Der ist auch nötig, denn Autismus auf dem
Arbeitsmarkt ist ein schwieriges Thema:
Nicht umsonst ist der Raum gefüllt mit
Jugendlichen und ihren Eltern. AspergerAutisten sind alles andere als begehrte Kandidaten auf dem Arbeitsmarkt: Sie benötigen
gleichmäßige Abläufe. Der Umgang mit
Kollegen fällt ihnen schwer, weil sie Zwischentöne und Andeutungen nicht verstehen. Doch
für Behindertenwerkstätten ist ihre Auffassungsgabe zu hoch. Es klingt unfreiwillig
komisch, wenn Müller-Remus erklärt, welche
Eigenschaften sein idealer Arbeitnehmer hat:
„Schwerbehindertenausweis, arbeitslos und
Interesse für Computer“ – ein Jobprofil, wie es
nie im Stellenmarkt einer Tageszeitung steht.
Aber eines, das auf einige Anwesende zutrifft.
So sind es diese Abende, die Müller-Remus die
ersten Mitarbeiter bringen.
Zur gleichen Zeit bekommt Auticon erste
Kunden. Damals breitete sich gerade der
Diversity-Gedanke unter Unternehmern aus,
die Erkenntnis, dass eine heterogene Mitarbeiterschaft wirtschaftlich sinnvoll ist. Damit
werden auch die Asperger-Beschäftigten von
Auticon mit ihren besonderen Fähigkeiten und
Stärken für viele potenzielle Kunden interessant. Doch so groß der Wille zur Vielfalt ist, so
groß sind zunächst die Bedenken potenzieller
Kunden. Das sagen sie allerdings selten
offen: Einige gestehen Müller-Remus im
Nachhinein, dass sie Muffensausen hatten,
der ungewöhnliche Mitarbeiter könne falsch
behandelt werden.
Zukunft
Unternehmen der
Zukunft
54
Ausgefallene Geschäftsidee: Dirk Müller-Remus entdeckte dank
seines Sohns die besonderen Stärken von Asperger-Autisten.
haben, sind die Löhne zwar teils geringer
als bei Kollegen gleichen Alters in anderen
Unternehmen. Mit der Bezahlung in Werkstätten für Behinderte sind sie trotzdem
nicht vergleichbar. Ein zweites Zeichen für
den Erfolg: Auticon zählt mittlerweile große
Unternehmen wie Siemens und Vodafone zu
seinen Kunden. Der Umsatz liegt im unteren
einstelligen Millionenbereich, die Zahl der
Aufträge wächst.
Ziel:
höhere Beschäftigungsquote
Asperger-Autisten nicht. „Sie binden keine
sozialen Schleifchen an jeden Satz“, sagt
Müller-Remus. Entsprechend verstehen sie
sie auch oft nicht.
Es ist jedes Mal ein
Experiment, meist ein
erfolgreiches.
Dirk Müller-Remus
Die fehlenden „sozialen
Schleifchen“
Diese Bedenken sind berechtigt. Denn, das
verschweigt Müller-Remus nicht, mit einem
Asperger-Autisten zu arbeiten, erfordert
Gewöhnung auf beiden Seiten. Bei Auticon
gibt es daher ein festes Procedere: Jeder
Mitarbeiter durchläuft eine Eignungsprüfung
und eine Schulung. Steht ein Auftrag an, gibt
es einen Vorstellungstermin vor künftigen
Kollegen. Mit dabei: ein Jobcoach, der erläutert, wie der Alltag mit dem neuen Kollegen
aussehen wird. Denn Missverständnisse drohen schon bei der Wortwahl. „Es wäre schön,
wenn Du...“ wird zum Beispiel im Büroalltag
gerne gesagt. Doch Füllwörter, Konjunktive
und indirekte Aufforderungen verwenden
Keine rauchenden Köpfe
Es ist jedes Mal ein Experiment, meist ein
erfolgreiches. Den ersten Aufträgen folgen
weitere. Allmählich setzt sich bei den Auftraggebern eine Erkenntnis durch, mit der
Müller-Remus gerne wirbt: „Unsere Mitarbeiter haben Stärken, die Nicht-Autisten
nicht mitbringen.“ Die liegen in visueller,
auditiver und kognitiver Mustererkennung
und darin, dass ihnen bei Routinetätigkeiten
auch nach Stunden der Kopf nicht raucht.
Und in einem Detail, das Müller-Remus
einst als Schwäche sah: Die fehlenden „sozialen Schleifchen“ sind beliebt bei Kunden.
Wenn es, wie bei der Software häufig, um
sicherheitskritische Bereiche und vertrauliche
Daten geht, ist es besser, wenn Mitarbeiter
unangenehme Dinge beim Namen nennen.
Der Erfolg, der daraus resultiert, lässt sich
an zwei Dingen ablesen. Zum einen tritt das
klassische Social-Entrepreneurship-Modell in
den Hintergrund. Nur noch einzelne Arbeitsplätze werden staatlich gefördert, vielmehr
bekommen die Mitarbeiter branchenübliche
Löhne. Weil viele aus der Langzeitarbeitslosigkeit kommen oder wenig Berufserfahrung
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Das Ziel ist, die Marktposition im Bereich
Mustererkennung bei der Softwareüberprüfung auszubauen. Die Chancen dafür stehen
gut. Denn IT-Sicherheit, die Verarbeitung
großer Datenmengen und die Analyse von
Daten, das sind die wichtigen Fragen, die
große Firmen derzeit bewegen. „Und genau
da liegen die Stärken unserer Leute.“ Denn
Mustererkennung, wie sie Autisten beherrschen, logisch und extrem strukturiert, ist
dabei besonders hilfreich. „Wir sind auf dem
Weg zu einem richtig guten IT-Unternehmen
mit dem Alleinstellungsmerkmal, dass wir
Autisten beschäftigen“, sagt Müller-Remus
stolz. Soziales Anliegen wird somit mit einem
sinnvollen Geschäft kombiniert: „Da habe
ich kein schlechtes Gewissen, wenn wir mehr
Umsatz machen“, sagt er und lächelt.
Vier Jahre nach der Gründung geht es dem
Gründer längst nicht mehr nur um das
Unternehmen, sondern um die Arbeitsmarktintegration von Menschen mit Autismus. Da
reicht es ihm nicht, dass er dieses Jahr bereits
das eigentlich für 2023 gesteckte Ziel von 50
Arbeitsplätzen für Autisten erreicht hat. Er
plant schon den nächsten Schritt: die Auticon
Academy. Dort soll es Bildungsangebote
geben, um die allgemeine Beschäftigungsquote unter Autisten zu erhöhen – und um
Menschen rechtzeitig zu fördern, die Talente
haben, die sonst unter dem Stempel „Autismus“ unentdeckt blieben. „Das wäre mein
Traum.“
Text: Lea Hampel
Character
55
Asperger-Autismus
Asperger-Autismus ist eine der drei Hauptformen von Autismus.
Seit 1991 gilt er als offiziell von der World Health Organization (WHO)
anerkannte Krankheit. Die Folgen variieren stark, Symptome sind aber unter
anderem Schwierigkeiten, sich in sein Gegenüber zu versetzen, und eine
Fixierung auf Wiederholungen. Aber auch ausgeprägte Spezialinteressen und
große Loyalität gehören dazu. Asperger-Autisten machen etwa 0,3 Prozent
der deutschen Bevölkerung aus. Auticon-Gründer Müller-Remus schätzt, dass
davon jeder Zwanzigste ein potenzieller Mitarbeiter aufgrund seiner
Begabung und einem Interesse für IT ist. Für eine Stadt wie Berlin
beispielsweise hat Auticon ein Potenzial von ca. 400 Menschen im AspergerSpektrum errechnet, die als Bewerber interessant wären.
Januar 2016
Gegenwart
56
Filmen i st
k re atives
MAX FRISCH,
Schweizer Schriftsteller und Architekt,
1911 – 1991
Nico hofmann
KARL JASPERS,
deutscher Psychiater und Philosoph,
1883 –1969
NICCOLÒ MACHIAVELLI,
florentinischer Philosoph, Politiker, Diplomat, Chronist und Dichter,
1469 –1527
JOHANN WOLFGANG VON GOETHE,
deutscher Dichter, 1749 –1832
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PABLO PICASSO,
spanischer Maler,
1881 –1973
Character
Januar 2016
57
ARISTOTELES,
einflussreichster Philosoph der Geschichte,
384 v. Chr. – 322 v. Chr.
FRANZ KAFKA,
deutscher Schriftsteller, 1883 – 1924
GEORG WILHELM FRIEDRICH HEGEL,
deutscher Philosoph, 1770 – 1831
HORST
WENDLANDT,
deutscher
Filmproduzent,
1922 – 2002
ECKART TOLLE,
kanadischer spiritueller Lehrer und
Bestsellerautor spiritueller Bücher,
geboren 1948
* von Nico Hofmann
ROBERT LOUIS STEVENSON,
schottischer Schriftsteller und Dichter, 1850 –1894
Tradition
58
Panorama
Sie tragen Turban und Hosenträger, hören fast 100
Jahre alte Musik und sind aus der Berliner Partyszene
nicht wegzudenken: Swing-Fans bringen die Hauptstadt mit ihren Veranstaltungen zum Schwingen.
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Panorama
Character
59
Januar 2016
Tradition
60
„What the hell?“ Die beiden britischen Touristen stehen in der Tür der Bar Hackedahl
in der Berliner Friedrichstraße und schauen
sich mit großen Augen um. Aus den Lautsprechern zirpt Rosita Serrano „Küss mich,
bitte, bitte küss mich“. Hinter dem Tresen
schütteln Barkeeper in Knickerbockern
Cocktails für die Gäste. Die drängen sich um
die Bar und an den Tischen: blass gepuderte
Frauen mit roten Kussmündern, die mit
ihren Perlenketten und pailettenbesetzten
in den Achtziger Jahren hat sich die Szene
kontinuierlich weiterentwickelt, ist vielfältiger
geworden.
Kleidern wirken, als hätten sie sich aus einem Fritz-Lang-Film gestohlen. Ihre Begleiter
tragen Frack. Manche auch Uniform.
Die erfolgreicheren Partys in der Hauptstadt
ziehen schon mal mehrere Tausend Gäste an.
Noch keine Massenbewegung – aber längst
mehr als nur eine Subkultur. Mit seinem
Swing Dance Orchestra ist der Bandleader
Andrej Hermlin einer der wichtigsten Vertreter
der stetig wachsenden Szene.
Die beiden Briten – in Jeans und Pullover –
scheinen von der unverhofften Zeitreise überfordert. Dass Berlin eine Partystadt ist, steht
ja in jedem Lifestyle-Magazin. Aber muss
man sich dafür so in Retro-Schale werfen?
„Zum Glück“, sagt der Pianist Andrej Hermlin,
„dadurch sind immer wieder junge Leute
dazugekommen. Die zweite Ära des Swings
dauert nun schon wesentlich länger an als die
erste.“ Zwanzigjährige besuchen die gleichen
Konzerte wie Rentner. Schellack-Enthusiasten
teilen sich die Tanzfläche mit Spotify-Hörern.
Swing steckt ihm in den
Kinderschuhen
Der Remix einer Ära
Kommt darauf an, wie ernst man den Swing
nimmt. Und, wo man ausgeht. Die Berliner
Szene ist groß – pro Abend listet der OnlineKalender swinginberlin.de im Schnitt drei
Veranstaltungen – und so schwer zu fassen
wie die Fransen an einem Flapper Dress,
dem provokanten Minikleid der Ära. Swing
in Berlin: Das sind Galas und Tanzstunden,
Clubnächte und Burlesque-Shows. Ein Remix,
der den Palast-Orchester-Galan Max Raabe
mit den DJs der Partyreihe „Electro Swing
Revolution“ oder den Swing-Surf-Punks
der Band BudZillus in Einklang bringt.
Seit dem ersten großen Swing-Revival
Der Sohn des Schriftstellers Stephan Hermlin
ist in Berlin aufgewachsen. Mit seinem auch
international erfolgreichen Orchester spielt
er Swing im Stil der Dreißiger Jahre. Er
tritt in der Berliner Philharmonie auf, bei
Bällen oder Fernsehgalas. Dazwischen
bespielt er Berliner Kneipen oder auch mal
ein Autohaus. Der hochgewachsene Musiker
liebt und lebt den Stil der Dreißiger Jahre.
Selbst am Wochenende öffnet er die Tür
seines Pankower Elternhauses im Anzug
mit Einstecktuch. Schon vor dem Frühstück
Manschettenknöpfe anzulegen, ist für ihn so
selbstverständlich, wie einer Frau aus dem
Mantel zu helfen.
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Panorama
Das Haus, das er mit Frau und zwei Kindern
bewohnt, hat er mit Klassikern des Art-Déco
und Bauhaus eingerichtet. Alles Originale,
vom Sofa bis zum Bakelit-Telefon. Ein Retromane sei er aber nicht, sagt Hermlin. „Die
Zwanziger und Dreißiger waren einfach eine
Hochzeit modernen, ungewöhnlichen und
vor allen Dingen auch zeitlosen Designs.“
Und die Maßanzüge seien lange Zeit seiner
Figur geschuldet gewesen. „Seit ich 37 Kilo
abgenommen habe, trage ich manchmal auch
Jeans.“ Was er nicht abstreitet, ist seine
Swing-Besessenheit. Mit vier Jahren ließ
er seine Spielsachen liegen und tapste zum
Plattenspieler, wenn der Vater eine Platte
von Benny Goodman oder Django Reinhardt
auflegte. Während andere Teenager Rock
hörten, brachte er sich selbst am Klavier das
Swingspielen bei.
„Ich bin kein brillanter Pianist“, sagt er.
„Aber ich habe gute Ohren.“ Von 1986 bis
1990 studierte er Klavier an der Berliner
Hochschule für Musik Hanns Eisler. In dieser
Zeit gründete er auch sein Swing Dance
Orchestra. Seitdem sind 20 Alben erschienen.
Zuletzt „Happy Birthday, Mr. Swing“ zur
Feier des 50. Geburtstags des Bandleaders.
Hermlins Orchester spielt Songs wie „Bei
mir bist du scheen“ oder „In the Mood“ nach
Originalarrangements und mit alten Mikrofonen (in denen neue Technik versteckt ist).
Die Herren im Orchester tragen Smoking,
die Damen Abendkleid. Hermlin gibt den
Conferencier.
Character
61
Januar 2016
Austernproduktion: In der Produktionshalle wachsen die
Austern in der kalten Jahreszeit. Verpackt werden sie in
Körbchen à 25 Stück.
Der will doch nur spielen:
Pianist Markus Schimpp aus Bonn mischt die
Berliner Soirée mit frivolen Schlagern auf –
begleitet von amüsiertem „Huch!“ und „Hach!“
aus dem Publikum.
Tradition
62
Nachts sind alle Lider grau:
Zigarettenspitze und „Smokey Eyes“
sind auf den Partys Standard.
Auch bei den Herren.
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Panorama
Character
63
Januar 2016
Tradition
64
Hier ist was los, Liebchen: Wenn Conférencier
Daniel Malheur (l. o.) die Tombola moderiert,
sind die Gäste ganz Ohr.
Le Pustra
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Panorama
Character
Wenn dann noch Gäste in historischen
Outfits Lindy-Hop oder Balboa tanzen, ist
das wie eine Zeitreise in die Dreißiger. –
„Aber mit Rückfahrschein“, sagt Hermlin.
Denn leben wollte er in dieser Epoche
nicht. „Mein Vater war Jude, meine Mutter
Russin und ich bin mit einer Kenianerin
verheiratet.“ Als engagierter Linker hätte
der Musiker im Nazi-Deutschland um sein
Leben fürchten müssen.
Wo sich Vamps und Galane
ausstaffieren
Berlin in den Dreißigern – kein gutes
Partymotto. Wenn überhaupt, beziehen sich
Swing-Veranstaltungen deswegen eher auf
die Dekade davor. Auch bei Le Boudoir,
einem Kostümverleih im Stadtteil Friedrichshain, liegt der Fokus auf der Mode der
Zwanziger Jahre. Das Ladengeschäft in der
Boxhagener Straße ist kaum größer als ein
begehbarer Kleiderschrank. Geführt wird
es von Tilda Knopf (ein Künstlername). Die
26-jährige Stylistin mit den dunkelroten Locken empfängt Kunden nach Vereinbarung.
Swingtänzer können sich bei ihr komplette
Outfits leihen oder auch kaufen – von der
Zigarettenspitze bis zum Spangenschuh.
An diesem Nachmittag hat sich Charlotte
Wesser, 43, mit ihrem Tanzpartner Sven
Piersig, 49, zur Anprobe angemeldet. Die
beiden wollen sich für eine Party ausstatten. Die ist zwar erst in drei Monaten,
„aber wenn wir zu lange warten, sind
die schönsten Kleider schon weg“, sagt
Wesser. Mindestens zweimal pro Jahr geht
die blonde Referentin mit Freunden zu
Januar 2016
65
den Bohème-Sauvage-Partys. Diese finden
mittlerweile in vielen deutschen Städten statt,
ziehen mehrere Hundert Gäste an. Obwohl
der Dresscode strikt ist: Nicht nur Jeans und
Turnschuhe sind verboten, sondern auch billige
Federboas oder Perücken. Handys müssen in
der Tasche bleiben. „Aber gerade diese Einschränkungen machen die Abende besonders.“
Die Stimmung sei festlich bis ausgelassen. Der
Umgangston ähnlich wie auf Bällen – höflich
und charmant. Vielleicht ein wenig koketter.
Tilda Knopf erklärt: „In den Zwanzigern wurde durchaus exzessiv gefeiert – aber eben mit
Niveau.“ Vor der Party trifft sich Wesser mit
ihren Freundinnen beim Friseur. Mit frischen
Wasserwellen geht es zum Schminken und
Umziehen. „Vier Stunden dauert es schon, bis
wir alle fertig sind.“ Ein Ritual, das ihr genauso viel Spaß macht wie die Partys selbst.
Das Fernsprechgerät bleibt
heute in der Tasche
Auch die Party in der Bar Hackedahl ist
eine Bohème-Sauvage-Veranstaltung:
Eine Soirée für 200 Gäste. Am Dresscode
ändert der kleinere Rahmen nichts. Wären
die britischen Touristen nicht von selbst
gegangen, hätte sie der Türsteher höflich
hinaus gebeten. Else Edelstahl (auch dies
ein Künstlername), die Gastgeberin, kennt
da kein Pardon. Sie veranstaltet seit 2004
Zwanziger-Jahre-Partys und -Bälle. Erst
nur in ihrer Wohnung. „Die wurde aber
schnell zu klein“, sagt die 34-Jährige mit
den weißblonden Wellen. Mittlerweile
organisiert sie auch Yachtausfahrten und
managt das jährliche Berlin Burlesque
Festival. Ihr Faible für diese Ära ist dem
damaligen Frauenbild geschuldet – „Sie
lebten so selbstbestimmt wie nie zuvor.“ –,
aber auch der Etikette: „Mir ging das ewig
Schlabberige der Berliner Partyszene auf die
Nerven. Ich wollte interessante Menschen
um mich versammeln, die das gewisse
Etwas haben und sich zu amüsieren wissen.
So wie die Künstler und Intellektuellen in
den Salons zur Zeit der Weimarer Republik.“ Warum sich Menschen in Zeiten von
Skinny Jeans, Kunstfasern und Smartphones für einen Abend Federhütchen und
Kummerbund anziehen um auszugehen?
Für Lars Schwuchow, einen von Edelstahls
Stammgästen, steckt dahinter die Sehnsucht
nach alten Werten: „Ich komme hierher, um
mich gepflegt zu unterhalten. Ist doch toll,
die Damen mit Handkuss zu begrüßen, ihnen ein Kompliment für ihr Kleid oder ihre
Frisur zu machen.“ Während die meisten
Soirée-Gäste nur für einen Abend im Stil
der Zwanziger swingen wollen, mag der
39-jährige Dekorateur auch zu Hause nicht
auf den Glamour dieser Dekade verzichten.
Er fährt im Oldtimer zu den Kunden, besitzt
mehrere Grammophone, sammelt Schellackplatten und diskutiert mit Freunden, wie
eine Fliege korrekt zu binden ist.
Veranstaltungen wie diese gäbe es viel zu
selten, findet er. „Der Umgangston ist so
angenehm. Hier plaudern 20-Jährige mit
60-Jährigen – wo in Berlin findet man das
denn noch? Wenn ich nach so einem Abend
wie heute in der Tram nach Hause fahre und
sehe, wie alle nur in ihre Handys gucken,
dann weiß ich: Ich war am richtigen Ort.“
Text: Jessica Braun
Gegenwart
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Character im Porträt
Marc Krause
S. 18 – 19Perspektivenwechsel
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S. 24 – 25 Hello / Goodbye
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S. 26 – 31 Unternehmen der Tradition
Marc Krause
S. 32 – 33 Für morgen
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66
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S. 44
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Zwischen kommerziell
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K. Malis
A. Welsing
C. Nusch
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S. 58 – 65Panorama
S. 59
Uwe Hauth
S. 60 – 64 Hendrik Schneller
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Stefanie Bilen, Jessica Braun,
Christoph Gurk, Geraldine Friedrich,
Claus Hornung, Lea Hampel,
Dr. Eva Karcher, Dona Kujacinski,
Pascal Morché, Dr. Matthias Nöllke,
Frank Paschen
druck
Hinckel-Druck GmbH
Obere Grüben 14
97877 Wertheim am Main
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papier
Der Umschlag des Magazins Character
besteht aus dem ökologischen Feinstpapier
Bagasse. Das Papier wird zu 90 % aus dem
natürlichen Rohstoff Bagasse (Zuckerrohrabfälle, die bei der Zuckerherstellung anfallen)
sowie aus Flachs (5 %) und Hanf (5 %)
hergestellt.
Die Inhaltsseiten sind auf Munken Print
White, einem FSC-zertifizierten Papier,
gedruckt – das sich neben seiner natürlichen
Haptik dadurch auszeichnet, dass das
verwendete Holz aus verantwortungsvoller
Waldwirtschaft stammt.
Character
67
Januar 2016
Durch die
Leidenschaften
lebt der Mensch,
durch die Vernunft
existiert er bloß.
Nicolas Chamfort, 1741– 1794,
französischer Schriftsteller
bleiben wir
im dialog!
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