Wohin steuert die Schweiz?
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Wohin steuert die Schweiz?
Publikation: Ressort: tbhb tb-fc Pagina: Erscheinungstag: 9 14. 7. 2011 Ist-Farben: MPS-Planfarben: cmyk0 cmyk 9 DONNERSTAG, 14. JULI 2011 Grosse Bühne für den Rockstar Mehr Popcorn-Kino Fünf Jahre Twitter Seit zehn Tagen wird im Zürcher Letzigrundstadion die Bühne für das Konzert von John Bon Jovi aufgebaut. Ein Blick hinter die Kulissen. zoom 14 Die 64. Ausgabe des Filmfestivals Locarno zeigt ab dem 3. August wieder mehr US-Blockbuster. seite 10 Am 15. Juli 2006 ging Twitter an den Start. Damals war es ein leiser Pieps, heute ist es ein grosses Rauschen. seite 10 KATZ & MAUS Der Kater lässt das Mausen nicht Carlos Santana ist ein leidenschaftlicher Musiker und scheint ein gleichermassen leidenschaftlicher Liebhaber zu sein. Am 21.Dezember 2010 heiratete er Cindy Blackman Santana, die Drummerin seiner Band. Den Heiratsantrag hatte er ihr während eines Konzerts gemacht. Bei seinem diesjährigen Auftritt am Jazzfestival Montreux widmete er seinen Hit «Maria» kurzerhand allen Frauen dieser Welt und begann währenddessen unverblümt mit einer blutjungen, zugegebenermassen attraktiven Helferin am Bühnenrand zu flirten. Cindy Blackman Santana betrat die Bühne kurz darauf und wütete wie eine Furie auf ihrem Drum-Set. Gut möglich, dass ihr Mann später auch noch ein paar Schläge einstecken musste. (phr) Zukunft 2030 Zwischen EgoWohlstandsland und Abschottung: Eine neue Studie untersucht den «Wertewandel in der Schweiz 2030». Orakel oder mehr? Basil Rogger, Co-Studienleiter, erklärt den Sinn solcher Szenarien – bis hin zur Nutzanwendung für die Wahlen im Herbst. TOP & FLOP Umgekehrt wäre besser Bild: ky/Walter Bieri � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � Peter Surber S Blick in ein unbekanntes Zukunftsland: Besucher der Ausstellung «Territoire imaginaire» im gleichnamigen Pavillon der Expo.02. Wohin steuert die Schweiz? wissfuture, die seit 1970 bestehende Vereinigung der Zukunftsforscher, entwirft in ihrer diese Woche publizierten Studie «Wertewandel in der Schweiz 2030» vier Szenarien (vgl. Kästchen unten) zur Entwicklung des Landes allgemein sowie zu vier Teilgebieten: Kultur, Arbeit, Raumplanung, Sicherheit. CoStudienleiter war der Kulturwissenschafter Basil Rogger. Herr Rogger, die Zukunft kennt niemand. Wie kann man sie trotzdem erforschen? Basil Rogger: Zukunftsforschung ist ein Kind der 1970er-Jahre, damals angeregt von der Diskussion um die «Grenzen des Wachstums» des Club of Rome. Man sprach in jener Zeit auch von «Technologiefolgenabschätzung», die Ausrichtung war stark ökologisch. Dem folgte etwa in den 80er-Jahren die Trendforschung, die für die Wirtschaft eine grosse Rolle spielte, aber teilweise auch als wenig seriös galt. Zukunftsforschung steht immer im Spannungsfeld, dass wir die Zukunft nicht vorhersagen können, aber dennoch laufend Entscheide treffen, die zukunftsrelevant sind – vom Ausbau der Bahnen bis zur AHV etc. Das sind Entscheide, die mehrere Jahrzehnte Bestand haben sollen. Wir wissen nicht, wo wir hinsteuern, aber wir sollten es wissen. Basil Rogger Philosoph, Berater, Dozent an der Hochschule der Künste Zürich, Produktionsleiter bei Lucerne Festival Wie löst man dieses Dilemma? Rogger: Szenarien sind eine mögliche Antwort. Sie sagen nicht, was sein wird, aber sie entwerfen Prognosen mit hoher Eintretenswahrscheinlichkeit. Und sie reflektieren sich selber: Was ist fundiert, was ist Spekulation? Solche Szenarien sind ein Gestaltungsmittel für die Politik. Ihre Studie zum Wertewandel entwirft nun gleich vier solcher Szenarien, grob gesagt: von der regressiv abgeschotteten Insel bis zu einer turbokapitalistischen Ego-Schweiz. Bleibt da nicht am Ende alles offen? Rogger: Zukunftsprognosen sind stets ein Mittel, Komplexität zu reduzieren und damit handlungsfähig zu bleiben. Das war schon beim antiken Orakel oder bei der Wahrsagerei so. Die Szenariotechnik hat dem gegenüber den Vorteil, dass sie Zukunft in den Plural setzt – wir sprechen von Zukünften, die allesamt eintreten könnten, und entwerfen Bilder, die plausibel und plastisch sind, aber nicht eindeutig. Noch einmal: Ist man da am Ende nicht so klug als wie zuvor? Rogger: In gewissem Sinn schon. Aber die Frage ist, was man mit diesen Bildern macht. Das Ziel ist nicht, in 20 Jahren zu kontrollieren, ob alles gestimmt hat, sondern heute der Bevölkerung, der Politik und den Institutionen Mittel an die Hand zu geben, Zukunft zu gestalten. Und nicht passiv abzuwarten, weil man doch nicht genau weiss, was passieren wird. Was wird gemäss Ihren Forschungen nun passieren? Rogger: Wir haben gefragt, wie sich die Wertelandschaft in der Schweiz entwickeln könnte. Ein Blick zurück auf die Nachkriegsgeneration und die 68er-Zeit Szenarien sind keine Prognosen. Aber sie regen zum Nachdenken an, welche Schweiz wir wollen. Georges T. Roos, Studienleiter zeigt, was für eine Werte-Erschütterung damals stattgefunden hat. Ökologie, die Geschlechterfrage, partizipative Familienmodelle, all das fing damals an, während zuvor eine relativ starre Werteordnung galt. Wobei sich ja nicht die Werte verändern, sondern die Wertehierarchien. Dabei sind neben vielen anderen zwei Faktoren zentral: die Wohlstandsentwicklung und die Rolle des Staates. Daraus ergeben sich vier Szenarien: «Ego» rechnet mit mehr Wohlstand bei geschwächtem Staat, «Balance» mit Wohlstands- zuwachs in einem starken Staat, «Clash» sieht soziale Kämpfe bei schwachem Staat und sinkendem Wohlstand voraus, «Bio-Control» schliesslich weniger Wohlstand durch die Abschottung des Landes, samt Eingriffen des Staats. Welches wäre aus Ihrer Sicht die beste Entwicklung? Rogger: Wir haben für alle Szenarien Chancen und Risiken aufgezeigt. Auch die an sich positiven Szenarien, mit Wachstum und individuellen Freiheiten, haben Gefahren. So ist zum Beispiel das «Balance»-Modell attraktiv, aber nicht das ökologischste, weil es energieintensiv ist. Die Dumpfbacken-Schweiz im «Bio-Control»Modell wäre dafür ressourcenschonender – weil es den Leuten dabei schlecht geht. Das meine ich nicht zynisch, sondern beschreibend. Mein liebstes Modell? Schwer zu sagen. Ein «Ego»-Szenario muss nicht völlig falsch sein, wenn es gelingt, die Ökonomisierung erträglich zu gestalten. Und zuviel «Balance» kann der Horror sein – manchmal müssen die Fetzen fliegen in einer Gesellschaft. Trotzdem kann sich jeder einzelne fragen, welche Zukunftsschweiz er gern hätte. Halten Sie das auch für die Tagespolitik als brauchbar – etwa zum Beurteilen der Parteien bei den Wahlen im Herbst? Rogger: Tatsächlich stellen Wahlen ja Weichen, nicht gerade für zwanzig, aber für die nächsten vier Jahre. Und da lohnt es sich, die Werte, welche die Parteien vertreten, mit der Wertelandschaft der Zukunft zu vergleichen und zu schauen, auf welches Zukunftsszenario sie hinsteuern. Wobei die Erfahrung lehrt, dass kein Szenario «rein» eintritt, sondern auch widersprüchliche Entwicklungen nebeneinander Platz haben. Die Zukunft ist nicht entweder-oder. Können wir uns freuen auf die Schweiz im Jahr 2030? Rogger: Ich halte wenig von der Behauptung, es werde alles immer schlechter. Global geht es heute vielen Menschen besser, was Reichtum, medizinische Versorgung, Lebenserwartung betrifft. Das ist immer noch nicht gerecht – aber besser. Entscheidend wird jedoch sein, ob wir die Folgen des Wachstums in den Griff bekommen. Die Regel der Nachhaltigkeit lautet: Brauche deine Ressourcen so, dass die nachfolgende Generation mindestens gleich viel hat wie du selbst. Daran hapert es noch sehr. Wenn wir das schaffen, dann ist nicht nur die Schweiz, sondern auch die Welt 2030 etwas, worauf wir uns freuen können. Die Studien sind erhältlich bei: www.swissfuture.ch Ego-Szenario Balance-Szenario Clash-Szenario Biocontrol-Szenario Wettbewerbsgedanke als Leitwert einer individualistischen Wohlstandsgesellschaft. Hohe Selbstverantwortung, internationale Vernetzung, wenig Reglementierung, Abbau von Sozialleistungen, offener bis sorgloser Umgang mit neuen Technologien. Anwachsender Wohlstand, geglückte Integration in die EU, Sozialwerke angepasst an die Bevölkerungsentwicklung, Wohnqualität verbessert, starker sozialer Ausgleich, Renaissance des bürgerschaftlichen Engagements, hohe Work-LifeBalance. Deutlich gesunkener Wohlstand, grosse Zuwanderung, aufgeriebener Mittelstand, tiefe Gräben zwischen sozialen Gruppen, Polarisierung in der Politik, die zu Erstarrung, Verunsicherung und Missgunst führt. Kulturkämpfe und schlechte Arbeitsbedingungen. Wohlstandsverlust aufgrund der ökonomischen und politischen Isolation der Schweiz; «Nation» und «Heimat» als Leitwerte, starke präventive und repressive Gesetzgebung, persönliche Freiheit eingeschränkt zugunsten eines gut funktionierenden Sonderfalls Schweiz. 25 oder 30 Franken hat ein Sitzplatzticket fürs Spiel zwischen dem FC St.Gallen und Borussia Dortmund in der AFG Arena gekostet. Angemessen, denkt man, immerhin war der deutsche Meister zu Gast, der sich dann bekanntlich während der 90 Testminuten kein bisschen geschont hat. Ob es angemessen ist, dass man in dieser Arena in der kommenden Saison für Gegner wie Kriens, Vaduz und Wohlen mehr zu bezahlen hat als gegen den deutschen Meister, bleibt dagegen strittig. Denn obwohl Clubs wie Basel, Zürich und YB vorläufig nicht mehr in der Ostschweiz gastieren, wurden die Preise für Einzeltickets auf SuperLeague-Niveau gehalten. Da schüttelt manch einer den Kopf. Lieber hätte man es ja umgekehrt gesehen: Tiefere Preise, höhere Liga. (Kn.) ZITAT Aber dass der Glauben die Welt schöner macht als das Wissen, stimmt doch. Martin Walser Schriftsteller (siehe seite 11)