steeldoc - Stahlbau Zentrum Schweiz

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steeldoc - Stahlbau Zentrum Schweiz
Bauen in Stahl
Bautendokumentation des Stahlbau Zentrums Schweiz
02/04
steeldoc
Rauten – Konstruktion
und Ornament
Inhalt
Editorial
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Rauten – zwischen Konstruktion und Ornament
Essay von Alois Diethelm
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Swiss Re London
Intelligenter Knoten
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Prada Aoyama Epicenter, Tokio
Verborgene Hierarchie
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Impressum
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Kompetenz im Stahlbau
Das Stahlbau Zentrum Schweiz ist das Schweizer Kompetenz-Forum für den Stahlbau. Als Fachorganisation
vereint das SZS die wichtigsten stahlverarbeitenden Betriebe, Zulieferfirmen und Planungsbüros der Schweiz und
erreicht mit seinen Aktionen mehr als 8'000 Architektinnen, Bauplaner, Entscheidungsträger und Institutionen.
Das SZS informiert das Fachpublikum, fördert die Forschung, Entwicklung und Zusammenarbeit im Stahlbau,
pflegt internationale Verbindungen und unterstützt die
Aus- und Weiterbildung von Fachleuten. Seine Mitglieder profitieren von einem breiten Leistungsangebot zu
günstigen Konditionen.
www.szs.ch
Stahlbau Zentrum Schweiz
Centre suisse de la construction métallique
Centrale svizzera per le costruzioni in acciaio
Editorial
Raute ist das deutsche Wort für Rhombus. Ein Rhombus, man
erinnere sich an die Geometriestunde, ist ein Parallelogramm
mit vier gleich langen Seiten, jedoch ungleichen Winkelgrössen. Man könnte auch von einem verzogenen Quadrat
sprechen. In diesem Heft geht es um die geometrische und
formale Definition von stabförmigen Tragwerken, welche mit
Diagonalen in der Fassadenebene nebst der Aussteifung auch
noch ornamentale Absichten an den Tag legen.
Steeldoc hat sich zu diesem Zweck einen Autoren geleistet,
der die Thematik nicht nur aus konstruktiver Sicht darlegt,
sondern auch formal unter die Lupe nimmt und in Beziehung
zur Geschichte und zum zeitgenössischen Architekturschaffen
setzt. Alois Diethelm ist Architekt, war Assistent am Lehrstuhl für Konstruktion und Entwurf von Professor Andrea
Deplazes an der ETH Zürich und ist engagierter Architekturkritiker, wie sich an dieser Ausgabe von Steeldoc ablesen
lässt. Die gewandte Feder des Autors sowie die Idee, zwei aktuelle Bauwerke anhand ihrer verwandten Fassadenstruktur
zu vergleichen, schien uns Grund genug, diesem Thema
die zweite Ausgabe der neu gestalteten Publikationsreihe von
«Bauen in Stahl» zu widmen und dem Autor Hand für die
Entwicklung seiner Analyse zu bieten.
Bisherige Leser und Abonnenten von «Bauen in Stahl» werden
vom neuen Ton, den Steeldoc anschlägt, sicher verblüfft sein.
In der Tat soll die Bautendokumentation des Stahlbau Zentrums Schweiz mehr bieten als bisher, was sich nicht nur im
Seitenumfang niederschlägt, sondern auch in der Qualität
der Inhalte. Der Fokus richtet sich weiterhin aufs Detail, wird
aber neuerdings auch auf die Erläuterung konstruktiver Konzepte und deren Umsetzung gelenkt, welche für den Stahlbau
prägend und letztlich entscheidend sind.
Der Stahlbau lebt von der konstruktiven Intelligenz. Gerade
weil diese so eng an die Statik geknüpft ist, stellt sie an
Architekten besonders hohe Denkanforderungen und führt
sie oft in eine mehr oder weniger intensive Zusammenarbeit
mit Ingenieuren, welche die gestalterischen Absichten verstehen und unterstützen sollten. Steeldoc will Grundlagen
zum besseren konstruktiven Verständnis des Stahlbaus bieten
und sowohl Architekten wie Ingenieure dazu anregen, besser und intelligenter in Stahl zu planen und die Möglichkeiten und Freiräume auszuschöpfen, die das Material bietet.
Wir wünschen der alten und neuen Leserschaft von Steeldoc
viel Vergnügen und Erkenntnis beim Studium der nachfolgenden Seiten.
Evelyn C. Frisch
3
Essay
Rauten – zwischen Konstruktion und Ornament
Alois Diethelm
Schräge Stützen stehen wieder hoch im Kurs. Vor dem Hintergrund einer
tragwerksrelevanten Funktion ermöglichen sie sachlich begründete Strukturen
mit ornamentaler Qualität. Kreuzweise angeordnet, formen die diagonalen
Druckstäbe Rauten. Ob der einprägsamen Form geht aber häufig vergessen,
dass es sich aus statischer Sicht fast immer um Dreiecke handelt.
Von jeder Bauweise wird erwartet, dass sie auch den
Einwirkungen von Wind und Erdbeben Stand hält;
die damit verbundenen Konsequenzen für den
architektonischen Ausdruck sind aber nicht immer
gleich. Während im Massivbau Decken und Wände
automatisch eine aussteifende Funktion übernehmen und selbst bei einer Vielzahl von Öffnungen
Scheiben auszumachen sind, ruft die horizontale
Aussteifung bei stabförmigen Tragwerken nach
zusätzlichen Massnahmen. Sichtbarer und häufigster
Zeuge eines stabilisierten Stabwerkes ist die Diagonale. Im Verbund mit einer Stütze und einem
Träger bildet sie ein biegesteifes Dreieck und erzielt
dadurch bei maximaler visueller Durchlässigkeit
und minimalem Materialverbrauch die Wirkung einer
Scheibe.
In der reinen Skelettbauweise ist je nach Grösse des
Bauwerkes pro Geschoss und Fassade mindestens ein
Feld mit einer Diagonalen ausgestattet. Häufig liegen
sie hinter einer Verkleidung verborgen; genau so oft
bleiben sie aber sichtbar. In der Fülle gleichgeschalteter Felder erscheinen Felder mit Diagonale als Ausnahme oder gar als etwas Hinzugefügtes. Will man die
«Regelwidrigkeit» ausschliessen, bieten sich zwei
Wege an: die Ausnahme eliminieren, indem die Verbindung von Stütze zu Träger unter Beizug zusätzlicher
Mittel biegesteif wird (Vierendeel), oder den Sonderfall
zum Prinzip erheben. Damit ist nicht gemeint, sämtliche Felder fernab statischer Erfordernisse mit Diagonalen auszustatten, sondern die Diagonalen derart
auszubilden, dass sie unter Verzicht der Stützen
auch noch die vertikalen Lasten abzutragen vermögen.
Wie der Blick in die Architekturgeschichte noch
zeigen wird, ist dies nichts Neues. Die Diagonale,
respektive die schräge Stütze hat aber angesichts einer
Reihe jüngst entstandener oder noch im Bau befindlicher Bauten wieder an Aktualität gewonnen.
Renaissance der Diagonale
Der Zeitpunkt für die Wiederentdeckung der Diagonale scheint nicht zufällig. Nach dem einengenden
Minimalismus der neunziger Jahre und der nach
einem Befreiungsschlag zur Beliebigkeit neigenden
Opulenz vermögen nicht-orthogonale Tragwerke
nämlich gleichermassen Sachlichkeit und eine neu
gewonnene Freude am Ornament zu vereinen. Wies
der Stahlbau mit den Nietverbindungen einst jene
Verzierungen auf, die – weil technisch bedingt –
selbst von den Puristen akzeptiert wurden, liegen
Stahlbau und konstruktives Ornament zu Beginn des
21. Jahrhunderts erneut nahe beieinander. Im Zentrum stehen aber nicht mehr Verbindungen, sondern Strukturen, die vom Primat des rechten Winkels
abweichen und aus statischen, wirtschaftlichen
und /oder architektonischen Gründen (Schlankheit
der Konstruktion) hauptsächlich aus Stahl gefertigt
werden. Diese Strukturen müssen nicht schon
im Rohbau einen ornamentalen Charakter aufweisen,
sondern können zu einer dahingehenden Bearbeitung der Ausbauteile anregen. Damit ist das Aufgreifen einer strukturell bedingten Form gemeint, die
massstäblich verändert und mehrfach wiederholt
als Ornament wahrgenommen wird. Dabei dürfte es
wohl unserer Kenntnis vom Formenvokabular
kunsthandwerklicher Verzierungen oder facettierter
Edelsteine zuzuschreiben sein, dass wir der Repetition
nichtrechtwinkliger Flächen (Dreiecke, Waben,
Schokoladenfabrik Menier,
Noisiel-sur-Marne (F), 1873,
von Jules Saulnier:
Einzelne Fassadenstützen
liegen hinter der Ausmauerung
verborgen. Die Diagonalen
sind nur aussteifend.
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Trapeze oder Rauten) unweigerlich ornamentale
Qualitäten zusprechen, während es bei Rechtecken
unterschiedlicher Farben, Texturen oder Materialien bedarf, damit wir an Schmuck oder Verzierung
denken.
Raute oder Dreieck?
In diesem Heft werden zwei Bauten vorgestellt, deren
Fassaden rautenförmige Öffnungen aufweisen, wobei
schiefwinklige Stützen das Tragwerk bilden. Auf
den ersten Blick recht ähnlich, korrespondiert die
engmaschige Fassadengliederung im Fall des Epicenter Store von Prada exakt mit dem Raster der dahinter
liegenden Tragstruktur, während es sich im Fall
des Swiss Re Towers um ein skaliertes Abbild davon
handelt. Finden im ersten Fall innerhalb eines
Geschosses zwei Rauten Platz, bedarf es im anderen
Fall vier Geschosse, bis das Tragwerk überhaupt
eine Raute formt. Es gibt noch weitere Unterschiede,
den beiden Gebäuden aber gemein ist, dass Rauten
dargestellt werden, obwohl Dreiecke gebaut wurden.
So griff der Architekt Norman Foster beim Swiss Re
Tower in London (2004) zu schwarzer Farbe, um
die horizontalen Glieder gegenüber den weissen Diagonalen in den Hintergrund treten zu lassen, während
die Architekten Herzog & de Meuron die waagrechten
Zugbänder beim Prada Epicenter in Tokio (2003) in
die Deckenebene verlegten. Es wurde also beiderorts
eine Entflechtung gesucht: farblich hier und räumlich dort.
Schon der Architekt Jules Saulnier unterdrückte bei
der Schokoladenfabrik Menier in Noisiel-sur-Marne
(1873) einzelne Glieder des Stahlskelettes, wodurch
die Diagonalen, die hier nur eine aussteifende Funktion haben, als Rauten erscheinen. Darf man den
Plänen der Fachwerkkonstruktion Glauben schenken,
IBM-Building, Pittsburgh
(USA), 1963, von Curtis &
Davis Architekten:
Eine der ersten Fassaden im
mehrgeschossigen Hochbau
ohne vertikale Stützen.
Die Fassade des IBM-Buildings
wurde in Elemente von 4 x 8 m
aufgeteilt.
5
Essay
gibt es nämlich mehr Stützen als das fertige, mit
Backsteinen ausgemauerte Gebäude Preis gibt. Unterschiedliche Lagen der Profile innerhalb des Fassadenquerschnittes und Ausfachungen, die auf dem
Prinzip von Vor- und Hintermauerungen basieren, verwischen die statische Ordnung. Dazu gehört auch,
dass nicht nur einzelne Stützen verborgen liegen, sondern auch die Decken unsichtbar bleiben.
Obgleich das viergeschossige Gebäude als frühestes
Beispiel eines Skelettgeschossbaus gilt und entsprechend häufig publiziert wurde, blieb Saulnier wegen
dem mangelnden Zusammenhang zwischen Skelett
und architektonischem Ausdruck nicht frei von
Kritik. So soll der Architekt Konstantin Lipsius 1878
in einem Vortrag vor dem Verband Deutscher Architekten und Ingenieure bemängelt haben, dass die
Eisenkonstruktion wie eine Verstärkung des schadhaft
gewordenen Mauerwerkes wirke.
Swiss Re-Konzernzentrale,
London (GB), 2004,
von Foster & Partners:
Andere Erdgeschossnutzung
ohne Wechsel der Tragstruktur.
Die diagonalen Druckstäbe
sind weiss und die horizontalen
Zugglieder schwarz gestrichen.
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Bei Saulnier noch eine Frage der gestalterischen
Rangordnung, entstand mit dem IBM-Building der
Architekten Curtis & Davis fast hundert Jahre
später, 1963, in Pittsburgh (USA) ein Bürohaus, das
eine der ersten tragenden, mehrgeschossigen
Fassaden ohne vertikale Stützen aufwies. Unzählige
Diagonalen, die sich im flachen Winkel kreuzen,
bilden dort eine rautenförmige Gitterstruktur, die
nicht nur die Längssausteifung übernimmt, sondern
zusammen mit dem Kern auch die bis zu 16 m weit
gespannten Decken trägt. Verkleidet mit einem
dreidimensionalen Fassadenrelief aus Chromstahl,
das aus klimatechnischen Gründen sowohl die
Fenster beschatten soll, als auch deren Grösse einzuschränken hat, weist die Konstruktion aus Winkelprofilen eine Schlankheit auf, die eine unerwartete
Nähe zu Saulnier aufweist. Baut das statische
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Gerüst der Fassade von Swiss Re auf einzelnen Rundrohren auf, die an speziell dafür entwickelten Knoten
aufeinandertreffen, und basiert der Stahlbau bei
Prada auf einzelnen Diagonalen mit angeschweissten
Teilstücken der gegenläufigen Schrägen, wurde die
Fassade beim IBM-Building in annähernd 8 m hohe
und 4 m breite Rechtecke aufgeteilt. Die Elemente,
die auf halber Geschosshöhe gefügt wurden, vereinen acht Rauten und weisen zwei horizontale Zugbänder auf, an welche die Deckenträger anschliessen
– Dreiecke auch hier!
Eine Besonderheit stellte damals die Anwendung von
fünf verschiedenen Stahlsorten dar. Statt die Wandungen der Profile zu variieren (Swiss Re und Prada),
wurden unterschiedliche Stahlqualitäten verwendet,
was man als die «vierte Dimension der Stahlkonstruktion» bezeichnet. Darunter war auch der Typ USS
T-1, der beim IBM-Building erstmals in einem Haupttragwerk zum Einsatz gelangte. Verglichen mit einer
konventionellen Konstruktion konnten damit rund
200 Tonnen Stahl eingespart werden.
Erdgeschoss zwischen Zäsur und Kontinuität
Aufgrund seiner Bedeutung für die Stadt und als Zugang für die Nutzungen in den oberen Stockwerken,
unterliegt das Erdgeschoss häufig eigenen Bedingungen. Ausgestattet mit Ladenlokalen und Restaurants, die gesehen werden wollen, wünscht man
sich die Fassaden auf Strassenniveau durchlässiger.
Und der enge Stützenraster, der in den Bürogeschossen angebracht erscheint, ist einer mondänen
Grosszügigkeit eher hinderlich. In solchen Fällen
ist der Wechsel der Tragstruktur ein üblicher Weg
und die damit verbundene Zweiteilung des Baukörpers häufig nicht unerwünscht – sei der Wechsel
mit einer expressiven Tischkonstruktion kraftvoll
inszeniert oder zur Erlangung eines schwebenden
Eindruckes bewusst unterdrückt.
In der Frage der abweichenden Erdgeschossnutzung
warten die Rautenkonstruktionen von Norman
Foster und Curtis & Davis mit Lösungen auf, die sich
nicht deutlicher unterscheiden könnten, im Begriffspaar «Kontinuität» und «Weglassen» aber einen
gemeinsamen Nenner finden. So ruhen beim IBMBuilding die Fassaden auf jeweils zwei Pylonen,
deren Form aus der Verlängerung einzelner Diagonalen resultiert. Die Tatsache reflektierend, dass es
sich bei den Decken um ein gerichtetes Tragwerk
handelt, liegen sie bei den Längsfassaden dicht
beieinander, während sie an den Kurzseiten – kraft
der scheibenartigen Fassade – gleichmässig verteilt sind. Die Gebäudeecken bleiben dadurch frei,
was die Obergeschosse – unterstützt durch die zusätzlich eingezogene Erdgschossverglasung –
in eine spannungsvolle Ambivalenz versetzt. Ein
Zustand, bei dem der Hauptkörper gleichermassen
autonom als auch auf dem Boden ruhend erscheint.
Sieht man in den Pylonen von Pittsburgh jenen
Teil der Hauptfassade, der durch das Abschneiden
oder Weglassen unbenötigter Teile entstand, sind die
Unterschiede zum Londoner Swiss Re Tower gar
nicht mehr so gross. Das Tragwerk erfuhr hier zwar
keine Veränderung, denn die grobmaschige Struktur mit einer Stützenweite von 9 m ist genügend
durchlässig; das Prinzip des Weglassens fand aber
trotzdem Anwendung. Die Curtain-Wall, die dem Gebäude wie ein Strumpf übergestreift ist, trifft nämlich
nur punktuell auf den Boden. Ein Zick-Zack weggelassener Dreiecke ziert den Saum, der im Bereich
des Einganges um die Grösse einer Raute hochgezogen ist und dadurch das Tragwerk räumlich
erlebbar macht.
IBM-Building, Pittsburgh
(USA), 1963, von Curtis &
Davis Architekten:
Kontinuierlicher Wechsel der
Tragstruktur im Parterre –
die Pylonen entstanden aus
der Verlängerung einzelner
Diagonalen.
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Essay
Raute und Gebäudeform
Nebst dem Tragverhalten der Diagonalstrukturen
stellt sich nun die Frage nach ihrer Bedeutung für die
Volumetrie des Hauses. Halten wir uns an die
bisherigen Beispiele, so scheint nur beim Swiss Re
Tower ein Zusammenhang zwischen Struktur und
Form gegeben. Das IBM-Building ist ein quaderförmiger Block, und sieht man beim Prada Epicenter
von jener einzelnen Dachfläche ab, deren Neigung
dem Verlauf der Rauten folgt, scheinen auch hier die
Diagonalen ohne Einfluss auf die Geometrie des
Baukörpers zu sein. Mit dem rautenförmigen Gitter,
das sich beim Prada Epicenter über die gesamte
Gebäudeoberfläche erstreckt, fiel die Wahl aber auf
eine Struktur, die sowohl tektonisch wie formal die
Kontinuität zwischen den geknickten Flächen des
prismatischen Körpers herstellt. Verläuft eine Gebäudekante nicht parallel zum Fassadenraster, wird
die Abweichung innerhalb der ohnehin von Schrägen
dominierten Hülle kaum wahrgenommen. Anders als
bei orthogonalen Teilungen, wo der Betrachter die
Felder nur horizontal und vertikal zueinander in
Beziehung setzt, bilden Rauten, selbst wenn sie vertikal
über- und horizontal nebeneinander angeordnet
sind, schräg verlaufende Bänder, die das Zuweisen
einer eindeutigen Richtung erschweren. Die Gitterstruktur des Prada Epicenters wirkt deshalb in einem
Mass hierarchielos, als dass sie nie in Konflikt mit
der Ordnung des Baukörpers gerät.
Prada Aoyama Epicenter,
Tokio (JPN), 2003,
von Herzog & de Meuron:
Die Rauten bilden schiefe
Bänder; auf der Zugangsseite
folgt die Dachkante dem Band.
Fast unbemerkt bleibt der
Knick an der rechten Gebäudekante.
Folgen für den Innenraum
Beim Swiss Re Tower von Norman Foster vermutet
man die rautenförmige Struktur als Mittel eingesetzt,
um das Ideal des ellipsoiden Rotationskörpers mit
geraden Stäben nachbilden zu können. Auf den ersten Blick ist die Struktur mit Bruno Tauts Glashaus
für die Deutsche Werkbund-Ausstellung 1914 in
Konzernzentrale Swiss Re,
London (GB), 2004,
von Foster & Partners:
Die Drehbewegung wird von
den dunklen Gläsern der
«Lightwells» vorgegeben.
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steeldoc 02/04
Köln vergleichbar, wo die netzartige Kuppel als Novum
ausschliesslich aus Diagonalen bestand – also weder
Gratsparren (Meridiane) noch Ringe (Parallelkreise)
aufwies. In London gibt es jedoch weiterhin Ringe,
die sich in der dreidimensionalen Betrachtung als
Knicke erweisen, um die zylinderähnliche Fassadenabwicklung mit planen Gläsern überhaupt beschreiben zu können. Die horizontalen Eckpunkte
einer Raute sitzen nämlich weiter vom Zentrum entfernt als ihre Fuss- und Kopfstücke, die exakt
übereinander liegen. Auf Deckenhöhe angeordnet,
dienen die horizontalen Fugen also nicht allein dem
Einlass von Frischluft, sondern sie halbieren die
Hälfte aller Rauten auch aus geometrischen Gründen.
Der Spiralwirkung, die sich mit der erwähnten Bandbildung einstellt, tut dies keinen Abbruch – wohl
auch deshalb nicht, weil die Diagonalen der Primärstruktur prägender sind. Überliess es Bruno Taut
dem Betrachter, ob er eine links- oder rechtsgerichtete
Drehbewegung erkennen wollte, gibt es bei Norman
Foster keine Wahlmöglichkeit: dunkle Gläser zeichnen eine Rotation im Uhrzeigersinn vor. Wer darin
einen blossen Gestaltungswillen vermutet, sieht sich
getäuscht. Dahinter befinden sich mehrgeschossige
Bereiche, sogenannte «Lightwells», die aus der
Rotation der keilförmig eingeschnittenen Decken
hervorgehen. Der Neigung der Stützen folgend,
verschieben sich die Einschnitte um 5° pro Geschoss.
Das (trianguläre) Skelett steht somit nicht nur in
Verbindung mit der äusseren Erscheinung des Gebäudes, sondern aus den schrägen Stützen lassen sich
auch Kriterien für die Formfindung im Innern
ableiten (wobei anzumerken ist, dass die Spitze des
Turmes ein anderes Tragwerk aufweist). Dieses
Potenzial wurde beim IBM-Building gar nicht erst
aufgegriffen. Beim Prada Epicenter ist die Verflechtung von Innen und Aussen in den «Tubes» wieder zu
finden, deren Querschnitt dem Zusammenschluss
von jeweils vier Rauten entsprechen.
Deformation als Potenzial
Strukturen, die sich nicht auf das gesamte Gebäude
anwenden lassen, Rauten, die sich als Dreiecke
erweisen und verborgene Hierarchien: alles Klammerbemerkungen, die bei Tauts Glashaus nicht nötig
wären, denkt man, besteht doch die Kuppel ausschliesslich aus rautenförmigen Gläsern, die ohne
weitere Unterteilung von einem Netz aus armiertem
Beton gehalten werden. Nicht ganz: denn gegen
die Spitze werden die Rauten zu Drachenvierecken!
Die «reine» Raute scheint sich demnach weder als
Verkleidung noch als Tragstruktur besonders gut zu
eignen. Aus mathematischer Sicht zur Familie
der Vierecke gehörend, ist das Potenzial der Raute
in ihrer formalen Wandlungsfähigkeit zu sehen.
Ausgehend von einem auf die Spitze gestellten Quadrat, ändert sich durch Stauchen und Strecken der
Diagonalen fast unmerklich die Proportion; andere
Deformationen führen zum Parallelogramm oder
zum Trapez. In dieser Kategorie ist der rechte Winkel
die Ausnahme und der spitze oder stumpfe Winkel
die Regel – ein Formenvokabular also, in das sich
selbst Dreiecke mühelos einfügen lassen: Dreiecke,
die einen statischen Sachverhalt wiedergeben oder
stereometrische Ursachen haben.
Fragt sich am Ende, weshalb Architekten trotzdem
Rauten, statt Dreiecke darstellen. Es ist wie bei
den orthogonalen Strukturen eine Frage der formalen
Rangordnung: zeichnet die Horizontale oder die
Vertikale mehr, sollen die Decken oder die Stützen
hervorgehoben werden?
Glashaus an der WerkbundAusstellung in Köln (D), 1914,
von Bruno Taut:
Rechts- oder linksgerichtete
Spiralen? Die Kuppel wurde als
Eisenkonstruktion geplant,
aber in Eisenbeton ausgeführt.
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Swiss Re London
Intelligenter Knoten
Bauherr
Swiss Re Investments Ltd, London
Architekten
Foster & Partners, London
Tragwerksplaner
Ove Arup & Partners, London
Baujahr
2000–2004
Im Herzen der Londoner City hat Norman Foster das zweithöchste Hochhaus
der Stadt gebaut. Von der Bevölkerung auch als «erotische Gurke» bezeichnet,
ist die ungewohnte Form des neuen Domizils von Swiss Re London aber
mehr als der Auswuchs blühender Architektenfantasie oder Imponiergehabe
des Auftraggebers.
Dass sich der Schweizer Rückversicherer ernsthaft
um gute Architektur bemüht, hat er schon mehrfach
bewiesen. Und dies nicht erst seit dem Seminargebäude von Meili & Peter in Rüschlikon (2000):
erinnert sei auch an die Bauten am Zürcher Mythenquai, etwa an das Clubhaus von Hans Hofmann
(1958) oder an den Bürokomplex von Werner Stücheli
(1969). Mit Norman Foster steht ein Architekt hinter
dem Entwurf des 180 Meter hohen Turmes, dessen
Bauten und deren Gestalt meist massgeblich vom Interesse an neuen Technologien und nachhaltigen
Lösungen geprägt sind. So rechnet Foster damit, dass
mit dem Swiss Re Gebäude der britische Richtwert für
ein Niedrigenergie-Büro, der bei 175 kWh/m2 liegt, um
bis zu 25 kWh/m2 unterschritten werden kann. Dazu
trägt auch die Gebäudeform bei.
Hohe Räume im Hochhaus
Im dichten Gefüge der Londoner Innenstadt scheint
der 40 Stockwerke zählende Turm nur mit der
Fussspitze aufsetzen zu wollen. An der breitesten Stelle
einen Durchmesser von 56 Metern aufweisend, reduziert sich dieses Mass im Erdgeschoss, wo die Glasfassade zur Steigerung der Transparenz zusätzlich
über grosse Öffnungen verfügt, auf 49 Meter: Die neu
geschaffene Plaza, in deren Zentrum das Gebäude
steht, soll möglichst hell und grosszügig wirken.
Ladenlokale im Parterre charakterisieren den Aussenraum als öffentlich, und Sitzgelegenheiten laden zum
Verweilen ein. Der Aufenthalt soll hier angenehmer
sein als vor anderen Hochhäusern, da die aerodynamische Form des Turmes nicht nur die Angriffsfläche
auf die Fassade reduziert – was sich für die Bemessung des Stahlskelettes und der Curtain-Wall besonders
positiv auswirkte –, sondern auch die lästigen Fall-
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winde mindert. Im Innern profitieren bis zu sechsgeschossige Höfe, die sich an der Fassade als spiralförmige Bänder abzeichnen, von der Tannenzapfenform des Gebäudes. Als wesentliche Komponente
des Energiekonzeptes werden die so genannten
«Lightwells» nicht nur als Mittel zur besseren Belichtung der Büroflächen genutzt, sondern fungieren
gleichermassen als die Lungen des Gebäudes.
Unterschiedliche Druckverhältnisse an der Fassade
unterstützen nämlich den natürlichen Luftstrom in den
mit ausklappbaren Fenstern ausgestatteten Höfen.
Davon ziehen auch die angrenzenden Büroflächen
Nutzen. Gleichwohl gibt es aber auch eine mechanische Lüftung, deren zentrales Element in der Abluftfassade zu finden ist.
Mit den «Lightwells» ist jener Punkt des Projektes
angesprochen, der wie kein zweiter räumliche, ökologische, betriebliche und konstruktive Aspekte des
Gebäudes in sich vereint. Die Büroflächen in überschaubare Bereiche von durchschnittlich 16 x 11 Meter
zonierend, dienen die sechs Deckeneinschnitte auch
als Balkone und lassen geschossübergreifende
Sichtverbindungen entstehen. Und ist Höhe etwas,
was in Hochhäusern nur beim Blick durchs Fenster,
also in Relation zu den Nachbarbauten, erfahrbar ist,
gibt es hier bis zu 24 Meter hohe Räume im Innern.
Von aussen zeichnen sich die «Lightwells» als dunkle
Bänder ab, die sich spiralförmig um das Gebäude
winden und mit der Neigung der diagonalen Druckstäbe korrespondieren.
Steifes Korsett und stützenfreie Grundrisse
Zusammen mit horizontalen Zugstreben bilden die
Diagonalstützen der Fassade ein steifes Korsett, den
so genannten «Diagrid», so dass der Kern nur noch
vertikale Lasten abzutragen hat. Die Grossmassstäblichkeit der Tragstruktur – die A-förmigen Fassadenrahmen reichen über zwei Geschosse und weisen
eine Spreizung von rund neun Metern auf – schlägt
sich auch in der Konstruktion der Decken nieder. Auf
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Swiss Re London
radial angeordneten Breitflanschträgern basierend,
überbrücken die 54 cm hohen Profile eine Distanz von
14 Metern ohne eine einzige Stütze. Die Träger liegen
im Grundriss um je 10° zueinander versetzt, so dass
die Deckenfelder an der Fassade eine maximale
Spannweite von 4,5 Meter aufweisen. Dieses Mass
korrespondiert allerdings nur auf jedem zweiten
Geschoss mit der Stützenlage; auf Höhe der Knoten ist
die Distanz doppelt so gross, so dass zusätzlich ein
tangentialer Randträger eingeführt werden musste.
Besondere Beachtung verdienen die Knoten. Da die
Druckstäbe keine Krümmung aufweisen, erfolgen an
ihnen sämtliche Richtungsänderungen – sowohl im
Grundriss als auch im Schnitt. Die Knoten bestehen
aus zusammengeschweissten, facettenartig angeordneten Stahlplatten mit vorbereiteten Schraubverbindungen für die anzuschliessenden Tragwerksteile:
Druckstäbe aus Rundrohren, Zugstreben als Kastenträger und Deckenbalken in Form von Breitflanschträgern. Letztere lagern auf den Knoten gleitend
auf und werden von Gewindestangen in ihrer maximalen Ausdehnung limitiert. Beim Errichten des
Stahlbaus dienten die Stangen als Hilfsmittel, den Abstand zum Zentrum konstant zu halten und die Deformationen unter zunehmender Eigenlast zu regeln.
Einem gänzlich anderen Konstruktionsprinzip folgt
die Spitze des Gebäudes, wo sich neben haustechnischen Räumen auch ein Panoramarestaurant
befindet. Die Kuppel bildet ein eigenständiges,
von den Decken abgelöstes Tragwerk, dessen netzartige Struktur keine separaten Knoten aufweist. An
den Kreuzungspunkten sind die Rechteckprofile
(Querschnitt 110 x 150 mm) auf gleicher Ebene gestossen und miteinander verschweisst. Die Verglasung liegt wie bei einer Pfosten-Riegelkonstruktion
direkt auf den Profilen und wird von Pressleiten
gehalten.
Doppelte Fassade
Von Level 0 bis 38 basiert die Verglasung auf geschosshohen Elementen, die mittels Konsolen am
Stahlskelett befestigt sind. Die 4 Meter hohen Gläser
werden von umlaufenden, thermisch getrennten
Aluminiumprofilen gerahmt, deren Bauhöhe so gross
bemessen ist, dass sie nur am Fuss und an der
Spitze gehalten werden müssen. An den Befestigungspunkten schliessen insgesamt vier Elemente an,
darunter auch die angrenzenden Dreiecke, die
mittels aussteifender Einschieblinge mit den rautenförmigen Panelen verbunden sind.
Hinter den horizontalen Fugen befinden sich trichterförmige Stutzen für die Ansaugung von Frischluft,
die geschossweise aufbereitet wird und via abgehängter Decke in die Büros gelangt. Eine Glasfront,
die auf der Innenseite des «Diagrids» liegt und nur zu
Reinigungszwecken geöffnet werden kann, vervollständigt die Gebäudehülle zur Abluftfassade. Auf
Grundriss
Massstab 1: 600
Hinter den spiralförmigen
Bändern befinden sich die sogenannten «Lightwells» –
mehrgeschossige Bereiche,
die der zusätzlichen Belichtung
und der natürlichen Belüftung
der Büroflächen dienen.
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Während in den oberen Geschossen die Montage des
Stahlbaus noch voll im Gange
war, wurde unten bereits
die Fassade angebracht.
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Swiss Re London
1
3
8
2
6
7
5
4
1
4
3
8
7
2
Axonometrie
Massstab 1 : 50
1 Diagonalstütze
2 Knoten
3 Zugstrebe
4 Deckenträger, gleitend
gelagert
5 Gewindestangen, regeln die
radiale Ausdehnung
6 Platten für die tangentiale
Fixierung von Pos. 4
7 Deckenträger
8 Konsole für die Glasfassade
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steeldoc 02/04
dem Weg zur Lüftungszentrale passiert die Abluft aus
den Büroräumen diesen Zwischenraum, wodurch
gleichzeitig von der Sonneneinstrahlung erwärmte
Luft abgesaugt wird. Bei den «Lightwells» wurde statt
einer inneren Verglasung dunkel gefärbtes Sonnenschutzglas eingesetzt.
Knoten im Übergang zwischen
der Geschossdecke und dem
Luftraum eines «Lightwells».
Neutralisierende Verkleidung
Wurde beim Prada Epicenter von Herzog & de Meuron darauf geachtet, dass das Fassadentragwerk
keine Querschnittveränderungen erfährt, weil
die Brandschutzverkleidung wie eine zweite Haut die
Träger umwickeln soll, wurde bei Swiss Re genau
umgekehrt verfahren: die Verkleidung aus einbrennlackiertem Aluminiumblech beschreibt einen
Hohlkörper, in dem unterschiedlich geformte Tragwerksglieder genauso Platz finden wie Brandschutzmassnahmen und Haustechnikinstallationen. Das
Resultat ist aber in beiden Fällen gleich: die Konstruktion kann nur noch erahnt werden. (ad)
An jeder einzelnen Konsole
sind vier Fensterelemente befestigt. Die geschosshohen
Rauten sind unten und oben
eingehängt; mit den angrenzenden Dreiecken sind sie
über aussteifende Einschieblinge verbunden.
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Swiss Re London
Ort 30 St Mary Axe, London
Bauherr Swiss Re Investments Ltd, London
Architekten Foster & Partners, London
Generalunternehmer Sanska Construction UK Ltd, London
Tragwerksplaner Ove Arup & Partners, London
Fassadenplaner Emmer Pfenninger Partner AG, Münchenstein
Stahlbau Victor Buyck-Hollandia Joint Venture Ltd, Wraysbury
Fassade Schmidlin AG, Fassadentechnologie, Aesch
Kuppel Waagner Biro, Wien
Konstruktion Tragstruktur: Tragende Fassade («Diagrid») aus
Rundrohren, an facettiertem Knoten verschraubt; Kerne aus
Breitflanschträgern (nur vertikal belastet); Betonverbunddecke.
Curtain-Wall: Glaselemente mit Rahmen aus thermisch getrennten
Aluminiumprofilen, mittels Konsolen punktuell an Stahlkonstruktion befestigt.
Stahlverbrauch 8’358 Tonnen; davon 29% für «Diagrid», 24%
für Kern und 47% für Deckenträger
Nettonutzfläche 46’450 m 2
Bauzeit Dezember 2000 – Mai 2004
H
V
V
H
Fassadenausschnitt
Massstab 1:100
9
C
5
4
A
2
10
D
B
Vertikalschnitt
Massstab 1:25
16
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1
3
8
Horizontalschnitt
Massstab 1 : 25
1 Diagonalstütze
Stahlrohr Ø 508/40 mm –
Ø 273/12,5 mm
2 Zugstrebe
Kastenprofil 300/250 mm
3 Deckenträger, radial
I-Profil 540/300 mm
4 Deckenträger, tangential
I-Profil 540/300 mm
5 Profilblech-Verbunddecke
160 mm
6 Konsole für Glaselement
7 Glaselement mit Rahmen
aus thermisch getrennten
Aluminiumprofilen (Glas:
ESG 10 mm, SZR 16 mm,
VSG 2 x 5 mm); dreieckig
8 dito 7; rautenförmig
9 Schiebefenster (Glas: VSG
2 x 5 mm)
10 Verkleidung Aluminiumblech 3 mm
A Frischluft, geschossweise
aufbereitet
B Zuluft Büro via Decke
C Abluft Büro via Schwelle
D Abluft Zwischenraum
(Abluftfassade)
7
2
4
9
6
17
Prada Aoyama Epicenter, Tokio
Verborgene Hierarchie
Bauherr
Prada Japan Co., Ltd
Architekten
Herzog & de Meuron, Basel
Tragwerksplaner
WGG Schnetzer Puskas, Basel; Takenaka Corporation, Tokio
Baujahr
2001–2003
Das italienische Modelabel Prada hat sich in Tokio von Herzog & de Meuron
einen «Epicenter Store» bauen lassen. Als Epicenter bezeichnet Prada Läden für
die wichtigsten Städte der Welt, die niemals gleich, aber immer innovativ sein
sollen: Ein Anspruch, den das Bauwerk der Basler Architekten auf jeder Ebene
einlöst – auch konstruktiv.
18
einer Werft für U-Boote näher als die Vermutung,
dass hier ein Haus gebaut wird. Doch bei all den Bildern, die selbst die Baustelle hervorruft, wirkt das
Gesehene nicht unvertraut; denn der Rohbau und der
fertige Bau unterscheiden sich nur durch die Oberflächenbeschaffenheit. Raum- und Tragstruktur sind
eins. Der Ausbau nimmt sich lediglich als eng anliegendes Kleidungsstück aus, das die Form des dahinter
liegenden Körpers fast unverändert wiedergibt.
An der Flanier- und Modemeile Omotesando im Stadtteil Aoyama gelegen, hat der Epicenter Store von
Prada auch für Tokio eine neue Ära der Einkaufskultur eingeläutet. Mit einem unorthodoxen Materialmix von Holz- und Steinböden über Kunststoff- und
Lederverkleidungen bis hin zum fellbezogenen Kleiderständer, werden die Sinne ebenso angesprochen
wie über die räumliche Konfiguration. Allseitig verglaste, lichtdurchflutete Verkaufsebenen kontrastieren
mit intimeren Raumzonen für Umkleidekabinen,
den so genannten «Tubes», die sich wie horizontale
Rohre durch den offenen Raum bohren. Die Architekten Herzog & de Meuron sprechen von einem
«materiellen Kontrastprogramm», das sich zwischen
«hypernatürlich» und «hyperkünstlich» bewegt. Im
dichten städtebaulichen Gefüge Tokios wirkt der
Baukörper als Solitär, der sich in die Höhe entwickelt,
um Raum für eine in Tokio selten anzutreffende Plaza
zu schaffen. Die Form des Baukörpers wird je nach
Standort als sattelbedachtes Haus oder, seiner skulpturalen Erscheinung wegen, als Bergkristall wahrgenommen. Das rautenförmige Fassadengitter generiert
mit dem punktuellen Einsatz von sphärisch gebogenen
Gläsern mannigfach verzerrte Spiegelungen.
Trotz der dünnen Linie zwischen Roh- und Ausbau
verrät das fertige Gebäude aber wenig über seine
Machart; verwischt sind die Spuren handwerklicher
Arbeit, ausgelöscht die tektonischen Merkmale.
So scheint das Konstrukt auch vielmehr gegossen als
aus Walzprofilen und dickwandigen Blechtafeln
gefügt. Diese «Verschleierung» der Tragstruktur lässt
im schlanken Fassadengitter zuerst eine klassische
Curtain-Wall vermuten, obwohl es sich um eine
tragende Wand handelt. Diese Vermutung verstärkt
sich noch durch die liegend statt stehend angeordneten Rauten. Denn eine senkrechte Stellung wäre für
den Lastabtrag geeigneter gewesen. So wird das Gerüst eher als Glashalter denn als Träger der Decken
in Erwägung gezogen. Der unbedarfte Betrachter
wird sodann an eine biegesteife Ausführung der Rauten glauben. Wie sich noch zeigen wird, weist dieses vermeintlich hierarchielose Aussenwandsystem
aber eine unerwartete Rangordnung und eine unauflösbare Verbindung mit der Gesamtstruktur auf.
Konstruktives Verwirrspiel
Angesichts der atmosphärischen Dichte und Vielfalt
an Wahrnehmungsmöglichkeiten wurde die Konstruktion in den bisherigen Architekturpublikationen
meistens nur am Rande erwähnt. Wer aber schon mal
Aufnahmen von der Baustelle gesehen hat, dem ist
unbegreiflich, weshalb man sie kaum kennt. Der
stählerne Käfig mit den rostfarbenen «Tubes» erinnert
an die Welt eines Ken Adams, dem Designer zahlreicher James Bond-Filme. Und so liegt die Assoziation
Japanischer Zuschnitt
In Japan ist die Gefahr und Intensität eines Erdbebens ungleich grösser als in Europa. Von dieser
Tatsache ist der Entwurf für den Epicenter Store aber
nur am Rande berührt: das Gebäude ruht auf Gummilagern, wodurch das Tragwerk lediglich noch
Krafteinwirkungen ausgesetzt ist, denen es auch in
Europa Stand halten müsste. Die gewählte Ausführung in Stahl würde es sogar erlauben, auf die kostspieligen Lager zu verzichten – selbst in Japan.
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19
Prada Aoyama Epicenter, Tokio
Decken, die nicht bis zur Fassade reichen, generieren
überhohe Räume. Im Erdgeschoss bildet eine schräge
Brüstung den Abschluss.
Dies hätte jedoch eine Vergrösserung der Profilquerschnitte um 5 bis10 cm bedingt, was die Architekten
ablehnten: Zu gross war die Gefahr, dass das Fassadengitter zur Scheibe mit Löchern wird.
Die Verbindungen des Stahlbaus wurden fast ausschliesslich geschweisst. Die hohen Präzisionsanforderungen an die Schweiss-Verbindungen wären
nicht überall auf der Welt erreicht worden. Doch in
Japan ist das Bauen mit Stahl so selbstverständlich
wie bei uns die Massivbauweise. Hunderte von
Baustellenschweissungen, von denen jede einzelne
einen Arbeiter einen Tag lang beschäftigt, waren
erforderlich. Da überrascht es auch nicht, dass das
Aufrichten des Stahlbaus fast ein halbes Jahr beanspruchte.
Komplementäre Statik
Das statische System des Epicenter Stores zeichnet
sich dadurch aus, dass gewisse Tragwerkskomponenten ihre Grundfunktion erst im Verbund erfüllen.
Eindrücklich zeigt dies das rautenförmige Fassadengitter, das sich nur im Zusammenschluss mit den
Decken zum Abtrag vertikaler Lasten eignet und das
zusätzlich von der Aussteifung durch die horizontalen «Tubes» profitiert. Diese «Tubes», deren Konstruktion mit 6 mm dicken Stahlplatten und innenlie-
20
genden Rippen dem Schiffsbau entlehnt ist und im
Hochbau eher selten angewendet wird, reduzieren
die Knicklänge der Diagonalen und fungieren zugleich als Deckenauflager. Die Decken selbst, respektive deren Randträger, dienen der Fassade als Zugbänder, die mit einzelnen Diagonalen Dreiecke bilden
und somit den horizontalen Kraftanteil aus den flach
geneigten Rauten aufnehmen. Voraussetzung für das
Einbinden von Diagonalen in übergeordnete Dreiecke ist, dass sie innerhalb der gleichen Fassade von
Decke zu Decke reichen. Das kommt weniger häufig
vor, als man zunächst vermutet. Schuld daran sind
die kurzen Fassaden und die zweigeschossigen Bereiche ohne Deckenanschluss. Der Haupteingang,
welcher dreieinhalb Rauten zu einer einzigen Öffnung
zusammenfasst, hätte daher in der gleichen Fassade
an keiner anderen Stelle liegen können. Auf die Bildung von Dreiecken zu verzichten und die Rauten
biegesteif auszubilden, hätte an die Grenzen des statisch Machbaren geführt, sowie eine Verdickung
der Knoten und eine wesentliche Verteuerung der
Konstruktion zur Folge gehabt.
Ob eine Diagonale zu einem Stockwerksdreieck gehört, ist im fertigen Zustand nicht mehr zu sehen und
war selbst im Rohbau nur an der Wandung ausmachbar. Die Diagonalen der einen Richtung, zum Beispiel
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1
Schnitt A-A
Massstab 1 : 300
1 Technik
2 Verkaufsebene
3 Lager
4 Umkleideraum
5 Verkauf/Administration
6 Besprechung/VIP
7 Administration
7
5
6
2
4
2
2
4
2
1
3
2
3
A
A
1
2
1. Obergeschoss
Massstab 1: 300
1 Verkauf
2 Umkleide
3 Luftraum
Blick vom «Tube» zur höher
gelegenen Verkaufsebene im
4. Obergeschoss.
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Prada Aoyama Epicenter, Tokio
Axonometrie
Massstab 1 : 50
1 tragende Fassadenstruktur
I-Profile 250/180 mm
in Teilstücken mit angeschweissten «Armen» auf
die Baustelle geliefert
2 Baustellenschweissung
3 Deckenrandträger
I-Profil 600/400 mm
4 Verbindungsblech Decke/
Fassade
5 Deckenträger
I-Profile 350/175 mm
6 Betonverbunddecke
150 mm
7 Brandschutzverkleidung
Calziumsilikat-Board
min. 25 mm
(Prinzipzeichnung: erst am
Träger zur Schale gefügt)
8 Glaselemente
3,20/2,00 m
Befestigung nach System
«Vario DZ» auf PfostenRiegelkonstruktion aus
Aluminium
3
5
4
2
1
7
6
8
22
steeldoc 02/04
Dach und Fassade weisen die
gleiche Konstruktion auf.
Spiegelung und Durchsicht im
Nebeneinander von gebogenen
und planen Gläsern.
von unten links nach oben rechts, fanden sich nämlich bei der Vorfabrikation auf einzelne Arme aufgeteilt, die mit den durchlaufenden Trägern der entgegengesetzten Richtung eine Serie schiefwinkliger
Kreuze bildeten. Generell wurde auf unterschiedliche
Belastungssituationen, wie sie beispielsweise durch
die abnehmenden Eigenlasten in den oberen Geschossen auftreten, nie mit einer Reduktion des Profilquerschnittes reagiert, sondern nur über die Dicke
von Steg und Flanschen – dies nicht in erster Linie,
um den Stahlverbrauch zu mindern, sondern um
die Schweissflächen zu reduzieren. Dem Prinzip
gleichbleibender Querschnitte folgend, kamen entlang
der Gebäudekanten an überdurchschnittlich stark
beanspruchten Knoten sogar Gussteile zum Einsatz.
Im Nebengang zu den grossen Anstrengungen, eine
tragende Fassade mit liegenden Rauten zu schaffen,
ist ein starrer Käfig entstanden, der sämtliche Horizontalkräfte durch Wind und Erdbeben aufzunehmen
vermag und dadurch die Stahlstrukturen der kleinen
Kerne für Lifte und Treppen von jeder aussteifenden
Funktion befreit. (ad)
23
Prada Aoyama Epicenter, Tokio
Fassadenabwicklung
Massstab 1:500
Um die Horizontalkräfte aus
den flach geneigten Rauten
aufnehmen zu können, ist es
erforderlich, dass die Diagonalen innerhalb der gleichen
Fassade von Decke zu Decke
reichen und Dreiecke bilden
(schwarz angelegt). Aufgrund
der stärkeren Beanspruchung
weisen diese Träger eine
dickere Wandung auf.
Bei grossem Lastanfall wurden
an den Gebäudekanten Gussteile eingesetzt.
Dank der aussteifenden
Wirkung der Fassade konnten
die Stahlstrukturen in den
Kernen ohne Windverbände
ausgeführt werden.
24
steeldoc 02/04
Eine Szenerie wie aus einem
James Bond-Film.
Der statisch wirksame Blechmantel der «Tubes» wurde
vollständig verschweisst. Die
abstehenden Bügel fixieren
die Bleche temporär.
Ort 5-2-6 Minami-Aoyama, Minato-ku, Tokio
Bauherr Prada Japan Co., Ltd
Architekten Herzog & de Meuron, Basel
Assoziierte Architekten/Generalunternehmer Takenaka
Corporation, Japan
Tragwerksplaner WGG Schnetzer Puskas, Basel; Takenaka
Corporation, Japan
Fassadenplaner Emmer Pfenninger Partner AG, Münchenstein
Stahlbau Kawada Industries, Japan
Fassade Josef Gartner GmbH, Japan
Konstruktion Tragende Fassade aus Breitflanschträgern, alle
Verbindungen geschweisst; Kernstrukturen aus Rundrohren
(nur vertikal belastet); «Tubes» als Deckenauflager und als zusätzliche Knickaussteifung der Fassade aus Stahlblech mit Verstärkungsrippen; Betonverbunddecken. Curtain-Wall: Pfosten-Riegelkonstruktion aus Aluminium; Verglasung nach System «Vario DZ».
Bruttogeschossfläche 2’860 m 2
Bauzeit April 2001 – April 2003
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Prada Aoyama Epicenter, Tokio
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steeldoc 02/04
Impressum
steeldoc 02/04 , Juni 2004
Bauen in Stahl
Bautendokumentation des Stahlbau Zentrums Schweiz
Herausgeber:
SZS Stahlbau Zentrum Schweiz, Zürich
Evelyn C. Frisch, Direktorin
Designkonzept:
Gabriele Fackler, Reflexivity AG , Zürich
Redaktion und Layout:
Alois Diethelm (ad)
Fotos:
Titel, S. 8 (links), 19, 20 , 21, 23, 26: Christian Richters, Münster
S. 3, 10: Grant Smith (Bell-Pottinger, London)
S. 4: Kurt Ackermann (Hrsg.), Industriebau, Stuttgart 1994
S. 5, 7: Carnegie Library, Pittsburgh (USA)
S. 6, 12, 15 (unten): Schmidlin AG, Aesch
S. 8 (unten), 13, 15 (oben): Victor Buyck – Hollandia Joint Venture
Ltd, Wraysbury
S. 9: Akademie der Künste (Hrsg.), Bruno Taut 1880–1938,
Berlin 1980
S. 11: Nigel Young (Bell-Pottinger), London
S. 24, 25: Takenaka Corporation, Tokio
Administration, Abonnemente, Versand:
Andreas Hartmann, SZS
Druck:
Kalt-Zehnder-Druck AG, Zug
ISSN 0255-3104
Jahresabonnement Inland CHF 40.–
Einzelexemplar CHF 15.–
Preisänderungen vorbehalten.
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Die Rechte der Veröffentlichung der Bauten bleiben den
Architekten vorbehalten, das Copyright der Fotos liegt bei den
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