Die Situation jugendlicher Migrantinnen und Migranten

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Die Situation jugendlicher Migrantinnen und Migranten
Integration durch Partizipation
argumente 2
Integration durch Partizipation
Interkulturelle Ansätze im Jugendschutz
argumente
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Integration durch Partizipation
Interkulturelle Ansätze im Jugendschutz
Die vorliegende Publikation wurde mit Mitteln des Bundesministeriums für Familie,
Senioren, Frauen und Jugend gefördert.
Bei den Beiträgen handelt es sich um die Vorträge, die im Rahmen der Fachtagung
»Integration durch Partizipation. Interkulturelle Ansätze im Jugendschutz« am 3. Dezember 2002 in Hannover gehalten wurden. Die Veranstaltung wurde von der Bundesarbeitsgemeinschaft Kinder- und Jugendschutz e.V. und der Landesstelle Jugendschutz Niedersachsen durchgeführt.
Herausgeber:
Bundesarbeitsgemeinschaft
Kinder- und Jugendschutz e.V.
Mühlendamm 3, 10178 Berlin
www.bag-jugendschutz.de
Landesstelle Jugendschutz
Niedersachsen
Leisewitzstr. 26, 30175 Hannover
www.jugendschutz-niedersachsen.de
Druck:
Druckcenter Meckenheim
Berlin 2003
Inhalt
Begrüßung
Prof. Dr. Bruno W. Nikles..................................................................................5
Integration auch durch Sprache
Andrea Urban ...................................................................................................8
»Deutsch – türkisch?«
Lebenspraxis und Identität von Kindern und Jugendlichen
in der multikulturellen Gesellschaft
Elly Geiger ...................................................................................................... 12
Die Situation jugendlicher Migrantinnen und Migranten
Prof. Dr. Richard Münchmeier ........................................................................28
Sprachenvielfalt durch Zuwanderung – ein verschenkter Reichtum
Prof. Dr. Ingrid Gogolin ..................................................................................48
Gefährdung durch gute Absichten
Prof. Dr. Franz Hamburger.............................................................................. 61
Anti-Aggressionskurse mit Jugendlichen aus dem Herkunftsland Türkei
Dr. Ahmet Toprak ...........................................................................................64
Sex ohne Grenzen?
Praxis einer interkulturellen Sexualpädagogik
Olaf Jantz & Hatice Krischer............................................................................79
Integration durch Partizipation
Verwaltung des Elends oder Verbesserung der Situation?
Willy Eßmann .................................................................................................87
Kompetent für Courage!
Anregungen für die Arbeit mit Jugendlichen
zum Thema Rechtsextremismus
Kerstin Brockamp...........................................................................................97
Herkunft Ankunft Zukunft
Internet-Workshop mit Aussiedlerjugendlichen
aus Russland und Kasachstan
Yvonne Fietz................................................................................................. 104
Gesucht – Gefunden
Medien für die praktische Arbeit
Eva Hanel .................................................................................................... 109
Vergessen Sie Integration!
Peter Grünheid & Markus Kissling.................................................................114
Bruno W. Nikles
Begrüßung
Begrüßung
Bruno W. Nikles
Meine sehr geehrten Damen und Herren,
auch bei dieser Tagung werden wir – wie in vergleichbaren thematischen
Kontexten – unsere liebe Not haben, allein mit den Begriffen und Bezeichnungen zurecht zu kommen. Die geradezu babylonische Sprach- und Begriffsverwirrung um die »Ausländer«, die schon längst im Inland leben, nur noch nicht
die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen, um die »Migranten«, die hier
sind, also auch einstweilen nicht mehr migrieren, um »Flüchtlinge«, die schon
geflohen sind oder weiter flüchten, um »Asylanten« im Zustand des Asyls und
solche, die sich noch um Asyl bewerben. Und auch mit der Bezeichnung der
jungen Menschen kommen wir sprachlich nicht zurecht: junge Menschen mit
Migrationshintergrund heißt es in modernistischer Verbrämung. Wie lange
wird der Migrationshintergrund »berechnet«, reden wir bei der dritten Generation, hier geboren und in der Regel »Bildungsdeutsche«, wie es so schön
heißt, immer noch von Menschen mit Migrationshintergrund?
Diese Unbestimmtheiten und Sprachprobleme haben etwas mit unseren gesellschaftlichen und politisch-rechtlichen Definitionswelten zu tun, mit denen
wir seit Jahrzehnten auf Kriegsfuß stehen und mit denen wir uns in dieser
Gesellschaft häufig selbst ein Bein stellen. Auch der Integrationsbegriff schillert, weil wir ihn nicht sauber definitorisch füllen und politisch vielfach unbestimmt lassen.
Die Problematik wird nicht geringer, wenn wir uns auf Tagungen befinden, bei
denen auch Mitmenschen der oben genannten Kategorien teilnehmen. Da
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Begrüßung
Bruno W. Nikles
wird der Integrationsbegriff noch einmal anders gefüllt, häufig in individualistischer Sichtweise. Vielfach wird er auch abgelehnt, weil sich hinter ihm eine
die eigene Identität bedrängende Perspektive zu verbergen scheint – so
»gebrochen« oder patchworkartig sie auch zusammengefügt sein mag.
Viele junge Menschen, die heute bei uns als Angehörige von Minderheitenkulturen, als Angehörige sozialer Gruppen zwischen verschiedenen kulturellen
Horizonten leben, wollen selbst und müssen aus gesamtgesellschaftlicher
Perspektive aus der Randständigkeit heraus in die Normalität einer inzwischen vielgestaltig gewordenen Gesellschaft geführt werden.
Wir können und dürfen es nicht länger zulassen, dass sie Fremde bleiben.
Fremde im Sinne der Beschreibung von Georg Simmel, der 1908 in seinem
berühmten Exkurs ausführte:
»Es ist hier also der Fremde nicht in dem bisher vielfach berührten Sinn
gemeint, als der Wandernde, der heute kommt und morgen geht, sondern als der, der heute kommt und morgen bleibt – sozusagen potentiell Wandernde, der obgleich er nicht weitergezogen ist, die Gelöstheit des Kommens und Gehens nicht ganz überwunden hat.«
Solange unsere Gesellschaft dieses Phänomen für größere soziale Gruppen
nicht zu bearbeiten und abzubauen in der Lage ist, begeben wir uns auf einen
riskanten und soziale Konflikte produzierenden Weg.
Zweifellos gibt es in Kontexten der Fremdheit und gesellschaftlicher Desintegration höhere Belastungen, gefährdenden Einflüssen zu erliegen. Das spielt
auch jenseits unserer Thematik heute eine Rolle: es gibt ja nicht nur eine
deutsche Sozio-Kultur, sondern auch deutsche Teilkulturen, kulturelle Muster, die in bestimmten sozialen Schichten stärker oder schwächer ausgeprägt
sind als in anderen. Die Lebenslagen junger Menschen mit einem spezifischen
zusätzlichen kulturellen Hintergrund mögen noch einmal in besonderer Weise
akzentuiert sein. Aber mir persönlich wäre es lieber, wir würden eine solchermaßen differenzierte Diskussion und gesellschaftspolitische Strategie verfolgen, dass wir auf die ständige Betonung von »multikulti«, »interkulti« oder
»bikulti« verzichten könnten. Normalität ist inzwischen in unserer Gesellschaft eine vielgestaltige und wir müssen uns darauf endlich entsprechend
einlassen.
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Bruno W. Nikles
Begrüßung
Auch der Kinder- und Jugendschutz, hier einmal sehr generalistisch definiert
als eine Leitidee zur Sicherung der personalen Integrität junger Menschen
und ihrer sozialen Integration, hat selbstverständlich in diesem Prozess der
»Normalisierung« seinen Platz. Aber auch seine Schwierigkeiten, ist doch der
Umgang mit dem Schutzgedanken in einer offenen und liberalen Gesellschaft,
in einer durch individualisierte Lebensentwürfe mit selbst gestrickten Wertmustern geprägten Gesellschaft nicht ohne Vermittlungsarbeit akzeptanzfähig.
Wenn wir uns also dem Thema »Integration durch Partizipation« nähern, dann
sollte vor allem die Partizipation im Vordergrund des Zielbildes stehen. Partizipation ist die Zielperspektive, Integration ergibt sich dann vielfach von alleine. Teilhabe an den Lebensangeboten der Gesellschaft in Familie, Ausbildung und Beruf, das sind die entscheidenden Punkte. Wenn diese Teilhabe
nicht ermöglicht wird, dann sind auch die vielfältigen Begleitmusiken, die wir
uns ausdenken, trügerische Schalmeienklänge.
Ich wünsche der Tagung Differenzierungsvermögen, Offenheit für die Positionierungen anderer und eine gemeinsame Orientierung, die für die Arbeit zukunftsweisend sein kann.
Prof. Dr. Bruno W. Nikles
Vorsitzender der Bundesarbeitsgemeinschaft Kinder- und Jugendschutz e.V.
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Integration auch durch Sprache
Andrea Urban
Integration
auch durch Sprache
Andrea Urban
Wer kennt sie noch, die Begrüßung:
»Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Neger«.
Dieses berühmte Zitat von dem ehemaligen Bundespräsidenten Heinrich
Lübke, das er während eines Staatsbesuches in Afrika zu Beginn einer Rede
benutzt hat, soll ihm allerdings nur in den Mund gelegt worden sein. Aber
immerhin: die ganze Republik hat es ihm zugetraut. Was ist jetzt so komisch
oder befremdlich an dieser Ansprache: »Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Neger?« Einerseits erinnert es sicher an: »Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Kinder« und damit untermauert es, dass Bundespräsident Lübke
eigentlich nur den Leuten in Afrika helfen wollte und das von Herzen. Ein Herz
für Kinder – ein Herz für Neger. Andererseits sind neben dieser oberflächlich
lustig anmutenden Interpretation auch andere Lesarten möglich, die einem
das Schmunzeln im Gesicht erstarren lassen.
Das Wort Neger war in den 60er Jahren noch political correct, bzw. gab es gar
nicht das Bewusstsein darüber, dass so etwas nicht korrekt sein könnte. Viele
Frauen bestanden zu der Zeit ja auch noch darauf mit Fräulein angesprochen
zu werden, unter anderem deswegen, um zu signalisieren, dass sie noch zu
haben waren.
Natürlich ist es gar nicht unüblich, bei einer Anrede eine ganz besondere
Gruppe von Menschen gesondert hervorzuheben. Dabei muss aber gut überlegt werden, mit welcher Zuordnung man wen eventuell eher verletzen als
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Andrea Urban
Integration auch durch Sprache
positiv hervorheben kann. Eine Begrüßung auf einer Tagung mit den Worten:
»Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Schwule« wäre z.B. je nach Kontext
eventuell nicht adäquat und darüber hinaus möglicherweise potenziell diskriminierend. Dagegen ist auf der sicheren Seite, wer bei einer Jugendschutzveranstaltung aus Höflichkeit eine ganz besondere Berufsgruppe hervorheben will, also z.B. mit der Anrede: »Sehr geehrte Damen und Herren, liebe
Jugendschützerinnen und Jugendschützer«. Die Frage ist also, durch was wird
die Betonung und das Anderssein wertvoll und kostbar und wodurch wird die
Besonderheit zur Bedrohung mit der Folge der Ausgrenzung und der Stigmatisierung als minderwertig?
Mit einem gewagten Sprung von Heinrich Lübke zu den Errungenschaften der
Frauenbewegung möchte ich das Thema Integration von einer anderen Seite
beleuchten. Zu Lübke und den Frauen fällt den Lübke-Fans natürlich ein, dass
er gerne eines seiner Bonmots angefügt und gesagt hätte: »Und Wilhelmine
auch« und er meinte seine Frau damit. Aber das ist ja gerade wieder das Problem. Nicht Wilhelmine auch, sondern Wilhelmine aus sich heraus und ohne
Heinrich. Will sagen: die Zeiten sollten endgültig vorbei sein, in denen Jugendarbeit gesagt wurde und Jungenarbeit gemacht wurde, mit dem Hinweis,
die Mädchen seien doch mit gemeint, explizit ausgeladen hätte sie jedenfalls
keiner. Es hat lange gedauert, bis sich in der Jugendarbeit und auch im Jugendschutz herumgesprochen hat, dass Jugendliche aus Jungen und Mädchen
bestehen und dass sie sich nicht nur in wesentlichen Bereichen voneinander
unterscheiden, sondern dass sie auch dann am besten gefördert und gefordert werden können, wenn sie auch als Mädchen und als Jungen angesprochen werden. Das heißt: der differenzierende Blick auf die Jugendlichen
macht es erst möglich, ihnen je nach Bedürfnis und Problemlage adäquate
Angebote zu unterbreiten. Und auch da haben wir lernen können, dass nicht
alle Mädchen gleich denken und nicht alle Jungen über einen Kamm zu scheren sind.
In den letzten 20 Jahren hat sich viel getan in Richtung Gleichberechtigung
und Selbstbewusstsein von Mädchen und jungen Frauen. Noch in den 80er
Jahren konnten chauvinistische Witze über frauenbewegte Frauen in der Jägermeister-Werbung gemacht werden: »Frauen sind gleichberechtigt, aber
nicht sofort!«
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Integration auch durch Sprache
Andrea Urban
Nun ist es bestimmt zehn Jahre her, dass wir Richtlinien für die korrekte
Schreibweise mit dem großen I oder dem Querstrich-innen diskutiert haben.
Ich war nie eine Verfechterin solcher Vorschriften, einerseits weil so etwas die
Phantasie kaserniert, andererseits weil mein Germanistinnenherz das kaum
ertrug und zu guter Letzt, weil wir uns doch bitteschön nicht mit ein paar
korrigierten Worten abspeisen lassen sollten. Nichtsdestotrotz war diese
Entwicklung gut, hat sie doch viele dafür sensibilisiert, dass sich in der gesellschaftlichen Realität eine Menge getan hat und noch mehr zu tun sein
würde. Die Präsenz von Frauen in der Sprache ist ein Mosaikstein in dem
großen Bild der Gleichberechtigung und Gleichwertigkeit. Sprache ist ein
wichtiges Vehikel, können wir doch darüber unsere Gedanken und teilweise
auch Gefühle mitteilen. Sprache kann aber auch entlarvend sein, weil sie zum
Teil Einstellungen transportiert, die womöglich noch gar nicht bis ins eigene
Bewusstsein vorgedrungen sind.
Hier könnte jetzt der alte Mantafahrer-Witz passen, der das Unbewusste dieses Prototyps eines Deutschen zum Ausdruck bringt: »Fragt ein Mantafahrer
einen Türken: Wo geht’s denn hier nach Aldi? Daraufhin der Türke: Zu Aldi.
Der Mantafahrer: Was? Schon zu? Ist doch noch nicht mal fünf!« Hier kann
man lachen und es wäre sogar political correct.
Ja, aber mit welchen Worten, in welcher Sprache nähern wir uns denjenigen,
die ihre kulturellen Wurzeln eventuell woanders haben als in Deutschland, die
vielleicht erst seit kurzer Zeit hier leben oder aber noch gar nicht sicher wissen, ob sie in Zukunft noch hier bleiben dürfen?
Und jenseits der Sprache, die uns in der Werbung und in der Unterhaltungsindustrie eine glatte Multikulti-Gemeinschaft vorgaukelt und nicht zuletzt mit
Popgruppen wie »BroSis« oder »No Angels« zeigt, wie liberal und aufgeschlossen wir mittlerweile sind, jenseits dieses kommerziellen Getues stellt
sich doch die Frage: Mit welcher Haltung nähern wir uns diesen Kindern und
Jugendlichen, den Mädchen und Jungen, mit denen wir in unserer beruflichen
wie privaten Welt zusammentreffen?
Mittlerweile können wir nicht mehr ungestraft von den lieben Negern sprechen, nicht mehr ruhigen Gewissens vertreten, dass Frauen doch immer mitgemeint seien. Jetzt braucht es noch eine kleine Anstrengung, um klar zu
machen, dass nicht von den Ausländern gesprochen werden kann, ohne sich
die Mühe zu machen auch dort genauer hinzuschauen! Denn nur wenn wir
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Andrea Urban
Integration auch durch Sprache
aufhören die Kinder und Jugendlichen mit Migrationshintergrund – und das
gilt für diejenigen ohne Migrationshintergrund gleichermaßen – sie als Objekte zu behandeln und abzuhandeln, wenn wir sie als Subjekte akzeptieren, so
wie uns das mit den Frauen durch die Frauenbewegung ja schon ganz gut
gelungen ist, dann haben sie auch die Chance, nicht nur als Problemverursacher wahrgenommen zu werden, sondern als junge Menschen mit eigenen
Fähigkeiten, Wünschen und Hoffnungen.
In seinem Artikel »Gefährdung durch gute Absichten« hat Franz Hamburger
geschrieben, »auch das Kind mit Migrationshintergrund ist ein Individuum«.
»Solange dies nicht respektiert wird, ist keine Interaktion unter gleichberechtigten Personen, erst recht kein pädagogisches Verhältnis möglich.« In diesem Sinn benötigen wir alle eine erhöhte Sensibilität und Wachsamkeit.
Andrea Urban
Leiterin der Landesstelle Jugendschutz Niedersachsen
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»Deutsch – türkisch?«
Elly Geiger
»Deutsch – türkisch?«
Lebenspraxis und Identität
von Kindern und Jugendlichen
in der multikulturellen Gesellschaft
Elly Geiger
Nachdem eine Journalistin in Ruanda einen alten Mann stundenlang über die
Massaker in seinem Land interviewt hatte, wollte sie am Ende des Gespräches
noch wissen: »Entschuldigen Sie bitte, ich habe Sie gar nicht gefragt, sind Sie
nun ein Hutu oder ein Tutsi?« Der Mann schwieg lange, bevor er der Journalistin entgegnete: »Darauf werden Sie von mir nie eine Antwort bekommen.
Genau solche Fragen waren es, die dazu geführt haben, dass wir uns wechselseitig abgeschlachtet haben.«
Einführung
Im gesellschaftlichen Diskurs, der die so genannte multikulturelle Gesellschaft zum Gegenstand hat, sind die Begriffe der – ethnischen oder kulturellen – Identität und, damit zusammenhängend, der Kultur zentral.
»Multikulturelle Gesellschaft« war und ist immer zugleich Zustandsbeschreibung wie auch gesellschaftspolitische Programmatik. Es ist interessant nachzuvollziehen, wie das Paradigma der multikulturellen Gesellschaft, wissenschaftlich gestützt, im Bereich Politik, aber auch bei der Konzeptionierung
sozialer Arbeit, zu einem zentralen Erklärungsmodell und zur handlungsleitenden Zielperspektive geworden ist.
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Elly Geiger
»Deutsch – türkisch?«
Das Paradigma der multikulturellen Gesellschaft hat das der Klassengesellschaft und jenes, das die Differenz männlich/weiblich als zentral für gesellschaftliche Zuweisungsprozesse definierte, abgelöst.
Und es stellte den Versuch dar, das Verhältnis von Aufnahme- bzw. Einwanderungsgesellschaften zu Migrantinnen und Migranten neu zu beschreiben und
zu ordnen:
Noch bis Ende der 1970er-Jahre wurde in der Bundesrepublik kulturelle Differenz und Fremdheit als Integrationshindernis im Hinblick auf die deutsche
Aufnahmegesellschaft definiert. Als Voraussetzung für Integration galt die
einseitige Anpassungsleistung von Migrantinnen und Migranten. Die hierfür
konzipierte Pädagogik war mit Ausländerpädagogik überschrieben, ging von
einem defizitären Verständnis der Zielgruppe aus und arbeitete demzufolge
kompensatorisch.
Ein wichtiger Ausgangspunkt für die Kritik an diesem Integrationsmodus war
die darin enthaltene Zumutung für die Identität der zu integrierenden Migrantinnen und Migranten. Diesem Integrationsmodus unterworfene Ausländer
wurden in ihrer Identität als ›zerrissen‹, die Entwicklung zu einer bi- oder
mehrkulturellen Identität als individuell schwierig, letztlich pathogen definiert.
Ende der 1970er/Anfang der 1980er-Jahre wurde dann – im Rahmen des ›Multi-Kulti-Diskurses‹ – der Perspektivenwechsel von der Gast- zur Aufnahmegesellschaft und von der Ausländerpädagogik zur interkulturellen Pädagogik
vollzogen. Bei Aufrechterhaltung der Annahme, dass die Preisgabe der kulturellen Identität von Einwanderern eine Zumutung sei und bi- bzw. mehrkulturelle Identitäten hochgefährdete Identitäten seien, ging es nun nicht mehr um
einseitige Anpassungsleistungen, sondern um das Postulat der wechselseitigen Akzeptanz und Toleranz, um die jeweilige kulturelle Identität bewahren
zu können. Gesellschaft wurde durch die Vielfalt der in ihr lebenden ›Kulturen‹ gekennzeichnet, die gleichberechtigt neben- und miteinander leben
können sollten.
Die folkloristischen, vereinnahmenden und ungewollt an rassistische Vorstellungen sich anlehnenden Seiten dieses – sehr einfach dargestellten – Konzeptes werden deutlich an der Aussage auf einem Wahlplakat. »Vielfalt statt
Einfalt« stand dort und sollte die Position einer Partei zu Ausländern in München kennzeichnen. Ohne Ausländer nur Einfalt, könnte man deuten, oder –
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»Deutsch – türkisch?«
Elly Geiger
nicht ganz so zugespitzt – Vielfalt im Gemeinwesen stellt sich her durch die
Kultur, die die Ausländer ›mitbringen‹.
Die Handlungsziele, die für die multikulturelle Gesellschaft und eine interkulturelle Pädagogik formuliert wurden, lassen sich exemplarisch deutlich machen.
Hiernach ist Aufgabe interkultureller Erziehung:
»1) (Das) Erkennen des eigenen, unvermeidlichen Ethnozentrismus.
Ethnozentrismus meint die unvermeidliche Eingebundenheit des eigenen
Denkens und Wertens in die selbstverständlichen Denkgrundlagen der eigenen Ethnie, wobei Ethnie nur ein anderer Zugang auf die Phänomene
von Besonderheiten von Lebenswelt und Kultur ist. Dieser Ethnozentrismus kann überhaupt nur sichtbar werden in der Konfrontation mit anderen
Sichtweisen auf die Welt. Wenn Angehörige verschiedener Ethnien, die
auch verschiedene Deutungsmusterhorizonte, d.h. Kulturen haben, im Alltag, z.B. in der Schule, zusammenleben und miteinander auskommen
müssen, können Verständnisprobleme entstehen, wenn jemand aus der
einen Kultur seine Deutungen selbstverständlich für jedermann bekannt
unterstellt, jemand aus einer anderen Kultur aber diese nicht kennt oder
an ihrer Stelle andere hat. Aufgabe interkultureller Erziehung wäre es, solchen Verständnisproblemen im gemeinsamen Alltag nachzuspüren, sie in
ihrer kulturellen Bedingtheit deutlich zu machen, um so Missverständnisse aufzuklären oder ihnen vorzubeugen (...)
2) Umgang mit der Befremdung. Das Andere, Unbekannte, Fremde an einer anderen Kultur kann interessant sein; dann wirkt es exotisch. Im Alltag
verunsichert es zumeist die eigenen Handlungsgewissheiten, Weltsichten
und Wertüberzeugungen, weil es sich auf dieselben Alltagsbereiche richtet
wie die eigenen Deutungen und Orientierungen. Dann ist es nicht nur
fremd, sondern befremdlich und erzeugt unvermeidlich Irritation und zumeist Abwehr. Aus diesem Abwehrimpuls entsteht die direkte und indirekte Ablehnung des Andersartigen, wie sie sich hierzulande als Ausländerfeindlichkeit – oder genauer: Zuwandererfeindlichkeit – manifestiert. (...)
3) Grundlegung von Toleranz gegenüber den in einer anderen Kultur Lebenden und Denkenden, selbst wenn Teile dieser Kultur den eigenen Orientierungen und Wertüberzeugungen widersprechen; (...)
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Elly Geiger
»Deutsch – türkisch?«
4) Akzeptanz von Ethnizität, also der Präsentation kulturell bedingter Andersartigkeiten durch Angehörige ethnischer Minoritäten; hierzu gehört
auch die Einübung in einen reflektierten Umgang mit dem Fremdheitserlebnis, das durch die Auseinandersetzung mit der anderen befremdenden
Kultur ausgelöst wird und das eigene kulturelle Selbstverständnis in Frage
stellt; dabei wäre der eigene und unvermeidliche Ethno- oder Soziozentrismus ins Bewusstsein zu heben, um zu einer Haltung eines aufgeklärten
Eurozentrismus zu gelangen. Eine solche Akzeptanz von Ethnizität kann
sich auf den verschiedenen Institutionalisierungsebenen von Erziehung
und Bildung realisieren: in der verständnisvollen Reaktion auf lebensweltlich, d.h. kulturell bedingte Äußerungsformen, Kleidungsgewohnheiten
und -vorschriften oder religiös bestimmte Essensvorschriften im alltäglichen Umgang. (...)
Der Fremde lebt in Selbstverständlichkeiten, die mir alles andere als
selbstverständlich sind, häufig nicht nur exotisch, sondern auch falsch
vorkommen müssen, weil sie meinen eigenen Selbstverständlichkeiten
widersprechen. Seine Selbstverständlichkeiten, d.h. seine Lebenswelt und
Kultur, stellen meine Selbstverständlichkeiten, d.h. meine Lebenswelt und
meine Kultur in Frage; denn beides kann nicht zugleich richtig sein.. Jeder
aber muss seine Überzeugungen für die richtigen halten; denn sonst hätte
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er andere.«
Diese Aussagen beinhalten eine ganze Reihe von Behauptungen, Gleichsetzungen, Definitionen und Postulaten, die es lohnt, näher anzuschauen.
Vor allem anderen aber: In dieser Sichtweise von Wahrnehmungen, Deutungen, Reaktionen und Interaktionen ist das Individuum vollständig verschwunden.
Es agieren nicht mehr Individuen, sondern Ethnien und Kulturen bzw. die
agierenden Personen werden zu Medien, zu Trägerinnen und Trägern einer
genau auszumachenden, abgrenzbaren Ethnie bzw. Kultur gemacht, die sie
ohnmächtig exekutieren, was dann zum so genannten ›Kulturkonflikt‹ führt, in
1
Alle Zitate aus: Nieke, Wolfgang (1993), S. 110 ff. Diese zitierten Aussagen Niekes sind insofern
exemplarisch, als sie ohne weiteres in anderen Fachveröffentlichungen der Sozial- und Bildungsarbeit nachweisbar sind.
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»Deutsch – türkisch?«
Elly Geiger
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dem bekanntlich Samuel Huntington mögliche und wahrscheinliche Ursachen für künftige politische Konflikte und Auseinandersetzungen sieht.
Die so genannte Kulturkonflikthypothese ist einer der beliebtesten Mythen im
›Multi-Kulti-Diskurs‹.
Schauen wir uns die oben vorgetragene Argumentationskette noch einmal an:
Wir alle sind Angehörige einer bestimmten Ethnie, welche Besonderheiten in
Lebenswelt und Kultur meint; diese Besonderheiten werden als selbstverständliche Denkgrundlagen bezeichnet.
Das unvermeidliche Eingebundensein in diese selbstverständlichen Denkgrundlagen führt wiederum zum unvermeidlichen Ethnozentrismus.
Da sich begegnende ›Ethnien‹ so unvermeidlich und selbstverständlich ihre
Besonderheiten von Lebenswelt und Kultur für das einzig Richtige halten,
kommt es zu Verständnisproblemen, die eben ethnisch-kulturell bedingt sind.
Der Umgang mit dem Unbekannten, Fremden verunsichert, erzeugt Irritation
und Abwehr; die Ablehnung des Andersartigen manifestiert sich in Ausländerfeindlichkeit.
Es muss also geübt werden: der reflektierte Umgang mit dem Fremdheitserlebnis; Akzeptanz ist das Ziel; weg vom Ethnozentrismus hin zum Eurozentrismus.
Fremdheit und Befremdung
Zunächst möchte ich anknüpfen an das Fremdheitserlebnis, die Befremdung
durch die Begegnung mit der anderen Ethnie bzw. Kultur bzw. mit der fremden Person, die sich in Fremden- bzw. Ausländerfeindlichkeit manifestieren
kann. In dieser Argumentation wird Fremdenangst, Fremdenfeindlichkeit zur
anthropologischen Konstante, zum Bestandteil der menschlichen Natur, die
mit den konkreten gesellschaftlichen Bedingungen, innerhalb derer sie entsteht oder auch geschürt wird, nichts zu tun hat.
2
Es handelt sich um das zum Zeitpunkt seines Erscheinens heftig diskutierte Buch von Samuel
P. Huntington: Clash of Civilizations, deutsch: Kampf der Kulturen. Die Neugestaltung der
Weltpolitik im 21. Jahrhundert (1997)
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Elly Geiger
»Deutsch – türkisch?«
»Die Angst vor dem Fremden« ist aber, so Frank-Olaf Radtke, eben »keine
Naturvariante. Sie stellt die nachträgliche subjektive Rechtfertigung für tief in
der europäischen Tradition verwurzelte Praktiken der letztlich mörderischen
Ausgrenzung dar. Sie kann offenbar in solchen Situationen auf Knopfdruck
aktiviert werden, die durch Faktoren wie Wohnungsnot, Arbeitsplatzmangel
oder -verlust gekennzeichnet sind.« (Radtke 1993, S. 95)
Und Gertrud Nunner-Winkler schreibt: »Die These einer spezifisch modernen
Fremdenscheu (unterschlägt), dass aufgrund der Anonymität in modernen
Massengesellschaften ›der Fremde‹ eine erst neuerdings massenhaft auftretende und darum normalisierte Sozialkategorie darstellt: Im Straßenverkehr,
in den Geschäften – stets begegnen wir uns Unbekannten, die wir – anders als
dies etwa in geschlossenen Dorfgemeinschaften üblich oder möglich war –
längst zu ignorieren gelernt haben bzw. mit denen wir problemlos in eingegrenzte Interaktionen (etwa Erteilen einer Auskunft, Abwicklung kleinerer
Geschäfte) eintreten können.« (Nunner-Winkler 1997, S. 25-26)
Der oder die Fremde als, wie Nunner-Winkler sagt, normalisierte Sozialkategorie begegnet mir – und Ihnen – dauernd, ohne dass er oder sie mich im
mindesten verunsichert oder sogar Ablehnung oder Aggression entstehen:
Selbst habituell ausdrucksvolle Fremde, die häufig in Jugendkulturen oder
-subkulturen sich bewegen oder auch als national anders abstammend oder
zugehörig zu erkennen sind, irritieren mich nicht weiter: Mein Internist ist
Inder, mein Gemüsehändler ist schwul, mein Zeitungshändler hat andere
politische Auffassungen als ich, meine Nachbarin ist für autoritäre Erziehung
– so könnte ich fortfahren, meinen lebensweltlichen Kontext zu beschreiben
als einen, der bevölkert ist von Menschen, die anders sind als ich, anders
denken als ich und anders handeln als ich, die mir fremd oder Fremde sind. Es
irritiert mich nicht, es ärgert mich nicht, ich empfinde keine Abwehr.
Warum also die Rede von der unvermeidlichen Irritation und Abwehr?
Die Fremden, die im Multi-Kulti-Diskurs immer eigentlich gemeint sind, sind
die ethnisch-kulturell Fremden, insbesondere jene, denen gewissermaßen ins
Gesicht geschrieben ist, dass sie aus einer jener ›Kulturen‹ kommen, die im
zitierten Text als exotisch auf uns wirkend beschrieben sind.
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»Deutsch – türkisch?«
Elly Geiger
Sie und ihre ›Kultur‹ seien uns fremd, erzeugen Abwehr, so heißt es. Meine
selbstverständlichen Denkgrundlagen würden in Frage gestellt.
Eine kühne Behauptung, die voraussetzt, dass ich als Angehörige der ›deutschen Kultur‹ ein unverrückbares Paket an selbstverständlichen Denkgrundlagen besitze und mein ethnisch-kulturell fremdes ›Gegenüber‹ ebenfalls.
Kultur und Denken
Selbstverständliche Denkgrundlagen sind Kultur und gesellschaftliche Normalität, sie prägen Identität.
Nur: was sind noch selbstverständliche Denkgrundlagen, was ist gesellschaftliche Normalität, was ist – um in Deutschland zu bleiben – ›deutsche Kultur‹
und Kultur überhaupt? Schauen wir uns um:
Prozesse der Globalisierung und Individualisierung lassen Traditionszusammenhänge und Deutungsgemeinschaften zerfallen, es ereignet sich eine, wie
Ulrich Beck sagt, »Freisetzung aus lebensweltlichen Bindungen« nie gekannten Ausmaßes in rasantem Tempo. Es gibt eben keine selbstverständlichen
Denkgrundlagen mehr, und aus gesellschaftlicher Normalität sind gesellschaftliche Normalitäten geworden. Das Fremde ist das Normale geworden.
Es gibt keine geschlossene ›deutsche Kultur‹, es gibt Kulturen, Teil- und Subkulturen und internationale Suprakulturen, die entstehen, auftauchen, sich
verändern, verschwinden.
Es ist ja gerade Kennzeichen der Globalisierung, dass dieses Zerbröseln von
Traditionszusammenhängen, dieses Zerbrechen der Selbstverständlichkeiten,
der Zwang (und die Freiheit), sich sein eigenes, individuelles »Wertepaket« zu
basteln, eben nicht nur die hochentwickelten Industrienationen und die in
ihnen lebenden »Identitätsbastler« beschäftigen, sondern in zunehmender
Tendenz auch jene ›Kulturen‹, denen wir meinen hier tolerant begegnen zu
wollen, weil sie so fremd, so exotisch und so unveränderlich anders sind.
»Warum«, fragt Radtke, »werden die Neuankömmlinge« (und auch die hier
seit Generationen lebenden Migrantinnen und Migranten, könnte man ergänzen, E. Geiger), »die mit den Ansässigen den Wunsch nach Wohlstand, Anerkennung, Erfolg und sozialer Sicherheit teilen und mit denen sie angeblich
oder tatsächlich um Wohnungen, Arbeitsplätze, Karrierechancen und Sozial-
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Elly Geiger
»Deutsch – türkisch?«
leistungen konkurrieren, zu ›Fremden‹ gemacht, die doch offenbar keineswegs unkundig oder unfähig sind, die Spielregeln der sozialen Marktwirtschaft erfolgreich zu beherrschen? Neid, Geiz, Mißgunst und Eifersucht, ja
Aggression mögen die Folge verschärfter Konkurrenz sein. Aber hier handelt
es sich eigentlich gar nicht um ein speziell mit Fremdheit verbundenes Phänomen. Fast ist man versucht zu sagen: im Gegenteil.« (Radtke 1997, S. 3940)
Die kulturelle Identität, die man diesen ›Fremden‹ andichtet, wird im MultiKulti-Diskurs zum unveränderlichen Wesensmerkmal, das man den Fremden –
tolerant, wie man ist – ›lassen‹ will, damit sie keine Identitätsschwierigkeiten
bekommen. In diesem Verständnis ist Kultur eine »klar abgegrenzte, unabhängige und isolierte Entität (...) Die Welt gleicht einem Mosaik, dessen
Steinchen die Kulturen sind.« (Breidenbach;Zukrigl 1998, S. 21)
Es handelt sich hierbei um kulturdeterministische Zuschreibungen, die dem
Rassismus nicht unähnlich sind. Das Individuum wird unter ein statisches
Kulturverständnis subsummiert, in dem das Subjekt und sein Verhältnis zur
Gesellschaft verschwindet mit seiner Fähigkeit, sich Gesellschaft und ihre
Deutungssysteme anzueignen, sie zu verwerfen und zu verändern.
»Kultur«, so formuliert es Heidrun Czock, »ist ein in Bewegung befindliches
adaptionsfähiges System. Kultur stellt die symbolische Ordnung des sozialen
Lebens dar und muß in diesem Bezug ein dynamisches Moment enthalten.
Kultur ist danach kein statischer Block, sondern bleibt im Sinne einer Bewältigungsleistung auf praktische gesellschaftliche Probleme bezogen. Sie ist in
einem wechselseitigen Transformationsprozeß an die sozialen Strukturen
gebunden. Der Fundus kultureller Formen wird im Zuge der materiellen Umorganisation der Gesellschaft mit neuen Problemen konfrontiert, neue Formen
kommen hinzu, andere, obsolet gewordene treten in den Hintergrund. Kulturelle Muster bzw. Kulturpraktiken enthalten, da auf die materiellen und sozialen Verhältnisse gesellschaftlicher Teilgruppen bezogen, keine einheitliche,
territorial begrenzte Gültigkeit. Schon innerhalb einer nationalstaatlich begrenzten Gesellschaft ist daher mit unterschiedlichen Kulturen zu rechnen.«
(Czock 1993, S. 91-92)
Es war in einer ethnisch-national eingrenzbaren Gruppe von Menschen immer
schon ein kultureller Unterschied, ob man dem Konstrukt Mann oder Frau
zugeordnet wurde, ob man gebildet war oder nicht, welcher Klasse bzw.
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»Deutsch – türkisch?«
Elly Geiger
Schicht man angehörte, ob man vom Land kam oder in einer Großstadt lebte,
welche sexuelle Identität, welchen Glauben man hatte und praktizierte, etc.
Das hat sich nicht geändert, es ist eigentlich nur komplexer geworden.
»Die Idee des ›Volksgeistes‹«, kritisiert Radtke, »oder der ›völkischen Eigenart‹, die alle kulturellen Hervorbringungen bestimmt, bleibt auch nach dem
Reinigungsbad in der modernen sozialwissenschaftlichen Theorie an dem
Konzept ›Ethnizität‹ erkennbar. (...) An die Stelle des Rassenkonflikts, dem die
Absicht von Unterdrückung und Vernichtung anzusehen war, ist der ›Kulturkonflikt‹ getreten, der das Individuum gegen seinen Willen in unüberwindbare
Schwierigkeiten bringen kann. Ein ganzer Diskussionsstrang hat sich um
diese Konstruktion gebildet und im Erziehungs- und Gesundheitsbereich verheerende Wirkungen erzeugt.« (Radtke 1990, S. 29-30)
Verheerende Wirkungen?
Ein starker Vorwurf. Verfolgt man aber die politischen Diskussionen über
Integration und Einwanderung in Deutschland der letzten Jahre, ist augenfällig, dass das Konzept Ethnizität und die Kulturkonflikthypothese jenen politischen Akteuren die Munition geliefert haben, die Ausländer eben wegen ihres
prinzipiellen, ethnisch-kulturell bedingten Andersseins für nicht integrierbar
halten. Selbst der frühere Bundeskanzler Kohl bezog sich auf eine vermeintliche ›Kulturdifferenz‹, um die Türkei im Hinblick auf den von der Türkei gewünschten EU-Beitritt hinzuhalten.
Konsequenzen für die Jugendhilfe
Den Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeitern erleichterte die Ethnisierung
ihrer Klientel eine Reduktion des komplexen Arbeitsfeldes und der darin auftretenden Konflikte zwischen verschiedenen Adressaten-Gruppen, aber auch
zwischen den Professionellen und ihrer Klientel auf eine zentrale Perspektive:
auf den Kulturkonflikt.
Alles erschien erklärbar durch den Kulturkonflikt; alles erschien pädagogisch
bearbeitbar durch interkulturelle Pädagogik: Der Konflikt zwischen rivalisierenden Gruppen von Jugendlichen in einer Freizeitstätte z.B. war nun nicht
mehr ein Kampf um das Territorium Freizeitstätte, um die Aufmerksamkeit der
Mädchen in der Einrichtung usw., sondern mutierte zum Kampf der Kulturen
20
Elly Geiger
»Deutsch – türkisch?«
im Mikrokosmos Jugendarbeit, dem mit interkultureller Toleranzpädagogik
entgegengetreten wurde. Die Projekte und Maßnahmen der so genannten
interkulturellen Begegnung sind Legion: interkulturelle Friedensfeste, interkulturelles Fußballspielen, türkische Kochkurse, Einführung in die afrikanische Kultur durch Trommelkurse, kurdischer Volkstanz etc.
Diese pädagogische Konzeption und Praxis geht an der Lebenswirklichkeit
der Mehrzahl der Jugendlichen vorbei. So findet man im Forschungsprojekt
Jugendliche in ethnisch heterogenen Milieus. Die Entwicklung multikultureller
Lebenswelten als alltäglicher Prozess den Befund: »in der Jugendarbeit (hat
sich) häufig eine Praxis durchgesetzt, wonach Jugendliche als Exponenten
ihrer nationalen und ethnisch-kulturellen Herkunft zum Gegenstand sozialpädagogischen Handelns werden. Dies selbst dann, wenn sie in ihrem Verhalten
längst deutlich machen, dass in ihrem Umgang mit ihresgleichen und anderen
nicht einzig oder vornehmlich die ethnisch-kulturelle Karte sticht. Wohlgemerkt, es geht nicht um die generelle Zurückweisung eines kulturellen Blicks
auf Jugendliche, wohl aber um Einlassungen und Widerständigkeit gegen
seinen hegemonialen Erklärungsanspruch im Alltag von Jugendlichen.«
(Lösch, H. u.a. 1998, S. 10)
Wenn ich morgens mit der U-Bahn zu meiner Arbeitsstelle fahre, habe ich
Gelegenheit eine größere Anzahl von Schülerinnen und Schülern einer ganz in
der Nähe liegenden Berufsschule zu beobachten. Die Schule wird erkennbar
von einer großen Anzahl von Schülerinnen und Schülern besucht, die nach
ihrem äußeren Aussehen nicht so ohne weiteres als Deutsche durchgehen
würden.
Diese Jugendlichen erstaunen mich, sie befremden mich auch: aber nicht, weil
sie erkennbar ethnisch-kulturell zuzuordnen und mir also ethnisch-kulturell
fremd sind, sondern weil sie geeignet sind, sämtliche Klischees und Kulturstereotype auszuhebeln: Ich sehe (vermutlich) türkische, vielleicht auch arabische, wahrscheinlich moslemische Mädchen mit einem Kopftuch; ich sehe
(vermutlich) türkische, vielleicht auch arabische Mädchen, die kein Kopftuch
tragen und eigentlich so ohne weiteres gar nicht mehr als Mädchen erkennbar
sind, weil sie – mit superweiten Schlabberhosen und riesigen Daunenjacken –
habituell als sich zugehörig zur Hip-Hop-Subkultur, zumindest temporär, sich
outen. Das kann sich ändern: das Hip-Hop-Mädchen, türkisch oder deutsch,
das heute mit Sackhosen daherkommt, nutzt morgen die Symbole einer ande-
21
»Deutsch – türkisch?«
Elly Geiger
ren Konstruktion von Weiblichkeit und vielleicht auch Ethnizität und trägt
hautenge Röcke mit oder ohne Kopftuch.
Manchmal umarmen sich die Mädchen, manchmal die Mädchen und Jungen,
manchmal die Jungen die Jungen; die Jugendlichen sprechen deutsch, dazwischen Brocken Türkisch, es werden Sprach- und kulturelle Codes getauscht,
die ich nicht verstehe. Ihr Verhalten lässt eben keine ethnisch-kulturelle Sortierung zu; habituell ist selbst eine Sortierung Mädchen/Junge manchmal
schwierig.
Vermutlich könnte ich über das eine oder andere Mädchen sagen: sie ist türkischer Herkunft. Aber was sagte mir das?
Nicht einmal der selbstverständliche und kompetente Umgang mit der türkischen Sprache kann mit dieser Zuschreibung verbunden werden. Es gibt unterdessen massenhaft Heranwachsende aus z.B. türkischen Familien, die
besser Deutsch als Türkisch sprechen und die eine Identität, auch sprachliche
Identität besitzen, die in keines unserer Denkmuster mehr hineinpasst.
Sprache ist ein bedeutender Teil persönlicher Identität. Und da wir uns in
Deutschland, in diesem oben geschilderten Fall der Jugendlichen im Umfeld
einer Münchener, also deutschen Schule befinden, könnte man meinen, dass
Deutsch die sprachliche Interaktion der Jugendlichen dominiert, dass überhaupt ›das Deutsche‹, soll heißen: die »deutsche Kultur« die Interaktion dominiert. Dies ist nach meiner Wahrnehmung nicht der Fall.
Peter Auer und Andreas Hieronymus haben in einer soziolinguistischen Untersuchung von Jugendlichen einer Schule in Hamburg festgestellt, dass die
türkische Sprache, die – neben dem Deutschen in Deutschland unterdessen
bei weitem wichtigste Sprache – in Teilen auch von nicht-türkischen Jugendlichen angeeignet und verwendet wird und daraus ein neues, drittes Idiom
entsteht, das situativ von den Jugendlichen verwendet wird und nur ihnen
verständlich ist.
Jugend und Identität
Haben diese Jugendlichen Identitätskonflikte?
Identität ist, so heißt es, die als »Selbst« erlebte innere Einheit der Person.
Identitätsentwicklung und -bildung sind zentral für die Entwicklungsphase
22
Elly Geiger
»Deutsch – türkisch?«
Jugend. Und am Ende dieses Entwicklungsprozesses steht ein (erwachsener)
Mensch, der eine besondere Person ist und eine klar umrissene Identität hat.
Eine Identität als Mann oder Frau zu entwickeln z.B., gehört zum Entwicklungsprogramm junger Menschen.
Die Zugehörigkeit zu einem Geschlecht, die soziale Abkunft, die ethnischkulturelle Abkunft, das Leben in der Metropole oder auf dem Land etc. prägen
Identität.
Kein Zweifel.
Aber auch hier ist es so, dass Identität kein einmal gepackter Rucksack ist,
den ich mein Leben lang mit mir herumschleppe. Identität ist kontextgebunden, eingebettet in konkrete gesellschaftliche Verhältnisse. Individuen – und
auch Gruppen – haben ein reflexives Verhältnis zur Gesellschaft, in der sie
leben, zu deren Normen und Werten.
Die Lebenspraxis von Individuen und deren individuelle und kollektive Identität erfahren ihre Sinnhaftigkeit und Brauchbarkeit nur und ausschließlich im
ambivalenten und widersprüchlichen Prozess der Aneignung und Auseinandersetzung mit den sie umgebenden materiellen und immateriellen gesellschaftlichen Bedingungen.
Und auch diese, nämlich die gesellschaftlichen Verhältnisse, befinden sich in
einem ständigen Änderungs- und Verwandlungsprozess. Die Individuen sind
gezwungen, damit umzugehen.
Ich plädiere hier für ein Verständnis von Identität als eine Art lebendigen Organismus, der aus verschiedenen Teilidentitäten sich zusammensetzt, die in
ihrer Existenz und Bedeutung immer wieder sich wandeln, neu entstehen,
vergehen, stärker oder schwächer betont, mal hervorgekehrt, mal verborgen
werden – je nach individuellem Bedürfnis, sozialem Kontext, gesellschaftlichen Vorgaben und Zwängen, vorhandenen Ressourcen, biographischen Ereignissen usw.
Identität ist also – teilt man diese Beschreibung – etwas, was in Zeit und
Raum in ständiger Veränderung sich befindet, immer wieder konstruiert wird
und keinen Abschluss erfährt.
Dieses Verständnis von Identität steht in einem Widerspruch zu den teils
expliziten, teils impliziten Annahmen über ethnisch-kulturelle Identität bei
23
»Deutsch – türkisch?«
Elly Geiger
Migrantinnen und Migranten, die nachhaltig ihre Wirksamkeit in der Praxis
sozialer Arbeit entfaltet haben.
Gerade in diesem Bereich wird jener Rucksack angedichtet, ich möchte fast
sagen: ihnen gegen ihren Willen aufgeschultert, der sie festschreibt auf eine
erkennbare, klar abgrenzbare und ethnisch-kulturell determinierte, unveränderbare Identität, die – egal in welchen Verhältnissen sie leben – ihr Denken
und Handeln bestimme.
Mecheril (1997), der in Bielefeld über Migranten – ›andere Deutsche‹, wie er
sie nennt – forscht, kritisiert an der oben skizzierten Ansicht über kulturelle
Identität und Kultur- und Identitätskonflikte bei den anderen Deutschen
hauptsächlich zwei Aspekte:
•
dass die von Migrantinnen und Migranten erlebten Konflikte primär als
Kulturkonflikte definiert werden;
•
dass die Erfahrung kultureller Inkonsistenz immer nur ein Handicap sei.
Bikulturelle Identität wird als eine spannungsreiche und bedrohte Identität gesehen, weil die personale Identität in ihrer gelungenen Variante
nur einwertig sei.
Gegen den Mythos, dass die von Migrantinnen und Migranten erlebten Konflikte immer als Kultur-Konflikte erlebt werden, wendet er ein, »daß es eine
Reihe weiterer Themen gibt, die neben und gegebenenfalls vor dem ›Kulturthema‹ für Andere Deutsche vordergründig und grundlegend sind. Anzuführen
ist hier das Thema ›Rassismus‹, aber auch das Thema ›Verwehrte Möglichkeiten der gesellschaftlichen Partizipation‹ usw. (...) Neben diesen Themen, die
aus der spezifischen Lebenssituation Anderer Deutscher resultieren, müssen
wir aber – so profan es klingen mag – davon ausgehen, daß auch allgemein,
geschlechts- oder schicht- bzw. klassenspezifisch bedeutsame Themen wie
Berufswahl, Arbeitslosigkeit, Zukunftsgestaltung und materielle Zukunftssicherung, eigene Kinder, Partnerschaft, Krankheit und Gesundheit usw. für
Andere Deutsche im Vordergrund stehen. Der Mythos, daß sich die Lebenssituation Anderer Deutscher deskriptiv oder analytisch auf den ›Kulturkonflikt‹
reduzieren lasse, kann folglich als eine ungebührliche Pauschalisierung bezeichnet werden, die die Lebenssituation von Anderen Deutschen kulturalisiert.« (Mecheril 1997, S 91)
24
Elly Geiger
»Deutsch – türkisch?«
Und gegen die vermeintliche pathogene Qualität eines ›Lebens zwischen den
Kulturen‹ argumentiert er:
»Der (...) Mythos, daß die Erfahrung kultureller Inkonsistenz ein Handicap sei,
ist eine einseitige Diagnose, die die andere Seite – die der positiven Möglichkeiten, die in der Lebenssituation (...) angelegt sind – nicht in den Blick geraten lässt. In der Lebenssituation können Chancen und Risiken ausgemacht
werden. Das Risiko eines Lebens in, zwischen oder jenseits von zwei Kulturen
besteht unter Umständen in der Möglichkeit der Verunsicherung und der
Orientierungslosigkeit, zu deren individuellen Bewältigung keine adäquaten
Mittel zur Verfügung stehen. Aber dieser ›multi- oder interkulturelle‹ Aufenthalt kann auch als Freisetzungserfahrung und Freisetzung aus dem Verbindlichkeits- und Vorgabenpool sozialer Gemeinschaften beschrieben werden,
die das Individuum befähigen kann, in ein reflektiertes Verhältnis zu seinen
eigenen Handlungen, Wahlen, Absichten, Neigungen, Vorlieben, Sehnsüchten, Idealen usw., kurz: zu sich selbst zu treten.« (Mecheril 1997, S. 91)
Ist es nicht so, dass die Hilflosigkeit vor dem Uneindeutigen, vor den mehrkulturellen »Hybriden« die Apologeten der Kultur-Konflikt-Theorie in ein dichotomes, paternalistisches Weltbild »Wir und die Anderen« zwingt?
Das, was sie zu entdecken geglaubt haben, haben sie überhaupt erst konstruiert: Ethnisch-kulturelle Unterschiede als wissenschaftlich gestütztes
Erklärungsmodell für gesellschaftliche Desintegrationserscheinungen und
-prozesse, Kulturkonflikte als Folie, auf der Konflikte verstehbar und handhabbar gemacht werden.
Wir alle machen die Erfahrungen rasanter gesellschaftlicher Veränderungen,
kultureller Brüche, persönlicher Krisen und inkonsistenter Identitäten, die uns
vor hohe Anforderungen stellen. Die Identitäten werden konstruiert, die Bedeutungen und Verbindlichkeiten müssen ausgehandelt werden. Meine Identität, mein »Selbst« entsteht jeden Tag neu in einem reflexiven Prozess, den
ich bis zum Ende meines Lebens gestalten werde – und muss.
Dies ist für hier lebende »Andere Deutsche«, wie Mecheril sie nennt, nicht
anders.
Die Jugendlichen der Schule, die ich beschrieben habe, sind ein konkretes,
lebendiges Beispiel dafür.
25
»Deutsch – türkisch?«
Elly Geiger
Zusammenfassung
Wir sollten nicht das Geschäft derer besorgen, die Unterschiede in den Orientierungen und Lebensgewohnheiten zu unveränderlichen Wesens- und Kulturunterschieden erheben, um dann, sozialwissenschaftlich begründet, die
»Anderen«, die »Fremden« außen vor lassen zu können, Ihnen elementare
Teilhabe zu verweigern. Das Reden von den ausländischen ›Mit‹Bürgern ist
ein beredtes Beispiel für die Legitimation einer kulturkonflikt-gestützten Verordnung einer Randexistenz von Migrantinnen und Migranten.
Die Diskussion um die doppelte Staatsbürgerschaft ist ein folgenreiches Beispiel dafür, was der Siegeszug ethnischer Semantiken, die zum festen Bestandteil national-konservativer und auch rechter Politikkonzepte geworden
sind, an fatalen Effekten bewirkt hat.
Ich möchte mit der Selbstbeschreibung eines jungen Türken abschließen, der
nachdenklich über Identität macht:
»Ich fühle mich eher (als) so eine Art Mischprodukt, ja, weil das ändert
sich immer nach Sachlage. Also wenn es sich um politische Sachen
handelt oder ja, wirklich so politisch und mit sozialen Inhalten, bestimmten Themen, ich fühle mich da schon eher türkisch, weil ich hab‘
da andere politische Kultur, andere politische Tradition sozusagen, ja,
und deswegen so. Bei anderen Sachen, sagen wir mal Freundschaft,
Arbeit und Studium oder sonst was, da fühle ich mich eher (als) Deutscher, weil diese meinen Vorgehensweisen entsprechen, das weiß ich
schon, weil ich nichts anderes gelernt habe in dieser Hinsicht, ich meine, ich kenne ja nichts anderes als das, was ich hier gelernt habe, verstehst Du? Also nicht, dass ich das unbedingt das so bewirkt hab‘, weil,
es hat sich so ergeben. Wir sind eigentlich also ein Mischprodukt aus
beiden Kulturen«. (Atabay 1998, S. 186)
26
Elly Geiger
»Deutsch – türkisch?«
Literatur
Atabay, Ilhami (1998): Zwischen Tradition und Assimilation. LambertusVerlag, Freiburg i. Breisgau.
Auer, Peter; Hieronymus, Andreas (Hrsg.) (1997): Das versteckte Prestige des
Türkischen. In: Kreisjugendring München-Stadt, S. 77 ff.
Beck, Ulrich (1. Auflage 1986): Risikogesellschaft. Suhrkamp-Verlag, Frankfurt.
Breidenbach, Joana; Zukrigl, Ina (1998): Tanz der Kulturen. Kulturelle Identitäten in einer globalisierten Welt. Antje-Kunstmann-Verlag, München.
Czock, Heidrun (1993): Der Fall Ausländerpädagogik. Cooperative-Verlag,
Frankfurt.
Huntington, Samuel P.(1997) : Kampf der Kulturen. München, Wien.
Kreisjugendring München-Stadt (Hrsg.) (1997): Multikulturalität in den Metropolen, München.
Lösch, Hans u.a. (1998): Multikulturelle Lebenswelten. In: DJI-Bulletin, H. 45.
Mecheril, Paul (1997): Kulturkonflikt oder Multistabilität? Zugehörigkeitsphänomene im Kontext von Bikulturalität. In: Kreisjugendring München-Stadt
(Hrsg.), a.a.O.
Nieke, Wolfgang (1993): Wie ist interkulturelle Erziehung möglich? In: Kalb;
Petry; Sitte (Hrsg.): Leben und Lernen in der multikulturellen Gesellschaft.
Zweite Weinheimer Gespräche. Beltz-Verlag, München, Basel.
Nunner-Winkler, Gertrud (1997): Wider die Mystifizierung des Fremden. In:
Kreisjugendring München-Stadt (Hrsg.), a.a.O.
Radtke, Frank-Olaf (1990): Der Beitrag der Wissenschaften zur Konstruktion
ethnischer Minderheiten. Vorwort in: Dittrich; Radtke (Hrsg.): Ethnizität.
Westdeutscher Verlag, Opladen.
ders.. (1993): Multikulturalismus – Ein Gegengift gegen Ausländerfeindlichkeit
und Rassismus? In: Heßler (Hrsg.): Einwanderung und Fremdenfeindlichkeit in der Bundesrepublik Deutschland. Hitit-Verlag, Berlin.
Elly Geiger, Leiterin der Abteilung für Grundsatzfragen der Jugendarbeit und
Jugendpolitik beim Kreisjugendring München-Stadt
27
Die Situation jugendlicher Migrantinnen und Migranten Richard Münchmeier
Die Situation jugendlicher
Migrantinnen und Migranten
Richard Münchmeier
Gesellschaftliche Bedingungen
Die gesellschaftliche Realität der Bundesrepublik Deutschland ist in der Gegenwart und wird in der Zukunft dadurch gekennzeichnet sein, dass in ihr
Menschen aus unterschiedlichen Kulturen leben, Menschen, die teils schon
hier geboren wurden, teils aus unterschiedlichen Gründen hierher gezogen
sind (Motte u.a. 1999). Der analytische soziologische Begriff einer »multikulturellen Gesellschaft« hebt zunächst einmal auf diese Realität einer ethnisch,
national, religiös, kulturell gemischten Bevölkerung ab und stellt Gesellschaft
und Politik vor die Frage, welche Art des Zusammen- oder Nebeneinanderlebens, der Integration, Assimilation oder Segregation angestrebt werden soll.
Schon die Tatsache freier Wanderungsmöglichkeiten innerhalb der EU zeigt,
dass sich Fragen interethnischen Zusammenlebens vermehrt stellen werden.
Verstärkt wird dies noch durch Umbruchprozesse und bewaffnete Konflikte in
Ost- und Südosteuropa und anderen Regionen der Welt sowie durch den Beitritt neuer zentral- und osteuropäischer Länder zur EU — alles Entwicklungen,
die weitere Wanderungsbewegungen auslösen werden.
28
Richard Münchmeier Die Situation jugendlicher Migrantinnen und Migranten
Multikulturalität
Der Ausdruck »Multikulturelle Gesellschaft« tauchte etwa Mitte der achtziger
Jahre in intellektuell-liberalen sowie in kirchlichen Kreisen im urbanen Milieu
Westdeutschlands auf, nachdem die Zuwanderungszahlen von Ausländern
angestiegen waren und Integrationsprobleme virulent wurden. In den USA hat
der Begriff eine weiter zurück reichende Geschichte bis in die 1920er Jahre. Er
entstand dort, als es wegen wirtschaftlicher Probleme (Börsenkrach) und
immer größerer Zahlen von Immigranten unmöglich geworden war, an der
traditionellen Akkulturations- und Assimilationspolitik des »melting pot«
festzuhalten. Außerdem brauchte man die ethnischen Selbsthilfe- und Unterstützungsnetze (Familienclans, subkulturelle Solidargemeinschaften), um
eine totale Verelendung dieser Gruppen zu verhindern (Tilly 1990). In
Deutschland haben die Debatten um Multikulturalität ihren Höhepunkt in der
öffentlichen, politischen Diskussion im Vorfeld der Änderung des Artikel 16
des Grundgesetzes (sog. »Asylparagraph«) 1993 gefunden. Seither ist die
Debatte um Multikulturalität spürbar zurückgegangen. Vonseiten der Sozialwissenschaften liegen inzwischen Ansätze zu einer Kritik des Konzepts »Multikulturelle Gesellschaft« als konfliktblind und praktisch schwer einlösbar vor
(Münz u.a. 1999).
Mit dem Konzept »Multikulturelle Gesellschaft« sollte ursprünglich nicht die
Realität, der empirische Zustand einer Gesellschaft beschrieben, sondern ein
normatives Leitbild formuliert werden. Seine Intention war es, einen Beitrag
zur Lösung der Integrationskonflikte mit Minderheitsangehörigen durch Verpflichtung auf weitgehende interkulturelle Toleranz zu leisten (Hamburger
u.a. 1997, 214 ff.). Erst durch den Prozess der Trivialisierung in den Medien, in
den Parolen populistischer Politik (jedweder Couleur) hat sich das Missverständnis eingeschlichen, man könne mit Bezug auf Deutschland auch im empirischen Sinne von Multikulturalität sprechen. Dem steht nicht zuletzt ein
Staatsbürgerschaftsrecht entgegen, das am Abstammungsprinzip einerseits
und am Integrationsprinzip andererseits festhält. Wer das deutsche Bürgerrecht erwerben will, muss – in einem gewissen Mindestumfang auch im kulturellen Sinn, z.B. durch Erwerb deutscher Sprachfertigkeit – »Deutscher« werden wollen. Multikulturalität im normativen, konzeptionellen Sinn würde aber
ein akzeptierendes »Miteinander« (und nicht bloß ein Nebeneinander) bei
Toleranz der Verschiedenheit und der Unterschiedlichkeit der Kulturen und
29
Die Situation jugendlicher Migrantinnen und Migranten Richard Münchmeier
Sprachen etc. implizieren. Ob dies gesellschaftliche Realität ist, mag mit guten Gründen bezweifelt werden (Radtke 1992), obwohl – durch die Tendenzen
zur Entmischung und Ballung von Ausländern in bestimmten Stadtvierteln –
bestimmte städtische Sozialräume durchaus äußerlich betrachtet den Eindruck des Zusammenlebens vielfältiger Kulturen machen.
Die öffentliche Debatte über Probleme, Chancen und Gestaltungsmöglichkeiten des sozialen und politischen Lebens einer multikulturellen Gesellschaft
hat vielfältige politische und sozialwissenschaftliche Diskussionen entfacht.
Neben diesen Diskussionen um die multikulturelle Gesellschaft, nimmt die
Frage der »Akzeptanz von Fremdheit« vonseiten der Mehrheitsgesellschaft
bzw. deren dominanten Gruppen und Kulturen heute eine gesellschaftspolitische Schlüsselposition ein. Es handelt sich dabei um eine Problematik, die
auch von großer Relevanz für Jugendpolitik und somit auch für Jugendarbeit
und Jugendsozialarbeit ist.
Partielle Integration
Der Status von Arbeitsmigranten bzw. Angehörigen ethnischer Minderheiten
in der »deutschen Version« einer multikulturellen Gesellschaft kann als ein
Zustand partieller Integration bei gleichzeitiger partieller Ausgrenzung charakterisiert werden. Diese Situation partieller Integration und Teilausgrenzung wurde bereits in vielen Forschungsarbeiten sowohl hinsichtlich der sozial-strukturellen Dimensionen von Integration (z.B. hinsichtlich des rechtlichen
Status von Migranten in der Gesellschaft; ihrer Positionierung im Bildungswesen sowie auf dem Ausbildungs-, Arbeits- und Wohnungsmarkt) als auch
hinsichtlich der sozialen Integration in Primärgruppen und Kultur festgestellt.
Am deutlichsten und am problematischsten manifestiert sich bisher das Phänomen der sozialen Ausgrenzung im politischen Bereich, wo Arbeitsmigranten
bzw. Minderheitsangehörige auf Grund ihres rechtlichen Status nicht oder nur
in eingeschränktem Maße am Prozess politischer Meinungsbildung bzw. politischer Entscheidung partizipieren können. Auch wenn mit der Novellierung
des Staatsbürgerschaftsgesetzes von 1999 diese Situation sich insbesondere
für Jugendliche ändern wird, bleibt dieser Bereich von »Integration«, auch
wegen des in der Gesellschaft vorherrschenden politischen und sozialpsychologischen »Klimas«, höchst sensibel und problematisch.
30
Richard Münchmeier Die Situation jugendlicher Migrantinnen und Migranten
In bestimmten (nicht immer) unterprivilegierten Schichten und Gruppen der
Mehrheitsgesellschaft werden Stimmen laut, »Ausländer«, »Fremde« nicht
nur weiter wie bisher von bestimmten Rechten und Partizipationsmöglichkeiten auszuschließen, sondern sie sogar aus erreichten Positionen zu verdrängen. Diese Stimmen finden, wie man seit geraumer Zeit beobachten kann,
ihren Ausdruck auch in der allgemeinen politischen Auseinandersetzung,
wobei Diskussionen, wie sie bezüglich der Veränderung des Asylrechts oder
vor kurzem der Novellierung des Staatsangehörigkeitsgesetzes bzw. der
eventuell gesetzlichen Regelung einer möglichen doppelten Staatsangehörigkeit erlebt wurden, schwer einschätzbare Konsequenzen für das Verhältnis
zwischen Mehrheits- und Minderheitsgruppen innerhalb der multikulturellen
Gesellschaft haben können.
Migration im Wandel
Dennoch und trotz der genannten politischen Auseinandersetzungen kann
faktisch die zunehmende Multikulturalität und Multiethnizität des Gemeinwesens, insbesondere in den Ballungsgebieten, nicht geleugnet werden. Dabei
sind seit Ende der 80er Jahre in engem Zusammenhang mit dem Prozess der
deutschen Vereinigung entscheidende Veränderungen eingetreten, sowohl in
den Einstellungen der Mehrheitsgesellschaft zur eigenen »Identität« und zu
den ethno-kulturellen Minderheiten als auch in den Einstellungen der Migranten zur deutschen Gesellschaft. Diese Wandlungsprozesse kommen heute zu
ihrer vollen Entfaltung. So ist z.B. unter bestimmten Migrantenpopulationen,
insbesondere solchen türkischer Herkunft, eine Veränderung des Selbstverständnisses festzustellen. Sie fühlen sich heute eher als Angehörige einer
ethnischen Minderheit denn als vorübergehend in Deutschland lebende
»Gastarbeiter« oder »ausländische Arbeitnehmer« bzw. »ausländische Mitbürger«. Als Ausdrucksformen dieses veränderten Selbstverständnisses können Phänomene gelten wie eine immer längere Aufenthaltsdauer in Deutschland, die Entwicklung eigener sozialer und kultureller Sub-Systeme (»Einwandererkolonien«), über die Migranten viele Probleme des Alltags lösen und
über die sie leichter mit ihrer deutschen Umwelt eigene Interessen aushandeln; die zunehmenden Betriebsgründungen in Deutschland vonseiten türkischer und anderer Migranten sowie deren Investitionen in Wohnungskauf.
31
Die Situation jugendlicher Migrantinnen und Migranten Richard Münchmeier
Auch das Entstehen einer zweiten und dritten Generation, die ihre Zukunft
ausschließlich in Deutschland sieht, ist Bestandteil eines solchen Wandels.
Die jugendlichen Migranten leben im Spannungsfeld zwischen »Teil-Integration« und »Teil-Ausgrenzung«, ein Aspekt, der bei der Analyse ihrer Lebenslage mit einbezogen werden muss: Die Lebenslagen und Arbeitswelten
von jugendlichen Migranten werden von den Modernisierungs- und Wandlungsprozessen, die zur Zeit in modernen Industriegesellschaften stattfinden,
in besonderem Maße bestimmt. Der Wandel von der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft hat das Verschwinden unqualifizierter Arbeitsplätze, immer
längere Qualifizierungsphasen für junge Menschen, schwierige Konkurrenzbedingungen, neue Unterschichtungsphänomene und das Schwinden der Integrationskraft des Arbeitsmarktes zur Folge.
Die Beschäftigungssituation der jungen ArbeitsmigrantInnen spiegelt deren
allgemeine Situation von partieller Eingliederung bei gleichzeitiger Marginalisierung wider: Es ist festzustellen, dass sie in weniger attraktiven Tätigkeitsbereichen überrepräsentiert sind, insbesondere im Baugewerbe (13,6 Prozent), im verarbeitenden Gewerbe (11,6 Prozent) und in Land- und Forstwirtschaft (13,5 Prozent). In den prestigeträchtigeren und besser bezahlten Bereichen, wie z.B. dem Versicherungs- und Banksektor (2,5 Prozent) und im öffentlichen Dienst (Gebietskörperschaften 3,4 Prozent), liegt ihr Anteil noch
weit unter dem Durchschnitt der Gesamtarbeitnehmerschaft (Lederer, 1997).
Auch bei den registrierten und nicht registrierten Arbeitslosen sind vor allem
die jugendlichen ArbeitsmigrantInnen überrepräsentiert.
Die schlechte Arbeitsmarktsituation in der Bundesrepublik hat auch zur Folge,
dass die Zahl der betrieblichen Ausbildungsplätze in der Bundesrepublik
sinkt, während gleichzeitig die Zahl der BerwerberInnen ansteigt (insbesondere in den neuen Bundesländern; vgl. Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Technologie 1997).
Durch die zunehmende Konkurrenz bei der Ausbildungsplatzsuche werden die
Probleme für jugendliche MigrantInnen sowie andere sozial benachteiligte
Jugendliche und generell für junge Frauen größer: Sie werden auf dem engen
Ausbildungsstellenmarkt ab 1994 zunehmend ausgegrenzt.
32
Richard Münchmeier Die Situation jugendlicher Migrantinnen und Migranten
Miteinander – Nebeneinander – Gegeneinander:
Zum Verhältnis von deutschen und ausländischen Jugendlichen
Für den Alltag in einer so genannten multiethnischen Gesellschaft spielen
nicht allein die Angebote von ausländerpädagogischen Maßnahmen, von
Begegnungs- und Integrationsprojekten eine Rolle. Wichtiger ist das Ausmaß
der informellen Begegnungsmöglichkeiten und die Art des zwanglosen Umgangs miteinander. Zwischen den Polen Miteinander, Nebeneinander und
Gegeneinander pendelt sich die spezifische Qualität einer multikulturellen
Umgangskultur ein, und macht sie auch ihre Probleme. Zur Klärung dieser
Umgangskultur greife ich auf die Befunde der 13. Shell Jugendstudie (2000)
zurück. Danach lässt sich folgendes Bild zeichnen.
Begegnung – in der Schule ja, sonst aber kaum
Die einfachste Frage, die sich in unserem Zusammenhang stellen lässt, ist:
»Wie häufig hast Du mit ausländischen Jugendlichen zu tun?«. Gefragt waren
nur Deutsche. Die Jugendlichen hatten die Möglichkeit, zwischen vier Antwortvorgaben von »sehr häufig« bis »überhaupt nicht« zu wählen. Die Ergebnisse sind eindeutig: fast ein Viertel der jungen Deutschen bekundet, »überhaupt nicht« mit ausländischen Altersgenossen zu tun zu haben; fast die
Hälfte (46,9%) gibt an »weniger häufig«. Das sind zusammengenommen gut
zwei Drittel. Und das bedeutet, dass wir davon auszugehen haben, dass sich
Begegnung und Kontakt zwischen deutschen und ausländischen Jugendlichen
eher noch in Grenzen halten und bei der großen Mehrheit eher selten sind.
Es fällt aber auf, dass Schüler und – noch deutlicher – Studenten häufiger
Kontakte zu Ausländern angeben. Ihre Prozentwerte für »häufig« und »sehr
häufig« steigen auf 37,1% (Schüler) bzw. 41,1% (Studenten). Die besondere
Bedeutung der Bildungsinstitutionen für die Begegnung von jungen Leuten
verschiedener Nationalität wird hier bereits sichtbar (vgl. ausführlicher dazu
weiter unten). Dagegen scheinen in der Arbeitswelt, also bei Auszubildenden
und Berufstätigen, auch bei Arbeitslosen – anders als man vielleicht vermuten
würde – Erfahrungen mit Ausländern seltener als im Durchschnitt zu sein.
Lässt man die Auszubildenden unberücksichtigt (weil in ihrer Situation die
Pflichtberufsschule immer noch für Begegnungen sorgt), so sind es weniger
33
Die Situation jugendlicher Migrantinnen und Migranten Richard Münchmeier
als ein Viertel der berufstätigen Jugendlichen, für die Kontakte mit ausländischen Jugendlichen normal, weil häufig sind.
Ein genauerer Blick zeigt überdeutlich, dass zu diesem Gesamtbefund vor
allem Jugendliche aus Ostdeutschland beitragen. Für sie gilt: nach ihren Auskünften haben sie so gut wie gar keinen oder nur weniger häufigen Kontakt zu
Nichtdeutschen. Fasst man die Antworten »überhaupt nicht« und »weniger
häufig« zusammen, so trifft das für mehr als 90% der ostdeutschen Jungen
und Mädchen zu.
1
»Die Deutschen ziehen hier alle weg« – Wohnverhältnisse
Die Prozesse der Segregation und Verdichtung von Ausländern und ausländischen Familien in bestimmten Wohnvierteln, ja sogar Mietwohnungen – die
hier nicht weiter zu verfolgen sind – beschäftigen seit langem Urbanisten und
Stadtplaner. Sie haben dazu geführt, dass Deutsche und Ausländer immer
noch relativ »entmischt« jeweils in ihren eigenen Wohnumgebungen leben.
Auch dies ist ein starker Einwand gegen die Vorstellung, Multikulturalität sei
eine Beschreibung der Realität.
Wir haben deutsche und ausländische Jugendliche danach gefragt, ob sie in
ihrem Haus und in ihrer Wohngegend überwiegend mit deutschen Familien,
mit ausländischen Familien oder (im Fall der Wohngegend) mit etwa gleich
vielen deutschen und ausländischen Nachbarn wohnen. Die Ergebnisse zeigen deutlich, dass Differenzierungen der geläufigen Thesen von Entmischung
und Separation notwendig sind. Während die deutschen Jugendlichen fast
alle (94 %) mit deutschen Hausnachbarn leben und die italienischen Altersgenossen noch recht gut integriert sind (71% mit deutschen), geben mehr als
die Hälfte (55%) der jungen Türken an, in Häusern mit überwiegend türkischen Familien zu leben. Die Segregation betrifft also vor allem Jugendliche
türkischer Nationalität und ihre Familien. Keinesfalls darf andererseits übersehen werden, dass nach den Angaben der Befragten fast 44% der türkischen
Familien mit deutschen Nachbarn leben.
1
Zitat eines türkischen Jugendlichen aus einem explorativen Interview.
34
Richard Münchmeier Die Situation jugendlicher Migrantinnen und Migranten
Interessant ist der deutliche Zusammenhang mit dem Ausstattungsniveau
(nach »Ausstattungsindex«) der Jugendlichen. Wie zu erwarten ist, leben umso mehr deutsche Jugendliche in Häusern mit ausländischen Nachbarn, je
geringer ihre Ressourcenausstattung ist. Entscheidend hierfür dürften die
schon erwähnten materiell-finanziellen Aspekte (billige Wohnungen) sein.
Etwas verallgemeinernd gesprochen: je niedriger der soziale Status, desto
mehr Integration von deutschen und ausländischen Familien ergibt sich –
meist wider Willen und nicht aus Überzeugung, sodass hier potenzielle Konfliktkonstellationen entstehen.
Freizeit mit wem?
Deutschen und ausländischen Jugendlichen haben wir eine Liste mit unterschiedlichen Aktivitäten in der Freizeit, also außerhalb von Bildungsinstitutionen oder Arbeitsplatz, vorgelegt und sie gebeten, uns zu sagen, ob sie diese
Beschäftigungen »allein, mit deutschen Freunden, mit ausländischen Freunden, gemischt – je nachdem« unternehmen.
In den Antworten der westdeutschen Jugendlicher spiegelt sich ein großer,
um 50% schwankender Anteil von solchen, die ihre Aktionen »mit deutschen
Freunden« unternehmen (mit Ausnahme der Beschäftigungen Hausaufgaben
und Computern, was man natürlich eher »allein« macht). Die Kategorie »gemischt« fällt dagegen schwächer aus; sie erreicht in der Mehrzahl der Beschäftigungen Werte zwischen einem Fünftel und gut einem Drittel. Ein Gewicht von über 40% erreichen bei dieser Antwortkategorie nur Sport, Jugendzentrumsbesuch, Feiern/Partys, Kneipenbesuch und Musikmachen (letzteres
wird aber nur von vergleichsweise wenigen Jugendlichen betrieben). Das
bedeutet, zwangloses Miteinander zwischen Deutschen und Ausländern stellt
sich für die Westdeutschen am ehesten an den klassischen Freizeitorten her,
seien sie organisierter (Sport, Jugendzentrum) oder informeller Art (Party,
Kneipe). Die Antwort »mit ausländischen Freunden« erfährt insgesamt so gut
wie keine Zustimmung; die Werte schwanken zwischen 0,5% und 1,9%. Freizeit »nur« mit Ausländern spielt also keine Rolle.
Bei den ausländischen Jugendlichen unserer Stichprobe stellt sich das anders
dar. Hier ist die Antwortkategorie »gemischt« bei fast allen abgefragten Beschäftigungen die gewichtigste und erreicht häufig einen Wert um 60% oder
35
Die Situation jugendlicher Migrantinnen und Migranten Richard Münchmeier
darüber. Im informellen Freizeitbereich (Partys, Kneipen) werden Werte von
über 70% erreicht. Ausnahmen sind nur Hausaufgabenmachen und Computern (aus dem schon genannten Grund) und Urlaubsreise (bei der man vermuten darf, dass hier – wie bei den Deutschen auch – die Landsleute deshalb
eine größere Rolle spielen, weil es sich um Verwandte oder Familienangehörige handelt). Im Vergleich mit den Deutschen (dort ist die Antwort »mit ausländischen Freunden« die Entsprechung) ergeben sich aber auch bei der Kategorie »mit deutschen Freunden« erheblich höhere Prozenthäufigkeiten. Sie
liegen fast durchweg zwischen 10% und 15%.
Zumindest im Freizeiterleben der (west-)deutschen Jugendlichen spielen
deutsche Freunde die Hauptrolle. Freizeit »nur« mit ausländischen Freunden
kommt eher nicht oder nur in marginalem Umfang vor. Meist bleibt der Kontakt zu ihnen in der Freizeit dem Zufall überlassen, eben »je nachdem«, wie es
sich so ergibt. Bei italienischen und türkischen Jugendlichen sieht das anders
aus; für sie ist es unerlässlich, auch in der Freizeit mit gemischten Gruppen
zurechtzukommen. Italiener scheinen in dieser Hinsicht weitgehend assimiliert, während für Türken die eigenen Landsleute eine nicht unbedeutende
Rolle spielen.
Meinungen – Urteile – Vorurteile
Was deutsche und ausländische Jugendliche übereinander denken
Wo Menschen zusammenleben, gibt es Meinungen, Urteile und Vorurteile
übereinander. Das gilt natürlich in besonderem Maß im Fall von fremden Kulturen und Nationalitäten. Uns hat nicht interessiert, die im Schwange befindlichen wechselseitigen Vorurteile zu erfassen. Wir wollten vielmehr jene Urteile und Meinungen kennenlernen, die etwas mit dem Zusammenleben – sei es
im Miteinander, im Neben- oder Gegeneinander – von deutschen und ausländischen Jugendlichen zu tun haben und die möglicherweise die Art des Zusammenlebens beeinflussen. Wir wollten z.B. untersuchen, was sie voneinander halten (Frage: Können deutsche und ausländische Jugendliche voneinander lernen?), wie sie sich im Vergleich mit Jugendlichen anderer Nationalität
erleben (eher ähnlich oder eher anders?), ob sie sich vorstellen könnten,
jemanden mit einer anderen Nationalität zu heiraten usw. Kurz gesagt, wir
wollten die Meinungen und Urteile erfahren, die mit den Beziehungen zwischen den verschiedenen Gruppen zu tun haben.
36
Richard Münchmeier Die Situation jugendlicher Migrantinnen und Migranten
Leben zu viele Ausländer bei uns?
Eine wichtige Bedingung für die grundsätzliche Haltung ausländischen Jugendlichen gegenüber mag vielleicht das Urteil darüber sein, ob es eher zu
viele oder eine akzeptable Zahl von Ausländern in der Bundesrepublik gibt.
Wir haben deshalb gefragt »Ist nach Deiner Meinung der Anteil von Ausländern in Deutschland zu hoch, gerade richtig oder zu niedrig?«
Jungen und Mädchen in Ost und West sind sich einig: der Anteil der Ausländer
ist zu hoch. Das sagen im Durchschnitt gut 62% der deutschen Jugendlichen
unserer Stichprobe. Es gibt deutliche Unterschiede zwischen Ost und West
und zwischen Jungen und Mädchen. Am entschiedensten geben dieses Urteil
die Jungen und jungen Männer in Ostdeutschland (71,1%) ab. Die Mädchen
und jungen Frauen in den neuen Bundesländern sind etwas weniger entschieden, erreichen aber immer noch 67,7%.
Wie oben schon gesagt gibt die Bewertung, ob der Anteil von Fremden zu
hoch oder nicht sei, nicht unbedingt konkrete eigene Erfahrungen, sondern
eher so etwas wie eine allgemeine Stimmung oder allgemeine Befürchtungen
bzw. politisch-moralische Richtungen wieder. Deshalb mag es interessant
sein zu prüfen, ob ein größeres Ausmaß von Kontakten und Begegnungen mit
größerer Akzeptanz der Situation verbunden ist als geringere Kontaktmöglichkeiten. Um dies zu prüfen, haben wir die Jugendlichen nach den Antworten
auf die Frage »Wie häufig hast Du mit ausländischen Jugendlichen zu tun?« in
die vier vorgegebenen Antwortgruppen neu geordnet und geprüft, ob sich
Unterschiede finden lassen zwischen denen mit »sehr häufigen« Kontakten
und anderen, die »weniger häufig« oder »gar nicht« Begegnungen haben.
37
Die Situation jugendlicher Migrantinnen und Migranten Richard Münchmeier
Einschätzung des Ausländeranteils nach Häufigkeit der Kontakterfahrung
Ausländeranteil ist ...
Deutsche
Jugendliche
insgesamt
Wie häufig hast Du
mit ausländischen Jugendlichen zu tun?
sehr
häufig
häufig
weniger
überhaupt
häufig
nicht
zu hoch
62,2
48,3
48,5
64,0
78,0
gerade
richtig
35,9
45,1
49,5
34,3
21,6
zu niedrig
1,9
6,6
2,0
1,7
0,5
Die Befunde sprechen für sich selbst. Sie bestätigen den (nur scheinbar paradoxen) Zusammenhang zwischen Kontaktlosigkeit und Einschätzung des
Ausländeranteils als zu hoch. Sie zeigen aber auch, dass zahlreichere Kontakte zu ausbalancierteren Bewertungen zwischen zu hoch und gerade richtig
führen. Wenn man sich die oben berichteten Ergebnisse darüber vor Augen
hält, welche Gruppen dichtere Begegnungen haben, kann dies nicht verwundern.
Selbstbilder im Vergleich mit den anderen: Nähe und Fremdheit
Die Jugendlichen wurden gefragt: »Es gibt Gewohnheiten und Dinge im Leben,
in denen sich Deutsche und Ausländer eher ähnlich sind und solche, in denen
sie sich eher unterscheiden. Wie ist das bei Dir persönlich?« Wir fragten also
nach einer persönlichen Selbsteinschätzung, nach dem Selbstbild im Blick auf
die anderen. Von diesem Selbstbild darf natürlich nur sehr eingeschränkt auf
das tatsächliche Verhalten geschlossen werden. Es sagt aber sehr viel über
die erlebte Nähe bzw. Fremdheit im Vergleich mit den jeweils anderen Nationalitäten.
38
Richard Münchmeier Die Situation jugendlicher Migrantinnen und Migranten
Die in der Liste erfragten Verhaltensbereiche beziehen sich auf
• potenziell ethnisch spezifische, kulturelle Verhaltensbereiche (Essen und
Trinken, Kleidung, Familienleben, Religion, Verhältnis zu Kindern),
• cliquen- und freizeitorientiertes Jugendleben (Fernsehen, Musik hören,
Zusammensein mit Freunden, Sport treiben, in Diskotheken gehen, Urlaubsgestaltung),
• Erfüllung der Qualifikationsaufgaben (Schule/Ausbildung/Arbeit),
• Eigene Verselbständigung/Eigenleben (Geld ausgeben, Umgang mit fester
Freundin/festem Freund, Verhältnis zwischen Jugendlichen und Erwachsenen),
• Politik und Zukunftsgestaltung.
Betrachtet man die Befunde, fällt ein Generalergebnis auf: Türkische Jugendliche, und noch stärker italienische, betonen sehr viel stärker, sie würden sich
ähnlich wie die deutschen verhalten; dagegen sind deutsche energischer auf
Unterschiede bedacht und betonen entschiedener, sie würden sich anders
verhalten.
Der Überblick zeigt außerdem:
• mit nur drei Ausnahmen (Familienleben, Religion und – schon weitaus
weniger deutlich – Verhältnis zwischen Jugendlichen und Erwachsenen)
liegt die Zustimmung bei allen Befragten über 50%; d.h. in Bezug auf fast
alle abgefragten Bereiche erleben sich junge Leute mehrheitlich als »eher
ähnlich«;
• beim Sport treiben werden die höchsten wechselseitigen Ähnlichkeiten
registriert; das gilt für die Antworten aller drei Gruppen; Sport scheint am
wenigsten mit Ethnizität zu tun zu haben;
• bei der Religion sind die größten Unterschiede festzustellen, allerdings
nur in Bezug auf die Türken; dies spiegelt den Unterschied zwischen
christlicher und muslimischer Religion wider, bei dem die Verhaltensweisen gewissermaßen durch die religiösen Gemeinschaften vorgegeben und
durch die Jugendlichen nur in begrenzter Weise modifizierbar sind;
immer aber gilt, dass Türken und Italiener die Ähnlichkeit zu den Deutschen
stärker betonen als umgekehrt.
39
Die Situation jugendlicher Migrantinnen und Migranten Richard Münchmeier
Fundamental scheinen sich die Selbstbilder der in Deutschland lebenden
Jugendlichen der genannten Nationalitäten nicht zu unterscheiden. Die Unterschiede sind vielmehr gradueller Art. Jedoch nehmen sie sich im Vergleich
doch auch unterschiedlich wahr. Konsens besteht bei allen darin, dass die
Bereiche Religion und Familie sehr verschieden gelebt werden. Abgesehen
davon überwiegen in fast allen anderen Bereichen die Ähnlichkeiten. Offensichtlich überformt und nivelliert der Jugendstatus (das gemeinsam geteilte
Jugendleben) den kulturellen, ethnospezifischen Status. Italiener und Türken
sind nicht einfach Ausländer, sondern zuerst einmal Jugendliche und teilen
die jugendtypischen Verhaltensstile.
Aber: Während deutsche Jugendliche, die Vertreter der Mehrheitskultur, die
Feststellung von Ähnlichkeiten zwischen ihnen und den Ausländern eher sparsam handhaben, betonen Türken und noch mehr Italiener diese Ähnlichkeiten
sehr stark. Es könnte sein, dass sich dahinter ein unterschiedliches Bewusstsein verbirgt. Für die deutsche Jugend wird durch ihre jugendtypischen Lebensformen kein Konflikt mit ihrer Herkunftskultur markiert. Das ist bei einem
Teil der Italiener und bei einem größeren Teil der Türken anders, besonders
bei den Mädchen. Das lässt die Spannung deutlicher spüren und führt im
Vergleich der eigenen Lebensweise mit den tradierten Verhaltensstandards
der eigenen Kultur dazu, sich bewusster für die deutschen Lebensstile zu
entscheiden, so gut es geht wie deutsche Jugendliche auch zu leben. Ausnahmen hiervon sind nur die genannten kulturspezifischen Bereiche, wiederum vor allem für die Mädchen.
Die viel beklagte und v.a. den Türken und einigen weiteren Ausländer- und
Flüchtlingsgruppen zugeschriebene Unwilligkeit zur Anpassung an die deutschen Lebensweisen scheint damit zumindest für die hier untersuchten Gruppen von Jugendlichen nicht zuzutreffen. Vielmehr kommt in manchen Problemen wohl eher das unterschiedlich große Spannungsverhältnis zwischen
Jungsein und Ausländersein zum Tragen. Mit diesem Spannungsverhältnis hat
sich Bendit (1997, 133 ff.) ausführlich auseinander gesetzt.
»Die Liebe ist eine Himmelsmacht« – Interkulturelle Heiratsneigungen
»In welchem Maße ausländische Migranten oder ihre Abkömmlinge eine Ehe
mit Personen der angestammten Wohnbevölkerung eingehen, ist ein Hinweis
40
Richard Münchmeier Die Situation jugendlicher Migrantinnen und Migranten
auf ihren Grad der gesellschaftlichen Integration; somit stellt die Zahl dieser
Eheschließungen einen Indikator für die soziale Eingliederung dar« (europäisches forum für migrationsstudien, 1997, 33).
Unsere diesbezügliche Frage lautete: »Unter welchen Voraussetzungen würdest Du jemanden, der/die nicht Deiner Nationalität ist, heiraten?« Die Antwortvorgaben (Mehrfachnennungen wurden zugelassen), waren:
• dass er/sie dieselbe Religion hat wie ich,
• dass er/sie meine Religion annimmt,
• dass meine Eltern einverstanden sind,
• dass er/sie unsere Kinder so erzieht, wie ich mir das vorstelle,
• dass er/sie mir gefällt, alles andere ist nicht wichtig,
• dass er/sie bereit ist, mit mir in mein Heimatland zu ziehen,
• dass seine/ihre Familie mich akzeptiert,
• dass ich ihn/sie liebe und sonst nichts,
• ich kann mir eigentlich gar nicht vorstellen, jemanden mit einer anderen
Nationalität zu heiraten.
Beginnen wir mit der letzten, der Ausschlussposition. Sie wird von einem
reichlichen Viertel (28,4%) der Deutschen, einem guten Fünftel (21,5%) der
Türken, aber von nur 3% der Italiener vertreten. Die schon öfter in diesem
Zusammenhang bei den Italienern auffällige Offenheit, und geringe Verhaftung an die Eigengruppe, zeigt sich hier noch einmal drastisch.
Wichtigste Bedingung für das Eingehen einer gemischten Ehe ist bei allen
Gruppen die Liebe. Mehr als die Hälfte der Deutschen und Türken sowie drei
Viertel der Italiener äußern sich so. Keine andere Vorgabe erfährt diese mehrheitliche Zustimmung. Das ähnlich formulierte Item »dass er/sie mir gefällt«,
das aber doch mehr auf die erotische Anziehung abstellt, erhält weniger Zustimmung. Es erreicht aber bei Deutschen (vor allem bei Jungen) mit etwa
33% noch eine recht starke Betonung. Türkische und italienische Jugendliche
finden das nur zu etwa einem Viertel wichtig.
Erstaunlich gering wird die Bedeutung der gleichen Religion geschätzt. Allenfalls bei den türkischen Jugendlichen (vor allem bei Jungen) spielt sie als Heiratsbedingung noch eine gewisse Rolle; aber auch bei ihnen eine viel kleinere
41
Die Situation jugendlicher Migrantinnen und Migranten Richard Münchmeier
als etwa das Einverständnis der Eltern oder umgekehrt die Akzeptanz durch
die Partnerfamilie.
Die ganz herausgehobene Bedeutung der Liebe für das Eingehen einer Heirat
mit einem Partner/einer Partnerin anderer Staatsangehörigkeit zeigt zweierlei:
Der für moderne Gesellschaften kennzeichnende Prozess der Individualisierung führt dazu, dass für die Gesellschaftsmitglieder die individuelle IchIdentität wichtiger wird als die kollektive Wir-Identität (Elias 1987). Dass junge Leute das subjektiv-individuelle Gefühl der Liebe so deutlich über soziale
Erwartungen oder ethnische Bindungen stellen, ist ein guter Beleg hierfür.
Noch einmal wird daran deutlich, dass die Eigentümlichkeiten des Jugendlebens den ethnischen Status überformen und nivellieren. Zu den Eigentümlichkeiten der Jugendphase gehört eben zentral der Bereich der Liebeserfahrungen und -beziehungen; sie sind eine wichtige Bedingung für die Lösung jener
jugendtypischen Aufgabe, die im Amerikanischen »pairing«, also Partnerfindung, genannt wird (Oerter 1987).
»Die Ausländer nehmen den Deutschen die Arbeit weg«
Ausländerfeindlichkeit unter Jugendlichen
Die Diskussionen über Fremden- bzw. Ausländerfeindlichkeit waren in der
jüngeren Vergangenheit ein Standardthema in den öffentlichen und politischen Diskussionen über Jugend. Eine Fülle von Literatur mit zum Teil sich
widersprechenden Thesen über Ausmaß und Ursachen ist erschienen. Ein
Konsens zwischen den konkurrierenden Ansätzen – außerhalb des synkretistischen kleinsten gemeinsamen Nenners: an allem ist etwas dran – ist bisher nicht zu erkennen.
Dabei geht es nicht ohne Pauschalisierungen und Unschärfen ab. So werden
etwa Rechtsradikalismus, Gewaltbereitschaft und Fremdenfeindlichkeit in
einen Topf geworfen und als so genanntes Syndrom ohne scharfe Konturen
beliebig postuliert, auch dramatisiert und skandalisiert. Insbesondere drängen sich wissenschaftlich fragwürdige, weil ungeheuer vereinfachende Fragen
in den Vordergrund, allen voran die scheinbar so einfache Frage: wie groß ist
eigentlich der Anteil »ausländerfeindlicher Jugendlicher« an der Gesamtpopulation der Jugend heute?
42
Richard Münchmeier Die Situation jugendlicher Migrantinnen und Migranten
Natürlich hat eine solche Frage eine verführerische Schlichtheit. Sie unterschlägt aber, dass Fremden- oder Ausländerfeindlichkeit unbestimmte Begriffe sind. Es gibt keine eindeutige Füllung dieser Termini. Was darunter zu verstehen ist, darüber geht ja gerade der Streit der Konzeptionen und Theorieansätze. Es ist keineswegs einfach, diese Pauschalkategorien inhaltlich-konkret
zu füllen bzw. – forschungspraktisch gewendet – sie zu operationalisieren.
Weil sie je nach theoretischem Vorverständnis ganz unterschiedlich interpretiert werden, sind die bisher vorliegenden Forschungsergebnisse auch außerordentlich heterogen, schwer miteinander zu vergleichen und zusammenzuführen (vgl. Münchmeier 1997).
Weiter wird unterschlagen, dass Fremdenfeindlichkeit nicht etwas Bestimmtes oder Konsistentes meinen kann, sondern ein Kontinuum bezeichnet. Die
Übergänge von »normalen«, rational begründeten Argumenten gegen weitere
Zuwanderung zu einer grundsätzlich ablehnenden oder gar feindlichen Gesinnung Ausländern gegenüber vollziehen sich nicht abrupt, sondern gleitend.
Die Frage nach dem Umfang oder der Verbreitung von Fremdenfeindlichkeit
ist deshalb immer auch ein Maßstabsproblem.
Ganz übersehen wird in solchen »einfachen Fragen«, dass ausländerfeindliche Einstellungen nicht einfach zu einem Jugendproblem gemacht werden
können. Ob junge Menschen in höherem Maß »anfällig« für solche Haltungen
sind als Erwachsene, lässt sich angesichts der Forschungslage kaum mit einiger Sicherheit beantworten. Vieles spricht im Gegenteil dafür, dass Xenophobie kein typisches Jugendproblem ist, das mit den spezifischen Konstellationen des Jugendalters (z.B. mangelnde Einsicht oder Reife, Verführbarkeit,
schlechte Vorbilder, Neigung zum Provokanten usw.) zu tun hat, sondern eine
Erscheinung, die ebenso bei Erwachsenen zu konstatieren ist und damit auf
allgemeinere Bedingungen verweist.
Um diese und andere Probleme zu vermeiden und in der grundsätzlichen
Vorgehensweise der Shell Jugendstudien zu verbleiben, haben wir uns trotz
der genannten Schwierigkeiten auch in diesem Zusammenhang entschieden,
auf eine vorab getroffene und durch irgendeine der vielen Theorien gestützte
Definition von Ausländerfeindlichkeit zu verzichten. Erst recht wollten wir
nicht aus einem bestimmten Verständnis heraus, Items zur Fremdenfeindlichkeit »deduzieren« und den Jugendlichen vorlegen. Wie im Kapitel »Beschreibung der Skalen« erörtert, haben wir vielmehr mit den explorativen Interviews
43
Die Situation jugendlicher Migrantinnen und Migranten Richard Münchmeier
beginnend in der quantitativen Vorstudie eine Skala »Ausländerfeindlichkeit«
konstruiert, sind also induktiv vorgegangen. Die Schwierigkeiten und Überraschungen, auf die wir dabei stießen, sind dort erläutert.
Die Skala besteht aus den folgenden 10 Aussagen.
•
Ausländer, die in Deutschland kriminell werden, sollten sofort abgeschoben werden.
•
Die Ausländer nehmen den Deutschen die Arbeit weg, weil sie für weniger Geld arbeiten.
•
Vielen Ausländern geht es in Deutschland zu gut.
•
Ausländer, die sich nicht anpassen wollen, haben hier nichts verloren.
•
Deutschland ginge es wirtschaftlich viel besser, wenn nicht so viele Ausländer hier leben würden.
•
Deutsche sollten keine Ausländer heiraten.
•
Die meisten Politiker in Deutschland sorgen sich zu sehr um die Ausländer, nicht um den normalen Deutschen.
•
Es gibt in Deutschland einfach zu viele Ausländer.
•
Ausländer sollten sich in der Öffentlichkeit nicht so herausfordernd benehmen.
•
Ich versuche, mich von ausländischen Jugendlichen möglichst fernzuhalten.
Der Abfragemodus sah vier Stufen vor, von »trifft überhaupt nicht zu« bis
»trifft sehr zu«. Gefragt waren nur deutsche Jugendliche.
Insgesamt ergibt sich daraus ein Skalenmittelwert von 25,4. Wegen des schon
genannten Maßstabproblems lässt sich damit aber wenig anfangen. Deshalb
haben wir folgendes Verfahren gewählt: Aus den erreichten Skalenpunkten
haben wir Gruppen von jeweils etwa einem Quartil gebildet, indem die Werte
zwischen dem Minimum (10) und dem Maximum (40) in vier Intervalle eingeteilt werden. Das ermöglicht es, das Quartil mit den höchsten Skalenwerten
und jenes mit den niedrigsten Werten als gewissermaßen zwei Extremgruppen miteinander zu vergleichen.
44
Richard Münchmeier Die Situation jugendlicher Migrantinnen und Migranten
In der Zusammensetzung der beiden Gruppen überwiegen besonders in Ostdeutschland männliche Jugendliche beim oberen Quartil. Bei denen mit niedrigem Niveau ist es umgekehrt, besonders im Westen. Erheblich mehr Jugendliche mit niedrigerem Schulabschluss (in Westdeutschland, in Ostdeutschland
dominiert wegen der Unterschiede im Schulsystem die Realschule), früherem
Eintritt in die Arbeitswelt und – natürlich – geringerer Ressourcenausstattung
finden sich unter den Ausländerfeindlichen im oberen Quartil.
Die Bildungsabschlüsse der Eltern von stark Ausländerfeindlichen sind erheblich niedriger als bei den wenig Fremdenfeindlichen. Vater und Mutter sind bei
ihnen häufiger von Arbeitslosigkeit betroffen, insbesondere in Ostdeutschland. Dort sind auch viele hoch-fremdenfeindliche mit ihrer finanziellen Situation nicht zufrieden. Auch im Blick auf Parteienpräferenz finden sich deutliche
Unterschiede, was eigentlich nicht verwundern kann. Zwar geben hochausländerfeindliche Jugendliche öfter an, sie stünden »keiner« Partei nahe; es
fällt aber auf, dass sie deutlich zahlreicher mit der CDU/CSU sympathisieren
und ganz erheblich weniger mit den Grünen. Republikaner werden von 6 %
genannt, bei denen mit niedrigen Werten dagegen überhaupt nicht (0 %).
Besonders erwähnenswert ist ein Umstand, der uns oben schon begegnet ist:
Ausländerfeindlichkeit resultiert offenbar nicht aus persönlichen Erfahrungen
mit Ausländern; im Gegenteil. Gerade hoch-ausländerfeindliche Jugendliche
haben erheblich weniger Kontakte zu Nichtdeutschen, etwa in der Schule, am
Arbeitsplatz oder in der Freizeit. Dazu passt auch, dass Ausländerfeindlichkeit
auf dem Lande und in Kleinstädten wesentlich mehr verbreitet ist als in den
Städten, obwohl auf dem Land kaum Fremde wohnen. Eindeutig dagegen
wohnt die Mehrheit der Jugendlichen mit niedrigem Level an Ausländerfeindlichkeit in Städten, insbesondere im Westen.
All das gibt mit aller gebotenen Vorsicht dazu Anlass, als Hintergrund für
ausländerfeindliche Einstellungen schlechtere Lebensbedingungen, geringere
Bildung, schlechtere Ausstattung oder zumindest eine Selbsteinschätzung in
dieser Richtung zu behaupten. Im Kern der Ausländerfeindlichkeit scheinen
sich Konkurrenzgefühle zu verstecken, bzw. die Furcht, in der wachsenden
Konkurrenz um Arbeitsplätze und Zukunftschancen (projektiv verlängert: um
Anerkennung, Mädchen und öffentliche Aufmerksamkeit) zu unterliegen. Das
zeigt sich deutlich bei einem Blick auf einzelne Items unserer Skala. Bei allen
Aussagen, die Konkurrenz zwischen Deutschen und Ausländern ansprechen
45
Die Situation jugendlicher Migrantinnen und Migranten Richard Münchmeier
(insbesondere Konkurrenz um den Arbeitsplatz), sind die Differenzen zwischen hoch und niedrig Ausländerfeindlichen sehr groß. Die Items, die Kulturund Verhaltensunterschiede problematisieren (mangelnde Anpassung, heiraten, sich herausfordernd benehmen) zeigen dagegen kleinere Abstände.
Wichtige Bedeutung für die Entstehung von Ausländerfeindlichkeit haben die
unmittelbar biografisch wirksam werdenden Probleme der gegenwärtigen
sozio-ökonomischen Krisen, die durch die Sondersituation nach der Wende in
Ostdeutschland noch verstärkt werden. Hier muss allen voran von der Jugendarbeitslosigkeit bzw. von der Angst vor Arbeitslosigkeit und Benachteiligung gesprochen werden. Dies muss im Blick behalten werden, wenn verstanden werden soll, wie die Übernahme fremdenfeindlicher Ideologeme bei
jungen Menschen zustande kommt.
Nicht die Attraktivität rechtsextremer Milieus oder autoritäre Verhaltensmuster begünstigen die Adaption xenophobischer Motive, sondern die Angst vor
eigener Arbeits- und Chancenlosigkeit, die sich in der These von der Konkurrenz zu Asylanten und Ausländern, die zu zahlreich seien und einem deshalb
die Stellen wegnähmen, niederschlägt und ihr »Objekt« findet. Eine geeignete
politische Gegenstrategie ergibt sich deshalb nicht aus dem Ansatz an der
Widerlegung und argumentativen Auseinandersetzung mit »rechten« Thesen
oder Gruppierungen, sondern aus einem arbeits- und ausbildungsplatzbezogenen Programm.
Literatur
Bendit, R.: »Wir wollen so unsere Zukunft sichern«. Der Zusammenhang von
beruflicher Ausbildung und Lebensbewältigung bei jungen Arbeitsmigranten in Deutschland, Aachen 1997
Böhnisch, L.; Fritz, K.; Seifert, T. (Hrsg.): Die wissenschaftliche Begleitung.
Ergebnisse und Perspektiven. Das Aktionsprogramm gegen Aggression
und Gewalt AgAG, Band 2, Münster 1997
Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Technologie:
Grund- und Strukturdaten 1997/98, Bonn 1997
46
Richard Münchmeier Die Situation jugendlicher Migrantinnen und Migranten
Deutsche Shell (Hrsg.): 13. Shell Jugendstudie: Jugend 2000. Gesamtkonzeption und Koordination: Fischer, A.; Fritzsche, Y.; Fuchs-Heinritz, W.;
Münchmeier, R., 2 Bände, Opladen 2000
Elias, N.: Die Gesellschaft der Individuen, Amsterdam 1987
europäisches forum für migrationsstudien (efms): Migration und Integration
in Zahlen, Bamberg 1997
Hamburger, F.; Koepf, T.; Müller, H.; Nell, W.: Migration. Geschichte(n), Formen, Perspektiven, Schwalbach 1997
Lederer, H. W.: Migration und Integration in Zahlen. In: Beauftragte der Bundesregierung für Ausländerfragen (Hrsg.): Bericht über die Lage der Ausländer in der Bundesrepublik Deutschland, Bonn 1997
Motte, J.; Ohliger, R.; Oswald, A. von (Hrsg.): 50 Jahre Bundesrepublik – 50
Jahre Einwanderung. Nachkriegsgeschichte als Migrationsgeschichte,
Frankfurt a.M./New York 1999
Münchmeier, R.: Jugend und Gewalt. Forschungserträge im Kontext des AgAGProgramms. ISS-Materialien, Frankfurt a.M. 1997
Münz, R.; Seifert, W.; Ulrich, R.: Zuwanderung nach Deutschland. Strukturen,
Wirkungen, Perspektiven, Frankfurt/New York, 2. Aufl. 1999
Oerter, R.: Kapitel »Jugendalter«. In: Oerter, R.; Montada, L.: Entwicklungspsychologie, München und Weinheim 2. Aufl. 1987, S. 265 - 338
Radtke, F.-O.: Multikulturalismus und Erziehung. Ein erziehungswissenschaftlicher Versuch über die Behauptung: »Wir leben in einer multikulturellen
Gesellschaft«. In: Brähler, R.; Dudek, P. (Hrsg.): Jahrbuch für interkulturelles Lernen 1991: Fremde – Heimat. Neuer Nationalismus versus interkulturelles Lernen – Probleme politischer Bildungsarbeit, Frankfurt a.M. 1992
Tilly, C.: »Transplanted Networks«. In: Yans-McLaughlin, V. (Hrsg.): Immigration Reconcidered. History, Sociology and Politics, New York 1990,
S. 19 - 95
Richard Münchmeier, Dr. rer. soc. habil., Professor für Sozialpädagogik im
Fachbereich Erziehungswissenschaft und Psychologie an der Freien Universität Berlin.
47
Sprachenvielfalt durch Zuwanderung
Ingrid Gogolin
Sprachenvielfalt durch
Zuwanderung –
ein verschenkter Reichtum
Ingrid Gogolin
Die Bundesrepublik Deutschland ist durch Einwanderung auf Dauer multikulturell und vielsprachig; das Rad der Geschichte lässt sich nicht mehr zurückdrehen. Allmählich kommen wir in die Situation, dass auch auf höchster politischer Ebene nicht mehr geleugnet wird: Deutschland ist ein Einwanderungsland. Weit entfernt aber sind wir nach wie vor davon, dass die Folgen dieses
Faktums für das Zusammenleben in Deutschland, für die kulturelle und soziale Entwicklung der in Deutschland ansässigen – also sowohl der deutschen
als auch der zugewanderten – Bevölkerung anerkannt und als Chance begriffen werden. Nötig wären dafür Perspektivenwechsel: zum Beispiel eine veränderte Sicht auf Lebenspraktiken und Ausdrucksformen, die hier als »normal« anerkannt und als wertvoll für die Gestaltung des Zusammenlebens
verstanden werden. Geschieht das nicht, so kommt es zur Verschwendung
wertvoller Ressourcen, zur Vergeudung gesellschaftlichen Reichtums.
Im ersten Teil meines Beitrags stelle ich einige Überlegungen zu den »Normalitätsannahmen« vor, die überwunden werden müssen, damit sprachliche und
kulturelle Vielfalt einen anderen Stellenwert in der deutschen Gesellschaft
bekommen. Danach gehe ich darauf ein, wie Jugendliche, die mehrsprachig in
Deutschland aufwachsen, versuchen, trotz der gesellschaftlichen Geringschätzung ihrer Kompetenzen aus ihrer Mehrsprachigkeit Gewinn zu ziehen.
48
Ingrid Gogolin
Sprachenvielfalt durch Zuwanderung
»Monolingualer Habitus«
Zu den »Normalitätsannahmen«, die überwunden werden müssen, gehört die
Überzeugung, dass Individuen und Staaten »normalerweise« einsprachig
seien. Aus dieser Grundüberzeugung heraus – ich habe sie als »monolingualen Habitus« bezeichnet (vgl. Gogolin 1994) – werden in unserer Gesellschaft
die Maßstäbe dafür gewonnen, Sprachkönnen und -praxis von Menschen zu
beurteilen sowie den »Marktwert« eines sprachlichen Vermögens zu bestimmen. Die hierzulande als legitim geltende Sprache ist das Deutsche, und ein
Leben, das in der einen Sprache Deutsch geführt wird, gilt als das normale.
Andere Sprachen, die auf deutschem Boden existieren, bekommen unter
bestimmten Umständen und mit Einschränkungen Legitimität zuerkannt. Dies
kann durch staatliche Akte geschehen, wie etwa im Falle der in einigen Landesverfassungen anerkannten nationalen Minoritätensprachen Dänisch, Friesisch und Sorbisch. Die Bedingung für das Anerkenntnis ist hier die »Altansässigkeit« einer Sprache und ihrer Sprecher, verbunden mit der deutschen
Staatsbürgerschaft. Die Einschränkung der Akzeptanz betrifft die Region, für
die sie Geltung hat: die Rechte, die man daraus ableiten kann, gelten nur in
genau festgelegten Gebieten und keineswegs »allgemein«.
Ein anderer Modus, Sprachen mit »Legitimität« auszustatten, ist es, sie in den
offiziell gültigen Kanon der Schulfremdsprachen aufzunehmen. Danach wird
ihre Aneignung vom offiziellen Bildungswesen gesteuert, evaluiert und zertifiziert. Die Beherrschung solcher Sprachen gilt als Bildungswert.
Aber persönliche Mehrsprachigkeit wird keineswegs unter allen Umständen
gesellschaftlich anerkannt. Die für das Anerkenntnis notwendigen Bedingungen können speziell von Zuwanderern, die in mehreren Sprachen leben, oft
nicht ohne weiteres erfüllt werden. Die mitgebrachten Sprachen der Migranten unterliegen hierzulande üblicherweise nicht den traditionell legitimierenden und zugleich marktwerterhöhenden Mechanismen. Diese Sprachen besitzen weder einen besonderen rechtlichen Status, der ihnen Legitimität verleihen würde, noch haben sie eine Aufwertung durch Aufnahme in den schulischen Fremdsprachenkanon erfahren. Das öffentliche deutsche Bildungswesen hat für den Ausbau und die Pflege dieser Sprachen in der Gemeinschaft
ihrer Sprecher so gut wie keine Verantwortung übernommen; sie wurden
nicht zum Teil des regulären Unterrichtsangebots erklärt. Lediglich in ausgewählten Regionen sowie einigen Schulformen und -typen sind sie überhaupt
49
Sprachenvielfalt durch Zuwanderung
Ingrid Gogolin
als Unterrichtsangebot vorfindlich. In diesen Fällen fungieren sie meist als
gering geschätztes »schulisches Sonderangebot« – als ein Angebot, das unter
anderem deshalb als minderwertig gilt, weil es sich prinzipiell nicht an alle,
sondern nur an Nichtdeutsche richtet. Es erfolgt auf diese Weise nicht die
Erhebung in den Rang eines allgemeinen Bildungsguts; die Legitimierung
durch ein offizielles, allgemein gültiges Zertifikat bleibt diesen Sprachen versagt (vgl. hierzu die Analysen der schulischen Maßnahmen für Minderheiten
in den 16 deutschen Bundesländern: Gogolin/ Neumann/ Reuter 2001).
Die Sprachen Zugewanderter auf deutschem Boden sind in diesem Sinne
illegitime Sprachen; die Praxis, sie alltäglich neben dem Deutschen oder zusammen mit ihm zu gebrauchen, gilt als illegitimer Sprachgebrauch (vgl. Gogolin 1994; Gogolin/ Neumann 1997).
Die zunehmende Mobilität der Menschen lässt diese Konstruktionen von Normalität und ihre Konsequenzen für unsere Gesellschaft fragwürdig werden.
Die Fragwürdigkeit erhöht sich zumal angesichts der folgenden Entwicklung:
Wir wissen aus der Forschung, dass grenzüberschreitende Wanderung immer
seltener als ein einmaliger, abschließbarer Prozess vollzogen wird. Zu beobachten ist statt dessen, dass Migranten auf vielfältige Weise die Verbindungen zur Region der Herkunft, zu Menschen und Institutionen dort offen halten.
Dies schließt auch ein, dass man einmal oder wiederholt vorübergehend im
Gebiet der ursprünglichen Auswanderung für längere Zeit lebt. Gewiss ist das
Aufrechterhalten von Kontakt zur Herkunft keine völlig neue Praxis von
Migranten. Ihre Bedeutung für die alltägliche Lebensführung wächst aber
dadurch, dass sich inzwischen die Fülle und die Qualität der Möglichkeiten
zum vergleichsweise mühelosen wechselseitigen Kontakt so dramatisch verändert hat. Hauptursache dafür ist die rasante Entwicklung der Transportmöglichkeiten und der technischen Kommunikationsmöglichkeiten. Zusätzlich gefördert wird diese Entwicklung dadurch, dass einige der Rechtsregelungen, die den Menschen traditionell die Sesshaftigkeit in einem Nationalstaat nahe legen, in Veränderung begriffen sind. Für den hiesigen Kontext
sind die Bestimmungen zur Freizügigkeit der Niederlassung im Rahmen der
(größer werdenden) Europäischen Union besonders bedeutsam, die den
Wechsel des Lebensorts erleichtern, ja geradezu dazu ermuntern sollen.
Als Folge solcher Entwicklungen entstehen »transnationale soziale Räume«,
in denen sich dauerhafte Formen der sozialen Positionierung entwickeln kön50
Ingrid Gogolin
Sprachenvielfalt durch Zuwanderung
nen. Diese sozialen Räume weisen Elemente – also soziale Strukturen und
Institutionen – auf, wie man sie üblicherweise den ortsgebundenen sozialen
Räumen zurechnet; binationale Ausbildungsgänge sind ein Beispiel dafür
(vgl. hierzu Pries 1997).
»Integration« in die aufnehmende Gesellschaft und das Offenhalten einer
Rückkehr- oder Weiterwanderungsperspektive sind, so betrachtet, keine unvereinbaren Gegensätze, sondern Ausdrucksformen einer neuen »normalen«
Lebenswirklichkeit für eine wachsende Zahl von Menschen. Für diese Menschen ist die Pflege von mehr als einer alltäglichen Lebenssprache nicht nur
üblich, sondern geradezu eine unabdingbare Voraussetzung für gesellschaftliche Teilhabe.
Lebensweltliche Sprachkompetenz – legitime Sprachkompetenz
In unserer Forschung interessiert uns vor allem, wie Kinder und Jugendliche
aus zugewanderten Familien in Deutschland diese sprachlich-kulturelle Lage
meistern. Sie erfahren die Zeichen der Illegitimität ihrer durch die Familie
mitgebrachten Sprache(n) früh, denn sie erleben, dass diese Sprachen hierzulande vielfach gering geschätzt werden, dass ihrem öffentlichen Gebrauch mit
Abwehr begegnet wird. Untersuchungen ihrer Sprachpraxis zeigen, dass sie
sich an diesen Erfahrungen orientieren, aber ungeachtet dessen enge Bindungen an die Sprache(n) der Familie entwickeln und sie so intensiv, wie es
den Umständen entsprechend möglich ist, pflegen (vgl. Gogolin/ Neumann
1997). Die Vitalität der Mehrsprachigkeit Zugewanderter in den europäischen
Einwanderungsstaaten steht nach den einschlägigen Forschungsergebnissen
außer Zweifel (vgl. Broeder/ Extra 1999). Wir fragen uns deshalb, ob es Anzeichen für Prozesse der Legitimierung mehrsprachiger Lebenspraktiken in den
von zunehmender sprachlich-kultureller Heterogenität gekennzeichneten
europäischen Gesellschaften gibt.
Von besonderem Interesse sind Untersuchungen, in denen wir der Frage
nachgehen, wie Jugendliche ihre aus familialer sprachlicher Praxis mitgebrachte Mehrsprachigkeit verwerten, was sie für sie bedeutet. Die Dissertati-
51
Sprachenvielfalt durch Zuwanderung
Ingrid Gogolin
2
on von Sara Fürstenau , aus der die nachfolgend vorgestellten Äußerungsbeispiele stammen, verfolgt diese Frage am Beispiel von Jugendlichen portugiesischer Herkunft, die in Hamburg leben. Betrachtet wird vor allem die
Schwelle von der Schule in den Beruf. Jugendliche an dieser Schwelle werden
nach ihren Erfahrungen mit den Möglichkeiten befragt, aus ihrer portugiesisch-deutschen Zweisprachigkeit beim Übergang in das Berufsleben Kapital
zu schlagen (Fürstenau 2001). Die Erinnerungen, Hoffnungen und Wünsche
der befragten Jugendlichen werden unter der Perspektive untersucht, ob die
an den Nationalstaat gebundenen Formen der Legitimierung von Sprachen
und Sprachpraxis, die uns bislang geläufig sind, durch das Entstehen von
»transnationalen sozialen Räumen« (Pries 1997) Konkurrenz erhalten.
Betrachten wir das Beispiel der jungen Hamburgerin »Claudia« – bei dem
Namen handelt es sich selbstverständlich um ein Pseudonym. Claudia ist eine
der 27 von Sara Fürstenau befragten Jugendlichen portugiesischer Herkunft.
Bei Durchführung des Interviews ist Claudia 16 Jahre alt; sie ist – wie auch
ihre beiden älteren Geschwister – in Hamburg geboren und aufgewachsen.
Ihre Sommerferien hat die Familie regelmäßig in Portugal verbracht. Neben
der »normalen« Schule, also der deutschen Regelschule, hat Claudia zehn
Jahre lang einen portugiesischen Nachmittagsunterricht in Hamburg besucht.
Dazu ist zu erläutern, dass Hamburg zu den Bundesländern gehörte, die solchen Unterricht für Kinder aus Migrantenfamilien bislang nicht in eigener
Regie anboten, sondern den Konsulaten der ursprünglichen Herkunftsländer
oder der privaten Initiative überließen.
Claudia schildert im Interview ihr sprachliches Aufwachsen. Demnach waren
für sie von Anfang an sowohl das Deutsche als auch die portugiesische Sprache der Familie von Bedeutung. Ihre Eltern haben in der frühen Spracherziehung beide Sprachen verwendet; parallel zum Eintritt in die »deutsche« Schule wurde auch der portugiesische Nachmittagsunterricht aufgenommen. Für
den Stellenwert, den Claudia dem Portugiesischen beimisst, spricht der kontinuierliche Besuch des Nachmittagsunterrichts: ihre Bereitschaft, während
der gesamten Schulzeit zwei ganze Nachmittage in der Woche in diesen Un2
In einem gemeinsamen Beitrag (vgl. Fürstenau/ Gogolin 2001) haben wir eine ausführlichere
Analyse eines von Fürstenau ausgearbeiteten Fallbeispiels vorgestellt. Ich danke ihr für die
Erlaubnis, das Material auch für diesen Beitrag zu verwenden.
52
Ingrid Gogolin
Sprachenvielfalt durch Zuwanderung
terricht zu investieren, deutet auf eine hohe Wertschätzung der mitgebrachten Sprache der Familie. Nach Claudias Auskunft im Gespräch stieg die Wertschätzung dieses zusätzlichen Unterrichts im Laufe ihres Schülerinnenlebens
– nicht zuletzt, weil er die wichtige Funktion erfüllte, einen Rahmen für Verbundenheit und Geselligkeit mit den anderen portugiesisch lernenden Jugendlichen zu bieten.
Claudia hat also zwei Sprachbildungsbiographien aufzuweisen: eine für die
legitime Sprache Deutsch und eine zweite, parallel dazu durchlaufene für die
in Deutschland nur eingeschränkt legitime Sprache Portugiesisch. Gewiss ist
das Portugiesische in Deutschland auch mit Anteilen von Legitimität ausgestattet, da es durchaus zum Kanon der »erlaubten« Schulfremdsprachen gehört, wenn es auch nur sehr wenig angeboten wird. Von diesem Status des
Portugiesischen in Deutschland aber profitiert Claudia zunächst einmal nicht.
Sie ist »geborene« Sprecherin dieser Sprache; ihre Fähigkeit ist also nicht
dadurch geadelt, dass sie sie als Fremdsprache unter strenger schulischer
Kontrolle erworben hat. Ihr sprachlicher Alltag zeichnet sich zudem durch
»sprachliches Grenzgängertum« aus – durch »unreine« sprachliche Praktiken
(vgl. Gogolin 1997: 336ff.; dies. 1998b), in denen das Portugiesische und das
Deutsche einander begegnen, ergänzen, durchdringen. Beide Sprachen können bei der Realisierung kommunikativer Absichten zusammenwirken; sie
vermischen sich und erzeugen neue, aus der Sicht Einsprachiger oft befremdliche Ausdrucksformen, deren hauptsächlicher Geltungsbereich die Gemeinschaft der Gewanderten ist. Dies aber sichert ihnen nicht, sondern es behindert eher die Zuerkennnung von Legitimität.
Für Claudia erfüllen ihre beiden Lebenssprachen unterschiedliche Kommunikationswünsche. Sie schildert ihre Präferenzen beim Sprachgebrauch: sie
benutze am liebsten das Deutsche,
»wenn ich herumschreie, also wenn ich richtig aggressiv bin und so.
Dann spreche ich lieber Deutsch, weil das viel schneller geht. [...] Bloß
denken tue ich auf Portugiesisch, es ist total lustig. Denken auf Portugiesisch und portugiesisch reden tue ich eigentlich nur innerhalb der
Familie. Unter Freunden spreche ich lieber Deutsch«.
Claudia ist sich der begrenzten Legitimität ihres Sprachvermögens durchaus
bewusst. Sie vergleicht zum Beispiel ihr eigenes Portugiesisch mit dem ihrer
Schwester, die seit zwei Jahren in Portugal lebt:
53
Sprachenvielfalt durch Zuwanderung
Ingrid Gogolin
C: Also meine Schwester hört sich schon so ein bisschen intellektueller
an [lacht]. Manchmal sagt sie irgendwelche Begriffe und ich weiß nicht,
was sie jetzt meint. Also das merkt man auf jeden Fall, weil sie jetzt
schon zwei Jahre dort lebt. Ich kenne das ja nur unter den Portugiesen
hier, und da spricht man halt das, was man kennt.
Die Spezifik des Portugiesischen als »Migrantensprache« (Gogolin 1988) hat
für ihren portugiesischen Sprachbesitz also klare Konsequenzen. Die ihr geläufige Variante des Portugiesischen ist funktional anerkannt und angemessen »unter den Portugiesen hier«. Damit ist zwar eine Grundlage für die Aneignung einer Variante des Portugiesischen vorhanden, die auch auf dem
»angestammten Territorium« dieser Sprache anerkannt wäre. Aber die Erwartung ist, dass das Portugiesische dort ein anderes Niveau aufzuweisen habe –
z.B. eine »intellektuellere Sprache«, wie die, über die die große Schwester
zwei Jahre nach ihrer Übersiedelung nach Portugal verfügt. Claudia kann die
Unterschiede zwischen dem Portugiesisch, das sie in Hamburg erworben hat
und gebraucht, und dem Portugiesisch in Portugal gut einschätzen, und sie
kennt die unterschiedliche Reichweite der beiden Varianten.
Insgesamt zeigt Claudia ein gutes sprachliches Selbstbewusstsein und eine
positive Einstellung gegenüber der eigenen lebensweltlichen Mehrsprachigkeit; sie würde sich eine ähnliche sprachliche Entwicklung auch für ihre eigenen Kinder wünschen, denen sie »auf jeden Fall beide Sprachen beibringen
[würde], das ist klar, und wenn es geht, noch eine dritte, das wäre toll.«
Ihre lebensweltliche Mehrsprachigkeit ist also wichtig und ohne Zweifel positiv für Claudia. Wie aber verhält es sich mit der Legitimität ihrer Spracherfahrung? In ihrer Schulkarriere – zum Zeitpunkt des Interviews war sie soeben
dabei, die Realschule erfolgreich abzuschließen – erfuhr sie freundliche und
positive Bewertungen ihrer Mehrsprachigkeit durch Lehrerinnen und Lehrer:
I: Haben sich Deine Lehrer dafür interessiert, dass Du eigentlich zweisprachig bist?
C: Ja, doch, also was heißt interessiert? Die reden schon darüber, weil
ich ja halt auch im Französischen und Englischen gut bin. Und dann
sagen sie: ‘Oh, ist toll, wenn man so viele Sprachen so gut beherrscht’. Das ist bei den meisten Portugiesen, also überhaupt bei
den meisten Ausländern so, die mehrere Sprachen und nicht nur ihre
54
Ingrid Gogolin
Sprachenvielfalt durch Zuwanderung
eigene Sprache gut beherrschen. Besser als die Deutschen, das ist
irgendwie so. Also im Englischen zum Beispiel bin ich momentan die
Beste aus der Klasse. Ich weiß auch nicht, aber der Lehrer meint,
dass ich halt auch Portugiesisch kann und so auf Deutsch sprechen
kann. Und die finden das einfach toll.
Claudia fühlte sich also von ihren Lehrkräften als Mehrsprachige anerkannt
und hat sogar den Eindruck gewonnen, vor Jugendlichen aus nichtgewanderten Familien einen Vorteil zu haben (»besser als die Deutschen, das ist irgendwie so«). Bei genauerem Hinsehen allerdings hat sie die Anerkennung
ihrer sprachlichen Fähigkeiten nur unter ganz bestimmten Bedingungen erhalten. Sie erzielt nämlich gute Leistungen auch in den »legitimen« Schulfremdsprachen Englisch und Französisch. Darin ist vielleicht sogar der eigentliche Grund für die positive Bewertung ihrer von zu Hause mitgebrachten
sprachlichen Fähigkeiten durch Lehrerinnen und Lehrer zu sehen: »Die reden
schon darüber, weil ich ja halt auch im Französischen und Englischen gut
bin.«
Eine der Bedingungen dafür, wie es zur Wertschätzung der lebensweltlichen
Mehrsprachigkeit Zugewanderter – mindestens im schulischen Raum – kommen könnte, liegt also anscheinend im Lernerfolg in den »legitimen Schulsprachen«; spekulieren könnte man, dass das Anerkenntnis davon abhängt,
ob jemand ein »guter Schüler« ist oder nicht. Zaghafte Hinweise auf andere
Bedingungen dafür, dass in den Augen von Lehrkräften auch die Kompetenzen in einer »illegitimen« Sprache wertgeschätzt werden, sind in weiteren
Erinnerungen Claudias zu finden. So denkt sie z.B. gern an einen Lehrer zurück,
der hat Portugiesisch gelernt, und der hat dann auch mit uns im Unterricht immer Portugiesisch gesprochen. Momentan ist der ein Jahr in
Portugal, der hat sich halt ein Jahr Urlaub genommen. Und der fand
das dann immer so toll, und das war auch immer schön, mit dem in
Pausen Portugiesisch zu schnacken. [...] Es war ganz schön, weil man
ihm selbst auch noch ein bisschen beibringen konnte, weil er das nicht
perfekt beherrscht. [...] Ja, das hat Spaß gebracht, ihm Portugiesisch
beizubringen.
Das eigene Bestreben des Lehrers, die portugiesische Sprache zu lernen, hat
eine Aufwertung von Claudias Sprachkönnen mit sich gebracht. Für den Leh55
Sprachenvielfalt durch Zuwanderung
Ingrid Gogolin
rer scheint Portugal ein attraktives Urlaubsziel gewesen zu sein; möglicherweise konnte er sogar angenehme Erinnerungen und einen praktischen Verwertungszweck mit seinen eigenen, und dadurch vermittelt: mit Claudias
Kompetenzen verbinden. Die praktische Verwertbarkeit für die Angehörigen
der Majorität, womöglich noch in positiv besetztem Kontext, könnte also eine
weitere Bedingung für die Legitimierung der lebensweltlichen Mehrsprachigkeit von Migranten sein.
Vielleicht haben solche Erfahrungen Claudias Berufswünsche stark beeinflusst; jedenfalls interessierte sie sich zunächst vor allem für die Ausbildungsberufe Hotelfachfrau und Reisebürokauffrau. Zu vermuten ist, dass
dieses Interesse auch durch die offizielle Berufsberatung beeinflusst war, die
Schülerinnen und Schülern in Hamburg gegeben wird. Materialien zur Berufsberatung, die das Hamburger Arbeitsamt zur Verfügung stellt, legen es Jugendlichen aus zugewanderten Familien nahe, sich für die Tourismusbranche
zu entscheiden. Aufgrund ihrer Herkunft seien sie »Experten« für das Land,
das als ihr Herkunftsland gilt (auch wenn sie selbst, wie Claudia, es nur aus
Urlauben kennen), und das ein attraktives Urlaubsland ist. Die Aufwertung
der familialen sprachlich-kulturellen Kompetenzen beruht in diesem Fall auf
einer »ethnischen Ressource«, die speziell Migranten zur Verfügung steht
(vgl. Haug/ Pichler 1999).
Vorerst aber hatte Claudia noch keinen Erfolg mit dem Einsatz dieser Ressource; sie macht im Bewerbungsgespräch die Erfahrung, dass ihre lebensweltlichen Sprachkompetenzen zwar mit Wohlwollen betrachtet werden, aber
ihr nicht zum gewünschten Berufseinstieg verhelfen. Nach einigen vergeblichen Bewerbungen um einen Ausbildungsplatz meldet sich Claudia bei einer
Schule an, in der sie im Anschluss an den Realschulabschluss eine Ausbildung zur Fremdsprachenkorrespondentin beginnen könnte. Sie verfolgte also
ihr Ziel weiter, auf ihre »ethnischen Ressourcen« gestützt einen gelungenen
Berufseinstieg zu realisieren, denn mit dieser weiterführenden Schulausbildung besitzt sie auch die Chance auf ein Zertifikat für ihre mitgebrachten
Kenntnisse des Portugiesischen.
Bei der Verfolgung dieses Ziels hatte sie Vorbilder durch ihre Einbindung in
ein transnationales Migrantennetzwerk. In jedem Sommerurlaub in Portugal
traf sie Freunde und Verwandte, für die die Mobilität zwischen Portugal und
anderen Ländern ebenfalls zur Lebensnormalität gehört. Claudia pflegt nicht
56
Ingrid Gogolin
Sprachenvielfalt durch Zuwanderung
nur Kontakte mit portugiesischen Migrantinnen und Migranten, die irgendwo
in Deutschland wohnen, sondern auch mit solchen aus der Schweiz, aus
Frankreich und Brasilien. Unter ihren in Portugal lebenden Kontaktpersonen
waren reichlich Menschen, die anderswo gelebt hatten, aber wieder nach
Portugal gezogen waren. In Claudias gewohnter Umgebung ist es also durchaus üblich, einen oder mehrere Wechsel des Lebensorts zu vollziehen. In
diesem Rahmen nun rückt eine »Kapitalisierung« ihrer Mehrsprachigkeit dicht
an den Horizont. Allerdings setzt dies unter den herrschenden Umständen
möglicherweise voraus, dass sie an einem anderen Ort leben muss. Claudia
wünscht sich,
C: [...] Fremdsprachenlehrerin in Portugal [zu] werden. Ich würde gerne
Französisch und Deutsch und Englisch unterrichten. Das wäre mein
Ziel.
I: Und warum dann in Portugal?
C: Ich weiß nicht, ich habe es ja noch nicht ausprobiert, dort zu leben.
Aber ich denke, es ist einfach schön. Und vor allem habe ich da mehr
Möglichkeiten als hier. Auch wegen dem Deutschen hat man da in Portugal viele Möglichkeiten, auch mit dem Englischen. Da ich da auch
sehr gut bin, im Englischen, habe ich da sehr große Chancen, denke
ich. [...] Ja, doch, Deutsch unterrichten, das wäre schön, das wäre wirklich schön.
Mit dem Wechsel des Lebensorts würden sich für Claudia die sprachlichen
Marktverhältnisse ändern, in denen sie ihr sprachliches Kapital einsetzt. Das
Ansehen des Deutschen in Portugal ist hoch. Es ist die Sprache eines reichen,
einflussreichen Landes, wichtig für die Geschicke der Europäischen Union –
und so weiter. In Portugal also wäre ihr Deutsch ein wertvolles zusätzliches
Sprachkapital, umso mehr, als es mit dem Zertifikat der Schule in Deutschland gesegnet ist. Zugleich wäre in Portugal ihr Portugiesisch, ungeachtet des
vorerst nicht verfügbaren Zertifikats, in den Status der legitimen Sprache
gehoben; es ist schließlich die herrschende Nationalsprache. Falls Claudia
ihre Schulbesuchswünsche realisieren kann, wird sie zusätzlich eine offizielle
Legitimierung ihrer lebensweltlich erworbenen Portugiesischkenntnisse erhalten. Damit erhält sie die Chance, dass ihr Meistern des Portugiesischen
auch an Wert für ein (Arbeits-)Leben außerhalb Portugals gewinnt: falls sie es
als formale Qualifikation in einen Beruf einbringen kann. Ihre Englisch- und
57
Sprachenvielfalt durch Zuwanderung
Ingrid Gogolin
Französischkenntnisse würden in dem Falle gewiss nicht an Wert verlieren –
aber wohl eher an die dritte und vierte Stelle rücken, als Sprachen, die sie
»nur« gelernt hat, aber in denen sie nicht gelebt hat. Die Vorzeichen beim
Bemessen des Werts der Sprachen, zu denen sie Zugang hat, ändern sich
also, wenn sie den Lebensort wechselt.
Soweit Claudias Erinnerungen, Hoffnungen, Wünsche. Wir wissen noch nicht,
ob sich die Investitionen, die sie in den Ausbau ihrer Migrantensprache getätigt hat, für sie auszahlen werden. Unter den gegebenen Umständen, die
Claudia sehr klug beobachtet hat, wird eine Kompetenz erst mit dem Zertifikat
zur legitimen Kompetenz. Der bloße Gebrauchswert einer Sprache, verstanden als praktischer Nutzen für die Kommunikation zwischen Menschen, spielt
für ihren Tauschwert und für die allgemeine Akzeptanz, die ihr entgegengebracht wird, nur eine untergeordnete Rolle.
Der offizielle Umgang, den sich Deutschland mit den Sprachen Zugewanderter
leistet, trägt Züge von Kapitalvernichtung. Eine Sprachpolitik und Sprachbildungspolitik, die nicht auf Kapitalvernichtung setzen würde, sondern auf die
Vermehrung des sprachlichen Reichtums in Deutschland, könnte aus dem
Vollen schöpfen. Sie müsste sich nur darum bemühen, die unter den Menschen vorhandenen sprachlichen Fähigkeiten aufzugreifen und anzuerkennen,
sie zur vollen Entfaltung zu führen und ein Klima zu schaffen, in dem jeder
Mann, jede Frau die sprachliche Vielfalt um sie oder ihn herum als Reichtum
zu erleben imstande ist.
Literatur (zitierte und andere weiterführende Literatur)
Benhabib, S. (1999): Kulturelle Vielfalt und demokratische Gleichheit, Frankfurt/M
Bourdieu, P. (1990): Was heißt sprechen? Die Ökonomie des sprachlichen
Tausches. Wien
Broeder, P./ Extra, G. (eds., 1999): Language, Ethnicity and Education. Case
Studies on Immigrant Minority Languages. Clevedon
58
Ingrid Gogolin
Sprachenvielfalt durch Zuwanderung
Fürstenau, S. (2001): Mehrsprachigkeit als »Kapital« im transnationalen sozialen Raum. Berufs- und Zukunftsorientierungen von Jugendlichen portugiesischer Herkunft. Inaugural Dissertation, in Vorbereitung. (Universität
Hamburg)
Fürstenau, S./ Gogolin, I. (2001): Sprachliches Grenzgängertum. Zur Mehrsprachigkeit von Migranten. In: List, G./ List, G. (Hrsg.), Quersprachigkeit.
Tübingen
Gogolin, I. (1994): Der monolinguale Habitus der multilingualen Schule.
Münster
dies. (1997): »Arrangements« als Hindernis & Potential für Veränderung der
schulischen sprachlichen Bildung. In: dies./ Neumann, U. (Hrsg.): Großstadt-Grundschule. Eine Fallstudie über sprachliche und kulturelle Pluralität als Bedingung der Grundschularbeit. Münster/ New York, S. 311 - 344
dies. (1998a): »Kultur« als Thema der Pädagogik der 1990er Jahre. In: Stroß,
A. M./ Thiel, F. (Hrsg.): Erziehungswissenschaft, Nachbardisziplinen und
Öffentlichkeit: Themenfelder und Themenrezeptionen der allgemeinen Pädagogik in den 1990er Jahren. Weinheim/ München, S. 125 - 150
dies. (1998b): Sprachen rein halten – eine Obsession. In: dies./ List, G./ List,
G. (2001): Interkulturelle Bildungsforschung. In: Tippelt, R.: Handbuch
Bildungsforschung. Opladen
Gogolin, I./ Krüger-Potratz, M./ Meyer, M. A. (Hrsg., 1998): Pluralität und
Bildung. Opladen, S. 251 - 276
Gogolin, I./ Neumann, U. (Hrsg., 1997): Großstadt-Grundschule. Eine Fallstudie über sprachliche und kulturelle Pluralität als Bedingung der
Grundschularbeit. Münster/New York
Gogolin, I./ Neumann, U./ Reuter, L. (Hrsg., 2001): Schulbildung für Minderheiten in Deutschland (1989 - 1999). Münster/ New York
Haug, S./ Pichler, E. (1999): Soziale Netzwerke und Transnationalität. Neue
Ansätze für die historische Migrationsforschung. In: Motte, J./ Ohlinger, R.
(Hrsg.): 50 Jahre BRD – 50 Jahre Einwanderung. Frankfurt/ New York, S.
259 - 284
Hobsbawm, E. J. (1991): Nationen und Nationalismus. Mythos und Realität seit
1780. Frankfurt/ M.
59
Sprachenvielfalt durch Zuwanderung
Ingrid Gogolin
Krüger-Potratz, M. (1999): Stichwort: Erziehungswissenschaft und kulturelle
Differenz. In: Zeitschrift f. Erziehungswissenschaft, 2. Jg, H. 2, S. 149 - 165
Neumann, U./ Reuter, L. (1997): Alles, was Recht ist. Minderheiten im deutschen Schulwesen. In: Deutsch lernen, 22. Jg., S. 224 - 243
Nieke, W. (2000): Interkulturelle Erziehung und Bildung. Opladen
Pries, L. (Hrsg., 1997): Neue Migration im transnationalen Raum. In: ders.
(Hrsg.): Transnationale Migration. Sonderband 12 der Zeitschrift Soziale
Welt. Baden-Baden, S. 15 - 36
Thränhardt, D. (1999): Ausländer im deutschen Bildungssystem. Ein Literaturbericht von 1975. Wiederabdruck in: Krüger-Potratz, M. (Hrsg.): Interkulturelle Studien. Heft 30. Münster, S. 138 - 171
Ingrid Gogolin, Dr., Professorin für international vergleichende und interkulturelle Bildungsforschung am Institut für International und Interkulturell Vergleichende Erziehungswissenschaft der Universität Hamburg
60
Franz Hamburger
Gefährdung durch gute Absichten
Gefährdung
durch gute Absichten
Franz Hamburger
Das größte Risiko für Kinder und Jugendliche »mit Migrationshintergrund« ist,
als solche identifiziert zu werden. Sie werden dabei als verschieden, »anders«
wahrgenommen, einer Kategorie zugeordnet und zukünftig nur noch – oder:
vor allem – als Angehörige dieser Kategorie behandelt. Was immer sie tun –
es wird im Zusammenhang des ihnen auferlegten Etiketts interpretiert. Erving
Goffman hat in seinem Buch »Stigma« diese Prozesse beschrieben und darauf
hingewiesen, dass vor allem die gut gemeinten Reaktionen und Interventionen die Etikettierten in besonderer Weise kränken. Gerade weil sie durchschauen, dass es sich um gut gemeinte Verhaltensweisen handelt, fällt ihnen
die Reaktion schwer, sind sie doch in einer Doppelbindungsfalle gefangen.
Reagieren sie nämlich abweisend auf die Behandlung als »Merkmalsträger«
(und eben nicht als Individuum) dann enttäuschen sie die »gute Absicht«.
Ziehen sie sich aber zurück und wollen nicht direkt auf die Kränkung reagieren, dann bestätigen sie scheinbar das Stereotyp von den desinteressierten
Migranten.
Man kann annehmen, dass in Schule und Jugendhilfe tagtäglich und tausendfach genau diese Prozesse ablaufen und die Blockaden gegen Bildungserfolg
und Subjektwerdung errichten. Aggression und Apathie gehören aber nicht in
besonderer Weise zur Charakterausstattung von Migrantenkindern, sie werden gerade in pädagogischen Institutionen hervorgebracht. Dabei gibt es
keine Hinweise, dass dort der Rassismus und die Angst um das Eigene und
vor dem Fremden weniger verbreitet wären als in der gesamten Gesellschaft.
61
Gefährdung durch gute Absichten
Franz Hamburger
Doch kann man sich gegen einen nicht gewaltsamen, aber doch offenkundigen Rassismus noch besser zur Wehr setzen als gegen die betuliche Förderung der »armen Ausländerkinder«.
In jedem Fall ist die entscheidende Kränkung die der Vorenthaltung des Subjektstatus. Kinder und Jugendliche »mit Migrationshintergrund« werden eben
nicht als unverwechselbare und einmalige Individuen erkannt und anerkannt
wie alle anderen Kinder und Jugendlichen auch, aus ihnen spricht der Hintergrund. Gerade die – durch eine Interkulturelle Pädagogik »aufgeklärten« –
Pädagogen und Pädagoginnen stehen in der Gefahr, die Differenz der Kulturen vor das Individuum zu stellen und es damit prinzipiell zu verfehlen. Das,
was die Erziehung in der Moderne im Kern ausmacht, dass nämlich die Zuerkennung der individuellen Einmaligkeit die Bedingung der Subjektwerdung
ist, wird verfehlt. Doch zum Menschen kann nur werden, wer als solcher
wahrgenommen und behandelt wird. Und was wir als fortschrittliche Differenzierung feiern, ist der subtile Ausbau des Gefängnisses. Hinter dem Begriff
»Ausländerkinder« steckte ja noch die einfache objektive Differenz des
Rechtsstatus. Die damit verbundene objektive Problematik konnte man bewältigen, wenn sie in ihrer rechtlichen und politischen Relevanz erkannt und
nicht psychologisierend umgedeutet wurde. Die Formel »mit Migrationshintergrund« ist eine scheinbar verständnisvolle Differenzierung; doch in wie
vielen Fällen wirkt sie tatsächlich wie die Aufforderung zum detektivischen
Nachspüren und zum Herausfinden der Kategorie, der man zuordnen kann?
Auch wessen Eltern Migranten waren, wird noch dingfest gemacht und in die
interkulturellpädagogisch vorfabrizierte Schublade gesteckt. Was den Pädagogen und Pädagoginnen zur Orientierung verhilft, desorientiert diejenigen,
die nur ein normales Individuum sein wollen.
Sicherlich ist es ein widerliches Schauspiel, wenn die Migranten – und genau
dies ist wichtig: es geht nicht um Migration, sondern um die fremd gemachten
Menschen – in der politischen Auseinandersetzung der Wahlkämpfe von der
deutschen Front national zum Instrument gemacht und die Zukunftsfähigkeit
der Gesellschaft erneut reduziert wird, doch die Pathologien einer Gesellschaft, die immer noch von Zuwanderung spricht, wo Einwanderung geschehen ist, sind weit verästelt. Wenn die Kinder und Jugendlichen »mit Migrationshintergrund« für die Defizite des Bildungssystems verantwortlich gemacht
und mit einem typisch deutschen Kindergartenpflichtjahr auf Vordermann
62
Franz Hamburger
Gefährdung durch gute Absichten
gebracht werden sollen, dann werden solche Pathologien sichtbar. Aber sie
schlagen auch, in welcher Form auch immer, auf pädagogisch strukturierte
Interaktionen durch. Ein wichtiger erster Schritt, ihre unbemerkte Wirkung
abzumildern, ist Reflexion und Selbstreflexion.
Darüber hinaus ist eine Alternative zur identifizierenden Entindividualisierung
einfach formuliert und manchmal schwer zu realisieren: Auch das Kind »mit
Migrationshintergrund« ist nichts anderes als ein Individuum. Über seine
Zugehörigkeiten, die ihm auferlegt sind, verfügt es selbst, insbesondere darüber, was sie ihm bedeuten. Solange dies nicht respektiert wird, ist keine
Interaktion unter gleichberechtigten Personen, erst recht kein pädagogisches
Verhältnis möglich.
Der Kinder- und Jugendschutz steht immer in der Gefahr, durch die Definition
seiner Adressaten als Problemgruppen zur Produktion der Umstände beizutragen, die er dann verbessern will. Diese Paradoxie lässt sich aus allen Hilfeund Erziehungsintentionen nicht wegdefinieren. Nur durch eine Kritik der
Stigmatisierung und durch starke Selbstreflexion lässt sich die Paradoxie
offen halten, lassen sich durch die Respektierung des Individuums Wege zur
Bildung ermöglichen.
Franz Hamburger, Dr., Professor für Pädagogik am Pädagogischen Institut der
Johannes Gutenberg-Universität Mainz
Nachdruck aus: Kind Jugend Gesellschaft 3-2002
63
Anti-Aggressions-Kurse mit Jugendlichen
Ahmet Toprak
Anti-Aggressions-Kurse
mit Jugendlichen aus dem
Herkunftsland Türkei
Ahmet Toprak
Die Arbeiterwohlfahrt, Referat Migration in München führt seit 1979 Jugendgerichtshilfe (JGH) in Delegation vom Stadtjugendamt München durch. Mitte der
90er-Jahre konnte in der hausinternen Statistik der JGH festgestellt werden,
dass Jugendliche türkischer Herkunft in ca. 40 Prozent der Fälle im Bereich
der Körperverletzung, der gefährlichen Körperverletzung, Raub, Raubüberfall
sowie Vandalismus auffällig werden. Die Maßnahmen, die im Stadtgebiet
München für solche Jugendlichen angeboten wurden, waren nicht mit den
Zielsetzungen und dem Programm des Anti-Aggressions-Kurses vergleichbar.
Die Maßnahmen, die damals liefen, trugen den Namen Soziale Trainingskurse, d.h. es wurde nicht primär an der Gewalttätigkeit des Jugendlichen/ Heranwachsenden gearbeitet, sondern an seinem sozialen Verhalten insgesamt.
Darüber hinaus konnte beobachtet werden, dass diese Jugendlichen aufgrund
eines anderen Ehrbegriffes, Sich-Falsch-Verstanden-Fühlens sowie eines an1
deren Verständnisses von Freundschaft straffällig werden. Sie setzen sich
bedingungslos, auch auf die Gefahr hin, dass sie verletzt werden, für den
1
Es soll hier hervorgehoben werden, dass diese Jugendlichen in der Gesellschaft einen schlechten Stand haben, wie z.B. kein Schulabschluss, Arbeitslosigkeit oder aber ausländerrechtliche
Probleme. Um u.a. ihre Taten »rechtfertigen« zu können, begründen viele von ihnen ihre Taten
mit der Besonderheit der Ehrenhaftigkeit und Männlichkeit eines türkischen Mannes.
64
Ahmet Toprak
Anti-Aggressions-Kurse mit Jugendlichen
Freund ein: Solidarität und sich für den Freund einsetzen ist eine tief verankerte Grundvoraussetzung, über die nicht nachgedacht und die auch nicht in
Frage gestellt wird. Eine bedingungslose Solidarität heißt auch, dem Freund,
ohne die Situation zu hinterfragen, Hilfe zu leisten. Wenn die bedingungslose
Solidarität nicht gewährleistet wird, ist nicht nur die Freundschaft, sondern
auch die Männlichkeit des Jugendlichen in Frage gestellt. Die Grenzen der
Freundschaft werden verletzt, wenn die folgenden Punkte unter den Freunden
nicht beachtet werden:
• wenn die Mutter oder andere Familienmitglieder
beleidigt oder beschimpft werden,
• wenn Männlichkeit oder Potenz angezweifelt werden.
Beim Begriff »Ehre« zeigt sich ein ähnlich rigides Verhalten. Jugendliche, die
einen Anti-Aggressions-Kurs besuchen, obwohl sie mittlerweile zur dritten
Migrantengeneration zählen, halten denjenigen für ehrenhaft, der sich, seine
Freundin und andere weibliche Familienmitglieder nach außen bedingungslos
schützt. Die Ehre des Mannes ist in Frage gestellt, wenn irgend jemand von
außen ein Mitglied der Familie, insbesondere eine der Frauen, belästigt oder
angreift. Ein Mann gilt als ehrlos, wenn er nicht bedingungslos und entschieden seine Angehörigen verteidigt. Die Ehre des Mannes begründet sich insbesondere auf dem Schutz seiner Ehefrau. Er muss nach außen Stärke und
Selbstbewusstsein demonstrieren, um die Sicherheit seiner Frau garantieren
zu können. Die Ehre einer verheirateten Frau wird im wesentlichen in ihrer
Keuschheit gesehen. Eine Frau, die Ehebruch begeht, »befleckt« nicht nur ihre
eigene Ehre, sondern auch die ihres Mannes, weil er nicht Mann genug war,
sie davon abzuhalten. Die Ehrenhaftigkeit einer ledigen Frau wird darin gesehen, dass sie bis zu ihrer Eheschließung ihre Jungfräulichkeit bewahrt. In
diesem Zusammenhang äußert sich ein 15-jähriger Anti-Aggressions-KursTeilnehmer – das Gespräch wurde im Rahmen des Vorgespräches geführt –
folgendermaßen:
»Also, was ist für mich Ehre? Wenn jemand mich beleidigt oder er beleidigt meine Freundin, ne. Wenn ich dann nichts tue, also ihn nicht
schlage, ne. Ja, dann heißt das ja, jeder kann mich schlagen und meine
Freundin, ja Mutter, Schwester und so weiter beleidigen. Ich habe
dann keine Ehre. (...) Dann kommt jeder kleine Wichser und will mich
schlagen oder meine Freundin beleidigen. Wenn du dich nicht wehrst,
65
Anti-Aggressions-Kurse mit Jugendlichen
Ahmet Toprak
macht dich jedes kleines Kind dann an. (...) Für Mädchen ehrenhaft?
Wenn ich ein türkisches Mädchen heirate, dann soll sie Jungfrau sein,
ne. Wenn sie nicht Jungfrau ist, hat sie keine Ehre, ne.«
Diese Jugendlichen bzw. Heranwachsenden lernen, dass sie in der Lage sein
müssen, weibliche Familienmitglieder bedingungslos und um jeden Preis zu
schützen. Es wird von ihnen erwartet, im Extremfall, auch Gewalt anzuwenden. Setzt einer sich nicht bedingungslos für seine Schwester bzw. seine
Freundin/Frau ein, wird er nicht nur als ehrlos, sondern auch unmännlich und
schwach bezeichnet. Er wird in der Familie nicht mehr hoch angesehen, seine
Männlichkeit wird, vor allem vom Vater und anderen männlichen Familienmitgliedern in Frage gestellt, und er wird bei Entscheidungen, die die Familie
betreffen, nicht mehr mit einbezogen.
Die Vorstellungen der Jugendlichen von Freundschaft/Ehre und die »Realität«
weichen jedoch stark voneinander ab und »kollidieren« miteinander. Viele
Jugendliche sind nicht mal in der Lage, diese beiden Begriffe richtig zu definieren, weil sie es nicht gelernt haben zu reflektieren. Wenn es um Freunde
bzw. um die Freundin/Schwester geht, ist die Hemmschwelle und das Unrechtsbewusstsein sehr gering; über die Konsequenzen der Tat und über das
Opfer wird nicht groß nachgedacht.
Anti-Aggressions-Kurse nach Paragraph 10 JGG
Um diese Jugendlichen aufzufangen und gezielt an den oben ausgeführten
Problemlagen zu arbeiten, wurde dieser Kurs nur für Jugendliche aus dem
türkischen Kulturkreis konzipiert. Um den kulturspezifischen Hintergrund zu
beleuchten, sollte der Kursleiter männlich und nach Möglichkeit türkischsprachig sein. Am 01.11.1996 wurde das auf fünf Jahre angelegte Projekt mit den
Inhalten Täter-Opfer-Ausgleich, Anti-Aggressions-Kurs, Weisungsbetreuung
sowie angeordnete Beratung gestartet.
Rechtliche Grundlagen
Die Anti-Aggressions-Kurse der Arbeiterwohlfahrt – Referat Migration – sind
ein Teil der richterlichen Weisungen, die im Rahmen des § 10 Jugendgerichtsgesetz ausgesprochen werden können, d.h. es muss ein Gerichtsurteil vorlie-
66
Ahmet Toprak
Anti-Aggressions-Kurse mit Jugendlichen
gen, um am Anti-Aggressions-Kurs teilnehmen zu können. Im JGH werden
diese Weisungen wie folgt definiert: »Weisungen sind Gebote und Verbote,
welche die Lebensführung des Jugendlichen regeln und dadurch seine Erziehung fördern und sichern sollen. Dabei dürfen an die Lebensführung des
2
Jugendlichen keine unzumutbaren Anforderungen gestellt werden.«
Der Jugendrichter kann folgende Weisungen auferlegen:
1. Weisungen zu befolgen, die sich auf den Aufenthaltsort beziehen,
2. bei einer Familie oder in einem Heim zu wohnen,
3. eine Ausbildungs- oder Arbeitsstelle anzunehmen,
4. Arbeitsleistungen zu erbringen,
5. sich der Betreuung und Aufsicht einer bestimmten Person
(Betreuungshelfer) zu unterstellen,
6. an einem sozialen Trainingskurs teilzunehmen,
7. sich zu bemühen, einen Ausgleich mit dem Verletzten zu erreichen
(Täter-Opfer-Ausgleich),
8. den Verkehr mit bestimmten Personen oder
den Besuch von Gast- oder Vergnügungsstätten zu unterlassen oder
3
9. an einem Verkehrsunterricht teilzunehmen.
Die Überwachung der Weisung muss vom jeweiligen Richter vorgenommen
werden. »Die Befolgung der Weisung kann nicht erzwungen, sondern die
4
5
Nichterfüllung mit JA geahndet werden (...)« Deshalb ist der Kursleiter verpflichtet, dem Jugendgericht mitzuteilen, ob der Jugendliche an dem Kurs
teilnimmt oder nicht. Über die genauen Inhalte des Kurses wird dem Gericht
kein Bericht eingereicht. Sollte der Kursteilnehmer am Anti-Aggressions-Kurs
unregelmäßig teilnehmen, kann das Jugendgericht nach einer Anhörung bis
zu vier Wochen Dauerarrest verhängen. Nach einem Dauerarrest ist der Ju2
JGH, kommentiert von Brunner, 9. Auflage, 1991, S. 120.
3
vgl. ebd.
Jugendarrest
vgl. ebd., S. 143.
4
5
67
Anti-Aggressions-Kurse mit Jugendlichen
Ahmet Toprak
gendliche – in der Regel – weiterhin verpflichtet, an diesem Kurs teilzunehmen; dies wird von Fall zu Fall vom jeweiligen Jugendrichter entschieden.
Darüber hinaus werden Jugendliche und Heranwachsende in die Kurse aufgenommen, wenn sie den Anti-Aggressions-Kurs im Rahmen einer Freiheitsstrafe als Bewährungsauflage auferlegt bekommen haben: »Der Richter soll für
die Dauer der Bewährungszeit die Lebensführung des Jugendlichen durch
Weisungen erzieherisch beeinflussen. Er kann dem Jugendlichen auch Auflagen erteilen. Diese Anordnung kann er nachträglich treffen, ändern oder auf6
heben. Die §§ 10, 11 Abs. 3 (...) gelten entsprechend.« Die Überwachung der
Auflage wird in diesem Falle nicht vom zuständigen Jugendrichter vorgenom7
men, sondern vom Bewährungshelfer . Darüber, ob der Jugendliche an dem
Kurs teilnimmt oder nicht, wird der zuständige Bewährungshelfer zügig informiert. Sollte der Jugendliche an dem Anti-Aggressions-Kurs nicht teilnehmen, kann seine Bewährung widerrufen werden.
Methodische Grundlagen
Die Grundlagen des Anti-Aggressions-Kurses sind überwiegend entnommen
aus Jens Weidners Konzeption des Anti-Aggressivitäts-Trainings. Eine hundertprozentige Umsetzung dieses Konzeptes ist nicht das Anliegen des AntiAggressions-Kurses der Arbeiterwohlfahrt – Referat Migration, allein des Zeitrahmens wegen nicht. Diese Konzeption wurde auf die Bedürfnisse der Klienten der Arbeiterwohlfahrt umgestellt. Burschky/Sames/Weidner schlagen im
Sitzungscurriculum 19 Sitzungen mit einem Trainer, einem Co-Trainer, zwei
Tutoren (Ex-User/Gewaltexperten), einer neutralen Person, ca. 5-7 Teilneh8
mern und einem zeitlichen Umfang von 54,5 bis 73,5 Stunden vor. Das AntiAggressivitäts-Training Jens Weidners beinhaltet folgende Eckpfeiler, die auch
von der Arbeiterwohlfahrt in abgeschwächter Form umgesetzt werden:
6
7
8
§23 vgl. ebd., S. 230.
vgl. ebd., S. 233.
vgl. Burschky; Sames; Weidner, In: Weidner; Kilb; Kreft, 1997, S. 83-89.
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Ahmet Toprak
Anti-Aggressions-Kurse mit Jugendlichen
Faktoren
Lerninhalte
Lernziele
1. Aggressivitätsauslöser
Was sind provozierende
Situationen? Wann ist für den
Teilnehmer Gewalt »zwingend
notwendig«? Wie weit verstärkt Alkohol die Gewaltbereitschaft?
Das Infragestellen »zwingender
Notwendigkeiten«. Das frühzeitige Erkennen gewaltaffiner Entwicklungen und der Rückzug oder
die Schlichtung als Handlungsalternative.
2. Aggressivität
als Vorteil
Die gewalttätige Unterwerfung zur Erhöhung des
Selbstwertgefühls, das Opfer
als »Tankstelle« des Selbstbewusstseins. Anerkennung
und Respekt durch Freunde.
Die Kosten-Nutzen-Analyse: Jede
weitere Körperverletzung kann
Jahre an Haftzeiten kosten.
3. Selbstbild
zwischen Idealund Realselbst
Das Ideal des Teilnehmers ist
hart, unbeugsam, »cool« und
gnadenlos. Das reale Selbst
ist dagegen leicht kränkbar,
wenig selbstbewusst und als
Versager »abgestempelt«.
Widerlegung der Hypothese der
Teilnehmer, »Härte macht unangreifbar«, Dissonanzausgleich
durch veränderte Rollenerwartungen: statt Unbesiegbarkeit die
kränkbaren Persönlichkeitsanteile respektieren lernen.
4. Neutralisierungstechniken
Die Auseinandersetzung mit
der real begangenen Tat. Die
Analyse vorgeschobener
Rechtfertigungen von Gewalttaten. Die Konfrontation der
Neutralisierungen und die
Einmassierung des Realitätsprinzips.
Das Wecken von Schuld- und
Schamgefühl. Übernahme von
Verantwortung für die Taten. Die
Veränderung des Selbstbildes:
vom souveränen Kämpfer zum
entschuldigenden Versager.
5.Opferkonfrontation/Opferperspektiven
Schmerzen, Behinderungen,
Ängste, Trauer von Gewaltopfern: Tonbandinterviews. Der
fiktive (nicht abgesandte)
Entschuldigungsbrief an
Opfer.
Kathartisches Durchleben des
Opferleids. Steigerung des Opfereinfühlungsvermögens, Hass
und Härte. Betroffenheit durch
mögliche und reale Opferfolgen
wecken.
69
Anti-Aggressions-Kurse mit Jugendlichen
6. Provokations- Das Aufstellen und Durchtests
spielen einer Hierarchie von
leichten Belästigungen bis zu
Aggression auslösenden
Provokationen, im Sinne
systematischer Desensibilisierung.
Ahmet Toprak
Trotz Provokationen gelassen
bleiben. Das »Austesten« der
eigenen Grenzen im kontrollierten Umfeld. Erkenntnisgewinn:
Die größte Niederlage des Provokateurs ist das Ignorieren der
Provokation. Sich mit Worten,
Humor, Ironie (statt Fäusten)
wehren.
Im Anti-Aggressions-Kurs der Arbeiterwohlfahrt werden die Faktoren 3-6 im
Rahmen des »heißen Stuhls« umgesetzt, der weiter unten noch vorgestellt
wird.
Deskriptionsphase
Unter Deskriptionsphase versteht Heilemann die persönliche Vorstellung des
Teilnehmers, seinen Lebenslauf, testpsychologische Zusatzuntersuchung mit
9
Aggressionstest sowie die inhaltliche Überprüfung der Gerichtsurteile .
Die Deskriptionsphase des Anti-Aggressions-Kurses der Arbeiterwohlfahrt
unterscheidet sich von der Deskriptionsphase Heilemanns: Die Jugendgerichtshilfe, die im Haus untergebracht ist, eruiert im Vorfeld der Hauptverhandlung, ob ein Jugendlicher für einen Anti-Aggressions-Kurs geeignet ist.
Dieses Anliegen bzw. der Ahndungsvorschlag wird im JugendgerichtshilfeGespräch mit dem jeweiligen Jugendlichen besprochen. Willigt er ein, an einem solchen Kurs teilzunehmen, schlägt die Jugendgerichtshilfe als Ahndung
vor, an einem Anti-Aggressions-Kurs teilzunehmen. Die Akte mit dem aktuellen Urteil, Jugendgerichtshilfe-Bericht, Anklageschrift(en), alte Urteile, wenn
welche vorhanden sind, sowie Schriftverkehr wird dem Kursleiter übergeben.
Der Kursleiter studiert die gesamte Akte, versucht die Straffälligkeiten des
Jugendlichen zu rekonstruieren und macht sich ein erstes Bild vom Jugendlichen. Wird der Kurs erst in einigen Monaten gestartet, werden die Teilnehmer
9
vgl. Heilemann, In: Weidner; Kilb: Kreft, 1997, S. 57
70
Ahmet Toprak
Anti-Aggressions-Kurse mit Jugendlichen
darüber informiert, wann genau der Kurs begonnen werden kann. Dieselben
Informationsbriefe gehen auch an die Jugendgerichtshilfe, das Jugendgericht
sowie die Bewährungshilfe.
Einzelgespräche
Das Hauptziel des Einzelgespräches besteht darin, zunächst einmal den Kontakt zum Teilnehmer herzustellen, und ihn darüber hinaus über den Kurs zu
informieren. »Diese Informationen sollen vorhandene Ängste, Befürchtungen
10
und falsche Vorstellungen vom Kurs reduzieren und korrigieren helfen.«
»Konkrete Informationen, die die Jugendlichen schon vor dem ersten Kurstag
erhalten, erhöhen die Chance, daß sich ihre Energie weniger auf Abwehrverhalten konzentriert und ihre Grundhaltung eher durch Neugierde und Auf11
nahmebereitschaft gekennzeichnet ist« . Darüber hinaus soll, nach Möglichkeit, überprüft werden, ob der Kursteilnehmer für die Teilnahme geeignet ist,
wie zum Beispiel, ob er stark drogenabhängig ist oder aber große psychische
Probleme hat. Sollte der Kursleiter Bedenken bei einem Jugendlichen haben,
soll dieser zu einem zweiten Vorgespräch, ggf. im Beisein eines Psychologen,
eingeladen und intensiv interviewt werden.
Konfrontativer und provokativer Ansatz
In den Jahren 1996 bis 1998 fanden insgesamt fünf Kurse statt, in denen die
verständnisvoll-nachsichtige (pädagogische) Methode angewandt, sowie
viele Themen angesprochen und diskutiert wurden. Es wurde auch viel geschrieben, gebastelt und gezeichnet, was bei den Teilnehmern wenig Resonanz fand, da diese Methode die Teilnehmer an die Schule erinnerte. Im Jahre
1999 wurde die Methode der konfrontativ-provokativen Pädagogik gewählt,
was bei den Kursteilnehmern besser ankam. Die Schreibarbeit wurde durch
Übungen, die in der Regel körperlichen Einsatz erfordern, ersetzt. Im Folgenden sollen die beiden Ansätze kurz beschrieben werden:
Konfrontation mit der eigenen Tat: Die Neutralisierungstechnik (»das Opfer
ist Schuld«, »er hat mich provoziert« oder aber »ich habe mich nur gewehrt«)
10
11
Frey; Meyer, 1982, In: Frey u.a., 1997, S. 77
Northen, 1977, In: Frey u.a., 1997, S. 77
71
Anti-Aggressions-Kurse mit Jugendlichen
Ahmet Toprak
ist ein beliebter Umgang mit bzw. Rechtfertigung der eigenen Tat. Darüber
hinaus soll den Teilnehmern die Opferperspektive aufgezeigt werden: »Die
Opferkonfrontation ist ein Thema, das äußerst sensibel gehandhabt werden
muss. Oberste Prämisse muss sein, dass das Opfer nicht als ›Werkzeug‹ im
therapeutischen Setting missbraucht werden darf, um den Täter zu behan12
deln.« In diesen Kursen sollen nur symbolische Formen von Opferkommunikation praktiziert werden; d.h. »(...) dass Filme aus der Opferperspektive,
Opferinterviews aus dem Fernsehen den Teilnehmern gezeigt werden, wobei
13
vom Täter Parallelen zur eigenen Tat aufzuzeigen sind.«
Ein Treffen bzw. ein Gespräch mit dem Opfer soll in jedem Fall vermieden
werden, weil das Opfer dadurch einer unzumutbaren Belastung ausgesetzt
sein würde. Viele Opfer schaffen es nur mit viel Mühe, die psychischen Belastungen und Schäden zu vergessen. Ein Treffen bzw. Gespräch mit dem Täter
würde das Opfer womöglich bei der Verarbeitung der Vorfälle um Monate
»zurückwerfen«.
Provokationen: Auch wenn die Teilnehmer wissen, dass das bewusste Provozieren seitens der Trainer einen »spielerischen« Charakter hat, wird vielen
Teilnehmern die Grenze ihrer Belastbarkeit schnell deutlich. Ziel der Provokation soll es sein, dass »der Klient durch Humor, Ironie, Sarkasmus und Formen der paradoxen Intervention mit seinen persönlichen Schwachstellen
konfrontiert wird. Dem Sozialpädagogen und Psychologen kommt dabei die
Rolle des ›Advocatus Diaboli‹ zu, der den Finger in die konflikt- und aggressi14
onsgeladenen Wunden legt.« Während viele Jugendliche mit verbalen »Anmachen« sehr gut umgehen und die gesamte Situation mit Ironie und »Gegenanmache« entschärfen, können sie der körperlichen Nähe und dem Anfassen im Gesicht nicht viel entgegensetzen; sie werden sehr schnell unruhig,
zappelig, und aggressiv.
»Also sagen wir so: Du hast mich am Anfang mit Worten provoziert, ne.
Ja, ne, das hat mir nix ausgemacht, ne. Das ist mir egal. Ich habe dich
auch verarscht, ne. (...) Aber, ne, als du mich am Gesicht angefasst
hast, da war ich schon aggressiv, ne. Das hat, sagen wir mal, mir über-
12
13
14
Burschyk; Sames; Weidner, In: Weidner; Kilb; Kreft 1997, S. 80
ebd.
ebd., S. 81.
72
Ahmet Toprak
Anti-Aggressions-Kurse mit Jugendlichen
haupt nicht gefallen. Am Gesicht anfassen ist immer scheiße. Da wird
jeder aggressiv. Ich war sehr aggressiv, ne. Aber ich durfte nix machen,
ne. Ich habe gesagt, okay, du musst das aushalten, du musst das aus15
halten. (...) Ich habe gelernt endlich etwas Schlimmes auszuhalten.«
Durch die physische und psychische Provokation sollen dem Teilnehmer die
Grenzen der Selbstkontrolle, Erregbarkeit und Aggressivität vermittelt werden. »Praktisch werden die Teilnehmer während der Gruppensitzungen unangekündigt provoziert, wobei die Provokationen Situationen thematisieren, die
16
früher zu Gewalttätigkeiten geführt haben.«
Darüber hinaus werden die Provokations- und Konfrontationstests gezielt auf
dem heißen Stuhl eingesetzt und ausprobiert, der im folgenden Kapitel ausführlich beschrieben wird.
Der heiße Stuhl
Im Rahmen des heißen Stuhls wird eine Gruppe gebildet, die aus Trainern,
Tutoren und Mittätern besteht. Ziel ist es, räumlich eng gehaltene Gegebenheiten zu schaffen, in welchen der Kandidat – in der Regel wird ein kleiner
Kreis gebildet und der Kandidat sitzt in der Mitte – physische und psychische
Nähe spürt. Ziel ist es, den in der Mitte sitzenden Jugendlichen mit seiner Tat
zu konfrontieren und mit gezielten, teilweise beleidigenden Aussagen zu
provozieren. Bei der praktischen Durchführung des heißen Stuhls gibt es zwei
Regeln:
1. der auf dem heißen Stuhl sitzende Teilnehmer darf sich nur mit verbalen
Mitteln zu Wehr setzen;
2. er darf jederzeit die Sitzung abbrechen, muss aber mindestens einmal im
Laufe des Kurses diese Sitzung »aushalten«.
Eine Videoaufzeichnung, um die Sitzung später besser auszuwerten, ist ratsam, aber nicht zwingend notwendig. Bei der Durchführung des heißen Stuhls
15
16
Der Interviewausschnitt wurde aus dem Auswertungsgespräch mit einem 18-jährigen Kursteilnehmer entnommen. Er antwortet auf die Frage, was ihm im Kurs nicht gefallen hat.
ebd., S. 81.
73
Anti-Aggressions-Kurse mit Jugendlichen
Ahmet Toprak
sollen die einzelnen Bausteine bzw. Schritte, die aufeinander aufgebaut sind,
beachtet werden:
1. Eins-zu-eins-Interview: Konfrontatives und provokatives Interview im Beisein der Gruppe, um dem Jugendlichen bereits im Vorfeld des heißen
Stuhls »den Schneid abzukaufen«. Er soll bereits im Interview spüren, was
ungefähr auf dem heißen Stuhl auf ihn zukommt. Es empfiehlt sich während des Interviews den Raum durch eine Trennwand zu teilen, d.h. die
restlichen Gruppenangehörigen dürfen keinen Augenkontakt zum Interviewpaar aufbauen.
2. Strategiebesprechung: In Abwesenheit des Betroffenen bespricht die
Gruppe eine Strategie, wie der heiße Stuhl auszusehen hat. Der wichtigste
Punkt beim heißen Stuhl soll die Straftat des Jugendlichen sein. Es soll
z.B. konkret und mit Nachdruck hinterfragt werden, wie die Tat zu Stande
kam, ob er z.B. sie zu rechtfertigen versucht. Hier werden auch andere
Themen an einzelne Jugendliche verteilt, die auf dem heißen Stuhl angesprochen werden sollen. Denn die größte »Niederlage« für die Gruppe ist
es, wenn sie keine Argumente hat und während des heißen Stuhls große
Pausen entstehen.
3. Durchführung des heißen Stuhls: In einem runden Kreis wird der Betroffene gezielt, wie in der Strategiebesprechung vereinbart wurde, mit der Tat
konfrontiert und provoziert.
4. Auswertung: Gemeinsame Auswertung mit allen Beteiligten. Bei der
Auswertung muss die folgende Reihenfolge eingehalten werden:
I) Der in der Mitte sitzende Jugendliche setzt sich in den Kreis und gibt einem der Teilnehmer ein Plus, der ihn am intensivsten getroffen bzw. zum
Nachdenken gebracht hat und einem Teilnehmer ein Minus, der bei ihm
nichts bewirkt hat. Das wird zunächst unkommentiert im Raum stehen gelassen.
II) In einem zweiten Schritt sollen alle im Kreis sitzenden Teilnehmer ihre
subjektive Wahrnehmung wiedergeben, d.h. ob sie bei dem Jugendlichen
etwas bewirkt haben bzw. ihn innerlich »zum Kochen gebracht« haben; eine kurze Begründung ist vonnöten. Der betroffene Jugendliche darf zunächst zu den einzelnen Meinungen keine Stellung beziehen.
74
Ahmet Toprak
Anti-Aggressions-Kurse mit Jugendlichen
III) Danach sollen die Gruppenmitglieder, die beim heißen Stuhl nicht aktiv
mitgemacht haben und von außen (ohne Augenkontakt) die Sitzung verfolgt haben, ihre persönliche und subjektive Wahrnehmung darlegen und
dabei kurz begründen.
IV) Im vierten und letzten Schritt soll der Kandidat zu all den ausgeführten
Meinungen und Wahrnehmungen Stellung beziehen und schließlich erläutern, wie es ihm auf dem heißen Stuhl ging. Wurde die Sitzung aufgezeichnet, ist es zu empfehlen einige kurze und prägnante Ausschnitte mit
dem Teilnehmer auszuwerten.
5. Einzelgespräch: Nachdem die Kursteilnehmer den Raum verlassen haben,
führen die Kursleiter ein Einzelgespräch mit dem Betroffenen. Hier sollen
ggf. Dinge thematisiert werden, die bei der gemeinsamen Auswertung
nicht zur Sprache kamen bzw. im Beisein der Gruppe nicht angesprochen
werden konnten.
Im Laufe eines Kurses werden folgende Themenblöcke, sei es im Rahmen der
Gruppengespräche, auf dem heißen Stuhl oder aber nach Filmvorführungen in
Form von Diskussionen, behandelt.
Straffälligkeit und Gewalt: Einstellung zur Gewalt, Erlernen von gewaltfreien
Verhaltensmustern, Umgang mit eigenen Aggressionen, Opferperspektive
Migration: Diskriminierungserfahrungen, Familien- und Generationskonflikt,
Bikulturalität/Bilingualität als Ressource, Lebensentwürfe zwischen »Tradition« und »Moderne«, Ethnisierung/Selbstethnisierung
Umgang bzw. Verhalten in Konfliktsituationen: Konflikte in der Schule, am
Ausbildungsplatz oder am Arbeitsplatz, Flüchten und Standhalten in Konfliktsituationen, Umgang mit Beschimpfungen und Beleidigungen, Gruppendruck
in Cliquen
Einsatz und Ziel der Übungen bzw. Filme
Da die Teilnehmer dieser Kurse in der Regel eine niedrige Schul- und Berufsausbildung haben und darüber hinaus schreibfaul und Schulschwänzer sind,
soll das Pensum an Schreibarbeit so niedrig wie möglich gehalten werden. Ein
Jugendlicher äußert sich zu den Übungen und den Filmen folgendermaßen:
75
Anti-Aggressions-Kurse mit Jugendlichen
Ahmet Toprak
»Was ich an dem Kurs cool fand? Ja, das waren diese Spiele. Ich wollte
zuerst nicht zu Anti-Aggression, ne. (...) Ich dachte das ist Schule, ne.
Ich find gut, dass man nicht viel schreibt, ne. Ich mag nicht schreiben,
und Schule habe ich immer gehasst. (...) Und ich fand die Filme gut, ne.
Dieser Film mit dem Schwarzen war gut, ne. (...) Ja er hat das gut ge17
macht. Er ist nicht sofort aggressiv geworden, ne.«
Um einerseits die Gruppenatmosphäre – längere Heiße-Stuhl-Sitzungen, die
für beide Seiten anstrengend und belastend sein können – aufzulockern und
andererseits durch Rollenübungen und Filmvorlagen gewisse Themen besser
und konkreter anzuschneiden, werden viele Übungen und Filme eingesetzt.
Darüber hinaus motivieren die körperbetonten und provozierenden Übungen
Jugendliche, an dem Kurs kontinuierlich teilzunehmen.
Zwischen- und Endauswertung mit den Teilnehmern
Um den reibungslosen und an den »Bedürfnissen« der Teilnehmer ausgerichteten Kursablauf zu konzipieren, muss sowohl während als auch zum Abschluss eines Kurses eine Auswertung vorgenommen werden, um gegebenenfalls die Kursteile oder Kursbausteine zu modifizieren. Während die Zwischenauswertung gemeinsam in der Gruppe vorgenommen werden und kurz
sein kann, soll die Endauswertung einzeln stattfinden und ausführlicher sein.
Mitarbeiter
Der Anti-Aggressions-Kurs soll mindestens von einem hauptamtlichen Pädagogen geleitet und von einem Co-Trainer oder einer Honorarkraft unterstützt
werden. Eine berufsbegleitende Zusatzausbildung des hauptamtlichen Pädagogen zum Anti-Aggressivitäts-Trainer ist für diese Tätigkeit ratsam. Es empfiehlt sich mindestens einen männlichen Pädagogen einzusetzen, der gegenüber dem »männlich« geprägten Weltbild der Jugendlichen sensibel und aufgeschlossen ist. Die Erfahrungen zeigen, dass die Kenntnisse der türkischen
17
Der Interviewausschnitt wurde aus dem Auswertungsgespräch mit einem 17-jährigen Kursteilnehmer entnommen. Er antwortet auf die Frage, was ihm im Laufe des Kurses am besten gefallen hat.
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Ahmet Toprak
Anti-Aggressions-Kurse mit Jugendlichen
Sprache wichtig, aber nicht ausschlaggebend sind. Vielmehr sind gute Kenntnisse der kulturellen-, sozialen- und Lebensbedingungen der Teilnehmer von
Bedeutung.
Literatur
Brunner, Rudolf: Jugendgerichtsgesetz, 9. Auflage, Berlin und New York 1991
Burschyk; Sames; Weidner: Das Anti-Aggressivitäts-Training: Curriculare Eckpfeiler, Forschungsergebnisse. In: Weidner; Kilb; Kreft (Hrsg.): a.a.O.
Frey, Maria u.a.: Jugendarbeit mit Straffälligen: Theorie und Praxis Sozialen
Trainings, Freiburg i.B. 1997
Heilemann, Michael: Opferorientierter Strafvollzug. Über ein neues Professionalisierungsverständnis im Umgang mit Gewalt. In: Weidner; Kilb; Kreft
(Hrsg.): a.a.O.
Toprak, Ahmet: Anti-Aggressivitäts-Training mit türkischen Jugendlichen. In:
Weidner; Kilb; Jehn (Hrsg.): Gewalt im Griff – Band 3, München Weinheim
ders.: »Ich bin eigentlich nicht aggressiv!« Theorie und Praxis eines AntiAggressions-Kurses mit türkischstämmigen Jugendlichen, Freiburg 2001a
ders.: Anti-Aggressions-Kurse mit türkischen Jugendlichen. In: iza Zeitschrift
für Migration und Soziale Arbeit, Nr. 1, Frankfurt a.M. 2001b
ders.: Anti-Aggressions-Kurse in München. Ein Abriss über die soziokulturellen Bedingungen der Teilnehmer. In: Die Brücke, Nr. 2, Saarbrücken 2000a
ders.: Ehre, Männlichkeit und Freundschaft. Auslöser für Gewaltbereitschaft
Jugendlicher und Heranwachsender türkischer Herkunft in München? In:
DVJJ-Journal, Nr. 2, Hannover 2000b
ders.: Türkische Jungen – Belastungsfaktor für die Mitte der Gesellschaft? Ein
Abriss über die Sozialisationsbedingungen. In: DVJJ-Journal, Nr. 4, Hannover 2000c
77
Anti-Aggressions-Kurse mit Jugendlichen
Ahmet Toprak
ders.: Kulturell bedingte Konflikte? – Anti-Aggressions-Kurse für männliche
Jugendliche aus der Türkei. In: Gropper; Zimmermann (Hrsg.): Raus aus
Gewaltkreisläufen, Stuttgart 2000d
Traulsen, Monika: Entwarnung. Zur Entwicklung der Kriminalität junger Ausländer. In: DVJJ-Journal, Nr. 4, 2000
Weidner; Kilb; Kreft (Hrsg.): Gewalt im Griff. Neue Formen des AntiAggressivitäts-Trainings, Weinheim und Basel 1997
Weidner, Jens: Anti-Aggressivitäts-Training für Gewalttäter, 4. unveränderte
Auflage, Bonn 1997
Weidner; Kilb: »So hat noch nie einer mit mir gesprochen...« Eine erste Auswertung zu Möglichkeiten und Grenzen des Anti-Aggressivitäts- und Coolness-Trainings. In: DVJJ-Journal, Nr. 4, Hannover 2000
Weidner, Jens: Über Grenzziehung in sozialer Arbeit und Psychologie. Die
sieben Levels der Konfrontation. In: Weidner, Kilb; Kreft (Hrsg.): a.a.O.
Ahmet Toprak, Dipl.-Pädagoge, Dr., Referent für Gewaltprävention bei der
Aktion Jugendschutz Landesarbeitsstelle Bayern e.V., Anti-AggressivitätsTrainer, Lehrbeauftragter an den Universitäten Eichstätt und Passau
78
Olaf Jantz / Hatice Krischer
Sex ohne Grenzen?
Sex ohne Grenzen?
Praxis einer interkulturellen
Sozialpädagogik
Olaf Jantz / Hatice Krischer
Obwohl die praktische Arbeit zumeist in geschlechtshomogenen Gruppen
stattfindet, haben wir uns entschlossen, den Workshop zur interkulturellen
Sexualpädagogik im Rahmen der Veranstaltung »Integration durch Partizipation« gemeinsam in der geschlechtsgemischten Gruppe durchzuführen. Dies
bietet die Chance einer gegengeschlechtlichen Empathie, wie sie unseres
Erachtens auch für die interkulturelle Sexualpädagogik unabkömmlich ist.
Folgerichtig fassen wir unsere sexualpädagogischen Erfahrungen mit Mädchen und Jungen unterschiedlicher sozialer und kultureller Herkunft auch in
diesem Beitrag gemeinsam zusammen. Damit findet bereits eine interkulturelle Begegnung auf der fachlichen Ebene statt, die wir auch in der Praxis
für sinnvoll erachten: Männer und Frauen unterschiedlicher Herkunft begeben
sich in den konstruktiven und kritischen Austausch über Möglichkeiten und
Grenzen im Zugang zu Jugendlichen. Dafür bietet sich die Konzeptionierung
von Projekten der interkulturellen Mädchen- und Jungenarbeit geradezu an.
Geschlechtsbezogene Arbeit
Interkulturelle Sexualpädagogik erfolgt in geschlechtshomogenen Gruppen,
weil die Beschäftigung mit der eigenen Sexualität ein stark emotional besetztes Thema ist. Dadurch wird insbesondere vermieden, dass die Jungen und
Mädchen in ihre jeweiligen (traditionellen) Rollen verfallen. Jungen fragen
79
Sex ohne Grenzen?
Olaf Jantz / Hatice Krischer
Männer, Mädchen fragen Frauen. Bei einer unbedingt wertschätzenden und
akzeptierenden Atmosphäre trauen sie sich in »unerforschte Gebiete«. Sie
erhalten durch die gleichgeschlechtliche Unterstützung überhaupt erst die
Möglichkeit, über mädchentypische bzw. jungentypische Themen zu sprechen. Jenseits moralisierender Zuschreibungen explorieren die Jugendlichen
das Typische von Junge sein und von Mädchen sein.
Sexualität ist in den allermeisten Kulturen ein tabuisiertes und intimes Thema. Deswegen kann es peinlich und unangenehm sein, über das Thema Sexualität zu sprechen oder dazu Fragen zu stellen. Der pädagogische Raum einer
interkulturellen Sexualpädagogik bietet über die explizite Behandlung von
Geschlecht, sexueller Orientierung, Körper, Lust, Liebe und Freundschaft einen geschlechtsbewussten Zugang zu oftmals als neutral betrachteten Jugendlichen. Bewusst als Mädchen und bewusst als Jungen betrachtet, stellen
auch die Jugendlichen selbst Verbindungen zwischen eigenen Wünschen,
eigenem Handeln und frauen- bzw. männertypischen (An)Forderungen her.
Weiblichkeit – Männlichkeit
In diesem Zusammenhang erscheint es uns wichtig, Wissen über den eigenen
Körper zu vermitteln. Der menschliche Körper wird über die geschlechtstypischen Zuschreibungen geschlechtsdichotom sozialisiert. Dabei können biologisch-psychische Veränderungsprozesse beobachtet werden, die Mädchen
und Jungen in der Adoleszenz nach und nach kennen lernen. Diese werden
stets im Verhältnis zu dem gesetzt, was die jeweilige Kultur unter Männlichkeit und Weiblichkeit versteht. Vor allem bezüglich der Veränderung während
der Pubertät sollen die Jugendlichen (ganz im klassischen Sinne) über ihren
Körper aufgeklärt werden. Für die Mädchen und Jungen ist es wichtig zu wissen, wie sich ihr Körper in der Pubertät verändert und wie sie zu Frauen und
Männern werden, was dabei passiert und was es für sie bedeutet. Aber zur
ganzheitlichen Aufklärung gehört auch, Wissen über den Körper und die Verhaltensweisen des jeweils anderen Geschlechts zu vermitteln.
Dabei gibt es kulturtypische Besonderheiten, die wir von »unseren« Jugendlichen erfahren. Beispielsweise wird über die Menstruation in der islamischen
Welt häufig nicht gesprochen. Wenn doch, dann geschieht dies nur unter
Frauen. Manchmal wird behauptet, Mädchen seien währenddessen krank.
80
Olaf Jantz / Hatice Krischer
Sex ohne Grenzen?
Extreme Menstruationsbeschwerden dagegen deuten oft auf ein negatives
Verhältnis der Mädchen zu ihrem Körper und ihrer Sexualität hin. In der
christlich sozialisierten Welt ist die Menstruation als »Erbschuld« in die symbolischen Ordnung eingeschrieben, also als Strafe für den »weiblichen Ungehorsam«. Auch in deutsch-deutschen Familien werden oftmals unheilvolle
Botschaften über Lust und Sexualität weiter gegeben, z.B. »Wie es Dir dabei
geht, ist nicht so wichtig, Hauptsache er ist zufrieden.«
Die extreme Selbstaufmerksamkeit von Jungen konzentriert sich in der frühen
Pubertät auf den Genitalbereich und die Furcht davor, nicht männlich zu sein,
potenziert sich in dieser Phase um ein Vielfaches. Alle Jungen sind i.d.R. sehr
erstaunt, wenn sie erfahren, dass es eben diese Angst im Leistungsdruck ist,
die die Hauptursache für Erektionsstörungen bedeutet. Besonders bei
deutsch-deutschen Jungen entsteht oftmals die Angst, sie könnten bei einer
Beschneidung impotent werden. Migranten, die aus einer »Beschneidungskultur« stammen, können hier viele Ängste entschärfen. Allen Jungen wird
dann darauf aufbauend einsichtig, dass Sexualität mit einem Präservativ keine genitalen Schäden bringt und auch keine Lusteinbuße bedeutet.
Im Wesentlichen wollen wir die körperlichen Veränderungen als natürliche
Veränderungen nahe bringen. Das Einsetzen der Regel ist für Mädchen ebenso normal, wie das z.T. schmerzhafte Wachsen ihrer Brüste. Jungen lernen,
dass es nicht auf die Größe der Geschlechtsorgane ankommt und dass jeder
Junge und jeder Penis anders sein darf. Wenn ein Junge Schmerzen empfindet,
dann darf er sich sorgen und andere um eine Einschätzung bitten. Dies gilt
auch für den Gang zum Urologen oder gar zum Andrologen, dies ist auch für
Männer erlaubt! In Bezug auf Verhütung sollen Jungen wie Mädchen wissen,
welche Möglichkeiten es gibt und wie diese angewandt werden. Insbesondere
in der Jugend wissen Mädchen und Jungen so wenig von einander, dass Ideologien von Männlichkeit (z.B. »ein Junge kann immer«) und Weiblichkeit (z.B.
»Mädchen überlassen den Jungen die Initiative«) so rigide und dominant
präsentiert werden.
Es hilft beiden, sowohl über den männlichen als auch den weiblichen Körper
informiert zu sein. Damit können »unnötige« Ängste abgebaut werden.
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Sex ohne Grenzen?
Olaf Jantz / Hatice Krischer
Angeleitete Grenzerfahrung
Häufig haben Mädchen und Jungen Ängste und den Eindruck einer für sie
»chaotischen Gefühlswelt«. Es können Widersprüche zwischen den Vorstellungen der Eltern und eigenen Gefühlen bestehen. Bei Migrantinnen wie
Migranten stehen diese Gefühle besonders oft im Widerspruch zu den vermittelten kulturellen Werten und Normen. Sie haben Interesse an Jungen oder an
Mädchen und die Eltern wollen ihnen dieses verbieten. Es ist gesellschaftlich
einfach nicht erlaubt, einen festen Freund oder eine feste Freundin zu haben.
Verwandte und Bekannte achten besonders bei Mädchen mit darauf, dass sie
nichts Unerlaubtes tun, während sich Jungen noch mal so richtig »die Hörner
abstoßen« sollen. Wir versuchen, ihnen dieses hin-und hergerissen sein etwas zu erleichtern, indem wir ihnen zeigen, dass ihre Gefühle und Wünsche
normal sind. Auch wenn sie keinen Freund bzw. Freundin haben dürfen, kann
ihnen das Träumen keiner nehmen. Es geht darum, die sozial gesetzten Grenzen zu erfahren, ihnen nachzuspüren, sie einzuordnen und zu bewerten. Die
Jungen und Mädchen entscheiden selbst, ob sie ihre Grenzen erweitern möchten oder nicht. Wir versuchen, ihnen für ihre ganz persönliche Entscheidung
erlebnisnahe Kriterien anzubieten. Dafür ist es wichtig, auch Jungen und Mädchen mit einem uns nicht so vertrauten kulturellen Hintergrund an die Grenzen heranzuführen. Dafür müssen wir sehr vorsichtig vorgehen und stets in
gutem Kontakt bleiben. Die Grenzen bei Jungen und Mädchen sind für alle
Pädagoginnen und Pädagogen spürbar und damit zu achten!
Angemessener Selbstbezug – Authentizität
Dafür ist es wichtig, dass wir unsere eigenen Grenzen kennen (lernen). Es gibt
keinen idealen Partner bzw. keine ideale Partnerin in der Sexualität: Wir sind
alle anders. Wir zeigen ihnen, dass es für uns O.K. ist, besondere Gefühle,
Träume und Wünsche zu haben. Die Frage ist, wie sich unser Selbstwertgefühl
bezogen auf das eigene Gewordensein gestaltet – besonders im Hinblick auf
eigene Grenzen und Grenzverletzungen. Zwei geschlechtsgetrennte Beispiele:
a) Für türkische Mädchen ist es wichtig, dass ich ihnen als türkische/ moslemische Frau begegne und sie akzeptiere und sie davon erfahren, dass
ich diese widersprüchlichen Gefühle kenne und auch meine Erfahrungen
damit gemacht habe. Es ist aber genauso wichtig, dass sie von deutschen
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Olaf Jantz / Hatice Krischer
Sex ohne Grenzen?
Pädagoginnen erfahren, dass es bei ihnen auch so gewesen ist oder auch,
wie anders damit umgegangen wird. (Hatice Krischer)
b) Für albanische Jungen kann es Türen zu sich selbst öffnen, wenn ich als
deutsch-deutscher Mann davon berichte, dass ich früher viele Ängste hatte, etwas falsch zu machen »so als Mann« und dass es auch Auswege aus
dem Leistungsdruck »im Sex« gibt. Wenn es uns gelingt, unsere eigenen
biographischen Schritte für die Jungen erfahrbar zu machen, dann lernen
sie weitaus mehr als nur die »Technik der Kopulation«. (Olaf Jantz)
Stärkende Jungenarbeit – Stärkende Mädchenarbeit
Die Stärkung des körperlichen Selbstbewusstseins ist bei Migrantinnen besonders wichtig, d.h. dass sie bezüglich ihres Körpers Grenzen setzen dürfen
und eine aktive Rolle übernehmen können, um sich eigene Wünsche klarzumachen und zu äußern.
Sie sollen informiert und selbstbewusst entweder in die Hochzeitsnacht gehen oder mit einem Jungen schlafen, den Geschlechtsverkehr nicht über sich
ergehen lassen (müssen), sondern ihn aktiv mitgestalten (können). Sie sollen
selbst über ihren Körper und darüber bestimmen, was mit ihm gemacht wird.
Jungen lernen eigene Grenzen kennen, indem sie nachspüren und »sich selbst
zulassen«. Insbesondere Männer können Jungen vorleben, dass sich Jungen
gegenseitig unterstützen können. Fragen und »Besonderes« sind normal und
»normal« ist irrelevant. Der Eigensinn ist gefragt und die Eigenart, die sich
auch körperlich auszeichnet, ist die Quelle einer eigenen Persönlichkeit. Dafür ist im männlichen Normierungsdruck allzu oft kein Platz.
In diesem Zusammenhang sind die bewährten Methoden aus der »allgemeinen Mädchen- und Jungenarbeit« sehr hilfreich. (Siehe auch Literatur S. 86)
AIDS, Zwangsheterosexualität, Behinderung,
Religion, Sexueller Missbrauch
Vielmehr noch als in deutsch-deutschen Familien, die beispielsweise eine
Vielzahl an massenmedialen Kampagnen gegen den sexuellen Missbrauch an
Kindern und Jugendlichen (inkl. der Gegenreden) miterleben durften und
mussten, ist es manchmal für bestimmte Familien, die durch eine andere
83
Sex ohne Grenzen?
Olaf Jantz / Hatice Krischer
Kultur sozialisiert sind, schwierig, solche brisanten Themen aufgreifen zu
können. Das Thema AIDS gibt es in manchen Familien nicht, Homosexualität
gibt es nur in Sport, Musik, Film, Literatur und zumindest für die Männerseite
neuerdings in der Politik. Behinderte haben keine Sexualität zu haben, auch
nicht in Deutschland.
Den sexuellen Missbrauch zu offenbaren, ist besonders schwierig in Kulturen,
in denen eine große Autoritätshörigkeit und ein hoher familiärer und gesellschaftlicher Druck herrschen. Der Respekt durch die Offenbarung des Missbrauchs wird gebrochen und der Stolz der Familie ist gefährdet. Besonders
auf der Frauenseite wird das Thema Sexualität in religiösen Familien nicht
thematisiert. Wenn ein Mädchen im Kindesalter Anlauf nimmt, etwas darüber
zu erfahren, ist es klar, dass, wenn sie überhaupt die Mutter fragt, diese ihr zu
verstehen gibt, dass über solche Dinge nicht gesprochen werden darf. Das ist
»ayip«, d.h. das schickt sich nicht. Einem Mädchen wird vermittelt, dass sie
als Jungfrau in die Ehe gehen und somit auf ihr Jungfernhäutchen acht geben
muss. Auch die Mütter haben das nicht anders erlebt, weshalb es schwierig
für sie ist, mit ihren Töchtern darüber zu reden. Aber sie wollen, dass es ihren
Töchtern besser geht als ihnen, deshalb befürworten sie die Aufklärung für
die Ehe. Auf der anderen Seite entdecken viele heutige Väter, dass ihre Söhne
eine neue Chance erhalten, Männlichkeit auszuhandeln. Viele ihrer Leiden
könnten ihren Sprösslingen erspart bleiben. Insbesondere Männer aus so
genannten Krisengebieten erfahren dies auch für sich selbst in dieser multikulturellen Gesellschaft. Diese Wünsche können wir in unseren Projekten
respektvoll aufgreifen.
Mädchen und Jungen als Experten ihrer Lebenswelten akzeptieren
In der sexualpädagogischen Praxis kann uns unser oftmaliges Halbwissen
sehr im Wege stehen. Nicht jedes türkische Mädchen ist besorgt um ihr Jungfernhäutchen und den Eintritt in die Ehe, nicht jeder türkische Junge verteidigt
seine Ehre gewaltvoll. Wir sollten lernen, den Jungen und den Mädchen zuzuhören. Das Gelingen einer stützenden interkulturellen Sexualpädagogik hängt
entscheidend davon ab, ob es uns gelingt, an den Lebenswelten Jugendlicher
anzuknüpfen, wissend, dass sich die jugendlichen Erfahrungsräume in den
letzten 30 Jahren entscheidend verändert haben, so dass unsere Erfahrungen
nur auf der persönlichen Ebene vergleichbar sind. Im Sinne eines kulturellen
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Olaf Jantz / Hatice Krischer
Sex ohne Grenzen?
(Selbst-)Bewusstseins ist das Wissen um die eigene sexuelle Orientierungsfindung unter den damaligen kulturellen, (sub-) gesellschaftlichen und sozialen Bedingungen eine wichtige Voraussetzung, wenn wir den Jugendlichen
authentisch begegnen wollen. Auch erlerntes Wissen ist bei der Berücksichtigung seiner Reichweite selbstverständlich nützlich.
Das bedeutet, dass wir Erkenntnisse darüber, wie Körper agieren und wie sie
geschlechtstypisch geformt werden, vermitteln. Es bedeutet auch, dass wir
Prinzipien aufdecken können, wie Weiblichkeiten und Männlichkeiten typischerweise funktionieren (Wissen wie Sexualität persönlich und gesellschaftlich »funktioniert«). Aber die eigentliche Tragkraft interkultureller Sexualpädagogik besteht darin, die Mädchen und Jungen selbst zu Wort kommen zu
lassen. Wir animieren einen Austausch, begleiten sie in dem gegenseitigen
Lernprozess. Wie Sexualität, Liebe, Freundschaft, Partnerschaft und Ehe in
der jeweiligen Jugendkultur verhandelt wird und wie die jeweils unterschiedlichen familialen Vorstellungen dazu gestellt werden, das können nur die Mädchen und Jungen selbst beurteilen. Wir müssen allen pädagogisch gut begründeten Aufklärungsabsichten zum Trotz »unsere Jugendlichen« als die
Spezialistinnen und Spezialisten ihres Lebens und ihrer Lebenswelt akzeptieren lernen.
Auf der anderen Seite sind wir die Profis in der Prozessbegleitung und die
Wissenden um typische Zuschreibungen an Frauen- und Männerkörper. Wir
können die latenten Regeln aufspüren, aufdecken und in die Waagschale
werfen. Doch die Mädchen und Jungen entscheiden selbst, was sie zu diesem
Zeitpunkt als relevant erachten. Wir gestalten sexualpädagogische Angebote,
die sich fachlich stets weiterentwickeln sollten. Dabei helfen uns die Rückmeldungen und Beteiligungen der Jungen und Mädchen in den Projekten im
pädagogischen Alltag. Damit sind die pädagogischen Fachleute Lehrende und
Lernende zugleich!
Das Zentrale einer interkulturellen Kompetenz bedeutet in dieser Hinsicht –
neben der Neugier und der Interaktionsfreudigkeit sowie der Kompetenz, die
jugendlichen Ressourcen zu aktivieren – insbesondere die Fähigkeit, die umfassenden und unabwendbar (v.a. in unserer eigenen Wahrnehmung und
Person) auftretenden Ambivalenzen aushalten zu lernen.
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Sex ohne Grenzen?
Olaf Jantz / Hatice Krischer
Literaturempfehlungen
Rauw, R.; Jantz, O.; Reinert, I.; Ottemeier-Glücks, F. G. (Hrsg.): Perspektiven
geschlechtsbezogener Pädagogik. Impulse und Reflexionen zwischen
Gender, Politik und Bildungsarbeit. Quersichten Band 1. Opladen 2001
Reinert, I.; Rauw, R.: Perspektiven der Mädchenarbeit. Partizipation, Vielfalt,
Feminismus. Quersichten Band 2. Opladen 2001
Jantz, O.; Grote, Ch.: Perspektiven der Jungenarbeit. Konzepte und Impulse
aus der Praxis. Quersichten Band 3. Opladen 2003
Olaf Jantz, Dipl.-Pädagoge/Medienpädagoge, Jungenbildungsreferent mit
Schwerpnukt interkulturelle Projekte, Mitarbeiter bei mannigfaltig e.V. – Verein und Institut für Jungen- und Männerarbeit
Hatice Krischer, Sozialpädagogin mit interkulturellem Schwerpunkt, freiberufliche Mädchenbildungsreferentin
86
Willy Eßmann
Integration durch Partizipation
Integration durch
Partizipation
Verwaltung des Elends oder
Verbesserung der Situation?
Willy Eßmann
Das Thema der Tagung »Integration durch Partizipation« ist weder mit einem
Frage- noch mit einem Ausrufungszeichen versehen. Es steht einfach so, quasi unvermittelt im Raum. Implizit, so vermute ich zumindest, ist wohl eher ein
Ausrufungszeichen gemeint. Allerdings könnte das Weglassen eines entsprechenden Satzzeichens auch auf eine Verunsicherung verweisen. Im Klappentextes der Einladung werden ja dann auch Fragen formuliert, wie etwa die
Frage wie es denn um die interkulturelle Kompetenz des Jugendschutzes bestellt ist? Oder ob die Tatsache der Zuwanderung oder Zugehörigkeit zu einer
nichtdeutschen Ethnie eine besondere »Belastung«, vielleicht sogar eine
»Jugendgefährdung« darstellt?
In den Publikationen zur sozialen (und politischen) Partizipation von Zuwanderern ist viel von Begriffen wie Partizipationsbereitschaft und Partizipationsinteresse die Rede. Es geht um Unterscheidungen zwischen herkunftslandund aufnahmelandorientiertem Partizipationsinteresse.
Ich habe manchmal den Eindruck, dass das alles wichtige und richtige Fragestellungen sind, die durchaus einer Untersuchung bedürfen. Ich habe allerdings auch gleichzeitig den Eindruck, dass die Entwicklung in den sozialen
Brennpunkten dieses Landes und insbesondere in den großen Städten längst
87
Integration durch Partizipation
Willy Eßmann
weiter fortgeschritten ist. Die Menschen, die in diesen Brennpunkten leben,
haben ihre eigene »Partizipationspraxis« entwickelt und haben sich längst
entschieden, ob, wie und wo sie sich engagieren. Das genauere Hinschauen
auf die schon vorhandenen Bewohneraktivitäten ist es, was am Anfang einer
gelungenen »Aktivierung« und am Anfang gelungener Partizipationsbemühungen steht. Dabei verbietet sich allerdings auch eine allzu schnelle Klassifizierung.
Ich stelle im Folgenden das Projekt »Mobile und sozialraumorientierte Jugendarbeit Berlin« vor, und anhand dieses Beispieles wird die Frage besprochen, welche Formen von Partizipation angemessen und erfolgreich in der
Arbeit in sozialen Brennpunkten sind.
Bevor ich dies tue, möchte ich allerdings noch zwei Bemerkungen voranschicken, die meines Erachtens wichtig sind, um sich dem Thema angemessen zu nähern:
Erstens: Wenn wir uns mit Integration in sozialen Brennpunkten beschäftigen,
so dürfen wir der Tatsache nicht aus dem Wege gehen, dass sich die Verhältnisse in den sozialen Brennpunkten der Städte signifikant in den letzten fünfzehn Jahren verändert haben. Bereits heute haben ca. 30% aller Neugeborenen zumindest einen Elternteil nicht deutscher Herkunft. In Großstädten wie
etwa Berlin sind es zum Teil über 40%, in einigen Stadtvierteln kommen über
die Hälfte aller Kinder im Kindergarten- und Grundschulalter aus Familien mit
Migrationshintergrund. Im Jahre 2010, also schon in 8 Jahren, wird in Deutschland schätzungsweise knapp die Hälfte der gesamten Bevölkerung zwischen
20 und 40 Jahren aus sprachlich-kulturellen Minderheiten stammen oder mit
1
Menschen mit Migrationshintergrund in einem Haushalt leben.
Was kann in diesem Zusammenhang eigentlich Integration bedeuten? Oder
anders formuliert, muss sich unter diesen Bedingungen der Integrationsbegriff nicht neu definieren?
Zum Zweiten, glaube ich, kommen wir auch um eine Beschäftigung mit uns
selbst nicht herum: deswegen bezieht sich die zweite Vorbemerkung auf die
Bilder, die die deutsche Soziale Arbeit, und dies nenne ich bewusst so, ge1
Schweitzer, H.; Zander, M.: Ist die soziale Arbeit mit ihrem »Deutsch« am Ende? In: Sozial
extra. Opladen. Nr. 5/2002. S.6
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Willy Eßmann
Integration durch Partizipation
genüber ihren Kunden, Zielgruppen, Klienten oder wie immer sie es bezeichnen wollen entwickelt hat, und umgekehrt die Bilder, die die Zielgruppen von
der deutschen Sozialen Arbeit entwickelt haben.
Vor dem Hintergrund ihrer beruflichen Erfahrungen in der Familienberatung
karikierte Akgün 1998 die gegenseitigen Stereotypen von dem türkischen
Vater und dem deutschen Sozialarbeiter:
»Kennen sie den türkischen Vater? Nein? Jeder deutsche Sozialarbeiter
und natürlich auch jede deutsche Sozialarbeiterin kennt den türkischen Vater. Er ist eine Mischung aus Rambo und Tarzan, spricht kein
deutsch (ich Vater; Du Sozialarbeiter), weiß nicht, dass er in Deutschland lebt, wo er deutsche Gesetze respektieren muss; er ist gewalttätig, unzivilisiert und unberechenbar. Frauen respektiert er grundsätzlich nicht und droht allen mit dem Tod!
Kennen sie den deutschen Sozialarbeiter, die deutsche Sozialarbeiterin? Nein? Jede türkische Familie kennt den deutschen Sozialarbeiter/in. Er bzw. sie ist der moderne Rattenfänger von Hameln, auf seiner
Flöte spielt er süße Melodien der Freiheit, um so die türkischen Kinder
von ihren Familien fortzulocken, um sie in dubiosen Heimen unterzubringen – wo sie dann zwangsgermanisiert – im Sumpf von Drogen, Al2
kohol und Prostitution verkommen.« Soweit Akgün.
Eine permanente Auseinandersetzung mit den wechselseitig vorhandenen
Stereotypen bleibt uns für eine erfolgreiche pädagogische Praxis nicht erspart.
Kurze Entstehungsgeschichte
In Folge vermehrt auftretender Jugendgruppengewalt in Berlin Ende der achtziger, Anfang der neunziger Jahre wurde nach Wegen gesucht, diese Entwicklung aufzuhalten. Dabei sollte auch die Jugendarbeit eine entscheidende Rolle
spielen. Der Jugendgruppengewaltbericht des Senates von Berlin, der Anfang
2
L. Akgün: Wo ist der Doktor? Zur Situation der Migranten aus psychologischer Sicht. In: Eine
Geschichte der Einwanderung. Fremde Heimat aus der Türkei. Essen 1998. S. 250
89
Integration durch Partizipation
Willy Eßmann
der neunziger Jahre vorgelegt wurde, enthielt verschiedene Vorschläge der
Intensivierung bzw. der Erweiterung von Jugendarbeit. Unter anderem wurde
1992 das Programm »Hinausreichende Jugendarbeit« ins Leben gerufen. Das
Programm sollte flächendeckend für Berlin kleine Teams oder auch Einzelpersonen den kommunalen Jugendfreizeiteinrichtungen an die Seite stellen mit
dem Auftrag, aus der Einrichtung heraus tätig zu werden. In damals noch 18
Stadtbezirken war ein überregionaler Träger zuständig.
Bei all diesen Maßnahmen ging es damals allerdings nicht nur um Gewaltreduktion, sondern auch darum, die kommunale Jugendarbeit um neue Aspekte
zu bereichern.
Insbesondere sollten
a) eine Öffnung der Jugendfreizeiteinrichtungen
zum umliegenden Kiez erreicht werden,
b) neue Zielgruppen für die Einrichtungen gewonnen und
c) so genannte »schwierige Zielgruppen« in die Einrichtungen
integriert werden.
Nach den positiven Erfahrungen, die mit diesem Ansatz gemacht wurden,
entwickelte sich das Programm in der zweiten Hälfte der neunziger Jahre hin
zu einem gemeinwesenorientierten Ansatz in der Jugendarbeit; die Entwicklung kann vielleicht am besten mit dem Schlagwort »vom Fall zum Feld« zusammengefasst werden. Konkret bedeutet dies, dass die Arbeit von
OUTREACH sich immer mehr auf einen bestimmten Sozialraum festgelegt hat,
das Projekt sich »sozialräumlich« an den Kiezen, Stadtteilen und Quartieren
orientiert. Das hat zur Folge, dass die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sich
bewusst nicht ausschließlich auf die kommunalen Jugendfreizeiteinrichtungen beschränken, sondern prinzipiell alle möglichen Ressourcen im Stadtteil
mit in ihre Arbeit einbeziehen. Bei Bedarf werden eigene Stützpunkte im
Stadtteil aufgebaut.
Auf der Finanzierungsebene übernahmen viele Bezirke Verantwortung und
entwickelten mit dem Träger und dem Senat von Berlin Co-Finanzierungsmodelle. Auch die Vertragsgestaltung veränderte sich: Leistungsverträge und
Zielvereinbarungen sind jetzt die Stichworte.
90
Willy Eßmann
Integration durch Partizipation
Zielgruppen
Das Programm »Mobile Jugendarbeit Berlin – OUTREACH« bietet in zur Zeit
neun Berliner Bezirken bzw. in 15 Sozialräumen eine mobile und sozialräumlich orientierte Jugendarbeit an.
Mobile Jugendarbeit meint dabei in erster Linie eine praktische Hinwendung
zu den Jugendlichen an den Orten, wo sie sich tatsächlich aufhalten. Das sind
Parks und Straßen, allgemein gesprochen, der öffentliche Raum.
Sozialraumorientierung in der Jugendarbeit meint eine Konzentration auf den
Nahbereich der Jugendlichen, auf deren Wohnbereich, die Nachbarschaft, den
Kiez. In der Regel ist OUTREACH in Stadtteilen tätig, die als »Quartiere mit
erhöhtem Entwicklungsbedarf« bezeichnet werden. Andere sprechen eher
von »Problemkiezen« oder von »belasteten Wohngebieten«.
In diesen Kiezen leben häufig Jugendliche, die von den herkömmlichen Institutionen der Jugendarbeit nicht oder nicht mehr erreicht werden. Die Schule
ist dabei die einzige Ausnahme, wobei allerdings zu bedenken ist, dass viele
Jugendliche dieser Zielgruppe die Schule bereits verlassen haben. Grundsätzlich arbeitet OUTREACH mit Jugendlichen im Alter zwischen 14 und 21 Jahren
zusammen. Ihre Schulkarrieren umfassen Sonderschul- oder den einfachen
und erweiterten Hauptschulabschluss. Ein nicht geringer Teil der Jugendlichen verfügt aber über keinen Abschluss. Realschülerinnen und Realschüler
sowie Gymnasiastinnen und Gymnasiasten gehören so gut wie nicht in die
Zielgruppe.
Die Jugendlichen haben, was den Westteil der Stadt betrifft, zu über achtzig
Prozent einen Migrationshintergrund. Sie sind überwiegend türkischer/ kurdischer, arabischer, albanischer und (ex-)jugoslawischer Herkunft. Die Jugendlichen mit arabischem Hintergrund kommen meistens aus dem Libanon.
Im Ostteil der Stadt sind es überwiegend deutsche Jugendliche mit der signifikanten Ausnahme von Aussiedlerjugendlichen (hauptsächlich aus Kasachstan und Usbekistan) in einigen Stadtbezirken. Entsprechend ihrer verschiedenen Herkunft ist der aufenthaltsrechtliche Status der Jugendlichen sehr unterschiedlich.
Über die ökonomische Situation der Herkunftsfamilien der Jugendlichen lassen sich nur schwer generalisierbare Angaben machen. Innerhalb der letzten
zehn Jahre lässt sich eine Tendenz der allgemeinen ökonomischen Ver91
Integration durch Partizipation
Willy Eßmann
schlechterung der Lebenssituation der Migrantinnen und Migranten ausmachen, von der auch die Jugendlichen (z.T. in verstärktem Maße) betroffen sind.
Die Verzahnung von mobilen und stationären Ansätzen –
Straßensozialarbeit und Aufbau von Jugend-Treffpunkten
Ein erster Kontakt zu den Jugendlichen stellt sich meistens über die Straßensozialarbeit her. Im idealtypischen Verlauf einer solchen Kontaktaufnahme,
die mit den Mitteln der Freizeitpädagogik vertieft und stabilisiert wird, gelingt
es, das Vertrauen der Jugendlichen aufzubauen und näher an sie heranzukommen.
Zumeist stellt sich schon zu diesem Zeitpunkt heraus, dass die Jugendlichen
sich nicht nur auf der Straße aufhalten, weil hier vermeintlich weniger soziale
Kontrolle herrscht. Oft sind die Gründe in den sehr beengten Wohnverhältnissen zu finden, oder in den Spannungen und Anforderungen innerhalb der
Familien, die den Jugendlichen unerträglich scheinen. Dies gilt besonders
auch für Jugendliche mit Migrationshintergrund. Die Wohnverhältnisse, in
denen viele Migrantinnen und Migranten in Berlin nach wie vor leben, müssen
als katas-trophal bezeichnet werden.
Ebenso trägt die Arbeitssituation – oder genauer – die Situation der Arbeitslosigkeit, in der sich viele Jugendliche befinden, ihren Teil dazu bei, dass
»Freizeit« als etwas, das im Überfluss vorhanden zu sein scheint, empfunden
wird. Insbesondere diejenigen Jugendlichen, die aus Migrantenfamilien kommen, sind vermehrt von Arbeitslosigkeit betroffen.
In dieser Phase stellt sich oft schon heraus, dass viele Jugendliche aus den
Bezügen, die normalerweise gesellschaftliche Integration gewährleisten,
herausgefallen sind. Hier sind insbesondere Institutionen der beruflichen
Integration aber auch die der sozialen Integration gemeint. Stattdessen gewinnt die Peer-group, die ja sowieso in dieser Phase der biographischen Entwicklung eine herausgehobene Rolle spielt, an zusätzlicher Bedeutung. Die
sich bildenden Peer-groups sind dann auch oft der Kristallisationspunkt, von
dem aus gewalttätige Handlungen begangen werden.
Eines der zentralen Bedürfnisse dieser Jugendlichen ist es oftmals, einen
Raum zu haben, wo sie sich ungestört ohne Erziehungspersonen treffen und
kommunizieren können. Das bloße Zur-Verfügung-Stellen eines solchen Rau92
Willy Eßmann
Integration durch Partizipation
mes führt nach unseren Erkenntnissen allerdings schnell in eine Sackgasse.
Die Jugendlichen sind meist nicht in der Lage, auftretende Konflikte gewaltfrei
zu lösen, ebenso kommt es oft dazu, dass eine Gruppe aus dem Stadtteil sich
den Raum exklusiv aneignet. Auch der Druck von externen Gruppierungen
lässt derartige Projekte schnell scheitern.
Als gangbarer Weg hat sich dagegen folgendes Vorgehen erwiesen, das so
von OUTREACH praktiziert wird: Falls sich stabile Beziehungen zu den Jugendlichen aufbauen lassen und sie das Bedürfnis nach einer Treffpunktmöglichkeit äußern, unterstützen die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sie darin, diesen Wunsch zu realisieren. Dabei kann das Engagement von der Mithilfe bei
der Raumsuche bis zur Übernahme der Trägerschaft gehen. Die hier praktizierte Verzahnung von mobiler und stationärer Jugendarbeit überwindet dabei
sowohl den reinen Streetwork-Ansatz als auch das nach wie vor vorherrschende Paradigma der Komm-Struktur.
Nun bietet diese Verzahnung von mobiler und stationärer Arbeit allein sicherlich noch keine Gewähr für konfliktfreies und konstruktives Miteinander. Sie
schafft jedoch die Möglichkeit, diejenigen Jugendlichen zu erreichen, die ihren Lebensmittelpunkt entweder im öffentlichen Raum haben oder – aus welchen Gründen auch immer – von anderen Einrichtungen der Jugendarbeit
nicht berücksichtigt werden. Dabei eröffnen sich oft Chancen, mit diesen
Jugendlichen Verhaltensweisen zu entwickeln, die ein dialogisches und gewaltfreies Miteinander zum Ziel haben. Ebenso bietet sich hier die Möglichkeit, partizipative Ansätze zu entwickeln – gerade mit Jugendlichen, die häufig
wenig Erfahrungen mit Partizipation gemacht haben.
Konkret versuchen wir, in Kombination mit aufsuchenden Ansätzen ein Konzept der Einrichtung von Räumen – etwa Jugendstadtteilläden – zu realisieren,
in denen dann mögliche Verantwortungsübernahmen, das Aushandeln von
Nutzungsbedingungen usw. praktiziert wird. Mittels Nutzungsverträgen können Jugendliche z.B. einen Raum für eine bestimmte Zeit kostenfrei nutzen.
Doch bevor es zu einer solchen aktiven Partizipation der Jugendlichen kommt,
bedarf es einer Begleitung über einen bestimmten Zeitraum. Nach unseren
bisherigen Erfahrungen liegt dieser nicht unter eineinhalb Jahren. In dieser
Zeit wird mit dem normalen sozialpädagogischen Handwerkszeug und den
dazugehörigen Methoden (Einzelfallbegleitung, Gruppenarbeit, Projektarbeit
usw.) mit den Jugendlichen gearbeitet. Entscheidend ist hierbei jedoch, dass
93
Integration durch Partizipation
Willy Eßmann
nicht einzelne Methoden herausgelöst und gegeneinander ausgespielt werden, sondern dass einem ganzheitlichen Methodenverständnis gefolgt wird.
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter
Im Projekt OUTREACH sind zur Zeit knapp 45 Personen beschäftigt, die aus
vielen verschiedenen kulturellen Lebenswelten und Ländern (Türkei, Kurdistan, Tunesien, Libanon, Jordanien, Palästina, Kasachstan, Persien, dem früheren Ost- und Westdeutschland) stammen. Sie arbeiten in unterschiedlich
großen Teams zusammen (2-8 Personen).
Die sehr verschiedenen kulturellen Hintergründe in der Zusammensetzung
der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter finden deshalb besondere Erwähnung,
weil darin nach den Erfahrungen von OUTREACH ein Schlüssel, wenn nicht
sogar der entscheidende Schüssel zur Erreichbarkeit von Jugendlichen mit
Migrationshintergrund liegt.
Bei allen abstrakten Überlegungen zur Partizipation geht es OUTREACH darum, Jugendliche, die in Quartieren mit besonderem Entwicklungsbedarf leben,
überhaupt erst zu erreichen. Dazu reicht ein gutes Konzept allein nicht aus,
sondern es bedarf der entsprechenden Menschen, die den Zugang zu den
Jugendlichen herstellen können. Nach unserer Erfahrung sollten deshalb in
den Teams Menschen mitarbeiten, die aus den Herkunftsländern der Jugendlichen stammen.
Allerdings reicht oft selbst ein ähnlicher kultureller und sprachlicher Hintergrund in diesen Quartieren nicht aus, um Kontakt und Vertrauen zu den Jugendlichen aufzubauen. Bei OUTREACH arbeiten deshalb Kolleginnen und
Kollegen, die selbst aus dem Kiez stammen und meist noch über einen engen
Kontakt sowohl zu den Jugendlichen als auch zur eigenen ethnischen Community verfügen. Sie wirken als positive Rollenmodelle auf die Jugendlichen,
die mit immer größer werdenden Ausgrenzungsrisiken behaftet sind. Man
könnte diese Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter »para-professional-pathfinders« nennen. Sie können den Kontakt zu Jugendlichen schließen, die weder von deutschen Kolleginnen und Kollegen noch von Kolleginnen und Kollegen erreicht werden können, die zwar über einen Migrationshintergrund verfügen, doch anders als die Jugendlichen aus der Mittelklasse stammen.
94
Willy Eßmann
Integration durch Partizipation
Schlussfolgerungen
1) Erreichbarkeit
Die Jugendlichen mit Migrationshintergrund sind erreichbar, wenn man sie
erreichen will. Jugendhilfe muss sich diesen Jugendlichen bewusst zuwenden,
denn auch sie haben ein Recht auf Förderung ihrer Entwicklung und auf Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit (§ 1, KJHG).
Bei der Arbeit mit den Jugendlichen bedarf es eines Konzeptes, das sowohl
die Jugendlichen erreicht als auch Methoden und eine Praxis besitzt, die über
das reine »Vollquatschen« hinaus einen praktischen Gebrauchswert für die
Jugendlichen erkennen lässt. Die Verzahnung von mobiler und stationärer
Arbeit und eine ganzheitliche Methodensicht hat sich in unserer Arbeit als ein
solcher Ansatz erwiesen. Es werden Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gebraucht, die nicht nur die Lebenslagen der Jugendlichen kennen, sondern
auch ihre kulturellen Codes verstehen.
2) Es muss sichtbare, konkrete Ergebnisse geben
Partizipation von Jugendlichen vollzieht sich nicht abstrakt, sondern konkret:
Die konkrete Nutzung eines Raumes, das konkrete Aushandeln von Nutzungsbedingungen macht Partizipationsanstrengungen in den Augen vieler
Jugendlicher überhaupt erst sinnvoll. Ein langwieriges Agieren, wie z.B. in
Jugendparlamenten, ist für diese Jugendlichen – falls sie überhaupt zur Teilnahme an einem Jugendparlament zu motivieren sind – häufig nicht einsehbar
und daher nutzlos.
(3) Kooperation mit den ethnischen Communities
Um Ressourcen zu erschließen, müssen in der Regel Kooperationen eingegangen werden. Neben der horizontalen und vertikalen Vernetzung mit den
Akteuren im Stadtteil kommt es darauf an, mit den verschiedenen ethnischen
Communities zu kooperieren. Ein wichtiger Schlüssel für den Erfolg bei Partizipationsprojekten mit Jugendlichen mit Migrationshintergrund ist es, die
Strukturen dieser Communities zu kennen und zu nutzen.
95
Integration durch Partizipation
Willy Eßmann
4) (Sub-)kulturelle Ausdrucksformen
Das Entstehen neuer (sub-)kultureller Ausdrucksformen etwa im Bereich der
Musik, der Graffity-Kunst, des Breakens usw. schafft gemeinsame neue kulturelle Identitäten, in denen alte herkunft-kulturelle Orientierungen nicht mehr
den zentralen Stellenwert besitzen. In diesem Prozess müssen sich alle bewegen.
5) Spannungen aushalten lernen
Ecken und Kanten, Rückschläge usw. müssen in dem Prozess bewusst wahrgenommen und thematisiert werden. Aus Misserfolgen muss gelernt werden,
oder, wie Beckett es formuliert: es kommt darauf an immer bessere Fehler zu
machen.
Willy Eßmann, Dipl.Päd., Projektleiter Outreach – Mobile Jugendarbeit Berlin,
Lehrtätigkeit an der TU und der ASFH-Berlin
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Kerstin Brockamp
Kompetent für Courage!
Kompetent für Courage!
Anregungen für die Arbeit
mit Jugendlichen zum Thema
Rechtsextremismus
Kerstin Brockamp
»Kompetent für Courage« ist eine Arbeitshilfe für pädagogische Fachkräfte in
1
Schule und Jugendarbeit . Das Buch soll Praktikerinnen und Praktikern helfen,
ohne langwierige Vorbereitung und aufwändige Recherchen Arbeitseinheiten
und Projekte zum Thema »Rechtsextremismus/Gewalt/Rassismus« durchzuführen. Interessierte Pädagogen und Pädagoginnen können aus den Unterrichtsmaterialien, Anleitungen und Literaturhinweisen die für sie ge-eigneten
Übungen auswählen und direkt umsetzen. Darüber hinaus informiert der
Band über weiterführende Praxismaterialien (Filme etc.).
Ein einführender Text gibt einen Überblick über die Entstehung von rechtsextremistischen Orientierungen. Die Broschüre enthält zudem Beispiele verbotener und nicht verbotener rechter Symbole, übersichtliche Informationen über
die Skinheadkultur, Rechtsextremismus im Internet und die Bedeutung von
rechter Musik. Ein Serviceteil enthält Kopiervorlagen von Rollenspielen und
Übungen. Gemeinsam mit den Kindern und Jugendlichen können so Themen
wie »Eigene Vorurteile« oder »Rassismus« reflektiert und bearbeitet werden.
1
Bezug: Landesstelle Jugendschutz Niedersachsen, Leisewitzstr. 26, 30175 Hannover,
Tel. 0511-85 87 88, info@jugendschutz-niedersachsen.de
97
Kompetent für Courage!
Kerstin Brockamp
Eine präventive Arbeit mit jungen Menschen stellt hohe Ansprüche an pädagogische Fachkräfte. Sie müssen sich auf eine Auseinandersetzung einlassen
können, die gleichermaßen Akzeptanz (der Person des Jungen bzw. des Mädchens) als auch Konfrontation (ihrer Taten und rassistischen Einstellungen)
beinhalten. Das bedeutet für die pädagogische Arbeit: Pädagogische Fachkräfte müssen ihre eigene Haltung gegenüber Gewalt/Rechtsextremismus/
Rassismus reflektieren und den Kindern und Jugendlichen eine Identifizierung
mit gewaltfreien, couragierten und toleranten Orientierungen ermöglichen.
Die Bereitschaft zur Auseinandersetzung mit Meinungen und Einstellungen
junger Menschen, eine Sensibilität für frühe Anzeichen von Rassismus und
ein Vorleben gewaltfreier Selbstbehauptung können dazu beitragen, Empathiefähigkeit und Selbstbewusstsein von Kindern und Jugendlichen zu fördern.
Kritikfähigkeit und Empathie, Selbstbewusstsein und Zivilcourage bilden eine
wirkungsvolle Basis gegen rechte Orientierungen und Einstellungen. Diese
Fähigkeiten werden mit den Impulsen in dieser Broschüre gefördert und gefordert. Denn: Wer stolz auf sich selbst ist, muss niemand abwerten, um sich
selbst aufzuwerten. Und wer sich in seine Mitmenschen einfühlen kann, wird
diesen keinen körperlichen Schaden zufügen wollen. Wer sich schützend vor
seinen bedrohten Nachbarn stellt, wird anderen deutlich machen, dass er
Ausgrenzung und Verfolgung nicht toleriert. Wer sich mit eigenen Vorurteilen
auseinander setzt, verhindert ihre Verfestigung.
Vorurteile, abwertendes Verhalten und rechtsextremistische Taten begegnen
uns fast täglich. Wir lesen von gewalttätigen Übergriffen auf Migranten oder
hören Parolen wie »Ausländer raus« oder »Die nehmen uns die Arbeit weg«.
Auch wenn bei weitem nicht nur Jugendliche im Kontext von Rechtsextremismus auffällig werden, so machen sie jedoch einen nicht unerheblichen Anteil unter der hiesigen Bevölkerung aus. Viele pädagogische Fachkräfte fragen sich, wo die Gründe dafür liegen, wenn junge Menschen mit
rassistischen Parolen und Einstellungen und gewalttätigen Übergriffen auffallen. Einige zentrale Standpunkte und Erkenntnisse sollen an dieser Stelle
vorgestellt werden:
Entsteht eine rechtsextremistische Orientierung, wenn Kinder und Jugendliche sozial benachteiligt sind? Wenn sie beruflich, sozial oder moralisch entwurzelt sind? Wenn sie wenig gebildet sind und nur selten die Chance auf
98
Kerstin Brockamp
Kompetent für Courage!
qualifizierte und gut bezahlte Arbeit haben? Rechte Deutungsmuster versprechen in diesem Zusammenhang eine Aufwertung des eigenen Status bei
gleichzeitiger Abwertung derjenigen, die als illegitime Konkurrenten um Arbeitsplätze, Sozialleistungen und andere knappe Güter dargestellt werden.
Ob jemand gewalttätig oder abwertend ist, kann aber auch von ganz individuellen Persönlichkeitsressourcen abhängen: wie ich jemanden wahrnehme
oder beurteile, hängt in erster Linie auch davon ab, wie ich mich selbst wahrnehme. Ist mein Selbstwertgefühl stabil und ausgeglichen, habe ich weniger
Angst vor Fremden. Fremdenfeindlichkeit wird folglich auch als eine Konsequenz aus Angst vor Fremden angesehen. Aber auch ein Gefühl der eigenen
Überlegenheit – also ein vielleicht übersteigertes oder sich selbst eingeredetes Selbstbewusstsein kann zur Ausübung rechtsextremer Gewalt führen.
Bei Kindern und Jugendlichen darf auch der Einfluss Gleichaltriger nicht unterschätzt werden. Cliquen bieten ihren Mitgliedern Schutz und Orientierung
und können unter bestimmten Umständen im Hinblick auf Gewalt eskalierend
wirken. Die Zugehörigkeit zu einer Gruppe, das gemeinsame Outfit und die
Musik, Machtgefühle und Vorbilder haben eine große Bedeutung für Jugendliche, die auf der Suche nach dem »Kick« sind. Rechte Cliquen können das
Bedürfnis stillen nach Geborgenheit und einem eindeutigem Weltbild, in dem
Männer- und Frauenrollen klar definiert sind.
Weitaus mehr junge Männer als Frauen sind an rechtsextremistischen Gewalttaten beteiligt. Das Leben von Jungen scheint noch immer geprägt von einem
»Nicht weinen dürfen« und »Härte zeigen müssen«. Schon früh werden ihnen
emotionale Nähe und jegliche Körperkontakte entzogen, Gefühle wie Ohnmacht, Hilflosigkeit oder Angst werden ignoriert, unterdrückt oder sogar bestraft. Dies kann zur Folge haben, dass Jungen oft nicht die Möglichkeiten
haben, soziale bzw. emotionale Beziehungen einzugehen. Aus Mangel an
Empathiefähigkeit und Kommunikationskompetenz können Gewalt und
rechtsextremistische Parolen einziges Bewältigungsmuster jugendlichen
Alltagshandelns werden. Hinzu kommen können noch typisch deutsche Tugenden, die bis heute noch als »normale« Gewalt angesehen werden und die
ideale Anknüpfungspunkte für den Rechtsextremismus bieten. Leistungsdruck und Konkurrenzdenken, Pflichterfüllung und Gehorsam – diese Ellenbogenmentalität unserer Gesellschaft kann für beruflich noch nicht etablierte
Jugendliche in rechten Gruppierungen ausgelebt werden. Zudem können Vor-
99
Kompetent für Courage!
Kerstin Brockamp
urteile, unreflektierte Äußerungen und Begriffe von Erwachsenen einen Nährboden für rechtsextremistische Einstellungen und Handlungen jugendlicher
Täter bilden.
Die Ursachendiskussion ist inzwischen komplex geworden und die Ansätze
der Präventionsmöglichkeiten sind vielfältig – einige dieser zentralen Standpunkte und Erkenntnisse werden in der Arbeitshilfe im Überblick dargestellt
und in Beziehung gesetzt zu praktischen Übungen für die Prävention in Schule und Jugendarbeit. So sollen z.B. Kinder und Jugendliche in die Lage versetzt
werden, sich mit Fremdem und Widersprüchlichem konstruktiv auseinander
zu setzen. Das hier vorgestellte Rollenspiel »Begrenzungen durch Vorurteile
und Diskriminierungen« ermöglicht zusätzlich einen Perspektivenwechsel und
den Aufbau von Empathie und Verständnis. Es kann mit Jugendlichen ab 16
Jahren im (außer)schulischen Bereich durchgeführt werden, wenn Einzelgespräche über individuelle Gefühle möglich sind.
Rollenspiel zum Thema: Gewalt/ Rassismus erkennen
2
Begrenzungen durch Vorurteile und Diskriminierung
TN-Zahl:
6 - 16
Alter:
16 Jahre
Hilfsmittel:
1 »Rollenkärtchen« für jeden TN
Raum:
ab 30 qm freier Fläche. Besser großer offener Raum
Zeitbedarf:
70 Minuten, davon 45 für die Auswertung
Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer (TN) stellen sich in einer Linie an einer
Schmalseite des Raumes auf. Jeder erhält ein vorbereitetes Kärtchen, auf dem
eine Rolle notiert ist. Diese Rolle soll bis zur Auswertung der Übung geheim
bleiben. Wenn alle TN sich innerlich auf ihre Rolle eingestellt haben (kurze
2
In: Kompetent für Courage! Bausteine zum Thema Rechtsextremismus und Gewalt, Hannover
2002, aus: Arbeitsgruppe SOS-Rassismus NRW (Hrsg.): Spiele, Impulse und Übungen zur
Thematisierung von Gewalt und Rassismus in der Jugendarbeit, Schule und Bildungsarbeit,
Schwerte 1996
100
Kerstin Brockamp
Kompetent für Courage!
Zeit zum Nachdenken) und in der Reihe stehen, kündigt der Trainer/die Trainerin an, dass er/sie eine ganze Reihe von Fragen vorlesen wird. Jeder TN
möge sich überlegen, ob er in der eigenen Rolle die Frage mit »Ja« beantworten kann – dann geht er einen deutlichen Schritt vorwärts – oder ob er mit
»Nein« antworten muss, dann bleibt er bei dieser Frage stehen.
Nach der letzten Frage bleiben alle TN in ihrer Rolle und an ihrem Platz. Hier
beginnt der erste Teil der Auswertung. Einer nach dem anderen werden die TN
gebeten, ihre Rolle den anderen zu nennen und zu erklären, wie sie sich gefühlt haben, wie sie sich selbst empfunden haben und wie die Menschen vor
und hinter ihnen. Welche Frage z.B. hat besondere Empfindungen ausgelöst?
Danach sollte ein kurzes, schnelles Bewegungsspiel Gelegenheit geben, wieder aus den Rollen herauszufinden. Die Auswertung erfolgt im großen Kreis
sitzend.
Einige Leitfragen dazu:
• Wie reagieren unterschiedliche Menschen in ähnlichen Situationen?
• Welche Beschränkungen haben den TN die einzelnen Rollen durch die
Definition von Ethnizität und sozialem Status auferlegt?
• Was haben die TN über die Einschränkung der Möglichkeiten von einzelnen gesellschaftlichen Gruppen erfahren?
• Weshalb nehmen wir solche Einschränkungen bei anderen Menschen
häufig nicht wahr?
Beispiele für mögliche Rollen: ein 18-jähriger marokkanischer Hilfsarbeiter,
eine phillipinische Krankenschwester, ein 30-jähriger verheirateter deutscher
Facharbeiter, ein 34-jähriger Kurde, ...
Beispiele für mögliche Fragen: Kannst du Urlaub in deiner Heimat verbringen,
20 Jahre im Voraus planen, bei der nächsten Kommunalwahl wählen, dich
nach Einbruch der Dunkelheit auf der Straße sicher fühlen ...?
In Rollenspielen zum Thema »Alternativen« sollen die Kinder und Jugendlichen zudem die Möglichkeit erhalten, neue Gefühle, Sichtweisen sowie Handlungsalternativen zu erkennen und auszuprobieren.
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Kompetent für Courage!
Kerstin Brockamp
Rollenspiel zum Thema: Alternativen
3
Gewaltfrei Handeln – Aktives Handeln
TN-Zahl:
ca. 10 Spieler, die anderen beobachten und berichten
Alter:
ab 12 Jahren
Material:
keines
Zeit:
15 Minuten
Spielszene:
Eine kleine Gruppe von Passantinnen und Passanten geht in einer Fußgängerzone auf und ab. Sie tragen schwere Taschen, sitzen im Café, unterhalten
sich, bummeln, lesen Zeitung, kaufen ein. Die Gruppe erlebt dann eine Szene,
die sie (möglicherweise) zum Eingreifen motiviert. Die Szene ist zeitlich begrenzt und kann auch wiederholt werden. Im Spielverlauf wird versucht, ohne
Gewalt den Konflikt zu lösen oder zu stoppen.
Spielvorschläge:
1) Frau und Mann stürmen aus der Kneipe, der Mann macht die Frau an, beschimpft und bedrängt sie.
2) Ein Migrant verteilt Flugblätter. Ein oder eventuell zwei Passanten setzen
sich mit ihm lautstark auseinander, entwenden ihm die Flugblätter, beschimpfen und bedrängen ihn.
Auswertungsfragen:
Wie habe ich mich erlebt, was habe ich empfunden?
Wie bin ich mit der Situation umgegangen?
Was hat mir Schwierigkeiten bereitet?
3
ebd.
102
Kerstin Brockamp
Kompetent für Courage!
»Kompetent für Courage« enthält neben diesen beiden Rollenspielen noch
eine Vielzahl anderer Übungen, die neben den schon genannten Themenbereichen z.B. die eigene Wahrnehmung behandeln oder deutlich machen sollen, wo Verhaltensauffälligkeiten toleriert werden sollten und wo es nötig
wird, mit Entschiedenheit Grenzen zu ziehen. Diese Übungen können – sowohl in Schule als auch Jugendhilfe mit verschiedenen Spielvorschlägen variiert – dabei helfen, Konflikte ohne Gewalt zu lösen oder zu stoppen. Kinder
und Jugendliche lernen, auch in schwierigen Alltagssituationen Stellung zu
beziehen und Partei für Schwächere zu ergreifen. Eigene Stärken und Fähigkeiten können erkannt und entwickelt werden und zu einem wachsenden
Selbstbewusstsein führen, dass ein Abwerten anderer unnötig macht. Welche
weiteren Möglichkeiten haben wir in der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen?
Wir müssen ihnen eine altersgerechte Auseinandersetzung mit rechtsextremistischen Inhalten bieten, die eine Sensibilisierung für menschenverachtende Haltungen und Ideologien der Ungleichheit fördert. Demokratische
Werte und Normen sollten gemeinsam mit den Erwachsenen diskutiert und
aufgebaut werden. Eine handlungsorientierte Arbeit wird zudem die Chance
erhöhen, dass sich Kinder und Jugendliche aktiv an der Gestaltung von Demokratie beteiligen. Neue Möglichkeiten der Mitbestimmung sollten ihnen
eröffnet werden. Wir müssen sie in ihren Haltungen gegen rechtsextremistische Orientierungen unterstützen und in ihrer Persönlichkeit stärken. Sie
sollen sich mit ihren eigenen und fremden kulturellen Hintergründen auseinander setzen können und bessere Konfliktlösungen entwickeln.
Prävention braucht Kontinuität und langfristige Perspektiven. Damit Präventionsmaßnahmen wirken können, müssen sie ein regelmäßiger Bestandteil der
schulischen und außerschulischen Arbeit mit Kindern und Jugendlichen sein.
Dafür soll die Arbeitshilfe praktische Anregungen und Unterstützung bieten.
Aber auch kurzfristige Aktivitäten sind nicht sinnlos – sie können z.B. öffentlichkeitswirksame Diskussionen anregen und Signale setzen, die auch anderen Menschen Mut machen, im Alltagsleben couragiert gegen rechtsextremistische Handlungen oder Äußerungen vorzugehen.
Kerstin Brockamp, Dipl.-Pädagogin, Referentin bei der Landesstelle Jugendschutz Niedersachsen mit dem Arbeitsschwerpunkt Rechtsextremismus und
Gewalt, Lehrbeauftragte der Universität Hannover, Anti-Gewalt-Trainerin
103
Herkunft Ankunft Zukunft
Yvonne Fietz
Herkunft Ankunft Zukunft
Internet-Workshops mit
Aussiedlerjugendlichen aus
Russland und Kasachstan
Yvonne Fietz
Die Internet-Workshops mit den Aussiedlerjugendlichen aus Russland und
Kasachstan fanden im Jahr 2000 im Rahmen der Kampagne »Alkohol. Irgendwann ist der Spaß vorbei!« statt, die im Auftrag des Hamburger Büros für
Suchtprävention durchgeführt wurden. Die damalige Behörde für Arbeit, Gesundheit und Soziales wollte mit dieser Kampagne die Lust am Leben ohne
Rausch wecken. Nach dem Motto »Genuss statt Sucht« entwickelte die renommierte Hamburger Werbeagentur Springer & Jacobi eine Plakatserie, in
der die kritische Grenze zwischen lustvollem Genuss in Maßen und der Überschreitung der Grenze thematisiert wird. In Verbindung mit dieser Plakatserie
wurde vom Büro für Suchtprävention und dem Amt für Jugend (damals BSJB)
ein Wettbewerb ausgeschrieben, bei dem Teilnehmerinnen und Teilnehmer ab
16 Jahren ihre eigene Story zum Alkohol texten konnten – auf Info-Cards oder
direkt online im Internet.
Insgesamt wurden 11 Workshops durchgeführt, wobei der Schwerpunkt bei
dem Internet-Projekt »Herkunft Ankunft Zukunft« bei der Interkulturellen
Bildung Hamburg (IBH) lag. Die restlichen fünf Workshops fanden in offenen
Jugendbereichen freier Träger statt: Haus der Jugend Stintfang, MOTTE und
TIMO-Club.
104
Yvonne Fietz
Herkunft Ankunft Zukunft
Ziel der Workshops bei der IBH war es, eine Auseinandersetzung mit sich
selbst und dem Umgang mit Alkohol in zwei Kulturen (Russland/Kasachstan
und Deutschland) anzuregen. Als Mittel zur intensiveren Auseinandersetzung
wurden Methoden des kreativen Schreibens eingesetzt (Warmschreiben,
Clustering/wwww-Fragen, Schreiben im »geschützten Raum«). Die entstandenen Texte und Collagen arbeiteten die Jugendlichen in Webseiten ein, die
später ins Internet gestellt wurden.
Integration durch Bildung?
Die Jugendlichen und jungen Erwachsenen in der Bildungseinrichtung IBH
befanden sich in einem zwölfmonatigen Integrationssprachkurs, in dem ihnen
»zusätzliche intensive sprachliche und ausbildungsspezifische Kenntnisse
und Fertigkeiten« vermittelt werden. Betriebspraktika und PC-Schulungen,
Fachunterricht in Mathematik, Bewerbungstraining, Unterstützung bei der
Ausbildungsplatzsuche sowie sozialpädagogische Betreuung sind außerdem
Bestandteile dieses Kurses. Finanziell gefördert wurden die Kurse vom Hamburger Landesamt für Aussiedler, Flüchtlinge und Lastenausgleich.
Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Kurses sind zwischen 18 und 24
Jahren alt und sind alle zusammen mit ihrer Familie nach Deutschland gekommen. D.h. niemand hat selbst allein für sich die Entscheidung für die Migration getroffen. Dementsprechend gab es einige Schülerinnen und Schüler,
die gegen ihren Willen in Deutschland waren und nur darauf warteten, zurückgehen zu können. Ihr Haupt- oder Realschulabschluss wurde in Deutschland anerkannt, Hochschulreife, Studium oder Berufsausbildungen dagegen
nicht. So hatten einige in Russland/Kasachstan bereits einen vielversprechenden beruflichen Einstieg (Abitur, abgeschlossene Lehre, begonnenes
Studium) und wurden in Deutschland als ungelernt bzw. – aus sprachlichen
Gründen – ungeeignet für die Ausübung ihrer bisherigen Berufspraxis (Sekretärin) eingestuft.
Die Integrationssprachkurse sind konzeptionell sehr verschult, die Schülerinnen und Schüler haben wenig Möglichkeiten, eigene Interessen oder Vorstellungen einzubringen. Zudem scheinen die jungen Erwachsenen aus Russland/
Kasachstan in ihrer Jugendzeit eine Pädagogik kennen gelernt zu haben, die
das selbstständige und kreative Denken nicht gefördert hat, sondern mit
105
Herkunft Ankunft Zukunft
Yvonne Fietz
klaren Vorgaben und Aufgabenstellungen gearbeitet hat. Das Lehrer-SchülerVerhältnis dürfte ausgeprägt hierarchisch gewesen sein. Der Lehrkörper der
IBH hat sich dieser »Kultur« angepasst.
Das Setting (geschützter Raum) und die Methoden des Kreativen Schreibens
stellten anfangs eine Herausforderung für die meisten Schülerinnen und
Schüler dar, weil ich aus der ihnen vertrauten, stark hierarchisierten LehrerRolle ausgestiegen bin und sie zum eigenständigen, kreativen Ausdruck aufgefordert habe. Streckenweise gestalteten sich die Workshops daher recht
chaotisch, was ich jedoch hinnahm, um die besondere Qualität der Auseinandersetzung durch die Methoden des Kreativen Schreibens nicht zu verlieren.
Parallel zu der inhaltlichen Ebene vermittelte ich Grundbegriffe der Internettechnologie (Netscape Navigator und Composer, digitale Bildfotografie und
-bearbeitung, E-Mail, Interneteinführung: Surfen, Suchen, Downloads). Beim
Einstieg in die Internettechnik habe ich ins Russische übersetzte Schlüsselbegriffe geliefert, um Sprachbarrieren abzubauen. Dennoch gestalteten sich
die Lernprozesse in diesem Bereich extrem langsam, weil die wenigsten Schülerinnen und Schüler nennenswerte Erfahrungen mit Computern hatten. Wie
auch im Bereich des Kreativen Schreibens bin ich schnell zu einer Strategie
der kleinen und stark begleiteten Schritte gelangt: Arbeitsblätter mit ausführlichen Beschreibungen und Erklärungen.
Interkulturelle Aspekte
»Eine Taube, die im Pferdestall geboren wird,
ist doch nicht gleich ein Pferd«
»Ich kann doch nicht die eine Hälfte wegschmeißen«
Um der Bedeutung des Migrationshintergrunds bei Jugendlichen für das Thema Prävention und Alkohol auf die Spur zu kommen, stellte ich die sechs
Internet-Workshops unter das Motto »Herkunft Ankunft Zukunft«. An jeweils
zwei Workshoptagen (9.45-15.00 Uhr) stand ein Thema im Vordergrund. Beim
ersten Workshop beispielsweise stand die Frage nach der Herkunft, den eigenen Wurzeln im Mittelpunkt. Wo komme ich her? Zu was bin ich dort geworden? Welche Sehnsüchte bestimmten mein Leben? Was für eine Rolle spielte
der Alkohol dort?
106
Yvonne Fietz
Herkunft Ankunft Zukunft
Im zweiten Block fokussierten wir die Ankunft und das Leben in Deutschland
und im dritten die Zukunft.
In jedem Themenblock habe ich versucht, mit dem Perspektivwechsel zu arbeiten: Zuerst war es der Blick von Russland/Kasachstan auf Deutschland,
dann der Blick als jugendlicher Aussiedler auf Deutschland und Russland/
Kasachstan. Und was sind die Wünsche für die Zukunft?
Die Thematisierung der Alltagsdroge Alkohol im Fokus der Interkulturalität
entlang des Mottos »Herkunft Ankunft Zukunft« führte zu interessanten Ergebnissen. So klang in den Texten und Collagen, die sich auf den Umgang mit
Alkohol in Russland bezogen (Herkunft), immer wieder die Gefahr an, wie
schnell das Alkoholtrinken aus Wut, Angst oder Frustration zur Sucht führen
kann. Dies ist sicher ein Hinweis auf die suchtpräventive Arbeit in Russland
und Kasachstan, denn ein solches Bewusstsein habe ich bei deutschen Jugendlichen in keiner Weise so ausgeprägt erlebt. In Deutschland (Ankunft)
wurden die negativen Anteile des Alkoholkonsums eher bei namenlosen
Fremden (Bettler, Obdachlose etc.) wahrgenommen. Das engere Umfeld lieferte eher Stoff für Geschichten des maßvollen Genusses von Alkohol in der
Familie oder unter Freunden. Eine Teilnehmerin schrieb:
Ich trinke keinen Alkohol. Obwohl man in Deutschland sagt, dass man
in Russland viel trinkt, trinken die Deutschen trotzdem nicht weniger
als Russen – finde ich. Man kann es auch auf der Straße sehen, sogar
wenn man bummelt. Es gibt auch viele Kneipen hier.
Ausgehend von der Kampagne »Alkohol. Irgendwann ist der Spaß vorbei!«
thematisierte ich immer wieder aus verschiedenen Blickwinkeln das Diesseits
und Jenseits der kritischen Grenze. Was sind die besonderen Kennzeichen
und Qualitäten des lustvollen Genusses, wann und wie gestaltet sich die
Überschreitung der Grenze und was liegt hinter der Grenze?
Es wirkt sich positiv auf das Selbstvertrauen aus, sich als aktiver und kompetenter Nutzer des Internets zu erleben, aber auch als jemand, der Kontakt zu
seiner inneren Stimme erlangt hat. Internettechnologie und Kreatives Schreiben gehen dabei einen fruchtbaren Verbund ein. Frauen haben meist einen
leichteren Zugang zum Schreiben und weil sie ihren Text mögen, möchten sie
ihn auf ihren Webseiten auch schön präsentieren. Junge Männer halten vom
107
Herkunft Ankunft Zukunft
Yvonne Fietz
Schreiben nicht gerade viel, aber am Computer – bzw. mit Aussicht auf Weiterverwendung am Computer – überwinden sie ihre Hemmungen viel leichter.
Webseite: www.suchthh.de/alkohol
Literaturhinweis
Gabi Dobusch: Geschlechtsspezifische Präventionsarbeit für MigrantInnen, In:
Landeszentrale für Gesundheit in Bayern e.V. (2002): Sucht und Migration
– Suchtprävention und -arbeit mit Menschen aus der GUS, München, (Dokumentation des Dritten Bayerischen Forums Suchtprävention der Landeszentrale für Gesundheit in Bayern e.V., Leitershofen bei Augsburg, 19.21. November 2001), S. 74 - 80.
Yvonne Fietz, Literaturwissenschaftlerin M.A., Öffentlichkeits- und Medienreferentin des Landesverband Soziokultur Hamburg e.V.
108
Eva Hanel
Gesucht – Gefunden
Gesucht – Gefunden
Medien für die praktische Arbeit
Eva Hanel
Medien sind eine gute Grundlage für die thematische Arbeit mit Kindern und
Jugendlichen. Vor allem audiovisuelle Medien eignen sich besonders gut, um
einen Einstieg in ein Thema zu finden. Sie können vielfältig eingesetzt werden
und Inhalte sehr gut veranschaulichen. Neben zahlreicher Literatur existieren
interessante Filme, oftmals mit Begleitmaterialien, und interessante Internetportale, die sich sehr gut für die Arbeit zum Thema Integration eignen.
1. Filme
»Zwischen Türkisch Mokka und Cola Light«
Der Film von neun Minuten Länge ist von der Bundeszentrale für politische
Bildung in Auftrag gegeben und im Jahr 2000 gedreht worden. Jugendliche
ausländischer und deutscher Herkunft berichten über das Zusammenleben in
Deutschland, über Vorurteile, Fremdenfeindlichkeit und Ausgrenzung, aber
auch über Gemeinsamkeiten und Chancen, voneinander zu lernen. Die Jugendlichen engagieren sich in zwei interkulturellen Projekten, die sich für ein
friedliches Miteinander von deutschen und ausländischen Jugendlichen einsetzen. Im Video wechseln sich Sequenzen aus der Projektarbeit mit Statements ab und es werden Ausschnitte aus dem Musical »Westend Opera«
gezeigt, das »Integration« zum Thema hat. Begleitend zu dem Film hat die
Bundeszentrale für politische Bildung Materialien zu den Stichworten »Integration«, »Jugend« und »Vorurteile« herausgegeben. Dort werden folgende
109
Gesucht - Gefunden
Eva Hanel
Themen didaktisch aufbereitet: Nationalitätenmerkmale, Herausforderung
durch Integration, Identität und multikulturelle Gesellschaft.
Der Film mit seinen begleitenden Materialien ist für Kinder und Jugendliche ab
12 Jahren geeignet. www.bpb.de
»Was heißt hier multikulti? United Culture«
Auch dieser Film ist von der Bundeszentrale für politische Bildung in Auftrag
gegeben worden. Das Medienpaket dokumentiert die Ergebnisse eines Jugend-Projektes, das 1994 im Münchener Stadtteil Haidhausen durchgeführt
wurde. Im Rahmen eines breit gefächerten Aktionsprogramms begaben sich
Jugendliche mit Fotoapparat, Tonband und Kamera auf die bewusste Suche
nach Einflüssen fremder Kulturen in ihrem Stadtteil. Sie haben sich anhand
des folgenden Fragenkatalogs dem Thema genähert:
• Was ist typisch deutsch?
• Was bedeutet fair?
• Welche Nationalität haben ihre Freunde?
• Was ist anders in Deutschland als in ihrer Heimat?
• Was für Probleme haben Ausländer?
• Was ist multikulturell?
Ziel dieses modellhaften Projektes war es, deutlich zu machen, dass die deutsche Alltagskultur längst ein ganzes Spektrum multikultureller Bestandteile
hat. Darüber hinaus sollte im Sinne eines interkulturellen Lernprozesses ermöglicht werden, sich dem Fremden anzunähern, ohne es sogleich zu beoder verurteilen. Das Medienpaket enthält: ein Radiomagazin, einen Film, die
Broschüre »Fundstücke« mit Beispielen aus dem Projekt, sowie einen Projektbericht, der sich an Fachleute der Jugendarbeit und -bildung richtet. Der
Projektbericht ist sehr ausführlich und kann gut als Anregung für eigene Projekte verwendet werden. Die Broschüre »Fundstücke« ist stadtteilbezogen.
Nichtsdestotrotz lassen sich daraus gute Anregungen für die eigene praktische Arbeit entnehmen. Einziger Nachteil ist der oft erwähnte regionale Bezug, in diesem Fall Bayern als auch der zum Stadtteil Haidhausen, in dem das
Projekt angesiedelt war.
110
Eva Hanel
Gesucht – Gefunden
Der Film mit seinen begleitenden Materialien ist für Kinder und Jugendliche ab
10 Jahren geeignet. www.bpb.de
»Swetlana«
Der Kinofilm »Swetlana« ist in Deutschland im Jahr 2001 gedreht worden. Das
Institut für Kino- und Filmkultur in Köln hat dazu ein sehr gutes Filmheft herausgegeben, das Vorschläge für den didaktischen Einsatz im Unterricht
macht. Dort werden die Themen Freundschaft und Liebe, die Geschichte der
deutschen Einwanderer sowie die Situation der Spätaussiedler behandelt.
»Swetlana« ist ein Film über das Erwachsenwerden, über die Suche nach
Heimat, Freundschaft und Liebe. Gemeinsam mit ihrer Familie ist die 16jährige Swetlana von Kasachstan nach Duisburg gezogen. Die fremde Umgebung in Deutschland, die Ressentiments, die sie als Russlanddeutsche erfährt, verunsichern sie ebenso wie die Fremdheit, die sie sich selbst gegenüber fühlt. Sie ist kein Kind mehr, will sich abgrenzen von den Eltern und ihrem kulturellen Umfeld. Und weiß zunächst doch nicht genau, was sie will.
Erst langsam gewinnt Swetlana Vertrauen zu sich selbst und ihren Gefühlen.
Der Film »Swetlana« zeigt mehr als die Entwicklung der Protagonistin und wie
es erlebt wird, als Migrantin in Deutschland zu leben, er zeigt auch, wie sich
Menschen in fremden Ländern arrangieren, wie sie darum kämpfen einen
neuen Weg zu finden oder auch scheitern.
Der Film wird von der FSK ab 14 Jahren empfohlen.
Das Institut für Kino- und Filmkultur veröffentlicht nicht nur Filmhefte zum
Thema »Integration«, sondern hat noch viele andere Themen zur Auswahl.
Passend dazu organisieren die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter Kinoveranstaltungen, in denen Kinder und Jugendliche die Möglichkeit bekommen neben dem ausgewählten Film, über das Gesehene zu diskutieren. Ein fachkundiger Referent begleitet die Veranstaltung, bespricht und analysiert die vorgestellten Filme mit den Kindern oder Jugendlichen und steht außerdem nach
1
jeder Vorstellung zu einem Gespräch für Schüler und Lehrer zur Verfügung.
www.film-kultur.de
1
Institut für Kino- und Filmkultur, Mauritiussteinweg 86-88, 50676 Köln, info@film-kultur.de
111
Gesucht - Gefunden
Eva Hanel
2. Internetseiten
CrossXCulture
CrossCulture ist ein Netzwerk für interkulturelle und europäisch orientierte
Kinder- und Jugendmedienarbeit in Nordrhein-Westfalen. Es wurde auf Initiative des JFC Medienzentrum Köln und des nordrhein-westfälischen Ministeriums für Frauen, Jugend, Familie und Gesundheit Mitte 2000 ins Leben gerufen. Das Projekt ist angetreten, um erstens die außerschulische interkulturelle Jugendmedienarbeit stärker ins Blickfeld des pädagogischen und öffentlichen Interesses zu rücken und zweitens ein Netzwerk einschlägiger Aktivitäten in Nordrhein-Westfalen zu installieren. Dieses Netzwerk hat die Aufgaben,
kommunikative Infrastrukturen zu schaffen, den Informationsfluss zu fördern,
Qualifikation und Beratung anzubieten sowie langfristig Kontakte zu europäischen Partnern zu vermitteln und bei der Suche nach geeigneten Förderprogrammen bzw. Sponsoren zu helfen. Diese Ziele werden auf zwei Ebenen
verfolgt: einer virtuellen Plattform im Internet und einer ›realen‹ Vernetzung.
Im Internet kann man sich zum Thema »Integration« informieren, austauschen oder Einblicke in andere Projekte bekommen. In der entsprechenden
Datenbank erhält man Informationen zu den Projekten, Beschreibungen und
Adressen von Ansprechpartnern. In dieser Datenbank kann man sich inspirieren lassen, um selbst Projekte zum Thema »Integration« zu initiieren.
Diese Internetseite ist ein gutes Beispiel, um interkulturelle, europäisch orientierte medienpädagogische Arbeit wahrzunehmen, und um die Diskursbereitschaft und den interkulturellen Dialog zu fördern.
Die Internetseite »crossculture« spricht Jugendliche ab 12 Jahren inhaltlich
und gestalterisch an. www.crossculture.de
Gi’me 5 – Aktion für Freundschaft und Toleranz
ARD, ZDF und der KI.KA haben gi’me 5 ins Leben gerufen, die Aktion für
Freundschaft und Toleranz, denn Freundschaft kennt keine Grenzen.
Diese Internetseiten eignen sich vor allem für etwas jüngere Kinder (ab 8
Jahren), die sich mit dem Thema beschäftigen wollen.
Auf den Seiten können sich Kinder über das Projekt informieren und selbst
ihre Projekte zum Thema »Integration« ins Netz stellen. Neben themenbezo-
112
Eva Hanel
Gesucht – Gefunden
genen Fernsehsendungen können sie im Lexikon entsprechende Begriffe
nachschlagen und sich im Forum für Toleranz und Freundschaft austauschen.
www.tivi.de/gime5/default.htm
3. Computerspiele
Unsere Recherche im Herbst 2002 hat ergeben, dass es kaum Computerspiele
zu dieser Thematik gibt. Das Thema »Integration« in Computerspielform umzusetzen ist zum einen sehr schwierig und wird zum anderen von den Kindern
und Jugendlichen nicht nachgefragt. Das unterstreicht auch der Tatbestand,
dass es kein einziges kommerzielles PC-Spiel zu diesem Thema gibt. Eine
Ausnahme bildet das PC-Spiel »Dunkle Schatten«, das vom Innenministerium
des Bundes und der Länder 1994 initiiert worden ist. Das Spiel ist Teil der
Aufklärungskampagne der Bundesregierung gegen Rechtsextremismus.
Hauptfigur des Spiels ist der 16-jährige Schüler Carsten Wegener, der sich
mittlerweile in weiteren zwei Folgen gegen Fremdenfeindlichkeit und Rassismus engagiert. www.bmi.de
4. Literatur
Eine Literaturliste und eine Liste der Beratungsstellen zum Thema »Integration« sind bei der Landesstelle Jugendschutz Niedersachsen kostenlos erhältlich.
Eva Hanel, Dipl.-Pädagogin mit den Arbeitsschwerpunkten Jugendmedien
und Bildungsmittel, Medienerziehung im Elementarbereich, Koordinatorin
des Modellprojektes »aktion familien online« in Niedersachsen
113
Vergessen Sie Integration!
Peter Grünheid / Markus Kissling
Vergessen Sie Integration!
Peter Grünheid
Markus Kissling
Kein Witz: Wollen Sie Integration (lat.: integratio – (Wieder)-Herstellung eines
Ganzen) erreichen, müssen Sie Integration vergessen. Integration ist kein
Selbstzweck, kein Ziel. Integration geschieht nebenbei oder gar nicht.
Integration kann nur Nebenprodukt sein. Nebenprodukt eines viel spannenderen Prozesses. Menschen wollen leben, sie wollen Arbeit, sie wollen sich
amüsieren, sie wollen lieben. Wer steht schon auf und sagt: »Heute will ich
mich aber integrieren!«?
Wir sind alle Teil eines Ganzen und wir sind alle in Teilen integriert und in
anderen nicht. »Integrationsarbeit« besteht also vor allem darin, Perspektiven zu verändern, d.h. Unterschiede wahrzunehmen und sie als Chance zu
begreifen. Nicht Angst vor dem Fremden, sondern das Fremde als Bereicherung für das Eigene zu verstehen. Hört sich an nach Sozial-Romantik und
»Multi-Kulti«, ist aber eher Physik. Wachstum, die Entstehung von etwas
Neuem ist nur möglich durch Verbinden von Unterschiedlichem. Je mehr Unterschiede es gibt, desto mehr Möglichkeiten gibt es, Unterschiede sind die
Voraussetzung für eine Regelung innerhalb des Systems. Zwischen dem Gleichen kann keine Vereinbarung getroffen werden, es ist ja schon eins.
Das heißt, Integration vollzieht sich in einem ersten Schritt durch Trennung
und nicht durch Gleichmachen.
Um den Reichtum, der in der Unterschiedlichkeit besteht, erfahrbar zu machen, gibt es kaum ein besseres Trainingsgebiet als die Kunst. Kunst nicht
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Peter Grünheid / Markus Kissling
Vergessen Sie Integration!
verstanden als Arbeit von Spezialisten an einem möglichst schönen und beeindruckenden Produkt für eine Elite, sondern als ein für jeden wenn auch
unterschiedlich zugänglicher Prozess, dessen Anliegen es ist, Menschen nicht
an der Kunst, sondern am Leben zu interessieren. Ganz im Sinne Beuys’: »Jeder Mensch ist ein Künstler«. – Jeder Mensch hat das Potenzial, selber zu
schaffen, selber zu treiben und nicht nur getrieben zu werden. Wer selber
treibt, selber schafft, stellt fest: Die wirklich spannenden Themen sind begrenzt. Die unterschiedlichen Perspektiven sind so zahlreich, wie es Menschen gibt. Diese Erfahrung lässt sich auf andere Gebiete übertragen.
Mit diesem Ansatz betrieb SPACEWALK zweieinhalb Jahre (bis Ende 2002) das
Stadtteilmanagement in Wolfsburg-Westhagen.
SPACEWALK
SPACEWALK ist ein international tätiges Netzwerk von Künstlern, Pädagogen
und Wissenschaftlern aus verschiedensten Kulturkreisen.
SPACEWALK entwirft seit 1993 Projekte im gesellschaftlichen Raum.
SPACEWALK hat es sich zur Aufgabe gemacht, bei Menschen unterschiedlichster Herkunft kreative und kommunikative Potentiale zu entwickeln und zu
fördern. Ziel ist es, die Menschen ihre Kreativität und Kommunikationsfähigkeit als Rüstzeug und Möglichkeit entdecken zu lassen, um sich selbst und ihr
gesellschaftliches Umfeld zu verbessern und zu verändern.
SPACEWALK arbeitet dabei mit Mitteln und Methoden aus Theater, Tanz, Musik, Video und bildender Kunst, begibt sich in soziale Spannungsfelder und an
soziale Knoten- und Brennpunkte und arbeitet dort mit den Menschen vor Ort
an der Förderung und Verbesserung von Kommunikation und Kreativität.
SPACEWALK hat über die Jahre eine flexible Arbeitsmethode entwickelt und
verfeinert, die es erlaubt, an verschiedensten sozialen Feldern anzuknüpfen
und diese miteinander zu verbinden.
SPACEWALK ist es mit seinen bisherigen Projekten gelungen, große Synergieeffekte herzustellen. Die Projekte hatten große Ausstrahlungskraft bis hinein
in die internationale Politik.
Für SPACEWALK ist jeder Denkvorgang – und daraus resultierend jede Handlung – ästhetisch. Das heißt, er beruht auf einer individuellen Wahrnehmung
115
Vergessen Sie Integration!
Peter Grünheid / Markus Kissling
(und nichts anderes bedeutet Ästhetik) von Welt. Sowohl in der Kunst als
auch in den fortgeschrittenen Naturwissenschaften ist die Heterogenität und
Vielfalt der Standpunkte und der Wahrnehmungen zur Arbeitsgrundlage geworden. Von dort her entwickelt sich modellhaft eine Denk- und Lebenshaltung, die einer sich diversifizierenden Gesellschaft angemessen und auf alle
gesellschaftlichen und kulturellen Bereiche anwendbar ist. Diese Haltung
erlaubt, ein Netz zwischen den unterschiedlichsten Bereichen der Gesellschaft zu knüpfen.
Wolfsburg-Westhagen
Westhagen wurde Ende der
sechziger Jahre nach dem
städtebaulichen Leitbild »Urbanität durch Dichte« geplant
und ursprünglich für 12.000
Bewohner erbaut. Heute leben 9.600 Menschen hier, in
manchem zehnstöckigen Gebäude nur noch vier oder fünf
Haushalte. 17 Prozent der
Einwohner kommen aus 56
Nationen. Der geschätzte Bevölkerungsanteil von russlanddeutschen Spätaussiedlerinnen und -aussiedlern beträgt ca. 40 Prozent. Arbeitslosigkeit und
der Anteil an Sozialhilfeempfängerinnen und -empfängern liegen deutlich
über dem Durchschnitt der Gesamtstadt. Anonymität und Alkoholismus sind
nur zwei Auswirkungen einer Ballung von Schwierigkeiten im Verlauf der letzten dreißig Jahre.
Westhagen ist damit vergleichbar mit vielen Stadtteilen aus den siebziger
Jahren, so genannten Trabantenstädten. Ganz gezielt an diese Stadtteile richtet sich das Bund-Länder-Programm »Stadtteile mit besonderem Entwicklungsbedarf – die soziale Stadt«.
Im Sinne des Förderprogramms »Soziale Stadt« kann eine nachhaltige Veränderung nur durch eine integrierte Vorgehensweise erfolgen, in der soziale,
116
Peter Grünheid / Markus Kissling
Vergessen Sie Integration!
wirtschaftliche und städtebauliche Maßnahmen miteinander verbunden werden. Dabei ist es von entscheidender Bedeutung, dass die Bürgerinnen und
Bürger an diesem Prozess tatsächlich und nicht nur pro forma beteiligt werden. Somit ist der Aufbau eines funktionierenden Bürgernetzwerks die Basis
des gesamten Prozesses. Seit dem Jahr 2000 ist Westhagen in das Förderprogramm »Soziale Stadt« aufgenommen.
Das Netzwerk SPACEWALK betreibt seit 1. Mai 2000 das Stadtteilmanagement. Kern des Gesamtprojektes ist es, allen Beteiligten einen Weg ins Zentrum zu ermöglichen und so an dessen Gestaltung mitzuwirken. Dies geschieht auf der Basis eines integrierten Handlungskonzepts.
Das Konzept: Wege ins Zentrum
»Wege ins Zentrum – Das Westhagen-Projekt« ist die Konzeption, mit der sich
SPACEWALK in Wolfsburg vorgestellt hat. Dabei ist der Begriff »Zentrum«
ganz real und auch im übertragenen Sinne zu verstehen. Das Projekt zeichnet
sich dadurch aus, dass es auf allen Ebenen Möglichkeiten zur Beteiligung
anbietet: von niederschwelligen Angeboten vor Ort für die einzelnen Bürgerinnen und Bürger bis hin zu hochprofilierten baulichen, wirtschaftlichen,
sozialen und künstlerischen Einzelprojekten und Maßnahmen. Alle Einzelaktivitäten werden in das Gesamtprojekt eingebunden. Dadurch werden Prozesse
von eigentlich längerer Dauer beschleunigt, vernetzt und verstärkt.
Die Methode: ein gemeinsames kulturelles Projekt als Quelle und Motor
Der besondere und in verschiedenen Zusammenhängen erfolgreich umgesetzte Arbeitsansatz von SPACEWALK besteht darin, die Vielzahl der Probleme
nicht frontal anzugehen, sondern zusammen mit den Beteiligten ein gemeinsames Drittes – ein kulturelles Projekt – zu entwerfen.
Auf dem Weg zu diesem selbstbestimmten Ziel werden soziale Umgangs- und
Kommunikationsformen entwickelt, gefördert und eingeübt. Durch diese projektorientierte Form des Stadtteilmanagements ist die soziale Erneuerung von
Westhagen gleichsam das Nebenprodukt eines lustvollen und spannenden
Prozesses, an dem sich Jede und Jeder beteiligen kann.
117
Vergessen Sie Integration!
Peter Grünheid / Markus Kissling
Weihnachten in Westhagen
Was ist Glück?
Was hat Glück mit Sanierung zu tun?
Was hat Glück mit Integration zu tun?
Ein Stadtteil macht sich auf die Suche.
Ein kalter und dunkler Winter – noch kälter und dunkler zwischen den Häuserschluchten der Hochhaussiedlung – doch da, mitten im »Herzen der Finsternis«: Lichtspiele über der Skyline von Wolfsburg-Westhagen.
Die hohen und lang gezogenen Gebäudekomplexe, die Wahrzeichen von
Westhagen, werden abends zur weithin sichtbaren Leinwand für ein einzigartiges Schauspiel: Eine Fülle von Bildern und Ideen erfüllt sie allabendlich mit
immer neuen Farben und Formen.
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Peter Grünheid / Markus Kissling
Vergessen Sie Integration!
Also einmal mehr eine Illumination
und Stadtinszenierung? Ja auch,
aber im Kern etwas ganz anderes.
Diese Inszenierung ist nur der
leuchtendste Teil eines viel umfassenderen Projekts.
Diese Projektionen sind nicht etwa
die Werke von Profis – nein, diese
Vielzahl von Vorstellungen, Bildern und Texten stammt ausnahmslos von Bewohnerinnen und
Bewohnern dieses Stadtteils. All
diesen Bildern und Gedanken liegt
eine Frage zugrunde: Was ist
Glück für Sie? Die Antworten darauf entwerfen allabendlich eine
weithin strahlende Einladung, den
Stadtteil in neuem Licht zu sehen.
»Ausgehen von dem, was da ist«, heißt ein Grundsatz von SPACEWALK
»Zu groß, zu hoch, zu breit, zu klotzig, zu grau!«: die beiden von Weitem
sichtbaren Wohnkomplexe, Wahrzeichen von Westhagen, vielen gelten sie als
die Schandflecken, als das eigentliche Problem dieses Stadtteils. Dort scheinen sich die baulichen und sozialen Probleme zu bündeln.
Die beiden massiven Häuserfronten sind gleichsam die Projektionsfläche für
alle negativen Assoziationen und Vorurteile in und um Westhagen. Genau das
macht sich das Projekt zunutze: Es nutzt diese Gebäude ganz real als Leinwand für die neuen, künstlerischen Projektionen der Bewohner des Stadtteils.
»Weihnachten in Westhagen« benutzt, was da ist, Positives wie Negatives
(die Vorstellungskraft von 10.000 Menschen aus verschiedenen Nationen auf
der einen, Dunkelheit, Unübersichtlichkeit, Mangel an öffentlichem Leben auf
der anderen Seite) und macht etwas Drittes daraus. Es wirft ein in jeder Hinsicht neues Licht auf die Situation.
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Vergessen Sie Integration!
Peter Grünheid / Markus Kissling
Gemeinsames Ziel
»Weihnachten in Westhagen« gibt dem Gesamtprozess eine Struktur, indem
es ein gemeinsames räumliches Zentrum (Marktplatz) und zeitliches Ziel
(Weihnachten) definiert.
Übertragung auf die Gesamtsituation
Das kulturelle Projekt »Weihnachten in Westhagen« enthält modellhaft und
überschaubar die Kernkomponenten der acht Handlungsfelder des integrierten Handlungskonzepts von Gestaltung über Belebung des Zentrums, über
die Integration der verschiedenen Einwohnergruppen und Gewerbeförderung
bis hin zur Imagepflege und Öffentlichkeitsarbeit.
Das gemeinsame kulturelle Projekt ist der Vermittler zwischen den acht Handlungsfeldern und den Akteuren im Stadtteil (Einwohner, Stadt, Gewerbe, Einrichtungen und Wohnbaugesellschaften). Mit »Weihnachten in Westhagen«
wurde ein gemeinsamer neutraler Raum geschaffen, der jedem Akteur vom
Asylbewerber bis zur Wohnbaugesellschaft die Möglichkeit gab, sich zu beteiligen, sich selbst auszudrücken und seine eigenen Vorstellungen und seine
eigene Kompetenz und Fähigkeit einzubringen und darzustellen.
Ablauf: Westhagen sucht das Glück
Drei Monate lang gingen die Mitarbeiter von SPACEWALK als »Glücksforscher« von Tür zu Tür. Nach einem Zufallsprinzip wurden Straßennamen und
Hauseingänge bestimmt, in denen die Bewohner befragt werden sollten. Und
dann standen sie plötzlich vor der Tür und fragten: »Was ist Glück für Sie?«
und »Чto eto СЧΑCTьE?«. Unterstützt durch Piktogramme und Fragebögen,
gelang es ihnen auch mit Westhagenerinnen und Westhagenern ins Gespräch
zu kommen, für die es in Deutsch nicht so einfach war. Das sollte es jedem
ermöglichen an dem Projekt teilzunehmen. Und Westhagen suchte. »Die
Glücksforscher sind da!«, hallte es durch die Treppenhäuser ... »Ja, was ist
eigentlich Glück ...?«, »Ist Glück Zufriedenheit oder mehr?«... »Ohne Gesundheit ist alles nichts.« Aus ersten, schnellen Antworten entstanden oft lange
Gespräche über das Wesen des Glücks – über 2000-mal innerhalb von drei
Monaten.
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Peter Grünheid / Markus Kissling
Vergessen Sie Integration!
Die Westhagener waren Glücksexperten und fotografierten ihre Bilder vom
Glück mit dem Fotoapparat, den die Glücksforscher mitgebracht hatten. Mit
ihren Bildern – insgesamt weit über 1.000 – brachten sie Westhagen zum
leuchten. Sie wurden vom 1. bis zum 24. Dezember im Rahmen einer Lichtinstallation auf die Hochhäuser am Marktplatz von Westhagen projiziert. Es
entstanden Themen- oder Gruppenabende, die z.B. von Schulklassen, Vereinen, religiösen Gemeinschaften oder einer Gruppe Spätaussiedler gestaltet
wurden. Schulen hatten sich in Projekttagen mit dem Thema »Glück« beschäftigt, es gab einen Glückssong, der aus den Aussagen zum Glück komponiert
worden war. Zu den Aktionen trafen sich in der Vorweihnachtszeit jeden Abend ein paar Dutzend bis einige Hundert Menschen auf dem Marktplatz. In
einem Zirkuszelt feierten sie anschließend ihr ganz persönliches Weihnachtsfest. Insgesamt haben über 10.000 Menschen die Projektionen besucht. Die
Atmosphären aus Licht, Bildern, Worten und Musik erfüllten für einen Monat
lang das Zentrum von Westhagen und machten es zu einem hellen und warmen Ort, an dem sich jeder wiederfinden konnte.
Alles schön und gut, es hat sich einiges verändert, aber was ist, wenn SPACEWALK mit seinen ungewöhnlichen Methoden, dem Licht und dem ganzen
Zauber weg ist? Wie steht es dann um die Nachhaltigkeit des Ganzen?
Es gibt überzeugende Anzeichen, dass die Westhagener ihre Sache selbst in
die Hand nehmen. Einstehen und selbstbewusstes Kämpfen für den eigenen
Stadtteil zeigen sich inzwischen in verschiedenen Zusammenhängen. Die
wachsende Bereitschaft und Kompetenz mitzugestalten sind entscheidende
Grundsteine für die Weiterentwicklung von Westhagen.
Peter Grünheid, Soziologe, Geschäftsführer und Gründungsmitglied von
SPACEWALK
Markus Kissling, Schauspieler, Regisseur und Unternehmer, Gründungsmitglied von SPACEWALK
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