Handbuch der Antropologie
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Handbuch der Antropologie
25789-8_Pleger_Umbruch_Korr4:Pleger 27.03.2013 12:19 Uhr Seite 3 Wolfgang Pleger Handbuch der Anthropologie Die wichtigsten Konzepte von Homer bis Sartre 25789-8_Pleger_Umbruch_Korr4:Pleger 27.03.2013 12:19 Uhr Seite 4 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme. © 2013 by WBG (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der WBG ermöglicht. Lektorat: Konstantin Alogas Umschlagabbildung: Henry Moore – King and Queen, © ullstein bild – AISA Umschlaggestaltung: Peter Lohse, Heppenheim Layout und Satz: Peter Lohse, Heppenheim Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Printed in Germany Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de ISBN 978-3-534-25789-8 Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich: eBook (PDF): 978-3-534-73579-2 eBook (epub): 978-3-534-73580-8 25789-8_Pleger_Umbruch_Korr4:Pleger 27.03.2013 12:19 Uhr Für Barbara Seite 5 25789-8_Pleger_Umbruch_Korr4:Pleger 27.03.2013 12:19 Uhr Seite 7 Inhalt Einleitung 11 Antike und biblische Mythologie I. Die Sterblichen – Griechische Mythologie 17 1. Die Sterblichen und die Unsterblichen (Homer) 18 2. Goldenes Zeitalter und Büchse der Pandora (Hesiod) 23 3. Tragische Anthropologie (Sophokles) 28 II. Der Mensch, ein Geschöpf Gottes – Das kreationistische Konzept 35 1. Die Erschaffung der Welt und des Menschen (Genesis 1–3) 36 2. Erbsünde und Gnadenwahl (Augustinus) 42 3. Natur und Gnade (Thomas von Aquin) 48 Dualismus und Monismus III. Dualistische Konzepte 55 1. Psyche und Soma (Platon) 56 2. Körper und Geist (Descartes) 61 3. Der Mensch als Bürger zweier Welten (Kant) 68 Inhalt 7 25789-8_Pleger_Umbruch_Korr4:Pleger 27.03.2013 12:19 Uhr Seite 8 IV. Monismus – Die Einheit der Natur 75 1. Der Mensch im Kosmos (Marc Aurel) 76 2. ‚Deus sive natura‘ – das pantheistische Konzept (Spinoza) 83 3. Autopoiese – Die Selbsterzeugung lebender Systeme (Maturana) 88 Kultur und Geschichte V. Der Mensch als Mängelwesen – Das Kompensationsmodell 95 1. Eros, Prometheus und Hermes – Mythen von menschlichen Mängeln (Platon) 96 2. Der erste Freigelassene der Schöpfung (Herder) 102 3. Kultur als Kompensation natürlicher Mängel (Gehlen) 108 VI. Geschichte und Geschichtlichkeit des Menschen 1. Das Ziel der Weltgeschichte (Kant) 116 2. Geschichtliches Verstehen (Dilthey) 123 3. Das Seinsgeschick und der Mensch (Heidegger) 129 Stufen- und Entwicklungsmodelle VII. Das Stufenmodell 136 1. Pflanze – Tier – Mensch (Aristoteles) 137 2. Die Stufenleiter des Seins: Vom Drang zum Geist (Scheler) 145 3. Der Stufenbau des Lebens (Plessner) 151 VIII. Genetische Modelle 161 1. Die Evolution des Menschen (Darwin) 162 2. Ichentwicklung und Ichstärkung (Freud) 170 3. Die Bildung der menschlichen Gestalt (Portmann) 179 8 Inhalt 115 25789-8_Pleger_Umbruch_Korr4:Pleger 27.03.2013 12:19 Uhr Seite 9 Individuum und Person IX. Der Mensch als Individuum 187 1. Das Individuum als Monade (Leibniz) 188 2. Die Bildung der Individualität (W. v. Humboldt) 195 3. Das Individuum als ‚Wille zur Macht’ (Nietzsche) 203 X. Zum Begriff der Person 212 1. Der Mensch als Person (Cicero) 213 2. Die Identität der Person (Locke) 221 3. Die Person als Zweck an sich selbst (Kant) 229 Determinierte Materie und Freiheit des Subjekts XI. Materialistische Anthropologie 239 1. Der Maschinenmensch (La Mettrie) 240 2. Materialistische Dialektik (Engels) 247 3. Historischer Materialismus (Marx) 254 XII. Das absolute Ich – Das Konzept der Subjektivität 261 1. Ich und Nicht-Ich (Fichte) 262 2. Das natürliche und das transzendentale Ich (Husserl) 271 3. Die Freiheit des Subjekts (Sartre) 279 Epilog: Die Situation der Person 1. 2. 3. 4. 288 Die Entwicklung der Person 289 Die Erkenntnis der realen Situation 293 Handlungen der Person 298 Die Verantwortung der Person 302 Literaturverzeichnis Register 307 315 Inhalt 9 25789-8_Pleger_Umbruch_Korr4:Pleger 27.03.2013 12:19 Uhr Seite 11 Einleitung Nichts Armseligeres nährt die Erde als den Menschen unter allem, was auf der Erde Atem hat und kriecht (...) (Homer) Daß der Mensch in seiner Vorstellung das Ich haben kann, erhebt ihn unendlich über alle andere auf Erden lebende Wesen. Dadurch ist er eine Person (...) (I. Kant) Die Welt ist für den Menschen das unhintergehbare, materiale Apriori seines Lebens. Das bedeutet: Die Existenz des Menschen hat die der Welt zur Voraussetzung, nicht aber umgekehrt. Mit der Geburt entwickelt der Mensch ein eigenes Verhältnis zur Welt. Treffend wird daher die Geburt als der Vorgang bezeichnet, durch den der Mensch ‚zur Welt‘ kommt. Äußerliches Zeichen für das eigene Weltverhältnis ist die selbständige Atmung, durch die die Abhängigkeit des Säuglings von dem Blutkreislauf der Mutter aufgehoben wird. Der Säugling wird zu einem eigenständigen Lebewesen. Mit der „Vollendung der Geburt“ kommt ihm daher nach unserer Rechtsauffassung ein besonderer Status zu: die Rechtsfähigkeit (§ 1 BGB). Das Verhältnis des Menschen zur Welt hat einen jeweils individuellen Charakter. Er macht seine Situation aus. Mit der Situation ist das spezifische In-der-Welt-Sein eines Menschen gemeint. Diese lässt sich durch objektive Kriterien bestimmen. Das gilt bereits für den Säugling. Bestimmte Merkmale seiner Situation werden in der Regel auch sofort festgestellt: so das Geschlecht, der Ort und die Zeit seiner Geburt, Körpergröße, Gewicht und Gesundheitszustand. Sie markieren seine Situation zu Beginn seines Lebens und bleiben daher unveränderliche Daten seiner Biographie, selbst wenn sich einige von ihnen im Laufe der Zeit ändern. Die Entwicklung des Menschen ist dadurch bestimmt, dass er mit der Geburt in ein Verhältnis zu der Situation tritt, in der er sich befindet. Von Bedeutung ist, dass sich beide Seiten des Verhältnisses im Laufe der Zeit verändern, der Mensch und die Situation. Jede neue Situation stellt daher für den Menschen auch eine neue Herausforderung dar. Sprechend und handelnd antwortet er auf diese Herausforderung. Indem er dies tut, bestimmt er zugleich sich selbst. Herausforderung und Antwort bestimmen den Dialog des Menschen mit der Welt. Unternimmt der Mensch den Versuch, die problematische Situation des Menschen in einem allgemeinen Sinne zu bestimmen, so gewinnt der Zusammenhang dieser Aussagen die Form einer Anthropologie. Einleitung 11 25789-8_Pleger_Umbruch_Korr4:Pleger 27.03.2013 12:19 Uhr Seite 12 Anthropologie ist die Lehre vom Menschen. Diese Lehre entstammt entweder den Wissenschaften oder der Philosophie oder der Theologie. Wir sprechen daher z.B. von einer wissenschaftlichen, einer philosophischen oder von religiöser bzw. theologischer Anthropologie. Das Wort Anthropologie hat eine analoge Struktur z. B. zum Wort Geologie. In beiden Fällen gibt es ein Thema und eine Lehre, die sich auf das Thema bezieht. Allerdings verdeckt diese Analogie einen gravierenden Unterschied zwischen beiden Begriffen. Im Fall des Begriffs Geologie gehören derjenige, der die Lehre entwickelt und vertritt, und das Thema, dem sich die Lehre widmet, zwei verschiedenen Bereichen an. Das ist bei der Anthropologie anders. Das Objekt dieser Lehre und das Subjekt, das diese Lehre aufstellt, sind identisch: Es ist der Mensch, der in der Anthropologie Aussagen über sich selbst macht. Anthropologie hat daher, unabhängig davon, ob dieser Sachverhalt selbst noch einmal thematisiert wird, einen reflexiven Charakter. Man darf annehmen, dass der Mensch, nachdem er angefangen hat zu denken und zu sprechen, auch über sich selbst nachdenkt und spricht. Das gilt in phylogenetischer Hinsicht ebenso wie in ontogenetischer. Für die Denk- und Sprachentwicklung des Kindes lassen sich hierzu überprüfbare Aussagen machen. Versteht man Anthropologie nicht nur als eine Lehre neben anderen möglichen, sondern als eine spezifische, nämlich als Selbstthematisierung des Menschen, dann kann man sagen, dass Anthropologie zum Wesen des Menschen gehört. Der Mensch ist in dem erläuterten Sinne das ‚anthropo-logische‘ Lebewesen. Da Selbstthematisierung Reflexion bedeutet, kann man ebenso sagen: Der Mensch ist das reflexive Lebewesen. Der Mensch entwickelt ein Selbstverhältnis, das ihn in allen seinen Handlungen und Aussagen begleitet. Bleibt dieses Selbstverhältnis unthematisch, sprechen wir von einer impliziten Anthropologie, wird es thematisch, von einer expliziten. Aus diesem Grunde enthält auch die Geologie eine implizite Anthropologie. Indem der Mensch über die Erde spricht, thematisiert er einen Gegenstand. Gleichzeitig aber bestimmt er damit sein Verhältnis zu diesem Gegenstand und damit implizit sich selbst. In Sätzen artikuliert der Mensch einen Sachverhalt mit Hilfe von Worten. Der im Satz artikulierte Sachverhalt wird zu einem bestimmten. Jede Bestimmung bedeutet zugleich Ab- und Eingrenzung. Den Akt der sprachlichen Begrenzung einer Sache bezeichnen wir als Definition. Die Definition muss nicht im schulmäßigen Sinne mithilfe der Angabe des Oberbegriffs und der artspezifischen Merkmale erfolgen. Werden z. B. die Menschen als die Sterblichen bezeichnet, so grenzt sich der Mensch durch diese Selbstbestimmung von den Unsterblichen ab. Diese Definition sagt nicht alles über ihn aus, verleugnet auch nicht, dass alle Lebewesen sterblich sind, betont aber deutlich, dass das Verhältnis des Menschen zu den Unsterblichen ihn wesentlicher charakterisiert als alles andere. Nicht anders verhält es sich, wenn sich der Mensch als Mängelwesen definiert. Hier erfolgt die Abgrenzung gegenüber dem Tier. Die Definition enthält die These, dass der Mensch im Verhältnis zum Tier gravierende Mängel aufweist. Innerhalb der europäischen Geschichte hat sich der Mensch in unterschiedlicher Weise selbst definiert. Die zwölf wichtigsten Positionen sollen in diesem Handbuch dargestellt werden. Die Darstellung hat, diesem Ansatz folgend, einen historisch-systematischen Charakter. Vollständigkeit ist damit jedoch nicht intendiert. Die Humanwissenschaften haben ohnehin ihren fachspezifischen Zugang zu anthropologischen 12 Einleitung 25789-8_Pleger_Umbruch_Korr4:Pleger 27.03.2013 12:19 Uhr Seite 13 Fragestellungen. So ließen sich die erörterten Modelle fast beliebig ergänzen durch eine medizinische, eine psychologische, eine pädagogische, eine soziologische Anthropologie usw. Außerdem könnte im Bereich der Philosophie der Ansatz ergänzt werden durch eine dialektische, eine hermeneutische, eine phänomenologische und eine strukturale Anthropologie usw. Die Begründung für die hier getroffene Auswahl besteht darin, dass sie sich weder an Disziplinen orientiert, noch an dem methodischen Zugang, wissenschaftlicher oder philosophischer Art, sondern an den inhaltlich bestimmten Definitionen des Menschen. Die im Folgenden dargestellten anthropologischen Modelle lassen sich zu sechs Paaren mit jeweils zwei Definitionen ordnen. Das erste Paar bilden die antike und die biblische Mythologie. Der Mythos ist eine Göttergeschichte. Der Mensch definiert sich als Geschöpf Gottes. Das gilt, bei allen Unterschieden, sowohl für den antiken griechischen Mythos wie auch für den biblischen Schöpfungsmythos. Der antike Mythos und der biblische Paradiesmythos haben als weitere Gemeinsamkeit, dass die Situation des Menschen als leidvoll dargestellt wird. Im antiken Mythos ist es das Schicksal, das dem Menschen von den Göttern zugeteilt wird. Er hat darauf eine Antwort zu finden. Im Paradiesmythos ist der Mensch nach seiner Vertreibung auf ein schmerzvolles und hartes Arbeitsleben verwiesen. Beiden Mythen ist jedoch der Gedanke gemeinsam, dass der Mensch, entweder durch Hybris, d.h. Überheblichkeit, oder aber durch eine Verfehlung, d. h. durch einen Ungehorsam, sich seine elende Situation selbst zuzuschreiben hat. Allerdings enthält die Bibel einen zweiten Mythos, in welchem dem Menschen das Leid erspart bleibt: Es ist der Mythos von der Ebenbildlichkeit Gottes. Die Bibel thematisiert daher, streng genommen, zwei unterschiedliche Modelle des Menschen. Ein weiteres Paar bilden dualistische und monistische Konzepte. Der Dualismus verbindet sich mit dem Gedanken, dass die Welt in zwei grundsätzlich unterschiedliche Seinsbereiche gegliedert ist. Für die griechische Antike sind es die Bereiche von ‚psyche‘ und ‚soma‘, für Descartes ‚res extensa‘ und ‚res cogitans‘ und für Kant ‚mundus sensibilis‘ und ‚mundus intelligibilis‘. Entscheidend ist, dass der Mensch stets beiden Bereichen angehört. Daraus ergibt sich das Problem ihrer Vermittlung. Dieses Problem wird im Monismus dadurch überwunden, dass er nur von einem Seinsbereich ausgeht. In den hier thematisierten monistischen Konzepten ist dies die Einheit der Natur. Der Mensch ist ein Teil der Natur. Sein Verhältnis zu ihr lässt sich bestimmen nach dem Verhältnis des Teils zum Ganzen. Das dritte Paar lässt sich durch die Stichworte Kultur und Geschichte charakterisieren. Unter das erste Stichwort fallen alle Versuche, den Menschen im Vergleich zum Tier als ein Mängelwesen zu bestimmen. Es zeichnet ihn aus, dass er durch Handwerke, Künste, Wissenschaften, Vernunft und Freiheit sowie schließlich Kultur seine Mängel zu kompensieren sucht. Mag es auch bei diesen Versuchen im Laufe der Zeit Fortschritte geben, so steht doch jeder Mensch jeden Tag neu vor der Aufgabe, seine konstitutiven, d. h. anthropologisch bedingten, Mängel zu beheben. Anders verhält es sich, wenn der Mensch als ein geschichtliches Wesen definiert wird. Nach diesem Konzept steht der Mensch in einem größeren Zusammenhang. Seine Situation ist dadurch bestimmt, dass er Teil eines Geschehens ist, das vor ihm begann und sich nach ihm fortsetzt. Die anthropologischen Konzepte, die sich hieran orientieren, interpretieren den Gesamtzusammenhang der Geschichte jedoch sehr unterschiedlich. Einleitung 13 25789-8_Pleger_Umbruch_Korr4:Pleger 27.03.2013 12:19 Uhr Seite 14 Das vierte Paar thematisiert Stufen- und Entwicklungsmodelle. Das Stufenmodell wird gelegentlich auch als Schichtenmodell bezeichnet. Es hat einen statischen Charakter und eine hierarchische Gliederung. Mit ihm werden vier Seinsstufen bezeichnet. Es handelt sich um das anorganische Sein, die Pflanze, das Tier und den Menschen. Im Unterschied zu ihm verbindet das genetische Modell die Stufen durch den Gedanken der Entwicklung. Das bedeutet, dass die jeweils höheren Seinsbereiche auch spätere Stufen der Entwicklung repräsentieren. Dieses Modell hat seinen Siegeszug mit der Evolutionstheorie Darwins angetreten. Während diese die phylogenetischen Aspekte betrachtet, konzentriert sich die Entwicklungspsychologie auf die ontogenetischen. Das fünfte Paar wird bestimmt durch die anthropologischen Konzepte des Individuums und der Person. Sofern mit dem Begriff Individuum das Unteilbare gemeint ist, das Atom, hat es seinen Ursprung in der griechischen Antike, wird aber nicht für einen einzelnen Menschen gebraucht. Ist mit ihm der Einzelne im Unterschied zu dem Allgemeinen gemeint, hat es seinen Ursprung bei Aristoteles. Eine besondere anthropologische Bedeutung bekam es jedoch erst dadurch, dass mit ihm das Einzigartige bezeichnet wurde, und das erfolgte durch Leibniz. Allerdings ist dieser Begriff nicht auf den anthropologischen Bereich beschränkt. Streng genommen ist jedes einzelne Ding durch Einzigartigkeit ausgezeichnet. Das ist bei dem Begriff der Person anders. Er kommt im alltäglichen Sprachgebrauch nur einzelnen Menschen zu; im Bereich des Rechts dient er auch zur Bezeichnung von Institutionen, z. B. „Körperschaften“, und im Bereich der Theologie hat er eine zentrale Bedeutung für das Verständnis der Trinität. Der lateinische Begriff ‚persona‘ ist die Übersetzung des griechischen Wortes ‚prosopon‘, das die Maske eines Schauspielers bezeichnet. Der Begriff Person hat eine mehrfache Bedeutung: Rolle, Rechtssubjekt, Personalpronomen und Selbstbewusstsein. Das sechste Paar zentriert sich um den Begriff der Freiheit. Es thematisiert die Determiniertheit der Materie und die Freiheit des Subjekts. Ansätze zu einer materialistischen Anthropologie finden sich bereits in der griechischen Antike, aber in der Neuzeit erhalten sie mit der Wiederbelebung der Atomtheorie und der Entwicklung des mechanischen Denkens eine neue Aktualität. Setzen auch der mechanische, der dialektische und der historische Materialismus unterschiedliche Akzente, so verbindet sie doch eine Überzeugung: Sie besteht in der Determiniertheit allen Geschehens. Den Gegensatz bildet die Philosophie der Subjektivität, die sich in der Neuzeit herausbildete. Sie ist unlösbar mit dem Begriff Freiheit verbunden. Merkmale, die in der mittelalterlichen Theologie Gott als dem absoluten Subjekt zugesprochen worden waren, nimmt nun das menschliche Subjekt für sich in Anspruch. Das autonome Ich, das sich aus allen weltlichen Bezügen herauslöst, ist nicht nur frei, sondern absolut. Die verwendeten anthropologischen Grundbegriffe haben einen unterschiedlichen Charakter. Die Bezeichnung des Menschen als Geschöpf Gottes hat den Charakter einer Definition, das Stufenkonzept den Charakter eines Modells. In einigen Fällen ist der Charakter nicht eindeutig. So lässt sich der Begriff der Person ebenso sehr als Definition, wie von seinem Ursprung her als eine anthropologische Metapher verstehen, die selbst Modellcharakter hat. Der Begriff des Modells lässt sich wie folgt an einem Beispiel erläutern: Das Modell eines Hauses, das ein Architekt anfertigt, hat einen eigentümlichen Zwischenstatus. Es ist angesiedelt zwischen dem gedanklichen Entwurf des Hauses und dem später ausgeführten Bauwerk. Es verbindet in sich anschauliche und 14 Einleitung 25789-8_Pleger_Umbruch_Korr4:Pleger 27.03.2013 12:19 Uhr Seite 15 gedankliche Momente. An diesem Beispiel orientiert sich der hier gebrauchte Begriff des Modells. Übergreifend wird aber der Begriff Konzept verwendet. Die hier vorgestellten Konzepte fügen sich keiner bestimmten Geschichtsauffassung und keiner Epocheneinteilung. Sie stützen das Modell einer Verfallsgeschichte ebenso wenig wie das einer Geschichte des Fortschritts. Auch bilden sie keine geschichtliche Reihe. Keines von ihnen kann daher als geschichtlich überholt angesehen werden. Einige Beispiele mögen das belegen. Die Definition der Menschen als ‚die Sterblichen‘ hat, trotz des Übergangs ‚Vom Mythos zum Logos‘ ihre zentrale Bedeutung nie verloren. Das Verständnis des Menschen als eines Geschöpfs Gottes wird seit seinem Ursprung im Alten Testament, ungeachtet der Evolutionstheorie, in der Theologie vertreten. Dasselbe gilt für den Begriff des Mängelwesens. Die Betonung der natürlichen Mängel des Menschen im Vergleich zum Tier wird im griechischen Prometheusmythos deutlich ausgesprochen und mit der Herausstellung derselben Kennzeichen, z. B. der Nacktheit, von Gehlen im 20. Jh. wiederholt. Das Stufenmodell, das von Aristoteles entwickelt wurde, wird, trotz der an ihm vorgenommenen Differenzierungen, in seiner Grundstruktur ebenfalls noch im 20. Jh. vertreten, und das obwohl in der Zwischenzeit die Evolutionstheorie eine maßgebliche Bedeutung bekommen hat. Einige Definitionen haben zwar eine Vorgeschichte, entwickeln sich jedoch erst in einer bestimmten Epoche zu einem anthropologischen Grundbegriff. Das gilt für den Begriff des Subjekts ebenso wie für den des Individuums. Schließlich der Begriff der Person. Er hat seine Vorgeschichte im griechischen Theater, avanciert aber im römischen Sprachgebrauch zu einem zentralen anthropologischen Begriff. Für alle Konzepte gilt: Nachdem sie ihre zentrale anthropologische Bedeutung entwickelt haben, sind sie aus dem Spektrum anthropologischer Definitionen nicht mehr wegzudenken. Wenn die erörterten Konzepte nicht als geschichtlich überholt anzusehen sind, wird die Frage ihrer Verbindlichkeit unabweisbar. Zwei mögliche Antworten sind jedoch wenig überzeugend. Nach der einen kann nur eine einzige Definition Anspruch auf Verbindlichkeit erheben und nach der anderen ist die Entscheidung für eine bestimmte beliebig. Demgegenüber soll die These vertreten werden, dass jedes Konzept mit guten Gründen einen eigenen Wahrheitsanspruch behauptet. Das gilt auch für die mythologischen Modelle. Die Sterblichkeit des Menschen zu seinem entscheidenden Kriterium zu machen ist keineswegs überholt. Der Kampf gegen die Sterblichkeit und das Bemühen um die Verlängerung des Lebens haben mit der Entwicklung der Medizin und allgemeinen Gesundheitsprogrammen in der Gegenwart eher noch zugenommen. Ebenso enthält der biblische Mythos auch für den nichtreligiösen Menschen eine Wahrheit. Sie besteht, negativ formuliert, darin, dass der Mensch sich nicht selbst gemacht hat, d. h., dass er im strengen Wortsinn kein ‚self-made-man‘ ist; mag man auch an die Stelle des Schöpfergottes die Natur setzen oder im Sinne von Spinoza die Formel ‚deus sive natura‘ bevorzugen. Das dualistische Konzept bewahrt seine Aktualität z. B. in der psycho-somatischen Medizin, das monistische darin, dass alle realen Unterschiede als innere Differenzierungen in der Einheit der Natur verstanden werden können. Ähnliche Argumente für den jeweiligen Wahrheitsanspruch ließen sich auch für die anderen Modelle geltend machen. Das bedeutet, dass in jedem Konzept wichtige Einsichten über den Menschen enthalten sind, die eine Anthropologie in einem umfassenden Sinne zu berücksichtigen hätte. Für sie böte der Begriff der Person einen erfolgversprechenden Einleitung 15 25789-8_Pleger_Umbruch_Korr4:Pleger 27.03.2013 12:19 Uhr Seite 16 Ansatz, da für ihn Selbstbewusstsein und Selbstbestimmung konstitutive Merkmale sind. Nur eine Person kann sich selbst z. B. als Geschöpf Gottes, als Mängelwesen oder als Individuum definieren. Insofern kommt dem Konzept der Person eine besondere Bedeutung zu. Für die Darstellung der genannten anthropologischen Konzepte wird auf das Prinzip des Exemplarischen zurückgegriffen. Da es nicht möglich ist, die Konzepte auch nur annähernd erschöpfend auszuführen, musste eine Auswahl getroffen werden. Es werden jeweils drei Autoren herangezogen, die geeignet sind, das jeweilige Modell in besonders prägnanter Weise zu repräsentieren. Die Methode der Darstellung ist weitgehend bestimmt durch einen hermeneutischen Ansatz. Ziel ist es, die anthropologischen Aussagen des jeweiligen Autors im Kontext seines eigenen Denkens möglichst unverkürzt darzustellen. Ein besonderer Akzent liegt darauf, die spezifische Intention des Autors zur Geltung zu bringen. In diesem Zusammenhang kommt der Berücksichtigung seiner jeweils eigentümlichen Denk- und Sprechweise eine besondere Bedeutung zu. Das geschieht dadurch, dass Zitate ihren angemessenen Platz finden. Im Mittelpunkt stehen der Autor und die von ihm vertretene Position. So beginnt die Darstellung eines Autors stets mit einer Textpassage von ihm, auf die bei seiner Interpretation durch die Anmerkung ‚vgl. Text’ hingewiesen wird. Im Epilog wird der Versuch unternommen, das Verhältnis von Situation und Selbstbestimmung am Beispiel des Begriffs Person genauer zu erläutern. Über die zitierten Quellen und die verwendete Forschungsliteratur gibt das Literaturverzeichnis Auskunft. 16 Einleitung 25789-8_Pleger_Umbruch_Korr4:Pleger 27.03.2013 12:19 Uhr Seite 17 Antike und biblische Mythologie I. Die Sterblichen – Griechische Mythologie Mythen sind Göttergeschichten. Die Götter Griechenlands sind idealisierte Menschen, bestimmt durch Schönheit, Leichtigkeit und überlegene Kraft. Sie repräsentieren all das, was einzelne Menschen in glücklichen Momenten sein können. Andererseits aber sind sie – wie Menschen auch – eifersüchtig, rachsüchtig und launisch. In einer Hinsicht aber überragen sie den Menschen in einem prinzipiellen Sinne: sie sind unsterblich. Es ist der Kontrast von Sterblichkeit und Unsterblichkeit, der die Folie bildet für die erste entscheidende Definition des Menschen in Europa: Die Menschen, das sind die Sterblichen. Die Sterblichkeit bedrängt den Menschen in einem solch radikalen Sinne, dass er sich auf sie hin definiert. Die Sterblichkeit stellt die erste entscheidende Kränkung dar, mit der sich der Mensch auseinandersetzen muss. Sie ist bedeutsamer als alle anderen Kränkungen, mit denen er sich im Laufe der Geschichte konfrontiert sieht; bedeutsamer als die Einsicht, dass die Erde nicht den Mittelpunkt des Weltalls darstellt, bedeutsamer als die Evolutionstheorie, die dem Menschen seine tierische Abstammung vor Augen führt, und bedeutsamer schließlich als die große Macht des Unbewussten und die relative Ohnmacht des Ichs, auf die Freud hinwies. Der griechische Mythos zeigt, in welcher Weise die Sterblichkeit das leitende Motiv für das frühe anthropologische Denken wird. Er zeigt auch, ob sich der Mensch von diesem ‚Makel‘ zu befreien sucht oder ihn als unüberwindbare Tatsache akzeptiert. Lang ist die Geschichte der Versuche, den Tod als endgültiges Ende des Lebens zu leugnen. Zu ihr gehören philosophische Versuche ebenso wie religiöse und theologische. Sie bilden ein zentrales Thema der Geschichte des europäischen Denkens. Platons Argumente für die Unsterblichkeit der Seele bilden einen ersten Höhepunkt. Bemerkenswert ist auch der Gedanke Epikurs, in einem logisch zwingenden Schluss darzulegen, dass der Tod den Menschen nichts angeht; denn solange wir sind, ist der Tod nicht da, und wenn der Tod da ist, sind wir nicht da. So bestechend die Überlegung ist, sie hat die Menschen nicht wirklich überzeugt, denn sie spricht zwar über den Tod, nicht aber über die Sterblichkeit. Nun ist die Sterblichkeit kein spezifisches Charakteristikum des Menschen, sondern es betrifft alle Lebewesen, und deshalb scheint es auch für eine Definition des Men- I. Die Sterblichen – Griechische Mythologie 17 25789-8_Pleger_Umbruch_Korr4:Pleger 27.03.2013 12:19 Uhr Seite 18 schen untauglich zu sein. Der Grund, weshalb der Begriff ‚Die Sterblichen‘ gleichwohl geeignet ist, den Menschen in einem spezifischen Sinne zu kennzeichnen, liegt in einer unausgesprochenen Implikation. Sie besteht in einem im Begriff zum Ausdruck kommenden Wissen: Die sterblichen Wesen, die sich selbst so bezeichnen, wissen um ihre Sterblichkeit, und von diesem Wissen können sie nicht absehen, solange sie leben. Aus diesem Wissen beziehen die ‚Unsterblichkeitsbeweise‘ ihre eigentliche Dringlichkeit. Und solange es sie gab, schien der Begriff ‚Die Sterblichen‘ nicht das entscheidende, letzte Wort über den Menschen auszusagen. Erst nachdem Kant philosophischen Beweisen der Unsterblichkeit der Seele ein weitgehend akzeptiertes Ende setzte, indem er Aussagen über sie in einen Bereich jenseits der Vernunft verwies, nämlich in den des Glaubens und der Hoffnung, waren die Voraussetzungen erfüllt, die Kennzeichnung ‚Die Sterblichen‘ zu rehabilitieren. Und so ist es vielleicht kein Zufall, dass der späte Heidegger in Anknüpfung an die griechische Mythologie die Menschen wieder so benennt: Die Sterblichen. 1. Die Sterblichen und die Unsterblichen (Homer) „Wie der Blätter Geschlecht, so ist auch das der Männer. / Die Blätter – da schüttet diese der Wind zu Boden, und andere treibt / Der knospende Wald hervor, und es kommt die Zeit des Frühlings. / So auch der Männer Geschlecht: dies sproßt hervor, das andere schwindet“ (Il. 6, 146–149). „Nichts Armseligeres nährt die Erde als den Menschen unter allem, was auf der Erde Atem hat und kriecht. Da meint er, niemals werde ihm hernach ein Übel widerfahren, solange die Götter Gedeihen geben und sich seine Knie regen. Jedoch wenn die seligen Götter auch Bitteres vollenden, so trägt er auch dieses wieder nur murrend mit bedrücktem Mute“ (Od. 18, 130ff.). „(...) dieses ist die Weise der Sterblichen, wenn einer gestorben ist. Denn nicht mehr halten dann die Sehnen das Fleisch zusammen und die Knochen, sondern diese bezwingt die starke Kraft des brennenden Feuers, sobald einmal der Lebensmut die weißen Knochen verlassen hat, die Seele aber fliegt umher, davongeflogen wie ein Traum“ (Od. 11, 196–224). Homer lebte im 8. Jh. v. Chr. im ionischen Kleinasien. Über seinen genauen Geburtsort gibt es nur Vermutungen. Unter seinem Namen werden die beiden Versepen Ilias und Odyssee tradiert. Die Ilias, die die zehnjährige Belagerung und Eroberung Trojas behandelt, ist das älteste erhaltene Großepos der europäischen Literatur. Die später entstandene Odyssee berichtet von der zehnjährigen Irrfahrt und der Heimkehr des Odysseus, die durch göttliches Einwirken immer wieder verzögert wird. Die Frage nach dem Autor wird inzwischen durch die Annahme beantwortet, dass zum einen der schriftlichen Fassung der Epen eine möglicherweise jahrhundertelange mündliche Tradition vorausging und dass nur die Ilias, in der uns bekannten Form, Homer zuzuschreiben ist. Gleichwohl enthalten beide Epen eine in den Grundzügen übereinstimmende Anthropologie, 18 I. Die Sterblichen – Griechische Mythologie