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Sprachtests in NRW
Wer das Sprechen verbietet, kann Sprache nicht fördern
Delfin 4 – nicht zu verwechseln mit DELPHIN4, einem Simulationsprogramm zur Berechnung
des Wärme- und Feuchtigkeitstransports in porösen Baustoffen – ist ein Sprachtest. Der
Name ist nicht etwa eine poussierliche Reminiszenz an Flipper, sondern meint „Diagnostik,
Elternarbeit und Förderung der Sprachkompetenz 4-Jähriger in NRW“.
Im März 2007 sollten mit diesem Instrument alle Kinder, die im Alter von vier Jahren eine
Kindertagesstätte besuchen, getestet werden. Man will herausfinden, wie es um ihre
Sprachkompetenz steht, denn, so Prof. Dr. Lilian Fried, die Delfin 4 zusammen mit einem
Team an der Universität Dortmund entwickelt hat, „Sprache ist der Schlüssel für Bildung“.
Dem ist nicht zu widersprechen, auch nicht der Tatsache, dass ein anhaltend hoher und
Besorgnis erregender Prozentsatz von Kindern in die Schule kommt, ohne hinreichend
Deutsch zu können. Damit man die Schwachen beizeiten herausfischen kann, bemüht man
sich allenthalben, Testverfahren zu entwickeln – nicht nur in NRW, dort aber besonders
ehrgeizig. Man will die Tests nicht erst ein Jahr vor der Schule ansetzen, sondern schon drei
Jahre früher und flächendeckend. Damit begegnet man den Einwänden kritischer Pädagogen,
die eine Sprachförderung als Ein-Jahres-Trainingsprogramm nicht für geeignet halten,
Sprachkompetenz zu entwickeln. Je früher der Test, desto früher kann man mit speziellen
Förderkursen beginnen.
Der Delfin Test hat zwei Stufen. In der ersten Stufe werden alle Kinder der entsprechenden
Altergruppe getestet, in der zweiten setzt dann eine genauere Untersuchung derer an, die in
Stufe 1 durchgefallen waren.
Der Test besteht aus drei Teilen. Im ersten Teil wird ein Brettspiel „Besuch im Zoo“ gespielt.
Das heißt, gespielt wird eigentlich nicht, den Kindern wird nur durch einen an ein Brettspiel
erinnernden Versuchsaufbau suggeriert, man wolle zusammen ein Spiel spielen. Vier Kinder
sitzen an vier Seiten eines Tisches, an zwei sich gegenüberliegenden Ecken nehmen eine
„Begleiterin“ und eine „Protokollantin“ Platz. Die eine ist eine Grundschullehrerin, die andere
eine Erzieherin. In der Mitte liegt ein bunter Spielplan mit einem Tiergehege und Wegen, die
durch den Zoo führen. Wie bei „Mensch ärgere Dich nicht“ hat jedes Kind einen verschieden
farbigen Spielstein, mit dem es sich durch den Zoo bewegt und dabei auf Felder kommt, auf
denen es Fragen beantworten und Aufgaben lösen muss. Die Fragen und Anweisungen stehen
auf Karten mit Tierbildern (Delfin, Giraffe, Tiger, Elefanten), die verdeckt in der Mitte liegen.
Damit die „Begleiterin“ nichts verkehrt machen kann, steht auf der Karte genau beschrieben,
wie vorzugehen ist. So gibt es z. B. den Aufgabenbereich „Sätze nachsprechen“. Die
„Begleiterin“ hat zu sagen: „Ich sage dir jetzt etwas vor und Du sprichst es mir genauso
nach“. Dabei sei es, wie es in der Anweisung heißt, „wichtig, dass die Aufgabenanleitungen
wörtlich, deutlich und ruhig von der Karte abgelesen werden“. Dann wird der
nachzusprechende Satz vorgelesen: „Die Decke wird von Tim ordentlich gefaltet“ oder „Anna
schießt einen Ball kräftig auf das Tor“. Jetzt soll ein Kind, und zwar ausschließlich das Kind,
das an der Reihe ist, den Satz nachsprechen. Ansonsten ist Schweigen. Allenfalls darf die
„Begleiterin“ die Aufgabe mit „neutralen Verstärkern“ („hmm“ oder „ja“) bestätigen. Wenn
die Aufgabe erledigt ist, wird jedes Kind unabhängig vom Ergebnis gelobt – z. B. „Das hast
Du gut gemacht“. Wenn ein Kind unsicher ist und nachfragt, ist die angeordnete Reaktion der
Satz „Mach einfach weiter so!“. Für das richtige Nachsprechen gibt es Punkte, macht das
Kind Fehler, gibt es Punktabzug. Die Verteilung der Punkte ist nach Schwierigkeitsgrad der
Sätze unterschiedlich, die Methode des Fehlerabzugs klar geregelt. Wenn z. B. das Wort
„einen“ ausgesprochen wird wie“ ein’n“ gibt es statt acht und nur sieben Punkte. Mit neun
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Punkten wird belohnt, wer den Satz „Wenn der Wind regnet, pustet er kleine blaue
Schneeflocken“, so sinnlos und falsch wie er ist, exakt nachspricht.
Neben diesen Nachsprechübungen gibt es weitere Aufgaben, wie das Erledigen von
Handlungsanweisungen wie „Stelle deine Figur neben den Jungen, welcher auf einem Dreirad
fährt“. Oder für das Nachsprechen von Kunstwörtern wie Sumapp (mit Betonung auf dem u)
oder Golasimu (hier muss das i betont werden). Auch eine freie „Bilderzählung“ - gemeint ist
nicht das Zählen von Bildern, sondern Äußerungen (Erzählungen) des Kindes beim
Betrachten eines Bildes – wird in Punkteskalen erfasst.
Die ganze Prozedur dauert mit vier Kindern 20 bis 25 Minuten. Dann hat man für jedes Kind
einen Punktwert, der Auskunft darüber gibt, ob es eine ausreichende Sprachkompetenz hat
oder Förderung braucht.
Die Erläuterungen zum Test sind sprachwissenschaftlich fundiert, die Standardisierung
verspricht Objektivität. Die Autoren bezeichnen ihn mit Fug und Recht als ein „ökonomisches
Gruppenverfahren“. So ökonomisch, dass man es auch mit Großgruppen durchführen kann. In
Kleve hat man dafür gleich eine Turnhalle angemietet.
Wenn man sich die umfangreichen Materialien anschaut, die Anweisungen und
Begründungen liest, fragt man sich: Wissen die Autorinnen und Autoren eigentlich, was sie
damit anrichten? Sind sich die Lehrerinnen und Erzieherinnen der Tragweite dessen bewusst,
was sie tun? Um es gleich zu sagen: Delfin 4 ist ein dramatischer und unverantwortlicher
Rückfall in eine direktive, autoritäre, das Kind zu Testobjekten degradierende Pädagogik aus
den tiefen 60er Jahren.
Schon der Testaufbau macht deutlich: Hier geht es nicht um die Kinder, sondern um den
stringenten Vollzug einer Prüfung.
Die Kinder werden nicht spielerisch herausgefordert, ihre Sprachfähigkeit zu zeigen, sondern
in ein enges Korsett eines Versuchsaufbaus hineingezwängt. Das Tragische ist, dass man den
Kindern noch nicht einmal sagt, dass sie geprüft werden sollen. Man tut so, als wolle man mit
ihnen zusammen ein Spiel spielen, verbietet ihnen aber alles, was zum Spielen gehört: Sich
austauschen, Späße machen und Spaß haben.
Ihnen zur Seite sitzen Erwachsene, die sich merkwürdig künstlich verhalten. Sie lesen Sätze
vor in einer deutschen Hochsprache, die man sonst so von ihnen nicht hört. Was sollen die
Kinder davon halten? Sich kaputt lachen über soviel Gekünstel oder Angst bekommen, weil
alles so fremd ist?
Die Sprache des Versuchsaufbaus ist die Sprache bürgerlicher Verklemmtheit. Bloß nichts
falsch machen, jede Silbe zählt. Unwillkürlich kommt einem der Film „In Sachen Kaminski“
in den Sinn, in dem einer Familie aus bildungsfernem Milieu ihr Kind weggenommen wird,
weil die Sozialarbeiter der Auffassung sind, dass es in einer Pflegefamilie bessere
Bildungschancen hat. Die Eltern kämpfen um ihr Kind und bekommen es nach jahrelangen
Prozessen durch ein Urteil des Europäischen Menschengerichtshofs schließlich zurück. Auch
hier geht es, wie bei Delfin 4, um ein im Wortsinn furchtbar enges Verständnis von Bildung
und Lebenschancen, das sich festmacht an Items, Kriterien und Merkmalen einer bürgerlichen
Welt von Korrektheit, Disziplin und Genauigkeit. Delfin 4 erlaubt keine Abweichung, keine
Kreativität, keine Neugier. Delfin 4 macht den Kindern vor, man wolle spielen und verbietet
ihnen genau das.
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Die Aufgabe, Kunstwörter und Kunstsätze nachzusprechen, macht das Problem in besonderer
Weise deutlich. Kinder haben große Freude daran, ihre Gedanken schweifen zu lassen, sich
immer weiter und weiter tragen zu lassen in eine Welt der Phantasie. In ihrer eigenen Welt der
Phantome und Geister, der zusammengewürfelten tatsächlichen Welt, dem von Erwachsenen
oder aus dem Fernsehen Aufgeschnappten leben sie ihre Träume und Ängste aus, messen sich
mit anderen Kindern. Sie bedienen sich dabei oft einer Kunstsprache mit eigenen Ausdrücken,
merkwürdig abstrakten Assoziationen, großartig phantasievollen Konstruktionen. Sie spielen
mit der Sprache, formen sich Silben und Wörter zu ihren eigenen Werkzeugen der
Kommunikation. Und dann kommt mitten in einem merkwürdig streng gehaltenen Zoospiel
wie aus heiterem Himmel ein Satz wie: „Der grüne Stuhl hüpft fröhlich über die kalte Sonne.“
Den soll man dann Nachsprechen, weil eine erwachsene Person, die man noch nie so
eigenartig hat sprechen hören, es von einem verlangt.
Sprache löst immer Bilder aus. Ein Junge, der gerade entdeckt hat, dass er ein guter
Fußballspieler ist und seine ersten Idole aus der Bundesliga anhimmelt, wird den Satz von
Anna und ihrem Torschuss vor seinem persönlichen Empfinden deuten. „Kann Anna das
überhaupt oder schießt sie daneben?“ „Was war das neulich toll, als ich dem Papa einen Ball
ins Tor gehauen habe!“ Das würde er vielleicht gerne loswerden und die anderen Kinder in
ein Gespräch verwickeln. Aber das darf er nicht. Er darf genau das nicht, wofür
Sprachkompetenz gebraucht wird, sich selbst ganz persönlich mitteilen. In Delfin 4 wird aber
nicht gesprochen, sondern nur nachgesagt.
Für wie dumm halten die Delfin 4-Erfinderinnen die Kinder eigentlich? Meint man wirklich,
dass sie nicht merken, was für ein Spiel hier gespielt wird? Dass es weder um den Zoo geht
noch um eine Unterhaltung, sondern um Gehorsam, um Unterwürfigkeit?
Man kann nur hoffen, dass die Delfin 4-Autorinnen und Autoren nach den ersten Erfahrungen
den Test einer gründlichen Revision unterziehen und sich auf die guten Traditionen einer
ganzheitlichen, dem Kind verpflichteten Pädagogik besinnen. Mit dem Versuch, das
Schulinstrumentarium der Klassifizierung von Kompetenzen auf frühe Bildungsprozesse
anzuwenden, kann man nur scheitern.
Bernhard Eibeck
Referent für Jugendhilfe beim GEW-Hauptvorstand
April 2007
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Ergänzender Text
Prinzipien der GEW zur Sprachförderung in Kindertagesstätten
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sieht Sprache als Medium von Kommunikation und Teil der Identitätsbildung und
Persönlichkeitsentwicklung,
fördert kommunikative Kompetenzen,
greift die kindliche Neugier und Lernfreude und ihre Lust am Erforschen der Umwelt
auf,
nimmt Bildungsgelegenheiten im Alltag wahr und nutzt sie für sprachliche Förderung,
bezieht alle Kinder ein, nicht nur Kinder mit Migrationshintergrund,
ist ein Konzept von Anfang an, nicht erst beim Übergang in die Schule,
ist eine sozialpädagogische Querschnittsaufgabe für alle Erzieherinnen,
setzt an den sprachlichen und kommunikativen Kompetenzen der Kinder an,
bezieht Eltern als Mit-Lernende ein,
fördert sprachliche Sensibilität und Reflexivität in allen Teilen und bei allen Akteuren
der Einrichtung,
verzichtet auf standarisierte Methoden zugunsten individueller Förderung,
fördert die Talente der Mehrsprachigkeit,
braucht Erzieherinnen, die sich durch Fortbildungen auf dieses Aufgabe vorbereiten
konnten,
gelingt in kleinen Gruppen, in denen jedes Kind zu Wort kommt
macht sich verschiedene Medien und Materialien, wie Bücher, Filme, PC zu Nutzen.
Mehr über das Thema „Sprache fördern“ kann man nachlesen in einer Broschüre der GEW
mit dem gleichen Titel, zu bestellen bei juh@gew.de oder per Fax: 069/78973-103 zum Preis
von 2 Euro inkl. Versandkosten.
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