schwere Stelle schwer? macht eine
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schwere Stelle schwer? macht eine
Werkstatt Gerhard Mantel Was macht eine schwere Stelle schwer? Gerhard Mantel ist Professor für Cello an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst in Frankfurt am Main. in großer Teil der Übezeit an einem Instrument ist der Arbeit an schweren Stellen gewidmet. Was aber ist eigentlich an einer schweren Stelle schwer? Bei einer schweren Stelle überlagern viele Parameter einander gleichzeitig. Manche von ihnen sind bewusst wahrnehmbar, andere nicht. Das folgende Arbeitsbeispiel erscheint auf den ersten Blick nicht besonders kompliziert, doch sind es ge- E Üben & Musizieren 6/06 Übestrategien zur Bewältigung technischer Probleme 65 Üben & Musizieren 6/06 Werkstatt 66 rade die „latenten“ Komplexitäten, die eine Stelle schwer machen können. Ich möchte versuchen, verschiedene Übestrategien darzustellen, die solche Komplexitäten aufdecken können, um damit eine „schwere Stelle“ systematisch zu meistern. Die Leserinnen und Leser werden gebeten, den vorgeschlagenen Fingersatz aus Gründen der Demonstration zu akzeptieren; es gäbe jedoch selbstverständlich auch noch andere Möglichkeiten. Der Ausschnitt stammt aus der ArpeggioneSonate a-Moll von Franz Schubert in der Cello-Version (NB 1). Nicht-Cellisten können die aus den jeweiligen Aufgabenstellungen sich ergebenden methodischen Schlussfolgerungen auf ihr Instrument übertragen, auch dort, wo sie die instrumentalen Beschreibungen nicht genau verfolgen können. Der Schwerpunkt meiner Darstellung liegt auf der beschreibbaren Komplexität einer Passage für die linke Hand. Es würde den Rahmen sprengen, Grundfunktionen wie Handstellung, Ausdrucksbewegungen, Fragen der Dynamik und der Klangqualität etc. miteinzubeziehen. Erwähnt sei aber als Ausblick doch, dass beim Spielen eines Instruments die körperliche, die emotionale und die mentale Ebene immer miteinander vernetzt sind. Angesichts der sehr unterschiedlichen Voraussetzungen, die jeder Spieler und jede Spielerin mitbringt, ist es denkbar, dass beim einen eine einzige der beschriebenen Übevarianten bereits das Problem dieser Stelle löst, während bei einer anderen erst mehrere verschiedene Anläufe aus unterschiedlichen Richtungen zum Erfolg führen. Die hier aufgezeigten methodischen Optionen eignen sich übrigens besonders gut für das mentale Üben. Viele Übende überfordern bei der Arbeit ihre Aufmerksamkeit, und zwar sowohl wegen der vorliegenden Häufung der Parameter als auch wegen der reinen Menge der zu verarbeitenden Elemente (= Töne). Wir müssen also unser Material so aufteilen, dass die einzelnen Portionen überschaubar bleiben, dass man „nicht mehr in den Mund schiebt, als man auch kauen kann“. Zur besseren Verständigung wurden die Viertel im Notenbeispiel 1 nummeriert; die je vier Sechzehntel erhalten ebenfalls die Nummern 1-4, sodass z. B. 5,2 für das zweite Sechzehntel des Viertels Nr. 5, Daumen auf g', steht. (Die Takte 3 und 4 sind identisch mit 1 und 2 und deshalb nicht nummeriert.) Die meisten Spieler werden zunächst einmal versuchen, die Stelle viele Male durchzuspielen, um sie überhaupt kennen zu lernen. Dies ist sicher am Anfang sinnvoll, verliert aber bald seinen Nutzen: Das Üben „nach dem Prinzip Hoffnung“ kann ab einem bestimmten Punkt die rein technische Qualität einer Stelle nicht mehr verbessern. Es stellt sich sogar heraus, dass bei einer massierten Wiederholung das Resultat wieder schlechter werden kann. In einer Umfrage, die Christina Schonk als Magisterarbeit an der Musikhochschule Frankfurt unter Studierenden durchführte, gaben 80 Prozent der befragten Instrumentalisten an, dass dies ihre am meisten oder sogar ausschließlich angewendete Strategie beim Üben ist („mal sehen, ob es nicht doch von selbst geht“) – eigentlich ein bedauerliches Resultat angesichts so vieler lernpsychologischer Studien, individueller Bemühungen und instrumental-pädagogischer Veröffentlichungen! Es sei eingeräumt, dass auf diese Weise eine Stelle bis zu einem gewissen Grad rein motorisch erlernbar ist. Die unzähligen Wiederholungen führen aber dazu, dass schließlich beim leisesten Versuch einer Modifikation, sei sie technisch oder musikalisch motiviert, die ganze Stelle zusammenbricht. Schwierigkeitsparameter Versuchen wir einmal, ein paar Parameter aufzuzählen, die eine Stelle schwer machen können. 1. Analogiefallen: Musikalisch ähnliche Stellen verleiten dazu, motorische Ähnlichkeiten zu erzeugen – auch da, wo sie wegen der Eigenart des Instruments nicht realisierbar sind. So entstehen motorische Versuchungen in Form von „Beinahe-Innervationen“, die den glatten Bewegungsablauf stören. Dies ist bei allen sequenzartigen Gebilden der Fall, auch auf ganz engem zeitlichen Raum – und Musik besteht zu einem großen Teil aus Sequenzen! 2. Ungewöhnliche Finger-Kombinationen können auftreten, ohne dass sie als sol- che erkannt werden. Bei Streichern gibt es für vier Spielfinger nur sechs grundsätzliche Anordnungsvarianten, von denen allerdings einige stark dominieren (auf- und absteigende Tonleitern, 1-2-34, 4-3-2-1), andere viel seltener vorkommen (1-3-2-4, 4-2-3-1, 1-2-4-3, 1-3-4-2). Beim Cello kommen noch die entsprechenden sechs Folgen (ø-1-2-3 etc.) hinzu. Alle anderen Viererfolgen (ohne Fingerwiederholung) sind Ableitungen (als Verschiebungen) hiervon. Bei einer schweren Stelle kann es z. B. sein, dass eine Spielerin die Folge ø-1-3-2 nicht als automatisch ablaufendes Schema beherrscht. So entstehen „unerklärliche“ Blockaden. 3. Wenn ein Finger innerhalb einer schnell ablaufenden Stelle einmal auf einem rhythmischen Schwerpunkt vorkommt (z. B. dem ersten von vier Sechzehnteln), dann wieder auf einem „Leichtpunkt“ (z. B. dem „schwachen“ zweiten oder vierten Sechzehntel), können ebenfalls Fingerblockaden entstehen. 4. Wechselnde Fingerabstände (eng – gestreckt), also wechselnde Fingerplätze bei analogen rhythmischen Plätzen können ebenfalls den Fluss stören, wenn sie nie bewusst gemacht wurden. Der erste Takt im Notenbeispiel 2 ist zunächst „einfacher“ zu denken und zu spielen als der zweite. 5. Wenn bei einem Fingerwechsel ein fühlbarer Impuls des Spielfingers fehlt, kann dies den Ablauf erheblich stören. Dies ist der Fall, wenn bei Abwärtsintervallen der betreffende Finger schon (richtig) liegt: Dann wird der rhythmische Impuls für diesen Ton im Allgemeinen nicht von dem Finger erzeugt, der ihn spielt, sondern (durch Aufheben) von dem davor gespielten, also immer einem anderen als dem Spielfinger. Bei allen Streichern trifft dies vor allem für die leere Saite, zum Teil auch für den ersten Finger, beim Cello und Kontrabass außerdem noch für den Daumen zu. Durch den fehlenden Impuls kann die Empfindung einer Tonkette zerrissen werden, z. B. 2ø-1-3. Dem Daumen-Ton entspricht dann meist kein Impuls in der Hand, er liegt ja schon da. (Man kann einen Impuls natürlich „künstlich“ erzeugen, durch kleine Druckerhöhung oder einen Zug des Daumens nach links, also nach außen). Werkstatt Schleppnetzstrategie NB 1 NB 2 NB 3 NB 4 zu verwenden: Man spielt die letzten Töne einer Passage und fügt dann für die folgenden Übedurchgänge jeweils einen davorliegenden Ton hinzu. 4. Einen beachtlichen mentalen Aufwand erfordert es zunächst, bei schnellen Stellen den Taktstrich um einen Ton (auch zwei oder drei Töne) zu verschieben (NB 4): Man gewinnt dabei einen vollkommen neuen Blickwinkel auf eine Stelle, ohne dass sich in Rhythmus oder Tonfolge irgendetwas ändert. 5. Eine ähnliche Wirkung (bei etwas geringerer mentaler Anstrengung) hat die Methode der unterschiedlichen rhythmischen Empfindung von Auftakten: Ich kann ein, zwei oder drei Sechzehntel deutlich als Auftakt empfinden und erzeuge so jeweils eine ganz neue Übevariante. Es gibt jedoch auch die umgekehrte Möglichkeit, den Kern der jeweiligen Schwierigkeit direkt, sozusagen „maßge- schneidert“ anzugehen, ohne den Text dabei zu verändern. Dies erfordert die Fähigkeit, die Frage nach dem Grund des Problems zu stellen und zu beantworten, also eine gewisse Diagnosefähigkeit für jeweils ganz unterschiedliche Gründe von Schwierigkeiten zu entwickeln. Regeln innerhalb der Struktur suchen Der Ansatz zu dieser Strategie heißt: Ich versuche, innerhalb einer Stelle Sachverhalte zu beschreiben, Regeln ihres Aufbaus zu finden, die es mir erlauben, mit der Methode der „Rotierenden Aufmerksamkeit“ mich jeweils auf nur einen einzigen Aspekt der Stelle zu konzentrieren. Für das Schubert-Beispiel seien hier einige solcher beschreibbarer Sachverhalte aufgeführt. Üben & Musizieren 6/06 Wir haben zwei grundsätzlich verschiedene Strategien zur Verfügung, schwere Stellen zu üben. Die erste möchte ich „Schleppnetzstrategie“ nennen. Ich verändere dabei mein Material so, dass es dann, wie ich hoffe, „von selbst“ technisch verbessert wird, ohne dass die Aufmerksamkeit darüber hinaus auf ein bestimmtes Detail gerichtet wird. Hier einige Beispiele für die Schleppnetzstrategie, die jeweils unterschiedliche Grade von Konzentration erfordern. 1. rhythmische Varianten: eine StandardÜbemethode mit recht ungewissem Erfolg. Denn es gibt durchaus schwere Stellen in der Literatur, die durch simple Punktierungsvarianten nicht nur schwerer, sondern auch schlechter, oft sogar endgültig verkrampft werden. Rhythmische Varianten sind hingegen da sinnvoll, wo eine Reihe schneller Töne mit einer kleinen Ruhepause abwechselt wie z. B. in Notenbeispiel 3. 2. Metronom: Die klassische Methode, eine schnelle Passage zunächst sehr langsam, dann mit dem Metronom in kleinen Stufen allmählich immer schneller zu üben, hat im Allgemeinen ebenfalls einen gewissen Übeerfolg. Anzumerken ist dabei, dass eine schnelle Tonfolge etwas prinzipiell, nicht nur graduell anderes ist als eine (beschleunigte) Folge von zunächst langsam gespielten Tönen, bei der ja vor jedem Ton eine Entscheidung gefällt werden kann. Langsames Üben hat natürlich zunächst seinen Wert als „Sammelmethode“ für die reine Textinformation. Es ist jedoch oft besser, bei Schwierigkeiten die Portion zu verkleinern als das Tempo zu drosseln. Denn manches Problem kann bei langsamem Spiel nicht gelöst werden, weil es gar nicht auftritt. Hier geht es ja um die Qualität der Tongruppe, nicht um die des Einzeltons. 3. Carl Flesch empfielt eine Methode, bei der von einer schwierigen Passage eine begrenzte Reihe von Tönen gespielt wird, bis diese Reihe „perfekt“ sitzt. Dann wird der nächste Ton angefügt, bis die verlängerte Folge ebenfalls perfekt sitzt, dann der nächste und so immer weiter. Als Variante hierzu empfiehlt er, diese Methode auch umgekehrt, von hinten nach vorn 67 Foto: Inken Kuntze-Osterwind Werkstatt Positionen des ersten Fingers bilden einen E-Dur-Quartsextakkord h-e'-gis' (9,4/10,4/11,4), nur der letzte Lagenwechsel (c'', 12,3) ist die Ausnahme. 13. Der letzte Lagenwechsel (12,3) kommt innerhalb des Viertels einen Ton früher als die vorherigen. Üben & Musizieren 6/06 Üben als kreative Tätigkeit 68 1. Der dritte Finger kommt überhaupt nur ein einziges Mal vor (Ton 4,4). 2. Der vierte Finger kommt nur zweimal am Anfang vor (Töne 1,3 und 2,2), dann nie wieder. Man kann ihn dann sozusagen „ablegen“. Beinahe-Innervationen sind so nicht mehr zu befürchten. 3. Die mit dem Daumen gespielten Töne bilden ein bestimmtes rhythmisches Muster (im ersten Takt 3,1/3,4/4,2). Da der Daumen schon daliegt, hat er zunächst keine Impuls-Empfindung. Solche „Empfindungslücken“ lassen sich durch Auftaktempfindung und Akzentuierung ins Bewusstsein rücken. In unserem Beispiel entsteht durch die jeweilige Betonung des Daumen-Tons eine „jazzige“ Akzentuierung teils auf betonten, teils auf unbetonten Tönen. („Jazzig“, weil der beat hier nicht verlassen werden sollte.) 4. Der Abstand der Finger 1-2 ist am Anfang (auf der A-Saite) ein Halbton (Töne 1,1-2/2,3-4/3,2-3). Ab 4,1 ist der Abstand 1-2 hingegen immer ein Ganzton (4,1; 5,1; 8,1). 5. Damit ist der Abstand ø-2 als Terz ebenfalls definiert: Am Anfang (3,3-4) kleine Terz, ab Ton 4,1 nur noch große Terzen für ø-2. 6. Der Abstand ø-1 ist in der ganzen Stelle immer ein Ganzton. 7. Die Position des vierten Fingers g' am Anfang (1,3; 2,2) kann für die spätere Verwendung des Daumens (5,2) auf dem gleichen „Bund“ mental schon einmal gespeichert werden. 8. Die für den vorgeschlagenen Fingersatz nötigen Saitenwechsel können wegen ihrer musikalischen „Inkongruenz“ (Saitenwechsel zuerst auf betontem Ton 4,1 und dann auf unbetontem Ton 4,4) ebenfalls eine Störung verursachen. Sie sollten bewusst gemacht werden, wobei auch hier die Auftaktempfindung der Töne 4,3 und 4,4 das Bewusstsein schärft. 9. Der ganze zweite Takt zwischen den Tönen 5,2 und 7,4 wird nur vom Daumen und dem ersten Finger gespielt; erst bei 8,1 kommt der zweite Finger wieder vor. Er kann unterstützt werden durch die Vorstellung eines Auftakts des Viertels 8. 10. Auf die Lagenwechsel ab Ton 9,4 folgen jeweils Halbtöne mit dem Fingersatz 1-2. Nur auf den letzten Lagenwechsel folgt ein Ganzton (12,3). 11. Die Serie der Lagenwechsel bildet folgendes Intervallmuster: – 1. Lagenwechsel große Terz (10,4), – 2. Lagenwechsel kleine Terz bzw. übermäßige Sekund (11,4), – 3. Lagenwechsel Halbton (12,3). 12. Als Variante hierzu: Die ersten drei Wir spielen den gewählten Ausschnitt in einem leicht unter dem Originaltempo liegenden Übetempo (also nicht sehr langsam!) mit einer begrenzten Anzahl an Wiederholungen (fünf bis sieben) unter Beachtung jeweils nur eines einzigen dieser beschriebenen Sachverhalte: Es gelangen dabei immer nur maximal vier, meist aber nur drei, zwei oder gar nur ein einziges Element (Ton) ins Zentrum unserer Aufmerksamkeit – die auf diese Weise nie überfordert wird. Beim Wechsel zu einem neuen Aspekt entstehen zwangsläufig Fehler als Verspieler oder Aufmerksamkeitslücken. Diese Fehler können geradezu als Quittung für richtiges Übeverhalten angesehen werden. Sie pflegen spätestens nach der dritten oder vierten Übe-Wiederholung zu verschwinden. Die einzelnen Übedurchgänge dürfen wir dann getrost vergessen – sie bilden ohne unser weiteres bewusstes Zutun neue Querverbindungen in unserem Gehirn. Die Passage fühlt sich hinterher (wir dürfen dem Lernprozess auch ein paar Tage Zeit lassen) einfach besser an! Das vorliegende Beispiel kann natürlich nur einen ganz kleinen Teil möglicher Übemethoden beschreiben. Es zeigt jedoch, dass Üben eine ausgesprochen kreative Tätigkeit sein kann, wenn es nicht als gedankenlose Wiederholung, sondern als Erforschung und Entdeckung struktureller Zusammenhänge betrieben wird. Über die musikalische Interpretation einer Stelle ist damit zunächst noch nichts ausgesagt; es erweist sich aber in vielen Fällen, dass eine solche technische Strukturierung wichtige Hinweise auch auf die musikalische Darstellung einer Passage ergeben kann.