vier fische - Wissenschaft Online

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vier fische - Wissenschaft Online
Pa u l G ree nberg
VIER FISCHE
Wie das Meer
auf unseren Teller kommt
Aus dem Englischen
von Anne Uhlmann
Berlin Verlag
Die Originalausgabe erschien 2010 unter dem Titel
Four Fish. The Future of the Last Wild Food
bei The Penguin Press, New York
© 2010 Paul Greenberg
Für die deutsche Ausgabe
© 2011 BV Berlin Verlag GmbH, Berlin
Alle Rechte vorbehalten
Umschlaggestaltung: Nina Rothfos & Patrick Gabler, Hamburg
Typographie: Birgit Thiel, Berlin
Gesetzt aus der Minion von Greiner & Reichel, Köln
Druck und Bindung: CPI – Clausen & Bosse, Leck
Printed in Germany
ISBN 978-3-8270-1012-4
www.berlinverlage.de
Für Esther, die die Tiefen kennt
Inhalt
Einleitung 11
Lachs
Die Wahl eines Königs 27
Barsch
Ein Sonntagsfisch geht zur Arbeit 93
Kabeljau
Die Rückkehr des Bürgers 139
Thunfisch
Ein letzter Bissen 203
Fazit 259
Epilog 273
Dank 279
Anmerkungen 281
Register 305
Fisch ist das letzte Essbare, an das Wissenschaftler bislang nicht Hand
anlegen konnten, um daran herumzufeilen. Die Flunder, die Sie heute
essen, hat nicht ein verdammtes Vitamin mehr in sich als die Flunder,
die Ihr Ururgroßvater gegessen hat, und sie schmeckt genauso. Alles
andere ist dermaßen veredelt, veredelt und noch mal veredelt worden,
dass es zum Essen nicht mehr taugt.
– ein Fischhändler vom Fulton Fish Market,
zitiert in Old Mr Flood von Joseph Mitchell (1944)
Einleitung
Im Jahr 1978 starben alle Fische, die mir etwas bedeuteten. Es waren
die größten Forellenbarsche, die ich je gesehen hatte, und sie lebten
im Weiher eines großen Anwesens im hintersten Winkel von Greenwich, Connecticut, Amerikas wohl berühmtester Stadt des Wohlstands, etwa zehn Minuten zu Fuß von meinem Zuhause entfernt.
Nicht dass uns das Haus, der Grund, der Weiher oder die Forellenbarsche gehört hätten, dennoch betrachtete ich die Fische als meine
Fische. Ich hatte sie entdeckt, und der Teich war mein rechtmäßiges
Jagdrevier.
Meine Mutter hatte das Haus gemietet – genauso wie davor und
danach noch drei andere in Greenwich –, weil es ihr die Illusion von
Besitz vermittelte. Sie hatte ein Faible für kleine Cottages auf großen
Grundstücken – umgebaute Ställe oder Handwerkerhäuschen, die
Bestandteile eines früheren, inzwischen verblassten Reichtums gewesen waren. Man hatte sie nach einer Scheidung oder aus anderen
familiären Gründen nicht verkauft, sondern vermietete sie nun zu
einem akzeptablen Preis. War der Preis für uns dann eines Tages nicht
mehr akzeptabel, sahen wir uns gezwungen, zu anderen Häuschen auf
anderen verwaisten Grundstücken weiterzuziehen.
In diesen Jahren war Angeln die einzige verlässliche Größe in meinem Leben. Fest davon überzeugt, dass es sich dabei um eine männliche, den Charakter festigende Tätigkeit handelte, richtete meine
Mutter es so ein, dass die angemieteten Cottages stets Zugang zu
Flüssen oder Seen hatten oder an Anwesen grenzten, die über ebendiese Ressourcen verfügten und von uns betreten werden durften. Sie
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vertraute meinem Instinkt für fischreiche Gewässer und nahm mich
als eine Art Wünschelrute mit, bevor sie ihre Unterschrift unter einen
Mietvertrag setzte. Den größten Teil meiner Kindheit hatten wir es
daher nicht weit zu vielversprechenden Fischgründen. Am längsten
wohnten wir in dem bereits erwähnten Haus in der Nähe jener riesigen Forellenbarsche. In unseren ersten beiden Jahren dort brachte ich
jeden Sommerabend und jeden Morgen am Wochenende damit zu,
ihnen nachzustellen.
Im Winter 1978 aber suchte ein schwerer Schneesturm den Süden
von Connecticut heim. Die Temperaturen erreichten häufig Minusgrade, und einmal schneite es 33 Stunden ohne Unterlass. Vielleicht
war es die Kälte, die die Fische umbrachte, vielleicht auch das Kupfersulfat, das der Verwalter im Sommer zuvor mit meiner Hilfe ausgebracht hatte, um der Algenblüte Herr zu werden; vielleicht waren
es gar die Angler, die mir eines Tages auf dem Grundstück aufgefallen
waren und die womöglich meine Fischgründe ausgespäht hatten.
Was immer es gewesen sein mag, nach jenem Winter sah ich dort nie
wieder einen lebendigen Fisch. Natürlich ließ ich nichts unversucht.
Im darauffolgenden Jahr graste ich nach der Schule mit meiner Angel
so ziemlich jeden Quadratzentimeter des Weihers ab – oft zusammen
mit einem Nachbarjungen, der nach der Ära der großen Fische her­
gezogen war. Als uns jedoch zwei Monate unermüdlicher Versuche
mit immer neuen Ködern an immer neuen Stellen keinen einzigen
Fang beschert hatten, ließ mein Nachbar schließlich die irrationale
Seifenblase meiner Hoffnung platzen.
»Mir ist egal, was du erzählst und wie es hier angeblich mal war«,
höre ich ihn in meiner Erinnerung brüllen. »In diesem gottverdammten Teich gibt es jedenfalls nicht einen Scheißfisch, und ich werde hier
nie wieder angeln.«
Wie jeder Jäger, dessen Jagdgrund unergiebig geworden ist, begann ich, mich nach einem neuen Revier umzusehen. Ich folgte dem
Abfluss des Weihers, der über eine Reihe von kleinen Wasserfällen in
ein sumpfiges seichtes Ried führte, das von einem Geäst aus tiefen Altwasserarmen durchzogen war. Nur winzigste Weißfische, Flusskrebse
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und ein paar entwischte Goldfische tummelten sich hier. Weiter und
weiter ging ich, bis sich der Bach mit einem größeren Fluss vereinigte und meinem Forschen ein Zaun im Weg stand, den ein betuchter
Landbesitzer errichtet hatte. Auf einer Karte aus der Bibliothek sah
ich, dass es sich dabei um eine wichtige Schnittstelle für mein Flüsschen handelte (genauso wie »meinen Teich« hatte ich auch den Bach
annektiert und betrachtete ihn nunmehr als »meinen«). Der Ort,
an dem mein Bach aufhörte, mein Bach zu sein, war die Stelle, an
der er in den Byram River mündete, einen Fluss, der zur Blütezeit
der großen indianischen Kulturen den Namen Armonck – »Fischgrund« – getragen hatte und einer örtlichen Überlieferung zufolge
von den Engländern umbenannt worden war, weil die Ureinwohner
den Weißen mit Armen voll Alsen und Heringen auf den Leib zu rücken pflegten, wobei sie unablässig »Buy rum! Buy rum!« gefleht haben sollen – »Rum kaufen! Rum kaufen!«. Der Byram verlief von der
Mündung meines Flüsschens aus noch gut fünfzehn Kilometer gen
Süden, bevor er sich verbreiterte und schließlich ins Meer floss. Zum
ersten Mal schwante mir etwas.
Nach einer etwas improvisierten Bar-Mizwa, die meine teils jüdische Familie zu meinem dreizehnten Geburtstag für mich veranstaltet hatte, waren mehrere hundert Dollar auf meinem Konto
gelandet, und dank eines schuldenfinanzierten Zuschusses aus den
Untiefen des komplexen Finanzierungssystems meiner Mutter sah
ich mich in die Lage versetzt, ein gebrauchtes Aluminiumboot samt
20-PS -Außenbordmotor zu erstehen. Mit Hilfe ihrer guten Figur und
ihrer Fähigkeit, Solidarität mit der Arbeiterklasse zu demonstrieren
(sie war mit dem amerikanischen Sozialisten Michael Harrington
befreundet gewesen und eine erfahrene Streikadjutantin), überredete
meine Mutter den Hafenmeister von Greenwich, uns an der Warteliste vorbei eine Anlegestelle im Yachthafen Grass Island zuzuschustern.
Im Sommer 1981 besaß ich ein Boot, einen Platz, es zu vertäuen, und
etliche tausend Quadratmeilen Meer zum persönlichen Gebrauch.
Endlich waren bessere Jagdgründe gefunden.
Es war damals nicht die Zeit von Kindersitzen und Sicherheits13
verschlüssen. Heutzutage würde man es für elterliche Nachlässigkeit
halten, aber in meinem ersten Sommer als Bootseigner fuhr meine
Mutter mich regelmäßig mit ihrem gebrauchten schwarzen Chrysler Cordoba ohne Sitzgurte zum Grass-Island-Yachthafen und setzte
mich an meinem Aluboot aus dritter Hand ab. Sobald ich mein Zeug
aus dem Kofferraum geholt hatte, zündete sie sich eine Dunhill an,
hustete ein paarmal heftig und brauste mit einem letzten Blick in den
Rückspiegel in ihren kinderfreien Nachmittag. Im Alter von dreizehn
Jahren brachte ich mir daher auf eigene Faust bei, wie man ein Boot
auf dem Meer steuerte und dabei angelte. Es war nicht schwer – ich
bin sicher, die meisten Kinder würden das hinbekommen, wenn man
sie ließe. Es gab einmal eine Zeit, da bedeutete dreizehn zu sein wirklich, dass man ein Mann war. Und das Gefühl, auf der Jagd nach Fischen in offenes Gewässer hinauszutuckern und die alltäglichen Fesseln des Festlands hinter sich zu lassen, hatte etwas Berauschendes.
Ich hatte kein GPS , um meine Position zu bestimmen, und kein
Echolot, mit dem ich Fische hätte aufspüren können. Es gab noch keine Handys, mit denen man sich zu Hause »meldete«. Ich lernte Beute
aufzustöbern, indem ich Seevögeln hinterherjagte, die offensichtlich
nach Fischschwärmen tauchten, oder indem ich einer Reihe Felsen
in Strandnähe folgte, weil ich – meist zu Recht – vermutete, dass
die­se von fischreichen Felsgründen unter Wasser kündeten. Wenn
sich von meinem Boot eine Niete löste – was manchmal vorkam, da
die Außenhülle nicht eloxiert war und dem Salzwasser nur begrenzt
standhielt –, zog ich meine Schuhe aus und hielt das abtrünnige Stück
Metall mit dem großen Zeh an seinem Platz. Manchmal konnte ich
meinen großen Bruder überreden, mitzukommen, aber etwa Mitte
dieses ersten Sommers verkündete er mit einem Mal, er wolle »nicht
länger Viecher umbringen«. Mir war das egal. Ich war glücklich –
­allein mit den Fischen und dem Meer.
In meinem zweiten Jahr als Bootseigner fing ich an, die Wanderungsbewegungen der Fische zu durchschauen, die es da in den
Long Island Sound und wieder hinaus zog. Um den St. Patrick’s Day,
wenn die ersten Forsythien blühten, war die Zeit reif, das Watt vor
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den Docks des Indian-Harbor-Yachtclubs nach Plattfischen zu durchforsten. Im April, wenn die Forsythien ins Bräunliche welkten und
die Blütenhartriegel ihre Pracht zu entfalten begannen, waren die
Makrelen in den Sund vorgedrungen, und der Schwarze Sägebarsch
tauchte in den Riffs um Great Captain Island auf – ein sicheres Zeichen da­für, dass es an der Zeit war, das Boot zu Wasser zu lassen. In
Kürze würde der Flieder blühen und die Ankunft der ersten Umberfische und Meerbrassen ankündigen. Und wenn an Land schließlich
eifrig die Rasenmäher surrten, fielen die Blaubarsche in die Häfen ein
und vertilgten Makrelen, Menhaden und alles andere, was ihren Weg
kreuzte.
Streifenbarsche – Hauptgewinn in der Anglerlotterie – machten
um diese Zeit angeblich ebenfalls ihre Aufwartung, wenngleich es für
mich, was diese Fische betraf, beim Hörensagen blieb; sie waren damals schon zu selten, als dass ein Kapitän mit meinen begrenzten Fä­
higkeiten sie hätte aufstöbern können. Zum Herbst hin tauchten wieder die Sägebarsche auf, dazu hier und da Plattfische, und im Winter,
wenn mein Boot wieder auf dem Trockenen lag und man nichts fangen konnte, heuerte ich wegen seiner größeren finanziellen Mittel bei
meinem Vater an und beschwatzte ihn, mich auf einem der Boote der
Viking Starship-Flotte mit zum Angeln zu nehmen, das uns vor Montauk auf der Jagd nach Kabeljau viele Meilen ins offene Meer trug.
Lange bevor Selbstversorgung in Mode kam und »Locavorismus«
zum Schlagwort wurde, lernte ich, mein Hobby »nachhaltig« zu gestalten. Saison um Saison schleppte ich meinen überschüssigen Fang
zum Parkplatz meiner Schule und verkaufte aus dem Kofferraum
des mütterlichen Cordoba Fische für einen Dollar das Pfund. Die
schlechtbezahlten Lehrer scharten sich um mich, und am Ende einer
Verkaufsaktion hatte ich genügend Bares in der Tasche, um Sprit für
den nächsten Trip zu kaufen.
Die Jahre mit dem Boot auf »meinem« Ozean weckten in mir
einen tiefen, fast atavistischen Glauben an die Unverwüstlichkeit der
Natur. Selbst in Sichtweite der gatsbyhaften Herrenhäuser, die das
Ufer säumten, und mit dem leisen Rauschen der I-95 und all der an15
deren Zeugnisse menschlichen Daseins im Ohr, fühlte sich der Long
Island Sound für mich stets wie ein Stück Wildnis an – ein Ort, an
dem sich wilde Tiere aufspüren und fangen ließen. Ich empfand das
Meer als Füllhorn der Wünsche und Geheimnisse, als einen Ort des
Überflusses, den ich nicht in Frage stellen musste. Das Meer gab mit
vollen Händen, deshalb angelte ich. Meine ganze Kindheit hindurch
hatte ich ständig vor Augen, wie wohlhabend meine Nachbarn und
Schulkameraden waren und wie wenig sicher meine Familie im Vergleich zu ihnen dastand. Das Meer dagegen war der große Gleichmacher. Kein Angler, wie reich auch immer er sein mochte, hatte mehr
Rechte an seiner ungeheuren Weite und seinen Schätzen als ich.
Aber das Verlangen, Fischen hinterherzujagen, und das Verlangen,
dem anderen Geschlecht nachzustellen, verhalten sich umgekehrt
proportional zueinander. Das Angelfieber nimmt ab dem Alter von
ungefähr sieben bis zum Alter von etwa sechzehn Jahren stetig zu und
ebbt dann angesichts heftiger hormoneller Schübe in der Pubertät
schlagartig ab. Kurz vor dem Ende der Pubertät überkommt einen
manchmal wieder das Angelfieber, aber das währt nie wirklich lange.
Das Leben setzt andere Schwerpunkte, und der Einbruch der Dämmerung verheißt nun nicht so sehr die Aussicht auf Wasservögel, die
auf einen Schwarm wimmelnder Edelfische herabstoßen, als vielmehr
den Augenblick, da die Luft sich mit einem Gemisch aus aufsteigenden Parfüm- und Körperdüften füllt.
Im Sommer, in dem ich achtzehn wurde, verließ mein Boot die
beiden Sägeböcke, auf denen es den Winter über ruhte, kein einziges Mal, sondern moderte von Seepocken übersät auf seinem unkrautüberwucherten Abstellplatz neben dem letzten Mietshäuschen
meiner Mutter vor sich hin. Und als ich dann neunzehn war und aufs
College ging, zog es mich nicht mehr an den Long Island Sound. Meine Mutter verkaufte das Boot, als ich zwanzig wurde. Das Angeln hatte
getan, was immer es an Gutem für mich als Mann hatte tun können,
befand sie, und das war’s.
Während aber die erotische Anziehung zwischen zwei Partnern
nach ihrem Abflauen meist gänzlich verfliegt, kehrt die Bindung zwi16
schen Anglern und dem Angeln für gewöhnlich in Zyklen wieder
und erneuert sich unter immer anderen Vorzeichen. Nach anderthalb Jahrzehnten mit romantischen Fehlversuchen – etlichen davon
im Ausland – fand ich mich Anfang dreißig mit einer aufs Neue erwachten Sehnsucht nach Fisch an der Ostküste wieder. Doch wie jede
gereifte Liebe war diese zweite Anglerphase nicht nur von Vergnügen,
sondern auch von großer Skepsis geprägt.
Diese zweite Anglerphase in meinem Leben wurde ebenfalls durch
meine Mutter angestoßen. Ich war gerade von meiner Arbeit in Bosnien zurückgekehrt, einem schrecklich zerstörten Land ohne Zugang
zum Meer, in dem die schönsten Naturidyllen von Panzern zerpflügt
oder von Flüchtlingsströmen stark in Mitleidenschaft gezogen worden waren. Wie oft starrte ich nahe der von Geschossnarben übersäten Stadt Mostar in die tiefblaue, nach vier Jahren Krieg und Subsistenzangelei aber komplett fischlose Drina.
Während meiner Zeit im Ausland hatten meine Mutter und ich
uns auseinandergelebt und nur selten miteinander gesprochen. Das
änderte sich schlagartig, als sie mit der Diagnose Lungenkrebs im
fortgeschrittenen Stadium nach Hause kam. Ich hängte meinen Job
an den Nagel und blieb das ganze Frühjahr bei ihr. Die meisten Nachmittage dieser drei schlimmen Monate spielten sich an ihrer Bettkante ab, und wie das bei jemandem, der so rasch dem Tod entgegeneilt,
vorkommen kann, waren die Gespräche mal tiefgehend, mal trivial,
mal bedeutsam und mal völlig zusammenhanglos. Etwa Mitte des
zweiten Monats war sie vorübergehend sehr klar, und sie spürte, was
für eine Belastung ihr trostloses Ende für mich bedeutete. Eines Nachmittags setzte sie sich im Bett auf und versuchte, ihre flackernden
Pupillen zu einem festen, gebieterischen Blick zu zwingen. »Warum
gehst du nicht angeln?«, fragte sie, dann fiel sie hustend in die Kissen
zurück.
Angeln? Was für eine Idee! Doch warum eigentlich nicht? Mein
Bruder war zur Stelle, um sich in den paar Tagen, die ich fort sein würde, um unsere Mutter zu kümmern. Es war April. Eine gute Angelzeit
für die Ostküste, soweit ich mich erinnerte. Die Forsythien standen
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noch in voller Blüte, und der Blütenhartriegel begann sich allmählich
zu entfalten – das bedeutete Plattfische, Sägebarsche und Makrelen.
Als ich aber bei den Anglerläden herumtelefonierte, in denen ich in
meiner Jugend häufiger Gast gewesen war, stellte ich fest, dass sich die
Berichte über die Frühjahrswanderungen auf einmal völlig anders
anhörten. Die Plattfischsaison war auf wenige kurze Wochen zusammengeschrumpft, und die Leute sprachen schon von einem glorreichen Tag, wenn sie bei einer Angelpartie nur zwei Fische fingen,
während wir seinerzeit ganze Eimer voll nach Hause gebracht hatten.
An den Schwarzen Sägebarsch war kaum mehr zu kommen. Makrelen
hatte man in der östlichen Hälfte des Sunds seit einem Jahrzehnt nicht
mehr in nennenswerter Zahl gesichtet. Kabeljaue, wie ich sie während
jener Papa-Wochenenden nach der Scheidung meiner Eltern an Bord
der klotzigen Viking Starship etwas weiter draußen im Meer so oft gefangen hatte, waren so gut wie verschwunden. Es musste da draußen
irgendwo Fische geben, aber das Terrain hatte sich verändert, und ich
fand mich nicht mehr zurecht. Und als meine Mutter im Juni 2000
schließlich starb und wir ihre Asche bei Tod’s Point in Greenwich ins
Meer streuten, tummelten sich an der Küste sehr viel weniger Angler,
als ich es in Erinnerung hatte, und ihre Eimer waren zumeist leer.
Verluste wirken sich mitunter auf merkwürdige Weise auf den
Geist desjenigen aus, der etwas verliert. Ein Psychologe hat mir einmal
erzählt, dass man im Angesicht eines Verlustes das Verlorene betrauern, es aber auch in sein eigenes Selbst aufnehmen und so das Trauern
gleichsam umschiffen kann. Irgendwie wurde Angeln für mich jenes
Verlorene, an dem ich festhielt. Mit dem übel zerschrammten 1989er
Cadillac Brougham meiner Mutter, den sie an einen Steinpfosten gesetzt hatte, als das halbe Dutzend Metastasen in ihrem Kopf sie bereits
teilweise hatte erblinden lassen, fuhr ich die Küstenstreifen von Long
Island und Connecticut hinauf und wieder hinunter, gen Norden bis
Massachusetts und Maine, dann wieder nach Süden durch die beiden
Carolinas hinunter nach Florida, und angelte unterwegs in einer Tour.
Und wohin ich auch kam, überall stimmten die Angler und Fischer
dieselben Klagen an: kleinere Fische, weniger Fische, kürzere Angel18
saisons, Lücken in den jährlichen Wanderzyklen, weniger Arten am
Haken.
Neben der Angelei frönte ich noch einer anderen Gewohnheit, die
Teil meines einstigen Anglerselbst gewesen war – ich ging auf Fischmärkte und versuchte, die Herkunft dessen zu erraten, was da auf
Eis ausgebreitet vor mir lag. Die Veränderung war mit Händen zu
greifen. Wenn man 1975 nach einer Kinovorstellung des Weißen Hai
in meiner Heimatstadt die Greenwich Avenue hinunter zum Bon Ton
Fish Market in der Nähe der Railroad Avenue schlenderte (wie ich es
so manches Mal getan habe), fand man dort mit großer Wahrscheinlichkeit mindestens ein Dutzend Arten Speisefisch im Angebot. Viele
davon stammten aus den örtlichen Gewässern. Alles Wildfische, die
einen durch ihre Größe und Farbe, ihre klaren Augen und die makellos frische Beschaffenheit ihrer Haut förmlich blendeten.
Als ich aber Anfang dieses Jahrtausends die Ostküste entlangtingelte, beobachtete ich, dass eine ganz andere Art von Fischmarkt
Gestalt anzunehmen begann. Fülle war noch immer die Regel, und,
ja, ich sah noch immer ein buntes Allerlei an Arten, das den Eindruck
von Reichtum und Vielfalt erweckte. Aber wie jedermann, der regelmäßig angelt, verfüge ich über eine gewisse Fähigkeit, das Aussehen
von Fischfleisch zu beurteilen, und ich kann in aller Regel sagen, vor
wie langer Zeit ein Fisch gefangen wurde und ob es sich bei den Namen, unter denen ein Fisch verkauft wird, um kuriose lokale Bezeichnungen oder um die vorsätzliche Verschleierung von etwas komplett
Fremdem handelt, das irgendwo weit entfernt ins Netz gegangen ist.
Mir fiel auf, dass sich im Zentrum der Abteilungen für Meereserzeugnisse – egal, ob in Palm Beach, Florida, Charleston, South Carolina,
oder Portland, Maine – mit schöner Regelmäßigkeit vier Arten von
Fisch fanden, die mit den Gewässern in der Nähe der jeweiligen Fischmärkte so gut wie nichts zu tun hatten: Lachs, verschiedene Barschfische, Kabeljau und Thunfisch.
So wie mich seinerzeit der Zusammenfluss meines Flüsschens mit
dem Byram River auf die Idee gebracht hatte, mich mit der weiten
Welt des Ozeans auseinanderzusetzen, so brachte mich der Anblick
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dieses merkwürdig homogenen Stroms von vier Fischarten aus den
verschiedensten Gewässern der Erde auf Amerikas Fischmärkte dazu,
über das Vertraute hinauszublicken und der Sache nachzugehen. Und
so verbrachte ich die folgenden Jahre damit – mal auf eigene Rechnung, mal im Auftrag der New York Times –, an Orte zu reisen, über
die ich zuvor nur auf den Seiten von Angler- und Fischereizeitschriften gelesen hatte.
Je mehr ich mich mit den Lebenszyklen und der menschlichen
Ausbeutung der Lachs-, Barsch-, Kabeljau- und Thunfischvorkommen befasste, desto mehr ging mir auf, dass meine persönliche Anglerhistorie und die Fischereigeschichte der Menschheit einem ganz
ähnlichen Muster gehorchten. So wie ich mit einem Süßwasserteich
im Binnenland begonnen und mich, als meine Fischgründe versiegt
waren, den Fluss entlang zur Meeresküste vorgearbeitet hatte, so hatten einst auch die Angler und Fischer der Frühgeschichte zunächst
ihre Süßwassergründe geplündert und waren dann auf der Suche nach
neuer Beute die Flüsse entlang zu den Küsten gezogen. Und genauso,
wie ich später auf die Ressourcen meines Vaters zurückgriff, der mich
aufs Meer mitnahm, um weitab vom Festland Kabeljau zu fangen, so
hatten sich auch die Menschen der Mittel und Methoden der Industrie
bedient, um Flotten für die Hochseefischerei zu bauen, als sie feststellten, dass die Fischbestände in den küstennahen Gewässern die wachsende Nachfrage seitens der Menschen nicht mehr stillen konnten.
Je mehr ich darüber nachdachte, umso klarer wurde mir auch,
dass das Quartett an Fischen, das sich da anschickt, den heutigen
Markt zu erobern, gleichsam vier verschiedene Schritte verkörpert,
welche die Menschheit bei ihrem Versuch, das Meer zu beherrschen,
gegangen ist. Jeder dieser Fische illustriert eine ganz spezielle epochale Wende. Lachs, ein wunderschönes silberglänzendes Wesen mit
saftigem rosafarbenem Fleisch, braucht saubere, ungehindert fließende Süßwasserströme. Er steht für die erste Welle der menschlichen Ausbeutung von Fischgründen, seine Art markiert den Punkt,
an dem Mensch und Fisch erstmals ökologische Probleme in großem
Umfang bekamen und der Wechsel zur Zucht unabdingbar wurde,
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