editorial - Thilo Komma
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EDITORIAL NR. 1 / 2012 Liebe Leserinnen und Leser, Vorsicht, ein Mädchen-Heft! 108 Seiten über ehrgeizige und sympathische junge Frauen, die wissen, wie man ein Ass schlägt. Absolventen der Zeitenspiegel-Reportageschule Günter Dahl haben sie besucht — in Hannover, Rotterdam, Addis Abeba oder Melbourne. Warum sie? In keiner anderen Disziplin sind Girls aus Germany derzeit so gut wie im Tennis. Pardon, Damentennis! Spätestens seit Julia Görges im vergangenen Jahr den Porsche Grand-Prix gewonnen hat, ist das deutsche Tennis aus seinem Steffigrafgedächtnisschlaf erwacht und begeistert wieder ein großes Publikum. 40.000 Magazine wurden gedruckt und werden kostenlos über die mehr als 1800 Vereine des badischen Tennisverbands und des Württembergischen Tennisbunds an die Talente von morgen verteilt. Den beiden Präsidenten Hans-Wolfgang Kende (rechts oben) und Ulrich Lange (unten) sei Dank — und auch der Porsche AG für ihre Unterstützung. Einige der jungen Journalisten hielten während der Recherchen zum ersten Mal in ihrem Leben einen Schläger in der Hand, andere sind seit Jahren aktive Spieler. Alle fasziniert von den Stories einer Sportart, von der wir alles zu wissen glaubten. Zwei Kollegen nahmen den Titel des Heftes wörtlich, wurden Väter und bekamen: ein Mädchen. Ihre »GirlsOpen«-Redaktion Julia Görges, Sabine Lisicki, Andrea Petkovic und Angelique Kerber zu treffen, erfordert Geduld. Zu knapp ist das Zeitbudget der vier, die jede Woche in einem anderen Land der Welt ihrem Beruf nachgehen. Autorin Anna Hunger, 31, traf in Hannover eine zu Späßen aufgelegte Görges und eine fast schüchterne Lisicki, Wochen später traf sie in Stuttgart eine aufgeweckte Petkovic und eine Adrenalin-geputschte Kerber. Für ihre Titelgeschichte (ab S. 18) sprach Hunger mit Trainern, Managern und Eltern der Shootingstars, die dem Tennissport in Deutschland neues Leben eingehaucht haben. »Alle vier sind trotz ihres Erfolgs herrlich normal geblieben«, sagt Hunger. »Ich glaube, dass sie ihre größten Erfolge noch vor sich haben.« In Äthiopien, dem abgehängten Armutsland an der Ostküste Afrikas, genießt Tennis noch immer den Ruch des Elitensports. Tariku Tesfaye, 33, zeigt, dass es auch anders geht. Er holt Kinder mit Tennis aus der Armut. Tesfaye selbst ist dafür das beste Beispiel. Vom mittellosen Balljungen hat er sich zum berühmten Nationalspieler hochgespielt. Reporter Markus Wanzeck, 32, und Fotograf Rainer Kwiotek, 50, trafen in Addis Abeba junge Mädchen wie Meron Getu (ihre Geschichte ab S. 76), die ihren Tennistraum noch wahrmachen wollen. Ihre Chancen stehen gut. Selbst wenn der Sprung in den Profizirkus nicht klappen sollte, winken immer noch College-Stipendien und gutbezahlte Trainerstellen. »So schnell wird die erste äthiopische Tennisspielerin nicht Wimbledon gewinnen,« glaubt Wanzeck, »aber es ist nur eine Frage der Zeit, bis der afrikanische Kontinent im Profitennis erste Achtungserfolge vorweisen kann.« 3 INHALT 107 »Ich hätte gern den Aufschlag von Julia Görges. Sie sieht dabei viel besser aus als ich.« — Alexander Waske 70 46 NR. 1 / 2012 92 76 40 / CENTER COURT Erhebt Euch Junge Zuschauer sollen mehr Pepp ins Turnier bringen. 18 46 / Die Unschlagbare Esther Vergeer sitzt im Rollstuhl und schlägt sie alle. 52 / Erfolgreich extrovertiert Vier »German Frolleins« wollen auf der Weltrangliste die Nummer 1 werden: Trotzdem mögen sie sich. 18 / TITEL Die Fantastischen Vier 28 / »Jetzt geht’s erst richtig los!« Was Julia Görges, Sabine Lisicki, Angelique Kerber und Andrea Petkovic gemeinsam haben und was sie trennt. Doppelinterview mit Barbara Rittner und Patrick Kühnen. 26 / Interview: 5 Fragen an Steffi Graf 32 / NEBENPLATZ Ein Tag im Leben von Annika Beck Eine Legende spricht über ihre Nachfolgerinnen. Es kann verdammt hart sein, ein Tennis-Talent zu sein. 4 GO SPE ZIAL / G IR L S O P E N 38 / Das Profilos Mit einer Wildcard an einem großen Turnier teilnehmen. 44 / Rittners Talentschuppen Gut spielen allein genügt nicht. Man muss auch psychisch stark sein. Schon ein wenig schrill diese Bethanie Mattek-Sands. 17 / OFF COURT Stachs Hotshots 103 / Zwei ziemlich süße Ladies 61 / Kolumne von Angelique Kerber Ein alter Tennishase gibt seine Geheimnisse preis. Was Anna Kournikova und Clara Ritter (Schokolade) verbindet. Der Tennisstar plaudert einmal ganz privat. 54 / »Lieber Polohemd als Corsage« 64 / HISTORIE »Wir sind noch nicht am Ziel« 76 / Meron, das Mädchen aus dem Slum Star-Designer Michael Michalsky über Tennismode. Die Tennislegende Billie Jean King über Gleichberechtigung im Profisport. In Äthiopien wurde ein Traum zur Wirklichkeit. 62 / Gibt es ein weibliches Sieger-Gen? 70 / Golden Girls des Ostens 104 / »Es fehlt der Biss« Tennisfunktionär Ulrich Lange blickt in die Zukunft. 86 / Internat 107 / Umfrage: Miss Advantage Wie lebt es sich im einzigen Tennisinternat Deutschlands? Auf was die männlichen Stars neidisch sind. Mentalcoach Holger Fischer sagt jein. 94 / »Ich wollte ein anderes Leben« Interview mit Anke Huber über ihre Zeit danach. Tennis im »Arbeiter- und Bauernstaat«. Die Stars von einst kennt heute kaum noch jemand. SONSTIGES 03 / Editorial 16 / Portfolio 106 / Impressum 5 PORTFOLIO Center Court / 1982 STEFFI GRAF & TRACY AUSTIN Die 13-jährige Steffi Graf reicht ihrer Kontrahentin Tracy Austin die Hand. Es ist die erste Runde beim Porsche Grand Prix von 1982 — und eine ganz besondere für die deutsche Tennisheldin. Das Spiel, das sie später verliert, ist ihr Debüt bei einem Profi-Turnier. Ihre Gegnerin, damals Seriensiegerin in Filderstadt, gibt sich unbeeindruckt: »In Amerika haben wir hunderte Spielerinnen wie sie.« 6 GO SPE ZIAL / G I R L S O P E N 7 2007 VENUS WILLIAMS Venus Williams macht im Wimbledon-Finale von 2007 den Becker-Hecht. Ein Plagiat, das sich auszahlt: In einem einseitigen Match gewinnt sie gegen die Französin Marion Bartoli am Ende 6:4 und 6:1. Es ist ihr vierter von insgesamt fünf Endspielsiegen bei dem prestigeträchtigsten Turnier der Welt. 8 GO SPE ZIAL / G I R L S O P E N 9 1978 Titel / VI E R FÜR BLIN DT EX T CHRIS EVERT Als Chris Evert 1978 gegen Pam Shriver die US Open gewinnt, reicht im Spitzentennis noch ein Holzracket aus. Paul Zimmer ist 20 Jahre alt, als er dieses Foto aufnimmt — ein angehender Medizinstudent, der sein Hobby auslebt. Erst Mitte der 80er Jahre wird er zum Berufsfotografen. 1983 MARTINA NAVRATILOVA Martina Navratilova sagt, dass nie ein besseres Foto von ihr aufgenommen wurde. Es ist eine packende Studie ihres athletischen Stils — die Muskeln bersten vor Spannung. Im Wimbledon-Halbfinale von 1983 deklassiert sie die heute weitgehend unbekannte Südafrikanerin Yvonne Vermaak mit 6:1 und 6:1. Am Ende gewinnt sie das Turnier. 10 GO SPE ZIAL / GIR L S O P E N 11 VI E R FÜR BLIN DT EX T Titel / 2006 MARIA SHARAPOVA Nach einem 6:4, 6:4 über Justine Henin-Hardenne ist Maria Sharapova die strahlende Siegerin der US Open 2006. Ausgiebig lässt sie sich feiern, den Pokal fest umschlungen, gesäumt von Fotografen aus aller Welt, die um den besten Schnappschuss konkurrieren. Ehre, wem Ehre gebührt. 12 GO SPE ZIAL / GIR L S O P E N 13 JENNIFER CAPRIATI Jennifer Capriati ballt die Faust und schreit sich die Anspannung aus dem Leib, die sich nach einem nervenzerreißenden Finale bei den French Open 2001 aufgestaut hat. Mit einem 12:10 im dritten Satz hat sie die Belgierin Kim Clijsters niedergerungen — der Schlussakt in einem der spannendsten Endspiele in der Geschichte des Pariser Grand-Slam-Turniers. 14 GO SPE ZIAL / GIR L S O P E N 15 PORTFOLIO DURCH IHN WERDEN Sportler zu Ikonen: Paul Zimmer ist der wichtigste Chronist im TENNISzirkus Text PHILPP WURM SELTENER MOMENT Der Mann hinter der Kamera wird selbst zum Objekt — Paul Zimmer mit Venus Williams Text Philipp Wurm > Mehr als 2,5 Millionen Fotos hat Paul Zimmer in den vergangenen 34 Jahren von Tennisspielern gemacht, so viele wie kaum ein anderer Fotograf auf der Welt, da kann es schon einmal vorkommen, dass man ein wenig durcheinander kommt. Der Tisch in seiner Wohnküche im Stuttgarter Einfamilienhaus sieht aus wie ein Erdbebengebiet. Gewaltige Berge von Dias liegen dort, herausgerupft aus Klarsichtfolien, dazwischen Fotos in allen erdenklichen Formaten. Am Tischrand befinden sich mehrere Speicherplatten, mit Terrabytes voller Bilddateien beladen, verkabelt mit zwei Laptops. Zimmer, 54, verheiratet und Vater von zwei Kindern, beugt sich über den Tisch wie ein Zoologe über eine wertvolle Insektensammlung. In der Hand hält er eine Lupe, er nuschelt leise, man vernimmt bloß Satzfetzen, ihr Inhalt ist meist euphorisch, »das war der Wahnsinn« oder »das ist super«. Ein Glück, dass Paul Zimmer eine Kamera und kiloschwere Objektiven um die schmale Schulter, ein gutes Erinnerungsvermögen besitzt. 16 GO SPE ZIAL / GI R L S O P E N Off Court / KOLU MNE Vor seinem geistigen Auge hat er in den Wochen zuvor schon eine Vorauswahl treffen können, ehe er sich daran machte, seine Fotobestände zu durchforsten und nach Glanzstücken zu suchen. Alles andere wäre Sisyphos-Arbeit geworden, die ein ganzes Recherche-Team in Atem gehalten hätte. Zimmer ist so lange dabei im Tennisgeschäft, dass er selbst ein Mythos ist. Superstars kamen und gingen, ob auf dem Rasen von Wimbledon oder der Asche von Roland Garros, aber einer ist geblieben: dieser emsige Schwabe, der gerade einmal 20 Jahre alt war, als er 1978 sein erstes Grand-Slam-Turnier fotografierte. Zimmer war in dieser Anfangszeit ein Medizinstudent, der Sportfotografie als eine Art anspruchsvolles Hobby betrieb. Wenn er zu Turnieren jettete, bezahlte er auch schon mal die Flugkosten aus eigener Tasche. Seine Bilder erschienen in Fachblättern wie der »Tennisrevue«. Damals reiste er auch häufig in die deutsche Provinz zu Nachwuchsturnieren. Dort traf er auf zwei Talente, für die der freundliche Fotograf so vertraut wurde wie ein guter Onkel. Ihre späteren Bilderbuchkarrieren sollten sein Leben verän- dern. »Ich habe den beiden meine Karriere zu verdanken«, sagt Zimmer heute. Er meint: Boris Becker und Steffi Graf. Als der 17-jährige Becker 1985 in Wimbledon sensationell ins Viertelfinale einzog, erhielt der daheim gebliebene Zimmer einen Anruf des »Bunte«-Verlegers Hubert Burda: er sei doch dieser junge Fotograf, der Boris so hervorragend kenne, ob er nicht einen Exklusivvertrag unterschreiben und auf der Stelle nach London fliegen wolle. Zimmer sagte zu. Er war auf einmal gefragt wie nie. Ob auf dem Platz oder abseits, Zimmer wurde zu Beckers Hoffotograf. Seine Bilder wurden großflächig und in Millionauflage gedruckt. Kaum einem anderen Journalisten schenkte Becker, der neu geborene Volksheld, so viel Vertrauen. Zimmer brach sein Medizinstudium ab. Als wenige Jahre später auch noch Steffi Graf von einem Triumph zum nächsten eilte, stieg Zimmer endgültig zum Platzhirsch unter den Tennisfotografen auf. Er wurde gebucht von Magazinen aus der ganzen Welt, von Sponsoren, von Tennisverbänden. Wenn Zimmer über Graf spricht, klingt er vertraut wie ein enger Verwandter. In einer Pause von der mühseligen Sichtung seines Archivs erzählt er von regelmäßigen Telefonaten in den vergangenen Jahren, von der Vielfalt ihrer Persönlichkeit und davon, dass sie schon als junge Spielerin mehr war als nur eine hochkonzentrierte Leistungssportlerin. Steffi Grafs Interesse für Mode und Fotografie ist ein Resultat dieser Freundschaft. Zimmer, selbst ein Kunstsammler, dessen Haus ein kleines Museum voller Gemälde und Skulpturen ist, hat ihren Sinn für Ästhetik geschärft, als sie noch über die Courts hetzte. Überhaupt die Damen: Sie schätzen Zimmer, weil er sie auf seinen Bildern zu Ikonen erhebt. Zimmer fängt am liebsten die Momente ein, in denen sie unbesiegbar wirken, als Virtuosinnen eines perfekt abgestimmten Spiels aus Willenskraft, Kondition und Technik. Und wenn er sie jenseits des Wettkampfs ablichtet, als umjubelte Celebrities, achtet er ihre Würde. Ein kompromittierendes Paparazzi-Foto, das die Stars niedergeschlagen, übernächtigt oder sonstwie unpässlich zeigt, wird man in Zimmers Archiv nicht finden. Zimmer ist ein Chronist der Lichtseiten. 1 ANDREA PETKOVIC beim Seitenwechsel ihre zwei Trinkflaschen exakt so pedantisch neben ihrem Stuhl auf dem Boden ausrichtet wie Rafael Nadal? 2 Die gesammelten Weisheiten eines Tennis-Aficionados Wussten sie schon, dass ... JULIA GÖRGES ein großer Biathlon-Fan ist (sie bewundert Norwegens Superstar Ole Einar Björndalen), aber aus Zeitgründen einen Geburtstagsgutschein zum »Biathlon-Schnupperkurs« noch nicht einlösen konnte? 3 STACHS HOTshots SABINE LISICKI 7 SERENA WILLIAMS schon seit Jahren unter einer ausgeprägten Rasenallergie leidet, kurioserweise aber auf dem Grün von Wimbledon ihre größten Erfolge feierte? schon mal ein Hochzeitskleid für Kim Clijsters entwerfen sollte, der »Auftrag« dann aber storniert werden musste, da die Eheschließung mit Tennisprofi Lleyton Hewitt platzte? 4 8 ANGELIQUE KERBER die beste Freundin der ehemaligen Nummer 1, Caroline Wozniacki ist? 2010 waren Angie und Caro gemeinsam Schnorcheln auf Mauritius, vergangenes Jahr war Kerber eingeladen auf Wozniackis Party zu Ihrem 21.Geburtstag in Monte Carlo. 5 SAMANTHA STOSUR am Abend vor ihren Matches von ihrem Coach diverse Zettel mit taktischen Anweisungen bekommt, deren Inhalt er am nächsten Morgen vor der Partie »abfragt« ? 9 an ihrem 19. Geburtstag von einem Freund ein selbst komponiertes Lied geschenkt bekam, das wochenlang in den Radiocharts von Minsk zu hören war? 6 10 LI NA häufig in München trainiert und sich danach gerne mal Weißwürste und ein Weißbier gönnt? KIM CLIJSTERS gerne Bitter-Schokolade nascht und aus diesem Grund eine belgische Schokoladenfirma Ihr zu Ehren schon ein »Tennis-Schokoladenset« mit einer Schokoballdose und kleinen Schokotennisbällen auf den Markt brachte? 12 PETRA KVITOVA zur Vorbereitung auf eine neue Saison ein knallhartes Outdoor-FitnessProgramm in den heimischen TatraBergen absolviert — mit Mountainbiking und nicht ungefährlichen Klettertouren? MARIA SHARAPOVA im Alter von 4 Jahren von einem guten Freund ihres Vaters ihren ersten Tennisschläger geschenkt bekam — es war das Kinderracket seines Sohnes Jewgeni Kafelnikov (späterer French OpenSieger und Weltranglisten-Erster)? VIKTORIA AZARENKA 11 CAROLINE WOZNIACKI als Kind eine tolle Schwimmerin war und sich erst mit 11 Jahren entschied sich ausschließlich dem Tennissport zu widmen ? Matthias Stach, 59, von »Eurosport«, ist Experte des internationalen Damentennis und gilt als bester TennisKommentator in Deutschland. Eurosport überträgt den Porsche Grand Prix in diesem Jahr vom 23.- 29. April live. 17 DIE FANTAST ISCHEN 03 VIER VI V ier E R FÜR G ewinnt BLIN DT EX T Dreizehn Jahre nach dem Rücktritt von Steffi Graf gibt eine deutsche Girlband den Ton im internationalen Damentennis an: Julia Görges, Andrea Petkovic, Sabine Lisicki und Angelique Kerber stehen 2012 unter den Top Zwanzig in der Weltrangliste. Wer von den Vieren schafft den Sprung ganz an die Spitze? Titel / JULIA GÖRGES, 23 »Gorgeous Görges« — »die Hinreißende« aus Bad Oldesloe und Gewinnerin des Porsche Tennis Grand Prix 2011. Text Anna Hunger FOTO Thomas Kienzle ANGELIQUE KERBER, 24 01 ANDREA PETKOVIC, 24 Schlau und frech. »Petko«, die Nummer eins der deutschen Tennisdamen. 18 GO SPE ZIAL / GIR L S O P E N Seit einem halben Jahr auf der Überholspur, jetzt schon die Nummer Zwei in Deutschland. SABINE LISICKI, 22 Das Erfolgstalent aus der Kaderschmiede von Trainer-Legende Nick Bollettierie. 04 02 19 Titel / VI V ier E R FÜR G ewinnt BLIN DT EX T >Julia Görges, 23, trainiert in einem fliederfarbenen Kapuzenpulli und einer dieser bunten Radlerhosen, die man in den Achtzigern getragen hat. Die Tennishalle sieht aus wie ein begrünter Flughafenhangar, es ist ungewöhnlich kalt, aber nach Schweiß riecht es überraschend nicht. Trainer Sascha Nensel spielt ihr die Bälle zu. Er sei einer des besten Tennistrainer in Deutschland, sagen seine Kollegen. Ein strenger Typ, sympathisch erst auf den zweiten Blick, Ex-Sparringspartner von Steffi Graf und Duzfreund von Andre Agassi. Kürzlich erst habe er die beiden besucht, sagt er, zum Barbecue in Las Vegas. Görges peitscht die Bälle übers Netz. Rückhand, zack! Vorhand, wumm! Ihr dunkler Pferdeschwanz hüpft aufgeregt, wenn sie aufschlägt. Der tägliche Drill in Hannover in der Tennisbase. Seit 2008 trainiert Julia Görges hier im Stützpunkt regelmäßig, weil sie eines der großen Talente ist im deutschen Profitennis. In den letzten Monaten aber hat sich vieles verändert. Sie ist nicht mehr dieselbe Julia Görges, eine Hochbegabte, eine Miss Irgendwer. Sie ist jetzt ein Versprechen, ein großes. Sie hat vor einem Jahr in Stuttgart den Porsche Grand-Prix gewonnen und das deutsche Tennis aus seinem Steffi Graf-Schlaf gerissen, in dem es seit mehr als einem Jahrzehnt dahindämmert. Julia Görges drischt im Sekundenrhythmus auf die Bälle ein, so als wollte sie sagen »Ich will, ich kann noch viel mehr«. Görges ist jetzt, ein Jahr nach ihrem größten Triumph, die Nummer 17 in der Welt – schon. Aber nur noch die Nummer vier in Deutschland. Julia Görges gut gelaunt bei einer Trainingspause in Hannover. Tennis war »Jules« Hobby, jetzt ist es ihr Beruf. »Und den versuche ich perfekt zu meistern«, sagt sie. 20 GO SPE ZIAL / GIR L S O P E N So verrückt, so brutal ist das manchmal im Profisport, wenn alles auf einmal passiert, ohne dass man genau erklären könnte, warum gerade jetzt. Drei andere smarte Ladies taten es ihr in den vergangenen Monaten nach: Andrea Petkovic, die extrovertierte Kumpeline; Sabine Lisicki, die Fighterin mit dem Mörder-Aufschlag und Angelique Kerber, die Tiefenentspannte mit dem genialen Touch. Und Julia Görges natürlich, die seit Stuttgart den Spitzname »Gorgeous Görges« trägt, die zauberhafte Julia. Zusammen sind sie die Fantastischen Vier, die perfekte Besetzung für eine hitverdächtige Girlgroup: die Slice Girls aus Germany! Sie sehen blendend aus, sie strahlen, fluchen und tanzen auf dem Platz, JULIA GÖRGES 2005 2012 wird Julia als 17-Jährige zum ersten Mal auf der Weltrangliste geführt, 2010 gewinnt sie in Bad Gastein ihr erstes Turnier. erreicht Julia bei den Australian Open das Achtelfinale und wird in Dubai Zweite; Weltrangliste: Platz 17. 2011: Julia gewinnt sensationell den Porsche Grand Prix in Stuttgart. Mein Spiel: Taktik oder Temperament? Selbstverständlich beides! Ein freier Tag in meiner Lieblingsstadt. Hamburg und ich schaue mir ein Musical an. WelcheN SCHRIFTSTELLER zuletzt gelesen? Charlotte Link, sie schreibt sehr spannend. Am Abend vor dem Match: Herrenbesuch im Hotel? Kein Herrenbesuch. Wenn es jemanden gäbe, wäre er schon da. Wer hing lebensgroSS in Ihrem Kinderzimmer? Martina Hingis. Ihre letzte Notlüge? Ich kann mich ehrlich gesagt nicht daran erinnern, je gelogen zu haben. Was fehlt Ihnen zum Glück? Ich fühle mich sehr glücklich, ich vermisse nichts. sie mögen sich. Noch sind sie nicht die besten der Welt, noch haben sie zu viele Hochs und Tiefs und die eine oder andere Weißrussin oder Tschechin vor sich. Aber sie wecken Erinnerungen an die Zeiten, als weiße Lacoste-Zopfmusterpullover Hochkonjunktur hatten und man mit Boris Becker noch Wimbledon und nicht die Besenkammer verband. Vier Musketierinnen, wenn es das Wort überhaupt gibt, die die gleichen Tugenden mitbringen wie die Jungs um d’Artagnan im Paris des 19. Jahrhunderts, um einen großen Kampf zu liefern: Haltung, Mut und Empathie. Die Tenniswelt beneidet uns mal wieder um soviel Charakter und Erfolg made in Germany. »Irgendwann hat es klick gemacht«, sagt Görges. »Da haben wir gemerkt, dass wir sie gemeinsam alle fertigmachen können.« Eine für alle, alle für eine! Wer sind die Vier? Wie ticken Sie? Wo wollen Sie noch hin? Wer von den Vieren hat das Zeug zur Nummer 1, gar zum Weltstar? Julia Görges kommt aus Bad Oldesloe, eine Kleinstadt zwischen Hamburg und Lübeck. Die größte Attraktion am Ortsrand ist das größte Moor von SchleswigHolstein. Hier kennen sie alle: Fußgänger, Radfahrer, Postboten, der Bürgermeister sowieso, in einem Friseursalon liegt ein übergroßer Tennisball mit Julia GörgesSignatur aus. Wenn sie mal zuhause sei, komme sie ab und zu noch zum Haareschneiden vorbei, sagt die Friseurin stolz und meint damit eigentlich, dass Julia Görges trotz ihres rasanten Aufstiegs »ganz normal« geblieben ist. Die »Jule«, wie Ihre Freundinnen sie nennen, mag Casting-Shows im Fernsehen, saftige Steaks und den sagenhaften Roger Federer. Er ist längst eine Ikone, vielleicht der Beste Allerzeiten. Julia Görges möchte auch die Beste sein, die sie sein kann. Es ist kurz nach eins. Ihr Management hat einen Pressetag organisiert, das heißt: sie gibt den ganzen Nachmittag Interviews. Auf dem Tisch steht eine Aloe Vera, Julia Görges hat sich nach dem Training umgezogen, um den Hals eine Kette mit dem Schriftzug eines ihrer Sponsoren. Vor Julia war Heidi Klum das Werbegesicht dieses Süßigkeitenherstellers, allein das verdeutlicht Ihren Aufstieg. Im Halbstundentakt returniert sie die ewig gleichen Fragen. 21 Titel / V ier G ewinnt »Sabine Lisicki ist eine verdammt harte Arbeiterin. Dieses Mädchen hat einfach die Gene eines Champions.« (Trainerlegende Nick Bollettieri über Sabine Lisicki) Ein sanftes Lächeln, das trügt: Die »Boom Boom Bine« hat den schnellsten Aufschlag der Damen-Tour. 210 Stundenkilometer geballte Kraft. 22 GO SPE ZIAL / GIR L S O P E N »Was isst Julia Görges nach einem harten Trainingstag am liebsten?«, fragt ein Reporter. »Nudeln mit Butter«. Sie lacht gut gelaunt. Ob sie einen Freund habe? »Einen Freund?«, greift sie die Frage auf, wie ein Politiker, um Zeit zu gewinnen. »Leider keine Zeit für eine Beziehung!« Das wird sie an diesem Tag noch dreimal sagen. Sie wird dreimal erklären, dass ihre Vorhand ihre größte Waffe ist, dass sie den Druck kaum spürt, der auf ihr lastet, weil sie sich den abgewöhnt hat und, dass sie an ihrer Konstanz arbeiten muss. »Konstanz über die ganze Saison ist das wichtigste am Tennis.« Görges’ Eltern, der Vater ist Versicherungsmakler, die Mutter Hausfrau, nehmen Julia mit fünf Jahren zum ersten Mal auf den Tennisplatz des THC BlauWeiß mit, ein zierliches Mädchen mit Krauselocken und einem Tennisschläger, der ihr bis zum Bauchnabel reichte. Mit zehn startet sie bei den Jungs, weil die Mädchen keine Konkurrenz mehr für sie sind. Mit 12 Jahren besiegt sie die 17 Jahre ältere Spitzenspielerin der ersten Mannschaft mühelos in zwei Sätzen. Im Urlaub auf Sylt bucht die Familie ein Haus mit Tennisplatz auf dem Grundstück. 2005 wird sie Norddeutsche Meisterin, 2006 steigt sie in die Profi-Tour ein. Als Bundestrainerin Barbara Rittner sie das erste Mal in die Nationalmannschaft beruft, steht sie auf Platz 425 der Weltrangliste. »Früher saß ich immer vor dem Fernseher und habe die Stars bewundert, die auf den großen Plätzen der Welt spielten«, erinnert sich Julia Görges im Gespräch mit »Girls Open«. »Irgendwann habe ich beschlossen: Da willst du auch hin.« Ende August 2007 spielt sie ihr erstes Grand Slam-Turnier: die US Open in New York, die größte Tennisbühne der Welt. 2010 gewinnt sie in Bad Gastein ihr erstes Turnier bei den Profis. »Das war der Befreiungsschlag, den sie brauchte«, sagt Coach Nensel heute. Der Bürgermeister bat zum Eintrag ins Goldene Buch. Ein Jahr später dann also Stuttgart. Als sich Julia Görges nach dem Matchball in ihrem hellblauem Tennisdress in die rote Asche wirft, darf man das, zugegeben ein bisschen pathetisch, als das Geburterlebnis des neuen deutschen Damentennis begreifen. Seitdem fährt einander an die Spitze und reißen sich nicht die Haare aus? Tun sie nicht, weil sie sich wirklich mögen und zu clever sind für einen banalen Zickenkrieg, bei dem es nur Verliererinnen gibt. Stattdessen twittern sie sich und der Öffentlichkeit Grußbotschaften im besten Enid BlytonDuktus zu: SABINE LISICKI 2011: Ihr größter Erfolg: Lisicki erreicht als erste deutsche Spielerin seit Steffi Graf das Halbfinale von Wimbledon. 2008 2012 kann sich Lisicki endgültig auf der WTA-Profitour etablieren, sie qualifiziert sich für die Australian Open, ihr erstes Grand Slam-Turnier. Sabine Lisicki erreicht das Achtelfinale in Australien und steht auf Rang 13 in der Welt. Görges einen silbernen Porsche 911 Cabrio mit 408 PS und spielt in einer anderen Liga. »Es war der Wahnsinn. Während des ganzen Spiels hatte ich Gänsehaut«, erzählt Julia Görges an diesem Nachmittag in Hannover. Und dann ist sie nicht mehr zu stoppen, so als wäre es erst gestern gewesen. »Du stehst da, bist eh schon fertig und dann kommt der nächste Schlag, den du genau so spielen musst, und dann der nächste und der nächste und wieder der nächste, du hast das Gefühl, es wird niemals aufhören, und irgendwann schlägst du den letzten Ball rein und weißt, jetzt hast du sie. Man muss die Gegnerin im Kopf brechen, bevor sie dich bricht.« Julia hat jetzt glänzende Augen. Die Bild-Zeitung will wissen, ob es bei vier Mädels in der Kabine nicht auch mal Zoff gebe, fragt der Redakteur. «Klar«, sagt Görges, »bei so vielen Weibern gibt es schon mal Knatsch, aber es ist nie was Tragisches.« Vier gutaussehende Frauen wollen miteinander und gegen- Julia Goerges @sabinelisicki das war ja wohl mega oder?;-) AndreaPetkovic@sabinelisicki Olle!!! Was für ein geiles Match... ich liebe deinen Kampfgeist! Nächstes Mal holst du sie dir :) AndreaPetkovic@angeliquekerber: Woooooooohoooooooooooooooooo!!!!! Glückwunsch du Süßknopf, hab dir 'ne Sms geschrieben- lesen! :))) Angelique Kerber @andreapetkovic geillllll habe ich gelesen ;-) hab dir auch geantwortet ...lesen !!!! Auf dem Court nicht kleinkariert: Angelique Kerber, die »Geheimwaffe« der vier deutschen Tennisdamen. Anna-Lena Groenefeld @andreapetkovic @juliagoerges @AngeliqueKerber @sabinelisicki: I love you girls! In der Teeküche der Trainingsbase Hannover steht Sabine Lisicki, 22, und brät Nudeln mit Hühnchen. Sie ist überraschend groß, die langen blonden Haare zu einem Dutt geknotet. »Sie räumt sogar die Spülmaschine aus«, erzählen sie hier im Trainingszentrum und ziehen die Luft durch die Zähne, als sei das schon Beweis genug für Ihren Charakter. 2008 gelingt Sabine Lisicki die Qualifikation für die Australian Open. »Ich will einmal die Nummer eins der Welt werden«, sagt sie damals. 2009 gewinnt sie das Millionen-Turnier in Charlston, besiegt nacheinander Caroline Wozniacki, Venus Williams und Marion Bartoli. Die Presse ist außer sich, doch eine böse Verletzung am Sprunggelenk wirft sie weit zurück. Die Karriere ist in Gefahr. Aber Lisicki ist eine Kämpferin. Sie weint vor Zorn, wenn sie verliert, sie geißelt sich beim Training und knibbelt vor einem Aufschlag so sehr an ihrem Schläger herum, dass die Saiten eigentlich schon ganz ausgefranst sein müssten. Der große Tag kommt am 30. Juni 2011: Lisicki steht als erste Deutsche seit Steffi Graf im Halbfinale des berühmtesten Tennisturniers der Welt: Wimble- don, die Kleidung weiß, der Rasen heilig. Sie verliert, aber danach sagt sie: »Ich habe immer gewusst, dass ich zurückkomme. Heute bin ich stärker denn je.« 2011 klettert sie von Weltranglistenposition 218 auf Platz 15. Einer ist besonders beeindruckt. »Sie ist eine verdammt harte Arbeiterin«, sagt Trainer-Guru Nick Bollettieri über sie, der sie lange trainiert hat. »Dieses Mädchen hat die Gene eines Champions.« Nach ihrem Auftritt in Wimbledon nennt sie die BBC »Boom Boom Bine« oder »Mrs Dampfhammer«, weil sie mit 210 km/h den härtesten Aufschlag aller Frauen hat. Sie sei eine »Rampensau, die am liebsten vor voller Arena spielt, erzählt Sabine wenige Tage später im »Sportstudio«. Die blonden Haare wallen über die Schultern, die Augenbrauen gezupft, die Lider grau schattiert, sie trägt lange Ohrringe und einen schwarzen Blazer. Hinter Moderator Wolf-Dieter Poschmann wird ein Foto eingespielt: Lisicki auf der WimbledonParty in bodenlanger roter Robe. »Wow«, ANGELIQUE KERBER 2007 2012 steht Angelique Kerber bei den French Open in Paris das erste Mal im Hauptfeld eines GrandSlam-Turniers. Kerber gewinnt das Turnier in Paris und kommt in Auckland, Hobart und Indian Wells ins Halbfinale. Ihr Lohn: Rang 14 auf der Weltrangliste. Februar 2012: Angie mit Siegerpokal in Paris. 23 Titel / V ier G ewinnt sagt Poschmann und lächelt beseelt. Bei YouTube hat einer unter das Video geschrieben: »Sabine hat den süßesten Hintern von allen.« An diesem Nachmittag in Hannover spricht sie wenig, kocht schnell und verschwindet mit ihrem Teller. Wenn noch Fragen offen sind, solle man ihren Manager kontaktieren. Der heißt Olivier van Lindonk, sitzt in Florida und hat die Kürzel »IMG« in seiner Email-Adresse. IMG, die größte und wichtigste Vermarktungsagentur der Welt. Ihre Klienten: Roger Federer, Tiger Woods, Giselle Bündchen und – Sabine Lisicki. Was soll noch kommen? Der Manager sagt: »Das war erst der Anfang.« Andrea Petkovic, 24, treibt den größten Aufwand, möglichst greifbar zu sein für ihre Fans. »Hi Guys, it´s me again«, sagt sie in einem der vielen Videoblogs, die sie für ihre Fans aufnimmt und auf ihre Website stellt. »I know you missed me«. Sie strahlt, schwenkt mit der Kamera auf Doppelspielerin Anna-Lena Grönefeld im hautengen schwarzen Dress, die macht einen Knicks und formt die Finger zu einem V. V für Victory! Dann sieht man beide über die Players-Party beim Turnier in Dubai flanieren, entlang am leckeren orientalischen Buffet. Es ist ein Goodie für die Fans, nur eine Kleinigkeit, aber diese Publikumsnähe macht »Petko« zu einer der beliebtesten Sportlerinnen Deutschlands. Als Jugendliche war sie Fan von Serena Williams, weil sie den »Rock´n´Roll« auf den Tennisplatz zurückbrachte, erzählt Petkovic, ihr Pressesprecher ist im Nebenjob Rockmusiker. Um ihre Andersartigkeit zu beschreiben, erzählen Journalisten immer wieder, das sie ein Praktikum bei Roland Koch gemacht hat und nach ihrem ersten Sieg beim Fed-Cup von SPD-Chef Sigmar Gabriel umarmt wurde. Sie kann es selbst nicht mehr hören. Sie weiß, wie man einen Genitiv verwendet, es gibt wohl keine Spielerin, die das Wort »hammerhart« sympathischer ausspricht. Petkovic ist die Nummer eins im deutschen Team, extrovertiert bis unter die Haarspitzen. All eyes on Andrea — sie ist der Star. Ihre Leben ist wie ein Roadmovie, sagt Andrea Petkovic im Gespräch. Ihre Familie ist aus dem ehemaligen Jugo24 GO SPE ZIAL / GIR L S O P E N ANDREA PETKOVIC 2007 2012 ist das Jahr der Premieren für Andrea: Petkovic wird das erste Mal für das deutsche Fed Cup-Team nominiert und in Paris spielt sie Ihr erstes Grand Slam-Turnier. Den Saisonstart musste Petko wegen einer schweren Rückenverletzung absagen, Ihr Comeback gibt sie im April beim Porsche Grand Prix. 2011: Sie gewinnt Straßburg, erreicht Finals in Brisbane und Peking und bei drei GrandSlams das Viertelfinale. Weltrangliste: Platz 10. slawien eingewandert, als sie ein paar Monate alt war. Die Petkovics geben sich bescheiden, der Vater ein Tennistrainer, der lieber »die Vorhand von Hausfrauen verbessert als sich dem Profi-Bla-Bla auf einem Grand-Slam auszusetzen«. Andrea wird von Adidas ausgerüstet seit sie 15 ist. Damals bekam sie 5000 Euro für den Karriere-Start, Vater Zolan hat das nicht vergessen und alle Millionenofferten der Konkurrenz abgelehnt. Er war ihr Coach, ist ihre Stütze und Seelenpartner und nicht zuletzt der liebenswerte Papa. Als Petkovic in New York 2011 trotz Verletzung unbedingt spielen will, sitzt er geknickt auf der Tribüne und sagt zu einem Reporter: »Geht denn die Welt unter, wenn sie mal nicht dabei ist?« Für Andrea Petkovic wäre sie untergegangen, sie ist eine Getriebene. Sie schläft nicht, wenn sie verliert, sie tanzt auf dem Platz, wenn sie gewinnt. Der Petko-Dance, auch der inzwischen weltberühmt. »Das Messen mit dem Gegner, das Streben nach unerreichbarer Perfektion, die von vielen unterschätzte mentale Herausforderung, die Erlösung nach einem verwandelten Matchball — all das gibt meinem Leben den Kick, den es braucht, um interessant, abwechslungsreich und vor allem lebenswert zu bleiben.« So schreibt Petkovic auf Ihrer Homepage. Hat je ein Sportstar seit Ali reflektierter, poetischer über die Qualen und Entsagungen seines Alltags geschrieben, über das was ihn antreibt, was ihn ausmacht? Die Flucht, der Ausbruch aus dem täglichen Drill ist bei Petkovic subkutan immer mitgedacht. Sie wäre doch so gerne ein Rockstar geworden. Der muss nicht Viertel vor acht aufstehen und nach stundenlangen Fitness- und Balleinheiten nach einer Massage um halb elf wieder ins Bett. »Wir machen keine Wellness, wir machen Profisport. Der ist hart«, sagt Alexander Waske, bei dem sie zuletzt trainiert hat. Waske sitzt im Auto und telefoniert über die Freisprechanlage. Er ist Mitbegründer der SchüttlerWaske-Tennis-University bei Frankfurt, ein ehemaliger Davis-Cup-Spieler, getrieben vom missionarischen Eifer seine Akademie zur Besten der Welt zu machen. Und mit ihr seine Vorzeige-Schülerinnen: Andrea Petkovic und Angelique Kerber, die Vierte im Bunde. Er selbst hatte eigentlich zu wenig Talent für die große Profikarriere, dafür hatte er einen Spirit wie kein Zweiter. Das ganze private Leben unterliegt dem jährlichen Turnierplan, fordert er. Die Geburtstage der Eltern, Weihnachten, Ostern oder wenn die beste Freundin heiratet, das alles zähle erst mal nicht. »Priorität eins bis neun ist Tennis«, sagt Waske. »Profispielerinnen müssen bereit sein, sich Ihrer beruflichen Agenda zu unterwerfen.« Er spricht von Leistungsgrenzen, die überreizt werden müssen, von haufenweise Bananen und Müsliriegeln in Damen-Handtaschen und davon, wie wichtig es sei, im Training psychischen Druck aushalten zu können. Das sieht dann so aus, dass er etwa An- gelique Kerber im Training immer wieder anbrüllt: »Du schaffst das nicht, du bist zu schlecht, bleib doch zuhause«. Man müsse die Spielerinnen auf die Extremsituationen vorbereiten, alles ausblenden zu können, den Lärm der Zuschauer, die Mätzchen der Gegnerin. »In den Tunnel kommen«, nennt es Waske. Der Tunnel ist das Einmaleins der Champions. »Ich habe jede Sekunde meines Trainings gehasst, aber ich sagte zu mir, hör' nicht auf, kämpfe jetzt, schwitze jetzt, damit du für den Rest deines Lebens wie ein Champion leben kannst.« - Muhammad Ali. Das Vermächtnis des Allergrößten steht an der Tür zum Frühstücksraum in der Tennisbase in Hannover. Dort sitzt Sascha Nensel, der Trainer von Julia Görges. An der Wand eine lange Tafel mit einem zwei Kilo-Glas Nutella, dutzenden Marmeladengläsern und eine durch jahrelange Praxis erfahrene Erkenntnis: »Ab Weltranglistenplatz 50 wird man zum Unternehmen«, sagt Nensel. Zum Team gehören Mentalcoach und Tennistrainer, Physiotherapeuten und Ernährungsexperten, sie alle scheuchen und kneten und nötigen die jungen Frauen zur großen Karriere, zu den großen Triumphen, die in Paris, London, New York oder Melbourne möglich sind. Wahrscheinlich sind sie eher nicht. Es sei einfach gelogen, wenn immer behauptet wird, diese jungen Frauen hätten doch keinen Druck. »Der ist immens«, sagt Nensel. »Wenn Julia 99 Bälle ins Feld schlägt und einer geht daneben, ist das für sie nicht akzeptabel«, sagt er. »Aber fehlerlos geht es eben nicht. Wir sind ja alle nur Menschen.« »Das Messen mit dem Gegner, das Streben nach Perfektion, die Erlösung nach einem verwandelten Matchball gibt meinem Leben den Kick, den es braucht, um interessant und lebenswert zu bleiben.« (Andrea Petkovic) Beim Fed-Cup Anfang Februar in Stuttgart weint Julia Görges in ein TV-Mikrophon des SWR. Sie hat gerade gegen die Nummer zwei der Welt verloren, Petra Kvitova, immerhin amtierende Wimbledonsiegerin. 8:10 im entschei- »Profis müssen bereit sein, sich zu quälen«, sagt ihr Trainer. Aber zwischendurch braucht´s auch mal eine Pause. Andrea entspannt mit Musik. 25 Titel / Die Gräfin und ihre Nachfolgerin: Steffi Graf und Julia Görges nach einem Show-Match. INTERVIEW Jörg Allmeroth FÜNF Fragen an Steffi Graf »DIE MÄDCHEN haben alles,was man braucht!« 1 Frau Graf, das deutsche Damentennis erlebt seit Ihrem Rücktritt vor 13 Jahren eine neue Blütezeit. Wie erleben Sie den Aufschwung von Andrea Petkovic und Co.? Natürlich mit großer Freude. Es ist toll, dass sich gleich eine ganze Generation von erfrischenden und talentierten jungen Spielerinnen so gut entwickelt und bis in die Weltspitze durchgespielt hat. Und damit steigt zum Glück auch in Deutschland wieder das Interesse fürs Tennis. Ich bin begeistert! 2 Andrea Petkovic haben Sie bei einem Treffen in Las Vegas persönlich kennengelernt, mit Julia Görges haben Sie einen Schaukampf in Halle gespielt. Ihr Eindruck? Beide arbeiten hart an ihrer Karriere, beide verfügen auch über das nötige Selbstbewußtsein, das du in der Spitze brauchst. Jetzt wird es wichtig 26 GO SPE ZIAL / 4 0:LOV E sein, sich das Tennisjahr sehr genau einzuteilen und nicht zu überdrehen, im Drang, noch weiter nach vorne zu kommen. Alle vier Mädchen haben alles, was man für eine große Karriere braucht. 3 Lisicki und Kerber schafften es, viele Jahre nach Ihnen, wieder in ein Grand Slam-Halbfinale. Halten Sie einen Sieg einer deutschen Spielerin bei einem der großen Major-Turniere für realistisch? Warum nicht? Wenn Sie weiter so an sich arbeiten, bin ich davon überzeugt, dass das möglich ist. Sabine gelang es im letzten Jahr in der Weltrangliste von Platz 218 bis auf Platz 15 zu springen. Das war absolut bemerkenswert und sagt alles über Ihre Einstellung aus. Das gleiche gilt auch für Angelique Kerbers unglaublichen Lauf bei den US Open 2011. Ich bin sehr optimistisch. Wie eng sind Sie am deutschen Damentennis noch dran? Dank Barbara Rittner, meiner alten Freundin, bin ich bestens informiert. Wir telefonieren regelmässig über die neuesten Entwicklungen. Schön ist, dass sich die Spielerinnen auch untereinander so gut verstehen und als Team auftreten. Das ist im Profigeschäft nicht selbstverständlich. 4 5 Wie oft spielen sie selbst noch Tennis? Nicht mehr jeden Tag, aber André und ich spielen immer mal wieder auf Schaukämpfe zugunsten unserer Stiftungen. Außerdem halten mich meine Kinder fit. Dass ich nur faul auf der Couch herumliege, das werden sie bei uns nicht erleben. denden Satz. Das tut mehr weh als jeder Drill im Training. »Ich habe gut gespielt, ich hab alles gegeben, aber man möchte eben gewinnen.« Sie wischt sich die Tränen aus dem Gesicht und die Fernsehkameras halten unerbittlich drauf. Es ist der vielleicht bitterste Tag im deutschen Damentennis in diesem Jahr. Auch Sabine Lisicki verliert ihr Spiel knapp in drei Sätzen. Die Nachrichtenagenturen werden schreiben: »Lisicki bei Pressekonferenz unter Tränen zusammengebrochen.« Deutschland weint und Doppelspielerin Grönefeld twittert: Anna-Lena Groenefeld @andreapetkovic @juliagoerges @AngeliqueKerber @sabinelisicki We might be 2:0 down, but we have the f*'#$"*ing best team in the world! Das verdammt nochmal beste Team der Welt! Eine für alle, alle für eine. Angelique Kerber, 24, steht auf dem azurblauen Platz. Sie wird als einzige an diesem Wochenende ein Spiel für Deutschland gewinnen, auch wenn das an der Niederlage nichts mehr ändert. Die ruhige Blondine mit dem geflochtenen Zopf spielt in ihrer Lieblingsfarbe Orange und sie ist ein bisschen stinkig, weil sie gestern nur zuschauen durfte. Ihre Wut hat sie für sich behalten, aber im Spiel ist sie eindeutig zu spüren. Sie ist mindestens so ehrgeizig wie die anderen, vielleicht posaunt sie es nicht so heraus. Im Eigenmarketing könnte sie etwas forscher sein, heißt es aus ihrem Umfeld. Aber das muss sie jetzt auch nicht mehr. 2012 ist bisher Ihr Jahr: Nach dem Fed-Cup gewinnt sie das Turnier in Paris, erreicht in Indian Wells das Halbfinale, klettert bis auf Platz 14 in der Weltrangliste. Was für ein Unterschied zum letzten Jahr, als sie zehnmal in der ersten Runde verlor. »Ich habe es viel zu ruhig angehen lassen«, versucht Angie Ihr Missgeschick von 2011 zu erklären. »Das war mein Fehler, aus dem ich gelernt habe.« Im Spätsommer erreicht sie bei den US Open das Halbfinale, die vielleicht größte Sensation in der letzten Saison. In der Spielerbox applaudiert Alexander Waske, der darauf aufpasst, dass die Rückschläge nicht mehr näher kommen. Als Kerber in Paris ausgerech- »Für die Profis muss Tennis an erster Stelle stehen. Geburtstage der Eltern, Weihnachten, Ostern, oder wenn die beste Freundin heiratet sind allerhöchstens zehnte Priorität.« (Alexander Waske) »Eine für Alle, Alle für eine«. Die deutschen Tennis-Damen Sabine Lisicki,Julia Görges, Andrea Petkovic und Anna-Lena Grönefeld (von links nach rechts) sind eine verschworene Truppe nach dem Musketier-Prinzip. net von Martina Navratilova den unhandlichen Silberpokal überreicht bekommt, kann man ihre Unbeholfenheit in solchen Situationen noch sehen. Das wird bald anders sein. »Bei Angie ist der Knoten endlich geplatzt«, sagt Bundestrainerin Barbara Rittner. Per Facebook postet Angelique Kerber am Abend: »Ich könnte euch alle umarmen!!!« Dazu setzt sie ein Foto der letzten vier deutschen Damen unter den Top 30 auf der Weltrangliste auf ihre Facebook-Seite. Unter dem Bild steht: »Highest Ranked Germans 1988: 1 Steffi Graf, 10 Claudia Kohde-Kilsch, 16 Sylvia Hanika, 21 Bettina Bunge.« Darunter posted sie selbst: »Highest Ranked Germans 2012: 10 Andrea Petkovic, 13 Sabine Lisicki, 14 Angelique Kerber, 17 Julia Görges.« Im Februar 2012 stehen alle vier German Frolleins, wie sie auf der Tour gerufen werden, in den Top-20 der Welt. Alle vier wollen aber noch viel weiter nach oben. Nach ganz oben. Den Satz: »Ich will die Nummer 1 werden«, haben alle schon mal so oder ähnlich gesagt oder gedacht. Zurück in der Tennisbase Hannover, es kurz vor vier Uhr nachmittags. Wann sie sich denn für den Playboy ausziehe, will der BILD-Reporter am Ende seines Interviews gewohnt subtil wissen. Julia Görges beugt sich über den Tisch, schaut dem Mann kokett in die Augen, flirtet ein bisschen, es gefällt ihr. Weil sie nicht zum fünften Mal über Konstanz und ihren Aufschlag sprechen muss und weil der Kerl bei seiner Playboy-Frage so schön verwegen kuckt. »Das habe ich nicht vor«, sagt sie langsam mit damenhaftem Augenaufschlag und lächelt zum letzten Mal an diesem Tag strahlend für ein Foto. »Ich möchte lieber als Sportlerin wahrgenommen werden. Mit meinem Aussehen gewinne ich ja keine Matches«, sagt sie und streckt ihm ihre Hand zur Verabschiedung entgegen. Der türkise Lack an ihren Fingernägeln bröckelt gewaltig, der Nagellackentferner sei ihr ausgegangen, sagt sie entschuldigend. 27 Titel / S PI TZE NG E SPRÄC H Die Bundestrainer Barbara Rittner und Patrik Kühnen über das neue Fräuleinwunder und die Frage, warum die Herren im deutschen Profitennis das schwache Geschlecht sind: »Jetzt geht’s erst richtig los!« Text Agnes Fazekas Foto Lukas Coch >Frau Rittner, Herr Kühnen, auf unseren Wunsch hin, werden Sie beide gleich gegeneinander ein Match spielen. Was denken Sie, wie wird es ausgehen? Kühnen: Unentschieden. Rittner: Ich werde aufgeben, weil ich meistens nach zehn Minuten einen Muskel-faserriss habe. Wobei, wenn wir einen Satz bis drei spielen, könnte ich durchhalten. In den letzten Jahren bin ich eher zum Fußballer und Jogger geworden. Kühnen: Ich spiele immer noch super gern, aber auch nicht mehr so oft. Wir werden beide versuchen, unverletzt vom Platz zu kommen. Rittner: Und hinterher was Kühles trinken. Herr Kühnen, welchen Schlag Ihrer Bundestrainer-Kollegin fürchten Sie am meisten? Kühnen: Nimmst du deinen Hund mit auf den Platz, Barbara? Rittner: Seine Rückhand hab ich stark in Erinnerung. Frau Rittner, 1973 besiegte mit Billie Jean King im legendären »Kampf der Geschlechter« gegen Bobby Riggs zum ersten Mal eine Frau einen Mann auf dem Tennisplatz. Es ist also alles möglich... Kühnen: Und in den 90ern hat Karsten Braasch gegen die Williams-Schwestern gespielt! Er hat davor eine Runde Golf gespielt, eine geraucht — und gewonnen. Auf YouTube gibt es unzählige weitere Inszenierungen des Geschlechterkampfs zu sehen. Es ist eine Binsenweisheit: Männer sind Frauen athletisch überlegen. Wieso also immer noch diese Faszination, das auszuspielen? Rittner: Das liegt in der Natur der Sache, aber im Prinzip ist es völliger Quatsch. Man kann es einfach nicht vergleichen. Selbst wenn der Mann auf einem größeren Feld spielt als die Frau, hinkt der Vergleich. Oder nehmen Sie den 100 m-Lauf — selbst wenn Frau einhundert Meter bergab läuft, wird sie trotzdem nie so schnell sein wie ein Mann. Sie haben während Ihrer 15-jährigen Profikarriere selbst viel mit Männern trainiert. Warum? 28 GO SPE ZIAL / GIR L S O P E N Rittner: Und natürlich hab ich dabei von x-Männern den Hintern versohlt bekommen. Da kommt jeder Regionalligaspieler in Frage und das war auch gut so. Heute habe ich meinen Co-Trainer Dirk Dier als Sparringspartner dabei und immer wenn die Mädels einen Höhenflug kriegen, dann sag ich zu ihm: »Komm Dirk, einen Satz mal richtig!« Und dann ist es ganz schnell gegessen. Die Mädels wollen das ja auch. Kühnen: Ich habe früher ab und zu mit Steffi Graf trainiert und das war super. Rhythmus, Frequenz, Intensität — sensationell. Also Herr Kühnen, lassen Sie uns über die neuen Erfolge im deutschen Damentennis reden. Sind Sie beeindruckt? Kühnen: Auf alle Fälle. Mir gefällt sehr, wie sich die deutschen Damen präsentieren: unheimlich positiv, engagiert, kämpferisch. Alle haben ein klares Ziel vor Augen und das spürt der Fan. Rittner: Die haben im Moment alle so einen unbedingten Willen. Sie sind schwer zufriedenzustellen, selbst wenn sie was »Mir gefällt, wie sich die deutschen Damen präsentieren: positiv, engagiert, kämpferisch. Alle haben ein klares Ziel vor Augen. Ehrgeiz, Erfolg, Selbstvertrauen, das ist die Leiter des Sieges.« (Kühnen) Tolles erreicht haben. Die Petko sagt dann: »Jetzt geht’s erst richtig los!« Und dann ziehen sie sich gegenseitig hoch. Kühnen: Das merkt man. Ich finde das fantastisch. Die Damen haben es geschafft, ihre großen Erfolge bei den großen Turnieren einzufahren. Dadurch bekommen sie ein unbändiges Selbstvertrauen, dass sie wissen lässt: Ich kann nicht nur mithalten, ich gehöre dahin, in die Weltspitze. Ehrgeiz, Erfolg, Selbstvertrauen, das ist die Leiter des Sieges. Woran liegt es dann, dass die Herren Profis diese Leiter nicht hinaufsteigen? Kühnen: Unsere Damen waren auf den größten Tennisbühnen der Welt, den Grand Slam-Turnieren, erfolgreicher und sind deshalb auch medial viel stärker im Fokus. Man darf aber nicht vergessen, dass auch die deutschen Herren im vergangenen Jahr sehr gute Ergebnisse erzielt haben. Philipp Petzschner hat bei den US Open seinen zweiten Grand Slam-Doppeltitel gewonnen, Philipp Kohlschreiber hat in Halle die Gerry Weber-Open gewonnen und Florian Mayer hat in Bukarest seinen ersten ATP-Titel geholt. Kurz darauf hat er beim Masters-Turnier in Shanghai sogar Nadal geschlagen. Alles schön und gut, aber von der Weltspitze sind die Herren meilenweit entfernt. Es entsteht in der öffentlichen Wahrnehmung der Eindruck, dass Kohlschreiber & Co. der Mumm fehlt, ihr großes Potential auch nutzen zu können. Ist das auch Ihr Eindruck, Frau Rittner? Rittner: Ich kann die Frage wahrscheinlich seriös gar nicht beantworten, weil ich da zu weit weg bin. Aber gefühlt sind die Mädels für mich noch erfolgshungriger, noch konsequenter in der Art und Weise, wie sie an sich arbeiten. Die haben einen eigenen Physio, einen eigenen Mentaltrainer, ganz bewusst reizen die alles aus. Die geben sich nie zu früh mit dem Erreichten zufrieden. Kühnen: Der Fokus für die Herren muss sein, bei den Grand Slams die zweite Woche zu erreichen. Da fehlt die Konstanz, da gebe ich ihnen recht. Die Dichte bei den Herren ist so stark, dass an einem guten Tag die Nummer 89 der Weltrang29 Titel / S PI TZE NG E SPRÄC H »Gefühlt sind die Mädels noch erfolgshungriger als die Herren, in der Art und Weise, wie sie an sich arbeiten.« (Rittner) Patrik kühnen 1988 2003 war das erfolgreichste Jahr seiner aktiven Karriere: Kühnen erreicht das Viertelfinale in Wimbledon und gewinnt mit Deutschland den Davis-Cup. Bestes Ranking: Rang 43. 30 übernahm Kühnen als Teamchef das deutsche Daviscup-Team; seit 1993 hat Deutschland den Daviscup nicht mehr gewonnen. GO SPE ZIAL / GI R L S O P E N liste die Nummer drei schlagen kann. Das gibt es bei den Frauen so nicht. Wie reagieren die Herren, wenn Ihnen die Damen aufgrund Ihrer Erfolge den Rang ablaufen? Kühnen: Die Erfolge der Ladies stacheln die Jungs natürlich an. Barbaras Erfolg hat ja nicht nur was mit dem Training zu tun. Auch neben dem Platz hat sie viele Jahre hart dafür gearbeitet, dass das deutsche Damentennis heute so gut da steht. Sie war geduldig und hat viel in Bewegung gebracht. Das trägt jetzt Früchte und man spürt, dass daraus eine Begeisterung und Motivation entstanden ist, die natürlich auch die Herren mitbekommen. Frau Rittner, wir hören, dass es nur deswegen keinen Zickenkrieg unter Ihren Top-Ladies gibt, weil Sie mit Ihrer Autorität rechtzeitig dazwischen funken. Wie stellen Sie das an, dass kein Neid aufkommt? Rittner: Weil das tolle Mädchen sind, die respektvoll miteinander umgehen. Sie kennen sich seit Jahren, sind alle etwa gleich alt, kennen Ihre Stärken und Schwächen, deshalb muss keine der anderen etwas vormachen. Dafür sind sie zu vernünftig und reflektiert. Und wenn eine großen Erfolg hat, dann beflügelt das die anderen nach dem Motto: »Geil, ich bin die nächste die das schaffen kann!« Daraus resultiert also vielmehr gegenseitige Motivation statt Neid. Und wenn wirklich mal die Stimmung kippen sollte, dann habe ich ein gutes Gespür dafür entwickelt, direkt einzugreifen und die Temperamente abzukühlen. Wie eng arbeiten Sie beide als Bundestrainer zusammen? Kühnen: Wir tauschen uns aus, arbeiten aber unabhängig voneinander. Grundsätzlich sind die deutschen Damen und Herren aber schon näher zusammengerückt. Bei den Grand Slam-Turnieren schauen Jungs, was die Mädels so machen und man spielt auch mal Mixed zusammen. Das Gemeinschaftsgefühl ist zuletzt viel stärker geworden. Frau Rittner, Sie sind die erste Frau in der Chef-Position des deutschen Fed-Cup-Teams. Was an sich schon ein Anachronismus ist. Wurde Ihnen anfangs signalisiert, man traue Ihnen den Job als Frau gar nicht zu? Rittner: Nee, gar nicht. Da war von Anfang an viel Neugierde von beiden Seiten dabei und ich habe den Standpunkt vertreten, dass ich mich gut hineinversetzen kann in die Frauen, weil ich das eben alles von Spielerseite selbst mitgemacht habe und vielleicht auch noch einen Ticken näher dran bin als ein männlicher Teamchef. Von Frau zu Frau einsteht eine größere Nähe. Herr Kühnen, würden Sie sich zutrauen das Fed-Cup-Team zu trainieren? Kühnen: Das würde ich mir auch zutrauen! Aber ich muss sagen, dass Barbara das so gut macht, dass sie da konkurrenzlos ist. Rittner: Aber es wäre mal interessant das Team zu tauschen! Also bitte, tauschen sie doch mal für eine Saison! Rittner: Ich glaube, dass das wirklich ein großer Unterschied ist, auch zwischenmenschlich. Wie Jungs mit einer Sache umgehen und Mädels. Frauen tendieren dazu, sportliche Entscheidungen sehr persönlich zu nehmen. Ich denke, Jungs haken Dinge schneller ab und gehen ein bisschen oberflächlicher damit um. Wie sich die Zeiten ändern. In den 80er und 90er Jahren haben sich die Herren über das Damentennis gerne lustig gemacht. Boris Becker hat ja mal gesagt, er spiele Tennis, Steffi Graf Damentennis. Ist der Machismo im Profitennis endgültig passe? Rittner: Den habe ich so nie wahrgenommen. Hat Boris das wirklich gesagt? Naja, er hat ja viel gesagt... Kühnen: Ich kann mir das nicht vorstellen. Ich weiß, dass beide füreinander sehr viel Respekt hatten. Wenn man schaut, wie sich das Damentennis in den letzten Jahren entwickelt hat, dann sieht man, dass hinsichtlich der Vermarktung und Außendarstellung der Spielerinnen einiges getan wurde. Die WTA setzt die Spielerinnen immer wieder neu in Szene. Damit soll Interesse generiert werden und man sieht, dass das funktioniert. Hierzulande gibt es viel mehr Damen- als Herrentennis im Fernsehen zu sehen. Ende letzten Jahres inszenierte die Spielerinnen-Vereinigung WTA die besten acht Damen zum Saisonfinale in sexy Kleidern und auf High Heels. Ist das nicht ein sehr männlicher Blick auf den Sport? Kühnen: Das mag sein, aber das ist auch eine Frage des Zeitgeistes. Entscheidend ist vielmehr, dass die deutschen Spielerinnen sich in den letzten Monaten kontinuierlich verbessert haben und sehr erfolgreich spielen. Ohne den Erfolg gäbe es kein öffentliches Interesse. Und dass man dann verschiedene Möglichkeiten nutzt, um den Fans die Spielerinnen näherzubringen, ist doch klar. Solche Inszenierungen und der Blick hinter die Kulissen erzeugen Emotionen und das ist mitentscheidend für die Popularität der Damen und das Interesse am Tennis insgesamt. Wie sehr hat sich das Damentennis seit dem Rücktritt von Steffi Graf weiterentwickelt? Rittner: Am meisten hat sich der Aufschlag verändert. Das liegt an der körperlichen Fitness. Die Frauen sind durchtrainierter, machen mehr Krafttraining. Die haben wirklich was rausgeholt, wo man zu meiner Zeit noch sagen konnte: Da ist gegenüber den Herren noch Luft. Auch die Trainingslehre hat sich enorm verbessert. Kühnen: Durch die Williams-Schwestern ist eine neue Denke reingekommen. Als ich letztes Jahr in Wimbledon Sabine Lisicki gegen Li Na gesehen habe, hat mich das wirklich stark beeindruckt. Die Sabine serviert mit fast 200 km/h. Es gibt inzwischen Damen wie sie, die mit ihren Aufschlägen an die Geschwindigkeiten der Herren rankommen. Da hat sich unheimlich viel getan in den letzten Jahren. Rittner: Eigentlich hat Martina Navratilova noch früher diese Denke angestoßen. Sie war die erste, die eine Faust gemacht hat, die hatte Adern am Arm und da haben alle gesagt: »Boah, wie benimmt denn die sich?!« Das war alles nicht damenhaft. Und dann kamen die Williams-Schwestern, das war dann nochmal `ne andere Nummer. Kühnen: Das war eine Revolution. Die haben körperlich ganz neue Voraussetzungen mitgebracht und da mussten sich die anderen natürlich überlegen, wie sie dagegen halten. Das hat viele Trainer dazu gebracht umzudenken. Wo sind die größten Unterschiede im Spiel heute noch sichtbar? Rittner: Frauen spielen schnell und gerade, die Männer mit viel mehr Spin und Winkel. Das Stöhnen bleibt aber eine echte Domäne der Damen. Frau Rittner, Sie haben sich für ein Verbot ausgesprochen. Warum? Rittner: Ich finde, die Stöhnerei muss nicht sein, jedenfalls nicht über eine gewisse Lautstärke. Ist es nicht auch Zeichen einer enormen Kampfbereitschaft, nach dem Motto: Ich gebe jetzt alles! Rittner: Erst mal ist es eine dumme Angewohnheit. Es gibt sicher Situationen, in denen man anfängt zu stöhnen, weil es anstrengend ist und weil es die Atmung unterstützt, das kenne ich von mir selbst. Aber es gibt ja Mädels, die schlagen sich mit drei Stundenkilometern ein und dann: »Aaaaahhh!« und »Uuuuuuhhh!«. Das hat die Sharapova sehr stark auf die Bühne gebracht und ich find‘s furchtbar. Ich kenne viele, die sagen: »Ich gucke kein Tennis mehr, weil da ist immer die eine Russin und die schreit immer so und da mach ich entweder den Ton aus oder schalte um.« In dem Moment, wo es Zuschauer kostet, müssen wir was unternehmen… Das Match zwischen Kühnen und Rittner endete — mit einem Unentschieden. Obwohl es das im Tennis bekanntlich nicht gibt. Nach über einer Stunde Spielzeit und annähernd 40 Grad auf einem Nebenplatz der Australian Open Anfang Februar in Melbourne beschlossen die beiden ranghöchsten deutschen Tennistrainer den Tie-Break des ersten Satzes mit einem Kaltgetränk an der Hotelbar zu beenden. Beide Kontrahenten haben sich auf ein Rückspiel verständigt, um letztgültig das stärkere Tennis-Geschlecht zu ermitteln. Verletzt wurde niemand, auch nicht Barbara Rittner. BARBARA RITTNER 1993 2005 erreichte sie mit Position 24 die höchste Platzierung ihrer Profikarriere; Rittner gewann zwei WTATurniere und gehörte 15 Jahre lang zu den besten deutschen Spielerinnen. übernahm Rittner als erste Frau das Amt des Fed Cup-Teamchefs; Deutschland hat seit 1994 die inoffizielle MannschaftsWeltmeisterschaft nicht mehr gewonnen. »Ich finde, die Stöhnerei muss nicht sein. Das ist eine dumme Angewohnheit Ich find´s furchtbar!« (Rittner) 31 Nebenplatz Titel / VI ELREN TA FÜR T BLIN DT EX T EIN TAG IM LEBEN VON ANNIKA BECK Nach oben Seit drei Jahren arbeiten Annika und ihr Trainer Robert Orlik für das gemeinsame Ziel: Stetig klettern in der Weltrangliste. Text David Krenz Foto Jürgen Hasenkopf >Ängstlich steht Annika am Beckenrand, klammert den Blick an die Eltern, sie fürchtet das tiefe Wasser. »Mach es, wenn du wirklich willst«, bedeutet ihr Vater. Da dreht Annika sich um, greift die Hand des Schwimmlehrers, führt ihn zum Startblock — und zieht die 25 Meter ohne Hilfe durch. Stolz nimmt sie ihr Seepferdchen entgegen. Da ist Annika dreieinhalb Jahre alt. Johannes Beck, der Vater, erzählt diese Geschichte, fragt man ihn, woher die Tochter ihre Disziplin habe. »Annika war immer sehr zielstrebig«, sagt er, »wir mussten sie nie treiben.« 14 Jahre nach der Mutprobe im Stadtbad, ein Morgen in der Kerpener Tennisakademie. Noch zehn Minuten bis Trainingsbeginn, Annika Beck rinnt bereits der Schweiß von der Stirn. Drahtig und doch zierlich ist sie, kaum 1,70 groß. Wieder einmal ist sie früher aufgestanden als ihre Mitstreiter, eine Sonderschicht schieben: Fußstellung und Armbewegungen präzisieren, eher Feinjustierung als Fehlerkorrektur. »Annika hat kaum Schwächen, bei ihr stimmt das Gesamtpaket«, sagt Robert Orlik, ihr Trainer seit 2009. Er schätzt ihre Athletik: »Diese unglaublichen Beine, verdankt sie der sportlichen Kindheit.« 32 GO SPE ZIAL / GI R L S O P E N Hockey, Ballett, Leichtathletik — hat sie alles gemacht. Eine Zeitlang parallel, »ich wollte nie das eine für das andere aufgeben«, sagt sie. Manchmal holt sie ihre Violine hervor, spielt Bach und Portnoff, wie früher im Unterricht. David Garrett bewundert sie dafür, »wie viel der rausholt aus der Geige.« Weil sie selbst richtig gut werden wollte in einer Sache, legte sie sich mit 14 fest, Tennis. »Ich habe immer die Herausforderung gesucht, beim eins-zu-eins finde ich sie.« Ihre Duelle entscheidet sie meist für sich. Nach etlichen Erfolgen bei den Junioren gewann sie 2010 ihr erstes ITF-Turnier. Im vergangenen Jahr belegte sie Platz eins auf der DTB-Bestenliste der Spielerinnen unter 18. »Eins der größten deutschen Talente«, sagt Barbara Rittner über sie. Wenn Annika abends im Bett liegt und den Krimi beiseite legt, kreisen die letzten Gedanken des Tages oft um das große Ziel: Zu den besten fünf der Welt gehören. Wenn am Morgen darauf um 7 Uhr der Wecker schrillt, beginnt sie wieder, dafür zu schuften. Aus dem Pyjama schlüpft sie in die Jogginghose, eine Runde durch den Wald, das Elternhaus liegt am Bonner Stadtrand. Zum Frühstück: Käse, Milch, Vollkornbrot. Nutella ist 33 Nebenplatz Titel / VI ELREN TA FÜR T BLIN DT EX T 12:13 BLINDTEXT Igniamcon veriusciliulla faccum ipis Ecilis nulla faccum autausciliulla faccum ipis autascilis nulla faccum ipis HEFT IN DER HAND Annika gilt als äußerst intelligente Spielerin. Das Abitur schaffte sie mit 17 Jahren, Notenschnitt: 1,4. tabu. Lust auf Süßes, sagt sie, »ordne ich meinem Ziel unter.« Sechs Stunden mindestens pro Tag verbringt sie in der Tennishalle, oft mehr, so wie heute. Auf dem Nebenfeld spielen Mitschüler Fußball. Eines der Mädchen kreischt, als sie neben den Ball tritt. Der Junge aus ihrem Team bewirft sie mit seiner Kappe, was abermaliges Kreischen nach sich zieht. Die Neckereien ereignen sich abseits von Annikas Aufmerksamkeit. Sie streicht sich eine Strähne hinter das linke Ohr und retourniert den nächsten Ball. Drei Trainingspartner hat sie in den vergangenen anderthalb Stunden verschlissen, müde wirkt sie nicht. Trainer Orlik meckert trotzdem. »Du stehst zu weit hinten!«, mahnt er. »Wenn du den Ball erst so tief triffst, hat dein Schlag kein Gewicht.« Annika weiß um ihre Schwächen. »Ich muss ein druckvolleres Spiel entwickeln, brauche mehr Drang nach vorn«, sagt sie später. »Mir fällt das schwer, aber ich merke: Nur so mache ich Punkte." Entspricht nicht ihrem Naturell, in die Offensive zu gehen. »Auf dem Platz bin ich eher ruhig, ich habe jedenfalls noch nie meinen Schläger geschmissen«, sagt sie. Überhaupt sei sie »keine, die auftrumpft«. Sie erzählt das über einem Teller gebratener Nudeln, Mittagspause beim Chinesen nahe der Trainingshalle. Immer 34 GO SPE ZIAL / GI R L S O P E N TEMPO MACHEN Zur morgendlichen Laufrunde muss sie niemand zwingenSelbstdisziplin ist eine wesentliche Stärke der 18-Jährigen. SCHLÄGERTEST Jeder Schläger wird genau auf Annika eingestellt. 35 Nebenplatz / TA L EN T SPIELPAUSE NUR GUCKEN Kopf- statt Beinarbeit: Eine Partie Karten gilt in der Trainingsgruppe als festes Mittagsritual. 18:26 wieder sieht sie zum Nachbartisch, an dem ihre Trainingskameraden über einem Kartenspiel hocken, Stiche raten. Ein harmloses Vergnügen, ihre Vorstellung von Spaß. 15:45 36 GO SPE ZIAL / GI R L S O P E N GEfRAGT »Eines der größten deutschen Talente«, sagt Barbara Rittner über Annika Beck. Mit ihren Freundinnen geht sie Klamotten kaufen, ins Kino. Wilde Partys sind ihre Sache nicht. »In einem Club bin ich noch nie gewesen«, sagt sie, »und ich glaube nicht, dass mir etwas entgeht.« Ihre Grenzen lotet Annika auf dem Tennisplatz aus. Entscheidungen trifft sie nüchtern. Ihr Gymnasium wählte sie damals selbst, die Liebfrauenschule in Bonn, weil dort nur Mädchen lernen. »Mädchen führen immer ordentlich Heft, erklärt sie. »War dadurch einfacher für mich, den Stoff nachzuholen.« Die Schulzeit wurde von einem straffen Trainings- und Turnierplan begleitet. Ohne die Doppelbelastung wäre ihr wohl auch langweilig geworden; in der zehnten Klasse bat sie den Lehrer, eine Stufe überspringen zu dürfen. Mit 17 hielt sie ihr Abiturzeugnis in den Händen, Notenschnitt: 1,4. Auf die Frage nach einem Freund antwortet sie erwartungsgemäß; »dafür habe ich keine Zeit.« Dabei röten sich ihre Wangen und man ist erleichtert, dass so etwas wie jugendliche Scham durch die Professionalität schimmert. Enge Beziehungen pflegt sie zu anderen: Während viele Teenager sich abnabeln vom Elternhaus, mit ihren »Alten« möglichst wenig zu tun haben wollen, wachsen die Becks weiter zusammen. Annikas Ambitionen haben aus ihnen ein Familienunternehmen gemacht. Mutter Petra chauffiert die Tochter zum Training und zurück, 200 Kilometer jeden Tag. »Und der Papa ist Zeugwart«, sagt Johannes Beck. Vor Turnieren zieht er sich nächtelang in den Keller zurück, Schläger bespannen. Wenn Annika mit dem Tenniszirkus auf Reisen geht, buchen die Eltern vom heimischen PC aus Annikas Flüge, Hotelbetten und das Restaurant für die Mittagspause. Dem im Spitzensport gängigen Bild von den übereifrigen Eltern entsprechen die Becks nicht. Wenn Bekannte dem Werdegang der Tochter Bewunderung zollen, relativiert der Vater und erklärt, dass Annikas persönliches Glück nicht vom Tennis abhänge. »Annika soll jetzt erst einmal ihren Weg gehen. In ein paar Jahren schauen wir noch einmal«, sagt er dann. Scheint, als habe sich nicht allzu viel geändert seit dem Tag der Seepferdchen-Prüfung. Den Sprung ins kalte Wasser muss Annika allein wagen, die Eltern wachen vom Beckenrand darüber, dass sie nicht untergeht. Ab und zu sprechen sie am Abendbrottisch über Alternativen zur Tennislaufbahn. Illusionen macht sich keiner, der Vater hat kalkuliert: »Vom Tennis leben können nur die besten 100, alle anderen zahlen drauf.« Seine Frau und er lehren Chemie an der Universität Bonn. Manchmal nehmen sie die Tochter mit in den Hörsaal oder zeigen ihr das Labor. »Wir haben versucht, unsere Annika heranzuführen, aber sie beißt nicht richtig an. Sie fragt immer nur, was wir da für komische Sachen machen«, sagt Johannes Beck amüsiert. Irgendwann wolle sie studieren, meint Annika. Physik vielleicht oder Politik. Momentan aber sei der Sport ihr Leben. Nach zwei Tagen trainingsfrei lodere es in ihr, »dann will ich wieder was machen, aktiv werden, auf dem Platz stehen.« Sie strahlt, als sie das sagt, es ist das Strahlen einer hoffnungsvollen, glücklichen Jugendlichen. Und was das ist, eine glückliche Jugend, hat Annika längst entschieden für sich. An freien Tagen geht Annika mit ihren Freundinnen ins Kino oder Klamotten kaufen. Zeit für einen festen Freund bleibt nicht. DAS IST ANNIKA BECK Tennisakademie Das Tennisspielen begann die gebürtige Gießenerin mit 4 Jahren. Auf eine Ausbildung an Tennisschulen in den USA oder Spanien verzichtete sie, weil die Familie gemeinsam entschied: Abitur ist wichtiger. Sie spielt für den RTHC Leverkusen, trainiert mit 20 anderen Talenten in der Tennisakademie von Eduard Davydenko und Robert Orlik. Nerventraining Da sie öfters das Lampenfieber plagt, arbeitet sie mit einem Mentaltrainer zusammen. Was ihr hilft vor dem Spiel: fünf Minuten in eine stille Ecke hocken, auf die eigenen Stärken besinnen — dazu Musik auf die Ohren. Auf der Playlist: Kate Perry, Lady Gaga, Rihanna. Skype-Schalte Im Turnieralltag unverzichtbar ist die allabendliche Laptop-Konferenz mit den Eltern. Wie lief das Match heute, was steht morgen auf dem Programm? Und immer muss auch ihr Chihuahua »Patch« vor die WebKamera am anderen Ende. »Schade, dass der nicht sprechen kann« sagt Annika. 37 Nebenplatz Titel / VIIELRDCARD W FÜR BLIN DT EX T DAS GROSSE LOS Mit einer Wildcard zu den Profis — das ist der Traum vieler junger Spielerinnen. Für Julia Kimmelmann wurde er Wirklichkeit Text David Weyand >Im April 2010 erlebt Julia Kimmelmann die erste große Beförderung ihrer noch jungen Karriere. Da ist sie 16 Jahre alt. Sie erinnert sich noch genau, wie sie auf dem Centre-Court in Stuttgart die ersten Bälle schlagen darf, erst Vorhand, dann Rückhand, ihr erstes Aufschlagsspiel, ein As ist auch dabei. 67 Minuten steht sie auf dem Platz, sie genießt jede einzelne davon. Nach jedem Punktgewinn applaudieren die rund einhundert Zuschauer, wildfremde Menschen rufen ihren Namen, wedeln mit Schildern auf denen »Julia« steht. Obwohl sie den meisten unbekannt sein müsste, strecken sich viele nach dem Match über die Absperrung, um ein Autogramm zu ergattern. »Das war Wahnsinn, echt irre«, erinnert sich die 18-Jährige heute und schüttelt den Kopf. Dass sie, das unbekannte Nachwuchstalent aus Leverkusen, überhaupt beim Porsche Grand Prix teilnehmen durfte, verdankte sie einer Wildcard. Im Auftaktspiel siegt sie souverän gegen die viel erfahrenere deutsche Profikollegin Julia Schruff. Und auch das folgende Spiel gegen die junge Tschechin Pochabova gewinnt die groß gewachsene Julia durch ihr aggressives und offensives Spiel, bei dem sie immer wieder ans Netz stürmt. Erst in der dritten Begegnung, der letzten Hürde vor der Hauptrunde, scheitert Julia. Nicht allein an ihrer Gegnerin: Seit längerem laboriert sie an einer Rückenverletzung, nach drei intensiven Spielen fehlt die Kraft zum endgültigen Durchbruch. Dennoch strahlt ihr kindliches Gesicht, wenn sie von ihrer ersten Wildcard bei einem der großen Turniere erzählt: »Zum ersten Mal hab’ ich mich gefühlt wie eine richtige Profispielerin.« WIE GEBANNT Julia Kimmelmann beim Porsche Grand Prix in Stuttgart. 38 GO SPE ZIAL / GIR L S O P E N Wildcards gibt es bei allen TennisTurnieren, auch in anderen Sportarten wie Golf oder Radsport. Junge Talente, Lokalmatadoren oder ehemalige Champions, die sich sportlich nicht qualifizieren konnten, bekommen einen Platz im Feld, obwohl ihre Ranglistenplatzierung dafür nicht ausreichen würde. Etwa auch Justine Henin. Nach langer Verletzungspause und furiosem Come-back erhielt die ehemalige Weltranglisten-Erste aus Belgien für das Turnier in Stuttgart 2010 eine Wildcard — und gewann. Es war das erste Mal in der Geschichte des Turniers, dass eine Spielerin mit »Freilos« am Ende ganz oben stand. Wer eines bekommt, darüber entscheidet die Turnierleitung nach Rücksprache mit DTB, Landesverbänden und Bundestrainern. Die Anzahl variiert je nach Größe des Hauptfeldes: In Stuttgart treten 32 Spielerinnen an, bis zu vier erhalten eine Wildcard für die Hauptrunde, vier gibt es auch für die Qualifikation. Junge Talente wie Julia Kimmelmann bekommen so die Möglichkeit, sich an ein höheres Niveau heranzuspielen und Erfahrungen zu sammeln. »Das kann einen enormen Motivationsschub auslösen«, sagt ihr Trainer Robert Orlik. Seit Julia sechs ist, spielt sie Tennis. 2009 ihr erster großer Erfolg: Deutsche U-16 Hallenmeisterin. Dass sie auf dem richtigen Weg ist, zeigt die regelmäßige Berufung ins Junior Fed Cup-Team. Cheftrainerin Barbara Rittner entscheidet in Absprache mit den Stützpunkt-Trainern, wer eine Wildcard für Stuttgart bekommt. Im Frühjahr 2010 gewinnt Julia die Deutschen U-18 Hallenmeisterschaften im Einzel und Doppel. Rittner schickt ihr eine SMS, gratuliert und teilt ihr mit, dass sie sich mit dieser Leistung eine Wildcard für das Turnier bei den Großen verdient habe. Es ist ihre große Chance, darauf hat sie all die Jahre hingearbeitet. Endlich kann sie zeigen, dass sie eine der besten Nachwuchsspielerinnen des Landes ist. Die Nach Rückenproblemen musste sie pausieren, doch Trainer Orlik ist sich sicher: »Julia kommt zurück.« unzähligen Trainingsstunden auf dem Platz, die Qualen, der Muskelkater, die Zweifel sind einer unbändigen Euphorie gewichen. »Ich hab’ mich unglaublich gefreut, dass ich da spielen durfte. Die folgenden zwei Nächte konnte ich nicht mehr schlafen«, erinnert sich Julia. Mit ihrem Einzug in die 3. Runde der Qualifikation — als einzige Deutsche — beweist Julia, dass ihre Nominierung gerechtfertigt ist. Ärgerlich nur, dass Rückenschmerzen sie just in dem Moment behindern, als sie den Sprung in das Hauptfeld vor Augen hat. Wegen chronischer Sehnenschmerzen in der rechten Hand, deren Ursache nie ganz geklärt werden konnten, schlägt sie ihre Rückhand seit ein paar Jahren nur noch mit links statt beidhändig. Nur ganz wenige Frauen — früher etwa Steffi Graf — benutzen diese technisch viel schwierigere Schlagvariante heute noch. Die Umstellung warf sie um Monate zurück, Angst um ihre Tenniskarriere hatte sie dennoch nicht. »Im Training schonte ich die rechte Hand und retournierte mit links viele hundert Bälle extra, bis die einhändige Rückhand saß«, sagt sie unbekümmert. Nach dem Ausscheiden in Stuttgart musste sie wegen der Rückenprobleme drei Monate pausieren. Doch Trainer Orlik ist sich sicher: »Sie ist eine Kämpfernatur, die sich von Verletzungen nicht unterkriegen lässt. Sie kommt wieder.« Und er hat Recht. Nach ihrer Genesung kämpft sich Julia in der zweiten Jahreshälfte 2010 an alte Erfolge heran. Und bekommt 2011 zum zweiten Mal eine Wildcard für Stuttgart. »Dafür hab’ ich alles gegeben, ich wollte da wieder hin!«, sagt sie. Zwar verliert sie gegen Anna Chakvetadze, eine ehemalige Top-TenSpielerin, ist aber zufrieden mit ihrer Leistung: »Spielerisch konnte ich absolut mithalten, nur Kraft und Ausdauer reichten noch nicht für das oberste Level«. Schon im Mai und Juni steht sie jeweils im Halbfinale der 10.000-Dollar-Turniere in Bukarest und Madrid, im November in Stockholm. In der Weltrangliste klettert sie auf Platz 607. Persönliche Bestleistung. Und dass, obwohl nebenbei noch der Schulabschluss ansteht. Für die ehrgeizige Julia Kimmelmann auch das kein Problem: Sie baut ein Einser-Abitur. 39 VI ENS FA R FÜR BLIN DT EX T Das Stimmungsprojekt: Sabine Lisicki mit jungen Fans beim Turnier in Stuttgart. »Go, Lissi, Go!« Center Court Titel / 01 VI ENC FA R LUB FÜR BLIN DT EX T Center Court / Das kann LAUTER werden: Organisierte FanCLUBS sollen dem biederen Tennispublikum einheizen 02 03 01 Schnyder auf dem Schläger: Die beste Schweizerin Patty Schnyder mit ihren Fans. 02 Samantha Stosur mit Aussie-Fans. 03 Serena Williams (USA) streichelt die Stars-andStripes-Flagge. 04 In Stuttgart ist Tennis eine ganz große Nummer. 05 Caroline Wozniacki (Dänemark) lässt sich feiern: »Let's go«. 04 42 GO SPE ZIAL / GIR L S O P E N 05 Text David Krenz FOTO Paul Zimmer > Im Fußballstadion herrscht nicht nur auf dem Rasen Rivalität. Die Fans beider Teams duellieren sich darin, wer lauter singen, schreien, tosen kann. Die unterlegene Kurve wird mit Spott überhäuft: »Ihr seid nur ein Tennispublikum!« Wahrlich, die Freunde des Tennissports sind nicht für Ekstase berüchtigt. Statt bunter Fahnen schwenken die Besucher Champagnergläser hin und her, meint man. Im geistigen Ohr klingt eher vornehmer Applaus als Schlachtgesang. Um mit dem biederen Bild zu brechen, wird der Nachwuchs mobilisiert. Beim Porsche Tennis Grand Prix läuft seit 2006 das Fan-Projekt »Players Cheer-up«. Die Jugendabteilungen der regionalen Tennisvereine können sich dafür bewerben, bekommen vor Turnierbeginn eine Spielerin zugelost, die es nach Leibeskräften zu unterstützen gilt. Jeder Spielerin ihr Fanclub, lautet die Devise. Organisierte Ovationen — klingt ein wenig nach den inszenierten Jubelparaden in Nordkorea. Doch die jungen Fans freut es. »Wir haben die Arena gerockt«, sagt Matthias Althöfer, 17 Jahre alt und Einpeitscher der Fangruppe vom Tennisclub Winnenden. Im vergangenen Jahr hatte ihnen das Losglück Sabine Lisicki beschert. Eine Deutsche, wie praktisch: Die Devotionalien der letzten Fußball-WM wurden hervorgekramt, Matthias stülpte die schwarz-rot-goldene Afro-Perücke über. Während der Matches schmetterten sie: »Marmor, Stein und Eisen bricht, aber unsere Lissi nicht«, oder schlicht: »Go, Lissi, Go!«. Als einer aus der Gruppe lautstark eine Schiedsrichterentscheidung angezweifelt hatte, habe die Lisicki sogar in ihre Richtung gegrinst. »War ziemlich cool«, sagt Matthias. Nicht alle bewiesen ein Herz für die Ungestümen. Stefan Böning, Jugendleiter beim TC Winnenden und damals als Betreuer dabei, berichtet von Zuschauerbeschwerden, »vor allem von geschniegelten älteren Herrschaften mit Krawatte um den Hals.« Einige hätten sich »kopfschüttelnd einen anderen Platz gesucht«, sagt er. Man weise die Besucher auf den entsprechenden Plätzen darauf hin, dass sie neben einer Fangruppe sitzen, heißt es bei der Turnier-Organisation. Beim Württembergischen Tennis-Bund freue man sich zwar über die »bunt geschmückten Exoten«, wie Pressesprecher Alexander Adam versichert. Er fügt jedoch an: »Es darf nicht ausufern.« Negativbeispiel sei die Daviscup-Begegnung in Bamberg gewesen, als sich einige Basketballfans unter das Publikum gemischt und permanent gejohlt hätten. Man müsse sich den Gepflogenheiten des Sports anpassen. »Es kann gern gejubelt werden«, sagt Adam, »aber Jubeln geht auch im Sitzen." Offenbar möchte man auch die Leute von hohem Rang nicht verschrecken. »Es ist nun einmal so: Die Gäste auf der Ehrentribüne haben einen hohen Preis bezahlt, erwarten ein Exklusiverlebnis und die entsprechende Atmosphäre«, sagt Adam. Es sei allerdings nicht abzusehen, dass das angestammte Publikum vom jungen Feiervolk verdrängt würde. Allein schon wegen der Eintrittspreise. 70 Euro kostet das Ticket für eine Viertelfinalpartie. Dabei haben die Fan-Aktionen das Potential, die Jugend für Tennis zu begeistern. Auch beim Mercedes-Cup soll diesmal ein »Cheer-up« laufen, »es kann nicht sein, dass es immer nur ruhig zugeht«, sagt Turnierdirektor Erwin Weindorfer. Am Hamburger Rothenbaum wurde 2011 zu sämtlichen Spielen auf den Nebenplätzen freier Eintritt gewährt. Tennis soll zum Erlebnis für jedermann werden. Die Faszination erschließt sich einem Neuling leichter, wenn die Kulisse stimmt. Von den Abertausenden, die sich 2006 von der Euphorie des WM-Sommermärchens anstecken ließen, konnte vielleicht nicht jeder die Abseitsregel aufsagen, zum Feiern war die auch nicht vonnöten. Scheint nicht gänzlich ausgeschlossen, dass auch im Tennis der Funke überspringt. Manche Leute seien zwar arg »schlaftablettig« gewesen, erzählt Matthias, »aber andere haben mit uns applaudiert und gesungen, die konnten wir mitreißen.« Und Betreuer Stefan Böning sagt, er sei jahrelang nur neutraler Tennisbeobachter gewesen, »aber die Cheer-up-Geschichte hat den richtigen Kick gebracht, plötzlich habe ich mitgefiebert.« Mit den gegnerischen Fans habe man sich lautstarke »Battles« geliefert. Eindrücke wie aus dem Fußballstadion. Doch während dort die eingefleischten Anhänger fürchten, von den Auswüchsen der Kommerzialisierung und vom gut betuchten Klatschpublikum verdrängt zu werden, scheint es beim Tennis umgekehrt zu sein. Den richtigen Umgang mit dem unbekannten Wesen »Fan« müssen die Tennisveranstalter offenbar noch lernen: In der Porsche-Arena tönte während jeder Spielunterbrechung Musik aus den Boxen. »Von unseren Gesängen war da nicht mehr viel zu hören«, sagt Böning. 43 Nebenplatz / JU NGE KARRIE RE 01 Händchenhalten als Dehnübung vor dem Training. Rittner mit breitem Grinsen eine geniale Rückhand. Sonst sagt sie nicht viel. Hände lässig in den Hosentaschen, tauscht sie sich in gedämpftem Ton mit Orlik aus. Ihre Analysen wird sie später mit den jeweiligen Heimtrainern besprechen. 02 Auf dem Platz ist dann jede ganz allein. 03 01 02 Text Agnes Fazekas Foto Antonia Zennaro Einmal im Jahr lädt die Bundestrainerin den besten Nachwuchs zum Vorspielen ein. Wir waren dabei. Rittners TalentSchuppen 44 GO SPE ZIAL / GI R L S O P E N Die Chefin: Büschl Open, im Münchner Norden. Klingt niedlich, ist aber das wichtigste Nachwuchsturnier in Deutschland, Gesamtpreisgeld: 50.000 Dollar. Heute entscheidet sich hier noch viel mehr: Bundestrainerin Barbara Rittner will vier Talente testen, ob sie für eine ProfiKarriere taugen. Haben sie genug Biss und Persönlichkeit? Bevor das Turnier startet, schaut sich Rittner darum Annika, Carina, Christina und Sina genau an. Barbara Rittner hat 15 Jahre Profitennis gespielt, sie ist vier Jahre jünger als Steffi Graf und wirkt wie eine, die gern ihr Auto repariert und trotzdem Geschäftsfrau sein kann. Markante Züge, offene grüne Augen, Kapuzensweater in Flieder. Dazu eine raue Stimme, die sie heraus schnoddert wie auf einem Fischkutter. Immer mit dabei ist ihr Hündchen Sophie. Die vier Mädchen: Die jungen Frauen sind die Besten ihrer Jahrgänge: 1992 bis 1995. Annika Beck, 18, aus Bonn, hat eine Klasse übersprungen, startet beim Turnier im Hauptfeld, sie ist klein, dunkelhaarig, gilt als zäh. Trägt lange Locken und Glitzerohrringe. Gefürchteter Aufschlag. Will unbedingt unter die Top 5 der Weltrangliste. Carina Witthöft, 16, aus der Nähe von Hamburg, muss sich für das Turnier erst noch qualifizieren. Groß, blond, athle- tischer Körper. Ihre bunten Kinesiotapes an Schulter und Knie sehen aus wie Kriegsbemalung. Christina Shakovets, 17, genannt »Shako« aus Lörrach, kurze blonde Haare, Tatoo, spielt im Turnier mit einer Wildcard. Sina Haas, 19, Mannheim, ein Bänderriss legte sie für Monate lahm, sie spielt mit einer Wildcard. Die Kriterien: Wie erkennt man, wer Talent hat? »Da ist ganz viel Bauchgefühl dabei«, sagt die Bundestrainerin. Sie beurteilt, wie willensstark die Mädels sind, ob sie sich quälen können und ob das von Innen kommt. Bei vielen stehen die Eltern am Rand, und man merkt, die Kinder tun das nur für die. »Ich lass sie auch mal Fußballspielen, um zu sehen, wer gerne beißt. Ich erlebe sie in extremen Situationen. Nach ein paar Tagen Lehrgang weißt du alles über sie!« Die Eltern: Gaby Witthöft muss hinter der Scheibe zuschauen. Sie ist nicht nur Carinas Mutter, sie ist auch ihre Trainerin. Rittner möchte keine Heimtrainer bei ihren Lehrgängen dabei haben, sie will den Mädchen nahekommen, ohne dass sich die Kompetenzen vermischen. Eine Ausnahme macht Rittner für ihren alten Freund Robert Orlik, er ist Trainer von Annika, der ihr assistiert. »Als sie jünger waren, war die Konkur- renz unter ihnen viel härter. Jede hat für ihren Verein gespielt. Heute herrscht dagegen eine sehr nette Stimmung«, erzählt Gaby Witthöft. »Ich habe übrigens keine Profikarriere für Carina geplant, als sie vier war«, fügt sie hinzu, als müsse sie sich verteidigen. Das Training: Trainer Orlik scheucht die vier erstmal zum Aufwärmen mit einer Frisbeescheibe durch die Halle. Orlik öffnet die Blechdosen mit den Bällen. Carina soll gegen Annika, Sina gegen Christina spielen. Die große blonde Carina mit dem athletischen Körperbau gegen die die kleine Dunkle mit der Disziplin. »Was‘n Brett!«, ruft Rittner begeistert. Sina und Christina spielen auf der anderen Seite. »Du bist so ein Zocker, Shako, ich wusste, dass du den spielst«, kommentiert Das Abendessen: Mädelsrunde zum Abendessen im Vereinsheim: Alle haben sich herausgeputzt. Sie gehen den Spielplan durch. Rittner sagt zu Christina: »Du hast doch schon gegen die gespielt, gib mal Tipps.« Christina in Komikerlaune: »Kenn ich wie meine Westentasche.« Überlegt: »Linkshänderin«, überlegt weiter: »Die hat'n Schuss.« Vor Rittner muss man kein Blatt vor den Mund nehmen, heute Abend gibt sie die reife Freundin und guckt sich geduldig Fotos auf den iPhones ihrer Schützlinge an. Am Tisch sitzen vier ganz normale Mädels, die gespannt zuhören, als Rittner von den Großen erzählt. Wenn Petko immer zu spät kommt und sie dafür 50 Euro Strafe bezahlen muss. Und wenn die Görges immer den iPodStöpsel im Ohr hat und Rittner ihr den manchmal rausreißen muss, um zu ihr durchzudringen. Das Turnier: Am nächsten Tag ergattert Carina Witthöft bei der Quali den letzten Platz im Hauptfeld. Im Achtelfinale fliegt sie raus. Annika schafft es bis ins Viertelfinale — ein Riesenerfolg. Alle vier Spielerinnen fahren mit dem Gefühl Nachhause, wieder einen Schritt nach oben gemacht zu haben — auch wenn der Weg bis in die Weltrangliste noch weit ist. 04 03 Annika Beck im Gespräch mit Barbara Rittner (r.). 04 Rittner erzählt den Mädels von Görges und Co. 45 Center Court Titel / VI E RLST ROL FÜR UHBLIN LT E NDT NIEX S T Seit 13 Jahren führt sie die Weltrangliste im Rollstuhltennis an, seit 9 Jahren hat sie kein einziges Spiel verloren, 444 Siege in Folge. Die Niederländerin Esther Vergeer ist die dominanteste Profisportlerin der Welt. Was macht sie so gut? Die Unschlagbare Text Julius Schophoff Foto Lukas Coch 46 GO SPE ZIAL / GI R L S O P E N Die 31jährige Esther Vergeer ist eine absolute Ausnahmespielerin ... ... selbst ihr Rollstuhl signalisiert, dass niemand anders so schnelle Bälle schlägt . 47 Center Court Titel / VI E RLST ROL FÜR UHBLIN LT E NDT NIEX S T Gegen Esther zu verlieren ist keine Schande: Nach 17 Minuten steht es 6:0. Besprechung am Spielfeldrand mit ihrem Vater. 48 GO SPE ZIAL / GIR L S O P E N >Rollstuhl-Damentennis muss deprimierend sein. Ohne Satzverlust zieht die Niederländerin Aniek van Koot ins Endspiel der Australian Open 2012 ein, und dann das: 0:6, 0:6. Und das Schlimmste daran: Das ist ein Erfolg. Denn damit hat sie alles erreicht, was in ihrem Sport derzeit möglich ist. Sie ist die Nummer zwei. Die Nummer eins heißt seit 13 Jahren ununterbrochen Esther Vergeer. Die 31-jährige Niederländerin hat seit neun Jahren kein einziges Spiel verloren, das Endspiel von Melbourne war ihr 444. Sieg in Folge. Von einer anderen Liga zu sprechen, träfe es nicht. Schon eher von einem anderen Stern. »She owns her sport!« schreibt die New York Times. Der britische Observer fragt: »Ist sie die größte Sportlerin der Welt?« Ein Jahr zuvor, bei den Australian Open 2011, stand die Australierin Daniela Di Toro im Finale, 0:6, 0:6. Nach dem vorangegangenen Finale der US Open 2010, 0:6, 0:6, wurde Di Toro gefragt, wie gut diese Vergeer denn nun ist. »Oh bitte«, sagte sie und rollte mit den Augen, als ob sich die Frage verbiete, »besser kann man nicht spielen!« Sie muss es wissen: In der Ära vor Vergeer war sie die Nummer eins, und sie war auch die letzte, die die Niederländerin geschlagen hat. Nur scheint sie sich daran kaum zu erinnern: »Es fühlt sich, als sei es ein ganzes Leben her.« Es war das Erstrundenmatch der Australian Open 2003 und Esther Vergeer sträubt sich noch heute, wenn sie daran denkt. Mitte Dezember 2011 rollt sie in die Players Lounge des Topsportcentrum Rotterdam, wo die niederländische Meisterschaften steigen. Beim Handschlag ist man froh, dass sie nicht ernst macht: Ihre Handteller sind riesig, die Oberarme haben das Kaliber der Williams-Schwestern. Sie hat freundliche, wache Augen und lacht viel, aber auf ihre letzte Niederlage angesprochen, wird sie schlagartigernst: "Ich war nicht vorbereitet« sagt sie, »ich flog vom holländischen Winter in australischen Sommer, war nicht daran gewöhnt, draußen zu spielen, bei Wind und Sonne. Ich hätte früher hinfliegen müssen!« Sie verlor glatt in zwei Sätzen. Und sie hasst es, zu verlieren. »Es war meine eigene Schuld! Aber seitdem weiß ich: Ich muss mich auf jedes einzelne Spiel perfekt vorbereiten.« Die letzten 444 Mal hat es geklappt. Doch Vergeer geht es nicht um ihre Siegesserie. Die genauen Zahlen ihrer Rekorde kennt sie nicht, und wenn man ihr vorliest, dass sie einmal 250 Sätze in Folge gewann oder dass sie in vier aufeinanderfolgenden Grand Slam Finals kein einziges Spiel abgab, lässt sie sich erstaunt die Statistiken zeigen und sagt: »Wow! Nicht schlecht, oder?« 113 internationale Turniere in Serie hat sie gewonnen, davon zwei Mal die Paralympics, im September 2012 will sie die dritte Goldmedaille in London. Aber eigentlich, sagt sie, gibt es nur eines, was sie wirklich motiviert: »Ich will mich verbessern!« Schlechte Nachrichten für die Konkurrenz. Der bleibt oft nichts als Bewunderung: »Egal, welchen Sport Esther gewählt hätte«, sagt Di Toro, »sie wäre überall herausragend! Sie ist eine der wenigen, die für den Rollstuhlsport geboren sind.« Das stimmt, auf tragische Weise. Esther Mary Vergeer kommt am 18. Juli 1981 mit einem Geburtsfehler zur Welt. Zunächst bemerkt das niemand, doch als sie mit sechs Jahren für die Seepferdchen-Prüfung schwimmen übt, bekommt sie plötzlich starke Kopfschmerzen. Sie steigt aus dem Becken, um sich auszuruhen — und wird ohnmächtig. Im Krankenhaus fließen große Mengen Blut aus ihrem Kopf ab, nach sechs Wochen wird sie entlassen. Erst zwei Jahre später, nach drei weiteren Zusammenbrüchen, finden die Ärzte die Ursache: An ihrem Rückenmark haben sich Blutgefäße zu einem Aderknäuel verknotet; wenn sie unter Druck geraten, platzen sie. Es ist eine Zeitbombe. Und es gibt zwei Möglichkeiten: Zu warten, bis sie wieder explodiert — oder sie zu entschärfen. Familie Vergeer entscheidet sich für die Operation. Als sie aus der Narkose erwacht und man ihr routinemäßig Stecknadeln in die Fußsohlen piekst, regt sich keine Zehe. Esther Vergeer ist acht Jahre alt und unterhalb des dritten Lendenwirbels, Höhe Bauchnabel, gelähmt. Duschen, Anziehen, ein Glas aus dem Schrank holen, nichts ist mehr so wie früher. Während die anderen Verstecken spielen, wird sie angestarrt und ausgefragt. Nur beim Sport guckt sie niemand schief an. Schnell wird man auf ihr Talent aufmerksam, ihren Ehrgeiz, ihren Willen. Als sie elf ist, klopft der Rollstuhl-Basketball-Verein an, schon bald spielt sie in der Nationalmannschaft. Mit 16 Jahren gewinnt sie als jüngstes Teammitglied die Europameisterschaft 1997. Doch sie mag es nicht, von Mitspielerinnen abhängig zu sein. Mit 17 gibt sie das Basketballspielen auf und fliegt zu ihrem ersten großen Tennis-Turnier, den US Open 1998 in San Diego. Sie erreicht als ungesetzte Außenseiterin das Finale gegen die Nummer eins, Daniela Di Toro. Und gewinnt. Kurz darauf siegt sie auch beim Tennis Masters, so wie seitdem jedes Jahr, 14 Mal in Folge. 49 Center Court Titel / VI E RLST ROL FÜR UHBLIN LT E NDT NIEX S T Abschlusstraining vor dem Halbfinale, Centre Court in Rotterdam: Vergeer fährt Achten entlang der Grundlinie, nach fast jeder Rückhand bringt sie sich mit einer schnellen Rückwärtsdrehung wieder in Position. Die Bälle, die sonst Rocktaschen ausbeulen, klemmen bei ihr zwischen den Speichen. Die Regeln des Spiels sind dieselben, mit einer Ausnahme: Der Ball darf zweimal aufkommen, nur der erste muss im Feld landen. Ihr Trainingspartner ist ein kräftiger Kerl mit Glatze, die Beine taub seit einer misslungenen OP am offenen Rücken. Vier Mal in der Woche trainieren die beiden, manchmal zählen sie Punkte. Es ist knapp, aber er gewinnt öfter. Der einzige Grund, warum sie das erträgt: Er ist die Nummer eins der Männer-Weltrangliste, Maikel Scheffers. Vergeers heutige Gegnerin sitzt unterdessen in der Players Lounge und wartet auf einen freien Trainingsplatz. Sharon Walraven, Nummer 8 der Welt, vor 18 Jahren beim Eislaufen gestürzt, ist mit 41 Jahren die Seniorin der Tour. Sie weiß, wie es ist, gegen Vergeer zu gewinnen: Sie schlug sie im Paralympics-Finale von Peking 2008 — im Doppel, dort ist sie die Nummer eins. Der letzte Einzelsieg ist schon zwölf Jahre her, und das, obwohl sie bei fast jedem Turnier aufeinander treffen. »Natürlich ist es hart, gegen Esther zu spielen«, sagt sie, »aber es gibt immer eine Chance!« Heute will sie sie mit einer anderen Taktik überraschen. Welche das ist, will sie vor dem Spiel nicht verraten. Rund ein Zehntel der 2400 Plätze auf dem Centre Court der Rotterdammer Sporthalle sind besetzt, als die beiden Kontrahentinnen aufs Feld rollen. Vergeer im engen pinkfarbenen Shirt und weißen Tennisröckchen; Walraven in grauem Schlabber-Shirt und langer schwarzer Jogginghose. Nach 17 Minuten ist der erste Satz gelaufen. 6:0 Vergeer. Sie hat den besseren Aufschlag und den besseren Return, sie ist wendiger und schneller, schlägt härter und platzierter, ihre Rückhand ist stärker, ihre Vorhand auch. Doch nichts davon kommt zur Sprache, wenn man nach ihrem größten Vorteil fragt. »Es ist ihre mentale Stärke«, sagt Nationaltrainer Marc Kalkman, »die Fähigkeit, sich zu fokussieren. Da ist sie 50 GO SPE ZIAL / GI R L S O P E N ESTHER VERGEER 1989 2012 Im Alter von acht Jahren wurde Esther Vergeer an der Wirbelsäule operiert, seitdem ist sie querschnittgelähmt. 1996 Die 5-fache ParalympicsGewinnerin ist seit 13 Jahren die Nummer 1; nach den Spielen in London will sie im Sommer ihre Karriere beenden. bestreitet Vergeer, eine erfolgreiche RollstuhlBasketballerin, ihr erstes internationales Tennisturnier. allen anderen weit voraus.« Nicht nur den Kolleginnen im Rollstuhl. Star-Coach Sven Groeneveld, der in den Neunzigern Legenden wie Monica Seles und Arantxa Sánchez Vicario trainierte und Caroline Wozniacki in die Weltspitze führte, trainiert heute auch Esther Vergeer – um von ihr zu lernen: »Ich möchte herausfinden, was sie so gut macht. Und es, wenn möglich, den anderen beibringen.« Vergeer selbst sagt: »Tennis wird im Kopf gespielt.« Einige ihrer Konkurrentinnen, sagt sie, sind physisch und spielerisch genau so stark wie sie, im Training spielen sie auf Augenhöhe. »Aber wenn das Spiel beginnt und Punkte gezählt werden, verlieren sie den Faden, ihren Fokus, ihren Plan. Ich weiß auch nicht, warum.« Was sie meint, zeigt sich im zweiten Satz von Rotterdam. Ihre Gegnerin Walraven wird stärker, führt in fast jedem Spiel, im dritten sogar 40:0, drei Break- points. Doch die folgenden fünf Punkte macht Vergeer, es steht 3:0. Je wichtiger der Ball, desto besser spielt sie ihn; je bedeutender das Spiel, desto stärker wird sie. Im Finale von Peking 2008 lag sie im entscheidenden dritten Satz 4:5 zurück. Matchball für ihr Gegnerin Korie Holmes. Für einen Moment begann sie, nachzudenken: Was, wenn ich verliere? Was werden meine Eltern sagen? Die Medien? Wird meine Gegnerin weinen? Werde ich weinen? Und plötzlich fiel ihr auf, dass sie noch nicht verloren hatte. Sie musste noch aufschlagen. Der einzige Gedanke, den sie dann noch zuließ, war: Der Ball muss im Feld landen und er muss auf ihre Rückhand gehen. Genau das tat er, der Return flog ins Netz und wenige Minuten später gewann sie Gold im Tiebreak. Das Halbfinale von Rotterdam ist weniger dramatisch, nach 44 Minuten ist es vorbei, 6:0, 6:2. Eine Viertelstunde nach dem Spiel hat die unterlegene Walraven die Jacke schon übergezogen und rollt Richtung Ausgang. Sie ist kurz angebunden, murmelt etwas von dem Versuch, auf die Füße zu spielen, aber dazu sei sie gar nicht gekommen. »Heute gab es keine Taktik gegen Esther!«, sagt sie und dampft ab. Vergeer wird währenddessen von einer Traube aus Trainern, Kolleginnen und Freunden umringt, ein kleiner Junge holt sich ein Autogramm auf sein Turnierheft. Esther Vergeer ist der einzige Star im Rollstuhltennis. Die Sponsoren stürzen sich auf sie, die Unschlagbare: Adidas, Mercedes, die Unternehmensberatung Ernst & Young. Im Oktober 2010 fotografierte sie der US-Sport-Sender ESPN für sein Magazin »The Body Issue« — nackt. Ihr Bild schaffte es aufs Titelblatt, das Presseecho hallte um die halbe Welt. Vergeer zieht alle Aufmerksamkeit auf sich; für die anderen bleibt nicht viel übrig. Trotzdem scheint sie beliebt zu sein. »Ich mag Esther sehr«, sagt Gegnerin Walraven. »Es gibt keinen Neid im Team«, sagt Nationaltrainer Kalkman. Es könnte daran liegen, dass Vergeer trotz allen Superlativen so normal geblieben ist. Am Abend lädt sie zu sich nach Hause, in ihre Heimatstadt Woerden Von ihrem Küchenfenster im zehnten Stock in Woerden schaut sie über einen großen See. Duschen, Anziehen, ein Glas aus dem Schrank holen, nichts ist mehr so wie früher. 20 Kilometer westlich von Utrecht. Eine Wand im Flur ist übersäht mit kleinen, gerahmten Fotos: ihre Eltern, ihr Bruder, mit Freunden beim Ski-Urlaub. Auf keinem einzigen sieht man sie mit einem Tennisschläger. Das Pokalzimmer sucht man vergeblich; die Goldmedaillen der Paralympics liegen in einem Karton unterm Bett im Haus ihrer Eltern. Im Wohnzimmer sitzt ihr Freund im Jogginganzug auf der Couch und sieht fern. Der 33-Jährige ist Physiotherapeut in der Nationalmannschaft, seit drei Jahren sind sie ein Paar, vor einem Jahr ist er zu ihr gezogen. Gegenüber, im Kinderzimmer, schläft zwei Wochen im Monat seine vierjährige Tochter. »Unser Teilzeit-Kind«, sagt sie, »mit ihr kann ich schon mal üben.« Sie wünscht sich eigene Kinder; dass es auf natürlichem Wege klappt, ist so wahrscheinlich wie bei jedem anderen. Ihr Selbstbewusstsein spürt man in jeder Sekunde. Selbst als sie die Geschichte der missglückten Operation erzählt, bleibt sie so souverän wie auf Centre Court. Ob sie heute glücklich ist? Der Return kommt schnell und präzise: »Sehr glücklich!« Es mag seltsam klingen, aber die querschnittsgelähmte Vergeer ist manchmal dankbar für ihr Schicksal. »Sonst wäre ich vielleicht eine ganz gewöhnliche Dreißigjährige.« Sie sitzt in der Küche, durch das Panoramafenster blickt sie über einen großen See. Als die neue Siedlung vor vier Jahren fertig wurde, wusste sie gleich, dass sie hierher ziehen wollte. Nicht in einen der vielen ebenerdigen Bungalows, sondern in das einzige Hochhaus. Anfangs hatte sie auf eine Wohnung im neunten Stock geboten, doch als der Käufer der obersten Etage, der zehnten, nicht zahlen konnte, schlug sie sofort zu. Sie liebt die Aussicht, sagt sie. Und das Gefühl, niemanden über sich zu haben. 51 52 GO SPE ZIAL / GI R L S O P E N Bislang hatte Mattek-Sands, häufig als »Rockstar des Tenniszirkus«, als Paradiesvogel oder als die »Lady Gaga des Tennissports« bezeichnet, die Blicke eher aufgrund ihres ausgefallenen Kleidungsstils neben, aber vor allem auch auf dem Platz auf sich gezogen. Im Finale von Melbourne trug sie ein tennisballfarbenes Oberteil, einen schwarzen Rock, schwarze Kniestrümpfe. Beim Oberteil fehlte der rechte Ärmel, damit das großformatige Tattoo auf der Innenseite des Arms zu sehen ist. Was nie fehlt: Ihr Markenzeichen, die »eyeblacks«. Kleine schwarze Aufkleber unter den Augen, die ihr das Bedrohliche eines Footballspieler verleihen. Gemessen an an den Outfits, die Mattek-Sands in ihrer Karriere bereits getragen hat, war der Melbourne-Dress beinahe zurückhaltend. Im vergangenen Jahr spazierte sie mit einem neongelben, mit halben Tennisbällen besetzten Kleid von Lady Gagas Designer Alex Noble über den roten Teppich >Sie sprang fünf mal hintereinander in die Luft, die Knie fast bis an die Brust gezogen, bevor sie ihrem Mixed-Partner, dem Rumänen Horia Tecau, in die Arme fiel. Bethanie Mattek-Sands hatte soeben die Australian Open 2012 gewonnen. Kaum jemand hat das wahrgenommen, es war schließlich »nur« das Mixed-Finale, das einige Stunden später, nach der Tennis-Schlacht zwischen Rafael Nadal und Novak Djokovic, bereits vergessen war. Für Mattek-Sands, im vergangenen Jahr kurzzeitig unter den Top-30 der Einzel-Weltrangliste, ist es der bis dato größte Erfolg ihrer Karriere. Ihr Name wird auf der Trophäe verewigt und steht in den Statistik-Büchern. Die exzentrischste Spielerin des Tenniszirkus hat nun auch sportlich ihre Spuren hinterlassen. Bethanie Mattek-Sands, 27, ist die auffälligste Spielerin auf der internationalen TennisTour. An ihrem knallharten Aufschlag liegt das eher nicht Text Bastian Henrichs Foto Red Bulletin GmbH/dpa Auffallen um jeden Preis. Auf einer Wimbledon-Party trägt Bethanie Mattek Sands ein Outfit von Lady Gaga-Designer Alex Nobles. Seitdem hat sie einen neuen Spitznamen. Sie ist wandelbar, offen für alles und bereit die modischen Grenzen auf dem Tennisplatz auszutesten. Sie liebt Tennis, das Spiel. Was sie nicht mag, ist der manchmal langweilige Einheitsbrei drumherum, dass man nicht fluchen darf und eben langweilige weiße Tennisklamotten tragen muss. Wo sie kann, lebt sie ihre Extravaganz aus — und sie will noch schriller werden. Mit Designer Noble hat sie bereits über einen Dress gesprochen, mit dem sie auf dem Platz für Furore sorgen will. Sie hat sich inspirieren lassen von ihrem Lieblingssportler: Box-Champion Manny Pacquiao. Ein Turnier in einem Box-Outfit zu spielen, das sei doch mal eine Überlegung wert. Dass sie nicht nur die Aufmerksamkeit des Tenniszirkus ausnutzt, dass auch der Privatmensch Mattek-Sands eher extrovertiert ist, zeigt ein Blick auf ihre Homepage. Dort stellt sich die 26-Jährige in aller Ausführlichkeit selbst dar. Mit Videos, Privatfotos und Texten. Sie führt ihren Truck vor, dessen Motorhaube auf Stirnhöhe liegt, und freut sich wenn Männer staunen, weil sie das Riesenauto fahren kann. Hinten auf der Ladefläche hat sich ihre Dogge breit gemacht. Mal trägt sie die Haare blond, mal fuchsrot oder schwarz. Auf den Fotos gibt sie mal die Diva, mal den Punk. »Schon als ich klein war, interessierte ich mich für Fashion. Das ist meine Persönlichkeit. Auch wenn ich nicht Tennis spielen würde, wäre ich genau so«, sagt sie. Muster auf. »Ich gehe da raus und bin einfach ich«, sagt die US-Amerikanerin. »Ich habe gerne Spaß, beim Tennis wie auch im Privatleben. Manche werden das lieben, andere nicht, so ist das eben.« der Pre-Season-Veranstaltung von Wimbledon. Daher wohl der Spitzname. Weitere modische Höhepunkte: 2005 bei den US-Open trug sie einen gestreiften Cowboy-Hut. Sie musste dafür eine Strafe zahlen. In Wimbledon spielte sie mal in einer Art Fußball-Dress, mit hochgezogenen Kniestrümpfen. 2007 trug sie ein knappes Kostüm in Gold, dazu ein breites goldenes Stirnband. Ein anderes Mal lief sie in einem Kleid mit Leoparden- Der Punk des Frauen-Tennis: Mit dem stets sichtbaren Tattoo am Schlagarm, den Eyeblacks und Kniestrümpfen inszeniert sich Bethanie Mattek Sands gerne lautstark — ohne etwas sagen zu müssen. Erfolgreich extrovertiert L A DY G AG A Center Court / 53 Off Court / MODE Der Mode-Designer Michael Michalsky hat die Tennismode mal ganz genau unter die Lupe genommen »Lieber PolOhemd als Corsage« Text Sara Mously Michael Michalsky in seinem Atelier in Berlin Mitte: Er mag es lässig. 54 GO SPE ZIAL Foto Kathrin Harms >Schriller, knapper, bunter: Die Outfits im Damentennis werden immer extravaganter. Muss das sein? Wann lenken die modischen Eskapaden vom eigentlichem Thema ab: dem Sport? Und wo ist das gute, alte Weiß geblieben? Wir haben Michael Michalsky, 45 gefragt. Der »Mode-Papst« (Vogue), der unter anderem die Schauspielerinnen Sibel Kekilli und Jessica Schwarz einkleidet, zählt zu Deutschlands erfolgreichsten Designern. Unter dem Label »Michalsky« entwirft er Abendroben, T-Shirts und Business-Kostüme. Weil er »Kleidung für echte Menschen« machen will, überrascht er den Modezirkus gern mit ungewöhnlich gewöhnlichen Models: über Sechzigjährige waren schon dabei und ein junger Mann mit Beinprothese. Tennis und Michalsky verbindet eine lange Tradition: Als kleiner Junge liebte er es, sich Spiele am Hamburger Rothenbaum anzugucken. Später leitete er jahrelang die Designabteilung von Adidas, wo er eng mit Steffi Graf zusammenarbeitete. Mit uns wirft er einen Blick ins Fotoalbum und verrät, warum sich nicht jeder Laufsteg-Look für den Platz eignet. Kritischer Blick Auch die Williams-Sisters bekommen bei Michalsky ihr Fett weg. 55 Off Court / MODE Michalsky im Gespräch mit unserer Autorin. »Tennis«, sagt er, »hat etwas Edles.« 1930er: Alice Marble Michalsky: Dass Alice Marble Hosen trägt, passt in ihre Zeit, ins Golden Age of Hollywood. In den Dreißigern trug auch Marlene Dietrich zum ersten Mal Hosen, die sie übrigens nicht erfunden, sondern sich bei der Berliner Schauspielerin Anita Berber abgeguckt hat. Im Tennis haben sie damals außerdem begonnen, die Kleidung auf die Bewegungen anzupassen. Ob eine Spielerin lieber Hose oder Rock tragen sollte, kann ich generell nicht sagen, das kommt ganz auf die Person an. Marble sieht in den kurzen Hosen jedenfalls sensationell edel aus. Und mit den Baseballmützen wirken die Spielerinnen sehr amerikanisch. Wenn man sich die Tennisschläger wegdenkt, könnte man das Foto glatt für eine Filmszene aus » A League of Their Own« halten. Der französische Tennis-Star Suzanne Lenglen schocktierte die Öffentlichkeit in den 1920er Jahren mit dem Anblick ihrer nackten Arme. 1920er: Suzanne Lenglen Michalsky: Suzanne Lenglen war der erste Superstar im Tennis. Grundsätzlich zeigte man in der Zwanzigern ja nicht viel nackte Haut, deshalb die Strumpfhosen. Dass sie ein ärmelloses Kleid trug, war da sehr modern. Es sieht fast aus wie von Coco Chanel. Ganz klassisch sind dagegen die Schuhe: Einfache Plimsolls, wahrscheinlich aus Leinen. Aber darin spielte die Frau hervorragenden Tennis. Mein Urteil: Sehr schön. Ich persönlich finde es ästhetisch, wenn Tenniskleidung hauptsächlich weiß ist. Es sieht cooler aus. Früher war Weiß ja gang und gäbe. Die einzigen Zusatzfarben waren lange Grün, wegen des Rasens, und das klassische Blau. In Wimbledon müssen noch immer 90 Prozent der Sportkleidung weiß sein. Das finde ich sehr gut. 56 GO SPE ZIAL / GI R L S O P E N Auch die erfolgreiche US-Amerikanerin Alice Marble sorgte für Empörung: Als eine der ersten Damen erschien sie in den 1930er Jahren in Shorts auf dem Platz. 57 Off Court / MODE Steffi Graf bevor.... 2000er: Williams-Sisters 1990er: Steffi Graf Chris Evert, eine der erfolgreichsten Tennisspielerinnen aller Zeiten. Michalskys Urteil: »Sexy und weiblich«. Michalsky: Ich bin ein absoluter Fan von Steffi Graf. Sie ist nicht nur die beste Tennisspielerin aller Zeiten; ich schätze sie auch sehr als Menschen. In meiner Zeit bei Adidas habe ich von 1996 bis zum Ende ihrer Karriere eng mit ihr zusammengearbeitet. Wir haben damals gemeinsam eine Steffi-Graf-Kollektion entwickelt. Wir trafen uns auch privat, gingen zusammen auf Kunstausstellungen. Sie interessiert sich für Mode und Fotografie und hat einen exzellenten Musikgeschmack. Das wissen viele nicht, die sie nur als Tenis-Hero sehen. Auf dem Bild [oben rechts] sieht man, das auch mal versucht wurde, mit ihr eine Fashion-Nummer zu machen. Aber in dem Look [unten links] fühlte sie sich sehr viel wohler. Das war eher ihr Stil, er drückt Sport und Schnelligkeit aus. Es ist ein sehr schönes Kleid, ungefähr aus der Zeit des Relaunchs der Marke. Das Outfit passt modetechnisch perfekt in die 90er. Damals waren Helmut Lang und Jil Sander die wichtigsten Labels, es ging um Sachlichkeit, Minimalismus war einfach das coolste, was man tragen konnte. Michalsky: Vielleicht finden es viele junge Menschen cool, wenn die Williams-Schwestern aussehen, als würden sie zur Fancy Dress Party gehen. Aber Ich finde die modischen Exzesse, die Tennis inzwischen angenommen hat, nicht gut. Es ist ja nicht Rugby oder Turniertanz, sondern ein alter, edler Sport. Aber natürlich wird so etwas auch ganz bewusst eingesetzt. Die Williams-Sisters haben eine besondere Geschichte. Tennis ist ein weißer Sport. Ein bisschen Country Club, ziemlich elitär und Leuten aus einfachen Schichten nicht zugänglich. Erfolgreiche Schwarze hat man sonst beim American Football gesehen oder beim Basketball. 1970er: Chris Evert Back to the Roots: Schwester Serena präsentiert sich auf dem Court mit Dreadlocks und Jamaica-Farben. Michalsky: Chris Evert war der erste Tennis-Superstar der gut vermarktbar war. Sie sah sehr gut aus, und toll angezogen war sie auch. Bis auf die Rüschen. Normalerweise trug sie nicht so ein Girlie-Girlie-Zeugs. Vielleicht meinte sie das ironisch, es muss eine Anspielung, ein Statement zu einem bestimmten Anlass gewesen sein, denn so ist sie nie wieder aufgetreten. Normalerweise trug sie cleane, amerikanische Outfits wie auf dem rechten Bild. Das ist ein koordiniertes Outfit, das Blumendetail kommt auf beiden Kleidungsstücken vor. Sehr Seventies, aber gut gemacht. Schließlich sind die Siebziger auch die Zeit der Women’s Liberation. Frauen werden selbstbestimmter. Auch Chris Evert wollte zeigen: Ich bin mehr als nur eine Kampfmaschine, ich bin auch sexy und weiblich. Durch ihre Leistung konnte sie sich das ja auch erlauben. Für mich drückt das Selbstbewusstsein aus: sie ist ein absoluter Top-Athlet und trotzdem in Touch mit ihrer femininen Seite. Viele Muskeln, viel Haut: Venus Williams im provokanten Corsagen-Outfit. ... und nachdem Sponsor Adidas in den 1990er Jahren den »DreiStreifen-Look« wieder einführte. 58 GO SPE ZIAL / GI R L S O P E N Und dann kommen die Williams-Schwestern: farbig, aus einem Ghetto in Los Angeles. Mit ihrer Kleidung wollen sie ausdrücken, dass sie es geschafft haben. Als wollten sie sagen: »Ätsch, wir sind unsere eigene Maschine, machen unseren eigenen Film.« Allein dadurch, dass sie aus dem Ghetto auf die Nummer Eins gekommen sind, haben sie jede Regel gebrochen. Ihre Mode ist ein Anti-Statement, sie drückt aus, dass die sie sich niemandem unterwerfen. Und man muss sagen, dass das sehr gut funktioniert hat. Es wäre peinlich gewesen, wenn sie nicht gut Tennis gespielt hätten. Aber sie haben die Leute jahrelang vom Platz geprügelt. Venus Williams Serena Williams Michalsky: Wie viele erfolgreiche Athleten hat auch Venus ihre eigene Signature-Kollektion. Ich kann mir vorstellen, dass sie stark in den Designprozess involviert war. Und dass sie gesagt hat, »Ich möchte, dass es aussieht wie ein Negligé oder wie ein Cocktailkleid, und was ihr da macht, ist mir alles zu boring.« Ich finde das Outfit zwar gut gemacht und interessant, aber mir persönlich gefällt es nicht. Das ist mir zu wild. Michalsky: Das gefällt mir besser. Mit den Farben und ihren Dreadlocks bezieht sich Serena auf jamaikanische Kultur und damit auf ihre schwarzen Wurzeln. Das ist besser gelungen, als das Negligé-Outfit, weil es noch nach Sport aussieht. Zwar nicht nach Tennis, sondern eher nach Fußball, Volleyball oder Handball. Das hier [rechts] könnte auch ein Running Top sein. Aber man sieht wenigstens den athletischen Hintergrund. 59 VI E R FÜR BLIN DT EX T MODE KOLU MNE Heute: Bethanie Mattek-Sands Michalsky: Wo ist die überhaupt auf der Weltrangliste? Ist sie überhaupt in der Top 100? Weiß man nicht. Das hier [Mitte] geht ja noch. Ich vermute, dass das Bilder vom Anfang waren, als es mit ihrer Karriere noch nach oben ging. Aber was soll dieses Kriegs-Make-Up? Das verstehe ich nicht. Und hier [links] sieht sie alles andere als authentisch aus. Man sieht, so tickt sie nicht privat, es ist eine reine Marketingveranstaltung. Wahrscheinlich hat sie sich überlegt: »Ich fliege bei jeder Vorrunde der French Open 'raus, und jetzt ist Lady Gaga grade hip, also stelle ich mich so auf den Platz.« Das Ergebnis: Keiner redet mehr über ihre Leistung, sondern nur noch darüber, wie blöd es aussieht, dass sie eine Trainingsanzugjacke trägt, auf der halbe Tennisbälle kleben. Die Warm-Up-Jacke ist dafür da, sich einzuspielen. Keine Ahnung, wie sie das mit dem Ding machen will. Wahrscheinlich spielt sie deshalb so schlecht und bewegt sich wie Beppo der Clown [rechts]. Der Schuss geht komplett nach hinten los. Michalsky sinniert über das Tennisdress der Zukunft. Er wünscht sich viel Weiß und funktionale Materialien. Das Outfit der Zukunft? Michalsky: Grundsätzlich gehören zum Outfit des 21. Jahrhunderts High-Tech-Materialien: Polyester und Netzstoffe, die den Körper kühlen, und speziell behandelte Stoffe, die Schweiß schneller nach außen leiten. Man kann heute auch Elastizität gezielt einsetzen, damit Muskeln nicht ermüden. Noch immer wird unterschätzt, was für ein harter Performance-Sport Tennis ist. Man sieht ja, wie viele Spieler wegen gesundheitlicher Schäden aufhören müssen. Ansonsten kommt es darauf an, für wen das Outfit ist. Ist es eine Kollektion für viele unterschiedliche Spielerinnen? Oder die Personality-Kollektion für eine Top-Athletin? Zu jeder Persönlichkeit passt ein anderer Look. Dazu kommt die Frage, zu welcher Marke das Stück gehören soll. Adidas ist nicht Nike, und Nike nicht Puma. Jedes Label hat seine eigene DNA. Modisch gesehen finde ich es wichtig, Zitate aus der Historie aufzugreifen. Das mache ich ja sowieso gerne, und zum Tennis passt es doppelt gut. Tennis ist besetzt mit Attributen wie stylish, cool, ästhetisch. Das Outfit muss gar nicht komplett weiß sein. Schwarz geht auch sehr gut, oder man kombiniert beides, das hat man in den Neunzigerjahren viel gemacht. Sehr edel sieht einen schwarzer Tennisrock aus. Dazu ein weißes Polohemd, dessen Kragen vielleicht ein schwarzes Tipping hat. Ein Polohemd finde ich jedenfalls immer besser als eine Corsage. Bethanie Mattek-Sands liebt es schrill. Hier in einer Jacke von Lady-Gaga-Designer Alex Noble. 60 GO SPE ZIAL / GIR L S O P E N Turbulente Zeiten— Mein Weg vom Big Apple zum EiFfelturm KOLUMNE VON ANGELIQUE KERBER Center Court Titel / > Ich bin mittlerweile schon einige Jahre auf der Tour unterwegs, und es ist stets ein Wechselbad der Gefühle. Euphorie und Enttäuschung liegen oftmals nur wenige Punkte auseinander— mein persönlicher sportlicher Werdegang 2011 war ein Paradebeispiel. Nach einem für mich enttäuschenden Start ins Jahr 2011, folgte im Herbst der bis dato größte Erfolg meiner Karriere mit dem Erreichen des Halbfinals bei den US Open. Seitdem ist vieles leichter geworden und ich bin unendlich dankbar dafür, in diesen Tagen die Sonnenseite meines Sportlerdaseins zu erleben. Mein erster WTA Titel in Paris war für mich ein weiterer Höhepunkt auf einem Weg, der für mich in New York am Big Apple begann und den ich hoffe, in den kommenden Wochen beständig weiterzuverfolgen. Es ist nicht selbstverständlich, für all die Entbehrungen, die das Profileben mit sich bringt, ständig entlohnt zu werden. Es ist aber eine umso größere Genugtuung, wenn sich all die schmerzhaften Konditionseinheiten und Tage an denen man morgens früh mit Muskelkater aufwacht, dann letztendlich mit einem Sieg auszahlen. Doch es bleibt nur wenig Zeit für Verschnaufpausen und Regeneration. Der Tenniszirkus tourt durch alle Klima- und Zeitzonen, kennt keine Jahreszeiten und ist bis auf wenige Wochen am Ende des Jahres immer auf Achse. In welchem rasanten Tempo das geschieht, lässt sich am besten anhand meiner abenteuerlichen Odyssee von Paris nach Doha zeigen. Nach verwandeltem Matchball im Finale von Paris gegen Marion Bartoli, dauerte es keine Stunde bis ich im Taxi auf dem Weg zum Flughafen saß, um noch die letzte Nachtmaschine nach Doha zu erwischen. Unmittelbar am Tag nach meiner Ankunft, war dann schon wieder Showtime in der ersten Runde auf dem Centre Court. Ich fühle mich ungemein privilegiert, meinen Sport als Beruf ausüben zu dürfen, und damit auch meine Rechnungen zahlen zu können. Es macht mir derzeit so viel Spaß wie nie zuvor, und ich hätte nichts dagegen, wenn es mir gelingt den positiven Aufwärtstrend der letzten Wochen fortzusetzen. Die Halbwertszeit vergangener Erfolge ist aber nur sehr kurz, im Tennis wahrscheinlich noch extremer als in anderen Sportarten. Wir befinden uns im olympischen Jahr, und ich werde weiter hart für meine Ziele arbeiten müssen, um an die vergangenen Erfolge anzuknüpfen. Ich habe mich in den letzten Wochen immer wieder ungemein über die positive Resonanz und Unterstützung meiner Fans weltweit gefreut. Es ist ein unglaubliches Gefühl und ich kann es nicht oft genug betonen und mich dafür bedanken. Die Atmosphäre beim Fed Cup in Stuttgart war einzigartig und pures Gänsehautfeeling. Ich kann nur hoffen, dass es so weitergeht und ich in der Zukunft noch viele Chancen bekommen werde, vor einer so unglaublichen Kulisse zu spielen. Wenn es nach mir geht, war das erst der Anfang… Mit sportlichem Gruß, Eure Angelique 61 Off Court Titel / VISYCHOLOG P E R FÜR BLIN IE DT EX T Gibt es ein weibliches Sieger-gen? Text Torben Dietrich FOTO Paul Zimmer Große Leistung und großer Ehrgeiz: Jede einzelne Faser von Andrea Petkovic scheint wütend, wenn sie einen Fehler macht. Mentalcoach Holger Fischer, 48, aus Balingen gilt als »WunderDoc« im deutschen Hochleistungssport. Auch dank ihm schaffte Andrea Petkovic den Sprung an die Weltspitze. 62 GO SPE ZIAL / GIR L S O P E N > Herr Fischer, es muss Gründe dafür geben, weshalb unsere TennisDamen so erfolgreich sind und die Jungs nicht. Gibt es ein weibliches »Sieger-Gen« im Hochleistungssport, speziell im Tennis? Ich möchte jetzt nicht polemisch klingen, aber im Damentennis kann man eine Top-20-Spielerin fast schon produzieren. Nehmen Sie die vielen Russinnen und Athletinnen aus den ehemaligen Ostblockstaaten, die in der Weltrangliste oben stehen. Trainingsmethoden und Auslese sind dort viel härter als bei uns. Dazu kommt, dass die Arbeit mit Frauen generell einfacher ist. Frauen kann man leichter dazu motivieren, noch härter, noch intensiver zu trainieren als Männer. Wieso? Frauen sind aufgeschlossener als Männer, gerade im Profisport. Jungs muss man meist erst mal mit guten Argumenten überzeugen und dann hoffen, dass sie verstanden werden. Wenn Frauen dagegen ein Vertrauensverhältnis zum Trainer aufgebaut haben, sind sie in der Regel leistungswilliger als Männer. In vielen gesellschaftlichen Bereichen können Frauen tatsächlich nicht den gleichen Erfolg haben wie Männer, sonst würden wir nicht über eine Frauenquote in Führungspositionen diskutieren. Bei den Grand Slam-Turnieren im Tennis bekommen Frauen das gleiche Preisgeld wie Männer. Können ehrgeizige junge Frauen im Profisport ihren Traum vom Erfolg viel eher erfüllen als in Politik und Gesellschaft? Im Sport war vor 30 bis 50 Jahren die Rolle der Frau noch eine ganz andere als heute. Sie kam im bezahlten Profibereich so gut wie nicht vor. Dieser Prozess hat erst mit der Professionalisierung und Kommerzialisierung im letzten Jahrzehnt so richtig eingesetzt. Dementsprechend groß kann manchmal auch der Ehrgeiz sein, der Wunsch nach Anerkennung, der Traum vom Ruhm und großen Geld. Das kann ich mir für andere gesellschaftliche Bereiche genauso vorstellen, es kommt eben immer auf die jeweilige individuelle Persönlichkeit an. Eine Angela Merkel strahlt für mich dieselbe große Leistungsbereitschaft aus wie eine Steffi Graf. Gibt es bei Sportlerinnen in Extremsituationen andere mentale, psychische Abläufe als bei Männern? Ja, allein durch die engere Vernetzung der beiden Hirnhälften ist die emotionale Komponente bei Frauen sehr viel präsenter und gewichtiger als bei Männern. Es kommt vor, dass Tennisspielerinnen nach einem verlorenen Match weinen, bei den Herren sieht man das so gut wie gar nicht. Frauen sind emotionaler, das ist nicht neu. Auffallend ist aber, dass es im Weltklassebereich bei den Frauen deutlich mehr Verletzte gibt als bei den Männern, was auch auf die stärkere Emotionalität zurückgeführt werden kann, wenn man den ganzheitlichen Ansatz sieht. Viele Spielerinnen unterdrücken ihre Gefühle, das wiederum kann auch nicht der richtige Weg sein. Abgesehen von Maria Scharapova halten sich die meisten osteuropäischen Spielerinnen nicht lange in der Weltspitze. Das ist auch eine Folge des emotionalen Ungleichgewichts. Wie entwickeln Sie Sieger-Mentalitäten bei jungen Talenten wie einer Andrea Petkovic? Es gibt eine Menge Dinge, mit denen sich junge Frauen heute im Kopf blockieren. Auf dem Platz ist ein ganz wesentlicher Punkt der Erfolgsdruck, mit dem gerade viele Frauen Probleme haben. Du bist hoher Favorit und musst unbedingt gewinnen. Es hilft weiter, wenn man ganz bei sich selbst ist und sich nicht nur über dieses eine Match, sich nicht nur als Tennisprofi identifiziert. Eine weiter entwickelte, gefestigte Persönlichkeit wird auch souveräner spielen. kann das zur Blockade in einer extremen Situation beitragen. Das heißt, es hilft gar nichts, wenn ich nur die Vorhand passabel übers Netz bringe oder einen wuchtigen Aufschlag habe. Jedes ungelöste Problem, egal ob im körperlichen oder mentalen Bereich, das irgendwie weggedrückt wird, sucht sich sein Ventil. Das kann sich indirekt leistungsmindernd auswirken oder aber als Druck auf das Skelett legen, auf Knochen, Knöchel, Bänder. Dann kommt es im Match zu Verletzungen bei Bewegungen, die eigentlich schon hunderttausendmal trainiert wurden. Letzte Frage: Wird Andrea Petkovic dank Ihnen in naher Zukunft einen Grand Slam gewinnen? Wenn sie sich weiter so entwickelt wie in den letzten Jahren, wird ein Erfolg bei einem Grand Slam-Turnier die logische Folge sein. Wenn sie weiterhin sie selbst bleibt. Denn ihr Weg ist noch nicht zu Ende und das Potenzial ist definitiv vorhanden. Vielleicht in diesem, vielleicht aber auch erst im nächsten Jahr. Warten wir’s ab. Eine Andrea Petkovic haben Sie mit einem solchen Persönlichkeitstraining in die Weltspitze geführt. Was genau macht eine souveräne Persönlichkeit aus? Nur Wille und Talent reichen nicht aus, um sich im Hochleistungssport dauerhaft an der Spitze zu halten. So viele Faktoren mehr spielen da eine Rolle. Zum Beispiel Glaubenssätze, eigene oder von den Eltern übernommene, Partnerschaft, das familiäre und soziale Umfeld, die Ehre, und vor allem der Umgang mit Geld und der öffentlichen Aufmerksamkeit. Weil viele den Boden unter den Füßen verlieren? Oder auch genau anders herum. Ich kenne Tennisspieler, die mehr oder weniger bewusst im Viertel- oder Halbfinale verlieren, weil sie mit der geballten Öffentlichkeit im Falle eines Turniersieges nicht umgehen könnten. Hieß einer der Glaubenssätze in der Kindheit beispielsweise, im Leben nicht aufzufallen, so »Psychoglatze« wird Holger Fischer genannt. Seine Eingriffe ins Seelenleben von Profisportlern verhelfen oft zu mehr Ausgeglichenheit und Erfolg. 63 BÜ RG E RRECH T E » Wir sind noch nicht am Ziel « 64 GO SPE ZIAL / GIR L S O P E N Historie / 1973 BILLIE JEAN KING & BOBBY RIGGS Ja, sie ist stark. Im legendären »Battle of the sexes« besiegte Billie Jean King den 55-jährigen Bobby Riggs (links) glatt in drei Sätzen 6:4 6:3 6:3. Freunde blieben sie trotzdem. 65 Historie / Als Wimbledon-Rekordsiegerin kämpfte Billie Jean zunächst gegen überforderte Gegnerinnen, später für Gleichheit zwischen Mann und Frau. In diesem Kampf ist der letzte Ball noch nicht geschlagen. 66 GO SPE ZIAL / GIR L S O P E N 67 Historie / BÜ RG E RRECH T E Billie Jean King, 68, ist mehr als nur eine der erfolgreichsten Tennisspielerin aller Zeiten. Viel mehr war sie eine mit einem Racket bewaffnete Bürgerrechtlerin. King trat öffentlich für die Gleichberechtigung von Männern und Frauen im Profisport ein. 1970 gründete sie die Profiorganisation für Tennisspielerinnen WTA, um für die Frauen gleiche Preisgelder einzufordern wie bei den Herren. Im sogenannten »Kampf der Geschlechter« schlug sie 1973 den ehemaligen Wimbledonsieger Bobby Riggs und wurde dadurch zur Ikone der internationalen Frauenrechtsbewegung. GirlsOpen sprach mit Billie Jean King exklusiv über die Kämpfe von früher und was sie heute wert sind. 68 GO SPE ZIAL / GIR L S O P E N Text Torben Dietrich Frau King, wir behaupten mal, Sie sind eine unverbesserliche Weltverbesserin! Sagen wir so: schon seit meiner frühesten Kindheit wollte ich etwas in der Welt bewegen. Das ist mir auch ein bisschen gelungen. Das ist ziemlich groß gedacht für ein kleines Mädchen. Was genau wollten Sie bewegen und was hatte das mit Tennis zu tun? Mit zwölf Jahren wusste ich, dass Tennis für mich das Mittel zum Zweck sein würde. Tennis war und ist meine größte Leidenschaft. Allerdings begriff ich auch, dass niemand Dir zuhört, solange Du nicht die Nummer eins bist. Also machte ich mich daran, die beste Tennisspielerin der Welt zu werden. Der Beginn des professionellen Damentennis und die Bürgerrechtsbewegung in den USA fielen zeitlich zusammen. Sie erkannten das frühzeitig. Das Timing war optimal für mich. Die Geburt des professionellen Damentennis, wie wir es heute kennen, und meine Tenniskarriere begannen zu einer sehr interessanten und intensiven Zeit in unserem Land. Die Watergate-Affäre spitzte sich zu, wir versuchten Vietnam hinter uns zu lassen, die Frauenbewegung erreichte in den Vereinigten Staaten ihren Höhepunkt. Meine neue Popularität katapultierte mich in diesem gesellschaftlichen Themenmix an die vorderste Front der Diskussion um die Gleichstellung von Mann und Frau. Und dann kam 1973 der berühmte »Kampf der Geschlechter« gegen Bobby Riggs. Zum ersten Mal in der Geschichte des professionellen Sports besiegte eine Frau einen Mann und Millionen schauten an den Fernsehgeräten zu. Dieses eine Spiel machte Sie über Nacht zu einer weltweiten Ikone des Feminismus. War Ihnen das bewusst? In dem kulturellen Klima von 1973 kam meinem Match gegen Bobby eine große Bedeutung zu, das wusste ich. Im selben Jahr wurde das wegweisende Gleichberechtigungsgesetz, genannt »Title IX«, vom Kongress verabschiedet. Es forderte Zugang und gleiche Bedingungen für junge Männer und Frauen in Colleges, Universitäten, Sportklubs und Schulen in ganz Amerika. Ich hatte große Bedenken, dass das alles um 50 Jahre zurückgeworfen würde, wenn ich gegen Bobby verliere: Frauenrechte, Damentennis, die Akzeptanz des Gleichberechtigungsgesetzes. Doch im Falle eines Sieges hätten wir eine Basis und genug Selbstvertrauen, um gesellschaftlich vorwegzumarschieren. Und das taten wir dann auch. BILLIE JEAN KING 1983 2006 gewann King mit 39 Jahren (!) das letzte ihrer insgesamt 67 Turniere (davon 12 Grand Slams) — sie ist damit bis heute die älteste Siegerin der Profiära. Welche sportliche Bedeutung hatte der Sieg über Bobby Riggs? Das Match gegen Bobby war athletisch nicht so herausfordernd wie meine Grand Slam-Erfolge. Es hat immer eine unglaubliche Kraft, wenn man Dinge zum ersten Mal tut. Ich war nicht die erste, die gegen einen Mann angetreten war. Ich war aber die erste, die einen Mann besiegt hatte. Die Tatsache, dass dieser Sieg eine globale mediale Bühne hatte, war von sehr großem Nutzen für meine Sache. Und zwar? Dieses Match gab mir und dem weiblichen Sport eine der größten Plattformen in der Geschichte des Sports. Wie so oft wird Frauensport nur dann anerkannt, wenn wir uns auf den Schauplätzen der Männer beweisen. Ich musste dieses Match einfach gewinnen, weil soviel daran hing: Die Zukunft des professionellen Damentennis und nicht zuletzt die weltweite Frauenrechtsbewegung brauchte meinen Sieg als Motivationsschub. Wie hat Bobby Riggs persönlich nach seiner Niederlage reagiert? Nach dem Match sprang Bobby über das Netz. Wir standen dicht neben einander, hielten uns in den Armen und er sagte mir, dass er mich unterschätzt hatte. Ich habe Bobby immer sehr respektiert und weiß, dass ich ihn deshalb auch geschlagen habe. Er war ein ehemaliger Nummer Eins-Spieler, den ich sehr bewunderte. Vor dem Spiel ließ er keine Gelegenheit aus zu betonen, dass das Damentennis dem der Männer hoffnungslos unterlegen sei. Gehörte das zur PRMaschinerie? Ja. Aber danach entwickelte sich zwischen uns eine lange und sehr enge Freundschaft. Wir sprachen uns sogar noch am Tag bevor er starb. Er war ein besonderer Wie sieht die Gleichberechtigung im Sport heute aus, fast 40 Jahre nach Ihrem Kampf der Geschlechter? Es ist noch ein sehr langer Weg. Es gibt beispielsweise noch einen enormen Unterschied im Umfang der Sportberichterstattung was Frauen und Männer angeht. Aber bevor wir nichts daran ändern, dass neunzig Prozent der Medien von Männern kontrolliert werden, wird unser Kampf immer schwierig sein. Nichtsdestotrotz ist es den Kampf wert. sucht man heute vergebens. Man hat den Eindruck, es passt nicht mehr in den Zeitgeist der Social Media? Ich glaube fest daran, dass jede Generation auf den Schultern der vorherigen steht. Ich stand auf den Schultern etwa von Althea Gibson oder Alice Marble. Chris Evert und Martina standen auf den Schultern meiner Generation. In den letzten Jahren haben wir Spielerinnen wie Venus Williams erlebt, die unser Anliegen weiter tragen. Zum Beispiel war Venus 2007 sehr hilfreich bei den Diskussionen in Wimbledon, gleiches Preisgeld für Männer und Frauen einzuführen. Ihre Bemühungen dort veranlassten die French Open nur zwei Wochen später nachzuziehen. Selbstbewusste Sportlerinnen wie Sie oder Martina Navratilova, die auch zu gesellschaftlichen Dingen Ihre Meinung öffentlich vertreten, Ist Ihr Kampf um Gleichberechtigung im modernen Profisport heute gewonnen? Wir sind in den letzten vierzig Jahren Mann, der in meinem Leben und in meiner Karriere eine große Rolle spielte. Das letzte, was er zu mir sagte, war: »Billie, wir haben wirklich etwas bewegt, oder?« So spricht nur ein großer Gentleman. wurde die Tennisanlage der US Open in »Billie Jean King National Tennis Center« umbenannt — die Tennisspielerin und Bürgerrechtlerin King gilt als eine der 100 wichtigsten Amerikaner des 20.Jahrhunderts. weitergekommen, aber noch nicht am Ziel. Mädchen und Jungen sollten Frauen auch als Vorbilder sehen und Mainstream-Medien sollten professionellen Damensport als etwas begreifen, das sie vermarkten können, als etwas von Wert. Der Porsche Tennis Grand Prix in Stuttgart liefert dafür ein wichtiges Beispiel, wie das Damentennis gewachsen ist. Dieses Turnier bewirkt viel für unseren Sport und ich bin dankbar für die kontinuierliche Unterstützung, die das Damentennis dadurch erfährt. In Deutschland gibt es seit Jahren die Debatte über Sinn und Unsinn einer Quotenregelung, die mehr Frauen zu Führungspositionen in Politik und Wirtschaft verhelfen soll. Was denken Sie über die gesetzlich verankerte Frauenquote? Ich finde es unglücklich, wenn erst Gesetze für Chancengleichheit sorgen müssen. Die Geschlechtergleichberechtigung sollte eine Grundvoraussetzung in jeder Gesellschaft sein. Aber wenn dieses Ziel kaum erreichbar erscheint, ist es oft notwendig, das Schiff auf den richtigen Kurs zu bringen. Ganz ähnlich, wie wir in den USA es mit »Title IX« gemacht haben. Erst wenn nichts vorangeht, ist der Weg über das Gesetz der Richtige. 69 Historie / DDR -T E N N IS GOLDEN GIRLS DES OSTENS Text Janet Schönfeld Foto Kathrin Harms und Lukas Coch Tennis in der DDR? Doch, das gab es. Unsere Autorin traf ehemalige Spitzenspielerinnen des »Arbeiterund Bauernstaates« und war erstaunt: Eine spielt heute noch bei den Weltmeisterschaften in der Altersklasse Ü 80 Im Sportpark Magdeburg das älteste Mitglied: Die 85-jährige Jutta Apel kann vom Tennis nicht lassen. 70 GO SPE ZIAL / GIR L S O P E N Rekordgewinnerin Hella Riede zieht immer noch gern die Tennisschuhe an. 71 Jutta Apel kann nicht mehr so flitzen wie früher. Muss sie auch nicht. Die Altersklasse, in der sie heute spielt, 85 plus, gibt es bei den Damen gar nicht mehr und wenn, Jutta Apel hätte gar keine Gegenerin. Bei den Weltmeisterschaften der Senioren im vergangenen Oktober in der Türkei war sie die älteste Teilnehmerin. »Ein Jahr geht noch«. Das sagt sie schon seit Jahren. Im Wohnzimmer kramt sie aus einer gepolsterten Schatulle eine Medaille heraus: »Deutscher Mannschaftsmeister 1952« steht auf der Rückseite. Am häufigsten gab es Kristallvasen, Besteckkästen oder Böhmisches Glas. Tennis war verschrien als »Bonzensport« Rückblende: Jutta Apel steht mit ihren Mannschaftskollegen auf einem Tennisplatz in Hamburg und lächelt in die Kamera des Fotografen. Sie ist 25 Jahre alt und hat gerade erst vor zwei Jahren mit Tennisspielen angefangen. Jetzt steht sie als Siegerin auf dem Platz. Als Anerkennung erhält sie nach ihrer Rückkehr in die DDR von den Sportfunktionären des »Arbeiter- und Bauernstaates« noch eine leere, rote Geldbörse und einen Urlaubsgutschein für eine Woche in einem Ferienheim, zwanzig Kilometer von ihrem Wohnort Magdeburg entfernt. Viele Auszeichnungen — wenig Geld. Beim DDRTennis stand der sportliche Wettkampf im Vordergrund. > Sie wirkt wie ein Mädchen. Der blonde Pony. Die hellwachen Augen. Ihre verspielt-ironische Art. Ihr loses Mundwerk. Auf der Treppe zu ihrer Wohnung in Magdeburg (SachsenAnhalt) sagt das Mädchen, man solle schon mal vorgehen, sie brauche länger. Meniskus, Arthrose. Ein Treppenlift, ach was, der komme ihr nicht ins Haus, der wäre ja noch viel langsamer als sie. Und an ihren Knien dürfe niemand mehr herumschnibbeln. Mit fünfundachtzig, wo kämen wir denn da hin. 72 GO SPE ZIAL / GIR L S O P E N Jutta Apel, das spät entdeckte Talent, war im Magdeburger Tennisclub »Preussen 99« groß geworden. Zwei Plätze, zwei Umkleideräume, ein Plumpsklo, kein fließendes Wasser. In einer Bretterbude, die als Vereinsheim diente, trafen sich in den 30er Jahren des letzten Jahrhunderts ihre Eltern fast täglich mit Tennisfreunden zum Essen, und wenn das Bier ausging, wurde die kleine Jutta zu den Fußballern um die Ecke geschickt, Nachschub zu besorgen. Einen Schläger bekommt sie nicht in die Hand. »Ich hätte den Sport auch nie gemocht, wenn man mich als Kind jeden Tag zum Training geschickt hätte«, sagt sie heute. Damen und Herren spielten damals noch gemeinsam in einer Mannschaft. Und wenn man verlor, hatten immer die Frauen Schuld, »selbst wenn sie besser waren. Dann zankte man sich und die Frauen heulten.« Jutta dachte sich: »Das willst du nicht, das ist kein Sport für Mädchen.« Anfang der vierziger Jahre, Jutta ist fünfzehn und es herrscht Krieg, steht sie am Zaun und feuert die jungen Kerls an, die für das Turnier extra Urlaub von der Front bekamen. Nach dem Spiel mussten sie zurück in den Krieg. Viele kamen nie wieder. Jutta Apel heiratet, wird Lehrerin und im Alter von 24 Jahren, wo manche mit dem Sport schon wieder aufhören, fängt sie damit an. Die Schläger sind mit Naturdarmsaiten bespannt, die bei Nässe daumendick aufquillen. Die seltenen Tennisbälle der Marke »Kobold« werden wie Augäpfel gehütet und geschlagen bis kein Härchen Filz mehr an ihnen ist. »Nackte Mäuse« nennt Jutta Apel die Kugeln, die sie über das Netz schlägt als wären es Zementklumpen. Tennis gilt in der DDR als »Bonzensport«, öffentlich gefördert wird er nicht, obwohl der Vorsitzende des Staatsrates der DDR, Walter Ulbricht, gedichtet hatte: »Jeder Mann an jedem Ort – einmal in der Woche Sport.« Die Konkurrenz im eigenen Land ist übersichtlich, Jutta Apel ist schnell ganz oben angekommen. In dieser Zeit finden auch Eva Johannes und Hella Riede als Ballmädchen zum Tennis. Sie lernen mit geschnitzten Holzbrettchen oder ausrangierten Schlägern aus Kriegszeiten die sonderbaren Eigenschaften der »Kobolde« auszutarieren. Die Mädchen spielten und spielten, Jutta mittlerweile schon bei den Senioren, Eva und Hella als Nummer eins und zwei der DDR. Manchmal als Konkurrentinnen, manchmal als unschlagbares Doppel. Sie wurden die erfolgreichsten Tennisspielerinnen, die An ihren über 200 Medaillen und Pokalen kann Jutta Apel sich auch heute noch erfreuen. 73 Historie / DDR -T E N N IS Wimbledon blieb immer nur eine müde Hoffnung. »Traurig zwar, aber das war eben so«, sagt Hella Riede heute. »Immerhin sind wir mehr gereist als andere in der DDR.« OBEN Manches verlernt man nie: Eva Johannes im Seniorenstift in ihrer Heimatstadt Dresden. UNTEN Als Siegprämie ein Teddy und Pralinen: Eva Johannes (links). 74 GO SPE ZIAL / GIR L S O P E N das kleinere Deutschland je hatte. Wie viele Titel und Medaillen sie nach Hause trugen, haben sie heute längst vergessen. Die weißen Sportkleider nähten sie sich selbst – nach Vorlagen aus dem West-Fernsehen. Ein kleines grünes Krokodil oder ein Adidas-Aufnäher darauf und fertig war die improvisierte sozialistische Tennisrobe. Die DDR-Oberen stuften Tennis ab Mitte der Sechziger als BSportart ein. Aufwand und prestigeträchtiger Nutzen standen für das System in keinem Verhältnis mehr. Zu viel Geld hätte investiert werden müssen und die Chancen, im internationalen Medaillenspiegel weit oben zu stehen, waren gleich Null. Seit dieser Zeit fehlte es an allen Ecken und Enden an Geld und schließlich auch an Tennishallen. In den Wintermonaten gab es also kein Training, stattdessen schippten die Vereine auf ihren Plätzen Schnee, wässerten das Ganze zum Schlittschuh laufen und verkauften Glühwein und Bratwurst. So kamen ein paar Mark in die Kassen, man war beieinander, man war Familie. Und man hinkte trainingsmäßig der BRD hinterher. Manchmal spannten sie im Winter auch unter einem Vordach ein Volleyballnetz oder übten Aufschläge an Boxsäcken. Hella Riede musste Korken sammeln, um den holprigen Boden ihrer Halle auszubessern. Trotz der vielen, auch internationalen Siege: Geldpreise gibt es nie. Eva Johannes trägt als Siegprämie einmal einen Kosmetikkoffer, einen Teddybär und eine Schachtel Asbach Schnapspralinen davon. Hella Riede freut sich über ein tschechisches Transistorradio. Am häufigsten aber gibt es Kristallvasen, Besteckkästen oder Böhmisches Glas. »Tennis war mein Leben«, erinnert sich Eva Johannes, »mit den Missständen in unserem Sport fand man sich irgendwann ab.« Manchmal hatten sie ja auch was davon: Bekamen ohne Wartezeit eine Neubauwohnung oder konnten sporttaschenweise Fleisch und Obst vom Training mit nach Hause schleppen. An Flucht oder daran, einfach von einer Auslandsreise nicht mehr heim zu fahren, dachten sie dennoch nicht. Als 1961 die Mauer gebaut wurde und Eva und Jutta gerade in Stuttgart auf einem Turnier spielten, wurden sie gefragt: »Warum bleibt ihr nicht hier?« Wollten sie nicht. Sie hatten ihre Männer zu Hause, ihre Freunde, ihr Leben. Sie spielten in Polen, Bulgarien, der Tschechoslowakei oder beim berühmtesten internationalen Turnier der DDR in Zinnowitz an der Ostsee. Auch mal auf Kuba. Wimbledon blieb dagegen immer nur eine müde Hoffnung. »Traurig zwar, aber das war eben so«, sagt Hella Riede heute, »immerhin sind wir mehr gereist als manch anderer in der DDR.« Inzwischen hatten nun auch die Sportfunktionäre die beiden Gold-Schätze bemerkt. Eva und Hella bekamen Dunlop-Schläger und Bälle aus dem Westen, damit sie bei Turnieren im sozialistischen Ausland nicht alt aussahen. »Nach jedem Spiel tischte die gastgebende Mannschaft Kaffee und Kuchen auf und wir Frauen haben den Abwasch gemacht«, erinnert sich Jutta Apel, »heute verschwinden die Spielerinnen nach dem Spiel und gucken nur nach ihrer Rangliste. Da ist ein ganz anderer Druck dahinter.« Jutta Apel spielt auch heute noch Tennis. Hella Riede trifft sich noch regelmäßig mit der alten Garde zum Doppelkopf und – wenn das Rheuma nicht beißt – spielt sie noch bei den Senioren. Eva Johannes lebt seit ihrer Parkinsonerkrankung in einem Seniorenstift in Dresden. Alle drei kennt heute kaum noch jemand außerhalb der Tenniswelt. Offensiv am Netz, nach wie vor eine der Lieblingspositionen von Hella Riede. 75 Center Court / EN TWIC KLUNG SHI L F E Es klingt wie ein Märchen und es ist ein Märchen: Es war einmal ein armes, kleines Kind in Äthiopien, das von einem besseren Leben träumte . . . Text Markus Wanzeck MERON GETU »Tennis ist alles für mich«, sagt sie. »Tennis ist mein Leben.« 76 GO SPE ZIAL / GI R L S O P E N Foto Rainer Kwiotek Meron, das MAdchen aus dem Slum 77 Center Court / VI E R FÜR BLIN DT EX T >Um ein Haar hätte sie den Breakball vergeben, wäre das Spiel des Lebens ohne jene Wendung geblieben, die sie zu dem machte, was sie heute ist. Meron, wenn sie daran zurückdenkt, lacht. Sie taucht in Gedanken zurück in ihre Kindheit wie in eine ferne, fremde Welt. KONZENTRATION (oben) Tenniscoach Stev Kleine brachte neue Rackets nach Addis Abeba – und neue Koordinationsübungen. FREUDE (unten) Arbeit und Vergnügen gehören für Tariku Tesfaye zusammen. BRACHLAND Jenseits der Trainingsplätze fehlt den Jugendlichen eine Perspektive. Viele enden in der Kleinkriminalität oder Prostitution. 78 GO SPE ZIAL / GI R L S O P E N Zwei junge Männer kamen, 2002, sonniger Nachmittag, den holprigen Pfad zwischen den Wellblechhütten des Viertels herunter gelaufen. Die Kinder hielten im Spielen inne. Blickten die Besucher an, die sich als Desta und Tariku vorstellten. Brüder, bestens gelaunt. Hey, fragten die beiden in die Runde, habt ihr Lust, Tennis zu spielen? Was ist das, Tennis?, fragte Merons Freundin aus der Nachbarhütte, Dinknesh, mit großen Augen zurück. Tariku und Desta blickten sich an. Zeigten auf die grellgelben Filzbälle in ihren Händen. Sie lotsten die Kinder zum Greek Club. Der Olympiacos Greek Club! Was für ein Abenteuer! Der Club, unerreichbar und doch in direkter Nachbarschaft der Slumsiedlung gelegen: Amüsiergehege der Mächtigen von Addis Abeba und der reichen Ausländer, die in der äthiopischen Hauptstadt leben. Tariku und Desta Tesfaye, Tennistrainer des Clubs, hatten eine verwegene Idee. Eine Tennisausbildung für arme Kinder. Kostenlos. Frühmorgens, noch ehe die Kleinen zur Schule gehen. Bevor die zahlenden Clubmitglieder die drei Sandplätze in Beschlag nahmen. Auf dem vornehmen Clubgelände drängten sich hunderte Kinder, Eltern, Schaulustige in zerschlissenen Kleidern. Staunende Blicke. Neugier. Dinknesh war gekommen, zu sehen, was Tennis ist. Merons kleiner Bruder Robel war da. All die Nachbarskinder. Nur Meron fehlte. Die Siebenjährige hatte zuhause vor dem Spiegel gesessen, vertieft in das Flechten ihrer Haare. Abends erstattete aufgekratzt ihr Bruder Bericht. Er sei für das Tennisprojekt im Greek Club ausgewählt worden! Am nächsten Tag lief Meron hinauf zum Clubgelände, aufgeregt den Schritten ihrer Mutter folgend. Die Mutter sprach bei Tariku vor, hoffend, das Leben ihrer Tochter möge nicht im tristen Staub der Slums von Addis versanden wie das ihrige, das ihres Mannes, das der Nachbarn und Verwandten. Meron durfte vorspielen. Und sie nutzte den Breakball. Heute, zehn Jahre später, haben Erfolge und Erfahrung Meron Getu zu einer selbstbewussten jungen Frau gemacht. Verbindlicher Händedruck, fließendes Englisch. »Anfangs redete mir Tariku ständig ins Gewissen«, erinnert sie sich. »Du musst mehr essen, Meron, damit du groß und stark wirst.« Groß? Hat nur halbwegs geklappt, 1,55 Meter misst Meron heute. Stark? Die 16-jährige ist die talentierteste Tennisspielerin ihres Landes und eine der besten auf dem afrikanischen Kontinent. Mit 13 gewann sie erstmals den Hilton Mercedes Cup in Addis Abeba in der Damenwertung. Sechsmal schon nahm sie an den Junioren-Ostafrikameisterschaften des Tennisweltverbandes ITF teil – jedesmal brachte sie eine Goldmedaille zurück. Zusammen mit dem ein Jahr jüngeren Yonas Gebre, talentiertester männlicher Spieler des Tennisprojekts, reiste sie im Dezember 2008 zur Junioren-Weltmeisterschaft nach Florida. Ein Wunder? Verwunderlich ist es schon, wie der traditionelle Sport der Gutgestellten in den Slumvierteln von Addis Abeba Fuß fassen konnte. In einem Land, das zu den ärmsten der Erde gehört, Jahreseinkommen 380 US-Dollar pro Kopf, Platz 157 von 169 auf dem globalen Human Development Index, die Hälfte der Menschen unterernährt. Zu verstehen nur, wenn man weiß, wie den Tesfaye-Brüdern selbst der Aufstieg aus der Armut gelang: mit einem Racket in der Hand. »Ich war vielleicht zehn, da begannen Desta und ich, in einem benachbarten Tennisclub als Balljungen zu arbeiten«, erzählt Tariku Tesfaye, ein 33-Jähriger mit wachen Augen und etwas abstehenden Ohren, die oft von Lachfalten Besuch bekommen. Jeden Nachmittag, nach der Schule, waren er und sein Bruder den Bällen hinterher gerannt. Abend um Abend brachten sie ein paar Groschen Trinkgeld nach Hause, mit dem sie ihre Eltern unterstützten. Die Clubmitglieder entfachten das Tennisfieber der beiden, indem sie ihnen ihre alten Schläger schenkten. Manchmal durften sie einspringen, wenn einer der Spieler von seinem Trainingspartner versetzt wurde. Es kam der Tag, da konnte es keiner im Club mehr mit ihnen auf dem Platz aufnehmen, und irgendwann wurden auch jenseits des Clubs die Gegner knapp. Die Tesfaye-Brüder hatten den Tellerwäschertraum in der Tennisvariante wahrgemacht. Von Balljungen waren sie zu Nationalspielern aufgestiegen. Desta vertrat Äthiopien bei den Afrikanischen Juniorenmeisterschaften. Tariku spielte im Jahr 2000 für sein Land im Daviscup. Der Erfolg auf dem Court machte sie nicht reich; Addis Abeba SCHULE TDEKT Äthopien Vor zehn Jahren begannen Tariku und Desta Tesfaye in der äthiopischen Hauptstadt Addis Abeba, Kindern aus mittellosen Familien kostenlos Tennisstunden zu geben. Heute ist die Tennisschule auf ueber 60 Teilnehmer angewachsen, einige sind bereits international erfolgreich. Unter dem Namen »Tariku and Desta Kids' Education through Tennis Development Ethiopia« (TDKET) ist das Projekt in Äthiopien als offizielle NGO anerkannt. Seit 2008 lädt die Tennisakademie Rhein-Neckar jedes Jahr einige TDKETJugendliche zu Trainingscamps nach Deutschland ein. Durch die Unterstützung der Kindernothilfe und der Manfred Lautenschläger Stiftung verfügt TDKET seit 2011 über zwei eigene Trainingsplätze. Internetseite des Projekts: www.tdket.org 79 HANDSCHLAG Äthiopiens Laufstar Haile Gebrselassie unterstützt die Tennisschule der Tariku-Brueder: »Warum sollte unser Land keine Tennisnation werden?« 80 GO SPE ZIAL / GI R L S O P E N 81 EN TWIC KLUNG SHI L F E Meron glaubt, die Wendung in ihrem Leben sei eine göttliche Fügung. »Die Wendung zum Guten war Gottes Wille«, sagt sie und bittet den Reporter: »Schreiben Sie das auf.« Reichtum winkt erst in den oberen Regionen der Weltrangliste. Aber er sicherte ihnen doch ein gutes Auskommen und öffnete viele Türen. Nun gehörten sie wirklich dazu, im Greek Club. Die Tesfaye-Brüder waren weiter gekommen, als sie jemals gedacht hatten: bis in die High Society von Addis Abeba. Als der sportliche Zenith, nach Jahren des steten Aufstiegs, überschritten war, suchten sie nach einem Abgang mit Anstand. Einem Weg, diesen Aufstieg nicht zu einer kuriosen, kleinen Fußnote der Tennisgeschichte werden zu lassen. Nach einer Idee, und sei sie noch so verwegen. Sie wollten, dass andere Kinder ihre Geschichte wiederholen. Heute, zehn Jahre später, ist das Projekt als TDKET bekannt, sperrige Kurzform für das noch sperrigere »Tariku and Desta Kids’ Education through Tennis Development Ethiopia«. Der Name soll zeigen: Neben dem Sport geht es auch um Schulbildung und Persönlichkeitsentwicklung. Wer sich als schlechter Teamplayer erweist, wer in der Schule keine Leistung bringt oder gar auf die Idee kommt, den Unterricht für das Training zu schwänzen, ist raus aus dem Projekt. Samstagnachmittag am Guenet Hotel, in einem Stadtteil, den sie Mexico nennen. Die Luft ist schwer von Abgasen, die überladene Lastwagen auf der ansteigenden Hauptstraße vor dem Hotel in dunklen Wolken in die Luft stoßen. Vom Staub der unbefestigten Nebenstraßen Mexicos. Vom Staub, den Dutzende Kinderbeine auf den zwei roten hoteleigenen Tennisplätzen aufgewirbelt haben. »And... hulet... and... hulet...«, schallt es monoton über den roten Sand: »Eins... zwei...« Tariku Tesfaye steht mit einem Ballkorb am Netz. Schlägt Kindern, gerade so groß, dass sie übers Netz sehen können, im Sekundenrhythmus Bälle zu. »Eins«: Weit ausholen! »Zwei«: Schlagen, Vorhand! Die Tennisanlage ist an den Kopfseiten von rostigem Maschendraht begrenzt. An der einen Längsseite steht eine Baracke, in der die Kinder Englischunterricht bekommen. Weil der Greek Club nur frühmorgens seine Plätze für die Jugendlichen öffnete, pachtete Tariku 2011 zwei herunterge- 82 GO SPE ZIAL / GIR L S O P E N kommene Plätze am Guenet-Hotel, am anderen Ende der Stadt, richtete die Plätze her und wiederholte, was schon einmal funktionierte: Er zog mit einem grellgelben Ball in der Hand durchs Viertel. Sein Bruder Desta lebte da bereits seit vier Jahren als Tennisgastarbeiter in Saudi-Arabien, wo er eine gutbezahlte Stelle als Trainer antrat und damit das Projekt aus der Ferne unterstützte. »And... hulet... Okay... Dankeschön für heute!« Tariku ruft die Sieben-, Acht-, Neunjährigen zu sich ans Netz, klatscht sie der Reihe nach ab, zwinkert ihnen zu. Sie, gut fünfzig Jungen und Mädchen, sind die zweite Generation des Tennisprojekts. Viele trainieren jeden Tag. Manche zweimal täglich. Alle wollen sie werden wie Meron, die gerade mit einem Schlauch über den staubigen Platz geht. Jeden Nachmittag dasselbe Ritual. Mal führt Meron den Schlauch. Mal Dinknesh, Merons Nachbarsfreundin von einst, die inzwischen sehr gut weiß, was Tennis ist. Für sie besteht es meist aus Zwei-Satz-Siegen. Nur gegen Meron verliert sie regelmäßig. »Tennis ist alles für mich. Es ist mein Leben.« Es klingt kein bisschen pathetisch aus Merons Mund. Eher wie eine nüchterne Analyse: Eine ganz und gar unwahrscheinliche Wendung hat sie vor zehn Jahren aus ihrem Alltag gerissen, seitdem ist ihr Leben ohne Tennis schlicht nicht mehr denkbar, Punkt. Dafür sei sie ihrem Trainer Tariku grenzenlos dankbar. »Er hat mir eine Richtung gegeben.« Ist die wichtigste Person in ihrem Leben. Wobei, nein, sagt Meron, niemand stehe über Gott. Jeden Morgen auf dem Weg zur Andinet International School, die Klasse 11b besucht sie dort, steigt sie um kurz vor acht aus einem der klapprigen Minibusse, die sie auf Zuruf und für ein paar Cent vom Straßenrand auflesen. Dreht den Rücken zum Verkehr, blickt über eine staubige Geröllhalde hinauf zur Salite Mihiret, einer orthodoxen Kirche mit einer größeren und mehreren kleineren Kuppeln. Schließt die Augen. Senkt den Kopf. Bekreuzigt sich. Die Wendung zum Guten sei Gottes Wille gewesen, sagt Meron. »I want you to write that down« – ich möchte, dass du das aufschreibst. Außer zum Schlafen verbringt Meron kaum noch Zeit zuhause. Tennistraining, Schule, wieder Training, Hausaufgaben. Dann die Englisch-Tutorien, die TDKET regelmäßig organisiert. Oft noch ein gemeinsames Abendessen mit den Teamkollegen. Die Wochenenden verbringt sie großteils auf dem Trainingsoder einem Turniercourt. Gefragt, ob ihr ein solch rastloses Leben manchmal zu viel wird: kein Zögern. »Überhaupt nicht! Faul und nutzlos herumzuhängen – das wäre schlimm.« Meron hat kaum Zeit für Freundschaften, und womöglich, ahnt sie, ist das gar nicht schlecht. Viele ihrer früheren Freunde sind, arbeits- und hoffnungslos, in die Kleinkriminalität abgedriftet. Die Jungs rotten sich in Banden zusammen. Die Mädchen schlagen Kapital aus ihrem Körper. Prostitution, die Perspektive der Perspektivlosen, ist allgegenwärtig in Addis Abeba. In den kühlen Abendstunden steht an jeder Straßenlaterne in den Ausgehvierteln ein leicht bekleidetes Mädchen. ZUHAUSE ZU GAST (oben) Merons Terminplan ist so voll, dass sie die elterliche Wohnung fast nur noch zum Schlafen betritt. BALL IM BLICK (unten) Seit einem Jahr verfügt die Tennisschule über zwei eigene Sandplätze. PLAN B Falls es mit dem Profitennis nichts wird, möchte Meron studieren. Derzeit besucht sie die Klasse 11b der Andinet International. 83 Center Court / TRAININGSERFOLG Teilnahme an der Junioren-WM, Goldmedaillen bei den Ostafrika-Meisterschaften — Meron Getu ist die beste Tennisspielerin Äthiopiens. VON DEN GROSSEN LERNEN Die TDKET-Kinder der »zweiten Generation« beobachten ein Finalspiel von Yohannes Gebre, dem talentiertesten Spieler der »ersten Generation«. 84 GO SPE ZIAL / GIR L S O P E N Ein Zögern, als Meron auf ihre Familie zu sprechen kommt. Was die Eltern machen, während sie zwischen Schule und Tennisplatz pendelt? »Hmm... Sie haben einen Laden. Verkaufen Zeug.« Was für Zeug? »Kaffee und so. Glaub ich... Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht. Ich war noch nie in dem Laden.« Es ist nicht so, dass ihr ihre Eltern nicht viel bedeuten würden. Die Ohrringe, die sie von ihrer Mutter als Kleinkind bekam, hat Meron in all den Jahren nur dreimal, und nur für Minuten, abgenommen. Aber sie haben ihre Tochter ein Stück weit verloren. Ans Tennis. An eine große Hoffnung. »Mein Traum ist, Weltranglistenerste zu werden und mein Land stolz zu machen«, sagt Meron. Und schickt dem Traum noch eine zweite Zukunft hinterher, die planbarer ist: »Ich möchte einen guten Schulabschluss machen, um Wirtschaftswissenschaften studieren zu können.« Mit ihrem Tennistalent plus guten Noten hätte sie beste Aussichten auf ein College-Stipendium in den USA. Selbst Plan C, ein Job als Tennislehrerin, klingt noch verheißungsvoll. Desta Tesfaye verdient in Saudi-Arabien mehrere tausend US-Dollar im Monat. Sein Bruder Tariku hätte eine ebenfalls lukrative Stelle in China antreten können, wenn seine großen TDKET-Pläne ihn nicht in der Heimat halten würden. Und selbst in Äthiopien, beim Greek Club etwa, verdienen Tennistrainer weit überdurchschnittlich. »Noch Fragen?« Wenn nicht, sagt Meron, ginge sie nun gern auf den Platz, um zu trainieren. Kommendes Wochenende steht ein Turnier an, bei dem sie sich in den Wochen zuvor bereits ins Finale gekämpft hat. Mal wieder. Gut 5000 Kilometer von Addis Abeba entfernt, auf einem anderen Kontinent, liegt an der Tennisakademie Rhein-Neckar in der Nähe von Heidelberg eine Skizze auf dem Schreibtisch, die mit »VISION« überschrieben ist. Es sind Pläne von einem Tenniscenter mit Umkleiden, Duschen, Lernräumen, umringt von neun Sandplätzen. Seit 2008 fördert die badische Tennisakademie das TDKET-Projekt, mit der Einladung von talentierten Jugendlichen zu Trainingscamps in Deutschland. Mit Ausrüstung. Oder eben mit Know How für ein an deutschen Standards gemessen spartanisches, für äthiopische Verhältnisse stattliches Tenniscenter in Addis Abeba. Erste Geldgeber sind bereits gefunden. Die Tennisanlage, sollte sie Wirklichkeit werden, könnte einmal den Kristallisationskern eines neuen Nationalsports symbolisieren. Das ist der Traum, den hier inzwischen nicht mehr nur Tariku Tesfaye und sein Bruder Desta hegen. Haile Gebrselassie, vielfacher Marathon-Weltrekordbrecher und äthiopischer Natio-nalheld, hatte die Tenniskinder einst im Greek Club spielen gesehen. Sie weckten bei ihm Erinnerungen an eine andere Pioniertat, die das Land veränderte: »Vor den olympischen Marathonsiegen von Abebe Bikila war Äthiopien in der Sportwelt nichtexistent. Danach kam ich, kamen viele andere, wir wurden zur Läufternation. Warum sollte eine solche Entwicklung im Tennis nicht möglich sein?« Wohlhabende Kinder, sagt Gebrselassie, schwitzen nicht gern. Das sehe er an seinem eigenen Nachwuchs. »Für sportliche Spitzenleistungen muss DENKSPORT Mehrmals pro Woche kommt ein Englischlehrer in die Baracke am Trainingsplatz, um die Tenniskids zu unterrichten. man sich quälen können. Und diese Bereitschaft ist nichts, was man sich kaufen und einfach mit einer Spritze injizieren kann.« Auch Stev Kleine, ein junger Trainer an der badischen Tennisakademie, ist begeistert von dem Trainingseifer der Tenniskids. Im Januar 2012 ist er zu seinem zweiten Besuch in Addis Abeba. Im Gepäck: hochwertige Tennisschläger und T-Shirts in Kindergrößen, die er einem Sporthersteller als Spenden abgeschwatzt hat. Das Gesicht gerötet von der Sonne, die 2400 Meter über dem Meer ihre Kraft nicht durch Wärme verrät, steht er an mehreren Tagen auf den Plätzen und schlägt unablässig die Bälle übers Netz. Mitgebracht hat er den Tennistalenten auch Konditions- und Koordinationsübungen. Seilhüpfen. Zwei gegen eins. Kleinfeldduelle mit blitzschnellen Ballwechseln. »Common!« — »Don’t stop!« — »You can do it!«. Kleine feuert sie an, in rauem Ton. Muntert sie kumpelhaft auf, er kann auch Zuckerbrot. So viel Motivation und Disziplin wünscht er sich bei deutschen Jugendlichen. Als sich die Abenddämmerung über die beiden Plätze legt, das Rot des Sandes und das Gelb der Bälle schluckt, nimmt sich Stev Kleine die Oberschenkelmuskulatur vor. Die Spielerinnen und Spieler müssen sich an der Längslinie aufreihen und im Entenrennen gegeneinander antreten: in der Hocke watschelnd zur anderen Seite des Spielfeldes und, Kehrtwende, zurück. Ein Durchgang. Dann noch einer und noch einer. Merons Gesicht ist schmerzverzerrt. Sie wird einen höllischen Muskelkater bekommen, das ist ihr schon jetzt klar. Vor dem anstehenden Turnierfinale ist ihr trotzdem nicht bange. Denn sie weiß, ihre Finalgegnerin wird mit dem gleichen Handicap antreten — Dinkenesh watschelt nur wenige Meter neben ihr. Just, als Dinkenesh innehält und aufgeben will, peitscht ein »Common, you can do it!« durch die Dämmerung. 85 Nebenplatz / VI ENRNIS TE FÜR & BLIN SCH UL DTEEX T Text Philipp Wurm Foto Lukas Coch Hart, härter, Tennisinternat Im Tennisinternat von Hannover sind die Tage streng getaktet. Wer in die Weltspitze will, darf keine Zeit verlieren – nicht an Partys, nicht an Jungs. Der Trainingsplatz ist der Mittelpunkt des Lebens 86 GO SPE ZIAL / GIR L S O P E N Wenn die 16-jährige Sonja Larsen im Bio-Unterricht die Tafel wischt, steckt ihr schon ein hartes Frühtraining in den Knochen. Rot lackierte Fingernägel und ein präzise bespannter Schläger: Die Mädchen im Tennisinternat von Hannover sind Perfektionistinnen. 87 Nebenplatz / TE N NIS & SCH UL E >Vorhin ist Sonja Larsen die Grundlinie entlang gesprintet wie eine Gazelle und hat dabei Bälle ins Feld geschlagen, deren Wucht einschüchternd war. Jetzt sitzt die 16-Jährige in ihrem Internatszimmer und wirft einen verlegenen Blick zu Boden, wo Sporttaschen und anderes Equipment wie Treibgut liegen. Nein, Sonja fällt auf die Frage des Reporters, ob sie noch etwas anderes außer Tennis interessiert, wirklich nichts ein. Für ihre Einseitigkeit muss sie sich kaum schämen. Die Anforderungen im Tennisinternat des niedersächsischen Tennisverbands (NTV) in Hannover lassen kaum andere Hobbys zu. Sonja, brünett, große Augen, steckt ein Tag in den Knochen, wie er andere, weniger zielstrebige Teenager zermürben würde: Frühtraining um 7.30 Uhr, dann Unterricht in der Oberstufe einer benachbarten Gesamtschule, nachmittags 88 GO SPE ZIAL / GI R L S O P E N wieder Training, mehrere Stunden am Stück, anschließend ein paar Hausaufgaben. Gleich wird sie das Licht ausknipsen – gegen 22 Uhr, zu einem Zeitpunkt, den andere Mädchen nutzen, um mit ihrem Freund zu skypen. Sonja sagt, sie habe keine Zeit für Jungs. Zu streng ist ihr Leben durchgetaktet. Wenn sie ein letztes Mal abends durch die Internatsgänge schlurft, ermüdet und bleiern, hängen dort Poster wie Mahnmale, sie zeigen Venus Williams oder Roger Federer, deren Triumphe sie im Fernsehen verfolgt hat. In ein paar Jahren will sie auch Spitzenprofi sein, es ist der vage Umriss eines großen Traums, der sie durch die entbehrungsreichen Wochen, Monate und Jahre im Internat trägt. Sonja ist deutsche Jugendmeisterin im Doppel. Im Einzel ist sie bei den Jugendmeisterschaften vergangenes Jahr Selbstdisziplin ist die wichtigste Lektion. Wenn um 22 Uhr das Licht ausgeknipst wird, steckt den Mädchen ein Tag in den Knochen, dessen Intensität andere Teenager zermürben würde im Viertelfinale ausgeschieden, obwohl sie auf Eins gesetzt war. Sonja wiegelt ab, sagt rückblickend, so etwas könne passieren, schließlich habe sie gegen Antonia Lottner verloren, die spätere Siegerin. Trotz Drill auf dem Tennisplatz und langen Turnierreisen bringt Sonja respektable Schulnoten. Unermüdlich feilt Katharina (18) an ihrer Technik. Schon jetzt zählt sie zur deutschen Elite. Seit 2006 wohnt sie schon im Internat — so lange wie nur wenige von den 15 Jungen und Mädchen, die gegen eine Monatsgebühr zwischen 1500 und 2000 Euro so brilliant werden wollen, dass sie später einmal in die Top 100 vorstoßen. Ihre Eltern sind meist wohlhabend, Ärzte oder Manager, andernfalls ließe sich diese Art der Karriereförderung kaum finanzieren. Einige Spieler zählen bereits jetzt zur deutschen Tennis-Elite. Die 17-jährige Katharina Lehnert etwa kam 2011 bei den deutschen Tennismeisterschaften der Damen in Biberach an der Riß unter die letzten Acht. Das Zuhause dieser Jugendlichen ist eine Parallelwelt, deren Inventar nur einen Zweck erfüllt: die »Leistungsoptimierung«, wie es im Sportlerjargon heißt. Über die Tennisplätze, die an das Internatsgebäude angrenzen, hallt das Geräusch aufditschender Bälle. »Hepp, hepp«, hört man einen Trainer rufen, »mehr Tempo!« Manchmal werden sie auch lyrisch: »Du latschst über den Platz wie ein Storch mit steifen Beinen«. Vier Trainer, ein Konditionstrainer, eine Psychologin und ein Mentor — der Ex-Profi Nicolas Kiefer — betreuen die Jugendlichen. Das Lernziel heißt »internationales Spitzentennis«, wie Geschäftsführer Eckhard Mittelstaedt sagt. Regelmäßig kommen zudem Spieler, die den Zöglingen wie Inkarnationen ihrer Träume erscheinen, Stars wie Julia Görges oder Sabine Lisicki. Das Areal ist nämlich zugleich der »Bundesstützpunkt Nord« des DTB — ein Trainingscamp, dessen Klosterstrenge auch etablierten Profis die nötige Konzentration verspricht. Sie 89 Nebenplatz / TE N NIS & SCH UL E 02 01 Anastasia Rosnowska ist mit 12 Jahren die Jüngste im Internat. Es gibt nur zwei Dinge, die sie auf ihrem Zimmer macht: Hausaufgaben und Schlafen. 01 02 Nicolas Kiefer ist Mentor der Internatszöglinge. Er war schon dort, wovon seine Schülerinnen träumen: in den Top Ten. quartieren sich dort zur Vorbereitung auf große Turniere ein. Die Hausordnung besteht in erster Linie aus Warnhinweisen: kein Alkohol, keine Zigaretten, kein Sex. Auf dem Kühlschrank in der Küche klebt eine Tabelle, die vor Süßigkeiten warnt, etwa Marsriegeln (enthalten 13 Zuckerwürfel!). An der Tür zum Speiseraum das nächste asketische Mantra, festgehalten auf einem Zettel: »Du brauchst ein Ziel vor Augen! Dieses erreichst du nur mir Ehrgeiz, Disziplin, harter Arbeit und dem Glauben an dich selbst.« Das Internat wurde 2004 eröffnet – zu einer Zeit, die eine Läuterungsphase für das deutsche Tennis war. Der DTB sah ein, dass Spieler anderer Nationen besser ausgebildet waren, agiler in der Bewegung, ausgereifter in der Schlagtechnik. Eine Kaderschmiede in Hannover sollte dieses Defizit aufwiegen. Im bayrischen Oberhaching wurde 2009 ein weiteres 90 GO SPE ZIAL / GIR L S O P E N Tennisinternat gegründet. In Hannover haben bislang etwa 60 Jungen und Mädchen geackert und geschwitzt. Der Sprung in die Top 100 ist bislang noch niemandem gelungen. Vielleicht sind manche der Abgänger aus den vergangenen Jahren noch zu jung, um schon jetzt durchzustarten. Eckhard Mittelstaedt, der Geschäftsführer mit ernster Miene, der die Effizienz des täglichen Schliffs überwacht, erklärt in seinem Arbeitszimmer: »Die Konkurrenz aus anderen Ländern ist gewaltig. Dort ist der Leistungsgedanke noch stärker ausgeprägt.« Er erzählt von russischen Talenten, die schon mit zwölf Jahren die Schule beenden, um ihr Spiel zu perfektionieren. Mittelstaedt möchte, dass seine Schüler das Abitur machen. Er will keine Jungspieler, die bloß Avatare erfolgs- TENNISINTERNAT AUFNAHMEKRITERIEN 03 Günstig ist die Mitgliedschaft in den Bundeskadern A, B, C, D/C oder in den Landeskadern D2, D3 und D4. Das Internat ist offen für Spielerinnen und Spieler aus allen Bundesländern. Die Schüler sind in der Regel zwischen 14 und 18 Jahre alt, für besondere Talente gibt es aber auch Ausnahmen. Kosten Die Kosten liegen zwischen 1500 und 2000 Euro monatlich, werden mit den Eltern aber individuell abgesprochen. Unterbringung 13 Appartements im Obergeschoss des Internats. Manche Mädchen teilen sich die Zimmer, manche wohnen allein. 03 Frühstück im Tennisdress — ganz normaler Alltag. Danach geht’s gleich auf den Tennisplatz. versessener Trainerstäbe sind. Sie sollen mündig sein und noch studieren können, falls sie scheitern. Scheitern heißt: nicht erfolgreich genug zu werden, um von Preis- und Sponsorengeld leben zu können. Morgens fährt ein Bus die Schüler in die Carl-Friedrich-Gauß-Schule, einer »Eliteschule des Sports«, deren Lehrer daran gewöhnt sind, Schüler zu unterrichten, die nicht Anwalt oder Lehrer werden wollen, sondern Spitzensportler. Dort brüten nicht nur Tennistalente über Differentialrechnung, Drama oder Demokratietheorie, sondern auch Nachwuchsfußballer aus dem Internat von Hannover 96 sowie Jungsportler, die im Olympiastützpunkt der Landeshauptstadt leben. In den Kursräumen mischen sie sich unter ganz gewöhnliche Schüler. Sonja Larsen sitzt im Labor für Biologie, einem ihrer Leistungsfächer, auf ihrem Pult liegen Mäppchen und mehrere Arbeitsblätter ausgebreitet. Gerade hat die Lehrerin den Elftklässlern eine kurze Pause gegeben. Ganz normal sei es, Klausuren zu bestehen und zugleich zum Tennis-Jetset zu gehören, sagt sie lapidar. Sonja ist manchmal tagelang mit ihren Trainern unterwegs und spielt auf Turnieren in Japan, Mexiko oder Frankreich um Punkte in der Juniorenweltrangliste. Die Schulleitung toleriert die Trips. Trotz dieser Weltreisen sind ihre Noten solide. Dass sie manchmal die ersten beiden Unterrichtsstunden verpasst, weil sie zum Frühtraining muss, schmälert ihre Leistungen ebenso wenig. Wer auf dem Tennisplatz brennt, ist offenbar auch in der Schule motiviert. Manchmal helfen auch Selbstansprachen. »Auch bei viel Training gut in der Schule sein«, dieses Gebot hat Anastasia Rosnowska, mit 12 Jahren die jüngste Internatsbewohnerin, auf ein Blatt geschrieben, das an die Wand über ihrem Bett drapiert ist, neben neun weiteren Verhaltensregeln. Anastasia, schmal und lang wie eine Zypresse, arbeitet daran, eine Familientradition fortzusetzen. Ihre Eltern waren Basketballprofis, nun will sie auch Leistungssportlerin werden. Sie wirkt noch so kindlich, dass man nicht genau weiß, ob ihr bewusst ist, was diese Entscheidung bedeutet. An den Wochenenden fährt sie zu ihrer Mutter, die in einer Kleinstadt in der Nähe von Hannover wohnt. Im Internat ist Elzbieta Zabek, eine Sozialpädagogin mit polnischem Akzent, ihre Ersatzmama. Die muss sie sich jedoch mit den anderen Jungen und Mädchen teilen. Elzbeita, »Ela« genannt, wohnt in einem kleinen Appartement im Erdgeschoss und ist die Leiterin des Internats. Sie tischt die Mahlzeiten auf, morgens ein Frühstücksbüffet, abends Spaghetti mit Tomatensoße oder Gemüsesuppe. Sie merkt, wenn jemand kränkelt. Sie schaut nach, ob die Betten gemacht sind. Wer im Tennisinternat lebt, wird also nicht nur gefordert, sondern auch umsorgt. In den älteren Bewohnern weckt dieses enge Korsett manchmal die Sehnsucht nach einem Ausbruch, einem Exzess. Im Sommer 2010 haben zwei Schüler, 17 und 19 Jahre alt, beim Feiern in der Stadt ein Mädchen abgeschleppt. Sie schliefen mit ihr, nahmen den Dreier mit ihrer Handykamera auf und zeigten den Dreh anderen Bewohnern. Bild titelte:»SexSpiele auf dem Internat«. Eckhard Mittelstaedt beschwichtigte gegenüber der Boulevardzeitung, es sei keine Vergewaltigung gewesen. Die Jungen wurden dennoch suspendiert. Verstoß gegen die Hausordnung. 91 Off Court / TE N NIS DIG ITAL Hersteller Nintendo bringt 1985 sein Entertainment System (NES) heraus und veröffentlicht »Tennis«. Schiedsrichter ist ein italienischer Klempner namens Mario, vom Hochstuhl spuckt er Sprechblasen, gefüllt mit »FAULT!« oder »OUT!«, auf die Spielfiguren. Trotzdem erinnert die Grafik bereits an Tennisübertragungen im Fernsehen: Der Court wird von unten nach oben dargestellt, der Stil prägt das Genre. Digitale DUELLe 1991: SUPER NES / »Super Tennis« Nicht nur auf Grand und Rasen liefern sich Kontrahenten erbitterte Ballwechsel — auch als Video-Spiel ist Tennis beliebt. Eine kleine Geschichte des Schlagabtauschs vor dem Monitor. nissport: Einfach loslegen ist nicht. Dort muss erst ein Platz gemietet werden und zumindest ein Grundkurs ist nötig, damit überhaupt ein vernünftiger Ballwechsel zustande kommt. Als unkomplizierter Spaß unter Freunden taugen die immer komplexeren Spiele jedenfalls nicht mehr. Viele Titel integrieren einen Solomodus, in denen man neu erschaffene Charaktere behutsam an die Weltspitze heranführen muss. Doch, wie jeder weiß; Karrierestreben macht einsam. Man zockt allein. 2006: NINTENDO / »Wii Sports« Text David Krenz > Mensch, warum hockst du dauernd vor dieser Kiste? Immer wieder werden passionierte Video-Spieler mit dieser Frage konfrontiert. Dann schwärmen sie von den fantastischen Welten, in die sie eintauchen. Und von der Chance, einmal ein Elf, ein Ork oder Lionel Messi zu sein. Oder Maria Sharapova. Wir schreiben das Jahr 1958, das Zentrum für Atomforschung von Brookhaven auf Long Island plant einen Tag der Offenen Tür. Einer der Forscher, William Higinbotham, möchte den Besuchern mehr bieten als Schaubilder und Texttafeln. Er knöpft sich den Oszilloskopen vor, ein Analogcomputer, der die Flugbahn von Raketen anzeigt, programmiert ihn um. Ein vertikaler Lichtbalken in der Monitormitte dient als Tennisnetz, ein flirrender Lichtpunkt als Ball. Per Drehknopf lässt sich sein Aufprallwinkel 92 GO SPE ZIAL / GIR L S O P E N ECHT SCHARF Die Spielfigur von Maria Sharapova ähnelt ihrem realen Vorbild bis in die Haarspitzen. steuern. Name des Simpelspiels: »Tennis For Two«. Vor dem monströsen Gerät mit dem mickrigen Display bildet sich eine Menschentraube, alle wollen Hand anlegen. Sie sind Pioniere. Die ersten Videospieler der Welt. Das Potential erkennt damals keiner. Higinbotham wendet sich alsbald wieder seinen Teilchenbeschleunigern zu. In den Siebzigern nimmt die Evolution des elektronischen Spiels Fahrt auf; angestoßen von einem Tennisball. Auch wenn der eher ein Pixelklumpen ist und unter Missachtung tatsächlicher Tennisregeln den Bildschirmrand als Bande nutzt. »Avoid missing ball for high score«, mit diesem Satz erschöpft sich die Anleitung von »PONG!«, dem ersten populären Spiel. Auf der ganzen Welt verfüttern Teenager ihr Taschengeld an die Arkadeautomaten. 1985: NiNTENDO / »Tennis« > In den Achtzigern ziehen die Videospiele aus der Spielhalle in die Kinderzimmer um. Der japanische > Im Jahr 1991 und etliche Epigonen später erscheint Super Tennis für die Nachfolgekonsole Super NES. Der Titel zeigt bis dahin ungekannten Realismus. Figuren knallen wütend ihren Schläger auf. den Boden, reichen sich nach dem Match die Hände. Die japanische Version lässt gar prominente Gesichter blicken, die aufgrund fehlender Lizenzen allerdings Andre Wagasi, Boris Obekka oder Pete Sample heißen. In den folgenden Jahren versuchen die Entwickler, sich der Wirklichkeit weiter anzunähern. 3-D-Modelle real existierender Spieler gehören zum Standard. Aber auch die Bedienung wird komplexer. Bis man sämtliche Schlagvarianten beherrscht, vergehen Stunden. Durch die Zählweise »Spiel-SatzSieg« steht erst nach langem Hin und Her ein Gewinner fest. Für die virtuelle Variante gilt nun Gleiches wie für den echten Ten- > Dann aber kommt Schwung in die Bude. 2006 erscheint das System Wii und mit ihr das Spiel Wii Sports. Statt per Tastendruck lässt sich das Geschehen auf dem Schirm durch ruckartige Bewegungen steuern. Der Spieler ahmt den Tennisschlag mit dem Arm nach, die Figur setzt ihn um. Ein frisches Konzept, dass selbst videospielferne Kreise vor die Konsole lockt. Wii Sports wird mit knapp 80 Millionen Kopien das meistverkaufte Videospiel aller Zeiten. Das Teilnehmerfeld setzt sich aus Vertretern des Feiervolks zusammen, dem Sieger winkt Schampus und ein Jutebeutel. Keiner hat jemals auf einem echten Court gestanden, doch egal: Tennis und Videospiele — beides cool, solange sich keiner zu ernst nimmt dabei. 2012: EA SPORTS / »Grand Slam Tennis 2« > Die jüngste Generation der Tennisspiele hat dieses Prinzip verinnerlicht. Zwar protzt »Grand Slam Tennis 2« mit dem Feature »Pro KI«, welches »die Spielstile und das Verhalten der größten Stars des Tennissports bis hin zu ihren einzigartigen Schlägen simuliert«. Doch der Hersteller weiß: Auch wenn die 3-D-Modelle von Ana Ivanovic oder Maria Sharapova hübsch anzuschauen sind, seinen Sexappeal bezieht ein Tennisspiel aus anderen Features. Was zählt, ist der Spielspaß; und der stellt sich schnell ein: Schon im ersten Match gelingen Slices und gar ein Hechtsprung, kaum ein Ball landet im Netz. Was Hardcoregamer sowie Tennisexperten als unrealistisch abtun mögen, ermöglicht Laien überhaupt den Zugang. Die will offenbar auch der Konkurrenztitel Virtua Tennis 4 erreichen: Im Party-Modus kann man mit dem Schläger Fußbälle ins Tor schießen oder Suppenteller zerdeppern. Tennis kann also durchaus auch als Videospiel begeistern — es sollte nur nicht allzu viel mit dem echten Sport gemein haben. Nicht nur der Mainstream haut sich den digitalen Filzball um die Ohren: 2007 gründen ein paar Hipster den Tennisclub Berliin, zwei »i« in Anlehnung an das Spielgerät. Mit Klebeband, Beamern und einer Leinwand verwandeln sie die Tanzflächen angesagter Nachtclubs in eine temporäre Tennisarena. 93 Off Court / Was macht eigentlich . . . »Ich wollte ein anderes Leben« Interview mit Anke Huber über die Zeit danach Text Doris Henkel ANKE HUBER, 37 Profi von 1989 bis 2001 Preisgeld: US$ 4,768,292 Bester Weltranglistenplatz: 4 Größter Erfolg: Australian Open-Finalistin 1996 Heute: Stell. Turnierdirektorin »Porsche Grand Prix«, lebt mit dem Fußball-Manager Roger Wittmann und zwei Kindern in Ludwigshafen 94 GO SPE ZIAL / GI R L S O P E N Foto Lukas Coch und Heinz Heiss > Als Magdalena Neuner Ende letzten Jahres mit nur 25 Jahren ihren Rücktritt ankündigte, war die Verwunderung groß. Bei Ihnen auch? Ich kann sie gut verstehen, weil ich auch relativ früh, mit knapp 27 Jahren, aufgehört habe. Irgendwann will man ein normales Leben führen, weil man genug hat von der Reiserei, dem Druck, der Beobachtung. Es wird aber vielleicht mal eine Phase in ihrem Leben geben, in der sie den Schritt bereuen wird. War es eine Kurzschlusshandlung oder haben Sie lange darüber nachgedacht? Oh, das hat lange gedauert. Ich habe fast ein Jahr gebraucht, um mich zu dem Entschluss durchzuringen. Und dann habe ich noch mal knapp ein Jahr 95 Was macht eigentlich . . . weitergespielt, obwohl die Entscheidung aufzuhören für mich persönlich längst gefallen war. Es hat ein bisschen gedauert, bis ich mich von meinem ersten Leben verabschiedet hatte. Gab es einen bestimmten Auslöser für den Rücktritt? Ich hatte damals einige Verletzungen in kurzen Abständen, das nagt an einem. Am schlimmsten aber war, dass ich kein wirkliches Zuhause mehr hatte. Ich wollte einfach nicht mehr in den nächsten Flieger steigen. Ich hab gemerkt, wie sehr ich meine Freunde vermisse und dass ich sie verlieren werde, wenn das noch Jahre so weitergeht. Ich wollte ganz einfach ein anderes Leben. Haben Sie die Entscheidung ganz allein getroffen? Ich hab mit meinem Manager geredet, mit meinen Eltern, aber am Ende muss man da natürlich alleine durch. Am Anfangs habe ich mir erst mal wenig Gedanken gemacht wie es weitergeht, ich war einfach froh, dass es vorbei war. Aber nach einer Weile kommt zwangsläufig die Frage: Was kommt jetzt? Du kannst ja nicht gar nichts tun für den Rest des Lebens. Wie waren die ersten Tage nach dem Rücktritt? Ich war damals mit einem australischen Tennisspieler zusammen. Ich war drei Monate mit ihm in Australien und habe ihn zu seinen Turnieren begleitet. Deshalb ist die Beziehung auch gescheitert, weil ich dieses Leben aus dem Koffer einfach nicht mehr wollte. Ich bin nach Hause geflogen und habe die Fuße hochgelegt. Endlich. Es war herrlich. Und dann? War ich drei, vier Monate an einem Fleck. Das kannte ich gar nicht mehr. Ich hab erst mal meine Wohnung schön eingerichtet, habe mir ein Zuhause gebastelt und die Zeit genossen, die ich jetzt für mich hatte. Wie haben Ihre langjährigen Freunde reagiert? Das war schwierig. Meine alten Freunde waren in Heidelberg und ich lebte damals in Salzburg. Natürlich kannte ich auch dort Leute, mit denen ich dann viel unterwegs war. Ich habe alles nachgeholt, was ich in den Jahren davor nicht machen konnte: Ausgehen, Kino, im Kaffeehaus sitzen. Der Kontakt zu meinen engsten Freunden hat sich erst 96 GO SPE ZIAL / GIR L S O P E N »Deshalb ist die Beziehung auch gescheitert, weil ich dieses Leben aus dem Koffer einfach nicht mehr wollte. Ich bin nach Hause geflogen und habe die Füße hochgelegt.« wieder aufgefrischt, als ich nach Deutschland zurückgezogen bin. Und wann kamen die ersten Zukunftspläne? Gleich nachdem ich aufgehört hatte, kam das Angebot, FedCup-Teamchefin zu werden. Das hab ich abgelehnt, weil ich nicht da weitermachen wollte, wo ich gerade aufgehört hatte. Etwas später hatte der Turnierdirektor in Filderstadt die Idee, dass ich ihn unterstützen könnte. Das konnte ich mir gut vorstellen. In Filderstadt hatte ich zweimal gewonnen, das würde mir Spaß machen. Es war ja nur für zwei Wochen im Jahr geplant. Konnten Sie den Job von Anfang an? Mit der Zeit sind die Aufgaben gewachsen. Meine Devise ist: Wenn ich was nicht weiß, kann ich es mir erklären lassen. Natürlich wäre es gelogen, wenn ich behaupten würde, dass ich alles kann. Es ist kein Ganzjahres-Job, aber ich kann viel von zuhause arbeiten und es deshalb gut mit den Kindern einrichten. Ich bin auch wieder bei Turnieren unterwegs, um Spielerinnen für den Porsche Grand Prix zu verpflichten. Das Reisen macht heute wieder Spaß. Hat Ihnen irgendwann Ihr altes Leben gefehlt? Klar fehlt da was. Man hat ja ein Leben lang was getan, was einem Spaß gemacht hat, was toll war. Und natürlich gibt´s da Tage, an denen man denkt: Mensch, vielleicht hab ich zu früh aufgehört. Welche Tage waren das? Vor allem die Tage, an denen man allein war. Und wenn die Grand-Slams im Fernsehen liefen. Da packt einen schon ein wehmütiges Gefühl. Ein Jahr nach dem Rücktritt lernten Sie Ihren Mann, den Fußballmanager Roger Wittmann kennen. Mittlerweile haben Sie, genau wie Steffi Graf, Off Court / zwei Kinder und eine eigene Familie. Zufall? Bei mir ja. Es war nicht so geplant nach dem Motto: Ich höre auf und gründe sofort eine Familie. Es hat sich so ergeben. Da ist Steffi auch privat zielstrebiger gewesen. Welches Talent muss ein Sportstar haben, damit er nach einer erfolgreichen Karriere auch ein erfolgreiches Leben danach hinbekommt? Ist Steffi Graf auch in dieser Hinsicht mehr Vorbild als ein jetsettender Boris Becker? Natürlich ist Steffi auch da ein Vorbild. Sie ist nach ihrer Karriere genauso professionell geblieben wie früher. Sie ist trotz ihres Riesenerfolges sehr normal und am Boden geblieben. Ich glaube das ist auch der Schlüssel das Leben nach der Karriere ordentlich meistern zu können: Respektvoll mit seinen Mitmenschen umgehen und so normal wie möglich bleiben. Die Entwicklung im deutschen Frauentennis sehen Sie vermutlich mit großer Freude. Natürlich. Ist doch schön, dass endlich was passiert, oder? Ich glaube, dass Sabine Lisicki, wenn sie sich nicht wieder verletzt, unter die Top Ten kommen kann. Und dass Andrea Petkovic in den Top Ten noch zwei, drei Plätze weiter nach vorn kommen kann, wenn sie Ihr Spiel stabilisiert. Sie selbst waren sehr zurückhaltend, eine Andrea Petkovic gibt heute gerne mal die Rampensau: sie ist frech und tanzt auf dem Court. Macht Sie es richtig? Heutzutage können die Spielerinnen ganz anders mit den Medien umgehen. Nach einer Petkovic wird ja geradezu gesucht, die Leute wollen, dass jemand ´ne Show macht. Ich find´s toll. Dadurch, dass Steffi so zurückhaltend war, musste ich das auch sein, obwohl ich vielleicht vom Typ her anders bin. Wenn ich mich in die Öffentlichkeit gedrängt und dann schlechter gespielt hätte, wäre das sicher negativ rüber gekommen. BARBARA SCHETT, 36 Profi von 1992 bis 2005 Preisgeld: US$ $3,109,510 Bester Weltranglistenplatz: 7 Größte Erfolge: Turniersieg in Klagenfurt 2000, Viertelfinale US Open 1999 Heute: TV-Moderatorin (Eurosport), lebt mit Ihrem Ehemann, dem australischen Ex-Profi Joshua Eagle in Australien und Innsbruck 97 Off Court / Was macht eigentlich . . . MARTINA HINGIS, 31 Profi von 1994 bis 2007 Preisgeld: US$ $20,130,657 Bester Weltranglistenplatz: 1 (insgesamt 209 Wochen; mit 16 Jahren jüngste Nummer 1 aller Zeiten) Größte Erfolge: 5 Grand Slam Siege (Wimbledon, US Open & 3x Australien), 43 Turniersiege Heute: Lebt Hingis in Zürich und Paris, verheiratet mit dem französischen Springreiter Thibault Hutin CLAUDIA KOHDE-KILSCH, 48 Profi von 1980 bis 1994 Preisgeld: US$ 2,035,385 Bester Weltranglistenplatz: 4 Größter Erfolg: Wimbledon-Sieg 1987 im Doppel (mit Helena Sukova) Heute: Immobilienmaklerin in Saarbrücken, hat 2011 Privatinsolvenz angemeldet 98 GO SPE ZIAL / GIR L S O P E N 99 Was macht eigentlich . . . RENATA KOCHTA, 38 EVA PFAFF, 58 Profi von 1989 bis 1996 Profi von 1980 bis 1993 Preisgeld: ca. $100.000 Bester Weltranglistenplatz: 301 Größter Erfolg: Europameisterin 1992 Heute: Die selbstständige EventManagerin lebt mit Tochter Tamina Karolina in München. 100 Off Court / GO SPE ZIAL / GIR L S O P E N Preisgeld: US$ 767,709 Bester Weltranglistenplatz: 17 Größte Erfolge: Sieg in Nashville & Viertelfinale Australian Open 1982 Heute: Sport-Psychologin in Königstein/Taunus 101 Was macht eigentlich . . . Huber, Schett, Hingis & Co.— Vom sogenannten Leben danach Text Markus Wanzeck > Ein eisiger Februarmorgen, ein schicker Vorort von Paris. Martina Hingis, 31, blickt etwas verdutzt drein, als Fotograf Heinz Heiss mit seinem VW-Bus vor ihr steht. Mit dem Ding also möchte er sie zu ihrem Gestüt chauffieren, wo das Shooting stattfinden soll. 70 Kilometer ist der Hof entfernt, eine Dreiviertelstunde Fahrt. Mit ihrem Auto. Wenn sie fährt. Aber mit dem VW-Bus? »Wie viel PS hat der?«, fragte der Weltstar aus der Schweiz skeptisch. Naja, so hundert vielleicht, sagt Heiss. »Dann nehmen wir mal besser mein Auto. Damit sind wir schneller.« Eine ehemalige Weltranglisten-Erste eben. Mercedes M-Klasse, getunt, 360 PS. Heiss nimmt als Beifahrer Platz und klammert 102 GO SPE ZIAL / GIR L S O P E N Titel / SEITENWECHSEL sich an seiner Fotoausrüstung fest. Hingis, erinnert er sich lebhaft, fuhr im »Pariser Stil«. Heißt: Überholen, selbst da, wo es eher nicht möglich ist. Immer Höchstgeschwindigkeit plus X. »Sind Sie tatsächlich fünfhundert Kilometer gefahren«, fragt Hingis ihren Begleiter während eines Überholmanövers, »nur wegen eines einzigen Fotos von mir?« Ist er. Fünfhundert hin, im richtigen Moment den Auslöser gedrückt, fünfhundert zurück. In den Tagen zuvor hatte Heiss bereits einige hundert Kilometer mehr abgespult, um ehemalige TennisStars in ihrem Leben nach der Profikarriere zu besuchen. Eva Pfaff, 51, trifft der Fotograf zu Beginn seiner Bilderreise unweit ihres Wohnortes Königstein im Taunus. Im Tenniszentrum des FTC Palmengarten in Frankfurt/Main gibt die heutige DiplomPsychologin regelmäßig Coachings für Führungskräfte und Leistungssportler. Der Tennisprofi Eva Pfaff hätte die Psychologin Eva Pfaff gut brauchen können: »Ich wäre gegen namhafte Gegnerinnen vor Nervosität nicht so in die Knie gesackt wie bei meinen ersten Duellen mit Martina Navratilova.« Eine tolle Karriere hatte die Doppel-Spezialistin trotzdem. Renata Kochta, 38, empfängt Heinz Heiss in einem farbenfrohen Souterrain-Büro in München, dem Sitz ihrer auf Mode und Events spezialisierten PR-Agentur »Kochta International«. In der SchickiMicki-Szene der Stadt genießt sie den Ruf einer Society-Lady und Party-Löwin. Ausdauer hat sie ja. Sie ist froh einen Neustart weitab ihrer ersten Karriere gewagt zu haben. Einziger Wermutstropfen: Sie hat den Spaß am Tennis verloren. »Der Ehrgeiz auf dem Platz ist noch der gleiche – nur treffe ich nicht mehr dahin, wo ich will.« Da lässt sie es lieber ganz und geht joggen. Am nächsten Morgen wacht Heinz Heiss in Saarlouis auf, 380 Kilometer nordwestlich von München. Hier arbeitet Claudia Kohde-Kilsch, 48, als Immobilienmaklerin. »Hauptberuflich«, wie sie betont. Denn sie ist eine Frau mit vielen Talenten: Diplom-Journalistin, Veranstalterin von Tennis-Camps, Liedtexterin. Zuletzt hatte Sie beruflich auch viel Pech und musste Insolvenz anmelden. Aber als ehemalige Weltranglisten-Vierte weiß sie zu kämpfen und hat längst neue Ziele vor Augen: »Mein Traum wäre es, einen Song für meinen lieben Freund Udo Jürgens texten zu dürfen.« Einige Tage darauf, vor der Porsche-Arena in Stuttgart. Anke Huber, 37, wartet schon, der VW-Bus von Heinz Heiss musste nochmal vollgetankt werden. Es sind noch ein paar Wochen hin bis zum »Porsche Grand Prix«, den sie als stellvertretende Turnierdirektorin seit einigen Jahren mitorganisiert. Huber ist unruhig, fragt, wie lange sie posieren müsse, eigentlich hätte sie gar keine Zeit, denn drinnen in der Halle liefern sich ihre Nachfolgerinnen gerade einen hitzigen Schlagabtausch: Es ist Fed-Cup-Zeit, Deutschland gegen Tschechien. Huber sagt: »Ich bin nicht mehr Profi, heute bin ich Fan.« HEINZ HEISS, 49. Für seine Porträts von Intelektuellen und Künstlern bekam der Stuttgarter 2007 den Hansel-Mieth-Preis. LUKAS COCH, 31. Der Kölner Weltenbummler ist bekannt für seine Reportagen aus Lateinamerika und Australien. ZWEI ZIEMLICH SÜSSE LADIES ANNA KOURNIKOVA Der Ruf, der Anna Kournikova hinterhereilte, als sie noch über die Centre Courts stolzierte, war zweifelhaft: hübsch sei sie ja, die strahlend blonde Russin, aber ein Match gewinnt sie so selten wie England bei der Fußballweltmeisterschaft das Elfmeterschießen. Das hat sich schon so sehr herumgesprochen, dass es in der amerikanischen Pokervariante »Texas Hold'em Poker« ein Loser-Blatt gibt, das nach ihr benannt ist. Wer eine Ass-König-Kombination gezogen hat, hält eine astreine »Anna Kournikova« in der Hand. Dazu sagt man den Spruch: »Sieht gut aus, gewinnt aber selten.« Dabei hat Kourniko- va im Einzel von 338 WTA-Spielen 209 gewonnen, im Doppel eroberte sie gleich zwei Grand-Slam-Titel, und im Laufe ihrer Karriere hat sie sich Preisgeld in Höhe von 3,6 Millionen Dollar erkämpft. Kann ja sein, dass Konkurrentinnen wie Martina Hingis oder Jennifer Capriati häufiger siegreich waren, besonders in Finalspielen. Kann auch sein, dass Kournikova, die globale Hochglanzikone, durch Werbeeinnahmen letztlich mehr Vermögen angehäuft hat als durch Turnierprämien. Den Verstand sollte man sich deshalb aber nicht vernebeln lassen – so hinreißend Anna Kournikova auch aussehen mag. Wer eine solche Bilanz vorweist, hat immer noch eine respektable Karriere hingelegt. Aber so ist das eben: Von der schönsten Spielerin wurde auch erwartet, dass sie die allerbeste sei. RITTER SPORT Es klingt ja auch wirklich romantisch: dass die Rittersport-Schokolade, die immer so gesund, leicht und smart daherkommt, ihre Existenz dem Tennis zu verdanken habe – einem Sport, der man ähnliche Eigenschaften zuschreibt. Clara Ritter, die Gründerin des schwäbischen Unternehmens, soll die Süßigkeit in den 30er Jahren erfunden haben, damit die Spieler während des Seitenwechsels etwas zum Knabbern hatten. Man könnte gewissermaßen von einem Vorläufermodell von Boris Beckers berühmter Pausenbanane sprechen. Und tatsächlich spricht für die Rittersport-Schokolade als Proviant auf dem Tenniscourt, dass sie in jede Gesäßtasche passt. Doch die Geschichte ist eine Ente, auch wenn sie, so hört man in der Pressestelle des RittersportKonzerns, auf Schautafeln im Kölner Schokoladenmuseum so erzählt wird. In Wirklichkeit war es der eher grobschlächtige Fußball, der Clara Ritter auf die Idee brachte, eine Schokolade einzuführen, die »quadratisch, praktisch, gut« ist. Auf einem Fußballplatz, der sich in der Nähe des Unternehmens in Waldenbuch bei Stuttgart erstreckte, beobachtete die Patriarchin, wie die Zuschauer in der Halbzeitpause immer laut fluchten. Die damals handelsüblichen Schokoladentafeln, die aus ihren Jackettaschen ragten und viel zu länglich ausfielen, waren mal wieder zerbrochen und zerbröselt. Die neue Blockschokolade, die sie auf den Markt brachte, war kompakter und fester. Seither sichtet man sie hin und wieder auch auf Tennisplätzen. Zucker wirkt euphorisierend. 103 Center Court / VE R BAN DSPOLIT I K Text Thilo Komma-Pöllath FOTO Christoph Püschner (l.) »Es fehlt der Biss« Ulrich Lange, Präsident des WTB, einer der mächtigsten Männer im deutschen Tennis 104 GO SPE ZIAL / GI R L S O P E N Der graumelierte Gentleman ist einer der mächtigsten Männer im deutschen Tennis: Ulrich Lange, 69, langjähriger Präsident des Württembergischen Tennis-Bundes und damit Chef des zweitgrößten Landesverbandes im DTB. Zuletzt hat der Reutlinger sich im Präsidenten-Wahlkampf im November 2011 für einen Neuanfang und gegen den amtierenden Inhaber Georg von Waldenfels ausgesprochen. GIRLS OPEN traf Lange am Rande des Fed-Cups in Stuttgart zum Gespräch über den anstehenden Strukturwandel im deutschen Tennis >Herr Lange, geben Sie uns angesichts der Erfolge der deutschen Damen recht, dass das deutsche Tennis lange nicht mehr so attraktiv war wie heute? Wenn ich eine Girlie-Band zusammenstellen müsste, dann würde ich optisch, charakterlich und intellektuell genau unsere vier Mädels nehmen: Petkovic, Lisicki, Görges und Kerber. Die sind alle sehr nett, zicken nicht rum und total dankbar, was man für sie getan hat. Besser geht’s nicht. »Tennis soll wieder cool werden«, sagt der neue DTB-Präsident KarlGeorg Altenburg, den Sie unterstützt haben. Wie soll das gehen? Die letzten fünf, sechs Jahre sind wir dahingesiecht, jetzt herrscht wieder Aufbruch-Stimmung. Dieser Neuanfang war wichtig. Ich habe sein Organigramm gesehen, wer für was zuständig ist. Mit Altenburg ist jetzt Zug drin, mit ihm sind wir auf dem richtigen Weg. Ich weiß nicht, was er mit cool meint, ich habe immer gesagt: Tennis muss sympathisch sein. Darunter verstehe ich, dass die jungen Menschen eine sportliche Heimat in den Vereinen finden. Tennis muss geselliger werden. Da gehört Beach-Tennis dazu, vielleicht mal eine Tennisparty am Abend. Wir müssen neue Konzepte entwickeln, die das gesellschaftliche Erlebnis Tennis wieder neu erfinden. Ist Vereinsmeierei nicht old School angesichts der neuen Medien, in denen sich Kinder und Jugendliche heute austoben? Ich glaube schon, dass Tennisvereine immer noch trendy und im Zeitgeist sind. Es gibt da rührige Vereinsvorstände, die ein irrsinniges Vereinsleben aufziehen. Einer dieser typischen Vereine im WTB ist der TC Pliezhausen. In Pliezhausen, zwischen Tübingen und Stuttgart, wohnen keine 5000 Menschen, aber der Tennisclub hat knapp 500 Mitglieder. Da ist permanent was los. Das letzte Mal hat die erste Mannschaft, alles Jungs übrigens, bei einem großen Abendessen die Seniorengruppe bekocht. Es muss ein fantastischer Abend gewesen sein. Oder nehmen sie den TC Doggenburg. Die haben ihren BridgeAbend, die haben ihren Boule-Abend, die haben ihren Skat-Abend, die haben ihre Turniere, es geht weiter über Tennis hinaus. Muss auch der Sport selbst reformiert werden? Ich wäre dafür, aber da laufe ich gegen Wände. Ich könnte mir vorstellen, den Sport noch mehr zu verkürzen. Das man sagt, der Satz geht nur noch bis fünf. Das sind aber meine ganz persönlichen Vorstellungen gegen die es viele Widerstände bei den Gralshütern gibt. Der DTB und seine Landesverbände haben seit Boris Becker und Steffi Graf einen enormen Mitgliederschwund zu verzeichnen. Von ehemals 2,4 Millionen registrierten Tennisspielern sind in Deutschland noch 1,6 Millionen geblieben. Gut ein Drittel weniger. Ist dank der jüngsten Erfolge von Petko & Co. eine Kehrtwende in Sicht? Die Erfolge sind im Moment noch zu kurzfristig, als dass sie sich in dieser Form schon auswirken konnten. Was man mit Sicherheit sagen kann ist, dass Tennis wieder in aller Munde ist, auch in Medien. Das ist jahrelang wegen fehlender Vorbilder nicht der Fall gewesen ist. Sie hoffen aber, dass die Zahlen bald wieder deutlich steigen könnten? Ich möchte doch mal mit einer Mär aufräumen. Die großen Entwicklungen in den Tennisvereinen sind in den 70er Jahren passiert, da wurden auch die meisten Klubs gegründet. Später haben Becker und Graf dazu beigetragen, dass Tennis in den Medien einen ganz anderen Stellenwert bekommt. Zur Mitgliederentwicklung haben die beiden nicht beigetragen. Ich kann ihnen das an Hand der Zahlen belegen: Den Höchststand an Mitgliedern hatten wir im DTB 1987/88, also auf dem Höhepunkt des deutschen Tenniswunders. Aber auch da schon stagnierend. Der Württembergische Tennis-Bund hatte damals 240.000 Mitglieder, heute liegen wir bei rund 190.000. Während der DTB einen Rückgang von 33 Prozent zu verkraften hatte, sind es bei uns nur rund 20 Prozent. Mir tut jeder Einzelne weh, der austritt, aber im Verhältnis zu den anderen Landesverbänden sind wir der Einäugige unter den Blinden. 01 Cool und sympathisch soll Tennis wieder werden, sagt Präsident Ulrich Lange. Er denkt an Beach-Tennis mit Julia Görges… 02 …oder Tennis in der Schule. Der WTB hat 600 Tennis-Sets mit Schlägern und Bällen an den Schulen verteilen lassen… 03 …damit die Jüngsten wieder Spaß am »aufregendsten Spiel der Welt« bekommen. Ob's hilft? 01 02 03 Werden Sie versuchen, Petkovic und die anderen als Testimonial für die Nachwuchsarbeit zu gewinnen? 105 VE R BAN DSPOLIT I K Wenn sie die jungen Leute heute etwas härter anfassen, dann wird sofort gejammert. Boris Becker hat mal den Ausdruck geprägt: »Man muss Gras fressen können«. einfach verwöhnter ist. Die Kinder haben alles, es geht ihnen gut, sie haben es gar nicht nötig. Wenn Sie mal die letzten Jahre Revue passieren lassen, dann werden sie feststellen, dass die erfolgreichen Spielerinnen im Tennis hauptsächlich aus Osteuropa oder Dritte Welt-Länder kommen. Warum? Weil sie im Sport die einzige Chance sehen, sich aus diesem sozialen Umfeld zu lösen. Mann kann nicht alle über einen Kamm scheren, aber es ist häufig so, dass kaum einer mehr malochen will. Das wird man mit Sicherheit versuchen. Ob das funktionieren wird, da bin ich skeptisch. Die haben einen so vollgepackten Spielplan, dass sie dafür kaum Zeit haben werden. Viel wichtiger ist sowieso, dass die jungen Menschen in unseren Clubs wieder Vorbilder haben und gerade eine Andrea Petkovic oder Sabine Lisicki taugen ideal für diese Rolle. Das Interessante ist, dass wir im Nachwuchsbereich bei den Kindern keinerlei Probleme haben, aber bei den 25- bis 40-Jährigen gibt es seit Jahren keine Entwicklung. Das ist in allen Sportarten so. Die Siegerin der »Australian Open«, Viktoria Azarenka, kommt, als wollte sie Ihre These bestätigen, aus Weißrussland. Versagt da nicht die moderne Trainingslehre? Fragen Sie mal die Trainer! Wenn sie die jungen Leute heute etwas härter anfassen, dann wird sofort gejammert. Boris Becker hat mal den Ausdruck geprägt: »man muss Gras fressen können«. Denen fehlt der Biss. Daraus resultieren später die vielen Verletzungen, weil sie körperlich nicht alles tun, um diesen Anstrengungen gewachsen zu sein. Und viele vergeuden ihr Talent, wenn sie in jungen Jahren schon gut gestellt sind. Wenn manche auf der Tour 200.00 Euro im Jahr machen, fragen sie sich, warum soll ich noch mehr tun? Woran machen Sie das fest, dass die jungen Talente vor der Stufe zum Hochleistungssport abspringen? Das ist ein gesellschaftliches Problem. Gehen Sie zwanzig, dreißig Jahre zurück. Sie sind in einer Stadt geboren, haben eine Schule besucht, anschließend sind sie auf die Universität oder haben eine Lehre gemacht. Sie sind eigentlich sesshaft gewesen. Heute wird von den jungen Menschen verlangt, dass sie sehr mobil sind. Unsere Jugendlichen spielen in den Vereinen sehr häufig Tennis bis zum Abitur oder bis sie zu einer Berufsausbildung kommen, und dann verwässert sich das. Und das zweite ist: viele wollen sich nicht mehr quälen. Das alte Lied also: Uns geht es zu gut. Die Bereitschaft, sich heute für den Sport zu quälen, ist erheblich geringer als früher. Natürlich spielen die neuen Medien eine große Rolle, weil viele Kinder heute ihre Zeit vor dem Handy oder Laptop verbringen. Zu meiner Zeit war es eben noch so, dass man nach der Schule raus ist und hat Sport getrieben. Es gab keine andere Abwechslung. Der zweite Punkt ist der, dass unsere Generation heute 106 GO SPE ZIAL / GIR L S O P E N Nachwuchsförderung muss also erzieherisch viel früher beginnen. Sie haben sich vorgenommen, Tennis als Schulfach zu etablieren. Was Tennis in der Schule angeht, sind wir in Deutschland federführend. 2005 haben wir uns im Präsidium hingesetzt und überlegt, wie können wir unseren Sport in den Schulen propagieren. Das Problem war, es gab kein Geld für Unterrichtsmaterialien und Ausrüstung. Da habe ich spontan gesagt, das ändern wir. Wir haben eine Kleinfeld-Tennisaktion gestartet und bis heute an 600 Schulen Tennis-Sets verteilt mit Schlägern, Bällen und Broschüren. Wir sorgen für die Ausbildung der Lehrer und eine enge Verzahnung von Club und Schule. Langjährige Vereinsspieler, die schon aus dem Beruf sind aber noch fit genug, gehen in die Schulen und zeigen den Kindern, was Tennis überhaupt ist. Und was ist Tennis? Das aufregendste Spiel der Welt. GirlsOpen Herausgeber Dr. Ulrich Bausch Zeitenspiegel-Reportageschule Günter Dahl an der VHS Reutlingen GmbH Chefredaktion Thilo Komma-Pöllath, Philipp Maußhardt Art Direktion Alexandra Engelhard Fotoredaktion Barbara Bylek (Zeitenspiegel Reportagen Reinhardt & Partner) Schlussredaktion Mathias Becker Titelillustration Matthias Schardt/ kombinatrotweiss Textredaktion Jörg Allmeroth ,Torben Dietrich, Agnes Fazekas, Doris Henkel,Bastian Henrichs, Anna Hunger, Angelique Kerber, Johan Kornder, David Krenz, Sara Mously, Christian Schnohr, Janet Schönfeld, Julius Schophoff, Matthias Stach, Markus Wanzeck, David Weyand, Philipp Wurm Verlagsanschrift Spendhausstr. 5, 72764 Reutlingen, Tel: 07121/336-0 Druck Sachsendruck Plauen GmbH Paul-Schneider-Straße 12, 08525 Plauen Besonderer Dank an Porsche AG, Stuttgart Barbara Rittner Bildnachweise Editorial, S.3: Thomas Kienzle/Zeitenspiegel, Alfred Gerold, Christoph Püschner/ Zeitenspiegel, Rainer Kwiotek/Zeitenspiegel Inhalt, S.4-5: Jürgen Hasenkopf, Kathrin Harms/Zeitenspiegel, Lukas Coch/ Zeitenspiegel, Nintendo, Rainer Kwiotek/ Zeitenspiegel S.6-16: Paul Zimmer (6), Angelo Tonelli S.17: Privat S.18-27: Getty Images (3), Thomas Kienzle/ Zeitenspiegel (2), AFP, ddp images, dpa (5), Markus Hintzen, Paul Zimmer S.28-31: Lukas Coch/Zeitenspiegel (4) S.32-37: Jürgen Hasenkopf (9) S.38-39: Pressefoto Baumann, David Weyand S.40-43: Paul Zimmer (6) S.44-45: Antonia Zennaro/Zeitenspiegel (4) S.46-51: Lukas Coch/Zeitenspiegel (4), Marijn Zaal, dpa S.52-53: Red Bulletin GmbH, dpa S.54-60: Kathrin Harms/Zeitenspiegel (4), dpa (3), Getty Images (4), ddp images (4) S.61: dpa S.62-63: Paul Zimmer (2), privat S.64-69: dpa, ddp images, Getty Images S.70-75: Kathrin Harms/Zeitenspiegel (4), Lukas Coch/Zeitenspiegel, privat (5) S.76-85: Rainer Kwiotek/Zeitenspiegel (11) S.86-91: Lukas Coch/Zeitenspiegel (7) S.92-93: Nintendo (3), EA Sports (2) S.94-102: Heinz Heiss/Zeitenspiegel (5), Lukas Coch/Zeitenspiegel (2), Martin Stollberg, Tilman Wörtz/Zeitenspiegel S.103: shutterstock, ddp images, Ritter Sport (2) S.104-106: Christoph Püschner/ Zeitenspiegel, Getty Images, DTB (2) S.107: Paul Zimmer, ddp images, Pressefoto Baumann (2)