GW Boardmagazin Swing im Ballhaus Berlin
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GW Boardmagazin Swing im Ballhaus Berlin
M U S I C T E X T F O T O S — — J E N N I G Ü N T H E R B E R L I N R O T H S C H W E R I N G Das Ballhaus Berlin ist der älteste Ballsaal der ganzen Stadt und nach drei Renovierungsmonaten endlich wieder eröffnet. Ein Symbol der stadtweiten Renaissance einer lebensfrohen Tanzkultur 36—GW GW—37 B E R L I N D Eins der nummerierten Tischtelefone im Ballhaus; Vorige Seite: Andrej Hermlin Dial 28 for a date? Previous page: Andrej Hermlin gets ready to perform er Spiegelsaal ist in schummriges Licht getaucht, auf der Theke Eiswürfel in einer Champagnerschale. An der sechs Meter hohen Stuckdecke hängt ein Kronleuchter mit Kugellampen, eine Wendeltreppe führt zur Galerie mit ihren Sitzbalkonen. Dazu Trompetentöne und knarzende Posaunen und sofort fühlt man sich in eine längst vergangene Zeit versetzt. Ein Kassiererhäuschen mit Türgriffen aus Messing und zwei Laternen links und rechts, führt direkt in den Spiegelsaal vom Ballhaus Berlin und in das Lebensgefühl der 30er Jahre: Nur die Toiletten, die Schanktechnik und der Schallschutz sind neu, alles andere stammt aus alten Zeiten oder ist dem Original nachempfunden: Die rotgestrichenen Wände, der mit Goldfarbe patinierte Stuck, das Fischgrätparkett auf dem Tanzboden. Vor allem erinnern die Tischtelefone an das rauschende Nachtleben der Weimarer Republik: Nirgendwo sonst gibt es diese nummerierten Tischapparate, die mit ihren abgegriffenen Drehscheiben und den pfundschweren Hörern von Zeiten erzählen, in denen der Gigolo noch die Dame an Tisch Nummer 33 anklingelte, um sie zum Tanz aufzufordern. « Dort zu zweit zu tanzen ist schon was anderes als in einem Techno-Club, wo jeder vor sich hinwippt » 38—GW Heute, nach fast 100 Jahren, ist die Vergangenheit in der Gegenwart angekommen. Die Ballhauskultur erlebt eine Renaissance, Swing ist wieder in. Die Telefone stehen für eine neue Sehnsucht nach Gemeinsamkeit, nach persönlicher Nähe in einer Zeit, in der die oft oberflächliche und exhibitionistische Kommunikation via Internet die Oberhand gewinnt. „Sich im Ballhaus zu treffen und zu zweit zu tanzen – das ist doch was anderes als in einem Techno-Club, in dem jeder vor sich hinwippt“, sagt Andrej Hermlin. Hermlin ist als Swing King Deutschlands bekannt und steht jeden Dienstag auf der Bühne seit das Ballhaus wieder eröffnet wurde. Unter Hermlins Leitung hat sich das 1987 gegründete SwingDance Orchestra zur erfolgreichsten Swing Big Band Deutschlands entwickelt. Die Musiker treten mit den Berliner Philharmonikern auf, im Fernsehen, in angesehenen Hotels und bei Tourneen von Zürich über Hong Kong bis New York. Schon als er drei war, sagt Hermlin, habe er sich in die Swing-Musik verliebt: Damals hörte der heute 49-Jährige die Platten seines Vaters, des DDR-Schriftstellers Stephan Hermlin, und beschloss, ein berühmter Swing-Musiker zu werden. Das hat er geschafft, vor allem aber hat er die Liebe zum Swing behalten, die für ihn weit mehr ist als musikalische Leidenschaft: Seine Band sieht aus und klingt wie eine Band aus den 30ern, Hermlin trägt auch im Alltag Anzüge mit Bogart-Hut. Er fährt einen Buick, sein Haus im Berliner Stadtteil Pankow wurde 1929 gebaut, das Interieur besteht durchweg aus Originalen – vom Lichtschalter bis zum Heizkörper. Hermlin ist das Gesicht des Swing-Booms, der mittlerweile auch vor Eckkneipen nicht mehr Halt macht. Berlinweit werden Das Ballhaus Berlin hat viele Fans, die sich dort im Stile der 30er – wie man sieht – gut amüsieren. Oben links: DJ Globalution legt auf. Unten links: Andrej Hermlin’s Band Ballhaus Berlin has many fans who clearly enjoy entertainment 30s style. Top left: DJ Globalution. Below left: Andrej Hermlin at the piano with his swing band GW—39 B E R L I N Gäste im Ballhaus Berlin schwingen das Tanzbein zu Musik von Hermlins Band Andrej Hermlin’s Swing Band propels people onto the Ballhaus dancefloor Tanzkurse und -abende angeboten, zum Beispiel im Chez Heiner in der Weserstraße. Im Ron Telesky Canadian Pizza trifft sich die Fangemeinde zu Swing und Pizza, der Frannz Club lädt zu Swing und Wein und im legendären Kreuzberger Punk- und Techno-Schuppen SO36 steht Swing auch mit im Programm. Die Szene wächst seit einigen Jahren immer weiter. „Dabei war die ursprüngliche Swing-Ära sehr schnelllebig“, sagt Hermlin. „Sie fing Mitte der 30er an und dauerte gerade mal zehn Jahre.“ Die Lebensfreude, das Lebensgefühl, den Gemeinschaftssinn – Sehnsüchte, die jetzt, in der neu- en Wirtschaftskrise, wieder aktuell sind: „Die Menschen suchen nach Neuem, nach Sicherheiten. Und die finden sie im Alten.“ Der Vater dreier Kinder hat die Berliner Welle mit losgetreten, davon ist auch der DJ und Musiker Stephan Wuthe überzeugt. Er erinnert sich an 1996, als Hermlin im Grünen Salon der Volksbühne spielte, und er selbst seine Schellackplatten auflegte, die er sammelt, seit er zehn ist. Heute legt Wuthe keine Platten auf, aber auch als Gast ist sein Auftritt stilecht: Der Aufschlag seiner Hose aus feinstem Zwirn ist genau fünf Zentimeter « Die Menschen suchen nach Sicherheiten und die finden sie im Alten » breit, der Umfang beträgt 50 Zentimeter. „Bedingung für eine richtige Gary-Cooper-Hose“, sagt Wuthe. Er trägt Krawattenschal und Borsalino-Hut. Auch ein Unterhemd darf nicht fehlen, damit der Schweiß da bleibt, wo er sein soll. „Und die Sockenhalter geben einen guten Halt an der Wade, ein ganz anderes Tanzgefühl.“ Aber auch ohne passendes Outfit: „Swingtanzen, das ist einfach Lebenslust.“ Wuthe hat ein Buch über den Swing geschrieben, dessen Vorläufer schon vor 1914 von Amerika nach Europa gelangte – damals allerdings noch über gedruckte Noten von Überseereisenden. Dann nahmen Militärkapellen die ersten Ragtime-Platten auf, und später übertrug das Radio die Musik aus Tanztempeln wie dem New Yorker Hotel Savoy oder dem Cotton Club, wo vor allem Schwarze zu Swing-Rhythmen tanzten und den Lindy Hop kreierten. Benny Goodman und Artie Shaw waren die großen Namen, und mit den Fernsehbildern folgten schließlich auch in Europa Mode und Lebensgefühl. Und als Berlin sich in den 90er-Jahren nach der Wende auf die Suche nach sich selbst machte, folgte auf Tango und Techno wieder der Swing. Dabei ist das Ballhaus Berlin der perfekte Ort für das Revival gepflegter Abendkultur und altmodischen, aber eleganten Amüsements. Das Tanzlokal gilt als das schönste Ballhaus der Stadt, der Ruf des Hauses ist legendär, manchmal tauchen sogar Besucher aus den USA auf, die wissen wollen, ob es „The Ballhouse“ wirklich gibt. In die Musik mischt sich das Klingeling der Telefone, das Knallen eines Sektkorkens und Gesprächsfetzen aus zögerlichen Annäherungsversuchen: „Ein Drink gefällig?“ Genauso muss es sich in dem Lokal schon vor 80 Jahren angefühlt haben, als der Dandy mit Hosenträgern der Dame in Tüll und Taft zu den Klängen einer Swing Band einen Absinth spendierte. Und doch soll das Ballhaus eines nicht sein: die Kopie einer alten Zeit. „Wir kramen aber nicht nur alte Sachen raus“, sagt Christof Blaesius, der zusammen mit Karl-Heinz Heymann vom Kaffee Burger die Leitung des GW—41 B E R L I N Ballhaus Berlin übernommen hat. „Als ich vor zehn Jahren zum ersten Mal ins Ballhaus kam, hab‘ ich mich sofort in den Ort verliebt“, sagt der gebürtige Kölner über das Fabrikgebäude mit seiner grün-weiß glasierten Fassade in der Chausseestraße. Die ehemalige Amüsiermeile zählte mehrere Tanzpaläste, aber das Ballhaus Berlin von 1905 ist als einziger übrig geblieben. Nach dem Krieg bot es zunächst Kleinkunst und Kabarett, getanzt wurde erst wieder ab den 50er-Jahren. Aber der ehemalige Besitzer Herbert Gottschlich wollte 2013 nicht mehr. Nach dem Mauerfall war es immer stiller geworden im alten Saal, zuletzt auch wegen einer Großbaustelle nebenan. Am Ende verirrten sich fast nur noch Stammgäste und Nostalgiker dorthin. Das will Blaesius nun nach der Wiedereröffnung ändern. Zum Beispiel mit einem eigenen Ballhaus-Sound aus alt und neu: Es gibt einen wöchentlichen Ska- und Reggae-Abend. Und natürlich Electro-Swing: Die moderne Variante ist im Trend, Swing-Remixe von Parov Stelar, Alle Farben und anderen DJs werden millionenfach im Internet geklickt. Und wie es sich für ein Ballhaus gehört, gibt es eine Haus-Band: Freitags steht die StattKapelle auf der Bühne, geleitet von Robert Matt, der schon mit Nina Hagen und den Pet Shop Boys spielte, am Schlagzeug Dave Anania, Trommler der Blue Man Group. Gitarrist ist Jan Stolterfoht, der schon für Max Herre und Xavier Naidoo produzierte. Und die Gäste? Am liebsten alles vom Stammpublikum bis zu den jungen kulturinteressierten Menschen, sagt Blaesius. Und gern auch mal Prominenz: Neulich erst wählte die deutsche Starfotografin Ellen von Unwerth den Saal als Kulisse für ein Fotoshooting, und das 20-jährige Jubiläum von Oliver Kalkofes Mattscheibe kam 42—GW aus dem Ballhaus und erinnerte so wiederum an Zeiten, als Harald Juhnke dort auftrat oder Günter Pfitzmann. An die kann der Garderobier Michael Wutzke sich gut erinnern. Vor 25 Jahren bewarb er sich per Annonce, seither steht er dort auf seinem Beobachterposten. Im besten Berlinerisch berichtet er, dass das Publikum schon immer gemischt war. Neben Anwälten und Arbeitern waren auch mal Kohlenträger dabei. „Dit sah man an die Hände“, meint er. Er wurde zu einem Vertrauensmann für viele Stammgäste. „Die haben mich dann gebeten ja nicht ihrer Frau zu erzählen, wenn sie mal mit einer anderen Dame aufgetaucht sind.“ Aber er hat auch den Anfang einer großen Liebe erlebt: „An Tisch 33 saßen vier junge Männer, und dann kam dieses lebenslustige Mädel, die öfter da war. Die sprang einfach bei dem einen auf den Schoß und sagte: Hier bleib ich.“ Ein paar Monate später lud Der alte Schriftzug am Eingang gibt einen Vorgeschmack auf das Ballhaus Erlebnis The old lettering of the name over the entrance sets the scene for 30s-style fun sie Wutzke zur Hochzeit ein. „Die Leute legen nicht mehr so viel Wert auf Kleidung“, beobachtet Garderobier Wutzke. Was ihn aber ebenso wenig stört wie Altmeister Andrej Hermlin: „Hauptsache, sie lieben die Musik.“ Auch Betreiber Blaesius schwebt das Ballhaus vor allem als fröhliches Etablissement vor. Denn Blaesius nimmt seine musikalische Mission auch nicht so ernst, dass er aus dem Ballhaus zur WM nicht ausnahmsweise ein Fußballhaus machen würde: Die Hofterrasse – auf der der Sternekoch Kolja Kleeberg das Catering mit typisch Berliner Spezialitäten wie Buletten oder Wurstsalat übernehmen wird – ist im Sommer Bühne für einen Public-Viewing-Abend: An der seitlichen Hauswand zieht Blaesius eine große Leinwand auf – direkt vor dem großen Betonklotz, in dem gerade die neue Zentrale des Bundesnachrichtendienstes entsteht. Schon jetzt bietet auch das Top Secret Café am BND Berliner Bockwurst und Knacker. Keine echte Konkurrenz, glaubt Blaesius: „Schließlich haben wir die einzigen wirklich abhörsicheren Telefonanlagen.“ GERMANWINGS FLIEGT VON Köln-Bonn, Stuttgart und Düsseldorf nach Berlin-Tegel « Wir haben die einzigen wirklich abhörsicheren Telefonanlagen » B E R L I N IT’S A SWING THING The German capital’s oldest ballroom, the Ballhaus Berlin, has finally reopened after a threemonth renovation. Its return symbolises the citywide renaissance of a vibrant dance culture Der Swing King Andrej Hermlin mit zwei Fans an Tisch 20 im Ballhaus Berlin S etting foot inside the Ballhaus Berlin like taking a trip into the past. The sound of strident trumpets and rumbling trombones emanates from the speakers. A soft light illuminates the mirrored hall where an ice-filled Champagne goblet adorns the bar. A chandelier hangs from the 6m-high stuccoed ceiling and a spiral staircase leads to the gallery with its seated Band leader Andrej Hermlin is every inch the King of Swing balcony. The telephones on the tables are especially reminiscent of the Weimar Republic’s glittering nightlife. These numbered phones aren’t found anywhere else. With their well-worn dials and heavy receivers they recall a time when a gigolo would ring the lady at table 33 or 47 to offer her an absinthe or ask her to dance. Nearly a century later, the past is making a comeback. Ballroom is enjoying a renaissance and the Roaring Twenties and Thirties are in fashion. The telephones represent a new longing for community and personal closeness in an age dominated by internet communication. ‘Meeting up here and dancing as a couple is something quite different to a techno club where everyone moves to their own rhythm,’ says Andrej Hermlin. Hermlin is the ‘King of Swing’. In an hour’s time he’ll take to the stage, as he’s done every Tuesday since the Ballhaus re-opened. His Swing Dance Orchestra, founded in 1987, is one of Germany’s most successful swing big bands. Its musicians perform with the Berlin Philharmonic, on television and in top hotels, and tour Zurich, New York and Hong Kong. GW—45 B E R L I N By the tender age of three, Hermlin had already fallen in love with swing music. That love goes well beyond his passion for music. Hermlin goes about his daily life wearing suits and Bogart hats while his band both looks and sounds like it’s straight out of the 1930s. He drives a Buick and lives in a 1929-built house in Berlin’s Pankow district, full of original features. Hermlin is the face of a swing boom that’s even hitting local pubs. Dance courses and dance evenings are available Berlin-wide. There’s the Chez Heiner and Ron Telesky Canadian Pizza where guests combine swing with pizza. The Frannz Club offers ‘swing & wine’ and even Kreuzberg’s legendary punk and New Wave club SO36 has swing on its programme. The scene has been growing apace for several years. ‘The original swing era was very fast moving,’ says Hermlin. ‘It started in the mid1930s and lasted some 10 years.’ The new economic crisis has created a renewed desire for swing’s joyfulness, its lifestyle and sense of community: ‘People look for something new, something secure. And they find that in the past.’ DJ and musician Stephan Wuthe is also living the swing dream. The turn-ups on his trousers are exactly 5cm wide and the legs are 50cm around. ‘Those are the criteria for real Gary Cooper trousers,’ says Wuthe. He’s also wearing a cravat and a Borsalino hat. ‘Also, sock suspenders provide a good hold on the calves and a different dance sensation.’ But it’s not the outfit that matters most: ‘Swing dance simply means enjoying life.’ Swing was born in the States when military bands recorded the first ragtime 46—GW records. Radio stations later broadcast music from dance temples such as New York’s Savoy Hotel and the Cotton Club, where the mainly black guests danced to swing music and invented ‘lindy hop’. Benny Goodman and Artie Shaw were the scene’s big names. Television images later brought swing’s fashion and way of life to Europe. Swing followed techno and tango by resurfacing in Berlin during the 1990s when the city was reinventing itself following the fall of the Wall. Christof Blaesius co-runs the Ballhaus dance spot together with Karl-Heinz Heymann of Kaffee Burger. ‘When I first came here 10 years ago I instantly fell in love with the place,’ says Cologneborn Blaesius of the building with its green and white glazed facade on Chausseestraße. This street is a former entertainment mile that once had several dance halls, but Ballhaus Berlin, dating back to 1905, is the only one left. After the war it hosted fringe theatre and cabaret. Dancing only made a comeback from the 1950s. The venue closed for a while after New Year’s Eve 2013 because its former owner wanted out; after the Wall came down the old hall grew increasingly quiet until only regular customers and the nostalgic dropped by. Blaesius wants to change all that with, among other things, a ‘unique Ballhaus sound’ that mixes old and new. There’s a weekly ska and reggae evening and, of course, the modern ‘electro-swing’ that’s currently all the rage. Swing remixes by DJs such as Parov Stelar and ‘Swing dance simply means enjoying life’ Alle Farben get millions of internet clicks. There’s also a house band, the Stattkapelle, which plays live on Fridays. Ballhaus cloakroom attendant Michael Wutzke has lived through all the changes. He answered a job advert 25 years ago and has been manning his ‘observation post’ ever since. He says guests have become more diverse, ‘although lawyers and blue-collar workers used to rub shoulders with coal delivery men. You could tell from their hands.’ Wutzke became a confidant for many regular guests: ‘They asked me not to let on to their wives if they turned up with another woman.’ But he also witnessed the beginnings of a great love. ‘Four young men were sitting at table 33 when this fun-loving girl who was often here arrived. She just jumped onto one of their laps and said, “I’m staying here.”’ She invited Wutzke to her wedding a couple of months later. DJ Stephan Wuthe kommt als Gast auch mal an seinem freien Abend ins Ballhaus DJ Stephan Wuthe comes to the Ballhaus even on his days off GW—47