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Der eigene und der fremde Blick. Zum Deutschland- und Frankreichbild in der Karikatur seit 1945 mit historischen Rückblenden Quelle: DIETRICH, Reinhard; FEKL, Walther; GARDES, Jean-Claude; Dr. KOCH Ursula E. Der eigene und der fremde Blick. Zum Deutschland- und Frankreichbild in der Karikatur seit 1945 mit historischen Rückblenden. Luxembourg: CVCE, 2014. Urheberrecht: (c) CVCE.EU by UNI.LU Sämtliche Rechte auf Nachdruck, öffentliche Verbreitung, Anpassung (Stoffrechte), Vertrieb oder Weiterverbreitung über Internet, interne Netzwerke oder sonstige Medien für alle Länder strikt vorbehalten. Bitte beachten Sie den rechtlichen Hinweis und die Nutzungsbedingungen der Website. URL: http://www.cvce.eu/obj/der_eigene_und_der_fremde_blick_zum_deutschland_und_ frankreichbild_in_der_karikatur_seit_1945_mit_historischen_ruckblenden-dea86a2dec-7ff3-4b00-88b7-ae8363730057.html Publication date: 15/11/2016 1/24 Der eigene und der fremde Blick. Zum Deutschland1- und Frankreichbild in der Karikatur seit 1945 mit historischen Rückblenden. von Reinhard Dietrich, ehemaliger Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Brandenburgischen Technischen Universität Cottbus und Bildungsberater im Land Brandenburg; Walther Fekl, ehemaliger Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Europa-Universität Viadrina, Frankfurt/Oder; Prof. Jean-Claude Gardes, Professor an der Université de Bretagne Occidentale; Prof. Dr. Ursula E. Koch, emeritierte Professorin an der Ludwig-MaximiliansUniversität, München. „Welcher Journalist würde nicht den Karikaturenzeichner beneiden, der auf diese Art in einer Sekunde dieselbe Schockwirkung hervorbringt, die ein Zeitungsartikel nur so selten erreicht?“ „Quel journaliste n’envierait pas le caricaturiste, qui obtient ainsi en une seconde l’effet de choc qu’un article ne parvient que si rarement à produire?“ André Fontaine2 Jede Nation verfügt über ein breit gefächertes Spektrum an karikaturalen Zeichen, um sich selbst und andere in satirischer oder humorvoller Weise zu spiegeln. Je nach politischer Konjunktur können unterschiedliche Zeichenregister aus dem kollektiven Gedächtnis abgerufen werden: eher harmonisierende, polemisierende oder aggressiv-feindliche. Als „Zentralbegriff“ politischer Pressekarikaturen, die stets aktualitätsbezogen sind, gilt die Verfremdung einer Situation, einer Person oder einer Sache mit den ikonografischen Mitteln der Übertreibung, Verdichtung, Verzerrung, formalen Vereinfachung, Kostümierung, Parodie oder Travestie.3 Ergänzt wird diese Art von Bildsatire zumeist durch einen erläuternden Text: Überschrift, Bildlegende, Sprechblasen, Motti.4 In Form eines „visuellen Kommentars“ entlarvt sie auf schlagkräftige und zumeist unterhaltsame Weise Fehlentwicklungen, Widersprüche oder Machtmissbrauch. In Zeiten innen- oder außenpolitischer Spannungen (bis hin zu Revolution und Krieg) dient die Bildsatire in Text und Bild der Agitation und Propaganda. Ständige Wiederholungen beeinflussen in diesem Fall nicht nur den Prozess der politischen Meinungsund Willensbildung, sondern führen darüber hinaus – direkt oder indirekt (über Multiplikatoren) – zur Entstehung und Verfestigung von Klischees und Stereotypen.5 1 2/24 Der politischen Karikatur ist zudem eine starke Affinität zur Komik eigen. Für viele Theoretiker wie Praktiker ist diese sogar für die Gattung konstitutiv. Eine politische Pressezeichnung ohne die Absicht, Lachen oder zumindest Lächeln hervorzurufen, wäre demzufolge keine Karikatur. Sie wäre vielmehr eine bloße Illustration oder aber eine Agitations- und Propagandazeichnung, die heroische Selbstbilder mit dem Ziel einer Identifikation der Betrachter entwirft beziehungsweise Feindbilder, die auf nicht bloß symbolische, sondern auf reale Aggression ihrer Gegner abzielen, im Extremfall sogar auf deren physische Vernichtung. In der folgenden Übersicht sollen die vielfaltigen Motive und Gestaltungsmittel der Bildsatire skizziert werden, die in den letzten 70 Jahren in satirischen Wochenzeitschriften und Nachrichtenmagazinen, vor allem aber in der politischen Tagespresse6 zur Identifizierung und Charakterisierung Frankreichs und der Bundesrepublik verwendet worden sind. Dabei wird auf ihre Herkunft und Tradition, aber auch auf ihren Wandel im Verlauf der Geschichte eingegangen.7 Allegorische Figuren Weibliche und männliche allegorische Personifikationen einzelner Nationen wie die der Marianne, der Germania, des deutschen Michels oder des John Bull und Uncle Sam gehören zum Standardrepertoire vieler Karikaturisten. Als unverkennbare und unverwechselbare Symbolfiguren eines bestimmten Landes sind sie Selbstbildnisse in konzentrierter Form. Sie kristallisieren kollektive Selbsterfahrung und Eigenkritik, die später von außen komplettiert, verschärft oder verkehrt werden können. Zwar dem allgemeinen Zeitgeist unterworfen, zeigen sie dennoch, wie die folgenden Beispiele zeigen, eine auffällige Beständigkeit. Marianne Marianne (zusammengesetzt aus den beiden Vornamen Marie und Anne) ist zunächst ein 1792 in Südfrankreich entstandener Spitzname für die nach der Französischen Revolution von 1789 in der Ikonografie allgegenwärtige, auf die Antike zurückgehende Symbolgestalt der „Liberté“ (Maurice Agulhon)8. Mit ihrem wichtigsten Erkennungszeichen, der roten Jakobiner- oder „phrygischen“ Mütze (vgl. Kapitel ,,Kopfbedeckungen"), oft geschmückt mit einer blau-weißroten Kokarde, verkörpert sie, nicht selten in kriegerischer Pose dargestellt, die Ideale der einheitlichen und unteilbaren französischen Republik: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Unter Robespierre mutiert Marianne dann allerdings auf konterrevolutionären Spottbildern zur Symbolgestalt der jakobinischen Schreckensherrschaft und wird fortan von den Zeichnern bei gewissen Anlässen als solche aktualisiert und instrumentalisiert. Unter Napoleon I., den Bourbonen und Kaiser Napoleon III. aus dem öffentlichen Leben verbannt und durch die traditionsreiche „France“ ersetzt, lebt Marianne als Freiheitsgöttin nach den Revolutionen von 1830 und 1848 in der Karikatur vorübergehend wieder auf, bevor sie nach der Proklamation der III. Republik (4. September 1870) noch während des Deutsch- 2 3/24 Französischen Krieges ein fester Bestandteil zunächst der französischen und dann auch der internationalen Pressezeichnung wird. Die bildliche Darstellung unterscheidet seit jener Zeit zwei verschiedene Typen: Symbolbehaftete Zeichnungen zeigen Marianne als Nationalheldin entweder antik gewandet als Ceres mit Ähren, Blumenkranz und Früchten oder aber mit Degen, Fahne, phrygischer Mütze und revolutionärer Gestik. Auf einer Vielzahl französischer Karikaturen erscheint diese Nationalfigur allerdings - als Gegenbild einer allegorisch überhöhten Gestalt – in „ewig weiblichen Rollen“ als junge, verlockende oder aber ältliche, vulgäre Verkörperung der an sozialen Spannungen und Affären nicht armen Dritten Republik..9 Als Fremdbild dominiert in der deutschen Karikatur bis 1914 und, vereinzelt, selbst während des I. Weltkrieges, bei aller Ambiguität die verführerische Marianne. Erst nach dem Versailler Vertrag (Reparationszahlungen, „Kriegsschuldfrage“, Rheinlandbesetzung) wandelt sich die französische Nationalheldin, hager oder aufgedunsen, den Dolch zückend oder die Peitsche schwingend, in ein abstoßendes Wesen.10 1877 zieht Marianne in die Rathäuser Frankreichs ein. Modell für diese Büsten ist zunächst die monumentale Statue „Triomphe de la République“ (Place de la Nation, Paris). Seit Ende der 1960er Jahre wird sie zumeist durch berühmte Schauspielerinnen (Brigitte Bardot, Catherine Deneuve und zuletzt, 2012, Sophie Marceau) ersetzt. Nach dem II. Weltkrieg wird Marianne diesseits wie jenseits des Rheins von den Pressezeichnern teilweise entrepublikanisiert. Sie repräsentiert nunmehr des Öfteren Frankreich (die IV. und die V. Republik) als Land oder Nation, ohne politisch-weltanschauliche Mission. In den 1950er Jahren verliert sie auch als Personifikation Frankreichs in den Druckmedien an Bedeutung und wird durch Repräsentanten der jeweiligen Regierenden ersetzt. Ihr Comeback im kurzen Rock und mit Jakobinermütze als regelrechter Medienstar verdankt sie den täglichen Titelkarikaturen Jacques Faizants in der konservativen Zeitung Le Figaro.11 Seither gehörte sie erneut zum Arsenal vieler französischer Karikaturisten. In der Karikatur der Bundesrepublik Deutschland zählt Marianne zu einer der am Häufigsten verwendeten Figuren, um Frankreich, die Regierung, oder Land und Leute zu kennzeichnen. Schlank, wohlproportioniert, jugendlichen Alters, leicht bekleidet und mit offenem Haar wird sie oftmals in der Pose der Verführerin oder gar als Freudenmädchen präsentiert.12 Auf vielen Karikaturen tritt Marianne in Gesellschaft von Politikern auf beziehungsweise von anderen weiblichen oder männlichen Allegorien (siehe „Germania“ und „Deutscher Michel“). Die ,,Semeuse" 1897 von Louis Oscar Roty entworfen, findet sich die ,,Säerin" auf der Rückseite des 1-FrancStücks, dann auch auf anderen Münzen sowie auf Briefmarken. Allgegenwärtig im 3 4/24 französischen Alltag, kann die ,,Semeuse", die zunächst an das ländliche Frankreich denken lässt, in ihrer Bedeutung für die nationale Identität mit Marianne verglichen werden. Ihre elegante Gestalt und der klassische Faltenwurf lassen sie freilich weniger als realistische denn als mythologische Figur erscheinen. Die strahlende Sonne, die als Naturelement neben der ,,Semeuse" aufsteigt, steht zugleich für den Triumph von Fortschritt, Aufklärung und Freiheit. Französische wie ausländische Karikaturisten haben die zahlreichen Franc-Abwertungen seit 1945 wiederholt mit dem zukunftsgewissen Optimismus dieser Darstellung kontrastiert, indem sie die allegorische Frauenfigur der ,,Säerin" als Opfer ausländischer Machenschaften oder aber als Bittstellerin erscheinen ließen. Nach der Einführung des € ist sie auf den 10-, 20- und 50Cent-Stücken sowie auf französischen Euro-Gedenkmünzen in Silber und Gold zu sehen. Germania Als weibliche Allegorie Germaniens erscheint die Figur der Germania erstmals auf den Reversseiten römischer Münzen. Vor dem Hintergrund des territorial zersplitterten und seit Luther religiös gespaltenen, 1806 von Napoleon I. aufgelösten Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation verkörperte sie anfangs auf Einblattdrucken mit karikaturalen Elementen (seit 1550), in altertümlichem oder modischem Gewand, mit aufgelöstem oder festgestecktem blonden Haar, teils die kaiserliche Macht, teils das deutsche Volk. Zu ihren Schlüsselattributen gehören die (Mauer-) Krone, der Reichsapfel, das Reichszepter und später Schild und Schwert. Nach der Gründung des Kaiserreichs im Spiegelsaal des Versailler Schlosses 1871 als Folge des Deutsch-Französischen Krieges herrschte die Kaiserkrone vor. Vor 1870/71 tritt Germania zunächst nur sporadisch auf, z.B. während der gegen Napoleon I. geführten Völkerschlacht bei Leipzig 1813. Während der Revolution von 1848 schmückt sie einerseits als Monumentalgemälde (Philipp Veit) den Sitzungssaal der ersten deutschen Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche und wird andererseits in unzähligen Karikaturen trivialisiert und für den politischen Alltag vereinnahmt. Damals, während des „Völkerfrühlings“ 1848, erscheinen auf einem Frankfurter Flugblatt Marianne und Germania ein erstes und vorläufig letztes Mal als Schwestern. Wie für Marianne, so brachten auch für Germania der Deutsch-Französische Krieg 1870/71 und seine Folgen in der Öffentlichkeit (Denkmäler, Gemälde, Skulpturen, Münzen, Briefmarken [bis 1918]) sowie in der Pressekarikatur – es war die Blütezeit der französischen und deutschen illustrierten Satire-Journale13 – den Durchbruch. Wie diese, wurde sie teils heroisiert, teils in den unterschiedlichsten Rollen verfremdet und entsymbolisiert. Groβe Popularität erreichte seit Richard Wagners Ring des Nibelungen (1876) nach und nach Germanias neuer Kopfschmuck, der Wikingerhelm (siehe unten: „Kopfbedeckungen“). Das damit verbundene, um 1900 von einzelnen Pariser Pressezeichnern entworfene wehrhafte Germania-Bild entspricht den Vorstellungen von einer Barbarin. Während des Krieges wird es 4 5/24 in der Pariser Presse, in Alben, auf Postkarten und Flugblättern zum Monster weiterentwickelt. Auch als Repräsentantin einer deutschen Republik (1918-1933) bis hin zu den Anfangsjahren des III. Reiches bildet Germania – von Ausnahmen abgesehen – als Riesenweib mit Zöpfen, Pickelhaube (siehe Pickelhaube) und Brille einen festen Bestandteil der französischen, ja europäischen Karikatur. Jenseits des Rheins verwandeln die Karikaturisten nach der Revolution von 1918 die einst kaiserliche Germania in eine positive (in der SPD-Presse zuweilen mit phrygischer Mütze) oder negative (Rechtspresse) Symbolgestalt der Republik. Nach 1933 steht diese Allegorie, sofern die Karikaturisten von ihr Gebrauch machen, voll und ganz im Dienst der innen- und auβenpolitischen NS-Propaganda. Im Kontext der bald mehr, bald weniger gespannten deutsch-französischen Beziehungen innerhalb komplizierter Bündnissysteme treten die beiden Nationalfiguren vor 1914, vor allem in deutschen Karikaturen, des Öfteren gemeinsam auf, selten als Freundinnen, meistens als Rivalinnen. In der „Zwischenkriegszeit“ sind Marianne und ihre fast durchweg als furchterregend dargestellte Gegnerin Germania aus der Pariser satirischen Wochenzeitschrift Le Rire und anderswo nicht wegzudenken. Französische Karikaturen, die sowohl Marianne als auch Germania als reizvolle Republikanerinnen darstellen und diese auffordern sich zu versöhnen, besitzen Seltenheitswert. Nach 1945 taucht Germania als solche oder verfremdet (z.B. als Undine) in der Masse der deutschen Nachkriegskarikaturen nur mehr selten auf. Anfangs ist sie das Symbol der Teilung, d.h. der wieder offenen „Deutschen Frage“14, später verkörpert sie – anlässlich von einzelnen Großereignissen (z.B. aus dem Bereich des Sports) die Bundesrepublik. Auch in der Pariser Presse wird die blondbezopfte und bebrillte Germania nach 1945 nur gelegentlich der Vergessenheit entrissen. Zunächst als Sinnbild des besiegten NaziDeutschlands (Hakenkreuzmuster), dann als Allegorie der Bundesrepublik (mit Wikinger- oder Stahlhelm) oder „als doppeltes Lottchen“ (Bundesrepublik und DDR) . Ist dies der Fall, so erweckt diese Figur – wie anlässlich der sich wiederholenden Währungskrisen um Franc und DM (s. Abschnitt „Münzen und Banknoten“), nach dem Fall der Berliner Mauer im November 1989 oder während der Euro- und Finanzkrise 2011/12 – unliebsame Erinnerungen und alte Ängste. Einer der bekanntesten Pariser Zeichner-Journalisten, Plantu (Le Monde, L’Express), ersetzte allerdings bewusst und konsequent die Teutonin Germania durch eine hybride, eher liebreizende, an „Gretchen“ (siehe dort) erinnernde Identifikationsfigur.15 Gretchen- Germania Sowohl in der deutschen als auch in der französischen Text- und Bildsatire gehören Zitate und Personen aus Goethes Tragödie Faust I zum Repertoire. Hier wie dort wurde die deutsche Nation von Zeit zu Zeit durch die Figur des an seinen Zöpfen erkennbaren „Gretchen“ 5 6/24 verkörpert, das sich, wie etwa von Bismarck in Faustscher Gestalt, verführen lieβ. Als pseudonaives, Unschuld mimendes, aber verschlagenes Wesen spielte das in die Rolle der Germania schlüpfende Gretchen in der französischen Karikatur auch nach 1945 noch eine erhebliche Rolle, bevor im Laufe der Jahre innerhalb der Hybridisierung auch positive Züge zunehmend zu Geltung kommen konnten. . Der deutsche Michel Er wirkt nicht robust und selbstbewusst wie Englands aus dem Jahr 1712 stammender John Bull16 mit seiner Union-Jack-Kopfbedeckung und ist auch nicht smart wie Amerikas Uncle Sam (seit 1813)17 mit seinem unverwechselbaren Zylinderhut. Von beiden – sowie von Marianne und Germania – unterscheidet er sich durch das folgende Merkmal: Als „nationales Symbol“ und „Autostereotyp“ blieb seine Karriere weitgehend auf die heimischen Lande begrenzt. Zwar taucht der deutsche Michel (le „Michel allemand") in französischen Satireblättern vor 1914 und während des I. Weltkriegs als Symbol des deutschen Volkes oder eines Teils desselben (genannt sei der einfache Soldat) sporadisch auf, doch erblickt man ihn in der Zwischenkriegszeit immer seltener. Nach 1945 ist er dann so gut wie unbekannt.18 Der deutsche Michel blickt auf eine wechselvolle Karriere zurück. In einem Sprichwörterbuch aus dem Jahr 1541 und in weiteren Quellen wird er als Dummkopf, Tölpel, Einfaltspinsel oder Fantast bezeichnet. ,,Deutsche Michel" nannte man im Frankreich des 16.Jahrhunderts die frommen deutschen Knabengruppen, die zum Wallfahrtsort des Erzengels Michael pilgerten, dem Mont Saint-Michel. Ein Jahrhundert später, im Dreißigjährigen Krieg, wurde der deutsche Michel, der nunmehr auch in illustrierten Flugblättern auftrat, durch den kurpfälzischen Reiterführer Michael Elias von Obentraut (1574-1625) zum Inbegriff von teutonischer Tapferkeit und Heldenmut. Ein erster Höhepunkt meist anonymer, da von der Zensur streng überwachter satirischer Darstellungen des deutschen Michels, zu dessen oberstem Erkennungszeichen die meist gezogene Schlaf- oder Zipfelmütze zählt (siehe Kopfbedeckungen), fällt in das Jahrzehnt vor der Revolution von 1848. Sie drücken im Land der „Dichter und Denker“ Verbitterung, Hass, Enttäuschung oder Spott über die deutschen, insbesondere preußischen Zustände aus.19 Ein zweiter Höhepunkt war die Märzrevolution von 1848, in der Michel „erwachte“ und seine Nachtmütze vorübergehend mit einer revolutionären schwarz-rot-goldenen Kokarde schmückte.20 Nicht wenige deutsche Zeichner vereinen seit 1848 von Zeit zu Zeit auf ihren politischen oder sozialkritischen Karikaturen Germania als Repräsentantin des Staates und Michel als Vertreter des Volkes. In den Karikaturen nach dem Waffenstillstand 1918 und während der Weimarer Republik treten beide, allein oder gemeinsam, in vielfachen Variationen als wehleidige Opfer des Versailler „Schandvertrags“ auf. Die Nazis sahen in Michel einen Schädling des deutschen Nationalgefühls und setzten ihn auf die schwarze Liste. 6 7/24 Aber Michel überstand das III. Reich. Er kehrte unmittelbar nach Kriegsende wieder in die deutschen Printmedien zurück und verdrängte dort, wenn auch als nicht offizielle Nationalfigur, weitgehend die Germania. Er erscheint beispielsweise als abgehärmter Klein-Michel, der „am Boden liegt" und nur bedingt für vergangene Taten zur Rechenschaft gezogen werden kann. Er lugt unschuldig unter seiner Zipfelmütze hervor und hofft auf Verständnis, Mitleid und ein wenig Zuneigung. Doch sehr bald wird er aufmüpfig gegenüber seinen Ziehvätern, den Westalliierten, und gewinnt an Statur. Wegen seiner Leichtgläubigkeit und seines Mangels an Raffinesse wird Michel allerdings so manches Mal übertölpelt und muss tatenlos zusehen, wie andere ihm die Butter vom Brot nehmen. Anlässlich der Wiedervereinigung der Deutschen (1990) ersannen die Karikaturisten den „doppelten Michel“, was oft mit der Darstellung der Ungleichheit von Ost und West verbunden war: ein kräftiger, gut gekleideter West-Michel wurde – insbesondere von ostdeutschen Zeichnern, aber nicht nur von diesen – einem mickrigen, ärmlichen Ost-Michel gegenübergestellt. Hierbei wurde letzterer nicht nur gerne als der Unterlegene, sondern überdies als der Betrogene, Übertölpelte in bester Michel-Tradition abgebildet, während dem WestMichel Eigenschaften wie Größe und Stärke, aber auch Arroganz und Herrschaftsstreben zugeschrieben wurden.21 Als Gegenspieler oder Partner (Liebhaber oder Gemahl) der Marianne ersetzt Michel in der deutschen Pressekarikatur nach 1945 fast durchweg die Germania. Diese Beziehung ist freilich auch nach dem Élysée-Vertrag von 1963 nicht unproblematisch. Nebenbuhler treten auf den Plan und versuchen einen Keil zwischen das hier allegorisch dargestellte deutsch-französische Paar zu treiben. Figuren der Bildenden Kunst und Literatur Häufig bedient sich die Karikatur weithin bekannter Werke der Weltkunst, von Laokoon über die Mona Lisa bis zu Rodins Denker. Die Figurationen dieser Gemälde und Skulpturen dienen in der Regel als Erkennungsmerkmale einer universellen Bildsprache, nicht aber eines ethnischnationalen Codes. Ausnahmen bilden Porträts wie Cranachs „Luther“ (in der klassischen, vielfach variierten Version ab 1528), Hyacinthe Rigauds „Louis XIV“ (1701), Jacques-Louis Davids „Bonaparte beim Überschreiten der Alpen“ (1800), Heinrich Anton Dählings „Napoleon“ (1806) oder Historiendarstellungen wie Delacroix‘ ,,La Liberté guidant le peuple" (1830) und Rudes ,,Marseillaise"-Relief (1836) am Arc de Triomphe. Deutsche wie französische Karikaturisten zitieren diese Werke als Formeln einer genuin französischen oder deutschen Tradition, sei es um deren Fortdauer zu bekräftigen, sei es um sie mit einer weniger heroischen Gegenwart zu kontrastieren. lm 19. Jahrhundert lieferten kanonisierte literarische Texte wie Goethes Faust häufig die Vorlage für Symbole und Typen der beiden Länder. In der neueren Karikatur ersetzen trivialere 7 8/24 Helden aus Comics und anderen massenhaft verbreiteten Medien die alten literarischen Modelle. So übernehmen auch deutsche Zeichner das witzige Selbstbild des kleinen, aber findigen Asterix mit Vorliebe für ihre Frankreich-Darstellungen. Persönlichkeiten des öffentlichen Interesses Karikaturisten leben mit der Schwierigkeit, Abstraktes konkret augenfällig zu machen. Geschichtliche Prozesse, Beziehungen zwischen Staaten oder Nationen übersetzen sie häufig in die Begegnung von Personen mit Rang und Namen. Auf diese Weise arbeiten sie, unfreiwillig zwar, einem personalisierenden Geschichtsbild zu, nach dem Motto: „Männer (oder Frauen) machen Geschichte“. Persönlichkeiten der Zeitgeschichte Persönlichkeiten, die Geschichte machen, waren seit Martin Luther, sofern es die Zensur gestattete22, die Hauptakteure der politischen Karikatur ihrer Zeit. Dabei dominiert naturgemäß eine kleine Führungsgruppe: Monarchen, Staats- und Regierungschefs, einige populäre oder weithin bekannte Minister, vor allem aber Inhaber der Ressorts Auswärtige Angelegenheiten wie beispielsweise – nach 1945 – Robert Schuman oder Willy Brandt. Auf dem Feld der internationalen Beziehungen tritt die reine Personen- oder Porträtkarikatur 23 nach 1945 allmählich zurück. Po1itiker verkörpern zunehmend die Tugenden und Schwächen ihres Landes. Im Frankreichbild deutscher Pressezeichner spielt die Figur von Charles de Gaulle eine paradigmatische Rolle. Zu seinen Lebzeiten erscheint er als souveräner Staatsschauspieler, als hochmütiger Einzelgänger, der das globale Geltungsbedürfnis Frankreichs verkörpert, was als unangemessen und unzeitgemäß entlarvt wird.24 Während die Selbstdarstellung französischer Politik (Stichwort „grandeur“) von deutscher Seite aus schon zu Beginn der 1950er Jahre als theatralisch, fassadenhaft und daher oft als lächerlich empfunden wird, so färbt ein Anflug von Bedrohlichkeit die französische Darstellung „deutscher Größe" ein. Seit 1945 ist dabei ein Wandel der thematischen Akzente zu erkennen. Wo einstmals anlässlich der Remilitarisierungsdebatte deutsche Politiker als Riesen in Uniform und in Knobelbecher genannten Soldatenstiefeln auftauchten, fanden sich später zivile Bundeskanzler wie Helmut Kohl im Plausch über militärische Themen oder gar in Umarmung mit französischen Staatspräsidenten oder Regierungschefs. Im Zusammenhang mit wirtschaftlichen Themen hingegen tauchten - und tauchen vereinzelt auch heute noch – Uniformen und sogar die Pickelhaube auf. Historische Persönlichkeiten 8 9/24 Historische Persönlichkeiten kommentieren aus dem Jenseits aktuelle Ereignisse, sie erscheinen in Sprech- und Denkblasen oder geben den Hintergrundprospekt zu Vorgängen der Gegenwart ab. Zum Einen behaupten Karikaturisten damit eine historische Kontinuität bis in die Gegenwart oder sie weisen auf politische Parallelen und ideologische Verwandtschaft hin, zum Andern heben sie damit Differenzen hervor und veranschaulichen den Weg, der seit einem bestimmten geschichtlichen Zeitpunkt zurückgelegt worden ist. Nicht selten greifen sie aber auch zum Mittel des Anachronismus oder des Amalgams.25 Die Zahl der historischen Persönlichkeiten, die heute im jeweiligen Nachbarland visuell identifiziert werden können, ist eng begrenzt. Dementsprechend treten in der politischen Karikatur Frankreichs fast nur Bismarck und Hitler in Erscheinung, allenfalls noch Friedrich II. von Preußen (Friedrich der Große beziehungsweise der „Alte Fritz“) und Kaiser Wilhelm II. Aus deutscher Sicht sind vor allem Ludwig XIV. und Napoleon I. zu nennen. Dazu kommt gelegentlich noch Karl der Große (Charlemagne) als gemeinsame Bezugsperson. Charles de Gaulle und Konrad Adenauer haben im hier abgehandelten Zeitraum den Übergang vom politischen Akteur zur historischen Persönlichkeit vollzogen. Paarbeziehungen Während die Beziehungen einzelner deutscher Staaten (allen voran Preußen) zu Frankreich spätestens seit der Zeit Napoleons I. nachhaltig von Konflikt und Auseinandersetzung geprägt waren und seit dem Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 für das Nachbarland Feindbegriffe wie „Erbfeind“ und „Barbar“ nicht selten an der Tagesordnung waren, zeichnete sich kurz nach Ende des Zweiten Weltkrieges eine deutlich gegenläufige Bewegung ab. Seit dem von Bundeskanzler Konrad Adenauer bereitwillig unterstützten Aufruf des französischen Außenministers Robert Schuman zur Zusammenarbeit (1950), ist Partnerschaft – viele sagen auch Freundschaft – an die Stelle alter Feindschaft getreten. Dies findet in der politischen Karikatur seinen Ausdruck in der Darstellung von jeweils aktuellen oder bereits historischen Politikerpaaren, wobei diese Paare natürlich keineswegs nur positiv-affirmativ, sondern oft genug kritisch-ironisch abgebildet werden. Besonders hervorzuheben sind folgende deutschfranzösischen Zweier-Konstellationen, die – unabhängig von teilweise konträren politischideologischen Positionen – von intensiver und oft vertrauensvoller Kooperation geprägt waren: Robert Schuman – Konrad Adenauer, Charles de Gaulle – Konrad Adenauer, Valéry Giscard d’Estaing – Helmut Schmidt, François Mitterrand – Helmut Kohl, Nicolas Sarkozy – Angela Merkel. Im Fall des letzten Paares wurde durch Kontraktion sogar ein beide bezeichnender gemeinsamer Name gebildet: Merkozy. Diese Namensbildung erklärt sich insbesondere durch das Bestreben beider Politiker, in der europäischen Finanzkrise mit einer Stimme zu sprechen. 9 10/24 Die deutsch-französischen Paarbildungen führten zu einer Fülle von binären visuellen Ausdrucksformen, etwa in Gestalt der Abbildung von Liebes- bzw. Hochzeitspaaren, von Tanzpaaren, Eiskunstlauf- und sonstigen Sportler-Paaren (insbesondere Tandem-Fahrer), von Zirkusartisten (etwa an Trapez und Hochseil), von zwei Personen in einem Boot.26 Gesten In enger Beziehung zur paarweisen Darstellung von Politikern gehören Zeichnungen, die sich auf bestimmte politische Gesten der Versöhnung und Kooperation beziehen. Das sind insbesondere die Umarmung von de Gaulle und Adenauer anlässlich der Unterzeichnung des Élysée-Vertrags vom 23. Januar 1963 und das Händehalten von François Mitterrand und Helmut Kohl am 22. September 1984 auf den ehemaligen Schlachtfeldern bei Verdun (1916: über 800.000 Tote).27 Gesellschaftliche Typen Gesellschaftliche Typen gehören zum Werkzeugkasten der Karikaturisten seit dem Aufkommen der satirischen Druckgrafik im 16./17. Jahrhundert. Teils sind sie zeitgebunden und geraten in Vergessenheit, teils überleben sie ganz unterschiedliche Epochen. Der Offizier Während die deutsche Karikatur den im Kaiserreich allgegenwärtigen Offïzier vorwiegend in der unmittelbaren Nachkriegszeit bis zum Ende der 1940er Jahre verwendet, so bedient sich die französische seiner in ungebrochener Tradition. Er nimmt zumeist die Gestalt des preußischen Militärs an, von adligem Geschlecht, aufrecht in der Haltung, mit Pickelhaube, Monokel und Degen versehen. Er verkörpert in der Regel das ,,schlechte Deutschland" Bismarcks, das als ebenso reich an materiellen Gütern wie arm an geistiger Potenz, ja als barbarisch-kriegerisch gilt. Es sind insbesondere die phallisch geformte Pickelhaube (siehe „Pickelhaube“) und die martialischen Knobelbecher, die zu einem solchen Fremdbild beigetragen haben. Sie signalisieren eine kraftstrotzende Virilität, der ,,la douce France" ausgeliefert zu sein scheint. Damit werden die deutsch-französischen Beziehungen auf sado-masochistische Art psychologisiert, vermutlich nicht zuletzt um französische Inferioritätskomplexe Deutschland gegenüber umzukehren. Der Bayer Während in einer Vielzahl deutscher Typenkarikaturen Bayern und Preuβen zu satirischen Vergleichen Anlass geben, steht in der französischen Karikatur häufig die Gestalt des Bayern, erkennbar an Accessoires wie dem Tirolerhut mit Gamsbart und der Lederhose, der 10 11/24 geschwungenen Pfeife oder dem Bierseidel stellvertretend für alle Deutschen. Sitzend oder stehend prostet er seinem französischen Nachbarn zu oder stellt sich im Dienst einer gemeinsamen Sache an dessen Seite. Der Bayer, in der französischen Karikatur kein Unbekannter, verkörpert nach 1945 die ,,bonne Allemagne", ein folkloristisches Deutschland mit Münchener Oktoberfest und mittelalterlichen romantischen Städten. Einfach, bescheiden und gemütlich lädt dieses Deutschland zum Verweilen ein. Mit ihm lässt es sich leben und zusammenarbeiten. Indes schwingen im Motiv des Bayern auch negative Untertöne mit. So werden in manchen französischen Karikaturen mit dem Lederhosenträger Eigenschaften wie Dumpfheit, Derbheit, Schwerfälligkeit und Lenkbarkeit assoziiert. Monsieur Dupont M. Dupont, der Durchschnittsfranzose mit Baskenmütze, oft mit einer Baguette im Arm oder im Korb, eine filterlose Zigarette im Mundwinkel, repräsentiert in deutschen wie französischen Zeichnungen zumeist ein beschauliches, idyllisches Frankreich. Mitunter allerdings zeigen satirische Zeichner - und zwar vor allem französische -, dass sich hinter dieser Fassade von Harmlosigkeit eine gewisse Borniertheit, Intoleranz und Aggressivität verbergen können. M. Dupont ähnelt also in doppelter Hinsicht dem Bayern-Bild in der Karikatur. Kopfbedeckungen Ob Hut oder Mütze, Helm oder Haube, Kopfbedeckungen sind seit jeher ein prägnantes Ausdrucksmittel, um allegorische Figuren oder Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens in besonderer Weise zu kennzeichnen. Zunächst einige Beispiele für französische Kopfbedeckungen: Die Jakobinermütze oder phrygische Mütze 1792, drei Jahre nach dem Sturm auf die Bastille, wird ein roter Freiheitshut bei den Männern Mode. Da er vornehmlich von Mitgliedern des Jakobinerclubs getragen wird, nennt man ihn bald Jakobinermütze. Als Freiheitssymbol tritt diese Mütze ein altes Erbe an: ihre Vorbilder entstammen dem antiken Rom. In der Karikatur wird die Jakobinermütze vornehmlich dazu verwendet, Frankreich und die Franzosen ins Bild zu setzen. Assoziationen an die Französische Revolution und ihre Ideale 11 12/24 evoziert die Jakobinermütze sporadisch auch in deutschen Karikaturen, z.B. 1848 und in der sozialistischen Bildsatire zur Zeit Kaiser Wilhelms II. wie der Weimarer Republik. Der napoleonische Zweispitz Zu den militärischen Kopfbedeckungen gehört neben dem Helm des „poilu" (Soldat des 1.Weltkriegs) der napoleonische Zweispitz. Beide rufen Erinnerungen an Kriegsereignisse wach und werden von Karikaturisten als historische Kontrastfolie verwendet. Der Zweispitz steht für die französische Vormacht auf dem europäischen Kontinent, für ,,grandeur" und ,,gloire" der französischen Nation, aber auch für Machtwillen und Vermessenheit. Die Baskenmütze Wird die Baskenmütze in der französischen Bildsatire oft dazu verwendet, den reaktionären Spießer zu kennzeichnen und zu kritisieren, ist sie in der deutschen Karikatur Symbol für das lauschige und behagliche Frankreich, das von der städtischen Hektik und dem Stress der modernen Industriegesellschaft verschont geblieben zu sein scheint. Andererseits repräsentiert der Baskenmützenträger das Opfer der großen Politik. Das Gefühl, nicht Herr der eigenen Lage zu sein, scheint er mit entsprechenden Karikaturen des deutschen Michels zu teilen. Bei den deutschen Kopfbedeckungen kommt diversen Helmen besondere Bedeutung zu. Der Germanen- oder Wikingerhelm Dieser unhistorische, mit zwei Hörnern versehene Helm wurde seit Richard Wagners Opernzyklus „Der Ring des Nibelungen“ (1876) in deutschen, aber auch in ausländischen Satire-Journalen zunehmend populär. Nach 1945 tritt er vor allem in der französischen Karikatur in Erscheinung. Seine Verwendung macht deutlich, dass die Neigung zum Militarismus als archaischer Wesenszug der Deutschen aufgefasst wird, gewissermaßen als überzeitliche Konstante. Wird er beispielsweise mit dem Hakenkreuz versehen, was im ersten Nachkriegsjahrzehnt häufig vorkam, so erscheint damit der Nationalsozialismus nicht als besonderes historisches Phänomen, sondern als etwas seit jeher im ,,deutschen Wesen" Angelegtes. Pickelhaube und Stahlhelm Die 1842 von König Friedrich Wilhelm IV. eingeführte Pickelhaube, von Anbeginn ein beliebtes Motiv der Karikaturisten, lenkt die Aufmerksamkeit auf die ,,preußischen" Anteile an einem mutmaßlichen deutschen Nationalcharakter. Die phallische Spitze des Helms signalisiert Autorität und Aggressivität, ja Brutalität, insbesondere dort, wo sie in Verbindung mit einer Uniform und Knobelbechern auftritt. 12 13/24 In den Jahren nach 1963 (Élysée-Vertrag) war ein deutlicher Rückgang der Verwendung von Helm-Motiven festzustellen. Diese fanden aber nach 1989, im Kontext der deutschen Wiedervereinigung, vorübergehend Verwendung in einem Teil der Presse. 28 Im Zusammenhang mit der Finanzkrise 2011/12 war die Pickelhaube als Kopfbedeckung von Bundeskanzlerin Angela Merkel auch im Internet vorübergehend erneut präsent. Der Stahlhelm der deutschen Armeen des 20. Jahrhunderts ist ein weniger prägnantes Symbol als die Pickelhaube und wird daher seltener zur nationalen Identifizierung oder zur Charakterisierung militärischer Traditionen herangezogen. Er verweist in der Regel auf präzise historische Vorgänge, weniger auf deutsche Wesenszüge im Allgemeinen.29 Die zunehmende Verwendung ziviler Kopfbedeckungen auch in französischen Karikaturen von Persönlichkeiten und Vorgängen in der Bundesrepublik ist ein Indiz für Veränderungen im französischen Deutschlandbild. Die Schlafmütze Was der Marianne ihre Jakobinermütze, ist dem Michel seine Schlafmütze. Beide Kopfbedeckungen können ihren angestammten Trägern abgenommen und beliebigen anderen Personen aufgesetzt werden, die damit als Franzosen oder Deutsche identifizierbar sind. Die gleichzeitig mitsignalisierten Charaktereigenschaften und politischen Verhaltensweisen unterscheiden sich allerdings erheblich. lm Unterschied zur in beiden Nationen verwendeten Jakobinermütze taucht die Schlafmütze nur in deutschen Zeichnungen auf. Teils ist die Schlafmütze ein bloßes nationales Erkennungszeichen, teils gilt ihr Träger als naiv, zurückgeblieben, ewig vorgestrig und oft auch als obrigkeitshörig. Der Tirolerhut Der Tirolerhut mit oder ohne Gamsbart findet in beiden Ländern Verwendung und wird dann auch jeweils mit den gleichen oder zumindest ähnlichen Bedeutungen verbunden (vgl. ,,Der Bayer"). Ein wesentlicher Unterschied besteht allerdings darin, dass er unter der Feder bundesdeutscher Zeichner regionale Politiker wie Mentalitäten bezeichnet und keinesfalls als Ausdruck eines nationalen Selbstbildes verstanden werden kann. Haar- und Barttracht Was der Mensch auf dem Kopf trägt, wie er sich zur Schau stellt, ist Brauchtum, Sitte und der Mode unterworfen. Aufbau und Form der Frisur spiegeln die der Kultur, vergegenwärtigt als Selbstverständnis auf dem Kopfe. Aus diesem Grund hat die Haar- und Barttracht sinnbildlichen Charakter. Der französische Blick sieht unter den deutschen Männernasen immer wieder den mit beiden Enden nach oben gezwirbelten Kaiser-Wilhelm-Bart oder das gestutzte Hitlerbärtchen. Wie der (Hitler-) Scheitel und die Hitlerlocke signalisieren sie eine Vielzahl von 13 14/24 Charaktereigenschaften, die den Deutschen zugeschrieben werden: Ordnungsliebe, Strenge (Selbst-) Disziplin, Rechthaberei, Aggressivität, etc. Die weibliche Haartracht indes findet sich häufig gebändigt im Gretchenzopf des deutschen „Fräulein“, übrigens nicht nur in der Bildsatire, sondern auch auf Fotos der Titelseiten französischer Zeitschriften. Die Haarordnung in Flechten, Zöpfen und Knoten deutet darauf hin, dass ihre Trägerinnen Nachlässigkeit verabscheuen und den offenen, geraden Blick bevorzugen, fällt ihnen doch kein Härchen aus dem sauberen Scheitel in die Stirn. Erinnerungen an die Naziherrschaft werden möglicherweise bei dem einen oder anderen Betrachter geweckt, da diese Art, das blonde Haar zu tragen, damals zur deutschen Frau gehörte. Marianne hingegen wird in der deutschen wie französischen Karikatur als selbstbewusste Frau dargestellt, die ihr Haar offen trägt. Eher offensiv als zurückhaltend, temperamentvoll statt züchtig verbirgt sie auch ihre weiblichen Attribute nicht. Historische Ereignisse Eckdaten der Geschichte, die im kollektiven Gedächtnis beider Völker verankert sind, bilden immer wechselndes Spielmaterial karikaturaler Auseinandersetzungen, etwa die Krönungszeremonien Karls des Großen, von Henri IV und Napoleon, die Revolutionen von 1830 und 1848, die Proklamation des (II.) Deutschen Reichs in Versailles (1871), der Stellungskrieg bei Verdun 1916, die Unterzeichnung des Waffenstillstandsvertrags von 1918 in einem Eisenbahnwagon bei Compiègne, der Einmarsch deutscher Truppen in Paris, der Händedruck von Montoire zwischen Hitler und Pétain 1940, die Landung der Alliierten in der Normandie 1944 etc. In der deutschen Bildsatire finden sich überdies gelegentlich Anspielungen auf den unter Ludwig XIV. geführten Pfälzischen Erbfolgekrieg (1688-1697) und die Zerstörung des Heidelberger Schlosses. Geographie Darstellungen von Landschaften, Städten, Flüssen und Monumenten des eigenen oder fremden Landes sind in der Regel als räumliche Metonymien zu interpretieren: als Zeichen, mit denen nicht nur auf eine geographische Einheit verwiesen wird, sondern darüber hinaus auf Ereignisse, Zustände, Personen, Einstellungen, etc. Geographische Motive sind folglich nicht bloßes Beiwerk, ornamentaler Schmuck, sie stecken vielmehr den Bedeutungshorizont der Karikatur ab, begrenzen Mehrdeutigkeit. lm folgenden seien die gängigsten Motive skizziert: Landschaften 14 15/24 Das Ruhrgebiet, das die Waffenschmiede des Deutschen Reichs oder die deutsche Wirtschafts(über)macht im Allgemeinen symbolisiert . Die Burgenlandschaft am Rhein, die an germanische Sagen, Mythen (Loreley) und Märchen erinnert. Die Normandie oder die Marne-Gegend, die als Kriegsschauplätze im kollektiven Gedächtnis beider Länder einen bedeutenden Platz einnehmen. Städte Paris, Bonn und seit 1999 wieder Berlin, die politische Einheiten repräsentieren, die französische Nation bzw. die Bundesrepublik Deutschland; Verdun, Oradour, München, Dresden, die im mittelbaren oder unmittelbaren Zusammenhang mit Kriegsereignissen stehen. Flüsse Sie erscheinen keineswegs als unproblematische ,,natürliche Grenzen". Das beste Beispiel dafür ist der Rhein: Er wird schon seit den Befreiungskriegen 1813 mit Ernst Moritz Arndts weit verbreiteter Flugschrift „Der Rhein, Teutschlands Strom, nicht aber Teutschlands Grenze“ zum Politikum und ,,völkisch" ideologisiert. Im Zusammenhang mit der kurzen, aber heftigen „Rheinkrise“ entstand 1840 Max Schneckenburgers 1856 vertontes Gedicht ,,Die Wacht am Rhein", während des Deutsch-Französischen Krieges und im Kaiserreich eine Art Ersatznationalhymne. Auf das ebenfalls aus dem Jahr 1840 stammende Gedicht von Nikolaus Becker ,,Sie sollen ihn nicht haben, den freien deutschen Rhein" antwortete Alfred de Musset mit seinem Poem ,,Le Rhin allemand " (1841). Es beginnt mit der Strophe ,,Wir haben ihn gehabt, Euren deutschen Rhein". Seitdem spielt der Rhein in der politischen Auseinandersetzung wie auch in der Bildsatire beider Länder eine bedeutende Rolle als Symbol für territoriale Selbstbehauptung. In den Karikaturen nach dem II. Weltkrieg wird er zu einem Ort der Aussöhnung, an dem die Repräsentanten beider Länder einen Schlussstrich unter die Vergangenheit setzen. Sinnbild dafür sind die zahlreichen rheinüberschreitenden Umarmungsszenen von General de Gaulle und Bundeskanzler Konrad Adenauer. Monumente Monumente erfüllen zwei Funktionen in karikaturalen Darstellungen. Zum einen sind sie bloßes Mittel zur Identifizierung von geographischen oder nationalen Einheiten, etwa der Eiffelturm oder der Triumphbogen als visuelle Kürzel für Paris bzw. Frankreich oder das Brandenburger Tor, die Siegessäule und die Mauer (1961-1989) für Berlin. Zum anderen stehen sie als Ausdruck einer Erinnerungskultur für problematische Orte, Orte der Auseinandersetzung mit Vergangenheit und Gegenwart, wie etwa Soldatenfriedhöfe, die Flamme des unbekannten Soldaten oder die Kathedrale von Reims. Nationalembleme 15 16/24 Flaggen Offizielle Embleme, wie die französische oder deutsche Flagge, spielen in der Nachkriegskarikatur beider Länder eine untergeordnete Rolle. Sie lassen Frankreich oder die Bundesrepublik als nationale Einheit identifizieren. Kartographische Motive Die Grenzumrisse Frankreichs und der Bundesrepublik finden häufig in der Karikatur beider Länder Verwendung, vor allem bei den Auseinandersetzungen um die Saar, Algerien und die Grenzen des Nachkriegsdeutschlands. Sie können Zeichen für territoriale Selbstbestimmung, für politische Einheiten (Staat, Nation, Regierung), für die im Lande lebende Bevölkerung sein. Mehr noch: wegen seines hohen Schematisierungsgrades kann dieses Motiv die Gesamtheit von ethno-nationalen Wissensbeständen, Einstellungen, Gefühlen etc. aufrufen. Wenn das französische ,,Hexagone" wesentlich häufiger als Motiv auftaucht als der bundesrepublikanische Grenzverlauf, so lässt sich dies damit erklären, dass Frankreichs Grenzen ungleich stabiler sind als die seines Nachbarlands, und es auf eine ungebrochene nationalstaatliche Tradition zurückblickt. Außerdem haben die Regierungen seit der III. Republik das ,,Hexagone"-Motiv gezielt zur Stärkung des nationalen Zusammengehörigkeitsgefühls eingesetzt. Der gallische Hahn Der „gallische Hahn“ mit Anlehnung an das lateinische Gallus, das zugleich Hahn und Gallier bedeutet, fand, als nachbarschaftliche Wahrnehmung, bereits Eingang in Sebastian Brants, mit Holzschnitten ausgestattete didaktisch-satirische Dichtung Das Narrenschiff (1494). Während der Französischen Revolution war er Wappentier und Symbol des französischen Volkes. Wenngleich kein offizielles Staatsemblem, so wird der gallische Hahn sowohl in der deutschen als auch in der französischen (und internationalen) Karikatur als Zeichen für Frankreich und die Franzosen verwendet. Aus deutscher Sicht hebt er überdies einen typisch französischen Charakterzug hervor: Nationalstolz, wenn nicht Arroganz gegenüber anderen Ethnien, Nationen, Staaten. Wie die Säerin, so ist auch der Gallische Hahn auf Euro-Gedenkmünzen vertreten. Der deutsche Adler Der Adler als Reichssymbol machte im Lauf der deutschen Geschichte eine mehrfache Wandlung durch. Als Staatswappen der Bundesrepublik Deutschland (seit 1949) ist er auf Titelbildern von Nachrichtenmagazinen, vor allem aber in der politischen Bildsatire häufig Gegenspieler des ,,coq gaulois". Nicht selten nimmt er auch die Gestalt deutscher Politiker oder ,,businessmen" an. Die französische Karikatur zeichnet ihn meist mit ausgebreiteten Flügeln - in Anlehnung an offizielle Darstellungen des Reichs- oder Bundesadlers -, was seinen 16 17/24 Anspruch auf Herrschaft und Macht sinnfällig macht. Das paarweise Auftreten von Hahn und Adler dient gerne der Darstellung tatsächlicher oder vermeintlicher (gefürchteter) deutscher Überlegenheit. Münzen und Banknoten Kaum ein anderes Emblem versinnbildlicht die politische Einheit ,,Staat" oder ,,Nation" mehr als Münzen und Banknoten. Dies gilt insbesondere für die Grundeinheiten des jeweiligen Währungssystems: die 1-Franc- bzw. 1-DM-Münze. Überdies konkretisiert dieses Emblem das abstrakte Konzept Kaufkraft und in der Gegenüberstellung mit Währungseinheiten anderer Länder die Wirtschaftskraft des jeweiligen Landes. So verwundert es denn auch nicht, dass diesseits wie jenseits des Rheins in der Wirtschaftskarikatur mit diesen Emblemen die wirtschaftliche Macht der Bundesrepublik (,,der Wirtschaftsriese Deutschland") der relativen wirtschaftlichen Ohnmacht Frankreichs gegenübergestellt wird (vgl. „Semeuse"). Mit der offiziellen Einführung im Januar 2002 einer gemeinsamen Währung, des Euro, ist der Gegensatz DM-Franc als ikonografische Kennzeichnung unterschiedlicher Wirtschaftskraft zwangsläufig aus der politischen Karikatur beider Länder verschwunden. Sonstige Embleme Das Eiserne Kreuz Das Eiserne Kreuz (,,EK") wurde 1813 von Friedrich Wilhelm III. von Preußen als Auszeichnung für alle Dienstgrade im Krieg gegen Napoleon gestiftet. Dreimal wurde diese Stiftung erneuert: 1870, 1914 und 1939, jeweils zu Beginn der Kriege gegen Frankreich. Die französische Karikatur setzt folglich das Eiserne Kreuz häufig in der Auseinandersetzung mit dem ,,deutschen Militarismus" ein, z. B. im Zusammenhang mit der deutschen Wiederbewaffnung. Es findet jedoch auch bei der Darstellung deutscher Übermacht auf nichtmilitärischem Gebiet Verwendung, indem es, ähnlich wie (früher) das Hakenkreuz bzw. die Inschrift allein, deutschen Politikern um den Hals gehängt wird. Auch das Motiv der Spange zum Eisernen Kreuz, das zugleich auf dem Koppelschluss deutscher Uniformen Verwendung fand – ein Reichsadler auf einem Lorbeerkranz mit der Inschrift ,,Gott mit uns" beziehungsweise mit dem Hakenkreuz –, wird oft als karikaturales Motiv verwendet. Das Lothringer Kreuz 17 18/24 Schon wenige Wochen nach de Gaulles Londoner Aufruf zum Widerstand gegen die deutsche Besatzung („appel du 18 juin") wurde im Juli 1940 das Lothringer Kreuz mit dem Doppelbalken zum Emblem des äußeren Widerstands, der „France libre" und ihrer Streitkräfte, bestimmt - als bewusst gewähltes Gegensymbol zum Hakenkreuz. Nach dem Krieg hat man es durch seine Verwendung als Briefmarken-Motiv zu einem quasi-staatlichen Emblem erhoben. Auch in der französischen Karikatur bezieht es seine tragende Rolle aus dem Gegensatz zum Hakenkreuz, das seinerseits nicht nur auf den Nationalsozialismus verweist, sondern auf verhängnisvolle deutsche Traditionen oder auf Deutschland schlechthin. Verschiedene Formen deutsch-französischer Annäherung wurden durch Konfrontation der beiden Kreuzsymbole immer wieder als widernatürliche Verbindung von Feuer und Wasser angegriffen. In neueren Karikaturen zu deutsch-französischen Themen taucht das Lothringer Kreuz kaum mehr auf. Seine nationale Identifikationsfunktion hat es in aktuellen Zusammenhängen verloren. In der deutschen Karikatur war es ohnehin stets nur als Kürzel für den Gaullismus verwendet worden. NS-Embleme Vor allem im ersten Nachkriegsjahrzehnt wählten Kritiker der Bundesrepublik mit Vorliebe Hakenkreuz oder SS-Rune, um sie einzelnen deutschen Politikern - ungeachtet ihres Verhaltens zur Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft - an die Kleidung zu stecken. Seit den 1960er Jahren wagen es deutsche Zeichner, in Einzelfällen sowohl Gestalten des öffentlichen Lebens in Frankreich (z. B. General Salan oder Jean-Marie Le Pen) als auch in der Bundesrepublik mit eben diesen Zeichen auszustatten. Auch in der innerfranzösischen Debatte dienen derartige Embleme seit langem der Denunziation des innenpolitischen Gegners. Faschistische Symbole kennzeichnen nunmehr eher einen politischen Standort (z.B. Fremdenfeindlichkeit), nicht mehr die nationale Zugehörigkeit. Wenn einzelne deutsche Politiker heute in NS- oder SS-Uniform dargestellt werden, so ist damit ein Angriff auf die jeweils konkrete Person intendiert, kaum noch auf ,,die" Deutschen. Schriftzeichen Gotische Buchstaben und Schriftzüge in der französischen Deutschlandkarikatur sind mit Erinnerungen an die deutsche Besatzungsmacht im Zweiten Weltkrieg verknüpft. Man denke nur an die Vielzahl von Straßenschildern- und Bekanntmachungen im besetzten Paris. Überdies tritt an die Stelle des muttersprachlichen Konsonantengraphems 'c' in französischen Bildlegenden des Öfteren das fremdsprachliche 'k' (z.B. ,,Entente kordiale", „kolossal“). Kein Zweifel, dass es sich hierbei nicht um einen Rechtschreibefehler handelt, sondern um ein besonders reizvolles Spiel mit verschiedenen Registern des Ethno-Codes. Das 'K' gilt den Franzosen als ein typisch deutsches Sprachzeichen seiner grafischen, aber auch und vor allem 18 19/24 lautlichen Form wegen. Es bezeichnet den harten, angeblich „gutturalen“ Charakter der deutschen Sprache. Lebens- und Genussmittel Wer sein Leben sorglos und in Freuden genießt, von dem heißt es in einer deutschen Redensart, er lebe wie Gott in Frankreich30. Auf diesem Hintergrund statten deutsche Karikaturisten ihre französischen Figuren gern mit Wein (früher auch Champagner), einer Baguette und Käse aus, die ihnen als Insignien des gehobenen Geschmacks gelten. Aus französischer Sicht hingegen charakterisieren Massenprodukte der Deutschen in erster Linie Bier, Wurst und Würstchen. Bier kontra Wein ist ein Kontrastmotiv mit jahrhundertealter Tradition. Es lässt sich vor allem zurückführen auf die französische Karikatur um 1870, die einen gastronomischen Feldzug gegen deutsche Erzeugnisse mit der Devise „mangez français“ führte, während die deutsche Karikatur in vergleichbarer Weise gegen französische Erzeugnisse polemisierte. Gewiss verbinden Franzosen mit dem Gerstensaft auch noch andere deutsche Erzeugnisse und Gerichte wie Sauerkraut, Schweinebraten. dampfende Kartoffeln. Gemeinsam ist all diesen Produkten, dass sie leicht zu Symbolen für deutsche Hofbräustimmung, Gemütlichkeit, Gesang und Schunkeln, wenn nicht Plumpheit, Vulgarität oder Aggressivität werden können. Schlussbemerkung Lässt man die Karikaturen der letzten 70 Jahre Revue passieren, werden bedeutsame Umschichtungen erkennbar. Auf französischer Seite ändert insbesondere die Verwendung von deutschen Militaria zunächst ihre Funktion, um dann – mit aktualitätsbedingten Unterbrechungen – deutlich zurückzugehen, ja fast gänzlich abzudanken. Mit Funktionswechsel ist damit der Sachverhalt gemeint, dass seit den Zeiten des Wirtschaftswunders Deutschland zunehmend eher wirtschaftlich denn als militärisch bedrohlicher Nachbar empfunden wird. Dementsprechend treten deutsche Politiker sowohl im bi-nationalen als auch im europäischen Rahmen eher in ökonomischen, insbesondere währungspolitischen Kontexten mit militärischen Attributen auf. Auch die ohne militärische Attribute auskommende Bildsatire realer oder vermeintlicher deutscher Übermacht in Form von hyperbolisierenden Darstellungen (Musterbeispiel: die Aufblähung des bereits von Natur aus mit physischer Größe und Korpulenz ausgestatteten Helmut Kohl) bezieht sich in aller Regel auf den wirtschaftlichen und finanzpolitischen Bereich. 19 20/24 Nazi-Embleme erfuhren einen beträchtlichen Rückgang ihrer Häufigkeit und werden zunehmend in denationalisierter Bedeutung gebracht, sprich: sie dienen der Verurteilung rechtsradikaler Umtriebe in beiden Ländern. Auf französischer Seite wird die matronenhafte Germania von manchen Karikaturisten zwar anlässlich gewisser politischer Ereignisse wieder aktualisiert und instrumentalisiert, doch überlässt sie das Feld weitgehend einer zierlichen, an Gretchen erinnernden Identifikationsfigur oder aber bekannten Spitzenpolitikern. Auf deutscher Seite wird aus der argwöhnischen Marianne der Nachkriegsjahre Michels Partnerin, wenn nicht Geliebte. Gemeinsam ist beiden Seiten, dass ihre Kritik an Schärfe verloren hat, was nicht bedeutet, dass sie keinen Biss mehr hat. 20 21/24 1. Mit Deutschland ist hier der sprachlichen Einfachheit halber in der Regel die Bundesrepublik gemeint. Ähnliches gilt für die Adjektiv-Verbindung „deutsch-französisch“. Ein Begriff wie „deutsch-französische Beziehungen“ ist standardmäßig in dieser Bedeutung eingeführt. Sofern von der DDR und deren Beziehungen zu Frankreich die Rede ist, wird dies eigens markiert. 2. André Fontaine, Vorwort zu : Ursula E. Koch / Pierre-Paul Sagave: ‚LE CHARIVARI‘. Die Geschichte einer Pariser Tageszeitung im Kampf um die Republik (1832 bis 1882), Köln: informationspresse – c.w. leske verlag, 1984, S. 9; 10. 3. Ridiculosa, n° 3 : Pastiches et parodies de tableaux de maîtres, Brest (1996). 4. n° 6: Textuel et visuel, Brest (1999). 5. Franz Schneider, Die politische Karikatur, München: C.H. Beck, 1988; Thomas Knieper, Die politische Karikatur. Eine journalistische Darstellungsform und deren Produzenten, Köln: Herbert von Halem, 2002. 6. Vgl. zur Bedeutung der Karikatur in der Tagespresse, die sich in Frankreich seit dem I. und in Deutschland seit dem II. Weltkrieg fest eingebürgert hat, Herbert Päge, Karikaturen in der Zeitung. Engagierter Bildjournalismus oder opportunistisches Schmuckelement? Aachen: Shaker Media, 2007. 7. Einen allgemeinen Überblick bietet der Katalog von Gerhard Langemeyer, Gerd Unverfehrt, Herwig Guratzsch und Christoph Stölzl (Hg.), Mittel und Motive der Karikatur in fünf Jahrhunderten. Bild als Waffe, München: Prestel, ²1985. Vgl. zur Karikatur als pädagogisches Medium Ulrich Schnakenberg, Geschichte in Karikaturen – Karikaturen als Quelle 1945 bis heute, Schwalbach/Taunus: Wochenschau Verlag, 2011, u. derselbe: Politik in Karikaturen, Schwalbach/Taunus: Wochenschau Verlag, 2013. Mit Bezug auf das deutsch-französische Verhältnis: Jean-Claude Gardes, L'image de la France dans la presse satirique allemande 1870-1970, thèse de civilisation, doctorat d'État, Université de Paris VIII, 1991, 4 Bde. ; Karl Heinz Dammer, Pressezeichnung und Öffentlichkeit im Frankreich der Fünften Republik (1958-1990). Untersuchungen zur Theorie und gesellschaftlichen Funktion der Karikatur, Münster/Hamburg: Lit, 1994 sowie die Ausstellungskataloge Von de Gaulle bis Mitterrand. Politische Karikatur in Frankreich 1958-1987, Münster: Westfälisches Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte Münster/Landschaftsverband Westfalen-Lippe, 1987, hg. von Siegfried Kessemeier mit Alain Deligne und Peter Ronge; Alain Deligne/ Laurent Gervereau/ Peter Ronge (Hg.), De de Gaulle à Mitterrand. 30 ans de dessins d'actualité en France, Paris : Musée d'histoire contemporaine/ BDIC, 1989; Reinhard Dietrich/Walther Fekl, Komische Nachbarn. Deutsch-Französische Beziehungen im Spiegel der Karikatur (1945-1987) / Drôles de voisins. Les rapports franco-allemands à travers la caricature (1945(1987) mit einem Supplement von Angelika Schober : Das Bild des Nachbarn in der Karikatur der 80er Jahre / L’image du voisin dans la caricature des années 80, Paris: Goethe-Institut, 1988, sowie Fritz-Wolf-Gesellschaft (Hg.), Fritz Wolf: Begegnungen. Das deutsch-französische Zusammenwachsen, Osnabrück, 2009 (Ausstellungskatalog) und Du Duel au Duo. Vom Duell zum Duett. Images satiriques du couple francoallemand de 1870 à nos jours. Satirische Seitenblicke auf das deutsch-französische Paar von 1870 bis heute, Strasbourg: Musées de la Ville de Strasbourg, 2013 (Ausstellungskatalog bearb.von Thérèse Willer). 8. Der Historiker Maurice Agulhon hat sich in mehreren Werken mit der Figur der Marianne beschäftigt, vgl. insbes.: Marianne au combat; Marianne au pouvoir; Les Métamorphoses de Marianne; Paris : Flammarion, 1979 ; 1989 ; 2001. 9. Guillaume Doizy/ Jacky Houdré, Marianne dans tous ses états. La République en caricature de Daumier à Plantu, Paris : Editions Alternatives, 2008. 10. Allgemein Ursula E. Koch & Jean-Claude Gardes, « Le diable est-il français ? La chute de l’Empire, le 9 novembre, l’Armistice du 11 novembre 1918 et le traité de Versailles du 28 juin 1919 dans le discours de trois revues satiriques allemandes durant la République de Weimar », in : Ridiculosa, n° 20, La guerre après la guerre. L’écho de la Grande Guerre dans la caricature (1918-2014), Brest (2013), S. 97-112. 11. Jean Pierre Guéno, De Gaulle et Marianne selon Jacques Faizant, Paris, Hugo + Image, 2014. 12. Zum Marianne-Bild der DDR v.a. der 1950er Jahre, das dem französischen Bild-Gebrauch nahekommt, vgl. Walther Fekl, „Vive la République! Marianne als deutsch-demokratischer Mythos im Satiremagazin Eulenspiegel“, in: Dorothee 22/24 Röseberg (Hg.), Frankreich und „Das andere Deutschland“. Analysen und Zeitzeugnisse, Tübingen : Stauffenburg, 1999, sowie Jean-Claude Gardes, „Rôle et fonction des représentations de la France dans la presse satirique est-allemande des années 50“, in : Ernst Dauitel/ Gunter Volz (Hg.), Horizons inattendus. Mélanges offerts à Jean-Paul Barbe, Tübingen : Stauffenburg, 1999. 13. Ein Überblick in : Ridiculosa, n° 18, Brest (2011) : Les revues satiriques françaises, u. Ridiculosa Hors série, Brest (2013), La presse satirique dans le monde (Beitrag von Ursula E. Koch u. Jean-Claude Gardes : « Histoire de la presse satirique allemande », S. 13-43). 14. Allgemein: Niedersächsische Landeszentrale für politische Bildung (Hg.): Wolfgang Marienfeld, Die Geschichte des Deutschlandproblems im Spiegel der politischen Karikatur, Hannover, ²1991. 15. Zahlreiche Beispiele in: Walther Fekl (Hg.), Drôle de peuple! Komisches Volk! PLANTU. Dessins sur l’Allemagne. Politische Karikaturen zu Deutschland, Berlin: Schaltzeit-Verlag, 2011 (Ausstellungskatalog). Vgl. zu der obigen Darstellung Ursula E. Koch, „ Germania – eine facettenreiche Nationalfigur im Dienst des politischen Meinungsstreits. Selbst- und Fremdbild in der deutschen und französischen Pressekarikatur im Wandel der Jahrhunderte. Ein Forschungsbericht“. In: Dietrich Grünewald (Hg.), Politische Karikatur. Zwischen Journalismus und Kunst, Bonn: VDG, 2002, S. 45-68. Dieselbe: Marianne und Germania in der Karikatur (1550-1999) (Hg.), Leipzig: PögeDruck, ²2011 (Ausstellungskatalog). 16. W. Michael, Das Urbild John Bulls, in: Historische Zeitschrift, 1908, S. 237-262. 17. Alton Ketchum, Uncle Sam: The Man and the Legend, New York: Hill and Wang, 1959. 18. Tomasz Szarota, Der deutsche Michel. Die Geschichte eines nationalen Symbols und Autostereotyps, Osnabrück: fibre, 1998 (Aus dem Polnischen von Kordula Zentgraf-Zubrzycka). Polnische und österreichische Karikaturisten haben den deutschen Michel vor dem II. Weltkrieg von Zeit zu Zeit ebenfalls verwendet. 19. Remigius Brückmann (Bearb.), Politische Karikaturen des Vormärz 1815-1849, Karlsruhe: Badischer Kunstverein, 1984 (Ausstellungskatalog). 20. Germanisches Nationalmuseum (Hg.), 1848: Das Europa der Bilder, Bd. 2, Michels März, Nürnberg, 1998 (Ausstellungskatalog). 21. Dieter Hanitzsch/Hans Dollinger (Hg.), Der doppelte Michel. Karikaturisten sehen ein Jahr „deutsche Revolution“, München: Süddeutscher Verlag, 1990. 22. Sieht man von Revolutionszeiten ab, so existierte in Frankreich bis zum Erlass des (mit Abänderungen ) noch heute gültigen Pressegesetzes von 1881 für Karikaturen eine Vorzensur. Obwohl im deutschen Kaiserreich 1874 ein einheitliches, relativ liberales Pressegesetz eingeführt worden war, kamen Karikaturisten weiterhin des Öfteren mit dem Strafgesetz in Konflikt. In der Bundesrepublik Deutschland existiert in jedem Bundesland ein eigenes Pressegesetz. 23. Die in Frankreich lange sehr beliebte Porträt-Satire („portrait charge“: groβer Kopf auf kleinem Körper) ist in der deutschen Pressekarikatur vergleichsweise selten anzutreffen. 24. Vgl. die in Anm. 7 erwähnte Literatur. 25Ursula E. Koch, « Le couple franco-allemand, l’Europe et la médiaisaion de l’histoire par les caricaturistes (19452003), in : Michel Mathien (dir.), La médiaisaion de l’histoire. Ses risques et ses espoirs, Bruxelles, Bruylant, 2005, S. 193-220. Allgemein : Jean-Claude Gardes, « L’Allemagne et la France dans la caricature du voisin », in : Médias, n° 24 (mars 2010). 26. Siehe hierzu die folgenden Beiträge von Marie Delépine : «Scènes de la vie conjugale. Mises en images du couple franco-allemand », in Ridiculosa, n° 5, Brest (1998), S. 129-149 und « Quand caricature, photographie et communication politique se rencontrent. Le couple franco-allemand ou l’image dans l’image», in : Ridiculosa, n° 17, Brest (2009), S. 219-232, sowie ihre Dissertation: Présidents et chanceliers dans les caricatures politiques : 23/24 représentation et symbolique du couple franco-allemand (1950-98), thèse Univ. Paris III [2006], 438 S.. Sehr anschaulich ist auch der Ausstellungskatalog von Walther Fekl (Hg.), Paarlauf. Die deutsch-französischen Beziehungen in der politischen Karikatur. Pas de deux. Les relations franco-allemandes dans le dessin de presse, Berlin: Schaltzeit Verlag, 2013. 27. Vgl. hierzu die erstmals im September 2014 im Centre mondial de la paix von Verdun gezeigte Wanderausstellung von Walther Fekl/ Peter Ronge: Die Geste von Verdun/ Le geste de Verdun: Kohl-Mitterrand. 28. S. Reinhard Dietrich / Walther Fekl, Komische Nachbarn. Drôles de voisins. Der 9. November 1989 und seine Folgen im Spiegel der deutschen und französischen Karikatur (1989/90). Le 9 novembre 1989 et ses conséquences à travers la caricature française et allemande des années 1989/90, Goethe-Institut Paris, 1990, und Hildegard Meister, Wenn Karikaturen sprechen. Semiotisierungsstrategien französischer und deutscher Pressezeichnungen zur deutschen Einheit. 2 Bände, Münster: Nodus, 1998. 29.Auf DDR-Karikaturen ist der Stahlhelm als Symbol der Bundesrepublik keine Seltenheit. 30. Friedrich Sieburgs 1929 erschienenes, oft nachgedrucktes Buch Gott in Frankreich? (französischer Titel: Dieu est-il Français?) hat das deutsche Frankreichbild mitgeprägt. 24/24