Merrrdre - Scheitze
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Merrrdre - Scheitze
Joachim Klein Merrrdre - Scheitze - Tagebuch eines Wanderkerfs - Editions La Gidouille Joachim Klein Merrrdre - Scheitze - Tagebuch eines Wanderkerfs - © Joachim Klein, 2001 © Editions La Gidouille 2001 merrrdre@kleinjoachim.de Prolog: „Ich beginne ein Unternehmen, das ohne Beispiel ist und das kaum einer nachahmen wird. Ich will einen Menschen in der ganzen Naturwahrheit zeigen, und dieser Mensch werde ich sein. Ich allein, wenn auch zusammen mit meiner Familie und inmitten von seltsamen Gattungsangehörigen, die als meine Zeitgenossen zu bezeichnen einer Banalität gleichkommt. Ich lese jedoch in meinem Herzen und kenne die Menschen. Mag die Posaune des Jüngsten Gerichts wann immer erschallen, ich werde mit diesem Text in der Hand vor den obersten Richter treten. Ich werde laut sagen: ‚Sieh, das habe ich erlebt. Ich habe das Gute und das Böse mit dem gleichen Freimut erzählt. Ich habe nichts Schlimmes verschwiegen, nichts Gutes hinzugefügt und weder Zote noch Schmäh ausgelassen. Und wenn es mir manchmal passierte, daß ich eine bedeutungslose Zutat verwandte, so geschah es nur, um eine Lücke zu füllen, die mir mangelnde Erinnerung oder unvollständige Wirklichkeit verursachte.‘“ Jean-Jacques Rousseau / Cater Jarim Samstag, 24. Juni Die ganze Welt ist von nun an eine Michelinkarte. Wir befinden uns auf der Autobahn in Richtung Nancy. Vergessen sind die Straßenbuckel in Lothringen, die wir bei den Landfahrten mit den Eltern zu durchqueren hatten. Damals in den 50ern. Was hatten wir als Kinder in die Simca Aronde gereiert, immer haargenau an der bereitgehaltenen Emailleschüssel vorbei, immerzu aufs gute Polster oder den gerade gereinigten Sonntagsstaat der Eltern und Großeltern. Aber nicht nur wir Kinder, auch Tante Ella aus München, die wir mit der Aussicht, daß diese Route, wenn man auf ihr bliebe, spornstreichs nach Lourdes führe, zur Tagesfahrt nach Metz und Nancy (das die Oma noch Nantzig nannte) verlockten... Tante Ella aus München also kübelte, als gelte es sämtliche Rekorde im Weit(aus)wurf zu brechen. Heute ist die verkehrstechnische Situation entschärft; nur noch Ludwig Harig erinnert gelegentlich in seinen Schriften an die längst vergangene Eigenart der ostfranzösischen Straßenführung. Der Verkehr fließt gemächlich, und die Autobahn nimmt die lothringische Stufenlandschaft mit stetem Verlauf. Kein Brechreiz also im Anmarsch. Uns geht es, danke der Nachfrage, soweit so gut. Uns, damit meine ich: mich natürlich, Cater Jarim, der hier lenken, nachdenken und schreiben muß, Hagen Knotterbeck, meine Frau, Consuelo Vladimir, unsere elfjährige Tochter, und die Kleine, Kiki Estragon, acht Jahre alt. Falls sich jemand die Frage stellt, warum wir so seltsame Namen haben, und warum die Familienmitglieder weiblichen Geschlechts ganz oder teilweise Männernamen in ihrer von mir verliehenen Identität führen, möchte ich die Antwort darauf durchaus schuldig bleiben, auf die Offenheit des Kunstwerks, äh, ich meine: der vorliegenden Aufzeichnungen verweisen und der androgynen Leserschaft psychoanalytische Spekulationen anheimstellen. 6 Wir sind heute morgen in Ensheim gestartet, einem Vorort von Saarbrücken, meinem Geburtsort, der aber zur Zeit der Cater‘schen Herabkunft auf Erden noch nicht Saarbrücken war, ja noch nicht einmal in Deutschland lag. Ensheim wurde wie der Rest des Saarlandes 1957 politisch und zwei Jahre später wirtschaftlich eingedeutscht. Die damals noch selbständige Gemeinde fiel Anfang der 70er den Saarbrückern zu; die vollständige Integration aber darf als gescheitert gelten; Ensheim hat seine eigene Telefonvorwahl, eine eigene Gemeindekultur und jede Menge Eigensinn, und all das hat wiederum seine historische Bewandtnis: Die bayerisch- preußische Grenze verlief nämlich bis 1919 genau zwischen der geographischen Mitte von Gemeinde und Stadt, ein Umstand, der sich bis vor wenigen Jahren in der hohen Zahl der Ensheimer Gasthäuser bemerkbar machte. Außerdem sprechen die Ensheimer (zwar keinen bayerischen, wohl aber) einen alemannischen Dialekt, der noch zu meiner Zeit die Verständigung mit Leuten aus dem Sprachkreis des HeinzBecker-Deutschs hörbar erschwerte. Doch das ist Geschichte, heute sprechen die Ensheimer astreines Heinz-Becker-Deutsch, und ich wohne schon lange hinter Frankfurt hart an der Grenze zu Bayern, dort, wo die Zugereisten aus allen deutschen Gauen den Hessen die Sprache des großen Hesselbach und des noch größeren Niebergall austreiben. Es schüttet vom Himmel, was das Zeug hält, Liz und Gabor versprachen uns bei unserer Abfahrt herrlichstes Wetter, und zwar am Zielort, dem südfranzösischen Péret. Liz und Gabor Pohl, um auch dieses Personal der vorliegenden Aufzeichnungen einzuführen, sind die in Ensheim beheimateten Besitzer des „Château Pohl“, des Ferienhauses, das wir nunmehr ansteuern. Gabor hat ein Vermögen mit Spezialflanschen gemacht, die er, wenn ich das richtig verstanden habe, aus usbekischer oder slowakischer Produktion aufkauft und 7 mit einer bekömmlichen Marge über seine beiderseits der deutschfranzösischen Grenze domizilierende Firma an französischneufundländische Konsortien weiterveräußert, die sie wiederum für den Bau irgendwelcher Gaspipelines von Mers el Kebir via Marseille und Bratislawa nach Usbekistan verwenden, um die dortige Flanschenherstellung mit Energie aus Algerien zu versorgen. Liz und Gabor verbringen, um die Verwirrung komplett zu machen, die Ferien nie in ihrem Haus nahe Montpellier, sondern in nordschwedischen Anglerhütten, ausgerechnet dort, wo wegen des Permafrosts keine Pipelines gebaut werden können. Vor dem Tunnel in Lyon geraten wir in einen kleinen, in einen wirklich nur winzigen Stau. Ich sage, was ich immer an dieser Stelle sage: „Hätten wir doch lieber die ‚periphérique‘, die Umgehungsstraße genommen“. Die Kinder sagen nichts, sie schlafen. Der Blasendruck legt ein Atü zu, Pinkelpause tut not: Wir befinden uns jetzt zehn Kilometer vor Montélimar und steuern den Rastplatz mit dem pittoresken Namen "Aire de la Coucourde" an. Der Rastplatz ist auf das Liebenswerteste beschrieben in einem Buch von Julio Cortázar, das eines der wenigen Bücher darstellt, die ich ohne Vorbehalte empfehlen kann. Cortázar und seine Frau Carol Dunlop beschreiben darin eine Reise, die sie im Sommer 1982 unternommen haben: eine Reise so ungewöhnlich wie die Umstände, die ihr vorausgingen. Es handelte sich nämlich um eine Fahrt von Paris nach Marseille, wobei die Reiseetappen sich nach den ungefähr 70 Rastplätzen entlang der Autobahn richteten: ein Rastplatz zum Aufenthalt während des Tages, der nächste zur Übernachtung. Für die Distanz, die bei mittlerer Fahrgeschwindigkeit gut acht Stunden beanspruchen würde, benötigten Cortázar/Dunlop einen ganzen Monat. Oder anders gesagt: Die Zeit hat sich in dieser kleinen Ve rsuchsanordnung um ein Vielfaches verlangsamt. Die Tragik - oder 8 soll man angesichts dieser Verlangsamung sagen: das Glück - bestand darin, daß die künstliche Verzögerung von Reis ezeit nicht nur eine Unmasse an Erkenntnissen über die menschliche Spezies einbrachte, sondern auch einen Aufschub an Lebenszeit bewirkte Carol Dunlop ist ein halbes Jahr nach der Reise an Krebs gestorben, ihr Mann ein Jahr darauf kurz nach der Niederschrift des „Expeditionsberichtes“, der 1996 unter dem Titel "Die Autonauten auf der Kosmobahn" auf Deutsch erschienen ist. Tragisch auch: Beide wußten um ihre nur mehr kurz bemessene Lebensfrist. Ich werde ganz traurig und gedenke der beiden Autoren. Aber die Würde des Augenblicks wird von zwei Franzosen besudelt, die neben der Toilettenanlage stehen, sich lautstark über Fußball auseinandersetzen und wie beiläufig die Astern beharnen. Der Himmel beginnt sich aufzuhellen, auf der Höhe von Montélimar zeigt sich der Midi in botmäßigem meteorologischen Zustand. Bei Avignon beginnt der mediterrane Sommer. Hinter Nîmes treibt das Außenthermometer auf die 38 Grad zu. Die Kinder wachen, sobald wir die Autobahn verlassen, aus einem neuerlichen, viel zu kurzen Koma auf und entdecken von mir animiert das Meer. Ich verschweige, daß es sich dabei gar nicht um das Meer, sondern bloß um den „Bassin de Thau“, einen Brackwassersee, handelt. Ich greife, nebenbei bemerkt, oft und gern zu solchen kleinen Realitätskorrekturen, um die Wirklichkeit etwas stärker zu "akzentuieren", wie das heute heißt. Die Akzentuierung geht allerdings meistens daneben, Hagen Knotterbeck murmelt dann als Zeichen ihrer Mißbilligung einige unverständliche Ordnungsrufe (sie murmelt nur, um die Kinder nicht zu desillusionieren, ansonsten stößt sie Ordnungsrufe naturgemäß laut aus), aber bei den Kindern, die immer schon desillusioniert sind, werde ich wie der leibhaftige Käptn Blaubär behandelt. Sei's drum. 9 Die Fischstände, Restaurants und Snacks in Mèze nahe Sète mit ihrem überquellenden Angebot an Muscheln und Austern, den Ejakulaten des Bassin, überzeugen auch den stärksten Zweifler davon, daß wir uns am Meer befinden. Hagen Knotterbeck und die Kinder bemerken noch, daß sie keine Austern mögen, dabei hat Mme Knotterbeck bisher erst einmal Austern gegessen und zwar man lasse sich dies wie eine derselben auf der Zunge zergehen - in Denver/Colorado, und die Kinder haben allenfalls mal welche im „Cora“ (einer französischen Supermarktkette) gesehen. Ich selbst habe noch nie Austern gegessen, was mich aber nicht davon abhält, sie aufrichtig zu verabscheuen. Um fünf Uhr nachmittags kommen wir in Péret an. Wir finden das Château nicht nur auf Anhieb, sondern sogar ganz toll. Den Konventionen gemäß ist auch ein „Kronenbourg“ zur Begrüßung da (die Vorbesucher müssen immer ein Six-Pack sowie eine Flasche Rotwein zurücklassen). Die Kinder haben ebenfalls Durst, sie dürfen aber noch kein Bier trinken, deshalb machen wir uns sofort zum nächstgelegenen Supermarkt auf. Er befindet sich in Clermont l'Hérault und nennt sich „HyperU“. Trotz seines bescheuerten Namens und seiner im Vergleich zu den „Carrefours“ und „Coras“ recht bescheidenen Dimension kommt er einer Offenbarung gleich. "Nein dieses Angebot an Meeresgetier, an Käse, an französischem Wein undundund" - so entfährt es uns. Nur bei den Innereien, den so genannten "abats", scheiden sich mal wieder die Geister. Als ich all die Pansen und Kaldaunen, Ziegenhirne, Kalbsköpfchen, -bäckchen und -briese bewundere, werde ich sofort zum Aufbruch ermahnt. Mme Knotterbeck behauptet, wir seien alle müde. Ich nehme in der Eile? in der Euphorie? aus Verzweiflung? noch eine „Saucisson aux myrtilles“ mit. Das ist, geht es mir in Bruchteilen 10 einer Sekunde (das heißt viel zu schnell für mich) durch den Kopf, hinreichend exotisch und womöglich noch für den Rest der Familie akzeptabel. Sowohl Hagen Knotterbeck als auch die Kinder mögen Salami; und sie mögen Heidelbeeren; und unversehens kommt mir die Kombination aus beiden reichlich provenzalisch, also unserem Urlaub angemessen vor. Im „Château Pohl“ machen wir uns über unsere Erwerbungen her: Hagen Knotterbeck und die Kinder mögen keine Saucisson, und ich spucke sie nach dem ersten Bissen wieder aus. Natürlich ist eine Wurst „aux myrtilles“ viel zu abartig, als daß sie der hohen Tradition französischer Wurstküchen entstammen könnte (es scheint mir bis zum Beweis des Gegenteils eine Originalkreation eines menschenverachtenden „meat engineerings“ holländischer oder brasilianischer Provenienz zu sein). Mme Knotterbeck meint: "Typisch" und diagnostiziert „Übersprungshandlung beim Kauf. Du bist vom Gegenteil überzeugt und tust es trotzdem.“ Consuelo Vladimir sagt: „Egal, was du tust, aber tu das Ding weg, das hat ja eine ganz unappetitliche Farbe.“ Ich ertränke meinen Kummer im vorgefundenen Rotwein, der ungefähr so schmeckt, wie die „Saucisson aux myrtilles“ aussieht und entgifte mich mit dem im „HyperU“ erworbenen erheblich magersüchtigen Pouilly-Fumé (die hiesigen Weine sind uns noch nicht geläufig, und was der Bauer nicht kennt...), bevor schließlich im milden Abendwind unter einem glasklaren Sternenhimmel die Welt trotz allem ihren Liebreiz entfaltet. 11 Sonntag, 25. Juni Heute Nacht hatte ich einen der typischen Träume, in denen ein Riesenproblem auftaucht und zu dessen Lösung verblüffend einfache Schritte notwendig sind. Dieses Mal war es die Frage, wie hoch die Transferleistungen reicher Industrienationen sein müßten, um in Papua-Neuguinea eine stabile Subsistenzwirtschaft zu etablieren. Die Lösung ergab sich aus der Anzahl der Treffer, die ich mit dem Pfeil- und Bogenspiel der Kinder erzielte, kombiniert mit dem zum Überleben erforderlichen Mindestbedarf an Mehl, Zucker und Fett und der Analphabetenquote, die ich aus dem Fischer-Weltalmanach erfuhr, wobei ich - was nichts zur Sache tut - zunächst AnalPhabetenquote lese. Auf welche Weise ich die Parameter in Beziehung setzte, habe ich sofort nach dem Erwachen wieder vergessen, so daß die Welt noch weiter der Lösung ihrer dringendsten Probleme harren muß. Ich nenne diese Art von Träumen, die mich in jeder dritten Nacht ereilen, Träume der portionierten Weltformel, und der Witz dabei ist, daß ich während des Traumes immer das sichere Gefühl habe, es genügten meine Träume bzw. deren Ergebnisse zusammenaddiert, um die Welt tatsächlich für jedermann lebbar zu machen, ohne daß auch nur noch ein Rest an Unglück zurückbliebe. Im Grunde genommen ist das die simple, aber auch wünschenswerte Außer-Kraft-Setzung der Schopenhauerschen Weltformel, wonach die Summe allen Leides (auch aller Dummheit) immer konstant bleibt. Das „Château Pohl“ besteht an und für sich nur aus einem Raum. In Südfrankreich nennt man das Salon - eine Mischung aus Wohnund Eßzimmer. Hier ist – „à l'américaine“ - angeschlossen eine kleine Küche. Separiert sind: ein Schlafzimmer, ein Bad (mit Wanne und Bidet, jenem Gerät, das wir Deutschen in früheren Zeiten als steinerne Aufforderung zur Fußreinigung ansahen) sowie - durch zwei Holzstiegen und -loggien erschlossen - noch drei weitere Schlaf- 12 räume, sozusagen im Obergeschoß des Salons. Die Kinder hatten sich bei unserer Ankunft begeistert gezeigt und sofort die oberen Zimmer in Beschlag genommen. Hagen Knotterbeck und mir war das vollseparierte Schlafgemach insofern zupaß gekommen, als die Aussicht auf das benachbarte Cabinet beruhigend wirkte - haben wir doch unter altersbedingten Schwächlichkeiten hinsichtlich der Harnresistenz zu leiden. Außerdem, muß ich gestehen, habe ich bereits in der ersten Nacht von pinkelnden Franzosen gealpträumt, die in sonder Zahl an Autobahnraststätten Astern und Robinien beschiffen, und sowas kann – falls das wiederkehren sollte – zu akuten Nachahmungstäterschaften führen. Péret ist ein 500-Seelen-Dorf, das haargenau auf jenem Saum liegt, den die Küstenebene des Languedoc mit dem Vorgebirge zur Causses bildet. Die ersten Häuser stehen noch in der Ebene, der Chemin des Roques, der an das „Château Pohl“ angrenzt, steigt bereits steil an. Nördlich und nordwestlich von Péret schließt sich echte Landschaft an, südlich gibt es - um mit Salvador Dalí zu sprechen - noch nicht mal geologische Gegebenheiten. Péret selbst ist in jeder Hinsicht von extremer Schlichtheit. Die einzige Berühmtheit unter den Bewohnern ist Michel Siffre, ein „spéléologue“, ein Höhlenforscher. Siffre erlangte in seiner Zunft dadurch Ansehen, daß er spektakuläre Selbstexperimente mit extremem Zeitentzug bei vollständiger Isolation – vorzugsweise in der knapp 30 Kilometer entfernten Grotte de Clamouse - praktizierte. Der Populärwissenschaftsjournalismus, immer um die richtige Rubrifizierung bemüht, nennt ihn den „Kommandanten Cousteau der Höhlen“. Ein erster Kontrollgang durch das Dorf ergibt: 1. Der Franzose und der französische Dorfbewohner zumal ist kein Frühaufsteher. Keine Menschenseele zu sehen. 13 2. Eine Kneipe ist nicht vorhanden. Das bedeutet: Es handelt sich um kein richtiges Dorf, sondern lediglich um eine unstrukturierte Ansammlung von Häusern mit dem Erscheinungsbild eines Dorfes. 3. Es gibt nur eine Bäckerei und die ist zu allem Überdruß sonntags geschlossen - es ist mithin keine richtige Bäckerei (ein Fakt der noch dramatisch an Wahrheitsgehalt gewinnen sollte), sondern ein Versorgungsdepot mit einem Minimum der dafür erforderlichen Ausstattung (eine Etagère, ein Tisch). Alles in allem eine ernüchternde Eröffnungsbilanz. Was die Sache mit der Kneipe anbelangt, so ist Péret natürlich kein Ausnahmefall, sondern die Bestätigung einer Regel, die das Selbstverständnis des republikanischen Frankreich erschüttert. Die französischen Linksparteien, die in der Dorfkneipe - jedenfalls dort, wo sie die Mehrheit hatten - richtigerweise die säkulare Stellvertretung des Himmels auf Erden gesehen haben, die wiederum die Dorfkirche in einer von Pfaffen befreiten Zukunft ersetzen würde - haben sich in den siebziger und achtziger Jahren verschiedentlich an Projekten kommunaler oder gar parteieigener Dorfkneipen versucht. Sie sind allesamt gescheitert: Eher geht das TV-verwöhnte Kamel durch das Nadelöhr der heiligen Sonntagsmesse als zum Himmelreich laizistischer Begegnungen am Tresen. Es ist wie die Bestätigung eines früher in der Umgebung des saarländischen Merzig gebräuchlichen Stoßgebetes, das der einzige saarländische Philosoph von Rang (ein Erzkatholik natürlich), Peter Wust, überliefert hat: "Vater unser, der Du bist bleib' ein jeder, wo er ist." Daß nicht ein jeder bleiben kann, wo er ist, lehrt die reine Unmittelbarkeit. Nehmen wir den Kirchgänger. Auch er muß äußerste Mobilität walten lassen, wenn er dem Sonntagsgebot Folge leisten 14 will. Tatsache ist, daß Péret eine Kirche hat, keine schöne, aber immerhin eine, die sich nicht nur in das Weichbild des Ortes einfügt, sondern - comme il faut - dem ganzen auch einen Mittelpunkt verleiht, der es als Ort identifizierbar macht. Und mit seinem nach oben offenen, midigerechten "clocher", der von einer sogenannten "barbarottes", dem Eisenkäfig für die Glocken, überwölbt ist, läßt es an Abertausende von Dörfern denken, die sich von Spanien bis hart an die dalmatinische Küste hinziehen. Nebenbei bemerkt: Es gibt nicht nur eine touristische Verballermannisierung der Méditerranée, sondern auch seit alters eine architektonische Vernatursteiner- und Vertrockenmauerisierung, die alle Menschen, die vor dieser Kulisse erscheinen, gleich aussehen läßt - schwarz die Frauen, grau die Männer - und die Jungen kommen in diesem jahrhundertealten Film immer nur in den Koloraturen kurzer und heftiger Leidenschaften vor, bevor sie blitzschnell altern und schwarz und grau werden. Nur: Pérets Gotteshaus als gebieterisches Zentrum göttlichen Willens, wonach die Kirche im Dorf zu bleiben hat, bleibt für das Dorf verschlossen. Kirchgänger müssen in Ermangelung klerikaler Betreuungskapazitäten den Weg nach Clermont l'Hérault nehmen einen Weg immerhin, der per pedes apostolorum zwei Stunden in Anspruch nimmt und von rachitischen Altersbeinen (die hier ab sechzig das Maß aller Dinge sind) vier Stunden abverlangt, weswegen eine Alte aus Péret, die 65 Lenze zählt, gerade erst ankommt, wenn das Agnus Dei gesprochen wird - wenn es denn ordnungsgemäß gesprochen wird und wenn sie, die Alte, jemals ankommt. Nicht nur die Kirche ist verschlossen, auch das Urinioir à la Clochemerle hat zu. An seiner Außenmauer die charakteristische dreieckige Nässespur, die auf hohe Bedürfnisbefriedigungsnachfrage (oder andersrum: auf ein Urinüberangebot) bei mangelnden Entsorgungsfazilitäten schließen läßt. 15 So ein Dorf bietet zudem wenig, um eine typische Kleinfamilie des beginnenden 21. Jahrhunderts mehr als zwei Stunden bei der Stange - oder soll man sagen: im Schlagschatten des „clocher“, des Glockenturms - zu halten. Auch das „Château Pohl“ mit seinen Darbietungen an Fernblick (Cap d'Agde und der Mont St Clair sind zu erkennen) zeigt sich nicht in der Lage, fesselnde Aufmerksamkeit seiner stummen Existenz zu erzielen. Nur das Fernsehen vermag einen Teil der Familie, den altersmäßig geringfügigsten Teil, zu fesseln: Es können alle deutschen Programme, nicht nur die Sendeplätze solidester Halbbildung wie Arte und 3Sat, sondern auch sämtliche Abwässerkanäle des elektronischen Boulevards empfangen werden. Daß die Kinder dies erst heute, einen Tag nach Ankunft, entdecken, ist Pech für sie - sofern man die Anwesenheit einer betriebsbereiten Glotze mit der Abwesenheit von Unglück oder umg ekehrt die Abwesenheit der Röhre mit der Anwesenheit von Unglück gleichsetzen kann. Glück für sie jedenfalls, daß sie sogleich den Choc der Fremde mit einer heimatsprachsynchronisierten Daily Soap dämpfen können. Großes Protestgeschrei deshalb, als der Haushaltsdoppelvorstand einstimmig beschließt, dem Trägheitsprinzip der Muße zu widerstehen und sich unverzüglich urlaubskonformer Tätigkeit zu widmen. Ich ziehe also meine kurzen Buxen an, halte der dräuenden Hitze meine gebleichten Beine entgehen und steige mangels anderer Schuhe in meine Wandergaloschen Marke Meindl, eine Vorgehensweise, mit der ich mir sofort einen Verweis von Mme Knotterbeck einhandele. Das Schuhwerk sei zwar womöglich steigeisenfest, aber bei weitem nicht großstadtfähig, zumal überhaupt mit diesen knochenbleichen Gebilden zwischen Oberleder und Shortszwickel...Schluß jetzt, sage ich, die Schuhe bleiben an und die Beine unverhüllt - oder soll ich mich etwa in langen Hosen und dafür bar- 16 fuß in Sète bewegen, wo doch ein jeder weiß, welche Gefahren in französischen Städten dräuen, Gefahren in Form von Tretminen aus den Dickdärmen der beliebten endemisch auftretenden "p'tits caniches" (das sind die widerlichen weißen Zwergpudel, die es nur in Frankreich und Belgien gibt)? Man darf nicht vergessen, daß in der Grande Nation pro Jahr mehr als eine Million Welpen geboren werden, die später auf die Straßen scheißen dürfen, aber nur 750 000 Babys, denen es untersagt ist, irgendwo anders hin als in ihre eigene Windel zu kacken. Das finden auch die Kinder empörend und mehr als einen hinreichenden Gegengrund zum Barfußlaufen. Wie das Leben so spielt, bestraft es die Bedenkenträger, gibt damit aber noch lange nicht den Unbedenklichen recht. Kaum in Sète angekommen, trete ich mit meinem festen Mont-Ventoux-erprobten Schuhwerk in einen riesigen Haufen, ein wahres Gebirge von Scheiße, das aufgrund seiner Ausmaße unmöglich aus dem Innern eines „p'tit caniche“ stammen kann. Diese Masse von schier alpenländischer Dimension muß eine Hunderasse des Gebirges und keineswegs der Küstenebene entbunden haben - ein Bernhardiner zum Beispiel. Die Frage ist nur: Wo kommen all die Bernhardiner her und was wollen sie hier? Denn Sète ist an diesem wunderschönen Sonntagvormittag voller Bernhardinerausscheidungen, die nicht nur die ebenfalls vorhandenen, allerdings mageren Pudelexkremente beschämen, sondern auch, weil an strategisch wichtigen Orten plaziert, Ortsfremden zur Falle werden, ganz so, wie es in der Absicht der Eidgenossen lag, die im Zweiten Weltkrieg allüberall Brückenfallen gegen allfällige Invasoren errichteten. Das zusätzliche Gefährdungspotential wird mir jäh gewahr, als wir, in einem Café an der Place Aristide Briand sitzend, Zeuge eines Vorgangs werden, dessen Abscheulichkeit auf dem Papier kaum nachgezeichnet werden kann, es sei denn, es handelte sich um Toi- 17 lettenpapier. Vorbeimarschieren im Gleichschritt einige Gruppen von Trommlern, Flötisten und Fanfarenspielern unterschiedlichsten Alters. Alle sind - Erwachsene wie Kinder - weiß gekleidet, dunkelblaue Bordüren schmücken ihre Hemden, auf den Mützen prangt jeweils ein stilisierter Anker. Der Aufzug verleiht dem Defilé untrüglich maritime Bezüge. Ich habe gerade noch Zeit, die Bedienung nach dem Anlaß der Darbietung zu fragen (ihrer Antwort in kaum verständlichen Midipatois entnehme ich, daß es sich um das Fischerfest zum Namenstag des Hl. Peter, des Schutzpatrons der Fischer, handelt), bevor mein Blick (von was wohl?) gefangen wird: natürlich von einem braunen Monsterklacks, der sich bis in schwindelerregende... na, ich will nicht lügen: einen ganzen Fuß, und zwar Schuhgröße 48, über den Asphalt erhebt. Seltsam genug, tritt kein Teilnehmer der drei ersten Spielmannszüge in den Haufen, alle, die ihm zu nahe kommen, unterbrechen ihren Gleichschritt für einen Bruchteil von Sekunden und finden - das Hindernis kaum überwunden - innerhalb ebenso kurzer Zeit durch geschicktes Trippeln in den alten Rhythmus zurück. Dafür aber erwischt es die nachfolgenden Züge umso ärger. An die zehn Mann versenken ihre frisch gewichsten Eintänzerschuhe in den stinkenden Glibber, geraten aus dem Takt, machen unter dem Gelächter einiger „plais antins“ aus den benachbarten Cafés, die sich sichtlich schon einige "ballons" (so heißen paradoxerweise die kleinen Gläser Wein) reingepfiffen haben, Ausfallschritte und Verrenkungen, als seien die Hornissen hinter ihnen her. Die Kinder schreien: „Ihhh, sind das Ferkel, die Franzosen“; Hagen Knotterbeck, deren Selbstbräunerfassade ob der Zumutung dieser Szenen in britische Blässe gewechselt hat, ächzt pflichtbewußt: „Nicht die Franzosen, die Köter...“ und ich, der ich meinerseits korrigierend eingreifen mü ßte (Hunde sind Hunde, aber definitionsgemäß keine Ferkel), ich zeige mich - bis auf ein paar klägliche Würggeräusche, die mir unversehens entfahren, sprachlos. Die Bedienung, fesches Weib, das den „plaisantins“ schon 18 einige Entzückungsrufe entlockt hat, glaubt, eine Erklärung schuldig zu sein und sagt so etwas, das so klingt - aber aus ihrem Munde durchaus glaubwürdig - wie: "Rata pong, rata peng - baise-moi au p`tit mateng", und lacht anzüglich. Derweil verschwinden einige Pinkler, die den langen Weg durchs Lokal in dessen Abschlagkabinett scheuen, hinter die Platanen und nehmen die Stämme schamlos a tergo. Warum aber, das ist für mich schon eine Frage von geradezu ontologischer Tragweite, sind nicht die Marschierer an der Spitze zum Opfer der stinkenden Bombe geworden, wohl aber alle in der Mitte gehenden Teilnehmer des vierten, fünften, sechsten Zuges? Die Antwort ist undenkbar einfach, offenbart sich aber erst, als das Defilé zum zweiten Mal an unserem Standort vorbeikommt - augenscheinlich gehört es zu den Umzugsbedingungen, mehrmals die Place zum umkreisen: Am Herkunftsort der Züge, abzulesen an den Standarten, zeigt sich, wer in die Scheiße geraten war, und wer nicht. Die Sétois haben sie traumwandlerisch umgangen, die Pfeifer und Trommler aus Grau du Roi, Agde, Marseillan, Palavas oder Bouzigues hat’s erwischt. Zufall oder Notwendigkeit, das ist hier die Frage, die nur einer aus Sète, und dies sicherlich nicht wahrheitsgemäß beantworten kann. Zu den harmloseren Vergnügungen gehören - verglichen mit den Vorgängen um die tierischen Ausscheidungen - die Rituale der Nahrungsaufnahme, die sich an den Quais abspielen. Dort sind Zelte im internationalen Partystil, bestückt mit den obligaten Partytischen, aufgebaut. Hineinströmt (in die Zelte) ein Publikum in redressierter Festbekleidung, angesiedelt irgendwo zwischen Pferderennen in Ascot und Feuerwehrball in Großwiemelshausen, ein Look, den man in Frankreich „endimanché“ nennt. Da wir aber im Süden sind und am Meer, läuft die Mehrheit der Männer in weißer Hose 19 und weißem Hemd herum (die Füße irgendwie wenig hundescheißeavers mit Flechtschuhen umhüllt) und die Damen in beigen Kostüm mit Hutgebilden in nicht ganz so exzentrischer Abmessung als auf der Insel. Dazu - zwingende Accessoires - bei den Damen Sonnenbrille in Horn gefaßt und bei den Männern Goldkettchen mit Anker. Tout-Sète strömt also in die Zelte versorgt sich mit Champagner, der in ultraschallartiger Geschwindigkeit hinter die goldkettchenbewehrte Binde gekippt wird, und mit Austern, die mit einem kollektiven dezibelstarken Schlürfgeräusch („hrrrschlfff“) ebenso rasant einverleibt werden. Was dazu führt, daß sich die Zelte ebenso rasch wieder entleeren, wie sie sich zuvor gefüllt hatten. Nach etwa einer halben Stunde bleibt der Partymüll, der es gut und gern mit einem 24stündigen Ausstoß eines Innenstadt-McDo aufnehmen könnte, verlassen zurück. Denn Tout-Sète ist nach der Magenstipulation mittlerweile in die zig Restaurants an der Rampe Paul Valéry zum Abschluß des sonntäglichen Menüs verschwu nden. Inzwischen haben wir mächtig Kohldampf und sind gewillt, dem Beispiel von Tout-Sète zu folgen. Wir suchen natülich ein rekommandiertes Lokal und kein Neppetablissement. Aber wie finden? Fast auf jeder Boulevardterrasse stehen Aufreißer männlichen und weiblichen Geschlechts, die mit obszön anmutenden Gebärden auf die jeweils gleichen Vorzüge des eigenen Hauses aufmerksam machen. Wir biegen also in die Promenade J.B. Marty ab, schlendern unentschlossen unter den Arkaden, wo sich Restaurant an Restaurant reiht und warten auf das Signal eines noch zum Schutze des Gastes zu befehlenden Heiligen, der uns behilflich sei, eine gute Kneipe zu finden, von der wir später als gastronomische Sensation zu berichten wüßten. Tatsächlich aber gibt, wie Freund Albert Sellner in seinem "Immerwährenden Heiligenkalender" aufgeführt hat (der ihn über 15 20 Lebensjahre ohne Beistand eines Schutzbefohlenen kostete), Heilige gegen rektales Wundsein (Agathá, Martin, Wolfgang), Heilige der Pastetenbäcker (Jakobus der Jüngere, Erzengel Michael, Philippus), ja sogar einen Heiligen für Ministerialbeamte (Ivo Helory), und natürlich auch solche, die gegen ungesunde Säfte (Kosmas, Damian), Totgeburten (Ignatius von Loyola) oder Harn- und Blutfluß (Gervasius, Protasius) zuständig sind, aber keinen respektive keine, in dessen/deren Ressort das Wohl des schwelgenden Gastes fallen würde, wenn man einmal davon absieht, daß die Heilige Bibiana, wohl ob ihres Namens, zur Patronin der Trinker erklärt wurde, in Wirklichkeit eine standhafte Jungfrau war, die vom bösen Statthalter Apronian des noch böseren Heidenkaisers Julian Apostata ins Bordell gesteckt und dort wegen ihrer Standhaftigkeit mit bleibeschwerten Geißeln zu Tode gepeitscht wurde. Vielleicht hat das Stoßgebet zum Heiligen Arbogast geholfen, seines Amtes zuständig gegen Niedergeschlagenheit, oder auch zum Heiligen Bruder Konrad von Parzham, dem ewigen Pförtner von Altötting, den wir versehentlich angerufen haben, da er doch für das Seraphische Liebeswerk zuständig ist, aber wie Albert mir später versichert, durchaus bei allen Nöten bemüht werden kann. Jedenfalls zeigt Hagen Knotterbeck, während ich schon zur Selbstverdauung übergegangen bin, auf ein Lokal, in dem viele schwitzende, dicke, krachfröhliche, einfach gewandete Menschen beiderlei Geschlechts, aber nur einer Klassenzugehörigkeit (des im Verschwinden begriffenen gemeinen Volkes) sitzen, und bar jeder Tischsitten und ohne jeden Respekt vor komplexen Krustengetier vor sich hinschlemmen. Kein Angehöriger von Tout-Sète und kein Tourist weit und breit zu sehen. Das Lokal selbst (Le Marty, 17 Promenade J.B. Marty, Tel. 67.74.46.45) ist von bestechender Häßlichkeit: ein langer Schlauch mit dem „zinc“ (dem schweren Tresen, der in Frankreich wie in allen romanischen Ländern immer um ein Vielfaches solider, 21 authentischer und teurer aussieht als seine deutschen Artgenossen, die immer noch in Resopalbeschichtung oder in plastehaltigem Holzimatat daherkommen) und wenigen Tischchen (die nun wiederum in echtem Resopal), die Wände in einem Rosa gehalten, das jedes andere Rosa, auch das der Hüfthalter für mollige Damen, um ein Vielfaches an Geschmacklosigkeit übertrifft. Vor diesem Schankraum das Arkadentrottoir, auf dem sich einige fliegende Händler niedergelassen haben und ihre geschmacklosigkeitskompatible Kunstgewerbekollektionen (Armreifen, Negerskulpturen, Silberlöffelchen und sonstiger Ethnokitsch) anpreisen, und davor wiederum der Schnettwittchensarg einer umglasten Boulevardterrasse, in dem sich die fröhlichen Gäste breitgemacht haben. Wir finden noch einen Platz, Mme Knotterbeck zeigt sich zufrieden, die Kinder sind wie immer mißtrauisch, ein Mißtrauen, das fehl am Platze ist und sich sofort legt, als ihr Hors d'oeuvre kommt handgeschnitzte Pommes, die sie beispielsweise im gesamten RheinMain-Gebiet nur noch in einer einzigen Kneipe, nämlich im Spanischen Demokratischen Arbeiterverein in Hanau zu finden sind (Tel. 06181 - 21772, unbedingt Tisch reservieren), einer Kneipe, die so heißt, weil sie mal unterm Francoregime die Anlaufstation für unbotmäßige Spanier aus dem Dunlop und dem Heraeus war, inzwischen aber von Privathand als „Spanier“ für Spanier geführt wird. Immer noch stehen melancholische spanische Vereinsfrauen in der Küche, um die Kartoffeln ohne andere Hilfsmittel als „Kneipchen“ (hessisch für kleines Schälmesser) und Fettpfanne zu drechseln, zu sautieren und zu frittieren, auf daß ihre Patates so werden und so munden wie heute im "Marty". Wir nehmen als Vorspeise unsere erste Fischsuppe, eine "bourride sétoise", eine ihrer Art, die in Sète etwas anders als sonstwo hergestellt wird (warum, werde ich noch verraten), Hagen Knotterbeck wählt als Hauptspeise "moules farcies" und ich "seiche sétoise", die übrigens auch schon in der 22 Fischsuppe geschwommen ist, aber mir in dieser Darreichung erneut heftig konveniert. Die Kinder verspeisen als Hauptspeise nochmals eine Riesenportion Pommes und zum Nachtisch eine kleiner dimensionierte Crème brulée. Beschwingt vom Picpoul-de-Pinet, dem regionalen Weißwein, keinem besonders hervorstechenden Tropfen, der aber frisch, fromm und frei daherkommt und selbstverständlich mit der Meeresfauna gut harmoniert, genießen wir den Ausblick, der tatsächlich das bietet, was die Vis itenkarte des "Marty" verspricht: „Terrasse panoramique sur le port“. Heute ist wenig Betrieb im alten Hafen, aber wochentags geht hier die Post ab, vor allem, wenn am frühen Nachmittag die hochseetauglichen Fischkutter aus den weitentlegenen Fanggründen kommen, hier anlanden und die Beute ausspucken. Dann sitzen die Fresser des Marty und nicht die der nobleren Etablissements am Quai Général Durand in der ersten Reihe. Fresser, wie beispielsweise am Nachbartisch der alte Hagestolz, von dem man sich gut vorstellen kann, daß er mit dem gleichaltrigen Georges Brassens, dem in Sète gebürtigen Chansonnier, zusammen die Unschuld in einem der Puffs zwischen Quai Louis Pasteur und Quai Vauban vergeudet hat. Monsieur Vieux-Pote-de-Georges also entkrustet und entpanzert Unmassen Langusten, Austern und Muscheln und setzt diese in seinem mit mindestens drei Litern Picpoul gefüllten Wanst frei. Oder am anderen Tisch die Dupont, deren identische Nasenform und -farbe auf ihre ländliche, und zwar unverkennbar binnenländische Herkunft hindeuten. Wahrscheinlich stammen sie aus St Andéol-de-Clerguemort am Fuße des Mont Lozère und haben die gut 120 Kilometer hierher auf sich genommen, um den dort üblichen, mit einem „p'etit rouge“ begossenen Hammel gegen „dorade royale au thym à la tomate acidulée“ (etwa: Goldbrasse der Extraklasse ) und einem Clairette, dem Weißwein aus den auflandigen Lagen des Languedoc, auszuwechseln. Die Nasenbären 23 von Dupont wechseln kein Wort miteinander (die Leute am Mont Lozère sind in Worten so karg wie die Berge dort an Bäumen), sie geben sich stattdessen still der Eß- und Trinklust, das aber mit so ungebremstem Vergnügen hin, daß es einem für ihre Heimfahrt auf der stark frequentierten Nationale 110 angst und bange sein muß. Am Quai de la Résistance, den wir auf dem Rückweg passieren, steht ein weiterer Nasenbär mit rostrotem Zinken und pinkelt in formvollendeten Bogen - die parkenden Autos als Schamblende mißbrauchend - auf einen rostigen Kahn, der im (schiffbaren) Canal de Sète vor sich hindümpelt. Hat wohl aufs Meer gehalten, der Eichstrich, der bei ihm vier Promille anzeigt, verhinderte den Treffer. Was die Übeltat keineswegs entschuldigt: Ist doch wirklich unheuerlich diese öffentliche Unbeherrschheit im Blickfeld einer deutschen Familie. Montag, 26. Juni Der Urlaubsalltag beginnt. Das heißt, ich habe Croissants und Baguette(s) zu organisieren. Die etwa fünf Dorfbewohner, denen ich in den stillen Straßen auf dem Weg zur Bäckerei begegne, schauen betreten unter sich und können sich erst zu einem mühsamen „Bonjour“ aufraffen, als ich ihnen, urlaubsjovial wie ich heute nunmal gestimmt bin, einen solchen entgegenbelle. Der gestrige Erkundungsgang erspart mir Umwege und ich erreiche die vorgebliche Boulangerie pünktlich zur Öffnungszeit. Dort sind bereits einige Frauen und Mannsleute versammelt. Die Frauen sehen aus wie Klatschweiber, sind auch Klatschweiber, aber nicht hier und heute und nicht bei diesem Zusammentreffen - es herrscht tiefes Schweigen. Ob die sich wohl nicht grün sind, ob wohl Mada- 24 me Sauvaire der Madame Jourdan beim Blumengießen die Wäsche bepinkelt hat? Oder die Schwiegertochter von Madame Pignol der Tochter von Madame Capely, dieser Schlampe, übel nachredet? Oder Madame Graillac der Madame Robert immer die letzten Croissants wegschnappt? Letzteres scheint - wie sich alsbald zeigt - in dieser Bäckerei zur Regel zu gehören: Obwohl ich mich rechtzeitig eingefunden habe, bekomme ich statt der gewünschten vier gerade noch eins. Madame la Boulangère, die im Kopfrechnen offensichtlich so unterbelichtet ist, daß sie die Preise des 1 Stück Croissant und des 1 Stück Baguette in einem zeitaufwendigen Additionsverfahren auf dem Schreibblock ermitteln muß, empfiehlt Vorbestellung. Madame la Boulangère fehlt übrigens so ziemlich alles, was dem durch Film, Funk und Literatur gespeisten Stereotyp der typisch französischen Mischgattung von Bäckersfrau und Confiseuse ausmacht: ich meine jenen drallen Urtyp von Bäckersfrau mit den vollen Lippen, dem Kirschrotmündchen, das den Kunden aus dem milchhäutigen Gesichtchen anspringt, die allerallerreizendste Ehebrecherin, die im Verkaufsgespräch mit lasziven Gesten von den phallischen Backwaren auf die Naschwerke mit deren ohnehin allerzweideutigsten Benamungen überleitet: auf die Jésuites oder die Réligieuses (die "Nonnen", das sind gefüllte Windbeutel, weswegen es in der Burleske recht anzüglich heißt: "Laßt uns eine paar Nonnen genehmigen..."). Also die französische Bäckerei als solche riecht und schmeckt nach erotischem Abenteuer, ganz im Unterschied zur französischen Metzgerei, die in der kollektiven Imagination eher zuständig ist für die gleichsam platonische Liebe durch den Magen. Die Bäckerei steht für die unabwendbar sich steigernde lustvolle Kundenorientierung, wohl auch deshalb, weil der müßiggängerische männliche Kunde alle Zeit der Welt für die finale Begegnung mitbringt, während der Bäcker selbst, der bereits gehörnte oder erst 25 noch zu hörnende Ehemann, zu den unmöglichsten Zeiten schuften muß, seine Säfte vor dem heißen Backofen austranspiriert, und ihm die beginnende Mehlallergie ohnehin Neigung zu Ausschweifungen raubt, vulgo: auf den (Mehl-)Sack schlägt. Nichts davon in Péret. Die einheimische Vertreterin ist mürrisch, bei mehr als drei Kunden im Laden, die wirklich nichts anderes im Sinn haben als den Erwerb einer harmlosen Flûte oder einer noch harmloseren Ficelle, bereits in panischer Auflösung begriffen, zeigt eine Psychomotorik, als hätte es zwischen Ausgabetisch und Brotregal, aus der die Baguettes steif aufragen schon einmal eine versuchte Vergewaltigung gegeben. Nichts wie weg hier, die Befangenheit steht sogar, wie ich im Rausgehen bemerke, dem circa 80jährigen Opa ins Gesicht geschrieben, der hinter mir steht und wohl einen Imbiß für die Arbeit im Hausgarten erwerben möchte. Locker dagegen die Atmosphäre im Zeitungsladen, wo ich mir den „Midi libre“ besorge. Hier ist alles zu finden, was das Herz begehrt: vom Insektenvernichter über Rasierapparate bis hin zu Kondomen (die in Frankreich alle Bezeichnungen tragen außer eben "Kondome"). Sind im Laden - wie heute der Fall - mehr als zwei Kunden anwesend, herrscht Towobawohu; der etwa 70jährige Besitzer diskutiert lautstark mit seinen Stammkunden, seine Frau kreischt dazwischen, die zwei Tölen geifern (natürlich reinrassige „p'etits caniches“). Als der zweite Stammkunde sich zum Scherz darüber beschwert, daß er wegen des unbeschreiblichen Chaos nicht findet, was er sucht, wird er mit dem Hinweis zurechtgewiesen, daß „Monsieur le touriste“ (damit bin ich gemeint) sich sehr wohl zu orientieren wisse, obwohl er doch das erste Mal im Laden sei (aha!). Im heutigen „Midi libre“ kündigt sich ein Thema an, noch etwas verschämt als Eckenbrüller (das ist die Spalte rechts außen auf der 26 Aufmacherseite) getarnt, und dieses Thema wird die République Francaise in den nächsten Monaten noch sehr viel stärker beschäftigen: "l'Affaire McDo", der Prozeß gegen den Schafzüchter José Bové und neun weitere Bauern, die im Jahr zuvor in Millau eine kurz vor der Fertigstellung stehende McDonalds-Filiale verwüsteten, und zwar nicht, indem sie randalierenderweise mit Pappbechern um sich schmissen, sondern unter Einsatz schwersten landwirtschaftlichen Geräts, mit dem sie den Bau buchstäblich schleiften. Die Kinder werden hellhörig: McDonalds? Das bewegt auch sie. Obwohl sie trotz besserer Einsicht hin und wieder rückfällig werden und unversehens ihren Appetit an Rindspappe und Preß-Pommes einklagen, begrüßen sie den Hack des Hackers. "McDo", sagen sie,"= McDoof." Mme Knotterbeck billigt in der familiären Meinungsbefragung ebenfalls die Aktion, lehnt aber die Alternative, die Bové anbietet, rundweg ab: Roquefort statt Burger. Ich für meine Wenigkeit, der ich auch den Roquefort herzlich verachte, plädiere für Vin de pays statt Cola. Badewetter: Wir entscheiden uns wegen unserer nordischen Bleichhäutigkeit gegen das HV-intensive Meer und für den Lac du Salagou, den größten Stausee im Département, wenige Kilometer hinter Clermont. Der Lac liegt in einer Mondlandschaft aus rotem Tuffstein, der allmählich zu Staub verwittert und bei den häufigen Scherwinden, die hier oben herrschen, in unangenehmen Staubstürmen aufwirbelt. In der Tiefe des Sees sollen sich noch einige erloschene Krater befinden, um die sich - als das Tal noch nicht überflutet war - Dinosaurier im heißen Aschenregen gesuhlt hatten. Einige Fußabdrücke sind im oberen, nicht überfluteten Tal zwischen dem Weiler Mérifons und einem Dorf mit dem serbokroatisch klingenden Namen Salasc erhalten. Die Größenordnung der Spuren bewegt sich in der Dimension jenes sagenhaften Kohlekastens der historischen Saarbrücker Schuhhandlung Braun, in den 27 Hutersch Wis s, ein wegen seiner Plattfüßigkeit bekannter Ensheimer, vor ungefähr siebzig Jahren gestiegen war, um dann den Kommentar abzugeben: „Passsst! Genn ma noch die Nischtele und sie sinn gekaaf.“ Der Lac du Salagou indes ist jüngeren Datums als das Saarbrücker Schuhgeschäft und vor allem lange nach den prä- und postkarbonarischen Epochen entstanden. Er wurde nämlich erst Anfang der 70er Jahre des gerade zu Ende gegangenen Jahrhunderts angelegt, wobei den Vermessungstechnikern ein bezeichnendes Mißgeschick unterlief. Dazu muß man wissen, daß die Franzosen ein typisches 2-DVerhältnis zu ihrer Umwelt haben. In ihrer bekannt oberflächlichen Art sind sie Artisten der zweidimensionalen Wahrnehmung, weswegen sie mit der Carte Michelin schon kurz nach 1900 eine der weltbesten Straßenkartenwerke erfunden haben, aber sie sind gleichsam große Legastheniker der räumlichen Apperzeption, weswegen sie zu den Rekordhaltern bei Totalkollisionen im Straßenverkehr zählen. Mit anderen Worten: Franzosen wissen, wo's langgeht, nur nicht, wie. Jedenfalls haben ihre dem Nationalcharakter typischen Eigenschaften dazu geführt, daß im Falle des Lac du Salagou einige - darunter außergesprochen peinliche - Fehler gemacht wurden: Beispielsweise wurde ein Dorf - Celles - evakuiert, weil man glaubte, daß dieses beim Aufstauen des Wasser überflutet werden würde. Da aber Celles, heute am Nordwestrand des Sees zu finden, höher liegt als die Krone der Staumauer im Osten, was auch einem Blinden mit Pupillenverengung ohne weiteres ersichtlich ist, blieb es von den Wassermassen verschont. Nur hatten sich die Bewohner mittlerweile in alle Ecken Frankreichs verzogen. Deshalb wurde zweite Merkwürdigkeit - aus nicht mehr nachvollziehbaren Gründen des französischen Haftungsrechts ein Zaun um die mittlerweile weitgehend dachlosen Häuser gezogen. Auch wurde ein Wächter, Monsieur Brière, bestallt, der inzwischen zu einer wichtigen Figur 28 der ökologischen Szene rund um den See avanciert ist. Monsieur Brière wird von den Leuten der Umgebung "Bichette" genannt. Warum, das konnte ich nicht in Erfahrung bringen. Doch erscheint mir der Spitzname dem hohen Amte abträglich zu sein, denn „bichette“ bedeutet „junge Hindin“, und man stelle sich zum Kontrast vor, ein deutscher Hausmeister hieße Rehkitz oder Zicklein. Die Umweltschützer haben gestern übrigens ihre Stärke eindrucksvoll unter Beweis gestellt: Im Beisein von José Bové fand eine für hiesige Verhältnisse machtvolle Demo mit annähernd 1500 Teilnehmern vor dem Zaun von Celles statt. Unter dem Motto "Tous au Lalagou" ging es gegen die Pläne eines amerikanischen Milliardärs, der bei Lodève eine Autorennstrecke und zusätzlich am Salagou eine Golf-Hotel-Anlage mit allen erdenklichen Angeboten der Lustbarkeit finanzieren will. Überhaupt haben die Amerikaner das Languedoc entdeckt - weniger als Touristen, da stehen Paris, Pisa, Athen und Heidelberg vor, als vielmehr mit ihrer Kapitalkraft. McDoof ist in dieser Hinsicht noch ein harmloses Beispiel für einen neuerlichen Schub des Imperialismus, der nunmehr auch die Gegend zwischen Gard und Canal du Midi erreicht. Behauptet jedenfalls ein Monsieur Porte-Jarrytelles, mit dem ich auf der Landungsbrücke ins Gespräch komme, die sich von der Straße sinnlos in den Saligou hinausschiebt. Ein merkwürdiger Zeitgenosse, der, wie er sagt, hier mindestens sechs Monate im Jahr verbringt, und der mir dadurch schon von weitem aufgefallen ist, daß er nicht nur von Karl Valentin Figur und Physiognomie entlehnt zu haben scheint, sondern auch - für die Geländebeschaffenheit ganz und gar ungewöhnlich - mit einem Hollandrad in hellblauer Metalliclackierung unterwegs ist. 29 M. Porte-Jarrytelles (zweifellos ein Künstlername, der sich im Deutschen etwa als "St(r)umpf- und Stielhalter" ausnimmt) erklärt in etwas seltsam anmutenden Worten warum: „Wir haben es bis hierher mit dem Versuch zu tun gehabt, die man aus dem (fiktiven) Reich des Königs Ubu kennt: Mit der Enthirnungsmaschine, die kulturelle Eigenarten gleichrichtet.“ Cater Jarim: „Mit der Enthirnungsmaschine?“ M. Porte-Jarrytelles: „Ja natürlich, etwa vergleichbar mit der Deterritorialisierungs- und Reterritorialisierungsmaschine von Gilles Deleuze. Zuerst werden Verhaltensweisen entgrenzt, am zweckmäßigsten unter Zuhilfenahme von Muster und Orientierungen der Systemgegner - man denke an die sexuelle Revolution. Dann wird die Leerstelle, die sich auftut, der Nullpunkt der Möglichkeiten, mit neuen Kulten, beispielsweise den neuen Körperkulten aufgefüllt. Sexualität wird dann aus einem Tiefen- zu einem Oberflächenphänomen. Statt Penetration und Ejakulation - Pentitentation, was man etwa mit Selbstverklappung umschreiben könnte. Nicht mehr gilt: Nutze die Brunft der Stunde. Sondern: Ersetze den Schwund der Lunte. Durch was? Durch permanentes Posing, durch konsequenzlose Balz, die gewissermaßen die Fleischlichkeit der Sexualität entmaterialisiert.“ Cater Jarim: „Wenn ich Ihre Sexualmetaphern übersetze, dann meinen Sie also, daß in sämtlichen Lebensvollzügen und Vorgängen, die unsere heutige Existenz bestimmen, eine Selbstaufwertung bei gleichzeitiger Selbstbeschneidung, äh, ich meine: Selbstbescheidung im Gange ist, ein Nullsummenspiel, eine Nullbilanz von Aufwand und Ertrag? Das soll doch wohl heißen, daß niemand von dem was wir so treiben, profitiert und keiner geschädigt wird und man selbst nichts davon hat?“ 30 M. Porte-Jarrytelles: „Nein, keineswegs. Genau das ist der Trugschluß. Ich habe nicht umsonst von einer Enthirnungsmaschine gesprochen. Das, was Sie selbst als das Phänomen McDoof bezeichnet haben, ist nur ein, übrigens vergleichsweise harmloses Beispiel für den Vorgang. Was hier im Gang ist, ist die Zerstreuung, die Zerstäubung von Intelligenz. Die ist es, die auf der Strecke bleibt, ein Vorgang, der ein gefährliches Spaltprodukt freisetzt, und ich meine damit nicht die Risiken der neuen Körperkultur, wie etwa entzündete Piercingnarben oder letaler Schädelbruch beim Bungeesprung oder Dauerschäden durch Anabolikaschock. Nein, was sich hier auftut, ist die Unmöglichkeit, Ideen zu finden, Konzepte zu ersinnen, Phantasie zu entwickeln - eine Art Versehrtheit zweiten Grades. Denken reduziert sich auf das Studium von AnwenderManuals, Liebe auf den bedingten Reflex des Habenwollens, Go tteserfahrung auf die Praxis von Feng-Shui, Naturerleben auf die Eignungsprüfung von Stock und Stein für Extremsport.“ Cater Jarim: „Die alte kulturkritische Klage...“ M. Porte-Jarrytelles: „Vorsicht, denn das ist noch nicht alles: Jetzt kommt der zweite Grad der Analyse: Jetzt kommt die Phynanzpumpe ins Spiel.“ Cater Jarim: „Die was?“ M. Porte-Jarrytelles: „Die Phynanzpumpe. Sie ist schon in ‚König Ubu‘ ansatzweise erklärt, und es ist das Verdienst des pataphysischen Wirtschaftswissenschaftlers Professor Daniel Accursi, darauf hingewiesen zu haben, wie die Enthirnungsmaschine und die Phynanzpumpe zusammenwirken. Sie funktionieren, so Accursi, in etwa wie kommunizierende Röhren. Je mehr Kapital - Phynanz eben - in 31 die Welt gepumpt wird, desto schneller geht die Enthirnung vonstatten. König Ubu hat deshalb in dem gleichnamigen Theaterstück die Konsequenz der Globalisierung schon vor hundert Jahren vorhergesehen: Der Triumph der Märkte bedeutet die Selbstentmächtigung (ich habe vorhin gesagt: die Pentitentation) der Akteure, jedenfalls, was die Fähigkeit zur Willensentscheidung, die Bedingung der Möglichkeit von Freiheit betrifft. Marxistisch gesprochen fällt das Subjekt, auf gut katholisch ausgedrückt das personale Menschsein in reine Natur zurück, um fortan in der Ge stalt eines muskulösen Wurms weiterzuexistieren. Dieser wird mit einem Minimum von Ganglienzellen ausgestattet sein, so daß er sich beizeiten (und das ist künftig immer) krümmen kann. Das wäre eine umkehrte Evolution, aber nicht im Sinne der Involution von Gilles Deleuze, einer Art Weiterentwicklung durch den ebenso willkürlichen wie angepaßten Verzicht, sondern eine unwillkürliche Selbstpreisgabe der Fähigkeiten, die den Menschen angeblich auszeichnen. König Ubu hat - nebenbei bemerkt auch dies vorausgesehen - und den alles verschlingenden Kosmos, der aus einer Art negativen Kosmogenese resultiert, ‚la Gidouille‘, wörtlich: den Wanst‘, genannt. La Gidouille, größer als die Erde, wie König Ubu bemerkt, ist ein Pansen, gefüllt mit der Hirnmasse der Menschen, ein riesiger Magmasee, in den die Phynanzpumpe unentwegt Kapital pumpt. Die Phynanzpumpe fusioniert also Geld und Intelligenz, eine Fusion, die letzten Endes nur Konfusion bewirkt. Sie löscht Differenzierungsvermögen ebenso aus wie Unterschiede in der Sache selbst. Was Sie hier sehen - M. Porte-Jarrytelles macht eine ausladende Geste vom See auf die Küstenebene -, ist der selbstreflexive Verzicht auf Kultur, die Auslöschung von Erfahrungen ganzer Generationen.“ Cater Jarim: „Ich sehe nur Weinstöcke und Olivenbäume.“ 32 M. Porte-Jarrytelles: „Aber genau darum geht es. Die Finanziers vergreifen sich an allem, was die Besonderheit eines Territoriums ausmacht, sie bemächtigen sich des Landes und des Lebens. Land: weil der Aufkauf von Ländereien beginnt. Leben: weil sie die Subsidenzfähigkeit eines Landes untergraben. Um ganz konkret zu werden: Nachdem die Großwinzer aus Kalifornien spitz gekriegt haben, daß das Languedoc-Roussillon ebenjene Gegend in Europa ist, die als einzige die Voraussetzungen für eine dauerhafte Wettbewerbssituation mit den kalifornischen Quantitäts- und Qualitätslagen aufbringt, versuchen sie, sich in die einheimischen Domänen einzukaufen. Das wiederum bringt, in einer Art nationalen Affekt den Staat und die Großkooperativen auf den Plan. Sie treten in den Wettbewerb ein und bereiten mit Entwicklungsplänen den Boden für verzinsliche Investments. Letzten Endes ist es völlig egal, woher die Phynanzen kommen - Hauptsache die Pumpe pumpt, während die Enthirnungsmaschine das Know-how absaugt und nur noch das Know-that übrigläßt. Die Bauern wissen dann nicht mehr, wie der Weinbau funktioniert, sondern nehmen per E-Mail entgegen, welche Folie sie aufspannen müssen, sollte das Thermometer unter drei Grad sinken, welchen Knopf sie drücken müssen, wenn die Giftpumpe den Pestizid-Cocktail zusammenrührt, und wo der Stecker zur Berieselungsmaschine steht, die aus den Bodensensoren die Information über den Feuchtigkeitsbedarf erhält. Die restlichen 90 Prozent, die einen guten Tropfen ausmachen, werden ohnehin in den Großkellereien automatisch erzeugt, wobei sich die Dosage an Eichenfaßaromen nach den letzten Markterhebungen richtet.“ Cater Jarim: „Ich habe nicht den Eindruck, daß die altehrwürdigen Winzer hier den Wein besonders kultivieren. Ich seh` die immer nur beim Giftspritzen. Bei uns in der Kooperative von Péret steht ein riesiger Tank - nicht etwa mit Wein gefüllt, sondern mit den feinsten 33 Mischungen an Herbiziden und Insektiziden. In Deutschland... Kennen Sie die Pfalz?“ M. Porte-Jarrytelles: „Nein.“ Cater Jarim: „Was, Sie kennen die Pfalz und die Pfälzer - Le Palatinat et les palatins - nicht?“ M. Porte-Jarrytelles: „Bedauere!“ Cater Jarim: „Na, ist auch nicht weiter schlimm. Selbst in der Pfalz sieht man nur einen Bruchteil an Giftspritzern im Vergleich zu hier. Dabei ist das Languedoc klimatisch begünstigt, die Pfalz hat - aufgrund des feuchteren Klimas - auch viel mehr Unkraut und Schadtiere.“ M. Porte-Jarrytelles: „Ich behaupte auch nicht, daß die Enthirnungsmaschine erst seit heute in Betrieb ist. Sehen Sie, auch bei der Enthirnung gibt es eine fortschreitende Entwicklung. Sie verläuft zwar zyklisch, aber ihre Intensität steigert sich. In der letzten Periode hatten wir noch die agrarische Raffinesse, aber auch schon den industriellen Einsatz (‚enjeu industriel‘). Die Phynanzpumpe hatte da schon für billige Hilfsmittelchen wie Dünger und Gift gesorgt. Beim Bauern stehen Bedenken in Korrelation zum Preis, deshalb geht er bis heute sorglos und großzügig um mit dem, was er hat. Landwirte und Winzer bilden eine seltsame Gattung. Hier im Süden gibt es das Sprichwort: ‚Steht der Bauer voll im Saft, fehlt es ihm an Lendenkraft‘. Aber Scherz beiseite: Die Widersprüchlichkeit seines Berufsstandes wird verschwinden, kommen wird das roboterisierte Agrarwesen mit enthirnten Winzern und Landwirten. Das ist dann die Phase, in der sich die Phynanzpumpe zur Pfuinanzpumpe 34 transformiert. Auch das hat König Ubu vorhergesehen. Apropos Pfui...“ M. Porte-Jarrytelles fixiert einige Flugobjekte hoch am ultramarinblauen Himmel: „Sehen Sie die Vögel dort? Das sind Komorane. Sie vermehren sich rascher als jede andere Tierart - Ameisen und Stechmücken vielleicht ausgenommen. Heute gibt es in Frankreich so viele wie in ganz Europa vor dreißig Jahren. Inzwischen verbreiten sie bei den Anglern und Fischern weit mehr Schrecken als die neuesten Jagdgesetzesnovellen den Jägern. Denn jedes Exemplar frißt mindestens ein Kilo bester Forellen und Sardinen am Tag, Salzoder Süßwasser ist ihm scheißegal. Aber das ist nicht das Interessante - um ehrlich zu sein, die Herrschaften der Jäger- und Anglerassoziationen haben nichts besseres verdient. Das Interessante ist, daß der Komoran das einzige Lebewesen außer dem Menschen ist, der seinen Artgenossen auf den Kopf scheißt, der Komoran im buchstäblichen, der Mensch im übertragenen Sinne. Die Stärksten und Erfolgreichsten sitzen oben und pflastern die Schwachen und Glücklosen mit ihren Exkrementen zu. Und was für Exkremente - Sie kennen Guyano. Die ätzendste aller Scheiße dieser Welt entstammt dem Arsch des Guanokormorans, der den merkwürdig klingenden wissenschaftlichen Namen „Phalcroorax bougainvillei“ trägt. Wenn sich also die Komorane vermehren, ist dies ein Menetekel: Die Enthirnungsmaschine, die Pfuinanzpumpe und der Weltgeist, sie spielen auf zur großen Caca-Fonie. Guten Tag, mein Herr, ich wünsch‘ Ihnen noch einen schönen Tag.“ M. Porte-Jarrytelles schwingt sich auf sein Hollandrad und läßt mich einigermaßen perplex zurück. Wir fahren auf dem Rückweg zum „Château Pohl“ an der Domaine du Temple vorbei, um unsere Weinbevorratung - Herbizide hin, Pfuinanzpumpe her - aktiv anzugehen. Domaine du Temple: Das 35 klingt zum einen geschichtsträchtig und erfahrungsgesättigt. Zum anderen wurde das Gut auf der Gemarkung von Cabrières in den schriftlichen Hinterlassenschaften einiger Vorbesucher des „Château Pohl“ mit großem Lob bedacht. Wir hatten auch einen kleinen Prospekt entdeckt, der den Genius loci beschwört und Paul Valéry, den großen Sétois, zitiert. Die Evokationen von Steineichen, Oliven, Thymian, Lavendel und Rosmarin lassen an das Heideggersche Seyn denken, das sich ja üblicherweise immerzu dem Dasein entzieht, aber hier trotz seines flüchtigen Charakters im Wein inkorporiert. "Die wahrhafte Tradition der großen Dinge“, läßt der Prospekt den schon längst auf dem „Cimetière marin“ zu Sète ruhenden Dichter Valéry sagen, "besteht nicht in der Wiederholung dessen, was die anderen vor uns gemacht haben, sondern darin, den Geist wiederzuerlangen, der diese großen Dinge bewirkt hat", nicht ohne den Hinweis zu vergessen, daß die kleine Produktion des Weingutes für die Qualität seiner - selbstverständlich biologisch angebauten und natürlich ausgebauten Produkte bürgt. Wenn also M. PorteJarrytelles widerlegt werden soll, dann gleich heute noch und hier kaum fünf Kilometer von unserem Ferienhaus entfernt. Der Weg dorthin gestaltet sich indessen wenig beschaulich. Wir kurven, nachdem wir das Landsträßchen von Cabrières nach Roujan verlassen haben, auf einem staubigen Weg über den Berg, dann durch ein Tal, dann wieder über einen Berg in das nächste Tal. Der Weg ist unbeschreiblich löchrig, führt in engen Kurven an alten Olivenbäumen vorbei, windet sich um einzelne Weinstöcke und stellt die Sollbruchstellen unseres betagten Autos auf die Probe. Die Kinder drohen schon mit Besudelung des automobilen Interieurs, Hagen Knotterbeck dankt dem Hl. Christopherus, daß er uns nicht bewogen hatte, vor Urlaubsantritt unser altersschwaches Auto gegen eine schickere, nach dieser Tortur aber gar nicht mehr schick wirkende Limousine auszutauschen, und tadelt den unseligen Cater 36 Jarim, der sie bewogen hat, imaginäre Weingüter in gottverlassenen Gegenden anzusteuern. Ich schwöre Hagen zu meiner Entlastung, daß die Irrfahrt nicht auf eigenen Recherchen der Wegstrecke beruht, daß ich mich vielmehr auf die Archive des „Château“ verlassen habe. Als wir schon alle Hoffnung fahren lassen, jemals die Domaine du Temple zu erreichen, versperrt uns eine Dogge, Größe XXL, das ist Faktor 2 im Vergleich zum Hund von Baskerville, den Weg. Wir hupen zaghaft, um das Monstrum zum Verschwinden zu bewegen, ohne uns seinen Zorn zuzufügen. Hagen Knotterbeck ist sauer auf den Hl. Christopherus, daß er uns mit einem Autowrack in eine solche Gegend geführt hat, die Kinder klappern mit den Zähnen, ich beiße sie zusammen, um kein Klappern aufkommen zu lassen, und wir sind jetzt alle einem Zustand nahe, der aus der Sterbeforschung als die resignative Phase vor dem Exitus bekannt ist, als eine resolute Stimme das Untier von uns wegbefiehlt. Auftaucht eine Mittvierzigerin vom Typ verblühte Larzac-Kommunardin und fragt, was unser Begehr sei. „Unser Begehr“, sagen wir schlotternd, noch gelb und grün vor Angst, Entbehrung und Übelkeit, „ist die Domaine du Temple zu finden.“ „Domaine du Temple“, so die Erscheinung, „das bin ich“, und lädt uns mit unbewegter Miene in ihre Bauernkate ein, die von der gemutmaßten Templerburg sich ungefähr so unterscheidet wie die Toreinfahrt des „Château Pohl“ vom Arc de Triomphe. Mit weichen Knien begeben wir uns in den Keller, der immerhin mit seinem Rundgewölbe verhaltene Assoziationen an Mittelalter und Tempelritter weckt, probieren rasch vom dargereichten Wein. Ich zücke die Scheckkarte und bezahle in Windeseile zwölf Flaschen Cuvée Tiveret Rouge (den Jahrgang habe ich ebensowenig zur Kenntnis genommen wie die Preisklasse) und nochmal ein halbes Dutzend Cuvée Jacques de Molay oder Guy de Maupassant oder so ähnlich, nur um hier schnell wieder wegzukommen. 37 Zu Hause gehe ich in mich. Eingedenk der Worte M. PorteJarrytelles, daß man nicht allem entsagen sollte, was man an Ideen, Vorhaben undsoweiterundsofort in sich trägt, werde ich mich fortan nützlicher und sinnstiftender Tätigkeit widmen. Da ich nichts anderes beherrsche, als dumme Gedanken zu Papier zu bringen oder etwas auf den Teller, das immer wieder zu meinem Erstaunen allgemeine Zustimmung findet, werde ich mich zunächst an den Kochtopf begeben. Es gibt „Soupe au pistou“. Sie wird zwar eher in der Provence als hier im Languedoc gegessen, doch das tut ihrem Ve rzehr in Péret und Umgebung keinen Abbruch - Grünkohl mit Pinkel oder Teltower Rübchen wären dagegen etwas fehl am Platz. Doch halt: Teltower Rübchen sind so verkehrt nicht, denn das Wichtigste in der „Soupe au pistou“ sind neben dem Pistou weiße Rübchen, die in Deutschland allenfalls unter Teltower Rübchen bekannt waren, mittlerweile aber in der Frankfurter Kleinmarkthalle, wo die dortigen, aus Sachsen oder Kleinsachsen oder Nordhessen stammenden Fischhändler in französischen Kellnerschürzen herumrennen und den Kunden mit dem ihnen einzig geläufigen französischen Wort "Bongschuhr Müssjöh, Kommängtalleewuh?" begrüßen, als "navets" ausgeschildert sind. Für eine gute „Soupe au pistou“ benötigt man jeweils ein dreiviertel Pfund Karotten und kleine grüne Bohnen, drei bis vier Rübchen („p'tits navets“), zwei mittelgroße Stangen Lauch, sechs nicht allzu kleine Stangen Bleichsellerie (man kann auch zwei, drei Scheiben Sellerie aus der Knolle nehmen), etwa ein halbes Pfund Kartoffeln, zwei Zwiebeln und eine große Dose weiße Bohnen (Abtropfgewicht 480 Gramm, sie dürfen natürlich auch durch eine entsprechend gerundete Menge - zuvor eingeweichter - Trockenbohnen ersetzt werden). Der Pistou, der - wie man leicht erraten kann, der französische Bruder des Pesto ist - setzt sich zusammen aus: einem großen Bund Basilikum, je nach Temperament und Gusto vier bis sechs 38 ausgedrückten Knoblauchzehen, gut 100 Gramm geriebenem Gruyère (ich finde Parmesan oder Peccorino wegen seiner festeren Konsistenz viel geeigneter) sowie viel Olivenöl und - dies ist ein Additiv von mir - einem Döschen Tomatenmark oder die gleiche Menge aus der Tube. Dazu muß man wissen, daß ich nie nach einem wie auch immer gearteten Originalrezept koche, sondern es richtig und notwendig finde, kleinere Fälschungen und Aberrationen vornehme, eingedenk der Erkenntnis Friedrich Nietzsches, daß es ohnehin kein Original gibt und alles, was als Original bezeichnet wird, nur die Interpretation von Interpretationen ist - aber natürlich ist auch diese Behauptung eine kleine Umleitung des Nietzsche'schen Originals. Außerdem habe ich den ersten Pistou in meinem Leben als roten Pistou genossen, und zwar zubereitet von einem Unterhegelforscher, der sich wie ich 1978 im Haus eines Frankfurter Oberhegelforschers zu Le Cailar in der Camargues aufhielt. Darauf wird bei Gelegenheit noch zurückzukommen sein. Der rote Pistou aber is t unabhängig von unserer Auslegung und Rezeptfreiheit durchaus verbreitet. Ich habe ihn andernorts in der Provence hin und wieder zu Nudelgerichten erhalten, wenngleich er mehr einem Sugo (also der italienischen Tomatensauce) ähnelte als dem Pesto. Zurück zur „Soupe au pistou“: Zunächst die großen Gemüse klein schnippeln, grüne Bohnen auf etwa halbe Länge verkürzen. Sodann nach und nach anbraten beziehungsweise -dünsten: Zwiebeln, gelbe und weiße Rübchen, Lauch, Sellerie. Ausreichend Gemüsebrühe angießen, so daß die Gemüse ihren Freischwimmer machen können, das Ganze aufkochen, etwa eine Stunde köcheln lassen. Zur Hälfte der Garzeit Kartoffelwürfel und grüne Bohnen, kurz vor Ende der Garzeit die weißen Bohnen (sofern aus der Dose stammend) dazugeben. In der Zwischenzeit den Pistou zubereiten: Pinienkerne zerstoßen; ich selbst benutze dazu ein Rollmesser, weil mir beim Zerstoßen mit dem Mörser immer wieder die Pininienkerne um die Ohren 39 fliegen. Auf die Kerne den kleingehackten Basilikum und den ausgepreßten Knoblauch geben, mit Olivenöl anrühren, den geriebenen Käse hinzufügen, das ganze wiederum mit Olivenöl verrühren bis eine fast pastenartige Sauce entsteht. Am Schluß noch den Tomatenmark unterrühren - fertig. Der Pistou wird bei Tisch ganz nach Geschmack in die Suppe eingerührt. Manche Rezepte sehen auch Safran vor, ich unterlasse solches, der gehört nicht überall rein; ist der kritische Punkt überschritten, dominiert er, darunter macht er allenfalls den Kuchen gelb, geht aber in stark gewürzten Gerichten wie der „Soupe au pistou“ unter. Außerdem soll man sich den Safrangeschmack für Gelegenheiten bewahren, wo er dem Gericht zuträglicher ist (auch darüber wird noch zu reden sein). Um aber zum Abschluß des Rezeptes noch eine Angabe zur Werthaltigkeit der „Soupe au pistou“ zu machen: Sie ist in Restaurants keineswegs ein Billiggericht, in der mittleren Preiskategorie werden gut und gerne zehn bis 15 Euro die Portion berechnet - ein neuerlicher Beweis dafür, daß gerade die einfachste, aber gutgeratene Kost einen SnobAppeal-Zuschlag rechtfertigt. Mit der vergleichsweise teureren Bouillabaisse hat es eine andere Bewandtnis: Sie ist zwar auch nicht besonders kompliziert zuzubereiten, allein aber die Auswahl an Fischen rechtfertigt mit Blick auf die leergefischten Fanggründe ihren Preis - außerdem lohnt der Aufwand (Beschaffung und Diversität der Ingredienzen) nur bei großen Portionen. Zur „Soupe au pistou“ verputzen wir farblich abgestimmt einen Roten aus der Domaine. Hagen Knotterbeck und ich geraten alsbald in ausgelassene Stimmung, die wir uns auch beim Gedanken an die große Giftpumpe (oder war's die kleine Giftspritze und der große Phynanzklumpen?) nicht vermiesen lassen. Die Kinder lassen sich unterdessen von einer Stimmungskanone der deutschen Fernsehanstalten beschießen. Dienstag, 27. Juni 40 Weil der brettebene Salagou zum (scheinbar) risikolosen Wassersport einlädt, uns aber dazu noch das Equipment fehlt, beschließen wir, ein Boot zu kaufen. Kein teueres hochsee- oder wildwassertüchtiges. Aber ein gerade mal eben mit den nötigen Auftriebskräften ausgestattetes sollte es schon sein. Tja, Platz im Auto darf es natürlich auch nicht beanspruchen, es sollte aber andererseits halbwegs professionell aussehen und nicht den Eindruck eines der Gummiente unmittelbar folgenden Evolutionsstandes vermitteln, und - ganz wichtig - es müßte natürlich ohne Kompressor oder Motorpumpe aufblasbar sein. Nachdem wir in der Familie all diese Kriterien gedanklich hin und her bewegt, das Für des einen gegen das Wider des anderen gestellt und schließlich zu einem Anforderungsprofil dialektisch verdichtet haben, schreiten wir zum Kaufakt, und dessen Aufführung findet auf der Bühne des Lebens - wo wohl? - natürlich im „HyperU“ statt. Auch in Sachen Schiffahrtstechnik beansprucht der „HyperU“ das regionale Monopol - die Modellreihen der Sportgeschäfte Clermonts verharren dagegen tatsächlich auf dem Evolutionsstand Gummiente. Wir kaufen im „HyperU“ das einzig dort und dies auch noch in einem letzten Exemplar vorhandene Modell "Challenger K2", kompakt in stabiler und eindrucksvoll bebilderter Pappschachtel verschachtelt und von daher auch hinsichtlich der Packmaße absolut überzeugend. Mit dem Boot ("Made in China im Kofferraum düsen wir zum Salagou, der sich heute etwas bewegter als gestern zeigt. Die Kinder fragen: „Was heißt ‚Challenger‘?“ Mme Knotterbeck antwortet: “Herausforderer. Es gab außerdem mal eine Raumfähre namens ‚Challenger‘.” Die Kinder sagen: “Geil.” Ich sage: “Aber die ist in der Luft explodiert, damals als ich eure Mama kennengelernt habe.” Die Kinder: „Ups.“ Sie fragen nach dem Zusammenhang zwischen unserem Kennenlernen und der Explosion. Ich sage: “Da gibt es 41 einen, aber ich habe ihn vergessen.” Die Kinder fragen: “Und was heißt ‚K2‘?” Ich bleibe die Antwort verständlicherweise schuldig, denn kann es sein, frage ich mich, dass ein von der deutschen Firma Klepper hergestelltes Gummiboot die Typenbezeichnung „Zugspitze“ oder „Watzmann“ erhielte - da stimmt doch was nicht im Ve rhältnis von Branding und Semiotik. Wir enthüllen die Neuerwerbung, stellen mit Genugtuung fest, daß das Gelb ihres Gummileibes nicht nur halbwegs dem Verpackungsfoto entspricht, sondern durchaus auch den Vorstellungen, die Landratten von Wassersportgerät haben - man vergegenwärtige sich zum Kontrast ein supercooles Raftinggefährt in Regenbogenfarben oder in Hellblau oder in Kirchentagslila... Auch die Anleitung zur Montage, die angesichts des Aufwandes, der zu treiben ist, zweifellos dem Profistatus des Bootes entspricht, nimmt uns auf den ersten Blick ein: Sie steht auf dem Bootsboden, geht damit niemals verloren und stört auch nicht das rasante Challenger-Finish, sie ist zudem in einwandfreiem Deutsch gehalten, was den Verdacht auslöst, daß eine für den Einsatz in deutschen Gefilden bestimmte Challenger-Charge auf dem Weg vom Herstellerland zum Bostal- oder Edersee versehentlich in der „HyperU“-Logistikzentrale gelandet ist. Alles in allem durchaus zuträglich für uns. Weniger zuträglich ist der Vorgang des Aufblasens. Der deutsche Ausdruck "Schlauchboot" suggeriert Leichtigkeit, Mühelosigkeit, Geschmeidigkeit, während das französische "bateau gonflable", das aufzublasende Boot also, geeignet ist, Illusionen gar nicht erst aufkommen zu lassen. Nach der einstündigen Vorbereitung und einer halbstündigen Rekreationspause wollen wir endlich zum Stapellauf schreiten. Allein ein plötzlich aufkeimender Zweifel hält uns von der Jungfernfahrt ab. „Challenger K2“ wirkt bei näherem Besehen seltsam unförmig, irgendwie bananenhaft-asymmetrisch, ganz und gar nicht challen- 42 gerhaft. Wir nehmen uns die Verpackung vor, vergleichen Abbild und Wirklichkeit und stellen fest: Dieses Gebilde, dessen Material durchaus für den Gebrauch im Wasser bestimmt zu sein scheint, ist weder Challenger noch Gummiboot, sondern ein Utensil außerirdischer Intelligenz, wobei sein Verwendungszweck für uns Menschenwesen unzugänglich bleibt. Wir halten Familienrat: Ich mu tmaße, daß im fernen Shijiazhuang oder Shenyang die automatische Heißnahtschweißmaschine falsch programmiert gewesen sein muß. Mme Knotterbeck sagt: “Unsinn, die haben dort noch gar keine Heißnahtschweißmaschinen. Die verarbeiten in den armeeeigenen Gummibootfabriken alles noch von Hand, und da müßten dem Oberkontrolleur die unpassenden Schnitte der Folien aufgefallen sein. Die sind da sehr genau in China: Auf Sabotage droht Todesstrafe und Organentnahme.” Die Kinder sagen: “Egal, was die Chinesen gemacht haben, mit so einem Boot gehen wir nicht ins Wasser. Da gehen wir ja unter, und die anderen Kinder lachen uns aus.” Wir betreiben weiter Ursachenforschung und sondieren Handlungsalternativen: Das Boot zum „HyperU“ zurückbringen und Kompensationsleistungen für einen halben Tag entgangener Urlaubsfreuden einklagen? Den freundlichen jungen Mann von der nahen Windsurfschule befragen, uns gewissermaßen nautischer Expertise sichern, bevor wir weitere Schritte unternehmen? Das Boot nicht zurückbringen, sondern gewaltsam mithilfe der Reelingskordel in eine andere Form zwingen? Mme Knotterbeck sagt: “Ich hab's. Die Form! Wir haben das Boot falsch aufgeblasen. Das Ding muß umgestülpt werden. Seit wann steht der Schriftzug auf der Innenseite?” Tatsächlich ist das stolze "Challenger K2" wenn überhaupt nur für die Insassen zu erkennen. Wir müssen also die Luft ablassen und von vorn beginnen. 43 Angesichts der fortgeschrittenen Zeit und des drohenden Kraftaufwandes beschließen wir Erwachsenen, die neuerliche Montage auf morgen zu vertagen. Die Kinder stimmen dagegen, unterliegen aber bei der Abstimmung, weil sie Kinder sind; sie werden zur Abkühlung ihrer Renitenz ins Wasser geschickt. Da das Luftablassen nicht weniger Zeit beansprucht als das Aufblasen, können wir uns, nachdem wir das gewissermaßen noch jungfräuliche Wassersportgerät wieder verstaut haben, langsam auf den Heimweg machen. Auf dem Weg zurück passieren wir nicht ein einziges dieser typisch französischen Verkehrsrondelle, ohne daß dort nicht ein Repräsentant des französischen Mannestums steht und die Blumenrabatte näßt. Die Kreuzungsfreiheit der Verkehrsführung wird schamlos zur Befriedigung dringender männ(sch)licher Bedürfnisse ausgenutzt. Eine Nation von Pissern und Pinklern. Es stellt sich die Frage, wie sich die Ehefrauen, Verlobten, Töchter und Omas bei soviel kollektivem Harndrang verhalten (verhalten?). Im „Château Pohl“ erwartet uns die nächste böse Überraschung es ist wirklich kein guter Tag: Während unserer Abwesenheit hat eine Armee von Ameisen unsere Küche okkupiert. Manche tragen noch Flügel, die Mehrzahl ist flügellos und von kleinerer Gestalt als ihre flugtauglichen Kollegen. Eine erste Inaugenscheinnahme mö glicher Wirkursachen ergibt: Sie scheinen oberhalb der Spüle in die Küche eingedrungen zu sein. Ihr Einfallstor läßt sich bald genauer orten. Hagen Knotterbeck hat nämlich gerade zur erstbesten chemischen Keule gegriffen - „Sidolin“ für blitzeblanke Fensterscheiben und damit eine ganze Kohorte gekeult, als aufgeschreckt aus ihrem Versteck sich weitere Einheiten in Bewegung setzen. Sie kommen aus der Holzverkleidung zwischen Fenster und Spüle. Keine Chance für die Eindringlinge - sie werden örtlich betäubt und gleich weggespült. Der Vorgang straft natürlich Ernst Jünger, den subtil(er)en 44 Jäger, Lüge, der schlankweg behauptete: "Die Tiere haben ein untrügliches Gefühl für den günstigen Ort und scheuen keine Mühe, ihn zu bestellen; sie wissen, wo die Erde standhält und nicht Überschwemmungen oder andere Unbilden drohen." Wissen sie nicht die Bohne, denn sonst hätten sie sich denken können, daß mit der Familie Jarim nicht zu spaßen ist. Wir säubern Spüle, Anrichte und Fensterscheibe von den inzwischen gefallenen Nachzüglern und genehmigen uns nach dem Schreck einen „Kir Picboul“. Kaum aber ist das Glas geleert, weiten sich Hagen Knotterbecks Augen voller Entsetzen: Die Ameisen sind entweder von den Toten auferstanden oder haben, was noch wahrscheinlicher ist, die Hauptarmee auf den Plan gerufen: Jedenfalls sind binnen Minuten mehr Kriechbeiner aufmarschiert als wir nach unserer Rückkehr vom Salagou vorgefunden hatten: Jetzt nähert sich eine ganze Armada, um entweder - der günstigere Fall - unseren Cassis auszusaufen oder um - die bedrohlichere Variante - sich an uns für ihre gefallenen Kameraden zu rächen. Hagen Knotterbeck stürzt sich auf die Sidolinflasche, gibt die nötigen Ordres aus ("Weg mit dem Cassis!", "Kinder raus aus der Küche!"), hält eine kleine Ansprache zur Hebung der Moral und erklärt sich bereit, die Invasoren solange in Schach zu halten, bis ich ihrem Befehl, beim Zeitungshändler für den Waffennachschub zu sorgen, nachgekommen sei und sie entsetzt haben würde. Ich eile von dannen, tue, wie mir geheißen, und kehre nach kurzer Fachberatung durch Monsieur Marchand de journaux mit „Foudroyant Volants“ des Herstellers Caussade ins „Château“ zurück. Hagen Knotterbeck hat inzwischen weitere rund tausend Krieger der Spezies Furuncula weggespült. Wir sprühen sorgsam jeden mutmaßlichen Schlupfwinkel aus, bis uns selbst von dem Kir toxique ganz schwindlig wird. 45 Ameisen, Ameisen, krabbelnde Flut: Während sie dich kaltlassen, wenn sie in gebührender Entfernung ihren Ameisenstraßen entlangziehen oder in ihren Bauten herumwuseln, selbst dann noch, wenn sie dich mit Schnellstraßen, Zubringer und Verkehrsumleitungen umzingeln, gerätst du in Panik, wenn sie sich wie von einer Zentrale ferngesteuert auf dich zubewegen, sich an Tisch und Bett breitzumachen beginnen. Ich habe festgestellt, daß es nicht die Bewegung als solche ist, die Panik verursacht (sie marschieren ja nicht im Gleichschritt, obwohl sie damit Ernst Jünger einen großen Gefallen erwiesen hätten), sondern der Umstand, daß sie absolut geräuschfrei vorgehen. Kakerlaken machen deutlich wahrnehmbare TrippTrapp-Schrittchen - knips' in einem kakerlakenverseuchten Raum das Licht an, und du hörst sofort das hurtige Trippeln, bevor du, wenn überhaupt, den Käferschwanz in der nächsten Ritze verschwinden siehst. Bei Spinnen, die neben Gewürm und Otterngezücht als die Ekeltiere par excellence gelten, lösen kleine Herden ebenfalls nicht mehr Abneigung als Einzelexemplare aus, denn auch sie verhalten sich nicht lautlos. Ich bin davon überzeugt, daß man bei einer Spinne, die man mit einem Resttonverstärker belauscht, einen kleinen Jubelschrei ausmachen kann, wenn sich die Fliege in ihrem Netz verfängt, oder ein Schmatzen, wenn sie diese verzehrt, ein Sauggeräusch, wenn sie die Beute auslutscht, oder einen ärgerlichen Pfiff, wenn du das Netz zerreißt. Nicht minder bei der Zecke, die in Pawlowmanier mit einem nässenden Schmatzen ihre Vorfreude bekundet, sobald sie sich endlich nach Jahren der Askese über die zuckende Menschenhaut hermachen darf, oder die mit einem tödlichen Seufzer ihr jähes Ende quittiert, wenn man ihr den Zeckenkopf ausreißt. Und bei fliegenden Insekten dient das Brummen und Summen und Pfeifen und Zischen sowieso dazu, sich Geltung zu verschaffen beim lästigen 46 Konkurrenten oder auch beim Wirtstier, dessen Blut in Aufwallung gebracht werden muß. Bei den Ameisen aber kann man sich allenfalls ein leises Gruspeln beim Zersägen, Zernagen und Zerlegen ihrer Beute, ein winziges Kräcken vorstellen, für uns Menschen vielleicht erst wahrnehmbar, wenn sie sich den schmackhaften Knorpel der Ohrmuschel zu Gemüte führen. Bis es jedoch soweit kommt, ist nichts, aber auch gar nichts zu vernehmen - lautlose Kriegsführung, seit alters das Ideal vieler Militärstrategen, die immer den Kanonendonner und die Gewehrsalven als störenden Rest, als zu unterdrückenden, zu verfemenden Teil, schlicht als das Unwesentliche des kriegerischen Handwerks ansahen. Für weitere militärische Reflexionen ist jetzt aber keine Zeit, wir müssen uns dem Endkampf gegen die Eindringlinge widmen. Wir sprühen, was das Zeugs hält, und kriegen tatsächlich die Invasion zum Stillstand. Dafür haben wir nun Hekatomben toter Ameisen, deren Leiber unter dem zersetzenden Einfluß des Giftes langsam zum einem tiefbraunen Chitinkuchen verbacken. Apropos Chitinkuchen: Ich muß in die Küche, um das Aligot zu präparieren. Aligot ist ein höchst einfaches, allerdings auch kraftaufwendiges Gericht. Man benötigt dazu ein Kilo Kartoffeln, die man als Püree zubereitet. In diesen sehr heißen Erdapfelbrei rührt man mit dem Schneebesen, oder wenn der sich zu sehr verbiegt, mit einem Holzlöffel oder -spatel gut ein Pfund geriebenen Tomme aus dem Département Cantal darunter, solange bis Käse und Kartoffeln zu einem schmackhaften Seim amalgieren, und das kann nach Tomme-Konsistenz gut eine halbe Stunde dauern. Man muß nur darauf achten, daß man einen sehr jungen Tomme verwendet, am besten den hier überall erhältlichen Aligot-Tomme. Das Gericht wird von der Familie unterschiedlich bewertet. Die Kinder finden es prima; Hagen und ich kommen zum Schluß, daß Aligot bei aller Schmack- 47 haftigkeit recht eigentlich nur zum Abbau von EUKäseüberschüssen taugt. „Ich habe nichts gegen Schlichtheit“, sagt Hagen, „aber ein Raclette läßt sich wenigstens etwas erlebnisreicher gestalten - das hier ähnelt zu sehr der Nahrungsaufnahme.“ Sie sagt das mit deutlicher Mißbilligung in meine Richtung. Von mir stammte nämlich die Idee mit dem Aligot - dabei bin ich nur darauf gekommen, weil Plakate einen Riesenaligot für das nächste Wochenende in Cabrières ankündigen - die Initiatoren wollen (heißt es bei den Neidern aus Péret) unbedingt im Guinessbuch der Rekorde erwähnt werden. Mittwoch, 28. Juni Auf dem Weg vom Zeitungshändler zum Bäcker oder besser gesagt zur Depotmanagerin kommt mir ein ziemlich maroder Hund, Rasse nicht zu ermitteln, ein mit einer Federboa gekreuztes Teckelartiges entgegen, ermittelt meine Geruchskoordinaten und identifiziert mich sofort als Feind, stürzt sich also naturgemäß auf mich, um mir mit seiner zahnlosen Schnauze wenigsten die Espadrilles zu besabbern. Ein scharfer Ordnungsruf jedoch hält ihn von diesem Vorhaben ab, und er beginnt, sich protestbellend zu verziehen. Die Ordnungsruferin, eine kleine alte Frau, maßstäblich auf einen Nenner gebracht so alt wie ihr Hund und ebenso wie dieser von einer federboahaft zerrupften Erscheinung, sagt wider Erwarten nicht das, was alle Hundebesitzer sagen, nämlich: “Keine Angst. Der tut nichts”, sie macht mich statt dessen auf die extreme Ge fahrenlage aufmerksam, der ich ihrer Meinung nach gerade entronnen bin: “Oh, da haben Sie Glück gehabt, Monsieur, Pichot ist ein gefährlicher Jagdhund. Er hat meinen Mann selig immer bei der Wildschweinjagd begleitet und schon mindestens 60 Keiler zur Strecke gebracht. Ohne daß mein Mann auch nur eine Patrone hätte vergeuden mü s- 48 sen.” Ein Alter mit zwei Baguettes unterm Arm kommt uns entgegen; er nickt und sagt: „Ha, ha, ich glaub‘ es waren nur 59, grüß‘ dich, Simone.“ Madame Simone erwidert zerstreut den Gruß und wendet sich wieder meiner Wenigkeit zu. Sie erweist sich als überaus redselig und fragt mich mit einem einigermaßen passablen, auffallend wenig dialektgefärbten Französisch, ob ich Urlauber bin (ich bin), erklärt mir in einem Aufwasch, daß das Wetter in diesem Jahr nicht so ist, wie es sein müßte, daß sie heute drei Baguettes kaufen muß, weil ihre Enkelkinder aus Marseille zu Besuch kommen, daß sie aus Reims stammt (daher also ihr fast hannoveranalog astreines Französisch), daß heute Monsieur Jacques Sowieso in der Rue Fabre selbstangebaute Pfirsiche verkauft, die nur halb so viel kosten wie im „HyperU“, daß die Engländer im Eckhaus Rue de l‘Egalitité / Rue Wasweißich gestern nacht wieder ordentlich gelärmt haben, hält - das Stichwort ist gefallen - plötzlich inne, sieht mich mißtrauisch von der Seite an: “Sind Sie Engländer?” “Nein.” “Pariser?” Ich weiß nicht, ob ich mit mildernden Umstände rechnen dürfte, wenn ich einer wäre, oder ob mich dieser Umstand in ein ungünstiges Licht rücken würde. Deshalb antworte ich wahrheitsgemäß, daß ich Deutscher bin. “Ah, sehr gut, ich mag die Deutschen. Sie waren immer sehr liebenswürdig gewesen im Krieg, und gut aussehen taten sie auch. Oh, das waren Erscheinungen - Sie müssen wissen, ich war eine fünfzehnjährige Göre, und die deutschen Offiziere, die hatten was...Meine Mutter hat das natürlich ganz anders gesehen, mein Vater war in der Deportation... Aber das ist ja Vergangenheit. Wo kommen Sie denn her?” – “Geboren in Saarbrücken...” – “Ah, sehr gut, das kenne ich, an der Sarrrrr‘ war mein Sohn stationiert, und ich war mal in Mettlack. Habe ich mir gemerkt, weil es da so eine Firma mit französischen Namen gab, aber ich habe vergessen, warum ich dort war. Was machen Sie denn hier?” – Wie, was mache ich hier? “Urlaub.” “Ach so, sagten Sie ja schon.” Fast klingt es ein wenig enttäuscht, vielleicht wäre ihr lieber gewesen, sie hätte im 49 Verein mit ihrem Jagdhund einen Agenten der Nazis gestellt, mit dem sie nach einem scharfen Kreuzverhör Erinnerungen an die gute alte Zeit hätte austauschen können. Der Jagdhund hebt das Bein, ein Rüde wohl, der sich die französischen Zweibeiner zum Vorbild genommen hat. Madame verliert unversehens das Interesse an ihrem Beutegermanen und empfiehlt sich: “Oh là là, ich bin schon viel zu spät dran, ich muß die Brote holen, bevor nichts mehr zu haben ist.” Daß diese Bemerkung mehr war als nur so dahingesagt, zeigt sich im Brotdepot. Es ist halb neun, aber die Regale sind schon fast leer wie vor fast sechzig Jahren in der Champagne, als das Brot besatzungs- und kriegsbedingt rationiert war. Da offenbaren sich natürlich die wunderbaren Pfade der Wirtschaftsentwicklung, die in jeder Hinsicht wieder dort hinführen, wo sie ihren Ausgang genommen haben - in die Knappheit der Güter - nur mit dem Unterschied, daß wir uns in Ermangelung von Brot und sonstigen Grundnahrungsmitteln nicht mehr in die Wälder zum Beerensammeln verschlagen mü ssen, sondern zum nächsten Einkaufszentrum fahren dürfen, um dort Gummiboote, Ameisenköder, Badeschlappen, Duschgel, Fertigsuppen, Sonnencreme, Äpfel aus Zentralchile oder Nougat aus Hochanatolien, tibetanisches Duftöl oder schwedischen Blasentee, Honigbonbons und Nelkenfett, Öko-Kaffefilter und Grillanzünder, Spinatravioli und Mehrwegtampons, Türschloßenteiser und Schmierbeutelverschließer zu kaufen und uns damit “nichtskompensatorisch”, wie Freund Hartmut Weißer, der Tiefentrinker und Thekenphilosoph von Sachsenhausen Mitte sagt, über den Verlust von Wahrheit und Klarheit, aber auch von Bäckerei, Metzgerei und Dorfkneipe hinwegzutrösten. Hartmut Weißer meint, daß wir zunehmend von einem anderen Stern sind, weil uns der alte Planet den Boden unter den Füßen wegzieht. Er gibt den Japanern dafür die Schuld, denn er arbeitet für eine japanische Company. 50 Der Holländer Gert Maak beschreibt in seinem Buch über das Dorf Jorwerd das Verschwinden der “eigenen Wirtschaft innerhalb der großen”, das Verschwinden der Krämerläden, Fleischereien, der Dorfgastsstätten und letztlich auch der öffentlichen Einrichtungen, und er hat diesem Situationsbericht nicht von ungefähr den Titel “Wie Gott verschwand aus Jorwerd” gegeben. Es ist ja auch kein Zufall, daß in Péret auch die Kirche geschlossen hat - eine katholische wohlgemerkt, die eigentlich immer offenstehen müßte: Wo es in einem Dorf der Wohlstandsgesellschaft kein Brot mehr gibt, von dem hat sich auch Gott zurückgezogen. Die Kirche von Péret steht nur noch als Monument da und bietet ein paar Mal im Jahr die Kulisse für einen importierten Gottesdienst, gehalten von einem Reis epfarrer, der sonntagmorgens durch die Provinz fegt und wegen der zeitkritischen Situation Kompaktversionen der Hl. Messe anbietet. Und selbst das einzige Mal, in der während unserer Anwesenheit eine Hl. Messe gelesen werden wird, wird Gott seine Gnade verweigern. Ich werde mir vornehmen, zur Kirche zu gehen, aber ich werde es nicht fertigbringen, weil Gott nicht verhindern wird, daß der Teufel Alkohol mich am Vorabend in Versuchung geführt haben wird und ich werde zwangsläufig der Versuchung erlegen sein, den Kirchgang nicht zu unternehmen. Aber noch sind es ein paar Tage bis zu diesem Sündenfall, einstweilen bin ich noch hier in dieser trostlosen Bäckerei, aus der ich mich jetzt mit der mir zugeteilten Brotration (eine halbe Baguette statt deren zwei ganze) verabschiede. Der heutige Küchenplan sieht - welch Zufall - vor, daß ich koche und daß ich nicht nur irgendwas koche, sondern, wie von Mme Knotterbeck gewünscht, Fischsuppe: “Egal, wie du sie machst, Hauptsache Fischsuppe - wir sind doch nicht weit vom Meer und 51 das müssen wir ausnutzen!” – “Frage: Aber wir wollten doch zum Salagou. Und das ist ein Süßwassersee. Hast du schon mal was von Zandersuppe gehört oder von Schleiensuppe?” Antwort: “Wir fahren ohnehin nach Clermont zum Wochenmarkt, dort gibt es Fischhändler genug, und damit basta.” Der Markt von Clermont ist mittwochs und wird, soweit es der kleine Platz an der Eglise Saint Paul zuläßt, von all jenen Händlern beschickt, die samstags in Pézénas, donnerstags in Paulhan, dienstags in Gignac und freitags in Montagnac vertreten sind. Er bietet alles in allem ein gut sortiertes Angebot, das einerseits der Rolle Clermonts als einem kleinen Handelzentrum mit 600 Quadratkilometer Umland gerecht wird, andererseits gerade eben oberhalb der Wahrnehmungsschwelle der Touristen rangiert, die sich in verblüffend hoher Zahl in einer Entfernung von gut 40 Kilometern hinter der Küstenlinie tummeln. Es gibt auch Fischhändler mit einem so übersichtlichen Angebot, daß man nicht unbedingt ein Lied auf den Reichtum der Meere anzustimmen geneigt ist. Immerhin warten sie mit einer Alibiauswahl an Felsenfischen auf, die dem Klischee südfranzösischer Meeresangelegenheiten gerecht werden, aber mit todbringender Sicherheit nicht von den inzwischen fischlosen südfranzösischen Küsten stammen. Mir selbst ist das egal, nicht aber Hagen Knotterbeck und den Kindern, die sofort eine ungehörte Protestnote gegen das Freveltum der Fischindustrie ausstoßen und wegen des vergleichsweise ungewöhnlich hohen Erregungskoeffizienten auf Unverständnis bei den Passanten stoßen. Wir halten uns nicht bei dem fahrenden Kleinzoo auf, der winzige korsische Wildschweine zum Streicheln gegen eine Spende feilbietet, weil wir auch da frevlerische Dinge, wie nichtartgerechte Kleintierhaltung vermuten. Auch das Ölgemälde mit blühenden Lavendelfeldern interessiert uns nicht, genausowenig wie der Ledermann, der 52 Handtaschen und Gürtel im flamboyanten Zigeunerstil produziert, oder die gutaussehende junge Dame, die dem Empfang einer Werbeagentur entwichen sein könnte und hier an einem ultragestylten Markttisch reines und parfümiertes und mit Gewürzen oder Edelpilzen aromatisiertes Olivenöl in Losgrößen eines Fingerhutes feilbietet. Und selbst der rotnasige Trunkenbold, der eben gerade sein Wasser gegen die größte Platane am Platze setzt, wird von uns ignoriert. Obwohl die Kinder eine starke Neigung signalisieren, den Klamottenhändlern mit den vielen bunten Wimpeln, Wallegewändern und sonstigen Körpertextilien einen Informationsbesuch abzustatten, konzentrieren wir uns auf die Erfordernisse von Tisch und Tafel und kaufen nach kurzem Preisvergleich bei den Vertretern des Fischhandels (es herrscht natürlich das örtliche Preiskartell, und selbst Preisdifferenzen im unteren Centbereich sind nicht auszumachen), wir kaufen also ein Pfund „Seiche“ - das ist nicht, was sich unsere Elterngeneration vorstellte, eine Ausscheidung des menschlichen oder tierischen Körpers, sondern eine Art Tintenfisch, sozusagen das Totemtier des Sèter Traditionsfischfangs - und dazu ein halbes Pfund „Lotte de mer“, Seeteufel, den ich mir, weil er ein etwas schwieriger Knochenfisch ist, von der Marktfrau entbeinen lasse, wobei ich mir natürlich den Knochen angesichts des exorbitanten Preises aushändigen lasse. Nachdem wir die Zutaten gekauft haben, Tomaten und Lauch, rasen wir - den Fisch in der Kühltasche - wieder nach Péret zurück, verstauen unsere Einkäufe im Kühlschrank, bestücken die Kühltasche mit Obst, Kaltgetränken und Schinkenstullen fahren die zehn Kilometer zurück nach Clermont, am Markt vorbei hinauf zum Salagou. Dort angekommen, verbringen wir die erste Stunde mit dem Aufpumpen der diversen K2-Kammern und -Wülste. Diesmal wird, weil 53 wir höllisch aufgepaßt haben, alles gut, und das Boot kommt in Form. Die Kinder sind aufgeregt, wir Eltern dagegen ausgelaugt, müssen erstmal unter Dauergenörgel von Kiki und Consuelo flach auf dem Boden ausgestreckt unseren Kreislauf wieder in Ordnung bringen. Nach einer Viertelstunde, kaum sind wir trotz des Protestlärms kurz eingenickt, werden wir von einem Schwall kalten Salagouwassers aufgeschreckt. Mit der Empörung des Gerechten neige ich sofort dazu, die Luft aus dem Boot zu lassen und nach Hause, und damit meine ich in der ersten Erregung: zurück nach Deutschland zu fahren, doch Hagen Knotterbeck beruhigt mich, indem sie mit außerordentlicher Lautstärke verbal auf die Kinder eindrischt. Die übrigen Badegäste wenden sich jetzt mit ungeteilter Aufmerksamkeit unserem Treiben zu, ich spüre ihre spöttischen Blicke wie kleine Lanzenstiche nicht nur auf meiner sonnengeröteten Haut, sondern auch auf meinem feuerroten Kopf. Da heißt es also gute Miene zum bösen Spiel machen, sich die Verlegenheit und den Zorn und den Weltüberdruß und den Haß auf Kinder nicht anmerken lassen. Wir schreiten, äußerlich ungerührt, mit dem Boot im Schlepptau zum Wasser. Das heißt von Schreiten kann bei dem spitzigen Bodenbelag an der Wasserkante nicht die Rede sein und zur Schonung des Materials auch nicht von Stapellauf. Wir wanken, „Challenger K2“ huckepack tragend, hundert Meter durch das seichte Wasser, um den Bodenkontakt der empfindlichen Hülle zu vermeiden, bevor wir die Gummiwülste ablassen können. Doch die majestätische Imposanz von „Challenger K2“ versöhnt uns mit den Anstrengungen, die wir bisher - uns?, den Kindern?, nein dem Boot und seinem rein Daseinhaften zuliebe auf uns genommen haben. Ich besteige mit den Kindern zusammen das Gefährt, erkenne, kaum daß ich zwei drei Ruderschläge getan habe, daß Challenger seinen Namen völlig zurecht trägt: Es stellt keine geringe Herausforderung dar, mit dem unförmigen Gebilde von einem Punkt A nach einem nahegelegenen Punkt B zu kommen. 54 Das gelbe Gummigewulst liegt platt auf dem Wasser und bewegt sich in etwa dem Tempo der Echternacher Pilger vorwärts. Hat man mit erheblichem Paddeleinsatz den Bug des K2 nach vorne gewuchtet, zieht sich der dadurch überdehnte Gummi sofort wiederzusammen und man wird unversehens zum Heck zurückgerissen. Hagen Knotterbeck ruft mir vom Ufer zu: “Das liegt an deiner Paddeltechnik. Du mußt den Schwerpunkt nach hinten verlagern und mehr vom Bootsende rudern, dann schiebt sich alles wie von automatisch nach vorne.” Die Kinder sagen: “Papa, du bist unfähig.” Ich sage: “Wenn ich unfähig bin, bitteschön, dann rudert doch alleine. Werdet sehen, wie weit ihr kommt.” Und gehe von Bord. Die Kinder ergreifen die Paddel, drehen sich ein paarmal im Kreis und gewinnen ziemlich rasch Fahrt in Richtung Seemitte. Ich sage: “Glück gehabt. Das können die nicht aus eigenem Geschick, sondern nur deswegen, weil der Wind sie schiebt.” Tatsächlich war ein rasch sich verstärkender Wind aufgekommen, wahrscheinlich der Tramontane, der hier jedes Mal um die Mittagszeit aufkreuzt, wenn sich das erhitzte Land eine scharfe Termik genehmigt. Ich versuche das gerade Hagen Knotterbeck in allen mir bekannten meteorologischen Einzelheiten zu erklären, als sie mich anschreit: “Halt‘ doch bitte mal die Klappe” (sie sagt, nein, sie schreit tatsächlich "bitte"), “siehst du denn nicht, daß die Kinder kaum noch zu sehen sind?“ Keine Frage, ein gelber Punkt mit zwei dunklen winzigen Ausbuchtungen (die Köpfe des Nachwuchs) entfernt sich mit rascher Geschwindigkeit in Richtung Seemitte, ja um genauer zu sein ist er schon nicht mehr zu sehen. Ich schreie jetzt auch: “Das gibt's doch nicht. Die können doch nicht so einfach...” Wir winken, toben, rennen rein ins Wasser, wieder raus aus dem Wasser, ohne Rücksicht auf unsere geschundenen Füße. Mittlerweile haben sich auch einige Badegäste hinzugesellt, die ebenfalls wild gestikulieren und in allen 55 Sprachen dieser Welt - so scheint es mir jedenfalls - Ratschläge erteilen. Der ein oder andere hackt auf das Tastenfeld seines Handys ein, wohl um die Küstenwache oder die Feuerwehr oder den Notarzt zu informieren oder womöglich (ich will es nicht ausschließen) seine daheimgebliebenen Angehörigen brühwarm von dem ungeheuerlichen Geschehnissen in Südfrankreich zu unterrichten. Schon taucht ein Hubschrauber am Horizont auf, überquert uns winkendes Häuflein in großer Höhe und macht sich in Richtung Montpellier auf und davon. Wie das? Das ist doch ein Skandal. Die sehen doch, was hier los ist. Ah nein, das war offensichtlich das Vorauskommando, denn da kommt schon die ganze „Force de frappe“ oder zumindestens zwei Vertreter des glorreichen Düsengeschwaders. Aha, die Verantwortlichen lassen sich nicht lumpen, setzen zur Rettung in Not geratener Touristen gleich die Luftwaffe ein. Vorbildlich das, beispielhaft, zur Nachahmung empfohlen! Aber ist es denn zu fassen? Auch die bremsen nicht ab, zünden im Gegenteil effektvoll ihre Nachbrenner und düsen, ohne auch nur den geringsten Schlenker zu machen, in Richtung Lyon ab. Schande über die Verantwortlichen, ich wünsche ihnen eine militärische Niederlage an den Hals, die sich gewaschen hat, Spielzeugarmee, Pappkameraden, Papiertiger, Schleudersesselfurzer!! Will uns denn keiner helfen? Einzig und allein ein dickbäuchiger Monsieur stürzt sich wagemutig mit seiner Riesenbadeente in die Fluten und versucht, aus dem Uferbereich zu kommen - jedoch es gibt einen Knall, die Badeente verpufft, is t wohl wegen der Last den Steinen zu nah gekommen, und der dickbäuchige Monsieur muß seinerseits geborgen und wiederbelebt werden. Ich sinke Hagen Knotterbeck in die Arme, sie stürzt, ich begrabe sie unter mir, sie protestiert nicht einmal, und wir geben uns wortlos unserem Schmerz hin. Keine Kinder mehr und das Gummiboot auch noch umsonst aufgepumpt... 56 Doch da: Die Menge, die sich inzwischen um uns versammelt hat und uns Trost spendet (hörte ich eben: "so ein schönes Boot.."?), seufzt kollektiv mit einem langgezogenen "Ah" auf. Der Grund der Erregung: Ein Motorboot nähert sich, mit K2 und den Kindern im Schlepptau. Wie sich herausstellt, hat der Besitzer der unterhalb des Dorfes Liausson gelegenen Windsurfschule das Drama verfolgt und reaktionssicher in das Geschehen eingegriffen. Er führt uns mit vorwurfsvollen Gebärden die Kinder zu, wir müssen eine Gardinenpredigt über uns ergehen lassen, von der inhaltlich nicht viel zu sagen ist, außer daß sehr gehäuft "grenzloser Leichtsinn" und "unverantwortlich" vorkommt. Wir hören aber gar nicht hin, denn die Kinder kriegen sich gar nicht mehr ein vor Begeisterung: "Das war voll cool. Das Schlauchboot ist Spitze. Kommen wir morgen wieder her?" Jetzt bin ich es, der sprachlos ist, doch Hagen Knotterbeck hat die Situation unter Kontrolle: "Sofort einpacken. Das Boot wird verschrottet. Und das ganze Gummizeug kommt in die gelbe Tonne, oder wie die hier heißt." Auf dem Nachhauseweg kehren wir kehren zum Frustkauf in die Kooperative von Cabrières ein und erwerben dort zur Vervollkommnung unseres Weinvorrates je sechs Flaschen Weißwein für 3,50 Euro die Flasche, Rosé zu 3,75 Euro, Rotwein zu wiederum 3,50 Euro. Und dann noch das High-End-Produkt, einen Cuvée Prestige Rouge aus dem Eichenfaß für 9 Euro. Nach dem Schreck in der Mittagsstunde erwartet uns zu Hause neues Grauen. Die Ameisen haben ihren von der Giftbowle stammenden Mordsrausch ausgeschlafen und sind wieder putzmunter auf der Ameisenstraße unterwegs. Und das bedeutet, daß die etwa zehntausend Erstankömmlinge gerade dabei sind, in der Küche ihr 57 Katerfrühstück einzunehmen. Also ich wieder zum Monsieur Marchand de journaux, um eine neue toxische Handfeuerwaffe zu erwerben. Ich entschließe mich diesmal, ohne seinen Rat abzuwarten, für „KB Cafards Cafouet“ (eingetragenes Warenzeichen), das, wenn das stimmt, was auf dem Etikett steht, nur gegen Waffenschein ausgegeben werden dürfte. Da heißt es beispielsweise auch: „jet foudroyant pour l'action longue durée“, was soviel sagen will, daß es sich bei dem Produkt um eine heftige wirkende Waffe mit verheerender Wirkung für den Blitzkrieg gegen Kakerlaken handelt. Ich denke, was den Kakerlaken recht ist, kann den Ameisen nur billig sein, eile zu Hagen Knotterbeck, die bereits im heftigen Nahkampf mit den Ameisenkriegern steht. „KB Cafards Cafouet“ zeigt sofort Wirkung. Kurz auf die vorrückenden Angriffsspitzen appliziert, zeitigt es Folgen wie ein Atomschlag: überall gekrümmte Ameisenleiber, die Beinchen wie zur Anklage gegen die Schöpfung in die Luft gereckt, kleine Giacometti-Skulpturen aus dem Kosmos der Insekten und Käfer. Es scheint, daß das Gift die Leiber karamelisiert: Das tiefe Karamelbraun steht den Toten besser zu Gesicht als der blasse Kognak-Ton den Lebenden. Wir gehen nun zur Leichenbeseitigung über, damit sich kein Kadaver in meine „bourride sétoise“, die Fischsuppe aus Sète, verirrt. Und die geht, zur gefälligen Nachahmung empfohlen, so (ich meine die Fischsuppe, nicht die Kadaverbeseitigung): Sechs nicht allzu große Tomaten werden entkernt, von ihrem geschmacklosen Tomatenschleim befreit und in Achteln geschnitten. Sechs Schalotten hacke ich klein - ebenso das Weiße von zwei Stangen Lauch. Vier große Knoblauchzehen zerkleinere ich, wälze sie in Salz und zerdrücke die ganze Chose mit der Schneide eines Küchenmessers. Ich röste nun die Schalotten in heißem Olivenöl an, rühre die Knoblauchpaste unter und gebe unter häufigem Wenden zunächst den Lauch dazu, dann die Tomatenstücke, lasse alles ein wenig köcheln, 58 gieße schließlich einen halben Liter Picpoul sowie einen dreiviertel Liter Wasser in den Sud, füge das Rückgrat des Seeteufels dazu, rühre Gemüsebrühe unter, gebe dann gerade soviel Safran rein, daß seine Farbe sich wirkungsvoll entfaltet, kröne das Ganze mit zwei Thymianzweiglein. Inzwischen schneide ich den dreiviertel Pfund Fisch (zur Erinnerung: ein Drittel Seeteufel, zwei Drittel Seiche) in kleine Stücke, und - sollte von der Seiche noch ein wenig Haut anfallen (in der Regel sind sie rückstandslos vom Fischhändler ausgenommen) - gebe ich auch diese dazu und lasse die Suppe bei kleiner Flamme etwa eineinhalb Stunde köcheln. Nach Ende der Garzeit passiere ich die Suppe durch ein Sieb - ein Sieb habe ich gesagt, ich habe nicht von einer Behandlung mit dem Rührstab gesprochen, denn dieser schließt die Säure der Tomaten auf und das wiederum macht das Gericht auch wegen des Picpouls zu säuerlich. Jetzt lasse ich die von den Gemüse- und Fischresten befreite Suppe nochmals aufkochen, gebe die Fischstücke dazu und lasse sie eine Viertelstunde mitköcheln. Es sollte hier nicht verschwiegen werden, daß echte Sétois, wie mir beim Zeitungshändler gesagt wurde, für den Sud ganz wenig Picpoul, dafür aber umso mehr Meerwasser benutzen. Ich habe das für eine grobe Verarschung gehalten, aber es wurde mir von einer wohlmeinenden Bedienung in einem Mèzer Lokal bestätigt, und zu guter letzt habe ich tatsächlich einen Beleg in der gastronomischen Literatur dafür gefunden. Die Frage ist bloß noch: Nimmt man zur Suppe Rouille oder Aioli? Meine Antwort ist, zumal sich die Grenzen zwischen Rouille und Aioli immer mehr verwischen und in Restaurants ein schier ungenießbarer Verschnitt aus beiden gereicht wird: weder noch und schon gar nicht deren Chimäre. Wenn überhaupt, dann die klassische Rouille. Diese ist ja an und für sich nichts anderes als ein Gemisch von Knoblauch, Öl, roten Pfefferschoten und viel Semmelbrösel. Aioli dagegen ist eine Knoblauchmayonnaise, die man auf ge- 59 röstetes Weißbrot streicht, um damit Schiffeversenken in der Suppe zu spielen; wie beim richtigen Schiffsuntergang bilden sich starke ölhaltige Schmutzfladen auf der Oberfläche, die nach allgemeiner Ansicht weder was im Meer noch nach meiner speziellen Auffassung was in der Suppe zu suchen haben. Ich übe also durchweg Verzicht, und ganz besonders dann, wenn der Aioli (von Natur blaß gelblich) rostrot wie die Rouille daherkommt oder umgekehrt, wenn die Rouille streng genommen eine Aioli mit einer Überdosis Safran darstellt. Um aber der Systemgastronomie mit ihren authentisch wirkenden Fertigprodukten Gerechtigkeit willfahren zu lassen, sei vermerkt, daß die Verwirrung längst auch die gekrönten Häupter der Haute Cuisine erfaßt hat: Da wird in den einschlägigen Verlautbarungen der Starköche schamlos Rouille für Aioli und umgekehrt Aioli für Rouille ausgegeben - ein für mich (dank der Aufklärung durch M. Porte-Jarrytelles) klares Indiz dafür, daß die Phynanzpumpe die grauen Zellen sogenannter Spitzenkastronom... äh ich meine: Spitzengastronomen abgesaugt hat. Es gibt natürlich viele Arten von Fischsuppen, und die Bourride, historisch gesehen die Vorläuferin der Bouillabaisse, wird überall an der Küste unterschiedlich zubereitet. Claudia Ulbrich, Mitglied der Amazonenbrigade Sachsenhausen und Chefin jenes Geheimdienstes, der mutmaßlich für Franz Zlunka, den Wirt und Küchenmeister des Frankfurter Literaturhauses, verschiedenen Quellen zufolge auch für Klaus Trebes, den republikbekannten Chef des “Gargantua”, ebenfalls in Frankfurt, arbeitet, zählt in ihrem Dossier zur Bourride insgesamt 98 verschiedene Arten der Zubereitung auf, dort noch nicht mal kleinere Abweichungen von der Gemüsezugabeverordnung mitberücksichtigt. Die meisten basieren auf einem Fischfond aus sogenannten Weißfischen: Quappen (besser bekannt als Wolfsbarsche), Seehechten, Merlanen, natürlich auch Seeteufeln, manchmal sogar Makrelen. Im Unterschied dazu enthält die Bouilla- 60 baisse eine größere Vielfalt an Fischen, muß aber Vertreter der festeren Qualität, wie den Drachenkopf, den Seeaal und den Knurrhahn enthalten, dazu aber die gleiche Menge von Fischen weicherer Beschaffenheit wie den Wolfsbarsch, den Merlan oder den Petersfisch. Die Herstellung von Bouillabaisse ist gebührend reglementiert, es gibt deshalb nur gute oder schlechte. Die wesentlich einfachere Bourride bietet dagegen mehr Freiheit und ist damit auch gut für Entdeckungen. Die abgedrehtesten Rezepte hat Claudia Ulbrich an der Rhônemündung gefunden, dort wo es wilde, fast autarke Siedlungen gibt, um welche die Staatsbediensteten wie Steuereinnehmer oder Polizisten einen großen Bogen machen und deren Bewohner den elektrischen Strom von Generatoren beziehen und das Wasser aus selbst angelegten Brunnen: Bourride mit „Brandade de morue“, einer Paste aus getrocknetem Stockfisch und Mayo, oder noch schlimmer mit Hoden von einem geklauten Camargue-Stier - ein wahrer Eintopf aus Gelegenheitszutaten und Hehlergut. Gleichwohl, wir lassen uns die Bourride schmecken. Die Kinder sind zwar nach dem Salagou-Desaster etwas angesäuert, aber der Hunger treibt sie wieder zu höherem Einvernehmen mit den Eltern. Ich schlage, befeuert von dem Picpoul, vor, gegen die Ameisen nicht nur körperlich, sondern auch in geistiger Hinsicht vorzugehen, um auch auf diesem Wege die totale Lufthoheit und Territorialautonomie in und um das „Château Pohl“ auf das Nachhaltigste zu verdeutlichen. Der Hintergedanke besteht natürlich darin, mit der Stigmatisierung des äußeren Feindes die Familienbande wieder enger zu knüpfen. Ein Manifest, auf das sich alle Angehörigen der Jarim-Sippe verständigten und das eine bindende Geisteshaltung gegen die Invaso- 61 ren vorgäbe, hätte nicht nur Signalwirkung nach außen (Merke: Mit den Jarims kann man nicht so umspringen!), sondern entwickelte auch erhebliche Kohäsionsdynamik nach innen. Ich empfehle daher, zunächst eine Themensammlung durchzuführen, auf deren Grundlage ich das Manifest gegen die Ameisen redaktionell ausformulieren würde. Nach zwei Stunden, in denen sich die Kinder ausnahmsweise nicht mit dem deutschen TV-Verdummungsprogramm beschäftigt haben, steht das Gerüst. Inzwischen ist leider auch der Picpoulspiegel gestiegen, weshalb die Ausformulierung auf den nächsten Tag verschoben werden muß. Donnerstag, 29. Juni Der Weg zur Bäckerei, Verzeihung, dem Brotdepot, führt mich jeden Tag den Chemin des Roques hinunter. Dann ein kurzes Stück dorfeinwärts auf der Straße, die Péret mit Cabrières verbindet. In der Höhe der Kooperative nehme ich die Avenue Marcellin Albert, biege an der Verzweigung nach rechts in die Rue Blaise Pascal ab, von der die Rue Jean Jaurès den Berg hoch zur Place de la Liberté führt. Man könnte die Strecke auch nach den Hunden schildern, die am Wegesrand lauern. Kaum bin ich aus dem Haus getreten, schlagen die beiden Bassets des Nachbarn an, irgendwo weiter hinten aus der Tiefe des Raums melden sich noch mindestens zwei unsynchronisierte Hundestimmen zu Wort, vielleicht sind es auch vier weitere, freilich paarweise synchronisierte. Gegenüber rast ein „Caniche nain champagne“ (ein hellbeiger Fellzwerg) auf das Tor zu und kriegt sich vor Zorn kaum noch ein, weil ihn die engen Gitter des Gartentores daran hindern, mir die Waden zu zerbeißen. Ein Haus weiter unten noch ein undefinierbarer Straßenköter, der aber bloß bellt, weil alle anderen bellen. Gegenüber, im Haus des Monsieurs, der tagaus tagein an irgendwelchen Mauern herummauert, die ohne 62 jedes System sein Grundstück durchziehen (ein Muralfetichist wohl), heult eine versehentlich im Salon eingeschlossene (vielleicht auch versehentlich eingemauerte) und von seinen Kollegen alarmierte Promenadenmischung. Unten an der Ecke - ich bin jetzt erst an der Abzweigung zum Chemin des Roques - fletschen mich aus dem Spalt des Holzauns ein Satz Fangzähne mitsamt zweier erheblich nässender Lefzen an - es ist nicht zu deuten, um welche Rasse es sich handelt, es muß aber mindestens ein Bullenbeißer sein. Schräg gegenüber in dem Haus, dessen Schwimmbad, Marke Saint Trop' für Minderbegüterte, von der Straße aus zu sehen ist, wieder zwei, diesmal kackbraune Caniches. Unterhalb der Kreuzung nach Adissan in dem von einer durchwirkten Betonwand umgebenen Grundstück ein Berger Allemand, ein Schäferhund, der mich sofort als feindlichen Landsmann identifiziert und seine umständehalber nicht stillbaren Mordgelüste mit einer Bellkanonade kompensiert. Oberhalb der Kreuzung, auf dem Riesenareal gegenüber der Kooperative, sind bereits, wenn ich noch kaum zu sehen bin, zwei Doggen gestartet und rasen mit einer derartigen Geschwindigkeit auf mich zu, daß der Maschendrahtzaun, der mich von den Bestien trennt, zwei tiefe Beulen davonträgt. Der etwas schüchterne Caniche (Farbe mir nicht bekannt, da er offensichtlich Ausgehverbot hat) im Haus rechts von der Kooperative ist nicht der Rede wert, so daß mich die nächste Attacke erst von den beiden Settern erwartet, die im Garten des Anwesens oberhalb der Stützmauer an der Rue Blaise Pascal patrollieren. Ich muß gestehen, daß deren durch interferierendes Bellen kenntlich gemachte Tötungsabsicht den größten Eindruck auf mich hinterläßt. Sie geifern von der etwa drei Meter hohen Mauer herab und machen jedes Mal, wenn sie meiner ansichtig werden, Anstalten, sich im wahrsten Sinne des Wortes auf mich zu stürzen. Ihnen käme dann, wenn dies je gelänge, der Boxer von der gegenüberliegenden Straßenseite zu 63 Hilfe, der sich für gewöhnlich auf verbale Einschüchterungsversuche beschränkt, aber ganz ohne Zweifel im Blutrausch seine Zurückhaltung aufgäbe und die von den beiden Mauerspringern begonnene Bluttat mit einem finalen Reißbiß beenden würde. Nachdem ich diese Zerberusse am Eingang zum Dorfkern passiert habe, bin ich aus dem Gröbsten heraus. Denn nun beginnen die Häuser ohne Hof- und Gartengrundstücke. Hunde gibt es auch hier mehr als genug, sie sind aber allesamt Straßenköter ohne Revierbewußtsein oder besser gesagt: mit einem rudimentären, gewissermaßen flexibilisierten Revierverhalten: Sie setzen ihre Duftmarken, als gelte es die Welt in Pisse und Scheiße zu ertränken, unterlassen es jedoch, ihren Markierungen allzugroße Bedeutung beizumessen - sie heben die Beine eher beiläufig und kacken durchweg im Laufen. Es herrscht eine aufgeräumte multikulturelle Stimmung, von der ich profitiere, indem ich mich unangefochten durch ihr Territorium bewege, oder vielmehr: relativ unangefochten, denn die vielen Hundehaufen bergen natürlich ein nicht zu verkennendes Restrisiko. Tumult verursacht also hier im Getümmel nicht der ausländische Okkupant, dessen die Pluto, Fido, Michou und Milou plötzlich gewahr würden, sondern die unverhoffte Begegnung untereinander. Da wird sich in der bekannt schamlosen Weise beschnuppert, so als ob die jeweilige soziale Stellung anhand der Anzahl von Colibakterien oder der Bandwurm-Proglottiden zu ergründen sei. Die These, die Philippe Noiret in Bernard Taverniers Film "Der Saustall" aufstellt, leuchtet mir angesichts dessen, was ich hier auf der Straße erlebe, gleichwohl nicht ganz ein. Nach Philippe Noiret hielten die Hunde einmal einen Kongreß ab, zu dem Vertreter aller Rassen geladen waren. Um Konflikte während der Tagung zu vermeiden, mu ßten sie allesamt ohne Ansehen der Person und des Rangs ihr Hundearschloch an der Garderobe abgeben. Die Garderobenfrau ver- 64 wechselte indes die Marken und händigte nach Ende des Kongresses den Teilnehmern die falschen Arschlöcher aus. Dies sei der Grund, so Philippe Noiret in einem melancholischen Resümee, das als Höhepunkt der Filmgeschichte gelten darf, warum die Hunde auf der ganzen Welt ihre Hintern beschnupperten: Sie suchten nach ihrem Arschloch, von dem sie sich seinerzeit nur mit der Erwartung getrennt hätten, es wieder unversehrt zurückzuerhalten. Soweit Noiret. Ich für meinen Teil glaube vielmehr, daß es sich bei dem nasalen Analkontakt um eine, wenn auch primitive Form gegenseitiger Anerkennung handelt. So wie wir uns mit dem Nachbarn weitgehend diskurslos durch ritualisierten Kommunikationsersatz verständigen, so erweisen sich die Hunde gegenseitig Respekt durch den Schnuffeltest. Aber im Unterschied zu den Menschen sind sie wahrhafte Universalisten. Sie beschnuppern unterschiedslos sämtliche hündischen Arschlöcher, die für ihre Schnauzen erreichbar sind, wohingegen die Menschen nach Nähe und Ferne differenzieren. Gewiß könnte man die Worte "schönes Wetter heute", die man an den Nachbarn oder den Geschäftspartner richtet, mit der hinterhältigen Schnuffeltätigkeit des Hundes vergleichen. Dennoch wird man diese Worte nicht an alle verschwenden, deren man ansichtig wird, nicht an den Passanten in der Großstadt, nicht an die Männer von der Müllabfuhr und nicht an die Bedienstete an der Mautstelle. Solche Formeln wie die vom „schönen Wetter heute“ dienen nicht dazu, tatsächliches Expertenwissen, glaubwürdige Mutmaßungen oder Wunschvorstellungen auszutauschen, sie sind wohl aber geeignet, den öffentlichen Raum mit Attributen von Nähe und Distanz zu versehen, ihn quasi zu vermessen, nach diesem Maßstab Intimität zu erzeugen, wo es nicht peinlich, und Anonymität, wo es notwendig ist. Der Mensch schützt sich damit vor Überlastung. Wenn er die Verlegenheitsfloskel vom „schönen Wetter“ benutzt, steht ihm 65 alles offen: Er kann das Gespräch jetzt wieder anbrechen, nachdem er den Gesprächspartner als Seinesgleichen nobilitiert hat, er kann aber genausogut das Gespräch weiterführen und auf einen ihm wichtig erscheinenden Sachverhalt lenken oder mit anderen Worten: vom Uneigentlichen auf das Eigentliche übergehen. Im Umkehrschluß bedeutet das allerdings, daß er die Last der Nähe annehmen muß, wenn er in irgendeiner Form die Vorteile von Geborgenheit und Solidarität sich erhalten will. Aber ich verliere mich in Mutmaßungen, die hier nicht angeraten sind. Was ich sagen wollte, ist, daß die Hunde über ein intaktes Dorfleben verfügen, nicht aber die menschlichen Einwohner. Von Pierre Bourdieu stammt die Erkenntnis, daß ein Dorf gestorben ist, wenn nicht mehr gegrüßt, oder, wie man früher sagte, die Zeit geboten wird. Nur ganz wenige in Péret grüßen sich, und noch weniger unterhalten sich über das Wetter, und die Allerwenigsten vertiefen sich in ein Gespräch oder ratschen oder klatschen. Vor der Bäckerei unterhält sich Madame Simone mit einer Anwohnerin. Ich grüße, registriere einen fragenden Blick der Gesprächspartnerin und höre schon die Antwort Madame Simones: „Un estivant“ („ein Feriengast“) und mit einer kleinen Kunstpause, welche die Bedeutung ihres Wissens wohl überhöhen soll: „Un Allemand.“ Bevor ich den Laden betrete, mache ich noch eine Bemerkung über das Wetter: "Schwül heute." "Ja", antworten die Alten, "aber morgen, wird es noch schwüler." Während die Bäckerin das Geld nachzählt, stelle ich mir vor, daß wir, die Bäckerin, Madame Simone, die Nachbarin und ich, im übertragenen Sinne gerade unsere Hintern beschnuppert haben, und trete bei der Vorstellung der jeweiligen Hinterteile mit gemischten Gefühlen meinen Heimweg an. Kurz vor halb neun fällt ein Schwarm Vögel ein. Von einigen Bäumen hört man einen kurzen, aber heftigen Aufschrei der Zikaden. Ich 66 führe mir vor Augen, wie sich so ein gefiederter Bruder gerade eine Zikade geschnappt hat und sich jetzt mit der Beute unter lebhafter Anteilnahme seiner Kollegen, die leer ausgegangen sind, aus dem Staub macht. Hagen Knotterbeck meint, die Zikaden seien doch ausgesprochen groß, zu groß für die Vögel, außerdem unverdaulich. Die Kinder finden die Vogelattacke in Ordnung, sie haben den Zikaden wegen ihres Lärms und ihres schlechten Aussehens ohnehin keine Sympathie entgegengebracht. Consuelo Vladimir kommt aufgeregt aus dem Garten zurück: ein Papagei, ein Papagei! Ist aber keiner, sondern ein eher durchschnittlicher Vogel mit einem Hauch von Exotik. Er trägt eine braune Kappe, an der Seite glänzen gelbe Federn. Ich identifiziere ihn anhand des hauseigenen Vogelbestimmungsbuches als Stieglitz. Vielleicht ist es aber ein Pirol. Mein Problem ist, daß der Stieglitz so klein ist; der hier ist aber viel größer, aber auch wiederum nicht so groß wie der Pirol. Der Stieglitz oder Distelfink muß ja auf einer Distel landen können, ohne daß diese in die Knie geht. Annie Dillard hat dies in ihrem hinreißenden Buch „Der freie Fall der Spottdrossel“ beschrieben, ein Buch, das auch mich als Naturverächter zugleich bestätigt als auch beschämt hat, so genau und schonungslos geht Dillard mit der grausam-schönen Natur um. Trotzdem weiß ich immer noch nicht, was Consuelo und ich denn da gesehen haben; die Welt der Viecher, ach, ist nicht mein Ding. Ich behaupte also, um nicht vor Consuelo beschämt dazustehen, daß es ein Stieglitz war. Punktum. Morgen hat sie die Begegnung eh vergessen, und ich könnte ihr dann sogar einen ausgewachsenen Eichelhäher unterjubeln. Der “Midi Libre” meldet, daß gestern die Polizei in Aniane einen Exhibitionisten festgenommen hat. Er wird beschuldigt auf der Nationale 109 zwischen Clermont und Gignac, „gewütet“ zu haben (OTon “Midi Libre”). Ich plädiere am Stamm- äh Frühstückstisch dafür, 67 den Unhold mehrmals am Tage kalt abzuduschen - ein Strafmaß, das mir als einem, der notorisch wasserscheu ist, besonders grausam dünkt. Hagen Knotterbeck macht geltend, man habe, um das Strafmaß zu finden, doch zu berücksichtigen, ob sich der Delinquent, was aus der Meldung nicht hervorgeht, entweder im parkenden Auto oder im fließenden Verkehr, womöglich noch jenseits der erlaubten 90 kmh exibitionistisch oder obendrein gar onanistisch betätigt hat. Die Kinder wollen wissen, was ein Exhibitionist ist. Ich verspreche ihnen eine genaue Erklärung, wenn wir mal in Cap d’Agde sind. Auf dem Markt in Paulhan kaufe ich die Zutaten für das Tajine, das für heute abend geplant ist. Obwohl Paulhan zweifellos zu Südfrankreich gehört, und Südfrankreich wenigstens in Zeiten, in denen nationale und regionale Eigenarten noch etwas galten, unter vielen anderen für seine Vorliebe für Schaffleisch bekannt war, ist hier auf dem Markt kein Fleischer zu finden, der Hammel oder Lamm anbieten würde. Nichts. Rien. Nada. Der ortsansässige Metzger immerhin hat noch etwas Lammschulter. Die Dorfschönen, die sich im Verkaufsraum befinden, lassen mir den Vortritt. Vielleicht sind sie sich selbst noch unschlüssig, was sie kaufen wollen, vielleicht haben sie zuviel Zeit und langweilen sich, vielleicht aber sind sie nur neugierig, was dieser Mensch, der vom Aussehen ein Engländer sein muß, mit seiner Kaufentscheidung im Schilde führt. Hat man nicht schon mal was von Lammkeule mit Pfefferminzspinatsauce oder Hammelbraten im Puddingmantel oder ähnlichen Monstrositäten gehört? Sie sind enttäuscht, daß ich mir das Fleischstück bloß zuschneiden lasse und dem Metzger partout nicht mitteilen will, was ich damit vorhabe, so als sei ich ihnen als Exot Rechenschaft über intime Einzelheiten meines Sexual- äh ich meine: Küchenlebens schuldig. Entsprechend spitz fällt ihr "Au revoir, Monsieur" aus, als ich den Laden verlasse. 68 Ähnlich teuer wie mein Fleisch ist das Gemüse, das ich kitschgestimmt am Marktstand erwerbe. Mir ist schleierhaft, wie bei den Preisen, die hier verlangt werden, die französische Küche zugleich alltagstauglich sein kann und ihrem hohen Qualitätsanspruch gerecht werden will. Oder ist es vielleicht so, daß, wenn es heute ein Gericht nach den Regeln der „Cuisine régionale ou authentique ou traditionelle“ gibt, die Hausfrau ihren Lieben am nächsten Tag Pommes aus der Tiefkühltruhe mit den Merguezwurstersatz aus Schweineschabfleisch kredenzen muß? Es ist leicht einsehbar, daß der Durchschnittsfranzose nicht tagaus tagein wie Gott in Frankreich leben kann, daß er aber nicht wie ein Franzose in Frankreich leben kann, grenzt an einen Skandal, der nur noch vom Skandal der amerikanischen Eßgewohnheiten und dem des Welthungers übertroffen wird. Wir genehmigen uns heute einen Ruhetag und verzichten trotz des Protestes der Kinder auf die Annehmlichkeiten des Strandlebens. Die Ameis en scheinen von unserer Anwesenheit allerdings nicht sehr angetan zu sein; der Großteil ihrer Streitmacht bleibt vorsichtshalber in ihren Militärbasen, nur vereinzelt machen sich Späher auf den Weg zur Küche, um anschließend ihren Strategiestäben über uns und unser Treiben Rapport zu erstatten. Die Zurückhaltung der Ameisen ficht uns jedoch nicht an. Wir lassen uns nicht täuschen und stellen vereinbarungsgemäß unser Manifest fertig. In der gegen 15 Uhr endabgestimmten Fassung liest es sich folgendermaßen: 69 Ameisenmanifest I Der Mensch versucht, sich klein zu machen, die Ameisen vermehren sich ungeniert und laufen breitbeinig durch die Gegend. Während der Mensch sich ständig Kränkungen zufügt und beispielsweise behauptet, vom Affen abzustammen oder vom Unbewußten gesteuert zu werden oder ein Gehirn zu haben, das wie ein rostiger Computer funktioniert, ist den Ameisen alles egal, sie wissen von nichts und finden auch nichts dabei, nichts zu wissen. Der Mensch ist voller Zweifel, Ameisen sind dumm. II Der Mensch kann sich nicht riechen, deshalb benutzt er Seife, Deos und Parfüm. Ameisen produzieren Duftstoffe und riechen sich gern. Der Mensch verständigt sich mittels einer hochdiffizilen Sprache. Ameisen senden und empfangen einfachste Botenstoffe. Stark parfümierte Menschen findet der Mensch assi und macht einen Bogen um sie. Ameisen lieben ihr ätzendes Parfüm und kommunizieren desto heftiger, je stärker ihre Ausdünstungen. Der Mensch (von französischen Pinklern abgesehen) ist ein kulturelles Wesen, das präzise Unterscheidungsmerkmale kultiviert, die Ameisen haben ein primitives System von Signalen, denen sie blind folgen. Der Mensch ist raffiniert, Ameisen sind besoffen von sich selbst. III Der Mensch krönt einige seiner Häupter, um sie dann zu köpfen. Die Ameisen haben eine Königin, die ihre Untertanen nach getaner Arbeit köpft. Der Mensch hat eine natürliche (sagen die einen) oder gewachsene (sagen die anderen) Abneigung gegen die Barbarei, die Ameisen sind ganz einfach barbarisch und empfinden auch nichts dabei. Der Mensch ist zur Republik und 70 zur Demokratie befähigt, die Ameisen schaffen es bloß zum Ameisenstaat. IV Der Mensch macht Pläne und konstruiert Bauwerke, die manchmal (weil sie fehlerhaft berechnet sind oder Mängel am Material aufweisen) wieder zusammenbrechen, Bauwerke, die manchmal was taugen und oft auch gar nichts. Die Ameise fängt bedenkenlos an und bohrt und fegt und schichtet, bis das zu sehen ist, was wir Menschen unserer Bequemlichkeit halber Ameisenstraßen und Ameisenhaufen nennen. Der Mensch ist poetisch, die Ameisen sind einfach nur so. V Der Mensch kümmert sich um seinen Verkehr, legt Schienen und begradigt Flüsse, baut Auto- und Datenbahnen, installiert Ampeln und Signalanlagen. Die Ameisen laufen, aus ihrem Bau kommend in eine bestimmte Richtung, was aufgrund ihrer hohen Zahl zu langen, aber schmalen Schneisen in der Natur führt; sie kümmern sich weder um Vorfahrt noch Gegenverkehr und überrennen sich mir nichts dir nichts bei Karamb olagen. Der Mensch muß manchmal die Verkehrsregeln ändern oder seine Straßen zurückbauen oder sich selbst aus dem Ve rkehr ziehen; die Ameisen dagegen überlassen den Rückbau der Natur, kennen keine Regeln und werden allenfalls von Ameisenbären oder sonstigen Feinden aus dem Verkehr gezogen. Der Mensch ist ein Verkehrswesen, die Ameisen sind aus höherer Sicht verkehrt. VI Der Mensch ernährt sich von Tier und Pflanze, nachdem er sie als Lebensmittel veredelt hat. Die Ameisen fressen alles, was ihnen unter die Greifwerkzeuge und Ätzdrüsen kommt, aber am allerwenigsten das, was dem Menschen schadet. Sie schonen nicht nur die Schadtiere des Menschen, sondern tragen auch – 71 wie das in ihrem Verhältnis zur Blattlaus der Fall ist – zu deren ausdrücklichem Wohlergehen bei. Der Mensch ist ein ehrlicher Parasit, der manchmal für seinen Eigennutz bitter bezahlt (indem ihm die Rinder und Schweine und Schafe wegsterben oder der überdüngte Salatkopf sich selbst entzündet oder die unter 10 Atü Wasserdruck stehende Tomate beim Anbiß explodiert). Die Ameisen dagegen schmarotzen und nassauern und fühlen sich prächtig dabei. Der Mensch ist im Bewußtsein seiner Tragik ein tragisches Wesen, die Ameisen sind blind triumphierende Läuse im Pelz der Natur. VII Der Mensch ist dank seiner Fertigkeiten zur eigenen Auslöschung in der Lage. Die Ameisen überleben jede Situation, die der Mensch oder die Natur zu der Ameisen Nachteil herbeiführen - mit einer Ausnahme: das Ende der irdischen und damit auch der Ameisenwelt. Der Körperbau des Menschen ist zerbrechlich, und sein Knochengerüst hält kaum das Zweifache des menschlichen Eigengewichts aus. Die Chitinausstattung dagegen gestattet den Ameisen, gigafachen Belastungen standzuhalten. Der Mensch vermag Lasten von höchstens zwei Dritteln seines Körpergewichts zu transportieren. Die Ameis en befördern mühelos das tausendfache ihrer Körperschwere. Es ist schwierig für den Menschen, eine Ameise zu zertreten. Das Umgekehrte gilt zwar auch, aber es fällt den Ameisen leicht, dem Menschen das Leben zur Hölle zu machen. Der Mensch ist groß und schwach und zartfühlend, die Ameisen sind klein und robust und brutal. VIII Des Menschen Ausscheidungen lassen die Ameisen kalt. Die stark ätzenden Ausscheidungen der Ameisen dagegen sind, wie gewisse Folterriten namentlich asiatischer Völker belegen, in hoher Konzentration für Menschen extrem gefährlich. Zwar hat sich der Mensch die Säure der Ameise in vielerlei Hinsicht 72 zunutze gemacht, doch inzwischen ist er in der Lage, sie künstlich herzustellen. Der Mensch ist schlau und gefährdet, die Ameisen sind dumm und gefährlich. IX Der Mensch belebt in knapp sechsmilliardenfacher, individuell höchst eigenartig geprägter Ausfertigung den Planeten. Die Ameisen, deren Anzahl nach jüngsten Schätzungen weltweit 10 hoch 16 beträgt, sind bis auf die artspezifischen (schwarz/braun, klein/winzigklein) und kastenspezifischen Unterschiede (Arbeiterinnen, Königin, Männchen), also im wesentlichen, völlig gleich. Der Mensch (an)erkennt sich als Person, die Ameisen personifizieren sich als welche, die der Erde aufgrund ihrer hohen Zahl Beine machen. X Der Mensch ist fähig, sich selbst durch Auszeichnung einzelner, vorbildlich sich aufführender Individuen zu überhöhen, auch Tote zu ehren und ihrer auf das Zarteste zu gedenken. Die Ameisen sind, wenn überhaupt, nur in der Lage, gefallene Kollegen beiseite zu räumen oder sie in einem oft geübten Akt des Kannibalismus zu entsorgen. Der Mensch, wenn er sich denn der Menschenfresserei überantwortet hat, hat dies zugleich in einem religiösen Affekt, also in einem höheren Sinn getan. Für Ameisen ist der Kannibalismus nur ein Akt der Müllbeseitigung. Der Mensch ist erhaben gleich den Göttern, die er verehrt, die Ameise ist schäbig wie die Schabe, mit der sie hadert. XI Der Mensch findet keinen Gefallen an den Ameisen. Die Ameisen finden aber Gefallen am Menschen. Der Mensch sorgt unwillentlich für sie, indem er seine Nahrungsmittel nicht restlos verzehrt und immer wieder Krumen und Krümeln und Fasern und Soßenspritzer produziert. Die Ameisen dagegen lassen dem Menschen nichts, aber auch gar nicht über - außer dem 73 Verdruß, den sie ihm durch ihre Existenz bereiten. Der Mensch schmeckt den Ameisen, die Ameisen jedoch nicht dem Menschen. Der Mensch ist Feinschmecker, die Ameisen sind Vielfraße und Menschenfresser. XII Aus all dem folgt: Der Mensch hat das Recht, sich der Ameisen zu entledigen. Wenn dies auch aus Respekt vor der Schöpfung nicht immer und überall geschehen mag, dann doch wenigstens hin und wieder und vor allem da, wo es sich als unumgänglich, das heißt: ziemlich oft als notwendig erweist. Der Mensch weiß das, die Ameisen wissen es nicht. Das ist dem Menschen ein Trost und der ist geeignet, ihm Genugtuung zu verschaffen und den Rang des Menschen in der Schöpfung stets aufs Neue zu beglaubigen. Consuelo Vladimir, Kiki Estragon, Hagen Knotterbeck und Cater Jarim Schon während des Verlesens der Erklärung treten die Ameisen ihren Rückzug an. Wir glauben sogar zu bemerken, daß sie, aufs heftigste durch das Manifest beschämt, in ausgesprochen geduckter Haltung davonschleichen. Ich habe zu kochen und kann mich jetzt ungestört dem für heute vereinbarten Tajine widmen. Dazu benötige ich das Lammfleisch (ich habe etwa anderthalb Pfund netto, also ohne Knochen, gekauft), drei wiederum entkernte und entschleimte Tomaten, zwei große Zwiebeln, zwei kleingehackte Knoblauchzehen, eine rote und eine grüne Paprikaschote, 150 g Rosinen, 150 g Mandelblättchen („amandes effilés“), zwei Kaffeelöffel Honig. Und jetzt, was das wichtigste ist, das Tajine-Gewürz von Amora. Man kann dieses Produkt nicht hoch genug loben, es ersetzt alles, was man in Europa an Gewürzkomposition zusammenstellen kann, und ich bin mir sogar si- 74 cher, dass es auch mit den Zutaten aus einem original marokkanischen Gewürzlabor konkurrieren kann. Das Lammfleisch, das ich mir schon beim Metzger habe in Stücke schneiden lassen, brate ich in Olivenöl scharf an, lasse die Zwiebeln glasig werden, gebe die in Streifen geschnittenen Paprikaschoten und den Knoblauch dazu und rühre die Gewürzmischung unter häufigem Wenden unter. Dann füge ich die Tomaten und die Rosinen hinzu, gieße etwa einen halben Liter Wasser auf, so daß die Fleischstücke nicht ganz bedeckt sind. Das Ganze etwa eine Stunde köcheln lassen, dann bei geöffnetem Deckel die Sauce etwa 10 bis 15 Minuten reduzieren. In der Zwischenzeit die Mandeln in einem Pfännchen vorsichtig so weit erhitzen, daß sie eine braune Farbe annehmen (aufgepaßt, daß sie nicht verbrennen, dann werden sie bitter), Honig unterrühren, Mandeln, eventuell kleingehackte glatte Petersilie draufgeben. Fertig. Man kann das Gericht auch noch sehr viel schonender in der Röhre zubereiten. Dazu brät man das Fleisch wie geschildert an, schmort das Gemüse zusammen mit dem Tajinegewürz und etwas Brühe ungefähr eine halbe Stunde, bevor man die restlichen Zutaten dazugibt und das Ganze im geschlossenen Topf in der Röhre bei 150 Grad rund anderthalb Stunden gar werden läßt. Bei der Tajine-Zubereitung sind der Fantasie keine Grenzen gesetzt: Es gibt Tajine ohne Kartoffeln, dann aber mit Couscous oder Reis oder sogar den dicken grünen Bohnen (fèves) als Beilage. Statt Paprika kann man auch Feigen oder Pflaumen verwenden, man darf auch die Rosinen durch grüne entkernte Oliven ersetzen (in diesem Falle, auch bekannt als „Tajine de Provence“, würde ich aber drei Eßlöffel Honig hinzufügen). Huhn ist auch erlaubt (dann sind zwei, drei Scheiben Zitronen, die mitgeschmort werden, geschmacksfördernd), nur bei Schweinefleisch würde ich mich vergewissern, ob nicht ein mit einem Krummschwert bewaffneter Gotteskrieger in der 75 Nähe ist. Tajine-Gewürz kann man natürlich auch selbst herstellen. Ich habe bei den Schriftgelehrten der arabischen Küche nachgeforscht und gelernt, daß folgendes vermengt werden muß: ein Eßlöffel Ingwer, ein Eßlöffel gemahlener Zimt, eine gute Messerspitze Safran, Koriander (ein Eßlöffel gemahlen oder 50 Gramm frischer Koriander gehackt), etwas Kreuzkümmel („cumin“!, nicht unser bei den Völkern des Mittelmeeres und auch bei den Franzosen weitgehend unbekannte Kümmel, der „carvi“ heißt). Verwendet man frisch gehackten Koriander, dann sollte er erst am Schluß der Ga rzeit hinzugefügt werden, weil er ansonsten sein Aroma verliert. Ich serviere zum Tajine einen Sidi Brahim Rosé, den berühmten algerischen Wein, der auch als Rouge erhältlich ist. Er stammt aus dem „HyperU“ und enttäuscht auf der ganzen Linie. Ein guter Sidi Brahim, den es bei uns manchmal in Dritte-Welt-Läden gibt, hat ein Aroma, das die besten Kräuter der Provence mit Weihrauch und Myrrhe aus dem Morgenland vereinigt, ein Aroma, das sich am besten entfaltet, wenn man ihn gut gekühlt kredenzt und dann, wenn er zum Munde geführt gerade seine Kältestarre überwunden hat. Nach dem Essen, das in aller Bescheidenheit gesagt, alles übertrifft, was ich bisher an Tajines genießen durfte (es waren zwei), gehe ich mit den Kindern ins Dorf, um ein bißchen südfranzösische Abendstimmung einzufangen und um - wenn der Dunst es zuläßt, von der Höhe des Weges oberhalb der Häuser einen Blick auf Casablanca zu riskieren. Wir nehmen dazu den Chemin des Roques bergwärts. Vo n den Nachbarn sehen wir trotz der Feierabendstunde keine Spur. Im Unterschied zu den Gartennazis in Deutschland, die sich um diese Tageszeit kollektiv der Köpfung von Halm und Blatt, der Extirpation des Vegetativen zugunsten der autorisierten Ve rsteppung (Nietzsche: „Extirpation des deutschen Geistes zugunsten 76 des Deutschen Reiches“) widmen. Nur die Hunde nehmen uns zur Kenntnis, und wenn ich sage, die Hunde nehmen uns zur Kenntnis, dann heißt das, daß wir an jedem Anwesen von wenigsten drei Exemplaren der unterschiedlichsten Rassen bebellt, bewinselt, beheult und bekläfft werden. Wir biegen am höchsten Punkt des Wegs in die Rue de l’Egalité ab. Die Nummer eins der Rue de l’Egalité ist von Engländern bewohnt, und ich nehme die Ironie der Geschichte zu den Akten, daß ausgerechnet die Angehörigen jener Nation, welche die Exilanten des Ancien Régime so gastfreundlich aufgenommen hat, die Nummer eins des im Straßennahmen inkorporierten Gleichheitsideals der Großen Revolution sind. Ich erzähle das Mme Knotterbeck, aber das erwartete Lob für meinen Assoziationsreichtum bleibt aus. Ihrer Meinung nach besteht die Ironie der Rue de l‘Egalité darin, daß der Dorffriedhof mit seiner Front fast die gesamte Länge der Straße einnimmt – „denn im Tode sind wir doch alle gleich, oder?“ Von Casablanca ist nichts zu sehen, wir kommen noch nicht einmal bis Barcelona, ja streng genommen noch nicht einmal bis zum 20 Kilometer entfernten Pézenas. Die Luft ist zu diesig. Freitag, 30. Juni Der “Nouvel Observateur” titelt José Bové. Dazu ein achtseitiges Farbsupplement “30 Jahre Larzac”. Der Anlaß: Heute beginnt der Auftakt des Prozesses wegen der “démontage” des McDonaldsRestaurants, und dazu werden in Millau, zugleich Tatort und Stand der Gerichtsbarkeit, heute abend mehrere zehntausend Demonstranten erwartet. Auch der “Midi libre” erscheint mit einem Sonderteil: auf dem Titel der Angeklagte mit gereckter Faust. Die Redaktion hat aber sichtlich Mühe, sich zu entscheiden zwischen ihrer eigenen Bonhommie, der sie selbstverpflichtet ist, und der Sympathie für 77 Bové, die ihnen offenbar die breite Leserschaft abverlangt. Dafür ist der Serviceteil des Supplements tadellos: mit Stadtplan, Hotelverzeichnis, Fahrplänen und natürlich dem volls tändigen Programm. Ein kleines Woodstock soll stattfinden in, wie es beziehungsreich heißt, „Seattle-sur-Tarn“, ein Woodstock mit französischen Rockgrößen wie Noir Désir (Frontmann Bertrand Cantat ist wegen Totschlags seiner Lebensgefährtin Marie Trintignant noch nicht eingebuchtet) und Altbarden wie Patric, Protestsänger aus der Zeit, als man den Larzac gegen die Militärs verteidigte. Dazu süffige Fotos: José Bové mit Schäfchen, mit Handy, mit Pfeife, in Handschellen aber diesmal ohne Pfeife, mit Pressevertretern in Seattle, einer Abordnung der amerikanischen Verbraucherschutzorganisation “Citizen people” Roquefort und Rotwein kredenzend und schließlich vor dem inzwischen fertiggestellten McDo in Millau. Wir aber fahren nicht die etwa 90 Kilometer nördlich nach Millau, sondern nehmen die südliche Richtung zum gut 40 Kilometer entfernten Strand, wir sind ja nur Touristen und wollen uns tunlichst als solche verhalten. Für Millau, das im engen Tal der Tarn eingangs der Gorges du Tarn liegt, ist ein Verkehrschaos vorausgesagt. Ein Grund mehr, die Gegenrichtung zu nehmen. Da heute die französischen Ferien beginnen, wird in den nächsten Stunden die erste Tranche der nordfranzösischen Urlauberschaft in den Süden einfallen. Es gibt ja zwei traditionelle Transitstrecken von „Paris“ (dem Synonym für ganz Nordfrankreich) in den Süden. Zum ersten die Nationale 7, die legendäre, von Charles Trenet schon besungene „Sätt“, und parallel dazu die “Autoroute du Soleil”, die Paris mit der Côte d’Azur verbindet und die auch die deutschen Spanienurlauber ertragen muß. Zweitens die Nationale 9, die geradewegs von Paris zum Languedoc/Roussillon führt. Wegen der ungünstigen Topographie war für eine Paralleltrasse kein Platz mehr, und so wurde die 9 zur Autobahn ausgebaut, bis auf einen kleineren Streckenab- 78 schnitt um Millau und einen größeren von Clermont zum Meer. Was das bedeutet, eine Autobahn zwischen zwei engstehenden Platanenreihen, werden wir spätestens morgen erfahren. Heute also Badetag am Meer als letzte Gelegenheit in der Vorsaison. Wir kommen in Marseillan-Plage an und schlagen uns durch die schmalen Dünenpassage an einer Toilettenanlage vorbei zum Strand durch. Nach einer Stunde starker Blasendruck. Da ich kein Franzose bin, der des öffentlichen Urinierens mächtig ist, stehen mir zwei Möglichkeiten offen: zu den Toiletten (der Luxus-Version des „Toi Toi“) gehen und dort mein Wasser abschlagen, wobei die sachgerechte Bedienung des Roboterklos bei akutem Harndrang (zumal durch einen Nichtfranzosen) ein Ding der Unmöglichkeit ist; oder ins Meer pinkeln, was ich aber aus mehreren Gründen unterlasse: Erstens ist das Wasser zu kalt und aufgrunddessen die Selbstblockade sprich: der Harnverhalt unvermeidlich, zweitens erscheint es mir nicht angeraten, auf diesen Seiten mein „coming out“ als Wasserpinkler zu dokumentieren, und drittens habe ich bei Ertapptwerden mit einem starken Verweis durch Mme Knotterbeck zu rechnen. Dessen unbeschadet, das muß ich hier doch mal zu Protokoll geben, toben die Kinder stundenlang im Meer herum, ohne ein einziges Mal von Hagen Knotterbeck befragt zu werden, warum sie denn nicht wie üblich stundenweise die Bläschen entleert hätten. An den Toiletten, die durchaus nicht den Eindruck einer „Klappe“ machen, lungern „loubards“ (also die halbwüchsigen Tagdiebe) herum. Sie warten allem Anschein nach nur darauf, daß sich ein des französischen Toiletten-High-Techs Unkundiger in den Bedienungsschritten verheddert, die den Zugang zum Örtchen, die hygienegerechte Entsorgung und den geregelten Rückzug von den Örtlichkeiten regeln. Beim Gedanken daran, daß ich mit meinem dringenden Bedürfnisangelegenheiten für den Spott der kleinen Strolche sorge, und ich selbst bei der Entsorgung zu allem Unglück noch von der 79 Automatiktür gefangen genommen werde, mache ich mir schon auf halben Weg in die Hosen. Nicht zu vergessen auch die Zwangsvorstellung einer Testikelverbrühung durch Eau de Javel oder eine vergleichbar ätzende Chemikalie, die sich bei der Selbstreinigung aktiviert. Urrrghhh. Vorbei die Zeiten, als französische Klos noch Klos waren und Zeitungspapier der höchste aller Komforts darstellte. Obwohl es auch hier Bedenklichkeiten gab, freilich ganz anderer Art. Beispielsweise erschien bis 1956 die katholische Zeitung „La Croix“ mit einem Kruzifix im Titel. Dieses wurde in Wallfahrtsorten vom örtlichen Hotel- und Gaststättenpersonal sorgfältig entfernt, damit fromme Pilger nicht genötigt waren, das Kreuzzeichen mit ihren nackten Hintern in einen entwürdigenden Zusammenhang zu bringen. Undenkbar auch, daß ein in modernen Toiletten verlorengegangenes Gebiß wieder zu seinem Besitzer zurückfindet. Eine meiner Großtanten hatte Ende der vierziger Jahre nach einer Wallfahrt zum Othilienberg im Elsaß zu stark dem Edelzwicker zugesprochen und mußte sich auf dem Plumpsklo des „Café du Commerce“ in Keskastel übergeben. Das Gebiß, dessen Verlust sie bei dieser Aktion zu beklagen hatte, wurde ihr in einem Päckchen 1957 – fast zehn Jahre nach dem Vor-, ich meine: Reinfall, zugestellt. Es war bei der Entleerung der Sickergrube gefunden worden, und der Patron hatte sich noch seines damals schwer derangierten Gastes erinnert. Hier ist aber kein Plumpsklo, und bevor ich unter dem Gelächter der „loubards“ an den Zugangsvoraussetzungen des Automaten scheitere oder mir sonstiges Unbill widerfährt, gehe ich lieber ins Café, muß dort aber gleich zweimal gehen. Erstens, bevor der Kaffee kommt, zweitens nach dem Kaffee. Jean Paul (nicht Sartre, sondern Jean Paul Richter, Autor und Biertrinker aus Bayreuth): „Wenn ich Kaffee vor dem Saufen trinke, muß ich zuviel pissen.“ Ich bitte um Entschuldigung für die derbe Ausdrucksweise, aber sie stammt von 80 einem der größten unserer Dichterheroen und entspricht im übrigen der Wahrheit. Gegen vier haben wir die Nase voll vom Strand mit seiner weithin sichtbaren Toilettenanlage und entschließen uns, in Bouzigues zu Abend zu essen. Die Zeit bis zum Essensgang vertreiben wir mit einer Promenade in Marseillan, dem sich ein Kontrollbesuch bei Noilly-Prat anschließt. Noilly-Prat ist ein wohlschmeckender Aperitif, der aus den Weinen der Umgebung (Pittbull, äh Picpoul und Clairette) gewonnen wird. Dazu werden die guten Tropfen mit Wermut versetzt und in Eichenfässern gelagert, und zwar unter freiem Himmel. Die Hitze des Languedoc, die sich sommers über die jeweils 600 Liter fassenden Eichenfässer legt (von denen manche schon über hundert Jahre alt sein sollen), trägt zum Reifeprozeß bei, die Kälte im Winter sorgt für die Läuterung der Destillate. Die Aromen tauschen sich dann mit denen des Holzes aus, und die Flüssigkeit reduziert sich ein wenig: um "la part des Anges" - um den Anteil, der den Engeln zusteht. Aber auch diese Stufe des Herstellungsprozesses macht noch nicht das ganze Geheimnis des Noilly-Prat aus. Die Zutaten selbst läßt man vor ihrer Verwendung in Fässern reifen, die je nach dem aus italienischer oder französischem Eichenholz bestehen. Die Ingredienzen sind bis auf die Trägerweine geheim, die Formel wird seit Anfang des 19. Jahrhunderts, als Joseph Noilly, den Aperitif erfand, in etwa so streng gehütet wie jene von CocaCola. Die Eichenfässer lagern zur Bestandssicherung ihrer aromatischen und olfaktorischen Potenzen auf einem mit starkem Maschendrahtzaun bewehrten Gelände, so daß männliche Passanten keine Chance haben, mit ihrer Duftmarke zu einer geschmacklichen Modifikation des Noilly-Prat beizutragen. Der Noilly-Prat ist ein Apertif, wie er sein sollte: Er heizt den Magen an, im Gegensatz zu anderen Aperitifs, die den Kopf vernebeln, 81 wie der Pernod (muß man leider sagen), oder den Gaumen verkleben, wie ein zu gut gemeinter Kir. In den Verkaufsräumen der Firma klärt uns eine freundliche Verkäuferin freilich auf, daß es auch einen „Noilly-Prat très douce“ gibt, den man als Dessertwein zum Käse oder zur Süßspeise nimmt. Ich sage: “Also eine Art Muscadet.” Sie sagt: “Genau, nur besser.” Mme Knotterbeck sagt: “Oder wie ein Gewürztraminer.” Sie sagt: “Oh là là, sagen Sie das hier nicht zu laut.” Gewürztraminer scheint hier der Gipfel der Abartigkeit zu sein. Zur Essenszeit in Bouzigue: wunderbare Abendstimmung, die einen zusätzlichen Reiz dadurch gewinnt, daß Bouzigue wie ein Fischerdorf am Lago di Garda aus den 50er Jahren wirkt. Das Geheimnis des ungetrübten Erscheinungsbildes: Es gibt keine Durchgangsstraße, die den Ort von der Küste trennt. Der Reiz hat seinen Preis. Im Vergleich zu Sète mit seinem starken Wettbewerbsdruck in der Gastronomie muß man hier mit einem Preisaufschlag von gut 50 Prozent rechnen. Wir essen Muscheln und anderes Meeresgetier gratiniert, mariniert und farciert. Dazu im Hauptgang Sardinen frittiert (erkennbar auf Holzkohle gegrillt), und dazu wiederum, weil es auch der Michelin-Führer befiehlt, Picpoul gut dekantiert und von der Säure kaum strapaziert; wir nehmen aber auch wegen unseres großen Durstes viel Wasser mit einem echten Appell an Geschirrspülung. Im Lokal sind mittlerweile alle Tische besetzt, viel Publikum aus Sète – schätzungsweise obere Mittelschicht, die sich in ihrer Mittelschichtsselbstgerechtigkeit an einem Tag wie diesem mit Goldanker-Blazer (die Herren) und golddurchwirkter weißer Chiffonkutte (die Damen) präsentiert. Die Patronin hat Schwierigkeiten mit meiner Kreditkarte. Sie ist es nicht gewöhnt, daß Ausländer keine inländische Pin-Nummer parat haben und den Zahlungsvorgang allein durch ihre Unterschrift beklau.. äh ich meine: beglaubigen. Der polyglotte Kellner (Omerta-Italienisch, Aztekenspanisch und Pidgin- 82 Englisch), der wohl schon 24 Restaurants an der Côte d’Azur hinter sich hat, hilft ihr auf dem Sprung zur Mondanität. Auf dem Rückweg ertönt aus dem Autoradio: „Baiser les coquillages“ der französischen Wavegruppe Niagara. Was man vornehm als “die Krustentiere küssen”, weniger vornehm aber eingedenk einschlägiger Metonymien als „die Muschel f...“ übersetzen könnte. Zu Hause: keine Ameisen. Hat das Manifest gewirkt? Oder sind sie bloß unsichtbar, weil sie schon zu Bett gegangen sind? Aufkeimendes Triumphgefühl, leicht bewölkt von Zweifeln. Deshalb letzte Spülung mit der Domaine du Temple. Es ist zum ersten Mal hier unten völlig windstill, und ein leichtes Sirren gibt uns eine Vorahnung davon, daß wir demnächst mit stark juckenden Pusteln zu rechnen haben. Um elf spätabends Anruf von Colette aus Vézelay im Burgundischen. Colette habe ich auf irgendeinem dieser typischen 70erJahren-Meetings in Straßburg kennengelernt. Sie kündigt an, daß sie und ihr Lebensgefährte nicht, wie geplant nach Millau, zur “manif”, zur Demo, kommen könnten, weil Bertrand mal wieder unpäßlich sei. Die beiden bewohnen eine alte Abtei nahe Vézelay, mit der sie auch schon viel Pech hatten (zu kalt, zu teuer in der Unterhaltung und ständig Ärger mit den Denkmalschutzbehörden), aber dieses Dauerpech ist lächerlich im Vergleich zu jenem PermanentUnglück, auf das Bertrand abonniert ist. Bertrand nämlich ist ein Künstler, Aktionskünstler; er sieht so aus wie der Frankfurter Künstler Henner Drescher, mit dem ich zu jener Zeit, als er noch „Jesus von Sachsenhausen“ genannt wurde, öfters mal „dribbdebach“, also in Sachsenhausen, im „Abtskeller“ und beim „Kochersperger“ versackt bin. Nur im Unterschied zu Henner, der seinen „objets trouvés“ aus den Shredderanlagen des Osthafens neue 83 Bedeutungen verleiht (Motto: „corriger la fortune“) und im Unterschied zu Henners massiver Erscheinungsweise ist Bertrand weniger diesseitig, er ist gewissermaßen ätherisch im Anspruch und überschreitet regelmäßig die Grenzen seiner Möglichkeiten. Das kommt zwar einem veritablen Künstler durchaus zu, Bertrand aber gereicht es zum Verhängnis, einem multiplen Verhängnis, einer Katastrophe in Raten. Die Feuilletons berichten für gewöhnlich nur über gelungene Aktionen, zum Beispiel eine Verhüllung des Kilimandscharo-Gipfels oder ein Kühlschrankhappening mit Kühlschränken, die zu einem Kühlturm aufgestapelt sind. Weitgehend unbemerkt bleiben die Aktionen, die mißlingen, bei denen der Künstler hachhaltige Schäden an Leib und Seele davonträgt. Gewiß, man hört hin und wieder von Selbstverstümmelungen, doch bleibt dabei meistens unklar, ob es sich um ein geplantes Ereignis oder um ein Versehen handelt; so zum Beispiel die Schweigeaktion von Peter Weibel, der sich die Zunge hat einbetonieren lassen, und bei der ein Stück verloren ging, als sie nach Beendigung der Aktion mit einem Preßlufthammer freigelegt werden mußte, oder - um beim Beispiel Zunge zu bleiben eine Aktion Robert Rauschenbergs, der sich seine Maullasche stempelte, dabei aber dummerweise eine Spezialtinktur verwendete, die ihm auf Monate jeden Eß- und Trinkgenuß vermieste. Nun, Bertrand ist wie gesagt ein Aktionskünstler, und zu seinen spektakulärsten Unternehmungen, die schief gegangen sind, gehört der Start einer Rakete aus dem 60 Meter tiefen bis dahin betriebsfähigen Brunnen der Abtei. Bertrand hatte nicht berücksichtigt, daß die startende Rakete in dem engen Schacht einen Unterdruck erzeugt, der wiederum die Implosion des Bauwerks bewirkte, worauf auf dem Grundstück nicht nur ein gehöriger Krater entstand, sondern auch der Denkmalschutz auf den Plan gerufen wurde, die wie- 84 derum unseren Freunden eine saftige Geldstrafe aufbrummte. Die Geldbuße fiel aber weit geringer aus als die Kosten einer Wasserleitung aus dem zwei Kilometer entfernten Ort. Ebenfalls eine tüchtige Strafe – diesmal von der Feuerwehr und den Naturschutzbehörden – brachte Bertrand der Start eines hundert Meter breiten Drachens im Département Drôme ein. Auf ihm war nur die Abbildung des Himmels über der Drôme zu sehen – gemeint war die Aktion, wenn ich es richtig verstanden habe, als Spektakularisierung eines unspektakulären Ereignisses, nämlich des ruhenden Sternenhimmels über der Drôme. Eine plötzlich aufkommende Windböe, wie sie dort zwischen Rhône und Alpen gar nicht selten sind, ließ das Ungeheuer an einer von Pierrelatte kommenden 800 Kilovolt führenden Stromleitung anlanden. Die Folge war ein ziemlich teuerer Kurzschluß und ein vergleichsweise preiswerter kleiner Flächenbrand. Diesmal, so Colette, war das Unglück etwas harmloser. Es steht noch nicht fest, ob die Zehen von Bertrands rechtem Fuß verloren sind; möglicherweise werden sie nach der sechsstündigen Operation, die im übrigen ohne Komplikation verlaufen sei, wieder anwachsen. Bertrand hatte eine veritable Guillotine in Betrieb gesetzt, die eine Melone so zerteilen sollte, daß die herabfallenden Hälften wie bei Tinguelys Maschinen einen komplizierten Mechanismus in Gang setzen, an dessen beiden Enden kleine Roboterarme jeweils das Buch von François Furet zur Französischen Revolution vorwärts und das von Albert Soboul (ebenfalls zu diesem Thema, aber mit gegenteiliger Aussage) rückwärts blättern sollte. Eigentlich war dies gedacht, um das Thema „Das Sein, das Ereignis und die Interpretation“ zu versinnbildlichen, uneigentlich klemmte der Mechanismus des Fallbeils. Bertrand hatte sich in die Höhe strecken mü ssen, wobei er mit den Zehen über die Führungsschiene hinaus gelangt war. Ich wünsche ihm gute Besserung. 85 Bei dieser Gelegenheit frage ich Colette nach ihrer Meinung zu Bové: “Historisch erwiesen ist”, sagt Colette, “daß die Mericanos (sie meint damit die Amerikaner) im Zweiten Weltkrieg normannische Käsefabriken bombardiert haben. Warum? Weil sie diese für Giftgasbetriebe hielten. Der Frevel steckt wahrscheinlich noch tief im kollektiven Unterbewußten Frankreichs, und jetzt, wo die Mericanos endgültig siegen und mit ihren McDos ganz Hexagone (damit meint sie das französische Territorium) überziehen, während sie die Käsefabriken, die den Weltkrieg überstanden haben, von Procter & Gamble aufkaufen lassen, jetzt, wo also die Geschichte ihrem Ende entgegengeht, regt sich endlich Widerstand. Aber wie José Bové den Roquefort zum Symbol unserer Kultur überhöht, das geht mir zu weit. In der französischen Revolution haben sie den Kalender durch ein Dezimalsystem ersetzt und Gott durch die VERNUNFT in Großbuchstaben. Was die Bovisten betrifft, ersetzen sie den Sozialismus, an den sie vor ein paar Jahren noch geglaubt haben, durch Roquefort. Neh, also wirklich.” “Und da fällt mir noch was ein”, so Colette weiter, “sind Bovisten nicht Pilze, die sich in Staub auflösen, wenn man drauftritt?” Ich sage: „Die verwechselst du mit den Beutelstäublingen.“ Colette sagt: „Das ist doch egal, ihr deutschen Besserwisser.“ Aber, sie wäre trotzdem gern gekommen, nach Millau, und man hätte sich treffen können, ob in Millau, um Millau oder um Millau herum. Schade. Samstag, 1. Juli Gegen vier Uhr morgens zieht ein Gewitter auf. Es blitzt und donnert bis fünf. Hagen Knotterbeck schickt mich auf die Terrasse, Wäsche abzuhängen, Polsterauflagen sicher zu stellen und die Lä- 86 den zu überprüfen. Ich tue klaglos, wie mir geheißen. Das „Château Fitz“ ist jetzt eine unbezwingbare Trutzburg. Kaum liege ich wieder im Bett und versuche, mich trotz des Lärms und des Tobens der Naturgewalten erneut in Morpheus Arme zu begeben, fragt Mme Knotterbeck: „Und die Gartendusche?“ Ich: „Was für eine Gartendusche?“ Mme Knotterbeck: „Die Dusche im Garten?“ Ich: „Wieso die Dusche im Garten?“ Mme Knotterbeck: „Stell‘ dich nicht so blöd. Hast du sie abmontiert?“ Ich: „Warum abmontiert?“ Mme Knotterbeck: „Weil da der Blitz reinschlagen kann und dann unser Haus abfackelt.“ Ich: „Ich habe noch nie gehört, daß der Blitz in eine Gartendusche gefahren wäre“ (In Wirklichkeit habe ich bisher noch nie überhaupt etwas von Gartenduschen gehört). Mme Knotterbeck: „Du gehst jetzt hin und baust das Ding ab. Oder willst du, daß ich hier vor Angst vergehe?“ Ich: „Und wenn der Blitz in mich einschlägt? Ich geh‘ nicht!“ Mme Knotterbeck sagt nichts mehr, sie droht nur noch durch Schweigen. Als ich leicht hinüberdämmere, macht sich auch schon der Alp unerledigter Gedanken bemerkbar: Klar und deutlich steht die Wasserfontäne vor Augen, die aus der vom Blitz verfetzten Gestänge emporsteigt, während ein weiterer Teil meines Ich verzweifelt den Haupthahn vom „Château Pohl“ sucht und natürlich nicht findet. Was ist zu tun? Sofort abreisen und die Dinge möglichst schnell hinter sich zu lassen? Versuchen, mit dem restlichen Tintenfisch im Kühlschrank oder mit einem PicpoulKorken das Leck abzudichten? Oder den Nachbarn, den Erbauer des Hauses, um Beistand zu bitten? Dies wäre wohl die praktikabelste, aber zugleich auch riskanteste Lösung. Denn wenn Sie einen Franzosen in seinem „Maison de champagne“ um vier Uhr morgens aus seinem Bau locken, dann laufen Sie unweigerlich Gefahr, entweder von seinen Wachhunden zerfleischt oder von den DumdumGeschoßen aus seinem Jagdgewehr durchsiebt zu werden. Die Todesstrafe ist zwar seit 1981 abgeschafft - aber nur die Todesstrafe, die von Organen des Staates vollzogen wird. Die Todesstrafe durch 87 den Verteidiger des privaten Immobilienbesitzes zumal in Südfrankreich ist nach wie vor nicht nur legitim, sondern sogar legal. Sie wird von jedem Gericht als Putativnotwehr überaus positiv sanktioniert – der Vorsitzende Richter pflegt mit seinem Lob für die vorausschauende, besitzstandswahrende und nachgerade staatsbürgerlich vorbildliche Haltung des Beklagten nicht eben sparsam umzugehen. Wäre dem nicht so, wäre für die Besitzlosen und Entrechteten, die mit einem falschen Paß verschärften Mundraub oder ähnliche Kapitalverbrechen begangen haben, kein Platz mehr in den Gefängnissen frei – so hoch ist die Mortalitätsrate innerhalb der Einfriedungen französischer Landhäuser. Ich befreie mich aus den Verwicklungen meines Tag-Nachttraums und begebe mich in die Fluten, die vom Himmel auf das Anwesen am Chemin des Roques stürzen. Aber wo ist die Gartendusche, hat der Blitz etwa...? Und sind das tatsächlich Wassermassen, die vom Himmel stürzen, oder handelt es sich um ein gigantisches Duschbad auf Kosten der Pohl‘schen Wasserrechnung? Ich krieche durch den Schlamm und finde endlich den Hahn, er ist vollkommen intakt, nur die Gartendusche ist weg. Wie sich herausstellt, hatte Hagen Knotterbeck in eigener Person das Ding abmontiert und in den Schuppen gestellt, am Vorabend schon – was sie natürlich alles abstreitet, als ich völlig durchnäßt und von Blitzen geblendet in die Schlafkammer zurückkehre. Ich kann nicht wieder einschlafen. Deshalb stehe ich auf und mache mir eine Tasse Ricorée. Ricorée, inzwischen zur Firmengruppe Nestlé gehörend, ist seit Jahrzehnten der unbestrittene Marktführer unter den französischen Pulverkaffees. Er schmeckt scheußlich und macht süchtig, eigentlich gute Voraussetzungen für eine erfolgreiche Schadenersatzklage gegen Nestlé. Die Nacht verabschiedet sich, das Gewitter verzieht sich, der Himmel klart auf, die Sonne schaltet den Deckenfluter an, die 88 Nachtmahre verdünnisieren sich, und schon stimmen die ersten Zikaden ihre Instrumente, zeigen sich bereit, gleich mit ihrem Konzert loszulegen. Um halb acht gehe ich wie gewohnt ins Dorf. In der Rue Jean Jaurès paßt mich Madame Simone ab, um mir wortreich über das Unwetter, das Ereignis des Tages, ich meine der Nacht Bericht zu erstatten. Auch ihr Mann sei beinahe vom Blitz getötet worden, leider habe ihn aber ein Prostatakrebs dahingerafft, wie bei Mitterrand. Riesiger Tumor, aber viel größer als der von Mitterrand, hä hä.“ 44 Jahre waren sie verheiratet gewesen. Später auf dem Markt in Pézenas. Der Weg dorthin ist beschwerlich – eine endlose Autokolonne mit bleichgesichtigen und völlig übernächtigten Urlaubern aus „Paris“ schiebt sich in Richtung Küste. Wir sind froh, daß wir nach wenigen Kilometern in Höhe des Pont de Montagnac die zweispurige „Autobahn“ wieder verlassen dürfen. Für die knapp fünf Kilometer von der Kreuzung bei Adissan bis zur Abfahrt am Pont haben wir eine dreiviertel Stunde gebraucht. Pézenas ist ein hübsches zwischen Péret und der Küste gelegenes mittelalterliches Städtchen, dessen touristisches Alleinstellungsmerkmal darin besteht, daß Molière mit seiner Truppe einige Jahre hier wirkte. Von daher versteht es sich, daß der Markt von unseresgleichen, die den Namen Molière irgendwie schon mal gehört haben, überlaufen ist und als Folge davon mit gesalzenen Preisen zu rechnen ist. 90 Prozent der Händler sind unter 35 Jahre alt; sie identifizieren mit Kennerblick die Touristen und preisen ihre Ware gleich in Englisch an. Die wenigen älteren Marktbeschicker konzentrieren sich auf Einheimische und lassen ihren Charme mit bilderreichen Gesten bei vollem Körpereinsatz spielen. Das Wetter ist bedeckt, schwül, aber mit leicht reduzierten Temperaturen. Ich koche Linsen auf provenzalische Art. Wir trinken dazu circa fünf bis sechs Liter Wein und lasse uns von den Mustiken 89 beißen. Aber bevor ich Gefahr laufe, den Film zu verlieren, hier noch schnell das Rezept. Es ist ganz einfach: Linsen auf provenzalische Art benötigen Rotwein und lassen sich auch noch mit 2,899 Promille produzieren. Man braucht dazu ein Pfund Linsen, die am Vortag eingeweicht oder - wenn es sich um moderne Linsen handelt - nach Packungsangaben zubereitet werden. Am besten sind die kleinen kernigen, nicht die bei uns üblichen blassen Schällinsen, die bereits im kalten Wasser zu einer Art Erbswurst-Schlamm aufquellen. Ein halbes bis ein dreiviertel Pfund in schmale Streifen geschnittenes Dörrfleisch („petit salé“), zwei kleingehackte Zwiebeln, zwei gewürfelte Karotten, drei Knoblauchzehen, zwei Tomaten (wiederum entkernt / schleimt), zwei Eßlöffel Mehl, einige Nelken, zwei Lorbeerblatt, ein Zweig Thymian. Die Linsen (wenn es sich um eingeweichte handelt) werden mitsamt dem Lorbeerblättern, den Nelken und dem Thymian al dente gekocht, das Kochwasser ab-, aber nicht weggeschüttet. Das Dörrfleischstückchen werden unterdessen angebraten, die Zwiebeln im Fett glasiert, die Karottenwürfel dazugegeben, die kleingeschnittenen Tomaten sowie die ausgepreßten Knoblauchzehen untergerührt und so lange geschmort, bis sich die Hymen der Tomaten zusammenkrümeln. Eventuell muß jetzt noch etwas Butter oder Olivenöl zugegeben werden, um das nunmehr einzurührende Mehl aufzunehmen. Das Ganze anschwitzen, mit einem Glas Rotwein anlöschen, soviel Linsenwasser zugeben, damit eine saucenartige Konsistenz erreicht wird und mit Gemüsebrühenextrakt, Salz und Pfeffer abschmecken. Die Linsen mitsamt den Gewürzkräutern hinzugeben und etwa zehn Minuten mitköcheln. Kenner geben nicht einfach die Nelken und die kleingeschnittenen Zwiebeln hinzu, sondern spicken eine Zwiebel mit den Nelken und lassen das Gebinde von Anfang an 90 mitkochen. Dies hat einen gewissen dekorativen Effekt, der noch unterhalb der Grenze zum Chichi zur Entfaltung kommt und deshalb auch in meinen Augen gerechtfertigt ist. Sonntag, 2. Juli Um neun Uhr ins Dorf. Das Brotdepot hat am heutigen Sonntag geschlossen. Deshalb muß ich mit der Alimentation vorlieb nehmen. Vor dem Eisengitter eine Gruppe aufgeregt schnatternder Frauen. Entweder ist der Bäcker noch nicht eingetroffen, oder Monsieur le Boucher, der Ortsmetzger und Inhaber der Alimentation, hat verschlafen. – Kein Herankommen ans Brot. Ich kehre unverrichteter Dinge wieder zurück. Denkbar, daß Monsieur le Boucher in der Nacht zu lange geöffnet hatte. Denn zwischen Fleischertheke und Alimentationsregalen stehen drei Tische, die bisweilen von Spuren heftiger Zechgelagen gezeichnet sind. Auf einem weiteren Tisch lümmelt ein betagter Computer. Er dient bei nächtlichen Zusammenkünften vermutlich als Mäusekino für Pornos aus dem Internet. Jedenfalls schmückt sich die Alimentation seit neuestem mit einem Schild, das auf ihre zusätzliche Funktion als „Espace Multiculturelle et Multimédiale“ hinweist. Mir fällt beim umständehalber kargen Frühstück ein, daß ich mich noch zuwenig um die großen Hintergrundfragen gekümmert habe und viel zu viel um Kochen, Trinken, touristische Lustbarkeiten und Bekämpfung von Ameisen. Dazu muß man wissen, daß ich mich im Urlaub gern diesseitigen und jenseitigen Menschheitsfragen widme, die ich, wenn nicht für die Menschheit, so doch für mich beantworten will. 91 Mme Knotterbeck sagt: „Untersteh‘ dich, du beantwortest gar nichts, und schon gar nicht Fragen, die dir keiner gestellt hat.“ Ich sage: „Es kann nicht sein, dass ich mich in geistige Abhängigkeit von Monsieur le Boucher und Madame la Boulangère begebe, und mich und meinen Lebensinhalt allein von den näheren Umstände der Nahrungsaufnahme diktieren lassen. Der Mensch lebt nicht vom Brot und Trunk allein.“ Umkehr tut not. Gott sei es gedankt, habe ich für solche Notfälle das Neue Testament eingepackt. Ich nehme die Paulus-Abteilung zur Hand und lege sie gleich wieder weg. Paulus und seine Bekehrung, das weiß ich auch ohne biblische Assistenz - dürfen ja nicht nur wortwörtlich, sondern auch als Zeichen für den steten Neuanfang gelesen werden. Paulus im Brief an die Epheser: “Legt von euch ab den alten Menschen mit seinen früheren Wandel, der sich durch trügerische Begierden zugrunde richtet.” Ich will sofort abschwören dem Laster der Trägheit, der Sünde fleischlicher Begierde, der Untugend der Völlerei und natürlich auch dem Teufel Alkohol. Ich will ein neuer Mensch werden und unverzüglich meine zu Hause unterbrochenen Paulusstudien wieder aufnehmen und den Sünd- wie Tugendhaften davon berichten... „Unsinn“, unterbricht mich Mme Knotterbeck, „das sind geistige Hungerödeme, vielleicht aber waren die Linsen gestern etwas zu blähend. Ich mach’ dir einen Toast, und apropos Fleischwerdung, wir haben noch etwas Wurst da, die muß auch gegessen werden, deine ‚Saucisson aux myrtilles‘. Wenn du erst mal was zu dir genommen hast, dann kommst du wieder runter, wirst sehen. Das ist doch keine Art, nur weil wir heute mal kein Brot haben. Und das mit dem neuen Menschen hat noch etwas Zeit - wir machen heute einen Ausflug, und zwar nach Mourèze. Eine kleine Wandertour im Felsenmeer würde auch den Kindern gefallen.“ 92 Der Cirque de Mourèze - keine zwölf Kilometer von Péret entfernt, kommt im Guide Michelin auf zwei von drei möglichen Sternen. Es handelt sich um den stark zerklüfteten Südhang ebenjenes Berges, dessen Nordflanke steil zum Salagou abfällt. Was den Reiz des Cirque ausmacht, sind die zahlreichen Säulen, Klippen und Grate aus Dolomitkalk, die zwischen der Steinwüste hervorkragen und aus dem Gelände einen riesigen Irrgarten machen, der bevölkert ist von steinernen Dämonen, allerlei Vertretern aus der vorsintflutlichen Tierwelt, Drachen und Hexen; ja, manche Beobachter wollen sogar Totenschädel im Großformat und sonstige abschreckende Einzelheiten der menschlichen Anatomie ausgemacht haben, geeignet, Außerirdische, die sich im Landeanflug befinden, zu beschämen oder in Panik zu versetzen, um sie zur Rückkehr in welches schwarze Loch auch immer zu zwingen, aus dem sie hervorgekrochen sein mögen. Ich muß sagen, ich habe nichts dergleichen gesehen, nur unbehauene Findlinge, maßstabslose Felsnadeln, schründiges Gestein und nutzloses Geröll. Das ist für Unbedarfte nicht ohne Reiz, und so purzeln Jung und Alt, Caniche an der Leine oder Teleskopstock in der Hand durch den Felskessel. Ab und an, wird jemand, der es zu toll getrieben hat im lustvollen Ausschritt über Stock und Stein und nun statt des Schreckens seiner Imaginationen den von überdehnten und gerissenen Bändern herrührenden Schmerz im Gesicht trägt, von seinen Angehörigen abtransportiert - größere Unfälle kommen selten vor, noch seltener sind Stürze mit Todesfolge. Bevor wir in den Cirque einsteigen, müssen wir erstmal auf dem Parkplatz 1,50 Euro berappen, das sind immerhin 75 Cent weniger als in St Guilhelm-le-Désert, dem Touristenmagneten in den Gorges de l‘Hérault, der gleichwohl im Guide nur einen Stern hat. Dafür erhalten wir kostenlos eine Wanderkarte, die sich im Praxistest als völlig untauglich erweist. Die Franzosen verfügen zwar die besten Stra- 93 ßenkarten der Welt und haben - wie gesagt - mit ihrer Michelinkarte einen für andere Kartenmacher unerreichbaren Standard gesetzt. Aber Wanderkarten sehen aus wie das Ergebnis von legasthenischen PC-Programmierern. Diese hier wartet mit weiteren Überraschungen auf: Die Himmelsrichtungen sind auf so heimtückische Weise vertauscht, daß Sie, verehrter Kartenleser, in einen Abgrund von 200 Meter Tiefe stürzen, wenn Sie gerade eben noch einen Anstieg mit 25prozentiger Steigung erwartet haben. Erstaunlich, daß die Sterberate im Cirque de Mourèze vergleichsweise gering ist und nur deshalb eine leichte Überhöhung gemessen am Landesdurchschnitt aufweist, weil Körperkondition und Umweltbedingungen mitunter zu stark auseinanderdriften - der Kessel heizt sich auch bei mäßigem Sonnenschein enorm auf und bringt die Herzkranzgefäße in Wallung und mitunter auch zum Bersten. Ähnliches wie für Wanderkarten gilt auch für die Wettervorhersagen. Während „Radio France Hérault“ nicht der Lage ist, das zur Stunde herrschende Wetter mit einigermaßen hoher Treffsicherheit zu bestimmen, haut der “Midi libre” sogar bei den gelegentlich bemühten chronistenpflichtigen Rückblicken, beispielsweise auf das Wetter des Vortages, daneben. Für heute war ein tiefblauer Himmel vorhergesagt. Tatsächlich herrscht aber bei hoher Bewölkung fast ein Zwielicht - die Sonne bleibt hinter einem dichten Schleier verborgen, erhitzt gleichwohl den Cirque in einer Weise, daß wiederum einige Kreislaufzusammenbrüche zu befürchten sind. Daran dürften auch die paar Tropfen nichts ändern, die gelegentlich vom Himmel fallen und auf den Saunasteinen rasch verdampfen. Der Wind, der laut „Radio France Hérault“ und “Midi libre” den ganzen Tag mit Stärke sechs wehen sollte, hatte sich schon gegen neun Uhr gelegt. Auch die Zikaden, sie sich bisher, was sie bei Wind über Stärke 1,5 immer tun, ausgeschwiegen haben, rechnen nicht mehr mit dem Ende der Flaute und nehmen ihre eintönige Arbeit wieder auf. Sie 94 zirpen jetzt nicht mehr nur nach Dienstvorschrift, sondern haben etwa 80 Dezibel zugelegt. Uns klingen die Ohren von dem Lärm. Wir wählen den gut beschilderten Einstieg im Dorf Mourèze, einem hübschen Örtchen, in dem merkwürdigerweise die autochthone Bevölkerung noch über die demographische Mehrheit verfügt, folgen dem 50 Meter ebenso gut markiertem Weg, der abrupt vor einer Steinwand endet. Also heißt es umkehren, einen unmarkierten Trampelpfad wählen, um die empfohlene Rundwanderung fortsetzen zu können. Der Pfad führt manchmal zum ursprünglichen Weg zurück, folgt den Markierungen und weicht ab, wenn die Wegezeichen ausbleiben, bis er sich wie schon vor ihm der Hauptweg in den Geröllawinen verliert. Die Touristenkinder finden das spannend, klettern mal rechts, mal links irgendwelche Felstreppen hoch, müssen, wenn sie sich verstiegen haben, von den Erwachsenen wieder auf den Boden des Gangbaren zurückgeholt werden. Die Erwachsenen (Hagen Knotterbeck und ich halten uns jedoch zurück) folgen ihrem Beispiel, und so müssen immer wieder 60- und 70jährige beiderlei Geschlechts, die in juvenilem Überschwang die Steilwände bekraxelt haben, von ihren jüngeren Angehörigen aus der Bergnot gerettet werden. Die Unübersichtlichkeit des Geländes fordert von allen Opfern. Nach einer halben Stunde forschen Kletterns über enge Steige, scharfe Klüfte und hangenden Fels, die bange Feststellung Kiki Estragons: “Mir kommt das hier so bekannt vor.” Ich sage in vorsorglicher Abwehr: “Das kommt daher, daß sich die Steine alle gleichen.” Hagen Knotterbeck und Consuelo Vladimir aber befinden: “Kiki hat recht, wir sind im Kreis gelaufen.” Also neuer Anlauf, diesmal ganz gezielt nach Osten. Mit dem Ergebnis, daß wir nach einer dreiviertel Stunde dort sind, wo wir eine halbe Stunde zuvor 95 schon waren und nach anderthalb Stunden dort, wo Kiki ihre ersten Zweifel angemeldet hatte. Wir steigen, jetzt schon deutliche Zeichen der Ermattung fühlend, auf einen großen Stein, um uns Orientierung in diesem Chaos von Felsen, Trampelpfaden und falschen Markierungen zu verschaffen. Unter uns wuselt, den Ameisen im „Château Pohl“ gleich, die sonntägliche Besucherschar desorientiert und mit verzweifelten Ausfallschrittchen durch das steinerne Labyrinth. Hagen Knotterbeck deutet unterdessen auf eine circa 50 Meter hohe Felskanzel in vielleicht zweihundert Meter Entfernung, auf der sich etwa zwanzig Menschen augenscheinlich ohne Orientierungsstreß bewegen. Dies ist jedenfalls aus den sehr souverän wirkenden Gesten des Zeigens und Bedeutens zu schließen, die denjenigen zu eigen sind, die über alles Bescheid wissen und von keinen Verunsicherungen der schnöden Welt da unten angefochten sind. „Wenn wir erst dort sind“, so Hagen Knotterbeck, „haben wir den Überblick.“ Trotz der Anstrengungen der letzten beiden Stunden sind die Kinder Feuer und Flamme - endlich mal raus aus den Steinen und hoch auf den Gipfel. Wir schlagen einige Haken um das viele Geröll, immer die Kanzel im Blick, und nähern uns dem Einstieg, dem mutmaßlichen Einstieg. Leider ist uns der Zutritt zum Fuß des Felsens verwehrt, ein Zaun, ein veritabler Maschendrahtzaun verhindert jedes Fortkommen. Wir sondieren die Lage, Consuelo Vladimir entdeckt eine Stelle, wo das Drahtgeflecht soweit runtergetreten ist, daß wir ihn mühelos überwinden können. Doch kaum haben wir das getan, als uns auch schon zwei in Blaumännern gekleidete, klar als Wachpersonal identifizierbare Gestalten mit mangelnden Französisch- und Null Deutschkenntnissen in Gewahrsam nehmen und uns mit unmißverständli- 96 cher Gestik zum Zahlen einer nicht verständlichen Summe auffordern. Ich werd’ einen Dreck tun, sage ich im herrischsten Deutschton, den anzustimmen ich mich in dieser Lage in der Lage fühle, von wegen, hier einfach abzukassieren. Wir Deutsche kennen uns mit dem Maschendrahtzaun aus, das ist Lager, das ist Nachbarschaftskonflikt, das ist Zonengrenze - mit mir nicht, wir haben aus der Geschichte gelernt, keinen Pfennig äh Centime äh Cent, zahlen wir für so einen Unfug! Machen Sie sich da wieder hin, von wo Sie hergekommen sind! Dies letzte war nun halbwegs rassistisch, da das Personal ohne jeden Zweifel nicht deutscher Nation ist, auch nicht unbedingt französischer, ja mit der indogermanischen Rasse nichts zu tun hat (ich tippe rückblickend und weitgehend unerregt auf Karatekämpfer aus Papeete), macht aber nichts, ich habe Durst, bin erschöpft, habe die Schnauze voll von diesen ständigen steinernen Hindernissen, die uns der französische Fremdenverkehr in den Weg legt. Ich will rauf auf den Felsen, errege ich mich weiter, und zwar mit der ganzen Familie, um einen Überblick über die Lage zu gewinnen, in die wir unverschuldet durch falsches Kartenmaterial, gefälschte Wegführung, vorsätzliche Falschinformation und überhaupt durch willentliche Irreführung geraten sind. Seien Sie froh, daß ich nicht alle Verantwortlichen auf entgangene Urlaubsfreuden verklage: die Gemeinde Mourèze, falls es so eine gibt, das Département Hérault, die Region Languedoc-Roussillon, den französischen Staat, die gesamte frankophone Welt, Erbfeind elender, hast dich in nichts gebessert, immer noch der alte, verschlagen tückische Franzmann... Die Kinder sehen erstaunt zu mir rauf. Ich bin inzwischen auf zweieinhalb Meter gewachsen. Hagen Knotterbeck guckt so betre- 97 ten, daß ich sogleich alarmiert bin und auf Einmeterfünf schrumpfe. Die Luft ist raus, ich lasse mich widerstandslos abweisen. Immerhin bin ich der Festnahme entkommen und einem körperlichen Verweis entgangen. Das Personal erscheint mir auch nicht mehr als Personal, sondern als fleischgewordener Triumpf, dem ich mit meinem mickrigen touristischen Dasein nichts mehr entgegenzusetzen habe. Wir schleichen uns den Maschendrahtzaun entlang durch das Felsenlabyrinth und sind zehn Minuten später in Mourèze. Dort sehen wir einen Wegweiser zum „Parc des Courtinals“, einem Freilichtmuseum, in dem nach Lage der Dinge unsere Aussichtsterrasse liegen muß. Der Parc des Courtinals ist, wie eine Anzeigetafel bekundet, eine prähistorische Siedlungsstätte, in der die Vorfahren der Franzosen (aber nicht des Personals!) ihr prähistorisches Franzosentum pflegten, von hoher Warte ihre Steine (Hinkelsteine?) bewachten und so kommt es mir in den Sinn - ihre Abneigung gegen das aufkeimende Germanentum kultivierten. Die Kinder verstehen nur Hinkelsteine, Gallier und Römer und wollen sofort hinein in den Park. Ich: Keinen müde Franc, äh Euro, noch nicht mal einen Centime, ich meine: Pfennig, äh Cent...Hagen Knotterbeck schlägt sich auf die Seite der Kinder: “Wenn wir schon mal hier sind.” Dieses “wenn wir schon mal” kostet uns nicht einen Cent, sondern gleich zehn Euro, und wenn ich die Getränke und das Eis, das ich an der Kasse für die ausgedörrten Kehlen kaufen muß, dazu rechne, dann sind wir in dieser Steinwüste einschließlich Parking umgerechnet 25 Euro losgeworden. Die Gegenleistung ist, wie auch Hagen Knotterbeck gleich erkennen muß und was auch den Kindern nicht unverborgen bleibt, gleich Null: prähistorische Siedlung, daß ich nicht lache, alles Schwindel. Um nur ein Beispiel zu nennen: Präsentiert wird eine Hütte aus dem Neolithikum - vier Holzstämme (vor zwei Jahren frisch geschlagen), darüber eine Schilfrohrwand aus dem Baumarkt, dessen Eisendraht man aus Gründen der Authentizität durch eine Kor- 98 del ersetzt hat (denn wir befinden uns in der Bronze- und noch nicht in der Eisenzeit). Auf dem Boden einige Ausbuchtungen in den Fels gekratzt und mit Heu bedeckt: die prähistorische Sitzecke. Gegenüber ein paar grob behauene, rotbraunlackierte Gasbetonsteine, die entweder - ich mag gar nicht mehr die Anzeigetafel lesen - den prähistoris chen Herd oder das Sideboard für den Fernseher verkörpern. Und so geht es weiter: Keramiken, die aus dem Abfall von Töpferkursen für Pariser Lehrerinnen aus dem Larzac stammen, Pfeilspitzen, die auch in der Ethnokunstabteilung der Galeries Lafayette zu finden sind und Treppenstufen, die mit dem Preßlufthammer in den Schaft unseres Turmes gehauen wurden. Und dann die Aussichtskanzel: Was uns von tief unten erstrebenswert erschien, nämlich dort oben zu stehen und wie weiland Kapitän Achab das Felsenmeer zu durchpflügen, erweist sich, endlich dort angekommen, als absolut überflüssig und sinnlos: Man sieht die Steine von oben, sonst nichts. Halt, das ist nicht ganz richtig, man sieht auch unseresgleichen, wie es ameisenhaft über die Felsen krabbelt, von den Flanken gleitet, sich wieder hochrappelt und zum Parkplatz schleppt...Nur schnell weg von hier. Der Blick auf die Uhr zeigt, daß wir uns inzwischen schon sechs Stunden in der zweigestirnten touristischen Attraktion bewegen und noch nichts gegessen haben. Wir beschließen, nach Clermont zu fahren und uns im vielgerühmten “Le Tournesol” zu verköstigen. Das Essen dort ist weniger als Naja und etwas besser als eine Katastrophe. Die „Voluté de poisson“, eine leicht gebundene Fischsuppe zum Entrée ist nicht schlecht, wir hatten aber schon deutlich bessere gehabt. Die „Papilottes de rouget“, in Pergament (hier in Aluminiumfolie) zusammen mit Gemüse gedünstete Rotbarben, die ich bestellt habe, sind etwas lieblos ratatouillehaft zubereitet. Ich als Dunkelmann der gepflegten Küche und der ausgesuchten Gastlichkeit, wie sie von den Hochglanzpostillen propagiert wird, bevorzuge die Rougets ganz einfach 99 gegrillt, aber ich gebe zu, daß sie mit einer „Matignon de légumes“ (kleingewürfelte Karotten, Tomaten, Sellerie, Fenchel mit feinen Lauchstreifen) farciert und in einer Fischbouillon gegart auch nicht schlecht schmecken. Hagen Knotterbecks „Magret de canard“ ist unmittelbar unter der Hülle roh, muß zum weiteren Garen in die Küche retourniert werden. Die Muscheln für die Kinder scheinen in Ordnung, die Pommes dazu aber stammen offensichtlich von einem bekannten kanadischen Hersteller und werden naturgemäß halb angekokelt serviert. Dafür aber viel Tischzauber mit Platztellern und provenzalischem Gesteckchen, in die kleine Sonnenblumenmotive drapiert sind. Ich mache, nachdem ich die Rechnung bezahlt habe, die Rechnung auf und komme zu dem etwas ungerechtfertigten Ergebnis: „Ras le bol du malbouffe au resto! Schnauze voll von dem Drecksfraß im Restaurant!“ Daß nämlich die Restaurants an Qualitätsdefizit dem McDoof in nichts nachstehen, beweist ein kleines Rechenexperiment. Wir zahlen für einen McDabbel - Format Super-Royal, das heißt den größten Wopper, den es gibt, „Le 280 poids lourds“, 2,75 Euro. Vorspeise fällt aus, die gibt es nämlich nicht im McDödel, obwohl immer wieder in den Brätereien beidseitig des Rheins und des Atlantiks von Menü die Rede ist. Weil es also mit Hors d‘oeuvre nichts ist bei McBlödel, bestellen wir als Sättigungsbeilage eine kleine Pommes à einem Euro und hinterher zur abrundenden Strafe für das bisher Verschlungene als Dessert ein „Moelleux Pomme-Orange“ (fragen Sie mich nicht, was das ist) oder ein „McCookie“, macht 1,50 Euro, oder alles in allem für die zwei Gänge „à la carte“ wohlgemerkt! - 5,25 Euro. Zum Vergleich genehmigen wir uns im „La Chaumière“, es könnte aber genausogut im „Clos des Vignes“ oder in der „Truite Enchantée“ oder in unserem Falle im „Tournesol“ sein, ein Menü für 28 100 Euro, das preiswerteste, was in einer lauschigen Gegend des Abends auf der Speisekarte steht. Dafür erhalten wir sechs Muscheln, farciert mit einem altbackenen Fensterkitt, der gut und gerne auch zur Panade für das Tauchölschnitzel des „Quickgrill“ auf der Frankfurter Kaiserstraße taugen würde. Wahlweise nehmen wir aber, weil uns der Sinn an diesem Abend nach Gesundheit und Frische steht, die „Crudité à la Provençale“, ein - wie sich bei Tische herausstellt übersichtliches Ensemble aus einer Scheibe Kochei, vier Scheiben Tomaten, ein in Streifen geschnittenes Blatt vom Romana-Salat, je zehn Gramm geraspelter Möhre und gestifteter Sellerie sowie zwei schwarzen Oliven, betaut mit einer Vinaigrette von Amora. Als Hauptgang erwartet uns nicht etwa eine zarte „Canette laquée au miel de lavande“ (das heißt Entenbrüstchen in Lavendelhonig), sondern ein robustes „Magret au canard“ - in diesem Falle eine in der Bratpfanne gehärtete Entenbrust, deren verkohlte Oberfläche von der opaken „Sauce au-miel-et-à-l’orange-ainsi-qu’au siroupe de pastis oder so ähnlich“ optisch geschmeidiger gemacht worden ist. Dazu zwei kleine Pyramiden mit dauphiniertem Kartoffelmus sowie eine im Ofen gebackene Tomate, bis zum Rand gefüllt mit jener Farce, die uns schon bei den Muscheln begegnet wäre, hätten wir uns angelegentlich der Vorspeise daran vergriffen. Abschließend nehmen wir, um unsere Geschmacksknospen von den bisher dargereichten Bitterstoffen zu reinigen, nicht die je ein Winzstückchen Roquefort oder Cantal, die uns die Küche („aimablement insprirée par le terroir“ - so die Eigenwerbung) empfiehlt, sondern die „Crème brulée“, von der wir aus „Essen und Trinken“ oder ähnlichen Zentralorganen der forcierten Küchenkunst wissen, daß sie in einem aufwendigen Verfahren mit dem Schweißbrenner hergestellt wird. In unserem Fall ist das natürlich keineswegs so, weil die Crème leicht erkennbar die Abmessungen des im Supermarkt erhältlichen Produkts von Danone hat. 101 So, und nun ans Rechnen: Grobsättigung im McKlacks: 5,25 Euro, Menü im Resto-Super-Retro-Chic: 28 Euro. Multipliziert man den Rechnungsbetrag im McKlecks mit einem kalkulatorischen Faktor von 3, der sich aus dem Zuschlag für das Ambiente im Restaurant, der Ausdifferenzierung der Beigaben (z. B. Tomate statt Ketchup) und dem Reuekoeffizienten für den Besuch bei McDussel zusammensetzt, und neutralisiert zu guter letzt noch den geldwerten Vo rteil, den man aus dem unaufmerksamen Bedientwerden im „Le Romarin“ statt der Selbstbedienung im McDassel bezogen hat (dafür hat man in Urlaubsstimmung nämlich zusätzlich 4 Euro an Trinkgeld zurückgelassen) dann kommt man auf 11,75 Euro bei McMatt im Vergleich zu jenen netto 28 Euro, die im Restaurant zu veranschlagen waren. Da man überdies im McPlatt nur eine Cola für zwei Euro statt eines Viertel „Côtes du Ventoux“ zu 7 Euro, dem preiswertesten Getränk auf der Karte, genossen hat, bleibt immer noch eine Ersparnis von 21,25 Euro (Trinkgeld nicht eingerechnet), die man zu Hause gewinnbringend in zwei Flaschen des High-End-Produktes der Cave Coopérative de Cabrières oder in sechs Flaschen von dem ebenfalls keineswegs schlechten „L’Estabel Rouge“ aus der nämlichen Kooperative investieren kann. Und mit sechs Flaschen pro Person kann man sich nun wirklich jeden Hautgout wegtrinken, den der McFett im Körper hinterlassen hat. Fazit: McDoof ist besser als sein Ruf, und nur wirklich Doofe lassen sich im französischen Landgasthaus das Fell über die Ohren ziehen, denn das ist die einzige Handwerkskunst, die viele Patrons der Cuisine Française noch zuverlässig beherrschen. Auf dem Platz vor dem “Tournesol” hat sich während unseres Essens eine Zigeunerband aufgebaut, Gipsy-Kings-Look-a-likes, mit allem drum und dran, Bühne mit Lichtshow, machtvolle Freibeschallungsanlage. Für den Soundcheck, der bei Tisch die akustische Kulisse abgab, hätten wir vom Patron streng genommen einen statt- 102 lichen Rabatt erwarten dürfen (das hätte mir freilich die Vergleichsrechnung verhagelt), so miserabel war das, was wir zu hören kriegten. Als wir das “Tournesol” verlassen, hat die (übrigens kostenlose, von der Clermonter Administration zum Zwecke der Tourismu sförderung finanzierte) Darbietung begonnen. Es stellt sich schnell heraus, daß der Soundcheck besser war als die völlig übersteuerte eigentliche Darbietung. Heruntergespult wird alles, was dem flachsten internationalen Niveau dieses Genres betrifft: "Bamboleo", "Volare", "Baila me" undsoweiterundnichtendenwollend; einige Alte wackeln bedenklich mit dem Kopf, zwei drei Alt-Hippie-Larzac-BabaCool-Damen in roten Wallegewändern führen einen arthrosesteifen Ausdruckstanz vor – das übliche halt in der Art von: Seht-ihr-wieich-mitgehe-aber-ihr-mitteleuropäische-Klemmheinis -könnt-euch-janoch-nicht-einmal-richtig-bewegen. Auftritt schließlich eine Sängerin mit arabischen Melodeien – ein Natacha-Atlas-Imitat. Ich doziere: “Das kommt von der engen Ve rbindung der spanisch und arabischen Kultur, welche die Zigeuner in sich aufgesogen haben.” Mein Nachbar, ein älterer Herr mit kurzem gepflegten Graubart, schüttelt sich ungläubig, nicht wegen meiner Worte (die er ja nicht versteht), sondern offensichtlich wegen der Sängerin. Er ist, wie er mir lachend erzählt, ein Harkis der ersten Generation, also eine Art heimatvertriebener Algerier. Da er bestens mit dem Hocharabischen, auch im Ägyptischen (der Sprache dieser Sängerinnen) vertraut ist, entgeht ihm nicht, daß die Künstlerin rein fiktive “paroles” darbietet, ich übersetze für mich: onomatopoetisches Arabisch singt (ungefähr so, wie Oss Fries aus Ensheim Russisch singt). Der Harkis hält auch die Zigeuner nicht für echt. Merkwürdig, daß höchstens 200 Zuhörer anwesend sind – trotz der massiven Propaganda in den “Midi-libre”-Ausgaben der vergangenen Tagen und der ständigen Hinweise in „Radio France 103 Hérault“. Wir machen, daß wir wegkommen und berauben damit die Verantwortlichen um mindestens zwei Prozent ihrer Zuhörerschaft. Montag 3. Juli Der Himmel ist wolkenverhangen, es herrscht ausgesprochenes Dämmerlicht. Wir bestimmen unisono, Montpellier einen Besuch abzustatten und verordnen uns eine kleine Abenteuertour, indem wir das Auto an der Peripherie parken und mit öffentlichen Ve rkehrsmitteln - der heute in den Regelbetrieb gehenden neuen Tram in das Zentrum fahren. Die Straßenbahn wird vom „Midi libre“ seit Tagen als verkehrspolitische Großtat gefeiert, obwohl sie bis auf weiteres nur eine einzige Linie vorzuweisen hat. Wir folgen den Empfehlungen des „Midi libre“ und parken an dem eigens dafür ausgewiesenen überwachten Parkplatz am Stade de la Mosson (dem Fußballstadion Montpelliers an der Ausfallstraße nach Clermont). Wir zahlen drei Euro für ganztägiges Parken einschließlich Hin- und Rückfahrt per Tram für die ganze Familie. Das ist gemessen an den Gebühren in Mourèze und St-Guilhelm-le-Désert spottbillig (man bedenke die zwei Sterne Montpelliers im Guide), und man erwirbt das Eintrittsbillet für ein Abenteuer pur. Denn die Fahrt endet in unserem Fall, bevor sie überhaupt angefangen hat. Die Tram hat einen technischen Defekt und muß zunächst gründlich durchgecheckt werden: Es ist ganz so wie bei den Verzögerungen eines Jumbostarts, mit dem Unterschied, daß die Passagiere aus naheliegenden Gründen nicht zurück in die Abflughalle gebracht werden, sondern sitzenbleiben dürfen. Vor der Tram aber große Hektik: Es eilt der Stationsvorsteher herbei; der Fahrer macht unterdessen einige Funktionsübungen mit dem Schließmechanismus der Tür, ein Mann mit Overall geht seine Checkliste durch und bespricht dann aufgeregt ein Walkie-Talkie, woraufhin 104 ein blauer Kombi mit Tatütata eintrifft und zwei weitere Overallmänner auf das Rollfeld, äh ich meine: den Haltestellenbereich entläßt. Erneute Checks, auch unter Zuhilfenahme eines Laptops, Ferndiagnosen und -therapien über Funk. Nach einer Stunde betätigt einer der Techniker einen Knopf, der bisher (das wäre mir nicht entgangen) noch nicht bedient wurde, und die automatische Sperre, die sich durch ein leises Piepsen bemerkbar machte, ist aufgehoben. Die Tram setzt sich in Bewegung und erreicht nach wenigen Minuten ihre Diensthöhe, pardon: Dienstgeschwindigkeit von cira 10 Kilometer die Stunde. Da es nur eine Tramstrecke gibt, aber mö glichst viele Viertel angefahren werden müssen, bewegt sich der Zug im Zickzackkurs mit extremer, ultramoderner Neigetechnik in Richtung Zentrum, so daß wir mit leicht verrenktem Kreuz nach einer Stunde, das heißt zwei Stunden, nachdem wir unser Auto geparkt haben, unser Ziel erreichen. Insgesamt hat die Tram also länger gebraucht als die Straßenbahn von Ensheim zum Terminus “Holzkopp” in Saarbrücken (wo Tante Trudel als Bedienung arbeitete) selbst im strengen Winter 1956, als die Weichen in Eschringen zugefroren waren. Der hohe Unterhaltungswert, den die Fahrt bietet, wird von vielen Montpelliérains ausgekostet. Schon nach drei Stationen von insgesamt 14, die die Straßenbahn auf dem Weg ins Zentrum ansteuert, sind die Wagen überfüllt. Mosson / La Paillade ist überwiegend von Nordafrikaner bewohnt, so daß wir uns alsbald wie in den Souks von Algier fühlen. Bürgermeister Georges Frêche steht übrigens derzeit schwer unter Beschuß, weil er sich ausgerechnet bei der vorgestrigen Probefahrt für die Presse und die örtlichen VIPs zu der Bemerkung hatte hinreißen lassen, daß die Kopftuchträgerinnen das Kopftuch benutzen, um ihre von Dauermumms geplagten Ohren warm zu halten. Die Entgleisung - der Mann ist immerhin Sozialist - 105 schlägt Wellen bis in den Matignon, den Sitz des französischen Premiers, wo sein Parteifreund Beschwichtigungssignale an die arabische Staatengemeinschaft aussenden muß. Mehr und mehr Fahrgäste müssen draußen bleiben, und dazu gehören allesamt die Bewohner der besseren Wohngegenden. Somit haben die Parias endlich einmal einen strategischen Vorteil in jener Stadt, an deren Rändern sie gedrängt worden sind. Andererseits besteht die Gefahr, daß sich bei anhaltenden Kapazitätsproblemen der Tram die „europäischen“ Fahrgäste zur extremen Rechten überlaufen, sofern sie nicht schon längst zum Lager des Front National zählen. Immerhin trägt die Überfüllung der Bahn zu enormen Kommunikationsleistungen bei: Man muß sich mit mindestens 30 Leuten verständigen, wenn man auszusteigen gedenkt, was in der Regel zu weiterführenden Gesprächen über das Elend der Ve rkehrsmittel und das der ganzen Welt führt, und zu Erörterungen, von wo man kommt, wohin man will etceterapeepee. Wir verlassen die Bahn mit einem größeren Schwall von Fahrgästen, und lassen uns dahin spülen, wo wir die Stadtmitte vermuten. Es scheint zu stimmen: Place de la Comédie steht da, kurz Comédie genannt. Wir dringen in die Altstadt ein, die sich von unserer Warte aus betrachtet rechts an die Comédie anschließt. Hagen Knotterbeck sagt: “Wie schön.” Die Kinder sagen: “Wie langweilig.” Gottseidank entwickelt sich die Szenerie recht bald zum Basar der mondialisierten Billigheimer, so daß die Kinder nun auch auf ihre Kosten kommen: Angeboten werden original Tuareg-Messer made in Thailand, Day-Packs mit tibetanischen Motiven, Sioux-IndianerKetten, Handy-Pockets aus Lederriemchen, all das, was das Kleinkaufhaus in der deutschen Mittelpunktgemeinde zwar auch bietet, aber hier mit dem Chic des Besonderen und Exotischen unterlegt ist. Wir werden überall von Neo-Baba-Cools, Neo-Gammlern und Neo- 106 Hippies und Neo-Punks bedrängt, die sich bei allen Ausstattungskontrasten in einem ähnlich sind, sie machen immer auf dieselbe Art “la manche” (“Haste mal zwei Öró?” - so hoch ist der Standardtarif). Nur die Neo-Beatnicks und Neo-Exis, die auch zugegen sind, stolzieren mit Würde und unter strenger Mißachtung des Touristenpacks an uns vorbei. Auffallend die Begleiter der Abgerissensten unter den Abgerissenen - den nicht mehr klassifizierbaren Desperados: riesige Köter unbekannter Rasse, meist jedoch dickfellig und ständig dem Juckreiz durch die vielen Pelzinsassen ausgesetzt. Wir mü ssen natürlich höllisch vor den Tretminen aufpassen, die hier außerordentlich angekränkelt aussehen. Die Kinder sind infolgedessen ständig zu ermahnen, nicht in die Luft, nicht in die Schaufenster, sondern auf den Boden zu sehen. Nach einer Woche in der Sandstrandwüste oder der Abgeschiedenheit von Péret sind wir schon innerhalb kurzer Zeit durch die Reizüberflutung so ermüdet, daß wir uns eine stille Rast im Restaurant gönnen - trotz der gestrigen Vorsätze, die wir hinsichtlich der künftigen Verpflegungsmodalitäten gemacht haben. Wir lassen uns an der Place de la Chapelle-Neuve “Chez Marceau” nieder. „Marceau“ klingt gut, irgendwie nach Künstler- und Bohème-Milieu; außerdem kann man im Freien essen unter schattigen Platanen, ohne das aufregende Treiben der Altstadthändler und der verschiedenen Neos zu verpassen. Das Essen selbst ist ganz in Ordnung, es gibt eine kleine Karte mit allem, was dem Einsteiger in die okzitanischprovenzalische Küche empfohlen sei (sogar eine veritable “Soupe au pistou” ist zu haben), und das zum halben Preis verglichen mit der Affäre “Tournesol”. Auffallend die vielen Bovisten an den Nachbartischen: Ältliche Lehrer-Ehepaare mit dem Buch von José Bové, junge Leute im AntiGlobalisierungs-Look, eine Note Che Guevara, zwei Prisen Hip-hop, 107 ein winziger Hauch fils - oder fille-à-papa, freundlich, höflich und durchweg - wie einige Slogans auf den mondialisierten T-Shirts zeigen - gegen mal-bouffe und für Roquefort. Hier ist hautnah zu spüren, was die Medien seit diesem Wochenende den Bové-Effekt nennen: der plötzliche Ruck, der durch die ermattete Gesellschaft geht und, so der “Midi libre” in der Headline seiner heutigen Ausgabe, zur “erstaunlichen Fusion der Generationen” führt. Erstaunlich auch der Schwenk, den der “Midi libre” in so kurzer Zeit vollzogen hat - vor einer Woche stammtischpalavernd über die Rechtsbrecher von Millau herziehend, seit Freitag als Zentralorgan der neuen Protestkultur dem Establishment unverhohlen mit einem neuen Mai 68 drohend. Dazu paßt, daß inzwischen auch “le Matignon”, die Regierung im fernen Paris, bei Bové und den seinen um eine Audienz nachgesucht, wohlgemerkt nachgesucht und nicht die Gewährung einer Unterredung in Aussicht gestellt hat; dies natürlich erst, nachdem laut Meinungsumfragen mehr als die Hälfte der Franzosen die Zerstörung von McDo befürworten. Wenn der gallische Hahn sich aufplustert, dann will man ja auch an höchster Stelle sein Krähen nicht verpassen. Wir setzen nach dem Essen unseren Rundgang durch Montpellier fort. Natürlich besichtigen wir einige empfohlene Häuserfassaden der Altstadt. Dann aber gehen uns die Ideen aus, wissen nicht, was wir noch besichtigen könnten. Die Bofill-Bauten? Ach nee, das ist doch Schnee, ich meine Eierschaum von gestern. Die viel gerühmten Patios der Stadthäuser? Da kommen wir ohne Voranmeldung nicht rein, außerdem sind die Kinder dagegen, immer diese uncoolen Kulturdenkmäler. Keine Burgen und Verliese und Achterbahnen und Geistershuttler. Sie haben ja recht. Ihre Eltern leben ja eigentlich nach der Devise des abgeklärten Touristen: “Berge nur von unten, Kirchen nur von außen und Kneipen nur von innen.” Aber wo wir doch schon mal hier sind? Uns fällt nichts ein, und ich bin mir si- 108 cher, daß wir jenes typische Bild von Touristen abgeben, die mit dem stumpfen Blick der Ratlosigkeit zu Millionen und aber Millionen in den touristischen Zentren dieser Welt unterwegs sind, und kurz vor dem Zustand stehen, den man "Familientragödie" nennt und mit einer Selbstauslöschung endet. Wir marschieren also zwecks Ris ikovermeidung zur Promenade du Peyrou, einer Art Terrasse mit allerlei Aufgängen, Brüstungen, Standbildern, die man gesehen haben muß, weil das Ensemble aus mir völlig unerfindlichen Gründen zwei Sterne im Guide erhalten hat. Auf mein Drängen entfernen wir uns wieder rasch von diesem nichtssagenden Ort, so daß ich seine Besichtigung rasch als Entgleisung meinerseits abbuchen kann. Denn ich habe es mir zur schlechten Gewohnheit gemacht, grundsätzlich nichts zu besichtigen. Ich bin - wie ich finde - nicht auf die Welt gekommen, um dieselbe zu besichtigen, ich bin auf die Welt gekommen... "Na wozu denn?", mischt sich Hagen Knotterbeck ein. "Ach, lassen wir das", sage ich. Jedenfalls lebe und arbeite ich seit dreißig Jahren in Frankfurt, und ich habe noch nie das Go ethehaus besucht. Im berühmten Römer war ich ein einziges Mal - als Hagen mich zur Hochzeit gezwungen hat (dort befindet sich das städtische Standesamt). In Paris habe ich einen großen Bogen um den Eiffelturm gemacht, und ich frage mich, wieso ich überhaupt jemals in Paris war. Berlin? Da war ich mal in einer Kneipe am Prenzlauer Berg, und das nur, weil ich Durst hatte. Rothenburg ob der Tauber? Da war ich auch inner Kneipe, weil ich auf der Rückfahrt aus dem Allgäu außerhalb der Essenszeiten Hunger hatte. Im Allgäu? Dort gibt es glücklicherweise keine Sehenswürdigkeiten. Mailand? Dort war ich im Kaufhaus neben dem Dom, um den Kindern ein Mitbringsel zu kaufen, ich war aber nicht im Dom. London? Dort war ich im Kaufhaus Harrod's, weil ich dringend eine Krawatte brauchte, und das Kaufhaus direkt neben dem Hotel lag. Brüssel? Da war ich in einer Kneipe an der Grand' Place, und das auch nur, weil schon wieder Durst hatte. In andere Städte bin ich gar nicht erst 109 gefahren, weil ich mir sagte, essen und trinken kannst du auch zu Hause, und Sehenswürdigkeiten, die du nicht besichtigst, findest du auch daheim. Hagen Knotterbeck unterbricht mich. Sie will nicht hören, wo überall ich nicht war, und wenn ich doch irgendwo war, warum ich dann nicht zu Hause geblieben bin. Da ich mich, wie ich bereits eingestanden habe, im Urlaub immer mit kleineren Gedankenarbeiten zu beschäftigen pflege, habe ich mir nach dem bisherigen Scheitern meiner Vorsätze erneut zum Ziel gesetzt, die Geheimnisse des Hl. Paulus zu ergründen, insbesondere jenes Geheimnis, warum der Apostel Paul heute so hoch im Kurs steht, und dies auch noch bei bekennendenden Atheisten wie Alain Badiou, oder atheistischen Erforschern der Macht wie Giorgio Agamben oder gottlosen Psychoanalytikern wie Slavoj Žižek (der, der nebenbei bemerkt, als Fast-Forward-Denker, als der er sich ausgibt, in der Eile seines Bücherverfassens ab und an Paulus- und Johanneszitate verwechselt). Was ich leider nicht berücksichtigen kann, sind die Paulus-Arbeiten von Massimo Cacciari, dem wenig katholischen (mittlerweile gewesenen) Oberbürgermeister Venedigs und Ernst-Jünger-Jünger, weil mein Italienisch noch nicht einmal ausreicht, im Restaurant eine Bestellung aufzugeben, die nur ein wenig komplizierter ist als die einer Pizza Salami. Leichter als PizzaBestellen in Italien (wo es ja bekanntlich nur Re-Imports aus Deutschland und Amerika gibt) fällt mir das Bücherkaufen in der Selbstbedienungskette FNAC. Ich erwerbe also zur Bevorratung meiner Paulus-Schriften: Alain Badiou: Saint Paul. La fondation de l’universalisme; Giorgio Agamben: Le temps qui reste. Dazu noch, um den Link zwischen dem Hl. Paulus und dem Hl. Johannes nicht unbeachtet zu lassen von dem an der hiesigen Universität lehrenden Michel Henry: Incarnation. Une philosophie de la chair. Und schließlich ein von Monsieur Porte-Jarrytelles empfohlenes Buch: „Merdre - la philosophie du Père Ubu“ von Professor Daniel Accur- 110 si („Merdre“, das Lieblingswort des Ehepaares Ubu, hat übrigens Heinz Schwarzinger für die deutsche Ubu-Ausgabe kongenial mit „Scheitze“ übersetzt.) Mme Knotterbeck runzelt die Stirn. Mich interessiert die Aktualität Paulus‘ gerade bei seiner atheistischen Pizza-Connection. Mir geht es insbesondere um die Frage, wie der Anspruch auf Wahrheit und Universalität, der im Zentrum paulinischen Denkens steht, zu dem ebenfalls bekundeten Liebesgebot, eben dem paradoxalen und ziemlich double-bind-mäßigem Imperativ steht, der im Christentum die hammerhaft-unerbittliche Befehlfsstruktur des alttestamentarischen Gottes ablöst. Fragen, die ich hier nur stellen, aber heute nicht beantworten kann. Nach der üblichen launischen Bemerkung Hagens, die wie immer darauf abzielt, daß ich Fragen nicht zu beantworten habe, es sei denn, sie würden mir gestellt, treten wir die Heimfahrt an. Das ist leichter gesagt als getan: An der Comédie, gewissermaßen dem Hauptbahnhof der Bahn, diskutiert eine erregte Menschenmenge über die Schicksalsfrage, wie und vor allem in welche Richtung es nun weitergeht. Offenbar hat es in der Nähe wieder mal einen „crash“ zwischen Individual- und Massenverkehr gegeben mit der Folge, daß die Trams in großen zeitlichen Abständen fahren und zudem in Höhe der Comédie umgeleitet werden. Wie dies geschieht, davon habe ich keine Vorstellung, jedenfalls fährt die Tram, die zum Stade de la Mosson führen soll, in Richtung Odysseum, und die vom Odysseum kommende Tram in Richtung Stade davon. Wir schließen uns der Mehrheitsmeinung an, daß man den nächsten Zug einfach entern und den Fahrer gegebenenfalls zu Kursänderung nach Norden zwingen sollte. Das fällt uns umso leichter, als die Mehrheit am späten Nachmittag tatsächlich in die nördlichen Vororte, ihrem Zuhause, will und nicht in die Bofill-City nach Süden, wo sie ja soziokulturell rein gar nichts verloren hat. 111 Nachdem also etwa die Hälfte der Wartenden, darunter wir Jarims, in den Fahrgasträumen verstaut sind, ruckelt die Tram los. Die Insassen sitzen und stehen, nein liegen jetzt in mehreren Schichten übereinander, Hagen Knotterbeck ist es gelungen, wenigstens die Kinder ganz nach oben zu schieben. Es hätten bei diesem Transportverfahren zweifellos noch circa fünfzig weitere Personen in die Tram gepaßt, wenn nicht in der Mitte des zweiten Wagens, in dem wir uns natürlich befinden, die riesige Lache einer Oralemission geprangt hätte, die exakt die Schicht aus Menschenleibern im Frontabschnitt des Wagens von den Fahrgastsedimenten in seinem hinteren Teil trennt. An die 200 Personen begehren an der zweiten Haltestelle Einlaß - er muß ihnen umständehalber versagt bleiben. Etwas abseits der meuternden Menge steht ein beleibter Herr, im grauen Anzug, völlig unpassend zur Umgebung und Witterung. Er trägt einen Panama in der Hand, ein resigniertes? ironisches? Lächeln auf den Lippen. Aber halt mal, ist dies nicht Gottfried Benn? Jetzt vernehme ich auch vertraute deutsche Laute, leise zwar, aber klar und deutlich: "Zersprengtes Ich - o aufgetrunkene Schwäre verwehte Fieber - süß zerborstene Wehr - : verströme, o verströme du - gebäre blutbäuchig das Entformte her." Außerdem höre ich was von "Massejauche in Massekuhlen". Ist es Wirklichkeit, ist es eine Halluzination? Ich weiß es nicht, komme auch nicht zum Nachdenken, denn derweil gebiert die Tram einige entformte Individuen und quetscht sie auf die Straße aus. Sie sind kaum noch in der Lage, ihre Gliedmaße zu richten und torkeln 112 zerborsten den Seitenstraßen entgegen, wo sie vermutlich überfahren werden. Der Zug startet durch; ich winke Benn oder seiner Erscheinung zu, sofern man in meiner Lage von Winken sprechen kann, der große Dichter oder sein Schemen lächelt gequält zurück und wird immer kleiner. Kaum in Fahrt, stellt die Tram ihren Betrieb wieder ein. Ein Kleinlaster blockiert die Gleise. Hagen Knotterbeck zischt mir von oben zu: “Unternimm’ was.” Ich möchte zurückfragen: “Was denn, wie denn, wo denn?” Stattdessen kommt nur ein Krächzen über meine Lippen, auf meinem Brustkorb sitzen mindestens fünf Personen. Hagen Knotterbeck knottert, die Kinder schweigen. Kein “Voll cool hier oben” oder “das macht Spaß”. Die Luft unter dem Straßenbahndach ist, wie man sich denken kann und wenn man von ihr überhaupt als Luft sprechen kann, als andere als cool oder spaßfördernd. Keine Bewegung, kein Luftzug, nur Lähmung. Hier und da entfährt der Lasagne aus Menschenfleisch und Menschenschweiß ein leichtes Stöhnen; wir als Kollektiv sind mittlerweile zu schwach und wohl auch von den Ausdünstungen des Mundstuhls zu geschwächt, um dem Fahrer der Tram oder des Lasters eins überzuziehen und/oder wenigstens die Gleise freizuhieven. Fünf Minuten vergehen, die Fahrer diskutieren, die ersten Fahrtgäste würden in Ohnmacht fallen, wenn sie denn fallen könnten, zehn Minuten vergehen, die Fahrer diskutieren immer noch, die zur Lache Hingewandten sind bereits kollabiert, eine Viertelstunde ist rum, und ein Ende des Disputs läßt weiter auf sich warten. Erst nach zwanzig Minuten schickt sich der Kondukteur des Camions an, das zu tun, was er 21 Minuten zuvor schon hätte tun können, nämlich sein Fahrzeug einfach zurücksetzen. Die Tram kann weiterfahren; an der nächsten Haltestelle kriecht die unterste Schicht hinaus, bei den Bewußtlosen wird nachgeholfen, Hagen 113 Knotterbeck und ich haben also wieder halbwegs Bodenkontakt. An der übernächsten Haltestelle geben diejenigen, auf denen ich bisher stand, entnervt auf und winden sich aus der Tram. Dank unserer vergleichsweise günstigen Ausgangsposition weit oben gelingt es uns, bis zur Endstation durchzuhalten. Ein Glück, daß unser Auto unversehrt geblieben ist - der Parkplatzwächter hat ganze Arbeit geleistet, beinahe eine zu gute Arbeit, denn er will uns gar nicht einlassen mit dem Eindruck, den wir machen, mit unserer zerrissenen Kleidung, den verwüsteten Gesichtszügen und ausgerenkten Gliedmaßen. Unmöglich, denkt er sich, daß so einem Pöbel diese wunderbare, altersschwache, scheckheftgepflegte Mittelstandslimousine nichtfranzösischen Fabrikats gehören soll. Wir aber können, weil wir einwandfreie Papiere vorweisen und gepflegtes Deutsch beherrschen, ihn schließlich von der Rechtmäßigkeit unseres Vorhabens überzeugen und dürfen jetzt endlich den Heimweg antreten. Dienstag 4. Juli In der Nacht ist ein weiteres Gewitter aufgezogen, ich wache auf und finde wegen des hohen Tanningehalts nicht mehr zurück zum Schlaf. Ich stehe also in noch völliger Dunkelheit auf, setze mich in den Garten und lasse mir von den Stechmücken die noch pustelfreien Stellen meines Körpers behandeln. Das Wetter ist - wie sich nach Sonnenaufgang zeigt - makellos, die Spatzen machen bald Jagd auf die Zikaden, der Pirol stimmt seinen klagenden Ruf an. Im “Midi libre” nichts zu finden vom gestrigen Chaos-Tag in Montpellier, stattdessen nur Gutes zur Tram. Wir haben keine Lust mehr auf Kulturlandgänge in Städten mit zwei 114 Michelinsternen, auch nicht in historischen Stätten mit drei Sternen, sondern allenfalls darauf, was 15 Millionen Languedoc-Urlauber auch tun, und begeben uns zum Abhängen an den Strand. Wir wählen nach kurzer Diskussion Vias-Plage. Die Kinder sind begeistert, an den Buhnen, die es dort im Unterschied zu anderen Strandabschnitten gibt, finden sie Krabben und jede Menge Muscheln. Wir sehen und hören nichts von ihnen; wir sehen und hören nur Holländer und Flamen, die hier besonders massiert anzutreffen sind und sich auf eine etwas eindringlichere Weise verständlich machen, als dies resteuropäische Völker (die Deutschen eingeschlossen) zu tun pflegen. Natürlich sind auch Franzosen am Strand, und zwar nicht eben wenige, aber sie fallen nicht weiter auf; sie sind betont zurückhaltend, scheu, familienmäßig introvertiert, irgendwie Fremde im eigenen Land, sogar ihre Hunde sitzen brav in Mamis oder zunehmend auch in Papis Schoß und machen keine Anstalten, sich am ausgelassenen Treiben zu Wasser und zu Sande zu beteiligen. Laut sind nur einige wenige Franzosen: die Beignet-Verkäufer. Beignets sind Krapfen, bei uns als Berliner, Kreppel oder Kräppel bekannt. Laut Žižek wurde übrigens John F. Kennedys Ausspruch: „Ich bin ein Berliner“ von verschiedenen amerikanischen Medien in Unkenntnis dessen, daß es sich um die Bewohner einer Stadt handelt mit „I am a doughnut“ zurückübersetzt. Die Beignets sind etwas kleiner, es gibt sie in verschiedenen Geschmackvariationen, die gängigste Sorte ist die mit Apfelfüllung. Die jungen Beignetverkäufer stampfen mit riesigen Bauchläden, auf denen die Ware gestapelt ist, oder mit überdimensionalen Backblechen auf dem Kopf durch den heißen Sand und preisen scheinbar gut gelaunt mit singendem Tonfall ihre Ware an. Häufig flechten sie, um den potentiellen Käufer aus seinem Dösschlaf herauszureißen, in ihre Werbesprüche 115 Schlüpfrigkeiten ein, die auf eine vorgeblich aphrodisische oder gar priapeische Wirkung ihrer Krapfen hindeuten. Die Preise bewegen sich der Preisklase von Viagra: Unter zwei Euro ist kein Stück zu haben, dabei kommt der Beignet auf höchstens ein Drittel des Gewichts eines ausgewachsenen Berliners. Ich habe während des ganzen Tages keine einzige Transaktion erlebt, vom Erwerb dreier Beignets durch Hagen Knotterbeck abgesehen - für sich selbst und ihre Kinder: "Die sind so teuer, daß du leider leer ausgehen mußt", sagt Hagen zur Entschuldigung. Das Beignetgeschäft ist hart, die Konkurrenz groß: Ich zähle an die 15 fliegende Händlerinnen und Händler, die an diesem Tag hier vorbeikommen. In La Grande Motte ist es darüber zum offenen Konflikt zwischen der Beignet-Lobby und der Munizipalverwaltung gekommen. Nachdem die sogenannten "ventes au panier" (also der fliegende Handel von Backwaren und Naschwerk) angeblich überhand genommen hatten, schuf die Verwaltung für nicht autorisierte Geschäfte Verbotsszonen, die zufälligerweise mit den attraktivsten Strandabschnitten zusammenfallen. Der Hintergrund ist natürlich rein fiskalischer Natur und besteht nicht etwa in der Sorge, die Badegäste vor Belästigungen zu schützen (das ist ja tatsächlich nicht der Fall, eher bringt das Markttreiben etwas Abwechslung in das eintönige Strandleben). Es geht den Offiziellen nicht nur um Steuerhinterziehung durch die Schwarzhändler, nein es geht auch um das Kopfgeld von 1300 €, die der Gewerbeschein für den Beignetverkauf in der Saison kostet. Sollen die sich um die Beignets zanken, Kiki und Consuelo tun es auch, ich halte mich zurück, übe zwangsweise Verzicht und kontrolliere lieber den “Guide du Routard”, gegen dessen Redaktion Michel Houellebecq vor ein paar Tagen wüst vom Leder gezogen hat (von wegen publizistische Schützenhilfe beim Sextourismus in Thailand, 116 also genau das, was er selbst praktiziert), und stelle fest, daß die Ausgabe “Languedoc-Roussillon” politisch völlig korrekt ist, sieht man von einem gewissen, im Praxistest nicht nachvollziehbaren Wohlwollen ab. Restaurants in Vias-Plage stehen nicht im „Guide du Routard“. Daß sie dort nicht aufgeführt sind, dürfte daher rühren, daß a) die Restaurants hier keine Restaurants sind, eher aufgeblähten Imbißbuden gleichen, und b) die Halbwertzeiten dieser „Restaurants“ vom Juli gerechnet den Monat August nicht überschreiten. Vias-Plage ist ein Bidonville, eine Wellblechstadt, wie man früher zu sagen pflegte, allerdings eine Wellblechstadt aus Spritzbeton und Plaste. Eine Favella, nur mit dem entscheidenden Unterschied zu der brasilianischen Version, daß hier noch nicht einmal McDo Einzug gehalten hat. Dennoch: Wir machen hier keinen Cluburlaub, wir sind vielmehr gekommen, die inzwischen stark notleidende Tourismusbranche des Languedoc-Roussillon zu unterstützen. Denn diese geht einer sichtbaren Krise entgegen. Erst vor vierzig Jahren wurde die Region entdeckt. Sie sollte - so die Pläne von de Gaulles Technokraten damals - die sehr viel attraktivere Côte d'Azur entlasten, dem prosperierenden spanischen Schwerindustrietourismus Konkurrenz machen, Arbeitsplätze in Frankreichs Armenhaus schaffen und des Kleinbürgers baukonjunkturfördernden Traum von Hausbesitz in subtropischen Meeresgefilden stimulieren. Flugs wurden die Küsten trockengelegt, die Mücken beseitigt und Appartmentsilos in La Grande-Motte, Port-Camargue, Palavas-les-Flots, Grau-du-Roi und Cap d'Agde hochgezogen. Der Tourismus boomte und boomt weiter, aber es ist ein Tourismus der nicht sehr Kaufkräftigen. Die Urlauber - überwiegend Innerfranzosen; dazu ein paar Ausländer (mit Ausnahme von Cap d'Agde), meistens Holländer und belgische 117 Flamen (die sich mit Pommes frites begnügen) - machen preiswerte Familienferien in den Appartements, die inzwischen Substandard haben, oder noch preiswertere Ferien auf dem Campingplatz. Sie verpflegen sich über die Ketten „Carrefour“ und „Mousquetaire“, deren Erträge bei geringer Personalintensität und damit bescheidener Kostenstruktur wiederum nach Innerfrankreich fließen. Etwa zwei Drittel der wie gesagt 15 Millionen Touristen, die hier jährlich einfallen, kommen ohnehin nur während des Juli und des August; und wenn diese Sommerfrischler was ausgeben, heißt es in den Gastronomenverbänden, dann nur in den Billigrestaurants für anspruchslose Schnellmahlzeiten. Weil die mäßige Infrastruktur eine niedrige Eintrittsschwelle für Neueinsteiger und Existenzgründer darstellt, ziehen immer mehr Marginalisierte in der Hoffnung auf den schnellen Euro in die Gegend, tragen zu ihrer Banalisierung bei und belasten wegen des extremen Saisoncharakters der Wirtschaft die Sozialbilanzen. Nach Angaben von Verbandsoffiziellen trägt der Tourismus nicht mehr als fünf Prozent zum in der Region erwirtschafteten Bruttoinlandsprodukts bei; der Anteil der Arbeitsplätze, die vom Tourismus abhängig sind, liegt knapp über diesem Niveau; die Quote aber spiegelt die Realität nur unzureichend wider, weil es sich bei den Stellen zumeist nur um unqualifizierte, schlechtbezahlte Saisonjobs handelt, die den Abbau der mit 13 Prozent zweithöchsten Arbeitslosenquote in Frankreich (nach dem extremen Norden am Ärmelkanal) kaum befördern. Manche mutmaßen, daß der Tourismus im LanguedocRoussillon schwer defizitär ist, erst recht, wenn man die ökologischen Schäden einbezieht, selbst wenn man diese nur konservativ bewertet. Angesichts dieses ernüchternden Fazits aus noch nicht einmal dreißig Jahren Massentourismus setzt man jetzt auf die wohlhaben- 118 dere Klientel; sie soll durch gezieltes Marketing in das Hinterland gelockt werden, justament in jene Gegend, wo wir, die Jarims, zur Zeit gerade unsere Billigferien auf Selbstversorgerniveau verbringen. Das gibt uns zu denken, ja das stimmt uns nachdenklich, und so entschließen wir uns zu einem Akt der Solidarität und der Förderung unserer Region. Auch heute wird unsere Küche kalt bleiben; ein weiteres Mal - das ist Ehrensache - werden wir uns systemgastronomisch verköstigen. Hagen Knotterbeck guckt als Austragungsort für die zu praktizierende Solidarität eine Baracke (Restaurants gibt’s ja nicht) am naheliegenden Wendehammer aus. Es herrscht eine „Boulick“ wie in den Anwesen des ob seiner Haarund Barttracht sogenannten Jesus von Saarbrücken, der in den 60er Jahren hart an der deutsch-französischen Grenze einen Campingplatz mit Rot-Licht-Restaurant unterhielt; aber im Unterschied zu den Etablissements Jesu sind hier überwiegend ältere französische Herrschaften vertreten, die partout weder in die BallermannUmgebung von Vias-Plage noch in dieses Lokal passen, das immerhin seinen Namen wie eine Distanzwaffe gegen jedes feinschmecklerische Publikum einsetzt: Es heißt nämlich „McMoules“, und sein Name ist Programm. Was sich hier bietet, ist Abenteuer der feinsten Sorte und straft alle Kritikaster wie mich Lügen, die immer noch behaupten, daß sich die Unterschiede zwischen den Kulturen der beiden Erbfreunde diesseits und jenseits des Rheins einebnen. Wir nehmen an einem der Camping-Tische im „McMoules“ Platz, ein freundlicher junger Mann, kein Garçon, eher der Inhaber eines von stark saisonalen Gegebenheiten abhängigen McJobs, klärt uns über die Spielregeln auf. Die sind zwar recht einfach zu verstehen, widersprechen aber und das macht das Verständnis so schwierig - allem Restregelwerk, über das die Fastfood-Gastronomie selbst in Frankreich verfügen muß, um international wettbewerbs- äh satisfaktionsfähig zu sein. 119 In Kürze: Wir geben unsere Bestellung auf (es gibt Muscheln und Pommes zur Auswahl oder in Kombination), der McJob notiert auf einem kleinen Notizzettel die Orders mitsamt den nicht recht nachzuvollziehenden, aber durchaus gastfreundlichen Preise: Aha, die Eltern wollen Moules-Pommes, die Kinder nur Pommes, dazu einen halben Liter Picpoul für die Erwachsenen und Cola für die Kinder. Als ich vorsichtshalber auf die im Preisschild angekündigte Möglichkeit verweise, wonach ein Kind unter zehn Jahren straf-, pardon: kostenfrei ausgehe, erklärt der freundliche junge Mann ohne Zögern, daß er tatsächlich nur eine Portion Moules-Pommes zu berechnen gewillt sei. Im übrigen entspreche es den Spielregeln, bei gleichem Preis soviel zu verzehren, wie es eben geht. Das klingt im Zeitalter universeller Merkantilität zwar reichlich ungewohnt, ist aber so. Wir bekommen den Zettel in die Hand gedrückt und diesen eigenhändig dem freundlichen Koch überbringen, der das weiße Ebenbild von Uncle Tom darstellt. Uncle Sam (oder ist es ein gebleichter Uncle Ben?) ist hinter drei riesigen Gulaschkanonen zugange, aus denen er die gegarten Muscheln schöpft. Flankiert werden die Garinstrumente von einigen nur wenig kleineren Pommes-Brätern und diese wiederum von Öltanks, die den früheren Badewannenöfen gleichen und deren Sinn und Zweck uns bald erschließen wird. Nachdem man seine Schüssel Muscheln abgeholt hat, bequemt man sich zu den Öltanks, in denen, wie sich jetzt zeigt, die Saucen zur Auswahl köcheln: eine weiße mit Weißwein und Zwiebeln, eine rote mit Tomaten-Knoblauch und eine dazwischen, deren Zusammensetzung ich vergessen habe. Unterdessen sind auch die Pommes abholbereit. Getränke werden entgegen den sonstigen Gepflogenheiten bei Tische serviert, zum Zahlen jedoch begibt man sich jedoch an die Zentralkasse, hinter der eine fette öltriefende Frau thront (sicherlich die Patronin, die ihre Zu- 120 ständigkeit für Geld- und Ölwechsel nicht zu delegieren bereit ist). Den Kindern schmeckt‘s, Hagen Knotterbeck habe ich auch schon mal unzufriedener erlebt - kein Grund also, zwischen diesen Zeilen am Essen herumzunörgeln. Am Nebentisch sitzt einer, nein arbeitet einer - annähernd siebzig Jahre, gestärktes weißes Hemd, maritim-bleue Hose, Look SorbonneProf in der Sommerfrische, distinguiertes Aussehen irgendwo zwischen Claude Chabrol und Claude Levi-Strauss, mit einer Brille auf der Nase, die man in Frankreich lunettes-au-cul-de-bouteille-à-vin nennt, ein Nasenfahrrad also mit Gläsern in Weinflaschenbodenstärke: Er hat einen dreiviertel Liter Rosé vor sich stehen. Der Kühler sieht wie ein Abfalleimer aus und macht den Eindruck, daß er eher den Wein warmhält. Monsieur Claude schleckt sich jetzt die Finger ab (wie Levi-Strauss bei den Primitiven der „traurigen Tropen“ und wie Chabrol in jenem Film, dessen Titel ich ausgerechnet jetzt nicht mehr zusammenbringe), erhebt sich, leert umständlich den Kübel mit den Muschelresten aus, ordert einen gleichgroßen Nachschlag, gibt eine weitere Portion Pommes in Auftrag. Bizarr... Wir können‘s nicht glauben, weder die Unmassen an Muscheln, die der gleichbleibend freundliche Uncle Tom ausgibt, noch, was das System als solches betrifft, denn wir bezahlen tatsächlich nur eine Portion Muscheln-Pommes plus eine Portion Pommes pur plus Getränke. Das reichhaltige Trinkgeld, das ich eingedenk der allgemeinen touristischen Misere in Aussicht stelle, quittiert die Patronin mit einem, wie ich zu verstehen glaube, "für die Schweine"; ich denke, mich tritt die Sau, ich meine ein Pferd, sie meint aber "für das Schwein...", im speziellen für das riesengroße Sparschwein, das auf der Theke prangt und für die McJobs, den Kellner also, Uncle Tom und den Spüler da ist. 121 Zurück in Péret ist die Ameisenstraße weiterhin leer, und das nun schon seit Tagen, ein Umstand, der mich langsam zu beunruhigen beginnt. Denn ich glaube in der Tiefe meiner Seele nicht an den Erfolg unseres Gifteinsatzes in Kombination mit dem Manifest, Ameisen, bilde ich mir ein, haben selbst Napalmeinsätze überlebt, und Anthrax kann ihnen auch nichts anhaben (sie haben keine Milz, die der Erreger schädigen könnte). Vielleicht handelt es sich um ein Komplott, um eine vorübergehende taktische Maßnahme, die nur dazu dient, uns in Sicherheit zu wiegen, während neue Einheiten eingeflogen werden, die nicht nur die Verluste ersetzen sollen... Ich vertiefe mich in die Paulus-Lektüre von Badiou. Von ihm - ich meine Badiou und nicht Paulus – habe ich vor einigen Jahren das Hauptwerk „L’Etre et l‘Evenement“ gelesen. Na ja, wenn ich ehrlich bin, lag es mir vor und alsbald lag es hinter mir, denn es war von einer solchen Unlesbarkeit, daß selbst Gilles Deleuze sich nicht sicher war, ob er es verstanden hat. Deleuze hat dies in einer Fußnote eines seiner Spätwerke bekannt; Badiou wiederum hat den Hinweis als Kompliment aufgefaßt und Deleuze derart penetrant den Hof gemacht, daß dieser sich (wenn auch nicht nur deswegen) 1995 aus dem Fenster stürzte. Badiou hat daraufhin, gewissermaßen als Nachruf, ein Buch über Deleuze geschrieben, das - ich habe es diesmal in Gänze gelesen - weniger von Deleuze als vielmehr von Badiou handelte und dessen wenige Bemerkungen zu Deleuze bei den Deleuze-Schülern auf glatte Ablehnung gestoßen ist. Im Grunde geht es Badiou um die Wahrheit (oder gibt er nur vor, daß es ihm darum geht, und in Wirklichkeit geht es ihm darum, daß er recht behält?). Die Wahrheit zeigt sich, wenn ich dies hier mal kurz referieren darf, in vier modalen Ereignis - (und nicht Seins)Weisen: der Liebe, der Mathematik, der Politik, der Poesie; diese entsprechen den vier Arten des „Begehrens der Philosophie“, wie 122 das Badiou nennt: der Revolte, der Logik, der Allgemeinheit und der Wette; der wiederum vier Hindernisse entgegenstehen, die dem Geiste des Kapitalismus (Badiou nennt ihn „KapitaloParlamentarismus“) entsprungen sind: die Ware, die Kommunikation, die Geldabstraktion und die Sicherheitsbesessenheit. Es stellt sich die Frage, was all das mit dem Hl. Paulus zu tun hat. Nun, zunächst gar nichts, ich habe es nur vorausgeschickt, um einen Eindruck von der schamanistischen Zahlenakrobatik zu vermitteln, mit der Badiou virtuos umzugehen weiß. Der Paulus von Badiou ist ein nachgerade luzides Werk. Ich stelle fest, daß ich es auch als Strandlektüre eignen würde. Es geht im Kern um Folgendes: Die einen sagen dies, die anderen behaupten jenes, das war in der biblischen Epoche nicht anders als heute. Wer aber hat recht? Nun, im Neuen Testament waren es die Wunder, mit denen Jesus seinen Status als Gottessohn beglaubigte, oder es war - wie im Johannesevangelium gehäuft - der Ausschließlichkeitsanspruch, man könnte auch sagen die performative Behauptung, die Wahrheit zu verkörpern. Paulus geht einen anderen Weg, und darauf beruht sein Anspruch, der gesamten Menschheit Christi Wahrheitsanspruch zu künden. Die Selbstproklamation leitet er von dem Ereignis der Auferstehung ab, und das ist, was Badiou fasziniert. Das Ereignis begründet unhintergehbar, unhinterfragbar, unanfechtbar und unantastbar (um hier einmal mehr eine, diesmal auf meinem Mist gewachsene, Viererreihe anzubringen) die Wahrhaftigkeit seiner selbst. Das Ereignis wird zum Universalschlüssel einer programmatischen Erkenntnis mit Ausschließlichkeitsanspruch, und diese Universalität des Universalschlüssels hat der Hl. Paulus entdeckt / behauptet / bewahrheitet / beglaubigt. Er hat sich, indem er seine singuläre Haltung universalisiert hat, nicht nur zum Dissidenten der bisherigen Anschauungen gemacht (des griechischen Denkens, der jüdischen Gesetzestreue und des schwachen wundergläu- 123 bigen Christentums), sondern auch zur Leitfigur des politischen Philosophen, den (so darf man sich vorstellen) Badiou zu beerben trachtet. Badiou selbst gesteht im Vorwort, daß, was Marx im Ve rhältnis zu Lenin bedeutet, Christus für Paulus war. „Aber“, sage ich mir, „was ist dann Badiou im Verhältnis zu wem?“ „Ist doch klar“, antwortet Hagen, die ich gar nicht gefragt habe, „Stalin!“ Also, ich weiß ja nicht. Wie wär’s mit Mao als universelles Singuläre, oder die Viererbande als „Vierung des Gevierts“, um diesmal das Heideggersche semiotische Quadrat anzubringen? Aspiranten des inkorporierten Wahrheitsereignisses wäre aber auch einer wie Saint-Just. Jedenfalls hat Badiou mal Andeutungen in dieser Richtung gemacht (in: „Qu’est-ce qu’un thermidorien?“). Das ist mir nicht unsympathisch, da ich selbst gewisse Elemente der Wohlfahrtsausschußeligkeit vor allem im Kampf gegen öffentlich Urinierende in meine Denküberlegungen einbezogen habe. Aber, was genau Badiou im Verhältnis zu wem verkörpert, das läßt sich heute nicht hinreichend klären, schon gar nicht nach diesem anstrengenden Tag mit dieser Ladung Muscheln im Bauch, die dort in einem halben Hektoliter Picpoul eine neue Muschelbank suchen. Am späten Abend, während Hagen Knotterbeck und ich einen Absacker zu uns nehmen, kommt ein leichter Wind auf. Die Mückenschwärme verziehen sich, wir können endlich wieder die Natur genießen. In den letzten Tagen hat sie sich uns gegenüber viel zu naturgemäß verhalten, als daß sie unsere Zustimmung gefunden hätte. Nun zeigt sie sich von ihrer besseren Seite, so daß wir befeuert vom Rotspon aus Cabrières (der Picpoul ist inzwischen verklappt), alsbald in naturschwärmerische Kitschstimmung versinken. Da hat sie - die Natur - natürlich leichtes Spiel: Hier in der Abgeschiedenheit des Chemin des Roques läßt sich das Säuseln des Windes vielstimmig vernehmen. Er rasselt an den trockenen Blättern 124 des Eukalyptus zu unserer Rechten, läßt dessen mumifizierte Rindensplitter knarren, wiegt die Blattspindeln mitsamt ihren Endfiedern der Robinie, die den linken Rahmen zur Totale auf die Küste bildet, pfeift ganz verhalten durch den weiter entfernt stehenden Olivenhain, schlägt die langen Lanzen des Schilfes wie eine äolische Harfe an, verwirbelt sich in den Grasrispen und klappert hie und da mal an den Läden, um in Erinnerung zu rufen, daß die Welt menschlicher Objekte, auch dann und dort, da und wo diese sich ausnahmsweise keinen Eigenlärm bildet, in die Fauna und Flora hineinragt. Ich bin ja, auch in nüchternem Zustand und ganz dem Hier und Heute ergeben, einer, den die Winde euphorisieren. Die junge Russin Ivetta Gerasimchuk hat in ihrem Wörterbuch der Winde, für das sie vor einigen Jahren den europäischen Essaypreis der Zeitschrift "Lettre" gewonnen hat, solche Leute wie mich mit dem Gattungsbegriff „Anemophile“ bedacht. Diese "ziehen", so die Gerasimchuka, "den Wind stets seiner Abwesenheit vor, selbst wenn es sich um den größten Sturm handelt." Die metaphysische Ausdeutung der Anemophilie, zu der sich die russische Windexpertin versteigt, wonach die Liebe zu den flutenden Winden eine grundsätzliche Disposition zur Zukunftsbejahung und zur Vergangenheitsvernichtung beinhaltet, kann ich in dieser pauschalisierenden Form nur zurückweisen. Zwar trifft es zu, daß mir die Musealisierung zuwider ist (und ich werde dies hoffentlich noch zur Genüge deutlich machen), doch ist mir die die Zukunftgewandheit ebenso verdächtig, es sei denn, man zählte den radikalen Neuanfang, zu der ja auch der Hl. Paulus mit großem Nachdruck auffordert, bereits zur Zukunft. Hier wären wir aber bei unserem Thema, aber zu dessen Vertiefung wäre ein etwas verhaltenerer Zuspruch zum Rouge "velouté et puissant" (zusprucherregend und wirkmächtig) von Cabrières conditio sine qua non, wenn mir der geneigte Leser noch folgen kann. 125 Auch in anderer Hinsicht muß man die Erkenntnisse der jungen Russin, so überzeugend sie sich auch geben, stark relativieren: Sie entwickelt einen Antagonismus zwischen Anemophilie und Anemophobie, der logisch sicherlich gerechtfertigt ist, aber in seiner praktischen Auslegung wiederum fragwürdig erscheint. Die Windangst, so die Gerasimchuka, zeichne sich durch die Abneigung gegen den "starken oder den Wahnsinnswind aus" und bewirke ein ausgeprägtes Leiden am Wind. Die Konstruktion des Gegensatzes zwischen Windangst und Windliebe trifft aber nicht zu. Beweis: Hagen Knotterbeck liebt die leichten zarten Winde, verabscheut aber Gewitter- und Mistralwinde. Ich dagegen bejahe auch diese und zeige mich allenfalls gegenüber Leibes- oder Darmwinde reserviert, wenngleich ich mit dem Philosophen Kant auch hier eine Einschränkung machen muß, der bekanntlich gesagt hat (ich habe die Stelle nicht mehr gefunden und zitiere aus dem Gedächtnis): "Wenn der hypochondrische Wind durch die Eingeweiden tobet, dann kommt es darauf an, welche Richtung er nimmt. Geht er nach unten, wird ein Furz daraus. Steigt er jedoch empor, dann wird er zum Gedankenblitz." Als Anemophiler und redlich denkender sowie die Gedankentätigkeit bejahender Mensch könne ich also durchaus eine Anemophobie gegen Fallwinde entwickeln. Hagen Knotterbeck meint mit einer gewissen, den Umständen geschuldeten Nachsicht, jetzt sei ich bezüglich des F...es etwas zu weit gegangen. Die Kinder finden das nicht, sie schlafen schon längst. Mittwoch, 5. Juli Ungewohnte Menschentätigkeit in der Nachbarschaft. Oberhalb des „Château Pohl“ wohnt der Bürgermeister mit seiner Familie. Später erfahre ich von Gabor, daß nur noch dessen Familie dort 126 wohnt; der Bürgermeister hat sich zwar nicht von seinem Amt, wohl aber von seiner Frau entfernt und in einen anderen, mit einer jüngeren Hausfrauensperson ausgestatteten Haushalt eingetreten. Ich sehe zum ersten Mal einen Angehörigen des BürgermeisterHaushaltes. Zweifellos der Sohn. Er besteigt das vermutlicht väterliche Auto (eins von rund fünf fahrbaren Familienuntersätzen) und rast wie vom Teufel gejagt den Berg hinunter. Ich bin davon überzeugt, dass die rasante Fahrweise der großen Scheu der Franzosen geschuldet ist, sich in der Öffentlichkeit zu bewegen. Sie wird besonders heftig auf kurzen Distanz gepflegt, dort nämlich wo das Risiko des Sozialkontakts am größten ist. Das Auto bietet ja keine Rundum-Privatsphäre. Anders gesagt: Je schneller ich fahre, desto weniger muß ich mich in dieser diffusen Halböffentlichkeit aufhalten. Dazu passen die nunmehr fast täglichen Berichte des "Midi libre" über Verkehrsunfälle mit letalem Ausgang. Zwischen Paulhan und Nébian haben gestern vier junge Leute ihr Leben an einer Platane ausgehaucht; in Combaillaux hat vorgestern ein 28jähriger seinen 206 gegen den Baum gesetzt. Alleenbäume wurden bei uns aus verkehrshygienischen Gründen (freie Fahrt für freie Bürger) schon längst gefällt. In Frankreich aber haben sie eine hohe demographische Bedeutung, denn sie zählen zur Nummer 2 der Todesarten und tragen mithin enorm zur Entlastung der Rentenkassen bei noch höher allerdings wäre der Ertrag, würden sich mehr ältere Erwerbstätige, die bereits als hohe Nettozahler aufgetreten sind, zum Hinschied an der Platane entscheiden. Im Rang der präferierten Freitodmethoden stehen ihnen die Touchés an der Mittellinie nur um wenig nach. Das ist noch besser, weil sich die Todeswahrscheinlichkeit um den Faktor zwei erhöht. Und dann die Idealkombination: Mittelalter Geisterfahrer, der die Kasse in zehn Jahren nicht mehr belasten wird, schaltet älteres Ehepaar aus, das gerade Kassensturz ihrer 50jährigen Einzahlung machen 127 wollte. Letzte Woche war dies in Sauteyrargues, als ein 50jähriger mit einem Renault Cabrio (detaillierte Informationen zum Wagentyp war den Unfallfotos nicht mehr zu entnehmen) einen Peugeot Boxer mit einem älteren Ehepaar an Bord zermalmte. Wagen mit 34er Kennzeichen pflegen grundsätzlich in der Straßenmitte zu fahren (eine mediterrane Gewohnheit, die auch schon in anderen Anrainerstaaten aktenkundig geworden ist). Das führt schon bei normalem Gegenverkehr zu interessanten frontalen Begegnungen. Noch prickelnder wird es, wenn zum ultimativen und häufig finalen Überholvorgang gestartet wird. Die Straßenführung zwischen den Platanen bietet keine Ausweichmöglichkeit und peng. Zum Beispiel jener 63jährige, der im Geiste jung, also körperlich schnell geblieben, bei einem mißglückten Überholmanöver seinen Rentenanspruch an einer Platane in St Pargoire abgab. Der Überholvorgang, der bei uns auf der Überholspur stattfindet - ein Umstand, der das geflügelte Wort vom Leben auf der Überholspur ausgelöst hat - heißt bei den Franzosen euphemistisch „doubler“. Aber es geht nicht um die Doublette, sondern um das Überholen, und geht dies schief, dann spricht der Franzose statt von einer falschen Doublette lieber von einem "dépassement raté", einem verfehlten Überholmanöver. Macht der mediterrane Franzose ein Fahrzeug mit ausländischem Kennzeichen vor sich aus, setzt er aus dem bedingten Reflex heraus sofort zum Überholen an; ein erster Blick gilt der Automarke, der zweite dem Geschlecht des Fahrers und erst der dritte der Gegenfahrbahn - das ist ein Spiel, für das die Amerikaner, die freilich generell nicht darauf achten, welche national, geschlechts- oder markenspezifische Identität ihr Vormann hat, „Chicken game“ nennen. Der Ausdruck scheint mir korrekter zu sein, weil es sich ja tatsächlich um ein Spiel handelt, freilich eins auf Leben und Tod. 128 Madame Simone ermahnt mich täglich, so auch heute, im Straßenverkehr ja auf die „dingues“ und die „cinglés“, die Bekloppten und die Vollidioten, aufzupassen; sie seien unfähig, auch nur einen Kilometer zu fahren, ohne mindestens zwei Unfallsituation heraufzubeschwören. Madame Simone vergißt dabei nie zu erwähnen, daß ihr Mann selig sich 40 Jahre lang unfallfrei durch den Großstadtverkehr bewegt hat, und dies in Marseille, wo er einerseits unter lauter Verrückten der einzig Normale gewesen sei, andererseits als Krankenwagenfahrer sozusagen von der Idiotie seiner Mitmenschen gelebt habe. Immerhin habe ihm dies die Chance eröffnet, eines natürlichen Todes zu sterben, ausgelöst durch einen Gehirntumor: „...mindestens doppelt so groß wie Mitterrand seiner“. Wir kommen ungeschoren an den Salagou. Nach den erwähnten Vorkommnissen waren wir nicht mehr dort gewesen. Jetzt, denken wir, sind die Algen drüber gewachsen und die Seedesaster vergessen. Am Lac ist die Sommersaison ausgebrochen. Seit dem Wochenende bieten sich eine Strandbar, ein Fahrradverleih und ein Erfrischungskiosk dem zahlenden Publikum an. Außerdem sind jetzt zwei sympathische Sapier-Pompiers als Strandwächter anwesend, und ich glaube nicht, daß sie unseretwegen gekommen sind. Gleichwohl verkehren wir incognito am Strand; „Challenger K2“ ist zu Hause geblieben - trotz des Protestes der Kinder, und wir tun so, als hätten wir mit uns vor einer Woche nichts zu tun. Gottlob sind keine Zeugen der seinerzeitigen Vorkommnisse zugegen, wenigstens erkenne ich niemanden, der mich erkennen würde, und auch kein Mensch scheint sich für uns zu interessieren. Ausgenommen eine Familie aus Freiburg im Breisgau, die mitbekommen hat, daß wir Landsleute sind. Und das bedeutet für mich, daß ich heute die Paulus/Badiou-Lektüre abschreiben, ich meine zur Verdeutlichung: abschminken kann. Die Badenser sind reichlich unbedarft, wohnen Vollpension und in einer Zeltstadt bei La Grande Motte. Haben 129 bisher immer Urlaub in Mallorca und oder am Schliersee gemacht. Und weil sie die Alpen lieben und das Meer, haben sie sich dieses Jahr für die Meeralpen entschieden und bei Ikea Family gebucht, und zwar ein festinstalliertes Zelt mit allem Drum und Dran einschließlich Halbpension, Frühstück und Abendessen in einer Art Bierzelt. Sie sind losgefahren in Freiburg, haben den Autopiloten, ich meine den Navigator eingeschaltet und sind in La Grande Motte gelandet. Erst nach vier Tagen, also vorgestern haben sie gemerkt, daß La Grande Motte nicht, wie gemutmaßt, zwischen Nizza und Monte Carlo, sondern auf der anderen Seite, grob gesagt zwischen Marseille und Perpignan liegt. Es gefällt ihnen aber auch hier, nur sind sie aus begreiflichen Gründen seither schwer verunsichert und fragen sich immer wieder, wo sich gerade befinden. Der Freiburger fuchtelt ständig mit einer Karte aus dem Notizkalender herum Maßstab 1: zehn-hoch-acht -, aus der er die Koordinaten des Salagou zu ermitteln versucht. Keine Ahnung, wie sie auf den Salagou gekommen sind, es scheint mir eher ein Irrtum vorzuliegen, wollten wohl an den Golf von Biskaya. Die Freiburgerin findet es hier ganz in Ordnung, bis auf die Steine und die Tatsache, daß das Meer keine Wellen hat und es keine Kneipe mit Sangriaprobe gibt. Die 14-jährige Tochter quängelt und will wieder heim nach Grande Motte zu den Strandgigolos aus Montpellier-La Paillade. Der Achtjährige möchte Strandburgen bauen, was natürlich hier nicht geht, er bemüht sich zunächst redlich, aus dem roten Beton-Estrich die erforderlichen Baumaterialien zu fördern, und quittiert schließlich seinen Frust mit einer nicht enden wollenden Heularie. Ich lasse bei den Eltern mein Expertentum raushängen, mache viel Namedropping mit Sehenswürdigkeiten, die ich nie gesehen habe und die ich auch in diesem Leben nicht mehr zu sehen beabsichtige. Ich gebe ein paar falsche Tips, die mit allergrößter Dankbarkeit aufgenommen werden, zum Beispiel, daß nur dreißig 130 Kilometer weiter der letzte echte Vulkan des Larzac aktiv ist, oder daß in Cap d'Agde nächste Woche das nudistische Oktoberfest mit echt Münchner Bier und Carmargue-Stier am Spieß stattfindet, zu dem 20 000 nackte Deutsche erwartet werden, die traditionsgemäß nur mit blau-weiß-karierten Stulpen bekleidet sein werden. Die Freiburger nehmen das dankbar auf, obwohl sie es mit dem Nackten nicht so haben, die Freiburgerin zieht zwar am Strand von La Grande Motte das Oberteil aus, und er pinkelt auch mal in Zehnerreihen, aber ganz nackt, das haben sie nur einmal bei Sankt Peter Ording gemacht, und da waren die Kinder noch nicht da. Na immerhin ein undeutscher Wesenszug, ansonsten aber machen sie gleich den Vorschlag, daß wir sie übermorgen besuchen mögen in La Grande Motte. Morgen ginge es leider nicht, denn morgen - so kündigen sie freudestrahlend an - wollten sie zu dem Vulkan. Die Strandwächter halten mit einem Riesenfernstecher angestrengt nach Gefahrensituationen Ausschau, betrachten sich hin und wieder Badenixen am linken Ufer. Wir sind schon geneigt, uns als einschlägig erfahrene Spezialisten in irgendein Risiko zu begeben, um sie etwas bei ihrem drögen Tun zu erheitern, unterlassen dies aber, weil wir von der Ernsthaftigkeit der beiden tief beeindruckt sind. Denn nach Stunden durch nichts mehr zu überbietender Ereignislosigkeit bauen sie ein Gerüst auf, eine Art Schiedsrichterstuhl vom Tenniscourt, auf dem sie abwechselnd Platz nehmen, um besser die Seemitte in Augenschein nehmen zu können, auf der sich freilich weiter nichts tut. Hagen Knotterbeck sagt: „Sehr sympa, und so beflissen.“ Ich sage: „Ist nicht dein Alter.“ Die Kinder finden, daß das Wasser viel zu flach ist, als daß man Bademeister benötige. Davon abgesehen frappiert uns das Mißverhältnis zwischen obrigkeitshafter Präsenz bei völligem Anlaßmangel und totaler Absenz von Gefahrenmomenten, um dies mal klar und deutlich zu sagen. In 131 den meisten Küstengemeinden ist es trotz der drohenden Gegenwart des Meeres nicht viel anders; dort sind die Bademeister dazu da, am Strand Ordnung zu halten. So verdonnert die Gemeinde Frontignan ihre Angestellten, Papierschnipsel aufzusammeln und von BeignetVerkäufern Wegezoll zu kassieren. Die Freiburger veranlassen uns zum baldigen Aufbruch. Wir versprechen, daß man sich übermorgen wieder sieht. Da ist jetzt, nachdem die Ferien in Frankreich begonnen haben, der Strand von Grau du Roi bis hinunter nach Port Bou an der spanischen Grenze, ja strenggenommen von Südkalabrien bis nach Gibraltar mit Sonnenhungrigen überfüllt, Strandkorb an Strandkorb (äh, ich muß widerrufen: Strandkörbe gibt es hier nicht), also Sandburg an Sandburg, eine einzige Festung gegen Sarrazenen und Maghrebiner. Besser hier am Salagou, dem Geheimtip, den außer uns kein Mensch kennt. Das nehmen sie dankbar auf, nur der Achtjährige kriegt einen Rückfall, als ich unvorsichtigerweise das Wort Sandburg erwähne. Hagen macht mir, als wir zum Auto zurückkehren, Vorhaltungen - meine kleinen Lügengespinsten betreffend -, ich aber berufe mich auf Badiou: Wo kein Wahrheits-Ereignis ist, ja wo überhaupt kein Ereignis ist, da steht auch keine Wahrheit zu Gebote. „Außerdem“, sage ich, „hast du ja kräftig mitgeflunkert.“ Hagen sagt nichts, sie schweigt, und das kann als Drohung ausgelegt werden. Zurück in Clermont: Der Markt ist heute wegen der Ferien länger (bis 13 Uhr) und größer („afin de bien accueillir nos amis touristes et vancanciers“, „zum Wohle unserer lieben Feriengäste“). Die Preise haben sich dem touristischen Zuspruch angepaßt. Wir kaufen Artischocken nach Gramm bemessen. Denn heute wird es „Artichauts à la barigoule“ geben. Das Gericht soll auch das Kontrastprogramm zu den Restauranterfahrungen gestern (Nullpunkt der Gastronomie insgesamt) und am Sonntag (Nullpunkt der gehobeneren Gastrono- 132 mie) bilden. „Artichauts à la barigoule“ sind die Quadratur des Kreises, nein: die Kreisbildung des Dreiecks: Sie kosten (vorausgesetzt man kauft die Zutaten bei uns in Deutschland und nicht im Artischockenland Frankreich) so gut wie nichts, schmecken himmlisch (auch Kindern!) und sind allereinfachst zuzubereiten. Von Konrad Adenauer, der bekanntermaßen mit einem aktiven Wortschatz von 800 Wörtern (zum Vergleich Goethe: 80 000, Shakespeare 25 000 und Jarim 957) auskam, stammt das Wort: “Je einfacher sprechen ist eine jute Jabe Jottes.” In Abwandlung dessen könnte man für den angemessenen kulinarischen Genuß die Formel ausgeben: “Je einfacher kochen ist eine jute Jabe Jottes.” „Artichauts à la barigoule“ sind ein solches Produkt einfachster Küche, aber ich kenne keinen, der sich bei dessen Genuß je dazu verstiegen hätte, irgendetwas anderes besser zu finden oder je gefunden zu haben als „Artichauts à la barigoule“.Oder wenn sie jemandem wider Erwarten nicht schmecken, dem empfehle ich ein Wort Paul Valérys: „Ce qui est simple est faux, mais ce qui est compliqué est inutisable – Was einfach ist, ist falsch, aber was kompliziert ist, ist nicht zu gebrauchen.“ „Artichauts à la barigoule“ bilden beim Verzehr Anlaß zu Küchenund Tischgesprächen in vielfacher Variation, deren Nenner aber einheitlich ist: Nie hätte ich mir vorstellen können, daß Artischocken so gut schmecken. Variantenreich sind auch die Rezepte für das Gericht. Die einfachste (und um das vorwegzunehmen die überzeugendste) Zubereitung lernte ich erst kennen, nachdem ich selbst jahrelang die verschnörkelsten und abartigsten Rezepte von „Artichauts à la barigoule“ nachgekocht hatte. Den wichtigen Hinweis auf die folgende, ich schwöre es schmackhafteste Zubereitung fand ich per Zufall, als ich eine meiner wöchentlichen Expedition in die Welt ungewöhnlicher und abartiger Sexualpraktiken unternahm, die das Internet zu virtuellen und realen Nachahmung empfiehlt. Ich landete bei einer dieser Expeditionen auf "GayWatch-Home" der 133 Website gaystation.de, die Hinweise auf Fernsehsendungen mit entsprechenden Inhalten oder mit einschlägig beleumundeten, pardon: geouteten Personen bringt. Was mich mir höchste Erregung verschaffte, war nicht das Posing eines wohlgestalteten Gayman auf dem Bildschirm, sondern ein Fernsehtip: „Kochen mit Bio“. Seit Clemens Wilmenrod, dem früh sich selbst entleibt habenden, womöglich ungeouteten schwulen Fernsehkoch der Adenauerzeit, habe ich mir nie wieder eine Kochsendung angesehen, und auch Clemens Wilmenrod nur, weil der sich mangels Programmalternativen nicht wegzappen ließ (denn seinerzeit gab es nur ARD). Kochsendungen also seither nie: weder Schlaffer oder Laffer, noch Meuth-Neuner-Duttenhöfer (oder heißt sie Mein-Gott-NeunkirchenDudenhöfer oder Bexbach-Moinerdecker?), noch Witzigmann, noch Machwitzemann, noch Schubarek, noch Schwarzenbeck oder Willi „Ente“ Lippens. Ich unternehme keine TV-Schlemmerreisen durch die Toskana oder das köstliche Deutschland, mache mich auch nicht mit dem vertraut, was die Großmutter angeblich noch wußte, finde Koch- so unpassend wie Pistolen- oder Säbelduelle, und die Erkenntnisse in Naddels Kochbuch interessieren mich nicht die grüne und auch nicht die weiße Bohne. Also gut: Weil das Dementi immer ein Schuldeingeständnis ist, gebe ich zu, daß ich grundsätzlich keine Kochsendung im Fernsehen verpasse, genausowenig wie Thomas Gottschwall, SchalckGott-oh Gottski und die Talkrunden, in denen dann alternierend alle Köche, Naddel und Daddel, und auch Lotterschwalk wieder zu finden sind. Ich sehe auch alle Softpornos an, damit ich weiß, um wen es sich handelt, wenn Dolly Laster oder Inge Kleysel bei Bio mit Rettichen hantiert und mit Gartenkürbissen jongliert. 134 Zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges, der auch in Ensheim vieles an Veränderungen gebracht hatte, lebte hart an der Grenze zum Krummen Elsaß im lothringischen Fénétrange, das damals noch Finstingen hieß, der Amtmann Johann Michael Moscherosch. Moscherosch hat in seinem wunderbaren Werk "Wunderliche und Wahrhafftige Ge sichte Philanders von Sittewalt" ein Loblied der einfachen, aber gehaltvollen Küche angestimmt, das die Edelfreßwelle von damals und heute denunziert: "Muß dan ewere weise alzeit die beste sein? Thut es ein stuck rindfleisch, Speck vnd SaurKraut nicht mehr? Muß es alles mit Feld-huenern, Wachteln, Kramatzvoegel, Austern, Schnepffen, Schnecken vnnd Trecken verpfeffert sein? Muß es dan mit eitel Melonen, Citronen, Lemonen, Pomerantzen, Ragousts vnd Ollipotridos hergehen? Mit solchen Trachten: da mit einer jeden Zwoelff arme Maenschen haetten erhalten vnd gespeiset werden moegen." Vnd muß es dan seyn, fahre ich fort, daß alle nemlichen fresser "so frisch sich erzeigen vnnd einen Courranten daher Singen vnnd springen werden so gayl vnd ramelich als die Katzen vmb Liechtmeß?" Ganz ähnlich übrigens auch Baltasar Gracián in seinem „Kritikon“ das etwa zur gleichen Zeit wie Moscheroschs „Gesichte“ erschien: „Der Mensch nötigt alle Elemente, ihm darzubringen, was immer sie bergen: die Luft ihre Vögel, das Meer seine Fische, die Erde ihr Wild, das Feuer sein Wohlgeschmack, zur Reizung - nicht zur Befriedigung - seiner Eßlust, und noch immer beklagt er sich, es sei alles zu wenig.“ Um jedoch die Sache mit den Artischocken nicht zu vergessen, die wir zur Befriedigung unserer Eßlust zubereiten wollen: Was mich also bei Gay-Watch elektrisierte und was mich tatsächlich dazu gebracht hat, mir die Sendung trotz meiner mir bekannten stabilen Vorurteilsstrukturen anzusehen, war der Hinweis auf die Zubereitung von Artischocken mit Speck. Es handelte sich in der Tat, wie sich herausstellte, um ein weiteres Rezept aus der großen Rezeptfa- 135 milie der „Artichauts à la barigoule“, und mich irritierte weniger, daß sie (die Artischocken) nicht beim richtigen Namen genannt wurden als vielmehr die Tatsache, daß Dieter Pfaff, der sie zubereitete (und den ich meinen Vorurteilsstrukturen gemäß zunächst für Dirk Bach gehalten habe), ständig von seiner Frau erzählte. Um dies nicht weiter zu vertiefen, hier jetzt endlich das Rezept: Man nehme vier mittelgroße Artischocken, ein Pfund Schalotten, ein Pfund Kartoffeln, je 200 Gramm Dörrfleisch (in kleinen Würfeln) und Kochschinken (in Streifen), ein viertel Liter Weißwein sowie einen halben Liter Gemüsebrühe sowie nicht zu knapp Olivenöl. Die Artis chocken werden geviertelt und mit einem scharfen Küchenmesser von ihrem Heu befreit. Die vergilbten, eingerissenen oder sonstwie unansehnlichen Blattspitzen kupiert man - am besten mit einer Gemüseschere. Die enthäuteten und der Länge nach halbierten Schalotten werden nun in einem großen Bräter zusammen mit den in grob gestückelten (natürlich zuvor geschälten) Kartoffeln und den Dörrfleisch-Schinken-Stückchen im heißen Olivenöl gewendet. Das Ganze löscht man mit dem Weißwein ab, gießt die Gemüsebrühe an und gibt vorsichtig die Artischocken-Viertel hinzu, schließt den Deckel des Bräters und läßt das Gemüse eine halbe Stunde schmu rgeln. Nach der Garzeit Deckel runter und zugelangt mit allen körperlichen und mechanischen Hilfsmitteln. Es ist alles erlaubt: Messer, Gabel, Löffel und Finger. „Artichauts à la barigoule“ eignen sich genau so gut als Aphrodisiakum wie zur Befriedigung der Eßlust. Sie haben ihren Namen nicht etwa von einer Barigoulerin (so wie die Forellen Müllerin von einer Müllerin), sondern von einem unscheinbaren Pilz namens Milchling, der auf Provenzalisch "barigoule" heißt. Nicht von ungefähr sehen viele der etwa 198 einschlägigen Rezepte Champignons vor, die zusammen mit den Artischocken, dem Speck, den Schalot- 136 ten und/oder zwei in dünne Scheiben geschnittene Karotten geschmort werden. Kenner bevorzugen die ganz jungen Artischocken, die noch kein Heu gebildet haben und die nahezu mit Stumpf und Stiel, ich meine: mit Boden und Blättern gegessen werden können. Dummerweise sind sie (oder besser: waren vor Einführung des Weltmarktes) lediglich im Mai erhältlich, nur gibt's dann keine Milchlinge, weshalb man auf Zuchtchampignons auswich. Aber Milchlinge hin, Champignons her: Es gibt auch, wie gesagt, einige abgedrehte Rezepte. So werden auch zwei in Streifen geschnittene Kopfsalate mitgeschmort - schmeckt gar nicht so schlecht, einzig störend sind die schlaffen Streifen, die sich lamettaartig in den Artischockenblättern verheddern. Nebenbei bemerkt ist „laitues braisées“ ein provenzalisches Traditionsgericht, das ebenfalls mehrere in Speck gebratene und mit Wein abgelöschte Salatköpfe vorsieht. Bei einer weiteren Variante der „Artichauts à la barigoule“ werden die Spitzen von grünem Spargel beigefügt. Beliebt sind auch unzerteilte und entheute (nicht: enthäutete) Artischocken, die mit einer Farce von ausgelassenem Speck, gedünsteten Zwiebeln, Champignons, viel Petersilie, wenigen Eigelben sowie Brotkrumen gefüllt sind. Die Artischocken heute sind wieder ein toller Erfolg. Das dicke Ende kommt aber hinterher. Die Ameisen haben den Braten, ich meine den Speck, gerochen. Ganze Raubzüge setzen sich schon während des Auslassens in Bewegung, um ja nichts zu verpassen. Sie waren also die ganze Zeit nur in Lauerstellung, haben sich in den vergangenen Tagen, da wir aushäusig zu Tische saßen, ein bißchen im Garten rumgetrieben, hier eine tote Zikade auseinandergenommen, dort vom Rispelchen eines Trockengrases genascht, zur Zerstreuung einen etwas zu langsamen Käfer lebendigen Leibes zersägt, ihren Ameisenbau neu verputzt, mittels ihrer Kommunikati- 137 onsdüften ein wenig geratscht und sich vor allem über die Zweibeiner kaputtgelacht, die mit ihrem „KB Cafards Cafouet“ statt mit körpereigenen Säuren und Giften herumgespritzt haben. Sie sind also noch da und bereits auf dem Tisch, als wir uns an den Nachtisch hermachen (Beignets aus dem Supermarkt zu 75 Cent das Stück). Hagen Knotterbeck steht der Schreck ins Gesicht geschrieben. Was tun gegen die neuerliche Invasion. Das Gift hat nichts genutzt, die Spülaktionen waren vergebens, das Manifest hat sie unbeeindruckt gelassen, mit Flammenwerfern dürfen wir hier nahe der Garrigues nicht hantieren und zur Nuklearverteidigung sind wir nicht in Lage, auch nicht willens, weil wir dann vermutlich mit Großmutationen zu rechnen hätten. Ich krame in meinem Gedächtnis, mir fällt ein, was mir bisher noch nicht in den Sinn gekommen war, daß Mark Twain Substantielles und gleichermaßen Herabsetzendes und auch diese Kleinspezies zutiefst Entwürdigendes gesagt hat. Ich instruiere Kiki und diese trägt zum besseren Verständnis der Ameisen mit ihrer hellen Stimme die Zusammenfassung einer Twain'schen Erkenntnis vor, die ich im Folgenden in der Originalfassung, aber stark gekürzt wiedergebe. Sie beruht auf einer Bemerkung, die Twain bei seinem Bummel durch Europa zwischen Ottenhöfen und Allerheiligen im Schwarzwald machte: "Seit vielen Jahren beobachte ich die Ameisen nun immer wieder, wenn ich etwas Gescheiteres tun sollte, und bisher ist mir noch keine lebendige Ameise begegnet, die mehr Sinn und Verstand zu haben schien als eine tote...Ich gestehe ihr selbstverständlich ihren Fleiß zu; sie ist das am härtesten arbeitende Geschöpf der Erde wenn gerade jemand zuguckt -, aber ich habe ihr doch ihren Schwachsinn entgegenzuhalten. Sie geht auf Futtersuche aus, macht ihren Fang, und was tut sie darauf? Geht sie nach Hause? 138 Mitnichten - alles andere als nach Hause. Sie weiß nicht, wo sie zu Hause ist. Ihr Heim mag vielleicht nur einen Meter entfernt sein - tut gar nichts, sie kann es nicht finden. Sie macht, wie ich schon sagte, ihren Fang; in der Regel handelt es sich um etwas, das weder ihr noch sonst jemandem irgendwie von Nutzen sein kann; es ist gewöhnlich siebenmal größer, als es sein sollte; sie sucht lange nach der ungeschicktesten Stelle, und da packt sie zu; sie stemmt es mit schierer Kraft hoch in die Luft und macht sich auf den Weg - nicht nach Hause, sondern in entgegengesetzte Richtung; nicht gelassen und klug, sondern in wilder Hast, die ihre Kraft vergeudet; sie stößt auf einen Kiesel, und anstatt ihn zu umgehen, klettert sie, die Beute nachzerrend, rückwärts über ihn hinweg, purzelt auf der anderen Seite herunter, springt zornig auf, klopft sich den Staub von den Kleidern, spuckt in die Hände, packt grimmig nach ihrer Habe, reißt sie sie hierhin, dann dorthin, schiebt sie nun vor sich her, macht im nächsten Augenblick kehrt und schleppt sie nun vor sich her, macht im nächsten Augenblick kehrt und schleppt sie nach, wird wütender und wütender, stemmt sie dann plötzlich steil hoch und rast in eine vollkommen neue Richtung davon; trifft auf ein Unkraut; der Gedanke, das Unkraut zu umgehen, kommt ihr nicht - nein sie muß über das Unkraut hinwegklettern, und sie klettert, zerrt ihren wertlosen Besitz bis in die Wipfel - was ungefähr so gescheit ist, wie wenn ich einen Sack Mehl von Heidelberg nach Paris über den Turm des Straßburger Münsters hinweg trüge ... Nach etwa einer halben Stunde gelangt sie an eine Stelle, die etwa eine Handbreit von der Stelle entfernt liegt, von der sie aufgebrochen ist, und hier legt sie ihre Last ab ... Nun wischt sie sich den Schweiß von der Stirn, streckt die Glieder und marschiert dann in nicht geminderter Hast ziellos davon. Im Zickzack erwandert sie sich eine Menge Gelände und stolpert so nach einer Weile auch wieder über ihre Beute. Sie erinnert sich nicht, sie jemals gesehen zu haben; sie wirft Blicke nach allen Seiten, um festzustellen, wo es nicht nach Hause geht, 139 schnappt ihr Bündel und zieht los ... Die Wissenschaft hat kürzlich herausgefunden, das die Ameise keine Wintervorräte anlegt. Damit dürfte sie für die Literatur so ziemlich erledigt sein [der einzige Sachverhalt, in dem Mark Twain sich getäuscht hat. Dies zeigt beispielsweise die hohe Reputation, die Twains Landsmann, der Ameisenforscher und Soziobiologe Edward O.Wilson mit seinen ausufernden Arbeiten zur Ameise findet. Das bescheuerste Buch, das ich je gelesen habe stammt von Wilson und heißt „Consilience. Einheit des Wissens“. C.J.] Sie arbeitet nicht, es sei denn, es schaue jemand zu, und auch dann nur wenn tote ... Sie besitzt noch nicht einmal genügend Scharfsinn, um Genießbares von Ungenießbarem zu unterscheiden. Das läuft auf Unwissenheit hinaus und wird den Respekt schmälern, den die Menschheit vor ihr hegt. Sie kann nicht um eine Stoppel herumschlendern und trotzdem noch den Weg nach Hause finden. Das läuft auf Schwachsinn hinaus, und wenn diese schädigende Tatsache erst einmal unzweifelhaft feststeht, werden nachdenkende Menschen aufhören, zu ihr aufzusehen, und gefühlvolle, sie zu hätscheln. Ihr so gepriesener Fleiß ist nichts weiter als Ruhmsucht und ohne Wirkung, da sie nie etwas zu Ende bringt, was sie anfängt. Damit ist auch der letzte Rest ihres Rufes hin, ihre vornehmliche Nützlichkeit als Werkzeug der Moral erledigt, da nun der Faulenzer zögern wird, sich auch weiterhin zwecks bessernder Belehrung an sie zu wenden. Es ist sonderbar und absolut unbegreiflich, das ein so ausgemachter Aufschneider wie die Ameise es fertiggebracht hat, so viele Völker zum Narren zu halten, und zwar so raffiniert, daß man ihr jahrhundertelang nicht auf die Schliche gekommen ist." Twain dixit, und krawum! Das hat gesessen. Die Ameisen purzeln vom Tisch, können sich, unten angekommen, kaum berappeln, so verwirrt sind sie, machen sich in heilloser Flucht davon und verlaufen sich im Garten. 140 Darauf stoßen Hagen und ich an, die Kinder bekommen Ameisensäu.., nein Gänsewein. Wir verbringen einen friedvollen Abend, voller Behagen, lassen uns vom Wind umschmeicheln, und, weil wir wunschlos glücklich sind, danken den Sternschnuppen, die sich heute besonders üppig präsentieren, für das Ende ohne Schrecken. Donnerstag, 6. Juli Beim Gang zum Bäcker, diesmal über den Chemin des Roques, sehe ich im Vorgarten, kaum drei Meter von mir, einen vierschrötigen Kerl, so an die 60, feist, braungebrannt. Ich grüße, er sieht mich auf jene feindselige Art an, die den Kötern auf dem Nachbargrundstück sehr gut zur Schnauze steht: Eine Personifizierung des Slogans „bête et méchant – dumm und bösartig“, den der Satiriker Cavanna Anfang der 60er für das „juste milieu“ erfunden hat und der bis heute der Slogan seines Satiremagazins „Hara-Kiri“ geblieben ist. Der Vorgartenmensch selbst hat nur das übliche Plüschtier, das Leute in seinem Alter so mit sich herumtragen wie früher die Omis ihren Muff - kein P’etit caniche blanc diesmal, sondern eine kackbraune Ausgabe - so wie die Farbe seines Hemdes. Ich bin etwas früher aufgestanden, um im fiktiven „Café du Commerce“, an der Place de la Liberté, einen kleinen Plausch zu halten. Das Café wird gebildet von einer Sitzbank und der Mauerbrüstung, die den Platz von den angrenzenden Privatgrundstücken trennt. Natürlich ist auch Madame Simone zugegen, ich höre ihr Organ schon fünf Straßenecken vor dem Rencontre. Ich frage sie, was man mit den "oignons doux", den vielgerühmten milden Zwiebeln aus dem Nachbarort Lézignan anstellen kann. Sie sagt mit entwaffnender Ehrlichkeit: "Nicht viel. Ist ein Verkaufstrick der Bauern dort, gibt’s 141 überall, nicht nur in Lézignan. Sind gut, wo rohe Zwiebeln passen, für den ‚fromage blanc‘ beispielsweise, oder bei Leuten mit starkem Mundgeruch und für solche, na ja, Sie wissen schon..." Sie haut mir auf den Hintern. Die Klatschweiber aus ihrer Zuhörerschaft kreischen vor Lachen. Eine jede weiß was zu erzählen über die Flatulenz, von beabsichtigten Auswirkungen und ungeahnten Folgen. Alle brüllen jetzt durcheinander, fehlt nur noch, daß sie ein Exempel statuieren. Ich mache mich vorsichtshalber aus dem Staub, werde aber noch eine Weile von unverständlichen, aber eindeutigen Bemerkungen verfolgt, die sich (da bin ich mir ganz sicher) auf sämtliche Ausscheidungsorgane beziehen. Habe ich da nicht ganz zum Schluß noch was von "Schwanz einziehen" gehört? Wie es der Zufall will, bietet heute der Nachbar des Brotdepots "oignons doux" auf seiner Etagère an. Ich kaufe welche und füge sie dem Kartoffelsalat hinzu: in Würfel geschnittene Pellkartoffeln, Tomaten, Vinaigrette aus Öl und Weißweinessig, Zwiebelstücke dazu, fertig. Später in Clermont erwerbe ich beim Traiteur in der Rue Doyen René Gosse ein sündhaft teures „poulet rôti“. Der Händler fragt, ob ich bei ihm schon mal ein „poulet rôti“ erworben hätte. Ich verneine. Er fragt, wie alt ich sei. Ich antworte, viel zu alt. Darauf macht er macht eine hochdramatische Geste, holt tief Luft und stößt sie mit den Worten aus: "Sie Unglücklicher, da sind Sie nun so alt und haben in Ihrem Leben bisher das Beste verpaßt." Er dreht dabei eine Pirouette, um das gesamte imaginäre Publikum an seinen Deklamationen teilhaben zu lassen. Seine Poulets seien nicht nur die besten von Clermont, sondern des ganzen Hérault, wenn nicht des gesamten Midi. Ich glaub's ihm, drücke meine Zustimmung mit heftigem Kopfnicken aus, um Offerten von weiteren „Best-of“Produkten zu entgehen, und verdünnisiere mich. 142 Wir sind ohnehin in Eile, denn wir müssen um Punkt zehn in St Guilhelm-le-Désert sein. Dort haben wir bei dem Anbieter „Rapido“ zwei Boote (Tagesmiete 80 Euro) bestellt. Wir müssen ja den Kindern Ersatz bieten für die entgangenen Freuden mit „Challenger K2“; wir haben ihnen eine abenteuerliche Wildwasserfahrt auf dem Hérault für ihre Zustimmung erkauft, daß „Challenger K2“ im Trockendock bleibt. Sie waren bestechlich, und so befinden wir uns jetzt in einem Kleinbus, mit dem offensichtlich schon Partisanen während der deutschen Besatzung transportiert wurden und der uns in halsbrecherischer Fahrt von St Guilhelm über die Hochebene bei Causse-de-la-Selle auf Serpentinen wieder hinunter zum Ausgangspunkt an den Barrage Bertrand, einem kleinen Stauwerk, bringt. Wie bei der geglückten Landung eines Charterfliegers brandet Beifall auf, als wir unseren Bestimmungsort unversehrt erreichen. Der Flußabschnitt, den wir vor uns haben, hat den Vorteil, daß er durch menschenleeres Gebiet führt. Kein Weg und keine Straße kommt an den Hérault heran, und die Steilhänge schirmen das Gewässer vor jedweder touristischen Nutzung - mit Ausnahme der Bootsdurchquerung - ab. Mit uns startet eine amerikanische Familie, eine Gruppe von neun Franzosen beiderlei Geschlechts, ein älteres dänisches Ehepaar, ein französisches Motorradpärchen, vier Männlein und Weiblein aus Belgien, die irgendwie den Status des Verlobtseins ausstrahlen, und zwei holländische Paare gleichen Alters, die aber im Vergleich zu den Belgiern eine Generation älter wirken. Wir vertrödeln ungefähr eine Stunde, bis wir alle gewassert sind; nur das amerikanische Paar mit seinen beiden halbwüchsigen Kindern, so stellt sich schnell heraus, kann mit einem Kanu umgehen. Die Amerikaner wirken etwas schüchtern, blicken hilflos um sich, als ihnen die drei Rapidoleute in schlechtem Französisch, dafür aber 143 umso wortreicher erklären, wo überall todbringende Gefahren im Hérault lauerten und welche Sicherheitsmaßnahmen aufgrunddessen unbedingt einzuhalten seien, gehen - da sie von allen anderen übervorteilt wurden - mit dem ältesten Boot als letzte an den Start. Aber kaum abfahrbereit, zischen sie auch schon an uns allen vorbei, als gelte es, die Abfahrt auf dem Colorado zu gewinnen. Ich drehe mich derweilen mit Consuelo Vladimir im Kreis; Hagen Knotterbeck und Kiki Estragon sind schon etwas geschickter, haben aber Mühe, sich aus dem Strudel unterhalb des Barrage zu lösen. Die französische Gruppe - ich schätze so im Alter zwischen 25 und 35 - albert mit großem Gekreisch im Landungsbereich herum. Sie haben sich augenscheinlich zum Ziel gesetzt, die Kissenschlacht von gestern abend mit nasseren Mitteln fortzusetzen. Nach zwei Minuten steht das Wasser in ihren Booten dezimeterhoch; zwei der (zugegeben attraktiven Damen) haben ihr Oberteil verloren. Nach vier Minuten müssen die Kanus zum erstenmal geleert werden; nach acht Minuten wird der Verlust von drei Paddeln gemeldet; fünf Minuten später stakst einer der Herren einem Weißstorch gleich durch den hier dankenswerterweise seichten Fluß, um seine Brille zu suchen (obwohl doch in den Geschäftsbedingungen unmißverständlich festgehalten ist, daß Brillen mit Brillenschnüren zu sichern sind). Der Verlust von weiteren Oberteilen ist indessen nicht zu beklagen, dafür aber sind jetzt zwei Kanus gekentert. Als wir uns endlich aus dem Gruppenknäuel gelöst haben (wie gesagt inklusive Wassern nach circa einer Stunde) geht die Fahrt zügig talwärts. Doch schon nach etwa dreihundert Metern hören wir hinter uns ein großes Geschrei, das unvermittelt von freudig ausgelassenem wasserspielinduzierten spitzkegeligen Wonnerufen in panisches, ja hysterisches Klagegeheul übergeht. Wir fühlen uns alarmiert und steuern sofort das gegenüberliegende Flußufer an, wo ich, als hätte ich noch nie in meinem Leben etwas anderes getan, 144 professionell die Boote sichere, auf daß wir, ohne durch Manövriertätigkeit behindert zu werden, nicht den Überblick über das Geschehen verlieren. Wie sich später herausstellt, war ein Franzose über Bord gegangen und nicht wieder aufgetaucht. Anfänglich erwarteten die Frauen wohl noch, daß er jäh wie Neptun aus den Fluten jagt, um ihnen mit seinem Dreizack die Bikinihöschen zu entreißen, von daher die wonniglichen langezogenen Rufe, die ich halbbewußt als „Yyyyyves“ deutete, aber Yves war nicht Neptun, (es wird bald heißen, er habe gleichwohl gut schwimmen gekonnt), und Yves taucht nicht auf. Alle sind wie gelähmt, bis auf die Amerikaner, die längst schon hinter der nächsten Flußbiegung verschwunden sind. Wir reden auf die verunsicherten Kinder ein, erzählen ihnen, daß wir so etwas schon mal erlebt haben. Da hat einer den Vermißten markiert, sich in die Büsche geschlagen, und die Boote an der nächsten Engstelle gekapert. Aber so ganz leuchtet diese Erklärung uns selbst nicht ein. Schon nach einer Viertelstunde hektischen und laienhaften Suchens im Fluß (zu dem auch ich von Mme Knotterbeck abkommandiert worden bin) sind die Sapier-Pompiers aus dem nahegelegenen Saint-Martin-de-Londres da. Taucher machen sich auf den Weg. Nach zehn Minuten ziehen sie Yves an Land. Die mittlerweile ebenfalls eingetroffenen Sanitäter versuchen es mit Wiederbelebung, aber alle Mühe ist vergeblich, und Yves geht als der dritte Tote des Hérault in die diesjährige Saisonstatistik ein. Die Herren der Gruppe sind schreckensbleich, die Damen, soweit sie der Bikinioberteile entbehren, versuchen ihre Blöße zu bedecken; allein die Wet-Shirts lassen das, was verborgen werden soll, in noch obzönerer Weise hervortreten. Eine junge Frau ist in einen Schreikrampf gefallen und muß von ihren Begleitern sistiert werden - vermutlich handelt es sich um die Verlobte oder Freundin des Ve rblichenen. 145 Wahrscheinlich, rekonstruiere ich für mich und meine Familie den Hergang, erhielt Yves, der sich mit unlauteren Absichten schwimmend einem der Boote genähert hatte, unversehens einen Schlag von den bei der Verteidigung ihrer Tugend wild mit dem Paddel um sich schlagenden Damen und ist jämmerlich ertrunken, ohne daß es die Bootsinsassen (ich verbiete mir den Ausdruck „Insassinnen“, klingt irgenwie nach „Assassinen“) so richtig gewahr wurden. Wie wir am nächsten Tag aus dem "Midi libre" erfahren werden, sind dem Ertrunkenen statistisch gesehen zwei junge Männer vorausgeeilt, die aber im Unterschied zu ihm nicht zuviel Wasser geschluckt haben, sondern in Folge eines Sprungs von der Brücke (einer am Pont du Diable eingangs der Gorges de l'Hérault, der andere unweit von hier an der Brücke zur Chapelle de Saint-Etienne-d'Issensac) an nicht eingeplanten Untiefen zerschellt sind. Hagen Knotterbeck sagt zunächst gar nichts, klappert aber mit den Zähnen, die Kinder starren mit schreckgeweiteten Augen auf den Unfallort. Ich bin ebenfalls erschüttert, lasse mir aber nichts anmerken, nutze im Gegenteil den Anlaß, auf den gefährlichen Leichtsinn bei jeglicher Art von Wassersport hinzuweisen. Ich tue dies weniger, um tatsächlich pädagogischen Niesnutz aus der tragischen Situation zu ziehen, als vielmehr, um mit einer Politik der ruhigen Hand kein familiäres Machtvakuum und Kompetenzdefizit aufkommen zu lassen. Denn Hagen Knotterbeck plädiert bereits für Abbruch der Kanufahrt. Ich bin - weil mich die 80 Euro mehr schmerzen als mich die Erschütterung erschüttert - für unbedingte Weiterfahrt. Das mit den 80 Euro verschweige ich selbstredend; ich entwickele lieber fünf plausiblere Argumentationsfiguren für die Weiterfahrt, die im folgenden - freigeben zur weiteren Verwendung - aufgeführt sein mögen: 146 a) die utilitaristische Argumentation: Durch unsere Weiterfahrt beglaubigen wir die Harmlosigkeit des Wassersports auf dem Hérault (was ja auch in Wirklichkeit der Fall ist, wenn man sich nicht zum Leichtsinn verführen läßt). Die Möglichkeit des ausgelassenenen, freilich auch geordneten Treibens in den Fluten des Flusses aber ist für den Tourismus unabdingbar. Die Verantwortlichen können einen Geschäftseinbruch nicht gebrauchen, im Gegenteil, blühendes Geschäft bringt Gestaltungsfreiheit für noch mehr Sicherheitsvorkehrungen. Oder anders gesagt: Sicherheit benötigt Unfälle (oder auch Terrorschläge), um sich als Ordnungs- und Disziplinierungsfaktor immer wieder neu zu (re-)konstituieren. Dieses Prinzip bejahen wir durch unser Verhalten. Die utilitaristische Argumentation verfängt bei der Familie nicht. Eine Begründung wird nicht gegeben. Deshalb b) die konsequentialistische: Es ist im Sinne von Yves, daß wir weiterfahren. Er hatte sich so auf die Wasserspiele im Hérault gefreut (unterstelle ich leichterdings); wir erfüllen sozusagen mit der Entscheidung gegen den Abbruch sein Vermächtnis. Die Familie runzelt die Stirn. Also gleich weiter zu c) der kasuistisch-jesuitischen: Wenn wir abbrechen, geben wir zu, daß eine Kanufahrt auf dem Hérault gefährlich ist. Damit aber lenken wir von der Tatsache ab, daß das Unglück allein auf Leichtsinn zurückzuführen ist. Aber ganz davon abgesehen, daß die Abrede von Leichtsinn der Wahrheit widerspricht und daher lügnerisch und gleißnerisch genannt, ja als im moralischen Sinne höchst verwerflich gebrandmarkt werden muß - wie könnten je Erfahrungen mit realen Gefahren gemacht werden, wie könnte insgesamt Lebensbewältigung betrieben werden, die den Risiken des Lebens gerecht wird, wenn der Handlungsabbruch zum Lebensprinzip erhoben würde? 147 Die Familie räumt ein, daß da es dran ist, hält aber das Argument für nicht hinreichend, einen Abbruch zu begründen. Alsdann d) die Figur der Üblichkeit: Das Leben geht weiter, wollen wir hier sitzen, bis wir einen Sonnenbrand bekommen oder gar einen Sonnenstich? Yves erweisen wir damit keinen Gefallen. Wir holen wir ihn nicht zum Leben zurück, gefährden aber uns selbst und unsere Gesundheit. Das zieht bei den Meinen, aber ich triumphiere noch mit e) der pragmatischen: Wenn wir hierbleiben, müssen wir als Zeugen zur Verfügung stehen (obwohl wir nichts gesehen haben). Das kann Stunden dauern. Besser, wenn wir uns jetzt, wo noch alles mit den schnatternden Weibern aus Yves‘ Truppe beschäftigt und die Polizei noch nicht eingetroffen ist, aus dem Staub, ich meine aus den Fluten machen. Wir schwingen uns in die Boote und fahren in geduckter Körperhaltung davon, bis wir nach der nächsten Biegung die Menschenansammlung zu Wasser und zu Lande aus den Augen verlieren. Das Leben geht weiter, aber wie heißt es so schön nach jedem Ereignis, das beim Menschen Entsetzen auslöst? Nichts wird so sein wie vorher. Ich kann diesen Gemeinplatz gut verstehen - er ist schon uralt, und ich habe ihn als Kind bereits meinem Erfahrungsschatz einverleibt. Ich mußte damals an fast jeden Sonntag meinen Opa zum Ensheimer Flugplatz begleiten. Opa, im Ersten Weltkrieg Flieger mit passiver Erfolgsbilanz - er hat einen Absturz überlebt, aber meines Wissens keinen der Feinde zu Fall gebracht - pflegte des Sonntags das aviatorische Geschehen mit den startenden und landenden und zuweilen auch abstürzenden Maschinen (das Fluggerät in den 50er Jahren war durchweg veraltet und daher höchst störanfällig) wehmütig zu beobachten, und in mir hatte er einen unkritischen Konsumenten seines Fliegerlateins nach Art des Käpt’n Blaubär. 148 Nach unserem Flughafenbesuch sind wir dann immer in "Cunze" eingekehrt, Opa hat zwei Bier zu je saarländischen 35 Franken getrunken und eine Fehlfarbe zu fünf Franken geraucht, ich bekam eine Bluna zu 25 Franken - es herrschte noch die volle Parität zum alten französischen Franc, der bis zu de Gaulles Machtergreifung 1958 in Kraft war. Einmal im Jahr genehmigte uns Opa einen Flug, passiv natürlich, ein Rundflug für 1200 Franken. Meistens saßen wir in dem Flieger, der für Neufang-Bier Reklame flog. Es handelte sich dabei um einen Tiefdecker, der den Vorteil hatte, daß er zu preiswerten Tarifen flog, aber den Nachteil, daß man wegen der breiten Tragflächen außer dem Himmel und den Wolken nichts sah. Der Ein- und Ausstieg bei Tiefdeckern geschieht bekanntlich über die Tragflächen, und so durfte ich mit eigenen Augen erleben, wie einmal ein unvorsichtiger junger Mann im Alter von Yves das gerade zum Stehen gekommene Flugzeug verließ, leider (für ihn) nicht nach hinten, wie es korrekt gewesen wäre, sondern (günstig für mich, der das, was nun kam, sehen durfte) nach vorn. Der auslaufende Propeller hieb ihm das linke Ohr ab, er blutete wie ein Schwein und sank bewußtlos auf die Rollbahn. Für mich war dies ein Erlebnis, das mein Leben veränderte. Künftig war nichts mehr so wie zuvor. Immer, wenn ich sonntags den Neufangflieger sah, konnte ich Umstehenden davon berichten, daß ich einerseits schon mit ihm geflogen bin und andererseits eigenäugig gesehen habe, wie der Propeller einem Mann sein Ohr abgehackt hat. Ich denke, daß es uns - und ich denke da natürlich insbesondere an Consuelo Vladimir und Kiki Estragon - nach dem heutigen Tag ebenso geht. Wir werden immer sagen können: Wir sind mit dem Bootchen auf dem Hérault gefahren und dabei ist Yves abgesoffen. Dieses Erlebnis wird sich also als ein Erfahrungsschatz herausstellen, die wir im späteren Leben nicht mehr missen möchten, man ist geneigt zu sagen: Danke Yves! Dabei fällt mir noch eine Argumenta- 149 tionsfigur f) ein, die ich freilich nicht mehr benötige, weil die Familie ja willfährig meinem Vorschlag gefolgt war. Ich will sie aber dennoch zur Belehrung des geneigten Publikums referieren: Schon nach wenigen hundert Metern wird Yves aus unserem Kurzzeitgedächtnis gelöscht sein. Wir werden nämlich überwältigt sein von der landschaftlichen Schönheit des Engtals. Außerdem werden wir uns immer wieder von dem Anblick der Steilhänge frei machen müssen, die dem Fluß einen dramatischen Rahmen verschaffen und ihn wilder aussehen lassen, als er in Wirklichkeit ist, denn auch ein vergleichsweise zahmes Wildwasser wie der Hérault hat seine Tücken, und die tauchen immer wieder unvermittelt auf und lassen die Tücken, an denen Yves gescheitert ist, Tücken, die er sich selbst geschaffen hat, vergessen. Wir werden aufpassen müssen, daß wir korrekt über die flachen Stromschnellen kommen, daß wir nicht auf Grund setzen, nicht die Tonne mit unseren Klamotten verlieren, insbesondere nicht die Kühlbox mit dem sündhaft teuren Poulet und dem kaum preiswerteren Rosé aus der Kooperative in Cabrières und natürlich auch noch meinen Kartoffelsalat mit den „oignons doux“. Wir werden über alldem Yves vergessen, aber das heißt im Umkehrschluß - und eben darin besteht der Gehalt der Argumentationsfigur f): Er und sein tragisches Schicksal werden uns im Langzeitgedächtnis umso lebendiger ("lebendiger"?) bleiben. Quintessenz aus f) also: Wir lassen uns von den Ereignissen unmittelbar nicht beeinflussen und gehen in gewohnter Weise unseren Verrichtungen nach; dies ist die Voraussetzung dafür, daß das Geschehen in seiner Plastizität und mit seiner ganzen Wirkmächtigkeit in uns für alle Zukunft präsent bleibt. Ich bin sehr zufrieden mit dieser meiner Erkenntnis, lehne mich behaglich im Boot zurück, um mich von ihrem intellektuellen Nachhall durchfluten zu lassen und werde - potzblitz - sogleich selbst geflutet. Ich habe ein Riff übersehen, das Boot dreht sich, wird wie 150 ein übersteuertes Fahrzeug aus der Rinne getragen, schlägt breitseits an eine flach überspülte Barriere und kippt seinen Inhalt, das heißt mich, die Tonne und Consuelo über das Riff in die dahinter liegende Wanne. Das vom Tiefgang entlastete Boot schießt jetzt durch die Schnelle an uns vorbei und macht sich flußabwärts davon. Consuelo und ich suchen rasch unsere Habseligkeiten zusammen, schwimmen ans Ufer und setzen über das Kiesbett zu Fuß dem Boot und der Tonne nach. Unser Glück, daß der „maquis“, jenes undurchdringliche Gestrüpp des Südens, das sich von den Hängen ergießt, an diesem Flußabschnitt nicht ganz bis zum Ufer führt, so daß wir nach kurzem Sprint unser verwaistes Gefährt wieder erreichen. Aber die Tonne hat eine günstigere Strömung erwischt, sie düst davon und ist nach wenigen Minuten aus unserem Gesichtskreis verschwunden. Hagen Knotterbeck und Kiki Estragon sind inzwischen ebenfalls eingetroffen - sie haben sich augenscheinlich nicht so sehr mit Yves beschäftigt und sich mehr auf das Wasser konzentriert. Wir beschließen, uns von dem Schreck zu erholen und unsere Vorräte aufzuzehren, bevor auch diese womöglich noch verloren gehen. Die Kühlbox mit dem sündhaft teuren „poulet rôti“ war als Wertgut natürlich in Hagens Boot verstaut gewesen und steht uns mithin zur Verfügung. Das gleiche gilt für den Wein und wider Erwarten auch für meinen Kartoffelsalat. Wir lassen uns auf einer Kiesbank nieder und packen unsere Vorräte aus. Mir aber will das sündhaft teure „poulet rôti“ gar nicht so richtig schmecken, denn ich hadere noch mit meinem Ungeschick. Während meine Lieben schmatzen und Yves den toten Yves sein lassen (ich wies ja bereits auf die mangelnde Leistungsfähigkeit des Kurzzeitgedächtnisse hin) präpariere ich mir zur Ablenkung einen weiteren Gedanken, der als Argumentationsfigur g) Geltung bean- 151 spruchen könnte: Yves hat es gar nicht verdient, daß man seiner gedenkt oder auf einer zweiten Reflexionsebene dem Gedenken seiner gedenkt. Denn wenn man an ihn oder an den Gedanken an ihn denkt, dann handelt man selbst in grob fahrlässiger Weise. Was wäre passiert, wenn wir aus Pietät die Bootsfahrt abgebrochen hätten? Wir hätten uns erstens einem anstrengenden Verhör unterziehen müssen, wären aus naheliegenden Gründen nicht in der Lage gewesen, am Ort des Unglücks unser sündhaft teures „poulet rôti“ zu verzehren, hätten nach Stunden des Verhörs und des Darbens erst wieder gegen Abend zu unserem Auto zurückgefunden, hätten auf der Heimfahrt womöglich bei dem Gedanken an Yves und die Vernehmungen zum Tathergang, dazu noch in Folge der Entbehrungen verkehrsbezogene Unaufmerksamkeiten begangen und im schlimmsten Falle uns selbst an Leib und Leben gefährdet. Nein, Schluß ist jetzt mit Yves, kein Gedanke mehr an ihn, keine weiteren Argumentationsfiguren ha bis zett; mir schmeckt jetzt das sündhaft teure „poulet rôti“ wieder, doch kann auch der immer noch sehr gut temperierte Rosé einen Gedanken nicht vertreiben, der jetzt in mir aufbrandet und der der Tonne gilt: Was wird uns der Bootsverleiher für ihren Verlust in Rechnung stellen? 30 Euro, 45 Euro oder sündhafte 60 Euro? Unsinn, sagt Mme Knotterbeck, das zahlt doch die Versicherung. Doch das ist keine Beruhigung für mich: Ich weiß nicht, ich kenne dieses Verleihergesindel. Die sind wahrscheinlich gar nicht versichert. Die Prämien für den Hérault sind viel zu hoch, wenn es hier lauter Tote gibt. Die behaupten dann, wir hätten die Tonne nicht ordnungsgemäß und betriebsanweisungsgerecht vertaut. Ich nehme nach dem Picknick mit gemischten Gefühlen die Kanufahrt wieder auf, und werde nach etwa einem Kilometer von meinen dunklen Gedanken erlöst. Am Ufer winken die Amerikaner und deuten auf eine gelbe Tonne, die sie aus dem Wasser gefischt haben. Es ist die unsere - wir erhalten sie unversehrt zurück und 152 danken unseren Wohltätern mit einer ausführlichen und deutlich überzeichneten Schilderung der tödlichen Vorgänge flußaufwärts. Immer wieder machen wir kleine Pausen und baden an lauschigen Flußabschnitten in dem erfrischenden, aber nicht allzu kühlen Naß. Ich bin mir, als wir nach vier Stunden an unserem Zielpunkt ankommen, sicher, daß wir bald einen unserer schönsten und erlebnisreichsten Ferientage hinter uns haben werden, an den wir noch lange denken werden. Aber noch ist nicht aller Tage Abend, auch die Rückfahrt nach Péret steht im Erlebnisreichtum den bisherigen Tagesereignissen in nichts nach. Denn zwischen St Jean-de-Fos (nahe dem Pont du Diable) und St-André-de-Sanconis (kurz vor Clermont) hält uns eine Wand aus schwarzem Rauch gefangen. Nein, keine Angst, es handelt sich nicht um einen Massenunfall mit weiteren Toten. Es ist vielmehr eine Barrikade brennender Gummireifen, die uns an der Weiterfahrt hindert. Der Verkehr wird von Winzern oder Bauern, jedenfalls einigen grobschlächtigen Gestalten agrikulturellen Herkommens, über einen parallel zur Straße führenden Feldwirtschaftsweg umgeleitet. Transparente stellen klar, daß es sich hierbei um eine Demonstration handelt, und zwar eine Demonstration gegen alle und alles, was nach Meinung der Protestler die Entwicklung des hiesigen Weinbaus hemmt: den blindwütigen Weltmarkt, die Versager in der Regierung, die Terroristen in der EU, die doofen Konsumenten undsoweiterundsofort. Die Winzer nutzen die Gelegenheit, ihr Mütchen an einigen Autofahrern zu kühlen, die sich dieser Sicht der Dinge nicht umstandslos anzuschließen bereit sind. Sie führen eine Art der Personenkontrolle durch, lassen sich zwar nicht die Fahrzeugpapiere zeigen, sondern durchmustern mit mißtrauischem Blick das Wagen- 153 innere, um verdächtige Insignien ausmachen, die auf eine abweichende Meinung zu der ihrigen hindeuten könnten. Wir als Touristen sind weniger gefährdet. Der Franzose als solcher, und da machen auch aufgebrachte Protestierer keine Ausnahme, tritt aufgrund des Sprachenproblems mit Ausländern ungern in Gesprächskontakt; außerdem deutet unsere Rostlaube auf eine gewisse Ärmlichkeit hin, die nicht in einen direkten Zusammenhang mit den Problemen der Winzer hier zu rücken ist, und so werden auch wir zunächst durchgewinkt - zunächst wohlgemerkt. Denn ich mache in einem jäh aufwallenden, mir selbst unerklärlichen Gefühl der Solidarität das VZeichen, und das ist ein Fehler, wie sich schnell herausstellt. Sei es, daß es als Siegeszeichen, das nicht ihnen gilt, sondern als Geste des Triumphes von einem, der hier unbelästigt durchkommt, mißverstanden oder als mißlungener Stinkefinger oder als im fernen Ausland als Zeichen der Mißfallens geltende Geste mißinterpretiert wird, sofort stürzt sich der Trupp auf unser Auto, ich werde aus dem Wagen gezerrt und einem hochnotpeinlichen Verhör unterzogen. Was das soll? Was wir hier herumzufahren hätte, und überhaupt. Die Angreifer sehen jedoch sehr schnell, daß es sich bei mir um keinen ebenbürtigen Feind des französischen Winzertums handeln kann und gehen langsam dazu über, sachgerechtere Fragen zu stellen, sofern man die Fragen nach seinen Konsumgewohnheiten sachgerecht nennen kann. Was ich denn so trinke? „Rotwein und Weißwein.“ Es erscheint mir nicht opportun, noch weitere Getränke, wie Bier und Schnaps oder gar was Alkoholfreies anzuführen. Was für ein Wein, welcher Herkunft? Es scheint mir angebracht, hierauf mit: "Natürlich nur aus Frankreich, und vorzugsweise aus dem Languedoc", zu antworten. „Klaro“, sagt der Oberbonze, „was denn sonst.“ Sie drehen den Spieß um. Was ich von kalifornischem Rotwein hielte, der sei doch „pas mal“? Ich bin auf der Hut und sage nun nicht, wie das naheliegt: "Oh, ich habe keine Ahnung, ich hab' 154 noch nie welchen getrunken." Sondern: "Oh, ich hab' einmal welchen getrunken, er hat mir nicht geschmeckt, war irgendwie vielzu gefällig, von plastikhafter Vollkommenheit. Man kann sich leicht vorstellen, daß alle Lagen völlig gleich schmecken, irgendwie industriell von allen Differenzierungen befreit." Das war schon ganz gut. Zwei der Unterbonzen nicken wohlwollend. Der Oberbonze aber tritt ihnen auf die Füße und zischt: "Und australischer? Wie ist es damit, hein?" (Das "hein" erkläre ich später, denn ich muß nun schnell antworten.) Ich sage, um Zeit zu gewinnen: „Ja, ja, der australische, das ist so eine Sache.“ "Und, und, wie denn jetzt?" drängt der Bonze. Ich sage etwas kleinlaut: "Also, hab ich einmal probiert, war ja nicht schlecht." Der Bonze zieht die Augenbrauen zu einem gefährlichen Ausdruck der Ablehnung zusammen. Ich weiter, schon ein wenig stotternd: "Ja, aber ich hatte sooo Kopfschmerzen am nächsten Tag. Ich weiß nicht, was die da hineintun, um den Geschmack aufzupolieren. Aber denen ist ja alles zuzutrauen. Alle Australier stammen ja von Kriminellen ab, die die Engländer da unten vor zweihundert Jahren ausgesetzt haben." Die Unterbonzen nicken wieder, einer lächelt mir sogar verschwörerisch zu. Diesmal bleiben sie von Sanktionen durch den Oberbonzen verschont, na immerhin. Der wirkt jetzt entspannter, aber holt zu einer vorletzten Frage aus. Ich habe es geahnt. "Und der chilenische? Hat ja einen ganz guten Ruf. Oder?" Jetzt bin ich in der Klemme. Was soll ich jetzt antworten, was sich vom bisher Gesagten unterscheidet und doch plausibel klingt? Ich verlege mich ins Politische: "Also darüber kann ich gar nichts sagen. Nie getrunken. Wissen Sie, den boykottiere ich, solange Pinochet für seine Greueltaten noch nicht zur Rechenschaft gezogen ist. Kein chilenischer Wein und auch sonst nichts Chilenisches, keine Äpfel, Apfelsinen, keine Erdnüsse, 155 nichts." Die Miene des Oberbonzen verdüstert sich wieder, und auch die Unterbonzen zeigen keine Spur mehr von Zustimmung. Das war nämlich ein Fehler, und zwar nicht die Sache mit den Erdnüssen. Die ganze Antwort war wenig durchdacht, denn der Bonze stellt fest: "Aber chilenischen Wein würde Er trinken, wenn Pinochet nicht mehr wäre oder im Knast säße? Bis das soweit ist, tut’s ja auch der südafrikanische. Man muß doch Mandela unterstützen. Oder?" Jetzt stehe ich vollends in der Ecke. Bleibt mir nur noch eins, um der Abstrafung zu entgehen. Gerade ist mir eingefallen, daß wir in der Kühlbox noch die leeren Roséflaschen von unserem Picknick mitführen, und die sind von der Kooperative in Cabrières. Manchmal zahlt es sich doch aus, daß man den Abfall nicht einfach ins Gebüsch wirft, oder in den Hérault. Ich sage: "Darf ich Ihnen mal was zeigen?" und ziehe das Leergut hervor, aus dem unzweifelhaft hervorgeht, daß der Wein, den wir heute getrunken haben, aus der hiesigen Gegend stammt. "Sehen Sie", sage ich, "ich liebe Ihren Wein, hätte im „HyperU“ auch bulgarischen und mazedonischen gekriegt, bin aber extra zur Kooperative gefahren, und glauben Sie mir, wir haben vor, von dieser wunderbaren Appellation soviel nach Hause mitzunehmen, wie in den Kofferraum paßt." Dies stimmt ihn augenblicklich versöhnlich, und der Freispruch steht bevor. Ein Freispruch erster Klasse. Bleibt nur noch eine Abmahnung, ich meine: Ermahnung, und zwar derart, daß wir uns künftig nicht unbedingt in der Kooperative von Cabrières mit Wein versorgen möchten. Das seien Snobs dort, die sich nicht in allen Punkten solidarisch mit der Sache der Winzer zeigten, sondern versuchten, ihre eigene Nische zu bedienen. Aber das könnte ich, gibt er mir jovial zu verstehen, nicht wissen. Besser sei es, in der Kooperative von Cacanac (den Namen muß ich aus juristischen Gründen, wie gleich verständlich wird, ändern). Am besten wird sein, daß uns Monsieur Cacalac (einer der beiden Unterbonzen, es handelt sich 156 aber bei dem Namen ebenfalls aus juristischen Gründen um ein Pseudonym) begleite uns dahin, auf daß wir ja den Weg fänden. Und so kommt es, daß wir aufgrund der Einladung, die wir kaum ablehnen können, für 150 Euro Wein aus der Kooperative von Cacanac (aus juristischen Gründen geändert) erwerben müssen. Hagen Knotterbeck stößt noch etwas heraus, was wie "Wegelagerer, Diebe, Erpressung und kriminelle Methoden" klingt, aber Monsieur Cacalac, der uns den Weg zur Kooperative "gezeigt" hat, ist sich keiner Schuld bewußt und beglückwünscht uns zu unserer Kaufentscheidung. Immerhin, tröste ich mich, habe ich heute schon 60 Euro für die Tonne gespart. Wir wollen nicht klagen, und vielleicht ist der Wein aus Cacanac (Name aus juristischen Gründen geändert) nicht ganz so mäßig wie der aus Péret. Der nämlich macht schon beim bloßen Angucken dicke Backen. Bleibt noch nachzutragen, daß der Oberbonze nach Ende des Verhörs sich von uns grußlos abgewendet und wie zum Hohn den nächsten Weinstock beharnt hatte. Ich muß noch, wie versprochen, auf die Sache mit dem "hein" zurückkommen. Ich verbinde dies am besten mit einem kleinen, aber sehr nützlichen Sprachkurs für Französisch-Anfänger. Der gemeine Franzose, also der 99,9 Prozent-Franzose, nicht der klassisches Racine-Französisch sprechende Franzose, der seine Gattin noch mit "Sie" anzusprechen pflegt, benutzt eine merkwürdige Lautfolge, die in der Literatur mit „hein“ wiedergegeben wird, und sich in etwa „ää“ ausspricht (ein „ää“ ähnlich dem Stöhnelaut aus dem Munde von Boris Becker, nur kürzer). Obwohl "hein" als Interjektion definiert wird, handelt es sich nicht etwa um das Pendant zum deutschen „äh", das man wahlweise auch rückwärts als "hä" aussprechen darf. "Hein" ist auch kein Stotterlaut, ebensowenig wie eine Verlegenheitsfloskel oder ein Räuspern und hat, wie gesagt, auch nichts zu tun mit dem "hä", jener deutschen Vulgärversion eines versprachlichten Fragezeichens. "Hein" dient eher zur Bestätigung des gerade 157 Gesagten, ersetzt aber in vielen Fällen das Unsagbare, sei es, weil dieses tatsächlich im Wittgensteinschen Sinne nicht zu sagen ist, sei es, weil es im aktuellen Repertoire des Sprechers nicht vorhanden ist. Das ist wichtig zu wissen und kann sehr hilfreich sein. Denn es erlaubt, „hein“ universell dort einzusetzen, wo die Sprache versagt oder über nicht genügend Ausdrucksmittel verfügt. Beispielsweise kann „hein“ zur Drohung eingesetzt werden (eine Nuance im Unterton genügt), es kann zur Folter dienen (so der Winzer mir gegenüber). Es kann aus jeder Mutmaßung oder lauen Feststellung oder insignifikanten Äußerung eine apodiktische Feststellung mit unverrückbarem Geltungsanspruch machen. Und es eignet sich als vollwertiger Ersatz für alle denkbaren Bezeichnungen eines Gegenstandes, eines Ereignisses, eines Vorgangs, einer Tatsache, eines Faktums, eines Vorhabens, einer (kann ich jetzt mit der Auszählung endlich aufhören, hein?). "Hein" läßt sich sogar performativ verwenden, das ist bekanntlich der Fall, wenn der sprachliche Ausdruck eines Handelns und das Handeln selbst d eckungsgleich sind, wie im Beispiel: "Ich wünsche dir einen guten Tag". "Hein", so gebraucht, ist "hein" und nichts weiter als "hein". Doch damit nicht genug: „Hein“ erhöht die Kompetenzvermutung bei Ihrem Gesprächspartner, ohne daß Sie überhaupt über irgendeine Kompetenz außer der korrekten Aussprache von „hein“ verfügen müssen. Das ist sehr vorteilhaft und bietet ungeahnte Möglichkeiten bei der Aneignung des französischen Wortschatzes. Beispielsweise können Sie im Bäckerladen sagen: „Hein, cette...hein...“ und die Bäckersfrau weiß genau, daß Sie ihr jetzt kein unsittliches Angebot gemacht haben (was etwa so lauten würde: „Hein, nous deux, hein hein...“), sondern ein kleines Brot möchten, nicht zu kroß gebacken, aber frisch und auch etwas größer als das allerkleinste Brot, was sie im Angebot hat. Zum Bezahlen können Sie spielerisch Ihre Euro vorzeigen und ein „Hein...“ ausstoßen, was in diesem Falle soviel 158 wie „Macht wieviel bitte“ bedeutet. Vorsicht aber an der Bahnsteigkante, ich meine: am Ladentisch: Nicht gleichzeitig zum "hein" mit den Euro Taschenbilliard spielen, das könnte dem "hein" wiederum eine schlüpfrige Bedeutung verleihen. Wie auch immer: Der Einsatz des "hein" erlaubt Ihnen den Einsatz eines reduzierten Sprachschatzes auch bei hohem Ausdrucksverlangen. Ich selbst schätzte, daß man statt der 900 Wörter, die den aktiven Sprachschatz eines Durchschnittsfranzosen bilden, nur etwa ein Drittel erlernen muß; Spezialisten, die ein Minimum von 3000 Wörtern erwerben müssen, können immerhin noch gut die Hälfte des Vokabulars verzichten; und wenn sie dort, wo es angemessen ist, statt der korrekten Objektbezeichnung "truc" („Dingens“) verwenden, läßt sich ihr Wortpensum ebenfalls auf circa 300 Einheiten runterdrücken. Zu dem "truc" sage ich jetzt nichts weiter - dies ist nämlich eine Doku-Soap und keine sprachwissenschaftliche Abhandlung. Zurück im „Château Pohl“ bleibt uns wenigstens eine weitere unangenehme Begegnung erspart: Die Ameisen sind wohl immer noch beschämt und zeigen sich weiterhin bedeckt. Zum Abendessen gibt es Lammragout mit grünen Bohnen und Kartoffeln. Weil ich für das Gericht ein Glas Rotwein benötige (und weil mir danach ist), will ich eine Flasche der gerade erworbenen Charge entkorken. Aber da fährt mir Hagen Knotterbeck in die Parade: "Bitte heute nicht von dem, sonst falle ich umgehend in Depressionen. Nimm, ich flehe dich an, einen anderen." Also doch einen aus Cabrières, ich kann es gut verstehen, obwohl ich auch gegen diesen nunmehr etwas voreingenommen bin - der Mensch ist ja so leicht zu beeinflussen. Für das Gericht benötigt man etwa ein dreiviertel Kilo Lammfleisch (am Besten aus der Schulter), zwei Tomaten, sechs Schalotten, drei 159 Knoblauchzehen, ein Pfund grüne Bohnen, ein Pfund Kartoffeln, ein Glas Rotwein - wie gesagt, ein Rosmarinzweig und zwei Thymianzweige. Das gewürfelte Lammfleisch wird im Topf angebraten; die kleingeschnittenen Schalotten werden im Bratenfett geröstet, kurz vor dem Ablöschen mit dem Rotwein kommt noch der Knoblauch hinzu. Alles wenden, die gewürfelten und entkernten Tomaten sowie die ebenfalls gewürfelten Kartoffeln unterrühren und noch ein bis zwei Tassen Gemüsebrühe mitsamt den Gewürzen hinzugeben und etwa eine Stunde köcheln lassen. Inzwischen werden die Bohnen geputzt, gewaschen und im kochenden Salzwasser etwa acht bis zehn Minuten bißfest gegart. Bohnen abgießen, falls Eiswasser vorhanden ist, mit diesem abschrecken (dann bleiben sie schön grün) und beiseite gestellt. Am Ende der Garzeit werden sie kurz im Fleischtopf erwärmt. Es ist ein wunderschöner Abend, der uns wieder einen leichten Wind zur Begleitung bei Tische beschert. Wir essen still unser Lamm, und ich vergesse, daß ich auch bei diesem Thema, ich meine beim Thema Lammfleisch, Verdruß empfinden sollte. Denn es will mir immer noch nicht einleuchten, daß in einem Land, das Schaf, Hammel und Lamm schon zu seinen Hauptfleischlieferanten zählte, als wir in Deutschland noch nicht weiter als bis zum Lammfell und zur Schafwolle denken konnten, Lammfleisch um gut ein Drittel teuerer ist als bei uns, und wenn ich die Preise hier mit denen des Türken am Hanauer Freiheitsplatz vergleiche, der „entre nous“ gar kein Türke ist, sondern ein Syrer und dessen libanesische Frau ohnehin im Geschäft das Sagen hat, dann komme ich zu der Feststellung, daß hier das Lammfleisch doppelt so teuer ist und - was das Ganze noch schlimmer macht - von unverkennbar minderer Qualität. In einer Metzgerei der Frankfurter Kleinmarkthalle hing lange Zeit ein Rekla- 160 mespruch (bis er aus Gründen des Feminismus, der irgendwann auch an diesem unfeministischen Ort Einzug hielt, entfernt wurde), und der lautete: „Nur der Fachmann kennt das Stück / das der Hausfrau Herz entzückt." Auch wenn mein oder der Hausfrau Herz nie so voll und ganz entzückt war, dann hatte dies nichts zu tun mit der Qualität (die war unstrittig gegeben, wenn man beim Kauf fein Obacht gegeben hatte und dem Metzger gewissermaßen das Messer geführt hatte), sondern mit dem Preis. In Frankreich aber scheint es Usus zu sein, abfallähnliche Ware preislich zu veredeln. Es ist mir ohnehin ein Rätsel, wie es der Grande Fressernation in den letzten zwanzig Jahren gelingen konnte, uns Deutsche sowohl in den Lebensmittel- als auch in den Restaurantpreisen zu überholen, und zwar von einer Preisklasse kommend, die uns seinerzeit beim Essen noch leuchtende Augen verschafft hat, in eine Kategorie reinrutschend, in der sich die Schweiz schon befindet. Ich habe darüber mit manchen Experten gesprochen, mit Gourmets und Gourmands und der geglückten Kreuzung aus beiden, mit Volkswirten, gallophilen Unternehmensberatern und frankophonen Weinhändlern. Die einen schieben es auf den Colbertismus, der in Frankreich immer noch herrscht und die Preise treibt, die anderen auf den SMIG, den staatlich garantierten Mindestlohn, der das Preis Leistungsverhältnis verzerrt, die dritten auf die französischen Verbraucher, die gerade mit Blick auf das Essen sämtliche Kritikfähigkeit verloren haben und sich damit zufrieden geben, daß Hauptsache irgendwas in den Magen kommt. Ich muß sagen, daß mir keiner dieser Gründe so richtig einleuchtet; der Preiskrampf ist ein Mysterium... Apropos Mysterium: Es versteht sich von selbst, daß ich nach diesem ereignisreichen Tag die gemeinsame Suche von mir, dem Hl. Paulus und Alain Badiou nach der Wahrheit ausgesetzt bleibt. An- 161 ders gesagt: Ich setze mich heute mal - was die Relektüre betrifft auf Entzug. Ist nicht „soustraction“, die Unterschlagung / der Entzug, ein weiterer Schlüsselbegriff in Badious Philosophie? Kein Entzug jedoch bei den Alkoholika: Nach der ersten Flasche spüren wir eine zunehmende Gleichgültigkeit gegenüber der Appellation, nach der zweiten ist es uns vollkommen egal, woher der Rotwein stammt, und als wir uns bei der dritten Flasche das tragische Geschick von Yves Revue passieren lassen, wissen wir schon gar nicht mehr, was wir da trinken und nach der vierten Flasche, nicht mehr, wer Yves war. Und die Wahrheit ist mir ohnehin schon den ganzen Tag egal. Freitag 7. Juli Im „Radio France Hérault“ Plaudereien mit Hörern, wobei es um die weltbewegende Frage geht, was sie gerade tun (die meisten behaupten prompt, daß sie „Radio France Hérault“ hören) und die üblichen Suche-Habe-Gefunden-Verloren-Meldungen: Corinne aus Narbonne hat am Sonntag ihren „p’tit caniche“, Farbe Champagner, verloren. Vielleicht ist er ja abgesoffen, tröste ich mich, der Seemannstod wäre für einen „p’tit caniche“ mal was ganz Extraordinaires. Die Stimmung ist weiterhin mies, das Wetter wieder schlecht. Wolken ziehen von den Bergen heran und lösen sich erst kurz vor der Küste auf. Es ist kühl, ab und zu fällt ein Tropfen Regen. Die Zikaden haben deshalb ihr Konzert für heute abgesagt. Der “Midi libre” meldet sommerliche Hitze bei strahlendem Sonnenschein vom Larzac bis zum Meer. Wir haben unter diesen Umständen keine Lust zum vorgesehenen Familienausflug an den Cirque de Navacelles, 162 den die Michelins und Merians und Baedeckers als absolutes Muß ausgeben. Vermutlich schneit es dort. Die morgendliche Meinungsumfrage ergibt: Die Kinder wollen zu McDo (Hagen und ich: „Nein!“), dann doch wenigstens mal eine volle Fernsehdröhnung (Wir: „Wenn’s sein muß“), und ich möchte mich meinen Bucherwerbungen widmen (Hagen: „Ja“). Hagen Knotterbeck zieht es nach Béziers (Ich: „Ist doch nicht dein Ernst?“). Mich zieht nichts dorthin. Béziers ist nämlich, wie ich mich in früheren Jahren überzeugen konnte, ein Kaff, mit den Außenbezirken zwar größer als Sète, aber ein Kaff. Es gibt Orte, sage ich, da möchte man auf gar keinen Fall hin, und es gibt Orte, in denen mö chte man nicht einmal gewesen sein. So ein Fall ist Béziers. Béziers ist 19. Jahrhundert. Béziers ist für mich das, was für Thomas Bernhard Salzburg war. Daran ändert auch die Tatsache nichts, daß Béziers keine Festspiele hat (was es immerhin vor Salzburg auszeichnet). Genausowenig wie die hübsche Altstadt mit ihren kleinen Restaurants oder die - durchaus sehenswerte - Markthalle. Selbst das einzige wirklich geschichtsträchtige Gebäude, die Kathedrale St Nazaire, Schauplatz der Greueltaten der Kreuzfahrer an den Albigensern und den sich von ihnen nicht distanziert habenden Katholiken, kann sich nicht gegen das alles überwölbende 19. Jahrhundert behaupten. Das Pfahlbürgertum dominiert, die Männer stolzieren des Sonntags in ihren Redingotes (die noch überall die Schaufenster der Herrenausstatter zieren) die Platanenallee hinunter, goldbehängt, auf Plateausohlen, Krypto-Spanier auf dem Weg zur Pseudo-Fiesta; die Frauen putzen sich bis ins hohe Alter flamencomäßig heraus, verhüllt in die Mantones der Tänzerinnen, tragen überdimensionale Tellerröcke mit circa 14 Volants, alle Carmen-Dubletten auf der Suche nach tragischer Liebeserfüllung. Ich warne Hagen, heute ist Montag, viele Geschäfte werden geschlossen haben und aus Béziers noch mehr Béziers machen. Hagen Knotterbeck läßt angesichts meiner Einwände von ihrem Vorhaben ab. 163 Sie ist übel gelaunt und verdammt die ganze Tierwelt. Das sind Tage, da sich die gesamte Schöpfung auf den Vorschein ihres Ve rschwindens reduziert. Tiere sind dann aus Menschensicht nur noch akzeptabel, wenn sie für den Kochtopf geeignet sind. Hunde haben ohnehin - dies ist meine allerprivateste Meinung - in der Schöpfung nichts verloren, außer in China, Korea und Graubünden, wo Hundemahlzeiten (gemeint sind: Gerichte aus Hunden für Menschen und nicht umgekehrt) wohlgelitten und verbreitet sind. Die Kinder finden das nicht richtig, und belegen ihren leiblichen Vater mit unflätigen Bezeichnungen. Der Gefahren zum Trotz, die dem Hundefeind an solchen Tagen durch die freilaufende Meute droht, begebe ich mich zur Sicherung des Grundnahrungsbedarfs ins Dorf. Außerdem muß ich natürlich die Presseresonanz zu den gestrigen Vorkommnissen einholen. Madame Simone ist auch schon auf den Beinen; ich erzähle ihr in knappen Worten die Erlebnisse am Hérault, was ihr die üblichen mustergültigen Kommentare abnötigt: Der Hérault wurde schon immer unterschätzt, aber noch schlimmer als die Strömungen sind die Vipern oberhalb von St Guilhelm, akkurat dort, wo der Jakobsweg vorbeiführt. Deshalb sind schon weit mehr Pilger durch Schlangenbisse ums Leben gekommen als Touristen in den Fluten des Hérault abgesoffen. Ja, wenn man es genau nimmt, dann kann nur ein in Worten nicht mehr zu fassender Leichtsinn dazu geführt haben, daß man in einem solchen Fluß ertrinkt. Ihr Mann selig habe 40 Jahre lang in jedem Sommer an der Tarn geangelt, und die ist viel reißender als der Hérault, und selbst die stärksten Fische, mit denen er kämpfen mußte, haben ihn nicht untergekriegt. Ich verabschiede mich schnell, bevor ich mich verplappere und die Geschichte mit den Winzern erzähle und wie die mich abgezockt haben. Das hätte ihr gefallen, mir Spott und Häme eingebracht, aber auch - da bin ich mir 164 sicher - geheuchelte Worte des Trostes, verkleidet in eine nicht endende Tirade gegen die Gauner, die sich als Winzer ausgeben, nichts und nochmals nichts mit den Winzern von vor vierzig, fünfzig Jahren gemein haben, die noch ernsthaft ihrem Beruf nachgegangen sind und dem Winzerstand alle Ehre machten. Die Sichtung des “Midi libre” ergibt: Die Lage bei den Winzern ist explosiv und der Hérault gefährlich. Aber zuallerst muß ich eine Meldung referieren, die so ganz nach meinem Geschmack ist: In Montpellier wurde gestern ein älteres Ehepaar überfallen und seines Hundes beraubt. Nicht genug, daß es am hellichten Tag in der belebten Bahnhofsbrasserie passierte, nein, es handelte sich bei der Beute zudem um einen deutschen Schäferhund, der sich von den dreisten Gangstern, die zuvor dem Herrchen noch eins aufs Maul gegeben hatten, widerstandslos abführen ließ. Doch das uns in höherem Maß interessierende Thema ist der Fall Yves. Der „Midi libre“ dazu in einem Summarium: Die näheren Einzelheiten der tragischen Vorkommnisse sind noch nicht aufgeklärt. Aber die Unfallstatistik zeigt: Die Mortalitätsrate des Hérault ist darin sind sich die Experten einig - zu hoch für Flüsse dieser Größenordnung und dieser Fließgeschwindigkeit. In der letzten Saison gab es am Pont du Diable allein drei Ertrunkenheitsdelikte, davon zwei tödlich, ein Ertrunkener wurde gerettet - tragischerweise handelte es sich um einen Selbstmörder. Wem die Rettung eines ertrunkenen Selbstmörders spanisch vorkommt, der sei auf die Eigenart der französischen Sprache hingewiesen, die von einem "noyé sauvé" spricht - eine Wortgleichung, die aufgrund ihres Widersinns unübersetzbar ist. Der Sprung von der „Brücke des Teufels“, aus Gründen der Dramatisierung auch "Pont noir" genannt, bleibt das Gefährdungsmoment Nummer eins, wobei es allerdings im letzten Jahr im Gegensatz zu diesem nur für einige schwere Verletzungen 165 gereicht hat. Gefährlich auch die Wirbel an den Stauwehren sowie unter den Felsen, insbesondere im Abschnitt zwischen Pont du Diable und St Guilhem, wo die dort schroff abfallenden Kalksteinwände großenteils unterspült sind. Die vermeintlich stillen und flachen Wasser am Wehr von Vernède haben einem jungen Mann das Leben gekostet, einem „wohltrainierten Rubgy-Man von 19“, wie der "Midi libre" zu erwähnen nicht vergißt. Sein Leichnam wurde erst nach einigen Tagen intensivster Suche gefunden. Relativ selten sind Kollisionen von schwimmendem Material sowie unbedachte Handlungen, die den Tod oder schwere Verletzungen nach sich ziehen. Hier dürfte der Fall Yves bei der Statistik etwas nachhelfen. Fazit des Blattes: "Der Hérault ist schön, aber nicht immer friedlich". Am Rande vermerkt: Bei der Truppe um Yves handelte sich um Lehrpersonal eines Gymnasiums in Clermont (Ferrand, nicht l’Hérault). Der Berufsstand erklärt einige Formen ihrer postjuvenilen und prämortalen Ausgelassenheit. Grundsätzlich unfriedlich in diesen Zeiten sind die Winzer, und ihre unfriedlichen Absichten sind auch heute wieder pressenotorisch geworden. Der "Midi libre", verschweigt die Aktion, der ich zum Opfer gefallen bin, meldet aber kursorisch gewalttätige Unruhen in der gesamten Region. Außerdem ist am heutigen Freitag mit einem großen Auftrieb in Carcassonne zu rechnen; 5000 bis 10 000 Weinbauern aus den Départements Aude und Hérault werden zu einer machtvollen Kundgebung erwartet. 100 000 Hektar Anbaufläche, rechnen die Winzer vor, hat die Region in den letzten zwanzig Jahren verloren. Der größte Teil der Verluste betrifft aber die einfacheren Lagen, in den Arealen der Appellation dagegen ist der Rückgang weniger ausgeprägt, anders gesagt: die Ebene mit ihren Großanbauzonen verliert, die Hänge gewinnen - man sieht das auch zwischen Péret und Cabrières sowie im Seitental zur Boyne zwischen 166 Cabrières und Villeneuvette, wo trotz der Weinschwemme viele Neuanbauflächen entstanden sind. Keine Frage, daß es irgendwann zu einem Überangebot an teurerem Wein kommen wird: Der „Vin du Pays“ verschwindet, und die Appellationen machen sich den Platz in den Regalen streitig. Uns Verbrauchern, ich meine damit die Kategorie der Verbraucher, die wir Jarims repräsentieren, kann das nur recht sein. Unsereiner spekuliert auf die Preisklasse, in der am meisten Bewegung ist, die Preisklasse zwischen billig und preiswert. Denn wir haben die Feststellung gemacht, daß der Unterschied zwischen einem Wein, der zwischen 1,50 und 2,50 Euro kostet, größer ist als der zwischen vier und 16 Euro. Also trinken wir für gewöhnlich welchen zwischen 2,50 und vier Euro, nicht mehr und eher weniger. Der Vorgang ist aus den Wirtschaftswissenschaften bekannt und heißt dort: verbrauchergerechte Reaktion auf den abnehmenden Grenznutzen. Man könnte auch umgekehrt sagen: Den Gewinn an Qualität, den man beispielsweise in der höheren Preisstufe dadurch erzielt, daß man 15 Euro mehr für die Flasche berappt, beträgt nur ein Bruchteil dessen, den man in den unteren Preisklassen durch ein Mehrinvest von nur einem Euro erzielt. Ich selbst habe deshalb nur noch Hohn und Spott übrig für die, denen Wein echtes Geld wert ist. Weinkennerschaft ist ein Phantasma, das den Aufstieg des Bürgertums begleitete, weswegen seine Rechtsnachfolger, die Kleinbürger von heute, Weinkennerschaft als Distinktionsmerkmal auserkoren haben. Am deutlichsten kommt dies in einer Erzählung des Mathematikers und Philosophen Michel Serres zum Ausdruck. Serres berichtet in seinem Buch "Die fünf Sinne" von den "Chevaliers du Tastevin", einer Bruderschaft von Weinkennern. Die Mitbrüder wollten, so Serres in einer Anekdote, ihrem größten Experten einen Streich spielen und beauftragten zu diesem Behufe einen Burgunder Winzer, eigens für den Schabernack ein paar Weinstöcke außerhalb der bekannten Lagen 167 anzupflanzen. Jahre später kredenzte man dem "Papst unter den Kennern" den daraus gewonnenen Wein. Die Hoffnung der Bruderschaft, daß der Trunk nicht zu identifizieren sei und der Kenner der Kenner einen Offenbarungseid leisten mü sse, erfüllte sich jedoch nicht. Er gab zur Verblüffung aller zu Protokoll: Diesen Wein gibt es nicht, aber wenn es ihn gäbe, dann müßte er dort und dort gewachsen sein. Die Schilderung der topografischen Umstände entsprach präzise dem tatsächliche Anbauareal. Was Serres hier mit der Überzeugung und der Autorität eines in Frankreich hoch angesehenen Philosophen wiedergibt, hat natürlich den Wahrheitsgehalt der Marpinger Marienerscheinungen: Sie sind wahr für den, der daran glaubt. Der nicht daran glaubt, wird eher der Erkenntnis zuneigen, die aus dem berüchtigten Davis -Dilemma gewonnen werden kann. Die Hochschule der kalifornischen Stadt Davis hatte in den 80er Jahren eine Reihe von Tests durchgeführt, die durchweg zu dem Ergebnis führten, daß die Probanden - allesamt angesehene Weinkenner - in einem Blindtest noch nicht einmal Rotwein von Weißwein zu unterscheiden in der Lage waren. Die Untersuchungen würden auch heute noch angestellt, wenn sich denn noch ein Weinkenner fände, der sich noch zum Test herausfordern ließe. Michel Serres stimmt übrigens in dem selben Buch ein Loblied auf den Yquem, dessen Namen er subtilerweise auf die zehnte Ordnung der Engel, die Ychim, zurückführt. Nun mag der aus Sauternes kommende Château d'Yquem wirklich ein exzellenter Wein sein, leisten können ihn sich immer weniger - und Michel Serres auch nur, wenn er gegen naturales Entgelt dort Vorträge vor den Sauterner Honoratioren hält. Die Preise für Spitzengewächse wie den Yquem, den Pétrus, den Montrachet oder den Romanée-Conti explodieren geradezu, und das hat unerwartete Folgen: Internationale Finanziers kaufen die Jahrgänge auf, in der Erwartung, sie nach kurzer oder längerer Lagerzeit mit einem beträchtlichen Aufpreis an texanische 168 Ölbarone, chinesische Organhändler, japanische Pornographen und brasilianische Großgrundbesitzer oder an der European oder Wallstreet oder Universal Wine Exchange mit beträchtlichen Kursgewinnen veräußern zu können, während die wahren Liebhaber (ich unterstelle, daß es solche Idioten gibt), die das Zeugs auch noch mit Genuß trinken, zunehmend leer ausgehen. Schon lange, klagt "Le Monde" von heute, gilt nicht mehr die Bauernregel aus dem Bordelais: "Le vin est fait pour être bu et pissé, der Wein ist gemacht, um getrunken und ausgepißt zu werden". Der Wein ist ein Prestige- und mittlerweile auch Anlageobjekt geworden, um das sich Kenner und Investoren balgen. Schöne Aussichten, die mir eine mehr als klammheimliche Freude bereiten: Es sind nicht nur Winzeraufstände, sondern künftig auch Konsumentenaufstände zu erwarten. "Und wir?", fragt Hagen Knotterbeck vorwurfsvoll, "was soll aus uns werden?". Wir gehen, wenn wir wieder zu Hause sind, ins Netz und suchen uns bei „supermarktwein.de“ das günstigste Angebot aus. Die Website „supermarktwein.de“ kann nur wärmstens empfohlen werden. Ihre Contentmanager aus dem Umkreis der Glücklichen Arbeitslosen in Berlin trinken sich alle zwei Wochen durch das aktuelle Angebot der großen deutschen Discounter. Fachchinesisch und Bluffvokabular kommt in den Tests nicht vor, und die empfohlenen unedlen Tropfen gelangen garantiert nicht an die Börse. Selbst schwer Alkoholabhängige und Grenzdebile verstehen die Empfehlungen. Da heißt es nicht „trocken“ oder „lieblich“, sondern „süß“ und „sauer“; keine Rede von "animalischen Tönen" oder „ausgeprägten Fruchtnoten“ oder "konzentrierter Farbe“ oder „vitaler Frische“ oder „kräftigem Bukett und komplexem Aroma"; das Urteil lautet vielmehr "schmeckt nach altem Turnschuh" oder "Langweiler mit miesem Charakter". Alles in allem ein Verfahren, das ein Höchstmaß an Objektivität bei einem Exzeß an subjektiven Werturteilen bietet. Überraschungen bleiben nicht aus: Da kann 169 sich schon mal ein "Soave Classico 1999" für 2,98 DM oder ein Rotwein beziehungsweise Weißwein mit dem Fantasienamen "Jeanne d'Arc" für 1,99 DM ganz gut neben dem vergleichsweise teueren „Château Blaignan 1999“ für 9,98 DM behaupten. Ohnehin gilt das, was Jean Paul schon vor gut zweihundert Jahren sagte: "Ich habe nie ein Getränk getrunken blos für meinen Geschmack als das Wasser; jedes andere nur für die Wirkung." Ich sehe deshalb nicht ein, wieso ein "Le Rouge" von Aldi, der für ganze 1,99 Mark (der Liter!) aus der hiesigen Gegend auf unseren Tisch kommt, wirkungsloser sein sollte als ein „Côtes de Cacanac, Appellation Côtes de Cacanac Contrôlée“ (Name aus juristischen Gründen geändert) für 5,50 € die Dreiviertelliter-Flasche. Jean Paul hat bei anderer Gelegenheit auf die Vorteile des Sparens aufmerksam gemacht, und zwar an Hand des Weins, der aus der Nachbarregion kommt: "Da der vorige Wein 45 kr. kostete: kann ich jeden Tag 4 gr. Ersparen durch Trinken des Roussillon; und will ich einen gar halben Gulden ersparen, brauch ich bloß 2 Flaschen zu trinken." Aber ganz abgesehen von der Kostenfrage müßte (läßt mich Jean Paul assoziieren) aus Gründen kultureller Hygiene wieder mehr Bier getrunken werden. Die Frage ist nur: Wo und welches? Über weite Landstriche Deutschlands ist die Bierkultur verödet. 1970 (als der Siegeszug des Pilsner begann) war das 1866, und Bitburg das Königgrätz der Braukunst. Norddeutschland obsiegte über Süddeutschland. Paradoxerweise, da ja Pilsen eher zu letzterem zählt. Und daran haben bis heute die Bierspezialitäten aus Bayern und Franken, die in sonder Zahl auch nördlich des Mains vertrieben werden, nichts zu ändern vermocht; sie erreichen ausstoßmäßig, ach was, absatzmäßig einfach nicht die erforderliche kritische Masse. Hagen Knotterbeck sagt: "Laß‘ es mal gut sein, ich hab' noch den Wein von gestern Abend zu verkraften. Da kann ich jetzt nicht an 170 deine Spitzenlagen denken." In der Tat, war die Cuvée von Weinen aus Cacanac (Name aus juristischen Gründen geändert), der Domaine du Temple und der Coopérative de Cabrières nicht dazu angetan, daß wir heute einen unbeschwerten Tag verbringen können. Wir beschließen deshalb entgegen der Proteste unserer Kinder, auf ein großes Programm zu verzichten und uns auf eine Einkaufstour mit kleinem Stadtbummel in Clermont zu beschränken. Hagen und ich wollen zunächst mal unseren Kopf auslüften und machen einen Spaziergang zur Kirche Notre Dame de Puits oberhalb von Péret. Es handelt sich dabei eher um eine Kapelle, die sich in einem so erbärmlichen Zustand befindet, daß die Tür mit Holzbohlen verrammelt werden mußte, um Besucher nicht der Gefährdung durch einstürzende Deckenteile auszusetzen. Ein kleines zerfleddertes Plakat an der Tür macht auf eine private Initiative aufmerksam, die den Verfall aufhalten will. Eine Woche später werden auch die Reste des Aushangs verschwunden, vom Winde verweht sein. Im Gegensatz zum Zustand unserer lieben Frau sind die vier Häuser des Weilers, die sich um das Kirchlein gruppieren, so herausgeputzt, als wollten sie im Himmel Eindruck schinden. In ihnen wohnen Eigentümer oder Feriengäste aus Großbritannien und Holland, die über allerlei Annehmlichkeiten, zum Beispiel in den Fels eingelassene Schwimmbecken mit freiem Blick zur Küstenlinie, verfügen. Wir steigen den Berg weiter hoch, am Wasserreservoir vorbei, bis zum Kamm, dort, wo ein steinernes Kreuz von einer anderen Zeit berichtet, als es hier noch keine „piscines“ und Urlauber aus Großbritannien, Holland und Saarbrücken gab. Der Weg führt weiter durch ein Hochtal, das im Verlauf sich sanft nach Cabrières senkt; wir müssen aber umkehren, weil wir die Kinder nicht solange mit dem deutschen Fernsehprogramm alleine lassen wollen. 171 Apropos Radio und Fernsehen: Das „Radio France Hérault“ unterbietet sein Niveau von Tag zu Tag, und ist jetzt nicht mehr weit von dem der deutschen Fernsehstationen entfernt. Während der Sender in der Woche vor Ferienbeginn wenigstens noch Highlights brachte wie die neuesten Veröffentlichungen von Etienne Daho oder Patrick Bruel (letzterer mit seinem famosen "Au Café des délices"), oder einige Trouvaillen des französischen Chansons wie "Les Elucubrations d'Antoine" oder "C'est extra" von Léo Férré, ist jetzt Johnny Halliday angesagt. Alle dreißig Minuten Johnny mit seiner diesjährigen Sommerkatastrophe "Pardon". Das alles wäre nicht zum Aushalten, würde nicht stündlich Altmeister Eddie Mitchell, der ja als Schauspieler in dem besagten "Saustall" mitgewirkt hat, dagegenhalten: "J'aime pas les gens heureux". Dazwischen Plaudereien mit Hörern, wobei es um die weltbewegende Frage geht, was sie gerade tun (die meisten behaupten prompt, daß sie „Radio France Hérault“ hören) und die üblichen Suche-Habe-Gefunden-VerlorenMeldungen: Corinne aus Narbonne hat am Sonntag ihren „p’tit caniche“, Farbe Champagner, verloren. Vielleicht ist er ja abgesoffen, tröste ich mich, der Seemannstod wäre für einen „p’tit caniche“ mal was ganz Extraordinaires. Aber jetzt kaum zu glauben, jetzt kommt: "Est-ce ainsi que les hommes vivent?" wiederum von Léo Ferré, das Saarbrücker Lied, etwas gehaltvoller als das, in dem sich „Saarbrigger“ auf „Kligger“ reimt. Die Vorlage zu „Est-ce ainsi que les hommes vivent?“ (das Bernard Lavilliers vor Jahren glückhaft gecovert hat), stammt von dem Surrealisten Louis Aragon, der darin seine Eindrücke als französischer Besatzungsoffizier im Saargebiet festhielt. Im Urtext kommt auch das Gänseliesl vor, nur ist das „Gaense-Liesel“ Aragons – die Fechinger wird’s kaum erfreuen – eher eine Dame des horizontalen Gewerbes denn eine Säulenheilige ihres Banns. 172 Bevor Johnny zurück ans Mikro darf, flüchten wir nach Clermont. Wir lassen uns dort zunächst im Café ein wenig neppen (die Kinder essen nämlich Eis, das aus ebenso unerfindlichen Gründen wie das Lammfleisch hier dreimal so teuer ist wie bei uns) und tun dann was für die Kultur, wie es schon schön heißt: In der „Chapelle des Pénitents“, die während der Ausstellung aus Gründen des Wohlklangs in „Chapelle des Dominicains“ umbenannt ist, wird zeitgenössische Kunst aus Frankreich, Italien, Schweden, England und Amerika präsentiert. Vertreten sind alle Gattungen, die gerade eben noch auf 800 Quadratmeter unterzubringen sind: Malerei in Acryl, Öl, Chinatinte, Aquarellfarben, dazu Photographie, Schwarz-Weiß, Farbe, Polaroid. Man merkt deutlich, daß im Conseil Municipal der Wunsch Vater des Gedankens war: Wenn Avignon sein Theater-, Montpellier sein Tanz-, Arles sein Fotografie- und Aix sein Film-Festival hat, so dachten sich die Conseillers, die im Zivilstand Metzger, Makler, Versicherungsvertreter, Poulet-Rôtisseure, Systementwickler und Sapiers-Pompiers-Hauptmänner sind, warum dann nicht Clermont gleich mit einem Kunstsommer? Der Titel der Ausstellung ist Name, Programm und Anspruch zugleich: “Etat des lieux”, was sich noch nicht einmal ins Französische, geschweige denn ins Deutsche übersetzen läßt, aber in beiden Sprachen höchst bedeutsam klingt. Viel Tàpies- oder FluxusVerschnitt. Malerei, Skulptur oder Fotografie, man konnte sich nicht so richtig entscheiden, also hat man alles genommen, was man gekriegt hat, und man hätte noch viel mehr genommen, hätte man im Hauptschiff der Kapelle Platz dafür gehabt. Nach zehn Minuten sind wir durch, nicht nur weil die Kinder herumgenörgeln, sondern weil wir tatsächlich nicht mehr wissen, wo wir jetzt noch hingucken sollen. Die Kinder wollen nach Hause, ich schließe mich ihrer Meinung ausnahmsweise an. Aber Mme Knotterbeck sagt: "Wir haben uns Kultur vorgenommen, also wird die Kulturflinte noch nicht ins Korn 173 geworfen. Wir gehen jetzt in eine andere Ausstellung." Ins "Cercle Occitan", beschließt sie, wo ein Doppelereignis zelebriert wird, dessen Ankündigung mir schier den Atem abschnürt: Im Erdgeschoß werden die "traditions folkloriques" vorgestellt, im ersten Stock "outils cévenols" - Werkzeuge und Gebrauchsgegenstände aus den Cevennen. Nachdem wir uns durch das Sammelsurium historischer Fotos von Festen und Bräuchen, alten Grammophonen, die einige Ga ssenhauer von anno dunnemals herunterkrächzen, und mottenzerfressenen Festtagsgewändern, die von besseren Tagen zeugen, gequält haben, müssen wir uns auch über den Gebrauch irgendwelcher Feldhacken, Kuhglocken, nein: Ziegenglocken, Sicheln, Spaten und Fangeisen unterrichten lassen. Mir schwillt der Kamm nun endgültig, als ich einer kleinen Sonderausstellung ansichtig werde, die sich mit Geschenken und Glückwünschen zur Silberhochzeit beschäftigt. Beim Anblick einer Sammlung von Porzellan zum Ehrentag der Hochzeiter kriege ich einen heftigen Fön und meinen ersten richtigen und einzigen Ferienkrach mit Hagen Knotterbeck, weil ich es nicht aushalte, was die Geschichtsvereinsmitglieder von Clermont ich stelle mir vor: allesamt Rentner, die in der Sinnkrise sind und nicht sterben wollen - so anhäufen. Ich komme dann sofort auf ein größeres Thema zu sprechen, das mich dann erst recht in Harnisch bringt: die Musealisierung der Geschichte und ihre verderblichen Einflüsse auf den Geisteszustand unserer Epoche. Denn ich bin überzeugt davon, daß die Geschichtsund Gedenkkultur immer dort, wo sie dinghaften Ausdruck findet ob im Errichten von Denkmälern, im Sammeln von Bügeleisen, in Ausstellungen von Arumbaya-Fetischen oder im Horten von Nazidevotionalien - immer das gleiche Ziel hat: die Instrumentalisierung der Geschichte für die schäbigen Belange der Gegenwart und das 174 heißt auch: Verharmlosung der Ungeheuerlichkeit, die Geschichte als Modus der Vergänglichkeit selbst ist, und Verharmlosung der Ungeheuerlichkeiten, die in ihr passiert sind. Der Sammler identifiziert sich in lustvoller Trauer um den Verlust mit den Objekten, gerade auch dann, wenn sie stumme Zeugen der größten Geschichtsscheußlichkeiten sind und der Sammler vorgibt, mit der Inventarisierung jener die Erinnerung an diese lebendig zu halten. Das weiß jeder, der mit den Sumpfblüten des Flohmarkts je Kontakt hatte, und das beste Beispiel ist der Stern-Reporter Heidemann mit seinem Spezi Kujau, die schon recht bald die Ebenen zwischen Spiel und Ernst, Fiktion und Wirklichkeit und Wahn und Täuschung nicht mehr zu unterscheiden wußten. Nicht umsonst spricht der Philosoph Odo Marquard (bezeichnenderweise zustimmend, aber das habe ich von ihm nicht anders erwartet) von „Verehrungsdeponien“, auf denen – durchaus mit frommer Intention, wie das Reliquien zukommt - „Bestandteile einer Bewahrungskultur“ gelagert würden. Ich spreche lieber von „Verehrungsmülldeponien“, in denen sich der Geisteszustand einer Epoche, nämlich der gegenwärtigen, verdeutlicht. Für solche Deponien gilt indes das Gesetz der Verwahrlosungs- und Versiffungsdynamik: Schmeiß' deinen Müll in die Ecke des Parks und der wird binnen kurzer Zeit eine Mülldeponie. Scheiß' in die Toreinfahrt und du findest bald hündische und menschliche Nachahmer, so daß unversehens die Cloaca maxima entsteht. Mach‘ ein Museum auf, und die Regression wird nicht lange auf sich warten (ich will hier offen lassen, um welche Art von Regression es sich handeln könnte). Ich habe deshalb noch nie verstanden, daß mit dem ganzen Nazikram nicht sofort tabula rasa gemacht wurde. Das heißt, ich habe schon verstanden: Die Hinterlassenschaften aus den zwölf gloriosen Jahren dienten zur fraglichen Zeit als mentale Krücke für die 175 notwendige Kontinuität zwischen Reich und Republik. Daß aber heute - zu Seiten strammen Antinazitums und exzessiver Multikulturalität - der alte Plunder immer noch gehandelt, versteigert und gesammelt wird und Nazimonumente nicht einfach in Luft gesprengt werden (und wenn doch - dann allenfalls aus dem zweifelhaften Kalkül heraus, daß man für die Kameraden keine Fix- und Identifikationspunkte schaffen will), daß Flohmärkte nicht abgeriegelt und entlaust (ja entlaust) werden, wo das doch viel einfacher zu bewerkstelligen wäre als die philiströsen, alibimäßigen Ringfahndungen nach Nazipobel im Internet, daß all das möglich ist und vieles, das nötig wäre, nicht durchsetzbar, das zeigt, daß ein wirkmächtiges Motiv am Werk, und dieses Motiv ist der universale Wille zur Musealisierung. Mehr noch: Der heilige Schauder vor der Trophäe, die Fetischisierung des Relikts konvergieren mit der Pflicht zur Erinnerung und bewirken gerade dadurch das genaue Gegenteil dessen, was die politische Korrektheit mit dem Erinnerungsgebot aufzugeben vorgibt. Und nun das Wichtigste: Es sind nicht unbedingt die Nazimemorabilien selbst, die Anlaß zum Entsetzen geben müßten. Viel gefährlicher, und zwar deshalb gefährlicher, weil es überhaupt erst die Voraussetzung der Naziakzeptanz schafft, ist die allgemeine Huldigung des Geschichtlichen. Für die schlichteren Gemüter übersetzt: Der Dreschflegel im Dorfmuseum, die Webstuhlvorführung auf Jahrmärkten, der mittelalterliche Mummenschanz bei Stadtjubiläen, die Großreproduktionen vergilbter Porträts von unbekannten Vo rfahren verstellen die Sicht auf die Gegenwart - von der Zukunft gar nicht erst zu reden. Der Kult um das Vergangene verleiht der Ve rgangenheit eine Authentizität, deren bisweilen unübersehbare Makel mit den derzeit ins Kraut schießenden Entschuldigungsriten exzorziert werden, auf daß die Tradition makellos sauber dastehe und - Genuß ohne Reue - rückstandsfrei konsumiert werde. Deshalb 176 wäre die erste Bürgerpflicht, die Vergangenheit endlich dem Ve rgessen zu überantworten, da es ja offensichtlich doch nicht gelingt, irgendwelche Lehren aus ihr zu ziehen und - dabei wären wir wieder beim Thema Geschmack – so, und nur so, stilbildend für die Gegenwart nutzbar zu machen. Es ginge also um nichts weniger als um den großen Befreiungsschlag, der die Würde wieder ins Recht setzte und schlichtweg das Leben ermöglichte. "Le mort saisit le vif - Der Tote ergreift den Lebenden" - diese Formel aus dem französischen Erbrecht, wonach der Erbe die Ämter und Verpflichtungen des Ve rstorbenen übernehmen muß, hat Karl Marx zu der Reflexion veranlaßt, daß wir nicht nur an Mißständen der Gegenwart leiden, sondern diese Mißstände durch die Übernahme verbrauchter Attitüden noch verschärfen. Leben aber - nicht das pathetische Leben zweifelhafter Lebensphilosophen, denen an der Überhöhung Trieb und Willen gelegen ist bedeutet Intensität, die sich gegenüber den Zumutungen des Schicklichen bewahrt. Mme Knotterbeck sagt: „Oh mein Gott.“ Und fragt: "Was folgt daraus?" Ich muß nach diesem Ausbruch erstmal Luft holen und sage etwas erschöpft: "Man müßte das „Cercle Occitan“ anzünden; der Wind steht günstig." Hagen Knotterbeck weicht zurück, wirft mir, nachdem sie sich gefaßt hat, wie üblich Verbalradikalismus vor: „Immer nur draufhauen, zündeln, angreifen. Mehr fällt euch Männern nicht ein.“ Mehr nicht? Was soll das? Ich habe ihr doch eine Eins-A-Begründung für die erforderlichen Maßnahmen geliefert. Sie treibt mich noch in das Verbrechen, wenn sie so weitermacht. Ich kann mich auch nicht beruhigen, als sie mir vorschlägt, im „HyperU“ schöne Zutaten zu kaufen, die es mir erlauben, mich rein gegenwarts- und genußbezogen der Kochkunst zu widmen. Mir 177 geht die ständige Kocherei auf die Nerven, und zwar nicht die Kocherei als solche. Es ist vielmehr das Außenbild, das ich dabei abgebe. Denn nichts ist unter den ungezählten Scheußlichkeiten (diesmal der Gegenwart) abscheulicher als Männer mittleren Alters, die sich mit wildem und gezüchtetem Rucola abgeben, auf den Wochenmärkten mit Kennerblick das Spargelangebot examinieren, um sich schließlich von der Marktfrau übers Ohr hauen zu lassen, die im Büro Lammfleisch-Rezepte austauschen, sich vinologisch geben und beim Sommelier-Vigneron Maître Rougenez in der Gelsenkirchener Innenstadt ver-kork-sten „Barbera del Montferrato“ gutheißen oder in der Geldwaschanlage Ristorante Polenta über „Sfogliata di taglierini al tartufo“ fachsimpeln. Ich selbst koche nur deshalb, weil ich Kochen bei meiner Oma gelernt habe und mir die leichte Haushaltsführung aus dieser Zeit, da es aufgrund meiner starken Großmutterbindung noch nicht ausgemacht war, ob ich mal schwul oder hetero werden würde, beibehalten habe. Heute bin ich weder schwul noch hetero, ich koche halt, aber ich will nicht mehr galloromanisch kochen und konsumieren müssen, ich will endlich meine Neigung für Tanner Schwarzbier und Lohrer Keiler offenbaren, ich möchte mich als Liebhaber von Saarländischen Gefillten, Ensheimer Hong’kaale-Supp oder von Vogelsberger Beutelches outen, oder noch besser: endlich zugeben dürfen, daß ich nur noch esse, weil das mit dem Sex nicht mehr so klappt wie früher, ich mich aber fürs Sterben noch zu jung fühle, mir also die Zeit bis zum Ableben noch ein wenig überbrücken muß - mit Essen und Trinken, mit dem Ve rzehr von allem, was auf den Tisch kommt. Wittgenstein erwiderte auf Vorhaltungen sein ungesundes Essen betreffend, er sei ein Genießer, der alles gern esse, vorausgesetzt es sei immer das Gleiche. Alice aus dem Spiegelland in Ergänzung zu Wittgenstein: “Marmelade gestern und Marmelade morgen, aber niemals Marmelade heute." Wittgenstein, als es bei anderer Gelegenheit wieder um 178 seine einseitige Nahrungsaufnahme ging: „Die Menschen leben ohnehin zu lang.“ Mme Knotterbeck: "Wie lange du zu leben hast, wissen wir nicht, aber wir haben noch einiges vor. Ich möchte heute mal Huhn mit Kichererbsen. Das mögen auch die Kinder, und das machst du ganz gut." Und so kommt es, daß ich an dieser Stelle wiederum nicht mit meinen Paulusstudien aufwarten kann, sondern einmal mehr ein Rezept vorzustellen habe, das im Gegensatz zu Hagen Knotterbecks umgangssprachlicher Ankündigung kein Huhn, sondern eine Poularde mit Kichererbsen ist. Und das Rezept stammt nicht von mir, auch nicht aus provenzalischen Traditionsbeständen, ich habe es dem "Stern" entwendet, der natürlich - Dementi tut not - nicht zu meiner üblichen Lektüre zählt. Man benötigt dazu: eine mindestens zweieinhalb Pfund schwere Poularde, eine Dose Kichererbsen mit etwa 500 g Einwaage, eine Zitrone, ein Pfund Zwiebeln, Safran, zwei bis drei Knoblauchzehen, drei (!) Bund glatte Petersilie, Thymian, Tomatenmark, drei Achtel Liter Gemüsebrühe. Und so geht's: Die Zitrone schälen und in dünne Scheiben schneiden, Kichererbsen abspülen, Ziebeln zerkleinern; Poularde abspülen, trockentupfen, salzen, pfeffern, mit Zitronensaft einreiben, Beine der Poularde zusammenbinden. Die Poularde wird, nachdem sie zuvor kräftig angebraten wurde, aus dem Schmortopf genommen. Im Bratfett werden nun die Zwiebeln glasig gedünstet, der Knoblauch wird kurz mitgewendet; dann werden die Kichererbsen, die grob gehackte Petersilie sowie der Thymian zusammen mit dem Tomatenmark und der Brühe dazugeben. Die Poularde auf das Gemüse-Kräuterbett legen, die Zitronen- 179 scheiben um sie herum verteilen. Das Ganze kommt im geschlossenen Schmortopf in den nicht vorgeheizten Backofen und wird bei 225 Grad etwa 40 bis 45 Minuten gegart; danach Deckel abnehmen und weitere 20 bis 25 Minuten zu Ende garen. Dazu paßt am besten Weißbrot und ein in der Aldi-Werbung empfohlener Rotwein knapp unter einem Euro. Weil wir uns aber in Südfrankreich befinden, nicht wissen, wo es hier einen „Aldi“ gibt, und uns der „Lidl“, den wir in Bédarieux gesehen haben, zu weit entfernt ist (nahezu 40 Kilometer), begnügen wir uns mit einer sündhaft teuren Appellation Cacanac Contrôlée (Name aus juristischen Gründen geändert), der dem Rotwein zu knapp einem Euro nahe kommt. Der Wind ist noch stärker geworden, ich stelle mir lauthals vor, der Zimmerbrand im „Cercle Occitan“ hätte unter seinem günstigen Einfluß ein Inferno in ganz Clermont l'Hérault ausgelöst, womö glich auf die Cave Coopérative de Cacanac (Name aus juristischen Gründen geändert) übergegriffen und den dort lagernden Appellation Cacanac Contrôlée (Name aus juristischen Gründen geändert) zu Glühwein verwandelt. Aber das hätte den Winzern so gefallen, eine fette Versicherungssumme abzukassieren und noch dazu einen schlechten Glühwein zu vermarkten. Deshalb breche ich meinen Tag-, ich meine: Abendtraum an dieser Stelle ab und konzentrierte mich auf die roten Streifen, die am Horizont auflodern (in Richtung der Montagne de la Gardiole zwischen Sète und Montpellier). Es scheint, daß dort die Garrigues (die aus Krüppeleichen, Stechginster, Zistrosengewächsen, Kräutern der Provence bestehende Heide) in Flammen steht. Hagen Knotterbeck ist über meine Tiraden eingenickt. Ich habe (ich weiß nicht wie lange) ins Leere geredet. Höchste Zeit, daß ich mir jetzt die Schlafmütze über die Ohren ziehe und mir eine Mütze Schlaf genehmige. 180 Samstag, 8.Juli Der Wind legt noch einen Zahn zu. Die ganze Nacht hat er um das Haus getobt, die Läden auf der Westseite fast abgerissen. Auch die Wetterkarte des "Midi libre" zeigt sich von ihrer windigen Seite: Nur daß sie, wo Sturm herrscht, Stille verheißt. Sie weiß nichts vom Tosen der Elemente, warnt sogar Surfer und Segler vor stundenwährenden Flauten, die für heute zu erwarten seien. Dies steht in auffallendem Gegensatz zu den Meldungen weiter vorn im Blatt: überall Feuer im Languedoc und zwar - wie es dort heißt - vom Wind entfacht, bei Mèze, nahe Marseillan, in der Höhe von Bouzigue, vereinzelt in dem fast menschenleeren Gebiet zwischen Clermont und Montpellier bis hinunter zur Autobahn, wo wir gestern den großen Brand ausgemacht haben. Aber was mich (obwohl Pyromane) weit mehr fesselt als die Nachrichten über Brände, ist die Berichterstattung über die gestrige Winzerdemo. Nachdem die Kundgebung in Carcassone bis zum Schluß friedlich geblieben war, entlud sich am späten Abend der seit langem aufgestaute Zorn in einigen Vandalenaktionen, die stets nach demselben Muster abliefen: Eine Gruppe Vermummter wirft ein Polizeiauto um, verprügelt die Insassen, und zieht damit das Interesse des gesamten örtlichen Polizeiapparates auf sich, während eine zweite, weit größere Gruppe in der Zwischenzeit dem Vorsatz der größtmöglichen, durchweg zweckgeleiteten Sachbeschädigung folgt. Das Ergebnis: unter anderem ein zerstörter Bahnhof, eine plattgemachte Spirituosenzentrale, Brandschatzungen von Speditionen und mehrere Saccages (eine Form der kalten Brandschatzung) von Supermärkten, darunter auch “unseres” „HyperU“; der kam allerdings vergleichsweise glimpflich davon: Hier wurden nur die elektronischen Kassen zerhauen und die Weinregale samt Inhalt umgekippt. 181 Hagen Knotterbeck möchte ans Meer, der Wellengang sei sicherlich ein Erlebnis für die Kinder. Ich schlage die Corniche in Sète vor, wo die Küste nicht ganz so vom flachen Sandstrand eingenommen ist, und die Liegeplätze gleichwohl etwas geschützter sind. Meine Empfehlung ist nicht ohne Hintergedanken, denn dann kann ich den Badegang mit einer „sentimental journey“ verbinden: Während die Restfamilie sich in den Wellen suhlt, bleibt mir viel Zeit, in der Stadt meinen Erinnerungen nachzuhängen. Wir taten gut daran, meinem Vorschlag gefolgt zu sein. Die Wellen geben sich an den benachbarten Felsklippen eindrucksvoll und schmeißen ihre Gicht bis auf die Straße. Andererseits sind die Badebuchten der Corniche vor jenem Südwestwind geschützt, der Riesenmengen Sand von den Flachstränden mit sich trägt und diese auf die Uferstraßen kippt. Ich lasse Hagen Knotterbeck und die Kinder im Zentrum der Windhose zurück und kämpfe mich durch die Zonen hoher Turbulenz zur Bushaltestelle durch. Der Bus wird fast umgeblasen, so stark tobt der Sturm auf der Route de Béziers, die sich ungeschützt über dem Strand erhebt. Ich witsche mit einem halben Zentner Sand ins Wageninnere. Die Busfahrerin - es ist ganz der Typ Bedienung vom Café an der Place Aristide Briand, vielleicht ihre Schwester - lacht und gibt Gas, als wolle sie dem Orkan Konkurrenz machen. Sie entschuldigt sich jedesmal, wenn sie in die Eisen geht - und sie geht oft in die Eisen, ständig lassen es irgendwelche Kleinwagen an Respekt missen und können nur dank der Geistesgegenwart von Madame la Conductrice vor der Schrottpresse bewahrt werden. Die Bremsen, klärt sie über den Bordlautsprecher auf, seien so ausgelegt, daß sie gleich blockierten, also bei Verletzungen, Schädeltraumata und sonstigen Reklamationen sich bitte nicht an sie, die Fahrerin, sondern gleich 182 an die Verkehrsbetriebe wenden. Hinter der Corniche biegen wir in die Rue Jean Vilar ein und winden uns hinter dem „Cimetière marin“ (wo Paul Valéry, nicht aber Georges Brassens zu Hause ist) den steilen Weg zum Mont St Clair hoch. Der Motor keucht, Madame la Conductrice hüpft nervös auf ihrem Conductricensitz herum wie; sie bedient jetzt noch schnell die letzten Haltestellen weit oberhalb der Zitadelle, dann geht es nach einem umständlichen Wendemanöver wieder abwärts, der Bus gewinnt an Fahrt, seine Lenkerin jauchzst und frohlockt. Das Können der Fahrerin entwickelt sich jetzt zur Kunst: Sie nimmt die engsten Sträßchen mit einem mörderischen Tempo. Die Fahrgäste rechnen unwillkürlich damit, daß dort, wo der Bus eben vorbeikam, an mindestens 20 Autos die Türgriffe fehlen. Wenn man mal vom Grad der Beschleunigung absieht, die einem das Gefühl von Insassen eines abstürzenden Aufzugs verschafft, kann man der Fahrt durchaus etwas abgewinnen. Vor uns öffnet sich immer wieder der Blick über den tief unten liegenden Hafen, das Théatre Jean Vilar, das sich wie eine Trutzburg ins sturmgepeitschte Meer schiebt. So war es auch vor dreißig Jahren, als ich hier war und zum ersten Mal die riesigen Brecher im sonst so friedliebenden Mittelmeer sah - die Arena des damals gerade im Fort Saint Pierre neu installierten Theaters stand vollständig unter Wasser. Ich war mit Gabor von Saarbrücken hierher getrampt, eine abenteuerliche Fahrt durch den Osten und den Süden Frankreichs. Erst standen und lagen wir zwei Tage an der Goldenen Bremm, dem Grenzübergang bei Saarbrücken, wurden dann am dritten Tag nach Metz mitgenommen, was einer Entfernung von gerade mal 60 Kilometern entspricht (zu Fuß wären wir schneller vorangekommen). Dann endlich ein Auto, das uns bis Belfort chauffierte. Das war zwar nicht ganz unsere Richtung, und das Auto war ein alter Citroen H, 183 ein Wellblech-Lieferwagen, der nach Heizöl stank (er wurde unterwegs im Fahren mit einer veritablen Kanne für Haushaltsölöfen betankt). Außerdem entpuppte sich der zunächst freundliche Fahrer, der uns nach acht Stunden Wartezeit in Metz aufgegabelt hatte, als holländischer Rauschgifthändler, der uns zur Mitfahrt in die Türkei oder Afghanistan überreden wollte, aber mitten in der Nacht und inmitten der Vogesen eine A-conto-Zahlung auf die nichtvereinbarte Mitfahrerbeteiligung verlangte, wobei einige weitere Insassen des Fahrzeugs, die wir bis dahin noch nicht so richtig registriert hatten, uns gegenüber eine drohende Haltung einnahmen. In Belfort wurden wir dann gegen Morgen von einer wunderhübschen Pragerin, die sich nach dem Einmarsch der Russen hier in der Nähe niedergelassen hatte und Milan Kundera als Steilvorlage für eine Handlungsträgerin seiner Romanen diente, nach Besançon mitgenommen. Dort standen wir erstmal wieder etwas herum – wir waren nun im sechsten Tag unseres Urlaubs und noch nicht mal bis Burgund gekommen -, bevor es dann aber flott weiterging. Ein amerikanischer Student nahm uns in seinen Käfer mit bis nach Südfrankreich, und er hätte uns mitgenommen bis nach Marokko, wo er den Spuren Paul Bowles’ und der ganzen damals noch unter Lebenden weilenden Beatnik-Gang nachgehen wollte. Wir sind einfach in Sète ausgestiegen, weil wir der Meinung waren, daß wir uns von hier aus in aller Ruhe nach einem hübschen Fischerdorf umtun könnten, wo es sich billig leben ließe, die Töchter der Fischer hinreichend schön wären und wir uns des Abends beim ritzeroten Sonnenuntergang einen Rausch mit dem noch tieferroten Rotwein genehmigen würden, einem Rotwein zumal, der preislich die algerischen Spitzenlagen noch unterböte. Stattdessen blieben wir in Sète, es gab nur unnahbare Einwohnerinnen, schlechten Shit und dreckige Hippies, die von Tanger (dem hipsten Reis eziel, das es 184 damals überhaupt gab) kamen oder nach Tanger wollten oder von Tanger träumten, aber es nie bis nach Tanger schafften. Ab und zu waren wir gezwungen, die imaginären Zelte (wir schliefen unter freiem Himmel, aßen rohe Muscheln und zur Abwechslung mal Pommes vom Restaurant oben an der Küstenstraße und tranken Rotwein für 80 Centimes der Liter) abzubrechen, dann nämlich, wenn die Gendarmerie befand, daß solches Gesocks wie wir schleunigst ein anderes Urlaubziel zu suchen hätte. Wir sind dann der Aufforderung jedesmal gern nachgekommen, weil wir auf Urlaub hinter Gittern, den immer eine repräsentative Auswahl von uns antreten durfte, keineswegs erpicht waren. Allerdings wechelten wir nicht denUrlaubsort, sondern mieteten uns dann vorübergehend in einer Herberge ein, die in der Rue Franklin lag, jener Rue Franklin, durch die soeben mit eingezogenen Außenspiegeln der Bus donnert. Es ist tatsächlich die Rue Franklin - leider kann ich bei dem Tempo nicht das Anwesen sehen, wo wir damals “geunnert” haben. Madame la Conductrice balanciert jetzt den Bus mit deutlich gedrosseltem Tempo durch die Altstadt. Sie hüpft erneut auf ihrem Conduktricenstuhl herum. Es ist nicht Nervosität, die sie aus dem Sitz katapultiert - sie muß auf die Außenmaße acht geben und sich zu diesem Zweck mal weit nach rechts mal weit nach links beugen, die Außenspiegel bleiben eingezogen, keine Chance, sie bei diesen Straßenverhältnissen ihrer Bestimmung gemäß einzusetzen. Dann und wann tauscht die schöne Fahrerin an den Straßenecken mit irgendwelchen Bekannten Neuigkeiten aus oder plaudert einfach mit ein paar unbekannten Passanten; der Fahrplan hat ohnehin nichts zu sagen, wir können froh sein, daß uns ein falsch geparktes Moped nicht noch größere Zwangsaufenthalte beschert. Der Anlaß des Schwatzes ist meistens eine brenzlige Situation: Das war aber knapp. Knapp meint, knapp an der Schramme vorbei. 185 An den Halles steige ich aus, um noch einmal das Flair von Sète einzuatmen. Schöne Mädchen wie damals. Obwohl man an dieser Stelle einwerfen muß, daß die Mädchen von Montpellier seinerzeit schöner war. Dem bekannten Historiker Emmanuel Le Roy Ladurie verdanke ich den Hinweis auf eine mögliche Erklärung des Namens Montpellier: Monpuellarum - die Stadt der schönen Mädchen. Die Bevölkerung Montpelliers ist in den letzten dreißig Jahren durch Zuwanderung um gut 500 Prozent gewachsen, so daß es heute eher schöne Maghrebinerinnen, Antillerinnen und Senegalessinen, nicht mehr aber die schöne Montpelliéraine gibt. In Sète dagegen ein Hauch von Bella Italia: Die Ureinwohner stammen aus Italien. Selbst Paul Valéry und George Brassens haben italienische Vorfahren. Tausende sollen es gewesen sein, die im 17. Jahrhundert nach Fertigstellung des Canal du Midi (der hier seinen Ausgang nimmt) den Grundstock zur italienischen Kolonie gebildet haben. Deshalb ist auch heute noch in Sète manches anders als anderswo. Viele Gerichte passen eher zu Neapel als zum südfranzösischen Umland, die Leute sind vom Größenwachstum trotz des evolutionsbedingten Schubes, der die Wohlstandsvölker derzeit heimsucht, immer noch hinter dem Landesdurchschnitt zurückgeblieben, die Mammas sind halt Mammas und keine vertrockneten Pariserinnen “d’un certain âge“. Verschwunden aber sind die Fischerfamilien, die in den kleinen Cabanes oberhalb der Grande Rue Haute und so auch in der Rue Franklin wohnten, jene liebenswürdigen Nachbarn, die uns damals beinahe täglich frischen Fisch schenkten, Fische aller Sorten, Farben, Fischgerüche - kein langweiliger Edelfisch, dessen Bestimmung es ist, sich mühsam an hochgetunten Sättigungsbeilagen abzustützen. Wir haben die Präsente immer weggeschmissen, weil es uns zum einen unzumutbar erschien, den Fisch zu entschuppen und 186 auszunehmen, und weil wir zum anderen gar nicht wußten, wie er zubereitet wird, und zum dritten, weil wir Angst vor galleartigen Rückständen oder sonstwelchen Epizentren fischiger Geschmackserregungen hatten. Wir haben uns aber jedes Mal gestenreich bedankt und nie zu erwähnen vergessen, wie gut er uns gemundet hat, der Fisch; Dank und Anerkennung, die uns beim nächsten Mal noch größere Portionen bescherten. Laut war es, die Mammas schwatzten und klatschten ohne Ende, die Jungs prügelten sich um die Mädchen oder um „disques bleus“ (die Zigaretten aus der staatlichen Regie) oder um Kofferradios oder was weiß denn ich; und wenn ihre Väter ausgeschlafen und das Rotweinfrühstück eingenommen hatten, spielten sie noch etwas mit der Quetschkommode auf, stimmten melancholische Lieder an, aus denen ich heute (aber nicht damals) die nicht stillbare Sehnsucht nach Bella Italia heraushöre. Dabei ist heute gar nichts mehr zu hören. Der Lärm der Autos und der Mopeds ebbt oberhalb der Markthallen und der Geschäftsstraßen zwischen Quai Général Durand und Rue Gambetta deutlich ab. Selbst die Grande Rue Haute, die auf halber Höhe parallel zu den Quais verläuft, wirkt leblos, wird nur von mäßigem Verkehr durchzogen. Keine Gemüsegeschäfte mehr, keine Fisch- und Zeitungshändler, keine Bäckerei, kein Metzger - auf Nimmerwiedersehen verschwunden das liebevolle Durcheinander, das nicht mehr zu steigernde Chaos, in das man geradezu lustvoll eintauchen konnte. Heute kalte, geschlossene Fassaden, hinter den Fenstern junge maghrebinische Paare und dann und wann eine der einsamen Omas, die damals im blühenden Mamma-Alter waren, und deren Söhne und Töchter längst in Montpellier, Marseille oder Paris und deren Männer schon seit vielen Jahren überhaupt nicht mehr leben. Ich steige zur Rue Franklin hoch, orientiere mich an der Kirche, die unsere 187 Herberge überragt hatte und bin endlich dort, wo wir trotz der Ratten, des Fischgestanks, der maroden Betten und der Stehklos uns so wohl fühlten. Es ist nichts mehr vom Charme der Freiheit in Dreck und Entbehrung geblieben. Heute steht dort eine Résidence, ein Wohnhaus mit Eigentumswohnungen, bei dessen Fertigstellung sicherlich mit dem Blick auf das Meer und der attraktiven Altstadtlage geworben wurde. Wo wir einst mit den anderen Gästen nächtelang alberten, mit den zwei Mädchen vom Nederlands Dance Theater, mit der Theaterkommune aus Berlin (ich glaube, der junge Otto Sanders war dabei) mit Daniel, dem Anarchosyndikalisten von Renault-Billancourt, der grundsätzlich nur weiße Bohnen aus der Dose aß und mit seinem neuen Finnenmesser Jagd auf die Ratten machte (die er bei der Ve rfolgung als Flics beschimpfte), mit den beiden Schwestern aus Irland, die mit Hilfe von Eßlöffeln und ihren massiven Oberschenkeln eine hybride Kastagnetteneinlage gaben, mit Joan, der Amerikanerin, die einige Jahre später in Antonionis Film “Zabriskie Point” die Rolle der Daria gab (oder hätte geben können) und die uns vom Monterrey Pop Festival erzählte, mit Danielle, der kleinen Kaufhausdiebin, die aussah wie Miou-Miou in Alain Tanners "Jonas", und die eines Tages von der Polizei verhaftet wurde. Dort, wo sich alle diese Durchgeknallten, Außenseiter mit den Unbedarften (Gabor und mir) ein Stelldichein gaben, dort ist heute die Garagenausfahrt der gehobeneren Wohneinheiten. Die Auberge war ursprünglich ein Gemeindezentrum, das die Kirche zu Zeiten, als es noch Arbeiterpriester und „aktionen 365“ gab, errichten ließ. Der Schlafsaal für die Gäste männlichen Geschlechts war der ehemalige Kinosaal, die Berliner wohnten im Vorführraum, Männer und Frauen zusammen, was der Karikatur von einem Pfarrer, die einmal die Woche mit dem Gemeindevorsteher die Miete kassie- 188 ren kam, überhaupt nicht schmeckte. Die Mädchen waren in einem rückwärtigen Gebäudeteil untergebracht, natürlich gab es Arrangements gegen die Geschlechtertrennung, aber im großen und ganzen war man aufgrund fehlender koedukativer Erfahrung noch etwas ungeübt und akzeptierte die von der Kirche gezogene Schicklichkeitsgrenze. Immerzu waren die Klos verstopft, fiel die Dusche aus, war das Wasser aus dem langen Waschbecken noch nicht mal zum Fußwaschen geeignet. Aber das nahmen wir gern in Kauf, all das war besser als die verlauste weiter unten gelegene Jugendherberge, wo sich die ewig bekifften Gäste gegenseitig beklauten, ihre Parasiten austauschten und sich Schlägereien um verdorbene Wurstwaren lieferten. Hier in der Rue Franklin herrschte die Atmosphäre einer Großfamilie, man teilte sich den Rotwein und den Käse und gab sich der Illusion hin, so würde es ewig weitergehen. Ich spreche zwei Passanten an, die vom Alter her vielleicht noch Auskunft geben könnten über das Schicksal der Auberge, ihrer Nachbarn... Nur müdes Achselzucken. Sind alles Zugezogene hier, haben auch wenig Kontakt untereinander, man lebt so und das ist doch “pas mal” oder? Ich mache ausnahmsweise ein paar Fotos, von dem, was nicht mehr zu sehen ist, und von dem, was an seine Stelle getreten ist. Tempora mutantur, Schwamm drüber und zurück zum Strand. Hagen Knotterbeck hat mit den Kindern schon im nahen Wellblechrestaurant Platz genommen und das Mittagsmahl geordert. Ich esse eine Portion Muscheln, sie schmeckten wie tagelang von Holland hierher transportiert. Hätte es mit Hagen halten und mich für auf Rebholz gegrillte Sardinen entscheiden sollen. Nur die „éperlans“, die ich als Vorspeise hatte, waren von guter Qualität, aber da kann man ja nun wirklich nichts falsch machen. Eperlans, die im Deutschen „Stinte“ heißen, sind kleine, allenfalls zwei Zentimeter 189 lange Silberfischchen, die fritiert oder gepökelt mit Haut und Haaren gegessen werden (von Gräten zu sprechen, verbietet sich bei der subatomaren Größe dieses Speisefisches). Die ersten ihrer Art habe ich in August Zieglers Partykeller gegessen. August, ein Schulkamerad, hatte beim Zoll in Habkirchen einen Rieseneimer organisiert. Damals besserten sich die Zollbeamten durch Verkauf von beschlagnahmtem Gut ihr kärgliches Gehalt auf. Gefragt waren von den Abnehmern des Hehlergutes natürlich Zigaretten, Pernod und Cognac. Zu Hause hatten wir immer 80prozentigen weißen Cognac. Er stammte aus Beständen, die zur Minimierung von Transportkosten erst kurz vor dem Verkauf „gestreckt“ und dann verbrauchergerecht eingefärbt wurden. Mein Onkel Sepp, der als Kind in eine Wanne mit Löschkalk gefallen war und sich dabei die Schleimhäute mitsamt der Geschmacksnerven verätzt hatte, war ganz scharf auf das Zeugs, weil ihm dieses Empfindungen bereitete, die harmlosere Spirituosen nicht mehr zu bieten in der Lage waren. Die „éperlans“ waren übrigens der große Hit, die Mädchen kamen von weither, um uns beim Verzehr zu unterstützen. Dazu muß man wissen, daß damals - wir sprechen von den 60er Jahren - gerade „Goldfischli“ von „Wolf an der Bergstraße“ als Partygebäck schwer en vogue waren („Stixis“ und die Salzstangen anderer Hersteller galten als spießig, besonders in der Kombination mit Käsewürfel), aber gegen die „éperlans“ konnten Wolf-Produkte natürlich nicht anstinken. Abends noch ein Anruf bei Colette und Bertrand: Ich frage, ob wir bei unserer Rückreise vorbeikommen könnten. Das geht nicht, sie werden sich in der fraglichen Zeit wegen Verhandlungen mit einem Sponsor in Paris befinden. Ich wünsche dem Sponsor, äh Bertrand viel Glück, und nehme die Gelegenheit wahr, sie nach ihrer Meinung zum Kampf der Winzer zu befragen. Bertrand vertritt die Ansicht, es müßte weniger auf die Gesundheit geachtet werden (typisch) und wieder mehr getrunken werden in der Welt. Dann hätten alle ihr 190 Auskommen: die Kalifornier, die Italiener, die Franzosen, die Ukrainer...”Ukrainer?” “Gehört die Krim denn nicht zu der Ukraine? Wenn nicht, dann halt die Russen statt der Ukrainer. Können doch beide viel vertragen.” Colette findet, daß die Winzer an ihrer Misere selbst schuld sind. Jahrelang den Staat in Geiselhaft zu nehmen (ich verschweige aus Schamhaftigkeit mein eigenes Erlebnis von vorgestern), und jetzt als ultima Ratio die Randale zu wählen, ist starker Toback. Statt eine richtige Revolution zu machen, “eine richtig schöne Revolution, Château d’Yquem für alle, Zuckererbsen für jedermann, bis daß die Schotten krachen - hat das nicht euer Henri Heine gesagt? - und jeden Tag Weinfest, mit dosiertem Terror, zum Beispiel Hugh Johnson an die Laterne und Henri Gault zusammen mit Christian Millau aufs Schaffott...” Ich sage: “Kann dich gut verstehen, aber gehst du da nicht ein bißchen zu weit?” “Ach was, wir Gallier könnten mal wieder eine ordentliche Insurrection gebrauchen. Besser, ihr Germanen haltet euch dabei raus.” Ich sage: “Asterix und die Große Revolution...” Colette: “Spaß beiseite. Der Kardinalfehler der Winzer, aber auch von so Leuten wie José Bové - die sich im übrigen gar nicht riechen können - besteht darin, das sie gegen Konkurrenten ankämpfen und nicht gegen ihre eigene Enteignung.” Ich: “Enteignung?” Colette: “Ja, das sind doch Sandkastenspiele, Roquefort gegen Wopper, Côtes du Roussillon gegen Zinfadel. In Wirklichkeit werden die Bauern, seit sie sich von den Feudalherren befreit haben, immer wieder aufs Neue enteignet. Immer mehr wird ihr Patent, für die pflanzliche und tierische Reproduktion zu sorgen, ausgehebelt und an die Saatguthersteller und Genfabriken übertragen. Sie verlieren ihre Lizenz zur Lebensmittelherstellung, und die Konzerne gewinnen die Lizenz auf Leben. Dabei waren es die Bauern und ihre Vorfahren, die über Jahrhunderte diejenigen Kulturen herangezüchtet haben, auf denen die Konzerne jetzt aufsetzen. Oder wie würdest 191 du es bezeichnen, wenn man für Möglichkeiten, die allen zustehen, plötzlich Lizenzgebühren bezahlen mußt, hein? Nichts anderes machen Saatguthersteller, die biologische Uhren in ihre Produkte einbauen, kleine Zeitbomben, die das Keimmaterial abtöten, wenn die Jahresgebühr nicht bezahlt wurde. Ich nenne das Piraterie.” Ich: “Das kommt mir doch bekannt vor. Ich habe neulich einen Monsieur Porte... ” Colette: “Warte, noch eine Bemerkung: Das ist nicht, wie Bové behauptet, ein Kulturkampf, sondern ein Kampf um die Natur. Bové will die Kultur naturalisieren; es kommt aber darauf an, die Natur zu humanisieren. Und die neuen Herren sind dabei, statt sie zu humanisieren sie gleich ganz abzuschaffen. Solltest mal jemanden von der ‚Encyclopédie des Nuisances‘ sprechen...” Ich: “Von was bitte? Von der Enzyklopädie der Schädlichkeiten?” Colette: “Ja, das ist eine Gruppe von Bauern um René Riesel und anderen...” Ich: “Alt-68ern natürlich...” Colette: “..., die das ein bißchen besser blicken als ein Herr Bové, der jetzt im Fernsehen auftritt als Käsespezialist wie euer Bio als Küchenexperte. Was wolltest du mir über deinem Monsieur..., wie hieß er nochmal, sagen?” Ich: “Ach laß’ es Colette, ich dank’ dir, das mit 68 ist mir für heute ein bißchen zuviel des Rückblicks, aber das verstehst du nicht, das ist eine andere Geschichte. Mach’s gut.” Sonntag, 9. Juli Zur Feier des Sonntags begleitet mich Hagen Knotterbeck beim Broteinkauf. Sie sagt das nicht so offen, will wohl Madame Simone kennenlernen und unser ideelles Bratkartoffelverhältnis einer Inspektion unterziehen. Vor der Alimentation warten schon an die zwanzig Dorfbewohnerinnen, Madame Simone ist dummerweise nicht darunter. Das löst bei Hagen naturgemäß Argwohn aus. Mit halbstündiger Verspätung erscheint Monsieur le Boucher, unrasiert 192 (wie man sieht) und ungewaschen (wie Hagen vermutet). Sofort nachdem das Ladengitter beiseite geschoben ist, kommt meine Freundin angetrabt - ihre IMs haben ihr sicherlich Meldung erstattet, daß der Sturm auf die Backware losgeht. Es ist wie im Sommerschlußverkauf: Madame Simone und die Schar ihrer Geschlechtsgenossinnen (minus Hagen) stürzen sich auf eine Etagère, die Monsieur le Boucher inzwischen mit süßen Teilchen belegt hat. Sie befingern diese, wägen sie ab, analysieren die Unterseiten auf Backschäden, schlecken sich die Finger, untersuchen neue Teilchen, bevor sie sich endlich zum Kauf entschließen. Zurückbleibt ein klebriger Bodensatz von Blätterteig und kandierten Früchten. Aufgrund des hohen Kollateralschadens in der Backecke verzichten wir auf Süßware und beschränken uns auf das übliche Baguette. Artig mache ich Hagen mit Madame Simone bekannt, Hagen muß Madames klebriges Händchen schütteln, was mir nachher mit Sicherheit eine bissige Bemerkung eintragen wird. Aber gut für mich: Das Phantom Simone demaskiert sich, und eine quirlige, an Hagens Sympathie appellierende Alte kommt zum Vorschein. Madame parliert in anmutigster Weise über das Wetter, alle parlieren über das Wetter - „un temps exceptionnelle“. Die derzeit in Griechenland und der Türkei grassierende Hitzewelle - darin ist man sich einig - gehört dort gar nicht hin, sondern hierher in den Süden Frankreichs. Das ist doch blamabel, was man derzeit den Nordlichtern bieten kann. Aufgeregt diskutiert wird der Feuerstand an der Rhônemü ndung: In der Nähe von Marseille sind gestern nämlich zwei Feuerwehrleute bei der Bekämpfung eines Flächenbrandes ums Leben gekommen. Am Chemin des Roques kommt uns ein Motorradfahrer entgegen, er im Integralhelm, sie im ...(ja ist es denn die Möglichkeit?), sie ist eine Pudeldame und sitzt auf dem Tank zwischen den behaarten Pranken ihres Liebhabers, ihr (ich vermute: frisch onduliertes) Köpf- 193 chen von einer hundespezifischen Helmkreation geschützt. Das Wetter scheint Perverse anzuregen und Brände zu begünstigen. Die Touristen leiden unter den raschen Wechseln zwischen Kalt und Warm, Regen und Traufe, Sonne und Wolken. Die Einheimischen macht dieser Sommer ratlos - so was hatten wir noch nicht, sagen sie, was in Kenntnis der Redeweisen, wonach früher alles besser war, wenig glaubhaft klingt. Wen das Wetter ebenfalls in Verzweiflung stürzt, das sind die Zikaden. Sie stellen bei jeder Wolke ihr Konzert ein, legen beim geringsten Sonnenschein wieder los, um bei einer weiteren Wolke abermals zu verstummen. Sie wissen nicht, wann sie morgens starten und wann sie abends aufhören sollen, machen selbst im Dunkeln weiter, wenn der Tag nicht ausreichend Gelegenheit zum zikadenhaften Tun geboten hat. Bei einer stabilen Hochdrucklage, wenn die Zikaden ohne Unterlaß von morgens sieben bis abends acht am Werk sind, wirkt ihr Kettensägen viel weniger störend als bei wechselhaftem Wetter, wenn die Kadenzen sich mit dem Wechsel von Sonne und Wolken jagen. Bei den Zikaden handelt es ich, wie ich den täglichen Sendungen eines Zikadensachverständigen von „Radio France Hérault“ entnehme - um eine Sammelbezeichnung, deren größte Unterart die Kaiserzikade (Pomponia Imperatoria) darstellt. (Einschub von mir: Wieso diese von uns Deutschen zu früheren Zeiten auch als Singzikade bezeichnet wurde, bleibt mir unerfindlich. Ihr Geknarre und Geratsche kann unmöglich wohlgefälliger als heute gewesen sein. Wesentlich besser ist die Eindeutschung der gesamten Familie in "Kerfe": Allein das Wort “Kerf” klingt eher danach, wie sie klingen, obwohl es ja sämtliche Kerbtiere benennt.) Im Hérault existieren etwa zehn Unterarten. Die kleinste ist der knapp ein Zentimeter messende Pygmäenkerf („cigale pygmée“), der sich vorwiegend im Trockengras des Hinterlandes aufhält. Die größ- 194 te ist die Pinienzikade mit bis zu sieben Zentimeter Körperlänge und einer Flügelspannweite von fast 18 Zentimetern, kommt also eher der Kaiserzikade nahe, heißt aber hier seltsamerweise „Cigale plébénienne“, ist also vom Namen her das genaue Gegenteil eines Kaisers. Die gängigste Art ist die Es chenzikade („cigale du frêne“). Die Zikaden sind (bei Sonnenschein) deshalb im Dauereinsatz, weil sie innerhalb der kurz bemessenen sommerlichen Kernzeit - und das sind knapp vierzig Tage - freien, heiraten, die Ehe vollziehen und ihre Nachkommen in die Welt setzen müssen. Das bedeutet für die Männchen, stundenlang mit ihrem Singapparat auf die bekannt entsetzliche Weise zu musizieren, mit einer Trommelhaut, die sie durch Muskelkontraktion in Schwingungen versetzen und diese mit ihrem Resonanzkörper aus Chitin verstärken. Wenn sie Glück haben, kommt das das von den Beats erregte, durch einen dicken Brummbaß sich ankündigende Weibchen angeflogen und läßt sich alsbald von dem Krawallbruder besteigen. Die Zikaden ernähren sich - so der Zikadensachverständige, dessen Stimme im übrigen reichlich zikadenhaft klingt - von Pflanzensäften. Sie gehen dabei ähnlich vor wie die Stechmücken beim Menschen. Sie stechen den pflanzlichen Wirt an und nehmen die Säfte auf, die - wenn sie im Falle der Esche verharzen das berühmte, in der Bibel erwähnte Manna bilden. Soweit der Zikadensachverständige. Im Garten des „Château Pohl“ gibt es etliche Bäume, vor allem der Eukalyptus seitlich der Terrasse, die durch Zikadenbefall erhebliche Schäden davongetragen haben. Jean Paul erwähnt in seiner Erzählung „Das Kampaner Tal“ (die übrigens bei Campan in den Hochpyrenäen spielt) einen „Warzenheuschreck“, der Warzen frißt und mit seinem „korrosivischen Ätzmittel“, die er in die Wunde pumpt, die 195 weitere Warzenbildung verhindert. Jean Paul nahm dabei zweifellos die Zikade zum Vorbild, über die er aber nichts Genaueres wußte, so wie er auch das Tal von Campan nur aus einem englischen Reis eführer kannte. Was ihm vollkommen entgangen war, ist der Lärm, den die vorgeblichen „Warzenfresser“ machen. Er hätte, wäre ihm das bewußt gewesen, natürlich nicht die Nützlichkeit des Kerbtieres betont. Ich jedenfalls freue ich mich, wenn die Vögel des Himmels einfallen und unter heftigem Schilpen (ein Wohllaut in meinen Ohren) den Schädlingen den Garaus machen. Natürlich freue ich mich hauptsächlich in eigener Sache, denn der Lärm ist manchmal so groß, daß ich zur Selbsthilfe greifen muß und mittels starker Schläge gegen die Äste ihr Konzert unterbreche. Merkwürdig ist, daß ihre akustischen Ausscheidungen viel intensiver wirken, wenn man nicht in Front zu den Viechern steht, sondern ihnen nur ein Ohr zuwendet; dann wird man bei einer Distanz von unter drei Metern ihr Krächzen wie eine akustische Killerbombe empfinden. Der Mensch ist wohl ein nur bedingt ein stereophones Wesen, müßte, um seinen Evolutionsvorteil zu optimieren, so hören wie die Hühner sehen, ständig den Kopf hühnerhaft bewegend, um die Umwelt besser wahrnehmen zu können. Professor Dimitri Oreillopoulos, ein Bulgare, hat darauf als erster im Jahr 1906 hingewiesen. Obwohl er seine These im 1. Weltkrieg an hörgeschädigten Kriegsopfern verifiziert zu haben glaubte, sah er sich sowohl von militärischer Seite als auch seitens der Wissenschaft starken Angriffen ausgesetzt. Die Militärs verübeltem ihm seine Empfehlungen, Infanteristen eine Hühnermotorik anzutrainieren. Dem Professor wurde Sabotage vorgeworfen, und er entging nur deshalb der Militärgerichtsbarkeit, weil unterdessen die Materialschlachten individuelle Körpertechniken obsolet gemacht hatten. 196 Was die Wissenschaft betraf, so wurde gegen ihn geltend gemacht, daß bei hühnerhaftem Gebaren die nach vorne gerichteten Augen in ihrer Funktion beeinträchtigt würden: Wenn Hühnerohren, so brachte dies einer seiner Gegner auf den Punkt, dann auch Hühneraugen. Die Konferenz, auf der dies zur Sprache kam, endete - am Rande bemerkt - in einem Chaos, weil mehrere Koryphäen der Ohrenforschung dies als Anspielung auf ihr Fußleiden mißverstanden. Andererseits wurden gewisse Erkenntnisse von Oreillopoulos bei der Entwicklung der sogenannten Schallkanone gemacht, einem System von Parabolspiegeln zur Bündelung von Druckwellen, aus dem in den letzten Kriegstagen Naziexperten um Dr. Wallauschek eine neue Wunderwaffe kreiieren wollten. Professor Oreillopoulos geriet zunehmend in die Isolation, erlebte es leider nicht mehr, daß neuere Erkenntnisse über die Wirkungsweise der Synästhesie einige seiner umstrittenen Thesen rehabilitierten. Kurzum, es scheint was dran zu sein, daß wir mit den Ohren sehen und den Augen hören. Ich kann das nur bestätigen, denn wenn man der Zikaden ansichtig wird, klingen diese viel lauter, als wenn sie nicht zu sehen sind. Auch in den Gorges d’Héric, unserem heutigen Ausflugsziel gut 50 Kilometer westlich von Péret, huldigen die Zikaden ihrem dissonanten Tun, als müßten sie für eine kommende Eiszeit vorarbeiten. Der Himmel hat sich indessen hinter Poujol-sur-Orb aufgehellt; die windgeschützen Gorges wirken auf uns wie ein Feuerofen. Wir durchqueren die malerische Schlucht mit dem munter plätschernden Héric und quälen uns am Ende des Engtals zusammen mit vielen Touristen und deren Hündchen bergan. Vor uns keuchen zwei „vieux babas cools“, monströse, im Hippielook der 60er Jahre gewandete und vollkommen aus dem Leim gegangene Sechzigjährige, die sich auf dem Weg mit seiner 45-Grad-Steigung in offenen Sandalen abmühen, dabei aber den „p’etit caniche“, den auch sie auf dem Arm tragen, nicht in Bodenkontakt kommen lassen. Das Ziel all 197 dieser Herrschaften ist eine alte, wunderhübsch gelegene Bergerie, wo eine etwas schlamperte, aber freundliche Alte mit ihrem völlig abgerissenen Sohn Cola in Dosen und lieblos belegte Sandwiches zu Wucherpreisen anbietet. Wir machen, daß wir schnell wieder ins Tal kommen, nicht nur wegen der Preise und dem unbequemen Sperrmüll-Mobiliar, sondern auch, weil es in dieser - immerhin fast siebenhundert Meter hochgelegenen - „refuge“ (wie sich der Ort hochtrabend und hochgebirgsmäßig nennt) empfindlich kühl ist. Unten am Flüßchen angekommen, lassen wir uns an einem der letzten freien Naturbadeplätze des Héric nieder, das heißt Hagen und die Kinder lassen sich nieder, während ich zum Auto geschickt werde, Badeklamotten, Kühltasche und Gummienten zu holen. Der Badeplatz ist, das kann man trotz der widrigen Begleitumstände nicht anders sagen, wunderschön - die Begleitumstände sind die laut mampfenden, schwatzenden, ihren Kindchen und Hündchen Anweisungen erteilenden Franzosen, die es ist, nicht zu vergessen, Sonntag - auf Tuchfühlung mit uns logieren. Die Kinder plantschen derweil in den großen Badewannen, die das Wasser hier aus dem Fels gespült hat, springen von den Felsen in die bis zu drei Meter tiefen Erosionskessel, klettern auf riesige Kieselsteine, die der Héric in unvordenklicher Zeit hier abgelagert hat. Die unliebsamen Begleitumstände verschwinden sehr bald, weil sie sich von noch unliebsameren verdrängen lassen. Denn auftritt eine Gruppe von etwa 16jährigen Mädels und Jungs, die sich als Pfadfinder verkleidet haben und aus Neustadt an der Weinstraße stammen. 16jährige von heute, selbst und gerade wenn sie aus Neustadt an der Weinstraße stammen, sind massiv und übergewichtig. Das 198 macht sich besonders unvorteilhaft bemerkbar, wenn sie von den Felsen ins Wasser platschen und - wie in diesem Fall - mit ihrer Wasserv erdrängung uns und die französischen Familien mitsamt ihren Hundchen kalt abduschen. Von den Felswänden hallen zudem die Wortkaskaden im original Pfälzer Idiom wider und begraben uns und die Franzosen unter sich. Vor soviel teutonischem Furor nehmen letztere bald Reißaus, erstaunlicherweise ohne Murren und Wehklagen, ohne verbale Rückzugsgefechte und Drohgesten, sie verdünnisieren sich einfach. Wir aber müssen uns aus den Pfälzer Kehlen das Lied von den zehn nackten Friseusen anhören, haben leider keine Verständnisprobleme, als Olaf, das Schweinchen Dick der Bagage, seinen Schniedel verkühlt, und wir auch sonstigen Unmuts- und Begeisterungsschreien ungeschützt ausgesetzt sind. Es ist nicht zum Aushalten. Wir geben durch Zwischenrufe zu verstehen, daß es sich bei uns zwar um keine Pfälzer handelt, wohl aber um Zeugen des Geschehens, die unbedachte (auch auf Pfälzisch gemachte) Äußerungen mit all ihren Nuancen interpretieren und gegebenenfalls gegen ihre Urheber verwenden könnten. Das löst den Entzückungsschrei aus: “Ah Londslait.” Gefolgt von einem skandierten: “Doitschlond, Doitschlond, iwweroll.” Doch Mäßigung der ausgelassenen Wasserspiele bringt das nicht. Als wir aufgrund des Lärmens selbst die Zikaden nicht mehr verstehen, diskutieren wir, wer der Raserei Einhalt gebietet. Hagen Knotterbeck war im früheren Leben „Saftschubse“ bei Lufthansa (wie Thekengänger in Sachsenhausen die dort zahllos vagabundierenden Stewardessen nennen) und hat in dieser ihrer Funktion durch fein abgestufte Eskalationsmaßnahmen schon viele randalierende Fluggäste zur Strecke gebracht. Ich dagegen neige zur konfliktscheuen Besonnenheit. Außerdem handelt es sich um “Pälzer”, gegen die ich als gebürtiger Saarländer eine nicht zu überbrückende Abneigung verspürte, und das könnte bei allzu hochdosier- 199 tem Schneid ins Auge gehen - angesichts der Überzahl in mein Auge selbstredend. Bei dieser Gelegenheit etwas zum Ve rhältnis Saarländer-Pfälzer: Die Genealogie der Abneigung ist leider nicht mehr zu ergründen. Sie als wesensbedingt oder natürlich zu apostrophieren, hat jedoch einen unstatthaften metaphysischen Restgehalt. Insofern, als sie im Kern durchaus geschichtliche Ursachen hat: Der beliebte Kampfruf “Uff die Bääm, de Pälzer kumme” resultiert nicht etwa aus jener Zeit, als der Saarländer, den es in dieser Entität nicht zu allen modernen Zeiten gab, mit seinen Kulturleistungen (Barockarchitektur Stengels, Deutsch-französischer Garten, Lyoner, Klicker, französische Lebensart, Verwendung von Fachvokabeln wie Parapluies und Rideaus sowie vieles mehr) gegen die in barbarischem Zustand gebliebenen Pfälzer auftrumpfen konnte. Vielmehr stammt dieser Spruch aus der unseligsten aller Zeiten - Schande über uns - , als dem Saarland nach seinem freiwilligen Anschluß an das Nazireich nicht wie erhofft die Gauleitung zufiel, sondern diese einem in (ausgerechnet) Neustadt an der Weinstraße residierenden Pfälzer. Die Abneigung resultiert mithin aus dem Liebesentzug des Reiches und nur zu einem geringen Teil stammesanthropologischer Unverträglichkeit. Dies zu erwähnen war mir aus Gründen des Wahrheitsgebotes wichtig, doch schnell zurück zu den „Pälzern“ in den Go rges d’Héric. Hagen Knotterbeck zieht also sämtliche Register der Beeinflussungskunst und redet auf die Jungs und Mädels ein, mit einer bewunderswerten Mischung von Appell an die erwachsene Vernunftstruktur und zeigefingerhafter Vorhaltung, ein Verfahren, das sich auch bei unartigen Kleinkindern bewährt. Ich fürchte zunächst, daß diese Modulation von Drohung und herrschaftsfreiem Diskurs ins Auge geht, in Hagen Knotterbecks Auge, aber - oh Wunder - die „Pälzer“ geben sich alsbald zerknirscht und entschuldigen sich für den aus ihrer Sicht unwahrscheinlichen Fall, daß sie etwas über die 200 Stränge geschlagen hätten. Ja, man kann sagen, sie kuschen regelrecht; das geht soweit, daß sie sogar unsere Kinder in ihre inzwischen stark gemäßigten Wasserspiele einbeziehen. Es hat den Anschein, daß sie jetzt regelrecht erleichtert sind, nicht als die bösen Pfälzer Buben und Mädchen im Feindesland auftreten müssen; ich bin mir gleichwohl sicher, daß sie ihre frisch erworbenen Hemmu ngen fallen lassen werden, sobald Hagen Knotterbeck außer Sichtweite ist. Wie wir auf dem Rückweg feststellen, waren wir mit unseren Pfälzern noch gut bedient gewesen. Schon in der nächsten Flußschleife tagt eine laut grölende, stark alkoholisierte Truppe, deren Herkunft ich dem Norden der holländischen Provinz Friesland zuordne. Allem Anschein nach sind die besoffenen Holländer schon zu Pfänderspielen übergegangen, denn gerade, als wir vorbeikommen, gehen einige recht robuste Jungs an die Badewäsche zweier kichernder, von Sonne und Erregung hochgeröteter Mädchen. Eine Schleife weiter ist es eine vernehmlich aus Basel-Vorstadt stammende Sturmtruppe, die sich mit wohlplazierten Angriffen auf die Naturidylle begibt. Den Ghettoblaster, der für Partystimmung und in Freiluftbeschallung sorgt, haben wir schon in unserer Badebucht vernommen. Auf einem 100 Kubikmeter-Kaventsmann von Flußkiesel steht eine kompakte Blondine in Bikini (die von ihresgleichen wohl als “fettes Teil” bezeichnet würde) und tanzt verzückt zu den Electronic Beats. Sie wiederum toppt ein tangabekleideter, bis auf ein hellblaues Mephistobärtchen haarloser junger Mann, der auf einem drei Meter hohen Riff bizarre Bewegungen ausführt, besser ausgeführt hat, denn - als wir ihn passieren - stürzt er von seiner Bühne, reißt sich die linke Brusthälfte an einer vorstehenden Felskante auf und bohrt sich in das Flußbett. Der Héric nimmt eine leichte Rottönung an, die ihm nicht schlecht zu Gesicht steht. Die Mithopper des „Verunfallten“ (wie es in der Schweiz heißt) nehmen den Vorgang nicht zur 201 Kenntnis; sie sind zu sehr damit beschäftigt, ihre Gliedmaße in Einklang mit den Beats zu bringen und dabei nicht aus dem Gleichgewicht zu geraten. Außerdem sind wegen des Lärms die Schreie des Verletzten nicht zu vernehmen. Ich sage: “Bloß weg von hier, habe keine Lust wegen unterlassener Hilfeleistung belangt zu werden.” Die Kinder sagen: “Aber Papa, der Mann verblutet ja.” Ich sage: “Derwische, und Schweizer Derwische zumal, verbluten nicht.” Die Kinder fragen: “Was ist ein Derwisch?” Und: “Was ist der Unterschied zwischen einem Schweizer und einem deutschen Derwisch?” Das Treiben an Fluß und Ufer steigert sich im weiteren Wegesverlauf, Flußbiegung über Flußschleife bis hin zum Parkplatz, von Buhne Sechs zu Ballermann Sex, wobei man einräumen muß, daß - je näher der Parkplatz rückt - der Anteil der Franzosen an den Ballermännern und Ballerfrauen kontinuierlich zunimmt, was vermu tlich darauf zurückzuführen ist, daß der Franzose das Picknicken liebt, dies aber ausschließlich in Sichtweite seines Fahrzeugs. Ich habe in der Zwischenzeit das Tempo forciert. Und das hat weniger damit zu tun, daß ich das Ende der Schlucht erreicht haben möchte, bevor die Gorges d’Héric unter den Attacken von holländischen, deutschen und Schweizer Jugendlichen zusammenbrechen, als mit der Tatsache, daß mir Mme Knotterbeck dicke Kieselsteine in den Rucksack gepackt hat, die sie zu Hause als Souvenirs im Garten deponieren mö chte. Auf dem Rückweg nach Hause erwartet uns eine böse Überraschung. Kaum haben wir hinter Lamalou les Bains (wo dereinst namhafte französische Literaten, vor allem von der knabenschänderischen Fraktion, ihre Sommerfrische verbrachten) eine Tankstelle passiert, als uns ein Blick auf die Tankuhr offenbart, daß wir bereits auf Reserve fahren. Macht nichts, sage ich, gleich vor Bédarieux 202 kommt die nächste Gelegenheit zum Nachfüllen. Überall Schilder, die auf Tanken “7 sur 7” und “24 sur 24”, also rund um die Uhr und dieses das ganze Jahr über, hinweisen. Auf den Tanksäulen der Station, die wir jetzt vor dem örtlichen „HyperU“ ansteuern, steht “HyperU”, und sie sind von “HyperU” und es ist wahrscheinlich auch “HyperU” drin , äh ich meine “SuperU”, nee, jetzt hab’ ich’s: “Super”, nämlich das, was wir dringend benötigen. Die Tanksäule spricht mich beim Nähertreten an und verlangt meine Kreditkarte. Ich händige sie ihr trotz gewisser Bedenken aus. Die Tanksäule schluckt (und ich meine auch ein leises Rülpsen vernommen zu haben), spuckt die Kreditkarte wieder aus und verweist mich auf ein heftig flackerndes Display, das mich belehrt, daß diese Kreditkarte nicht gültig sei und ich den Vorgang mit einer gültigen wiederholen möge. Ich händige der Tanksäule meine EC-Karte aus. Sie benimmt sich ähnlich rüpel- oder wollte ich sagen: rülpserhaft wie beim ersten Versuch. Nichts zu machen, der Automat zeigt sich störrisch. Wir fahren weiter zur Station von „Intermarché“. Gleiche Verheißung (7/7, 24/24), gleiche Ablehnung. Ein alter Bauer, der an seinen schrottreifen 2 CV lehnt und mit einer funkelnagelneuen „Carte bleue“ wedelt, fragt mich überflüssigerweise: “Sind Sie Deutscher?” Ich, schon etwas angesäuert: “Ja, aus der DDR.” Der Bauer, kaum überrascht: “Dann funktioniert das nicht. Kommen Sie mo rgen wieder, wenn der Tankwart da ist, aber nicht vor neun.” Mit dem vorletzten Tropfen Benzin fahren wir zu unserem „HyperU“ in Clermont. Vielleicht klappt es ja dort, der ist stärker frequentiert als der in Bédarieux. Außerdem liegt er direkt an der einspurigen A9, und da kommt doch - sage ich mir mit einem Rest an Illusion der eine oder andere treibstoffsuchende Engländer oder Holländer vorbei. Um es kurz zu machen: Es klappt auch dort nicht. Ich versuche es wieder und wieder, Kreditkarte rein, EC-Karte raus, es bildet sich eine Autoschlange, hinter mir hupen die Tankwilligen immer 203 gehässiger, durch meinen Kopf schießen Bilder von einem vermummten Cater Jarim, der inmitten von ebenfalls vermummten Winzern das „HyperU“ sachbeschädigt. In der Realität habe ich die schweren Meindl an. Weiter kann ich leider in der Schilderung der nun folgenden Ereignisse nicht gehen, weil mir Wochen drauf von unserem Dorfgendarm Fotos vorgelegt werden, auf denen ich und das Nummernschild unseres Autos - beide unvermummt natürlich zu sehen sind, was den Schluß nahelegt, daß wenigstens die Überwachungskamera an der Tankstelle funktioniert hat. Hagen macht mir wegen meines vorausgegangenen Verhaltens bittere Vorwürfe, und sagt, sie habe sich ob meines Ausflipps so geschämt, vor all den Sonntagsausflüglern an der Tankstelle - sie als Deutsche (ob BRD oder DDR oder gesamt sei vollkommen egal) vor all den Franzosen. Und außerdem, das entwürdigende Bild, das ich... Wir haben doch noch unser Benzin gekriegt, es gibt eine letzte nicht den Supermärkten gehörende freie Tankstelle an der Straße nach Villeneuvette. Ich bin mir aber sicher, daß es die nicht mehr lange gibt. Nicht wegen der „HyperUs“, „Intermarchés“ und „Carrefours“. Sondern wegen der unprofessionellen Haltung des Besitzers: Der ist nämlich rappeldabbelzu, kann nicht mehr bis drei Euro zählen, tagt im Kassenraum mit einer Horde Männlein und Weiblein, die es zusammen auf bestimmt 98 Oktan bringen. Aber vielleicht sind es ja doch die „HyperUs“, „Intermarchés“ und „Carrefours“, die an der hier herrschenden Verkommenheit schuld sind. Ich habe eine ähnliche Zusammenkunft vor einigen Jahren in der besten Buchhandlung, die es je in Frankfurt gab, der „Huss’schen Buchhandlung“, erlebt. Damals lag, als ich den Laden betrat, ein schwerer Alkoholdunst über den Büchern; die kreditgebende Bank hatte den Geldhahn zugedreht, es reichte gerade noch für einige Flaschen 204 Grappa und Cognac. Die wirklich Verantwortlichen für diesen traurigen Abgang waren indessen weder die Banken noch die Spritfabrikanten, sondern ...(ich bitte den Leser um Nachsehen dafür, daß ich den Satz nicht zu Ende führe, um den Absatz des vorliegenden Werkes nicht vorsätzlich zu gefährden). Wir fahren nach Hause, ich bereite lustlos einige „rougets“ (Rotbarben) auf dem Grill zu, die Kinder bekommen irgendwelche hochnitrathaltigen Würstchen (woher wohl? stimmt genau, aus dem „HyperU“!), übergeben sich kurz und bringen das Thema McDo in Art ihrer Kinderdialektik auf den Tisch: “Alsoooo, das Essen beim McDo (sie vermeiden auffällig den Begriff McDoof) ist nicht gut, das wissen wir ja. Aaaaber, das Essen aus dem Supermarkt ist ungenießbar. Bevor wir also verhungern, gehen wir dann doch lieber zu McDo.” Ich sage nichts, und Hagen schweigt. Die Stimmu ng ist am Nullpunkt. Haben wir die Flemm‘? Ich bin so fix und alle, daß ich die Beantwortung dieser Frage und für Nichtsaarländer die Erläuterung der Flemm‘ auf einen gegebenen Anlaß verschieben muß. Montag, 10. Juli Um aus unserem Stimmungstief herauszukommen, haben wir uns für heute Erregung und Heiterkeit verordnet. Beides winkt uns, wenn wir - wie wir das schon lange vorhaben - einen Stierkampf besuchen. Das ist montags ein gewisses Risiko, nicht der Stierkampf als solcher - es geht um einen südfranzösischen Stierkampf, keineswegs um den blutigen iberischen; außerdem kämpfen wir nicht, sondern sind nur unbeteiligte, doch hoffentlich bewegte Zuschauer. Nein, das Risiko besteht darin, keinen zu finden. Der wie immer unzuverlässige “Midi libre” hat nämlich seine Stierkampf-Sonderseite mit den Terminen, die gewöhnlich donnerstags, spätestens freitags 205 erscheint, einfach ausfallen lassen - die Ergebnis listen des französischen Abiturs, die traditionell in den regionalen Tageszeitungen präsentiert werden, haben den ganzen Platz verschlungen. Wir fahren also auf gut Glück in die Stierkampfregion. Diese wird von einem Dreieck mit den Eckpunkten Avignon im Norden, Lunel bei Montpellier im Westen und Salon-de-Provence im Osten gebildet. Es gibt noch verschiedene andere kleinere Regionen außerhalb des Languedoc und der Provence. Die Kämpfe dort folgen jedoch in der Regel völlig anderen Traditionen. In der Gascogne beispielsweise die „Courses Landaises“, die keine besonderen Regeln haben. Dort gilt es lediglich, den Stieren, nein den Kühen, deren Hörner überdies kupiert sind, mit besonders anmutigen Ge sten auszuweichen. Die richtigen, aber ebenfalls unblutigen „Courses Carmaguaises“ dagegen, auch „Courses de taureaux à la Provençale“ genannt, folgen einem ausgefeilten Regelwerk und bewirken dadurch bei Experten wie Laien zusätzliche Emotionsschübe: Zwar sind Foulelfmeter bei den Courses unbekannt, doch gibt es - im übertragenen Sinne - jede Menge an Fehlentscheidungen durch überforderte Schiedsrichter und demzufolge auch fehlentscheidungsbedingte Ausschreitungen des Publikums . Wenn wir Glück haben, dann erleben wir heute einen Kampf mit echten, das heißt ausgewachsenen Kampfstieren. Diese sind zwar nur etwa halb so groß beziehungsweise schwer wie ihre todgeweihten Kollegen der Corrida, aber nicht minder rauflustig, ja vielleicht wegen ihrer größeren Wendigkeit noch biestiger als die spanischen Schlachtstiere. Wenn wir allerdings Pech haben, dann müssen wir mit den sogenannten „Courses de vache“ vorliebnehmen. Dabei handelt es sich um Kämpfe mit den Nachwuchskräften, mit kaum dem Kalbsalter entwachsenen, noch nicht so richtig geschlechtsreifen Jungtieren. Wegen ihrer Tolpatschigkeit erfreuen sie zwar das 206 Herz der Kinder, Erwachsene jedoch lieben es prickelnder, wenn zu erwarten steht, daß der Kämpfer auch mal das Horn des "biou", des Kampfstieres, im Hintern verspürt. Stierkämpfe finden traditionellerweise anläßlich einer Kirchweih oder eines Dorffestes statt, und so bin ich mir sicher, daß wir, wenn wir lange genug in der Carmargue und der Umgebung kreuzen, heute noch auf unsere Kosten kommen. Aber es ist gar nicht so einfach, den richtigen Kampf mit allem Drum und Dran (dem geeignetetem dörflichen Ambiente, den korrekten Erregungswerten des Publikums und der entsprechenden Kampfbereitschaft der menschlichen und tierischen Akteure) zu finden. Wir haben beispielsweise keine Lust auf die Veranstaltung in Palavas, die über die ganze Woche gestreckt ist. Dort ist alles auf Tourismus abgestellt, und es steht zu befürchten, daß das beim Kampf so wichtige Regelwerk in fahrlässiger Weise modifiziert wird, um den Touristen, die sich dort an der Küste ballen, ein Mehr an spektakulären Einlagen zu bieten. Ich stelle mir Stiere, geschmückt wie die Pferde der Hofreitschule vor, und Zirkusclowns, die sich von ihnen ein bißchen durchs Stadion hetzen lassen, dazu Kämpfer in Ritterrüstungen mit kleinen Turniereinlagen und zum Abschluß noch eine Lichtshow mit einer Parade farbenblinder Milchkühe. Fast jedes Dorf im Dreieck verfügt über eine Arena, viel kleiner zwar als die großen Kampfstätten in Nîmes, Béziers und Arles, wo regelmäßig die Kämpfe "mise à la mort" (also mit kalkulierter Todesfolge, nicht unbedingt des Kämpfers, sondern des Stieres) stattfinden. Manche bieten kaum 150 Personen Platz, aber Arena muß sein, und wenn keine vorhanden ist, was die Reputation des Ortes empfindlich schmälert, dann wird für die entsprechenden Festtage eine mobile Arena errichtet, die der Gemeinderat mieten kann, so wie bei 207 uns ein Original-Bayeris ches-Bierzelt von einem professionellen Zeltvertrieb zu haben ist. Aber heute herrscht selbst in der Hochburg des Stierkampfes, in Vauvert, ebenso wie in den umliegenden Dörfern tote Hose. Wir kommen durch Le Cailar, knapp vier Kilometer von Vauvert entfernt. In der Nähe des Dorfes - zur Plaine de la Carmargue hin gelegen befinden sich die großen Zuchtbetriebe, die ganz Südfrankreich mit Fleisch und Kämpfernaturen versorgen, darunter der berühmteste aller, die Farm des Marquis de Baroncelli. In Le Cailar gibt es ab drei Promille, die zumeist durch Pastis generiert werden, nur zwei Themen: die Wildenten, die in den Drainagen der Umg ebung leben, und die Stiere. Dem allerberühmtesten, der sinnigerweise “Le Sanglier” („die Wildsau”) hieß, hat die stierfromme Bevölkerung ein Grabmal vor den Toren des Ortes errichtet. Die Aufschrift ("Aficionados! Hier ruht Le Sanglier von der Manade (Zuchtbetrieb) F. Granon Combet 1916 - 1933") verrät, daß gute Stiere ein biblisches Alter erreichen. Bildnisse von der Wildsau in Art des röhrenden Hirsches hängen in jeder guten Wohnstube; ich habe das selbst gesehen vor vielen Jahren, als ich zusammen mit Frankfurter Hegelforschern, deren Oberhegelforscher hier in Le Cailar ein Haus besitzt, einen Urlaub verbracht habe. Zu erwähnen ist vielleicht noch ein kleines Detail, das den legendären Ruf von „Le Sanglier“ begründet: Er war - wie seine Fans sagen - ein wahrer "taù" und kein bloßer "biou", was heißen will, er war im Gegensatz zu den heutigen Kampf"stieren" unkastriert, also ein richtiger Stier. Und dennoch: Mit Zuchtbullen wie "Orkan vom Wotanstein" aus dem hessischen Züntersbach nahe Bad Brückenau haben die "Sangliers", die "Pythagores" und "Poseidons" und wie sie alle heißen, nichts zu schaffen. Während "Orkan von Wotanstein" gerade noch den Samenbock zu besteigen in der Lage ist, handelt es sich bei seinen südfranzösischen Kollegen um wahre Zehnkämpfer. 208 Heute Montag ist aber auch in Le Cailar tote Hose. Die Nachfahren der Wildsau zeigen sich nicht. Wir fahren weiter - an Arles vorbei - in Richtung Avignon. Die Zeit drängt, wir müssen vor vier zum Zuge kommen, sonst haben wir die Gelegenheit für heute und diesen Urlaub verpaßt. In Tarascon halte ich Ausschau nach Plakatanschlägen, die uns weiterhelfen könnten, ich suche die „Information touristique“ auf, ich frage Passanten. Sie wissen alle von irgendwelchen Terminen gestern, vorgestern, am nächsten Wochenende, nur heute scheint der Stierkampf allüberall ausgesetzt zu sein. Auch in Beaucaire am gegenüberliegenden Rhôneufer, wo gelegentlich auch blutige Kämpfe stattfinden, nichts. Hier gibt es nebenbei bemerkt ebenfalls ein Stierdenkmal - für den berühmten "Goya", der Ende der 60er, Anfang der 70er Jahre sein Unwesen trieb. Um zwei Uhr nachmittags machen wir uns keine Illusionen mehr; ich will schon nach Avignon fahren, um dort die inzwischen maulenden Kinder und die knottrige Knotterbeck bei einem Stadtbummel abzulenken, als mir in Rognonas - einem häßlichen Straßendorf nur knapp vier Kilometer vom Zentrum Avignons entfernt - ein gerade mal DIN-A-3-großes Plakat ins Auge fällt. Ich muß aus dem Auto steigen, um die Mikroschrift überhaupt lesen zu können. Es ist Kirchweih in Rognonas, und der örtliche “Club Taurin L'Abrivado” veranstaltet aus diesem Anlaß einen Kampf, und zwar heute, um vier. Mir fällt ein Stein vom Herzen, die kleinen Jarims haben etwas zu Erleben, Hagen etwas zu Erinnern und ich habe etwas zu Lachen (auch deshalb, weil mein etwas lädiertes Prestige wiederhergestellt ist). Die Stierkampfarena, bei der wir uns eine dreiviertel Stunde vor Beginn einfinden, ist gar nicht mal so übel. Schön aus Stein gemauert; die Platanen, die überlicherweise die Ränge vor der Sonnenhitze 209 schützen, sind hier riesengroß und verschatten sogar die Arena, ein Umstand, der den kämpferischen Einsatz der "raseteurs" oder die in manchen Gegenden so genannten „razeteurs“ begünstigt. Nach und nach füllen sich die Ränge, keine Touristen außer uns, auch das ist gut, man möchte sich halt nicht unter seinesgleichen aufhalten, sondern so einen Kampf zusammen mit richtigen Afficinados erleben. Angekündigt sind die üblichen sechs Durchgänge, jeder dauert etwa eine Viertelstunde, zwischen dem dritten und dem vierten ist eine Pause vorgesehen. Das deutet darauf hin, daß der Club Taurin gute Stiere verpflichtet hat; bei lahmen plant man keine Rekreationsphase für die Raseteure ein. Auf dem Platz sind neun aktive Kämpfer sowie vier "tourneurs", Hilfswillige in etwas gesetzterem Alter, zumeist frühere Raseteure, die nur die Aufgabe haben, den Stier zur Weißglut zu reizen oder in Gefahrenmomenten abzulenken ohne Waffen oder sonstige Hilfsmittel; zugelassen sind nur Stimmvermögen und Körpereinsatz. Auf geht’s mit „Caribou“. Er macht einen guten Eindruck, braucht kaum animiert zu werden und setzt nach der Aufwärmphase, das heißt noch geblendet vom hellen Licht, gleich zum Angriff über. Er trägt, ebenso wie seine nachfolgenden Stierkollegen, an einer zwischen den Hörnern befestigten Wäscheleine einen kleinen Wollknäuel, die "coupe de la cocarde" genannt, dann die "cocarde" selbst, außerdem noch die "glands", die mythologisch aufgeladenen Eicheln (in Wirklichkeit kleine Wollbombel), die jeweils mit der "élastique", eine Art Gummiband befestigt sind, und schließlich noch die "ficelle", die eng um die naturbelassenen Hörner gewickelt ist. Es kommt für den Kämpfer - kurz gesagt - darauf an, die Ve rzierungen abzureißen. Dazu bedient er sich des "crochet", einer Rasierklinge, die in eine Art Schlagring eingearbeitet ist. Es gibt keine 210 Hieb- und Stichwaffen; der Stier kommt also im gegebenen Fall weniger zu Schaden als ich bei meiner morgendlichen Rasur. Gefährlicher ist es für den Raseteur. Er muß an seinen Gegner, den "cocardier" (so heißt der sich im Kampf befindliche Stier) herankommen, und da er ihn nicht reiten, ihn auch nicht frontal angehen kann (der Stier pflegt nicht stillzuhalten), ist er gezwungen, aus dem toten Winkel heraus vor- und am Cocardier vorbeizubreschen, ihn kurz mit seinem Hintern abzulenken und dabei zuzufassen. Diese Attacke wird "rencontre", Begegnung, genannt. Gelingt die Begegnung, dann spricht man von "raset", der Rasur. Die Kokarde ist auf diese Weise noch relativ leicht zu entfernen, schwieriger wird es bei der Eichel und noch schwieriger bei den "ficelles". Es versteht sich von selbst, daß mit dem Schwierigkeitsgrad auch das Risiko wächst, das Horn ins Gesäß zu bekommen. In Coursan, zwischen Béziers und Narbonne, wurde gerade vorgestern ein 17jähriger Raseteur aufgespießt, und zwar unehrenhalber von einer "vachette", einem Nachwuchsstierlein; vielleicht war sein Missgeschick darauf zurückzuführen, daß es im weit abgelegenen Coursan keine oder nur wenige Profis gibt, andererseits stammte der Unglücksrabe aus Vendargues, einem östlichen Vorort von Montpellier, der also durchaus schon der engeren Stierkampfregion zuzurechnen ist. Wie dem auch sei: Es hat aber auch schon Tote gegeben, und schwere Verletzungen sind nicht selten. Um angesichts dessen den Mannesmut zu entfachen, werden Geldpreise ausgelobt. Örtliche Honoratioren stellen kleine Sümmchen zur Verfügung und diese werden dann mitsamt dem Namen des Sponsors von dem Sprecher des Festkomitees verkündet. Die Kurse steigen je nach Schwierigkeitsgrad bei der "cocarde" sowie nach dem Ranking der Stiere. Weil der Sponsor möglichst oft genannt werden will, portioniert er seinen Preis, und das hat zur Folge, daß 211 sich wie bei einer amerikanischen Versteigerung die per Lautsprecher genannte Namen und Geldsummen sich jagen: Der Garagiste Hinz fünf Öró, zehn Öró der Apotheker Kunz, 15 Öró der Hotelier Castor und nochmal fünf Öró der Serrurier (Schlosser) Pollux und so weiter, bis es dem Stier an die Wäsche, an die "élastiques" und die „ficelles“ geht, die dann pro Wetteinsatz schon 20 oder 30 Euro wert sind, so daß am Schluß leicht 500 oder auch 1000 Euro zur Entscheidung stehen. Damit nicht das Mißverständnis aufkommt, daß auch diese so symbolträchtige Prozedur - immerhin handelt es sich ja auch um die Entfernung von Eicheln und die Beschneidung des Stierschmucks - durch und durch kommerzialisiert und monetarisiert ist, gibt es ein zusätzliches Regelwerk von hoher Bedeutung und gänzlich ohne geldliche Ausstattung, sozusagen rein ehrenhalber. Und das ist die "Carmen", ein kurzer, nur sekundenwährender Auszug aus dem Torero-Marsch von Bizets gleichnamiger Oper. Der DJ, äh ich meine der Komiteesprecher spielt ihn vom Band ab und dies mit etwa 140 Phon, in etwa der Lautstärke eines startenden Düsenjets; erschwerend kommt hinzu, daß es sich dabei nicht etwa um einen Dolby-Surround-Sound-gestützte Darbietung handelt, vielmehr um einen, bis zu 300 Megawatt übersteuerte Aufzeichnung einer Bizet-Aufnahme von 1938, die sich im ungünstigen Fall stakkatohaft mehrmals wiederholen kann. Die "Carmen" erhält beispielsweise der Stier, wenn er den Kämpfer bis an die Barriere erfolgt ("coup de barrière"), manchmal aber auch der Raseteur nach einem verwegenen Einsatz, nach einer besonders eleganten (und natürlich riskanten Volte). Aber noch nie habe ich von einem Fall gehört, daß der Stier 75 Euro gewonnen hätte. Üblich sind zwei bis sieben "Carmen" pro 15-Minuten-Durchgang; manche Clubs gehen so verschwenderisch mit der "Carmen" um, daß das Publikum aufbegehrt und das Komitee ausbuht, in einzelnen Fällen sogar mit Pastisgläsern attackiert. 212 „Caribou“ hat immerhin die "ficelle" behalten. Das ist dem Festkomitee eine "Carmen" wert. "Carmen" sind immer Anlaß für hitzige Debatten. Es entsteht sofort nach der Fanfare heftige Unruhe, namentlich im männlichen Publikum. Hier haben mehr noch als im Fußballstadion die Exp erten (Expertinnen gibt es weder semantisch noch physikalisch und beim Stierkampf schon gar nicht) das Sagen. Und die sind mit der gerade gebotenen "Carmen" ganz und gar nicht einverstanden. Soweit ich das den erregten, in tiefstem Provenzalisch geführten Debatten entnehmen kann, beklagt man eine gewisse Lahmarschigkeit des Stieres. Er habe, ist die überwiegende Meinung des Publikums, nicht genügend Einsatz gezeigt, und es reiche durchaus nicht, daß er im allerletzten Moment, bevor es ihm ans Horn geht, den Kopf senkt und entweder der Rasur ausweicht oder den Raseteur mit einer eher beiläufigen Bewegung zu verletzten sucht. Ein Stier muß rennen, schnauben vor Wut und unentwegt versuchen, die Raseteure aufzuspießen oder zu zerstampfen. Der vor mir sitzt, schmeißt ob der Fehlentscheidung des Komitees erregt sein Béret in den Staub, springt wie Rumpelstilz auf seinem Sitz herum und muß bei allem Respekt vor seinem Alter (kurz vor 80, schätze ich) über die Lautsprecheranlage zur Raison gerufen werden: “Jeannot”, ermahnt ihn der Vorsitzende, “denk’an dein Herz.” Der zweite Stier, „Iollié“, ist auch nicht viel besser als „Caribou“, aber er läßt sich wenigstens sämtlichen Hornschmuck abnehmen, so daß er gedemütigt das Feld verläßt. Der Dritte im Rennen, „Javon“, scheint heute auch nicht in Form zu sein. Er weist zwar ein enormes Laufpensum vor, braucht kaum aus der Ecke gelockt zu werden, trabt aber zu oft ins Leere, fuchtelt mit seinem eindrucksvollen Geweih unmotiviert in der Luft herum und betätigt sich als Schattenkämpfer. Die Raseteure rennen ihm geradezu vor die Schädelplatte, nicht nur um die "cocarde" zu erobern, sondern auch um das Publi- 213 kum zu beruhigen: „Javon“ könnte schon nach zehn Minuten entblättert sein, doch das ist für die Raseteure nicht gut, weil dann die "primes", die Preisgelder, auf einem niederen Level verharren. Deshalb ziehen sie die Prozedur künstlich in die Länge. Doch diese Taktik wird von den Zuschauern durchschaut, und die Mißfallensrufe steigern sich zu einem kleinen Orkan, der die Platanenblätter erzittern läßt und bis zur Pause anhält. In der vierten Runde wird es spannender. Es läuft ein: „Colombeau“, eine wahre Bestie. Schade nur, daß ihre Zornesausbrüche etwas unkontrolliert vonstatten gehen und sich nicht unbedingt gegen die Gegner richten. „Colombeau“ hat es nämlich auf die "barrières", die Banden, abgesehen. Diese bestehen aus großen, starken Verschalungsbrettern; sie schirmen den Laufgraben zwischen Kampfplatz und Zuschauertribünen ab. Wenn sich die Raseteure in Sicherheit bringen müssen, überspringen sie die Banden und landen im Laufgraben, während der Stier dagegen anrennt. „Colombeau“, der besonders oft und heftig mit den Verschalungsbrettern kollidiert, sitzt nun dem Mißverständnis auf, daß diese seine eigentlichen Gegner darstellen, und beginnt sie auseinander zu nehmen. Das kommt vor allem beim jüngeren Publikum, auch bei Kiki und Consuelo gut an, löst aber bei den Experten lautstark geäußerte Vorbehalte aus. „Colombeau“ muß, nachdem er drei Bretter zu Splitterholz verarbeitet hat, aus dem Rennen genommen werden, er hat sich da offensichtlich in etwas verrannt und ist nicht mehr auf die normale Kampfebene herunterzubringen. „Maguelon“, die Nummer fünf, hat es ebenfalls mit den Banden, nur daß er sie - im Unterschied zu seinem Vorgänger - nicht frontal angeht, sondern souverän überspringt. Wie ein Turnierpferd setzt er über und tobt im Laufgraben rum. Von Nachteil für die Veranstalter ist, daß sich am Ende des 214 Laufgrabens (wie so oft in Stierkampfarenen der Provence) eine Art Bar befindet, wo sich die Herren mit Pastis versorgen und von dort den Damen und Kindern eine Orangeade oder eine Cola mitbringen. „Maguelon“ springt hinter den Tresen (die Barkeeper haben sich natürlich zuvor schon in Sicherheit gebracht), haut die Pernodflaschen zu Klump und labt sich am austretenden Destillat. Er muß nach einigen Minuten des Wütens und des Saufens volltrunken abgeführt und in die Ausnüchterungszelle gebracht werden. Das Publikum ist wieder gespalten, die Damen und die Kinder haben den Vorfall mit schallendem Gelächter quittiert, die Experten rücken dagegen mit finsteren Mienen gegen die Tribüne vor, das Komitee bringt sich in Sicherheit. Nachdem wieder Ruhe eingekehrt ist, darf „Lou Beffi“ ran. Er macht seine Sache gut, heimst einige "Carmen" ein, die auch noch von Experten (die im Gegensatz zu den Laien nie, aber auch nie klatschen) positiv sanktioniert werden - jedenfalls ist dies ihren Gesichtszügen abzulesen. „Lou Beffi“, setzt zwar auch über die Banden, kehrt aber sogleich in die Arena zurück und nimmt den Kampf wieder auf. Manche Stiere haben beim Überspringen der Banden ein solches Tempo drauf, daß sie sich sogleich in die Zuschauerränge hochkatapultieren. Dann entsteht Panik, und die Guardians (das sind die Cowboys der Camargue, die ihre Tiere in die Arena begleitet haben) und die "tourneurs" haben alle Hände voll zu tun, den Stier, der sich mittlerweile in den Sitzreihen verkeilt hat, wieder auf den Boden der Tatsachen zurückzuholen. Der legendäre "Goya" soll es sogar mal bis zu den allerobersten Rängen geschafft haben und mußte - wie es heißt - mit dem Lasso eingefangen werden, weil er sich über die obere Mauerbrüstung hinweg in die Tiefe zu stürzen drohte. Ich weiß nicht, ob das stimmt, es gibt so viele meinesgleichen, die das Blaue vom Himmel lügen. Jedenfalls heißt es, daß 215 ältere Damen Tribünenbesteigungen durch Stiere goutieren und mit geradezu alterssexuell stimuliertem wollüstigen Gelächter bedenken. „Lou Beffi“ war erwartungsgemäß der Beste in der Runde, und wäre nicht noch ein kleiner Zwischenfall, könnte man von einem rundrum guten Abschluß sprechen. Ein Mann mittleren Alters ist auch gesprungen, nicht aber in den Laufgraben, sondern auf die Tribüne, hat sich inzwischen zum Komitee vorgekämpft und geht dem Vorsitzenden an die Gurgel. Weil das Mikro eingeschaltet ist, können alle Anteil an dem - zugegeben etwas blechern wirkenden Todesröcheln nehmen. Doch just bevor der Vorsitzende seinen Löffel abgibt, wird der Angreifer von einigen starken Stallburschen sowie von zwei Raseteuren überwältigt und zu den Stierboxen geschleppt. Was dort geschieht, entzieht sich unserer Kenntnis, aber die Schreie, die wir vernehmen, verheißen nichts Gutes, zumal sich Lautäußerungen der Stiere darunter mischen, die wie Brunftschreie ausgewachsener Elche klingen. Das Chaos ist perfekt, der Vorsitzende k.o., die Raseteure verwirrt, das Publikum außer sich; die Veranstaltung muß abgebrochen werden. Tags drauf wird im „Midi libre“ zu lesen sein, daß es sich bei dem Mann um einen landesbekannten Stierkampfgegner handelt, der in seinem Fanatismus die Aktionen von den großen blutigen Corridas schon seit einiger Zeit auf die Courses verlegt hat. Wir machen uns schnell zurück zum Auto, bevor es zu weiteren Ausschreitungen kommt. Ich habe schon in manchen Dörfern erlebt, daß die Einwohner zur Stunde der "bandido" (dem Abtrieb der Stiere) vom vielen Ricard oder dem "51" breit wie die Nattern waren und sich vor die Autos von vermeintlichen Parisern (hier gelten alle Auswärtigen als Pariser) gelegt haben, um ihre Insassen als Saufgeiseln zu nehmen. Wie dann erst hier, frage ich mich, wo die ganze Veranstaltung aus dem Ruder gelaufen ist? 216 Auf dem Weg nach Hause treffe ich mit den Kindern die Vereinbarung, daß sie auf Nachfrage den heutigen Stierkampf als “mein allerschönstes Ferienerlebnis” auszugeben haben. Sie murren noch etwas, weil sie davon ausgehen, daß in dieser Woche noch einiges passieren wird, das den Stierkampf übertreffen würde, und sie sind sich nicht sicher, ob nicht die Rettungsaktion auf dem Salagou doch noch etwas schöner war. Ich sage: “Schluß der Debatte. Jetzt sind wir soweit - bis fast nach Avignon - gefahren, und die Eintrittskarten haben 20 Euro gekostet. Dies bleibt das allerschönste Ferienerlebnis.” Hagen Knotterbeck sagt: “Du sollst deine Kinder nicht immer bevormunden. Laß' sie doch mal alleine entscheiden, was ihr schönstes Ferienerlebnis ist.” Ich sage: "Man sollte sowas nicht dem Zufall überlassen. Die Kinder müssen in entschieden richtiger Weise auskunftsfähig sein." Hagen: "???!!!" Hagens und mein schönstes Urlaubserlebnis vor 15 Jahren war die Entdeckung des „Hotel Laetitia“ in Fontvieille, das gerade vor uns auftaucht. Damals führten "mémé" Jeanette und der Patron, Monsieur Jean, das Haus. Nie wieder haben wir so gut gegessen wie in jenen Septemberabenden, die wir vorzugsweise auf der kleinen Terrasse des Hotels verbrachten und an denen wir uns von den beiden verwöhnen ließen. Leider mußten Jean und Jeanette das Hotel kurze Zeit danach aufgeben, Jeans Frau war ernstlich erkrankt, und Jean konnte nicht die Mittel aufbringen, um die dringend notwendigen Investitionen vorzunehmen. Vielleicht hatte er einfach zu gut gekocht und Aufwand und Ertrag nie in ein gesundes wirtschaftliches Verhältnis zueinander gebracht. Heute wird das „Laetitia“ von zwei liebenswerten älteren Schwestern aus der Schweiz geführt, die aber leider das gastronomische Angebot auf ein Frühstücks- und ein kleines Abendbuffet reduziert haben. 217 Deshalb müssen wir mit einem nahegelegenen Restaurant vorliebnehmen. Ich esse frische “Tripes provençales”, Hagen genehmigt sich ein „Gigot d’agneau“, ein Stück Lammhaxe mit dem üblichen Gemüseambiente, die Kinder kriegen Omelette und Pommes. Die Preise sind auf provenzalischem Niveau, das heißt rund 20 Prozent höher als im Languedoc, oder anders gesagt: stehen pari zu den Preisen im Elsaß. Dafür darf man natürlich erhöhte Aufmerksamkeit abverlangen. Sie besteht in meinem Falle in der besorgten Nachfrage des Küchenchefs, ob ich denn wüßte, was ich da bestellt habe. Ich weiß: es sind Kutteln, auf ähnliche Art zubereitetet wie die berühmten „Tripas da Fiorente“. Er habe ja auch nur gefragt, sagt er, weil gestern etwas Unangenehmes passiert sei. Eine deutsche Touristin habe das Gericht bestellt, sich leichtfertigerweise aber erst während des Essens nach der Bedeutung von „tripes“ erkundigt und dann, mit der Wahrheit konfrontiert, etwas Unaussprechliches getan. Immerhin weiß ich jetzt, daß es die Kutteln schon gestern gab und meine Exemplare nur aufgewärmt sind...aber nein, nicht doch, nicht, was Sie jetzt denken... Fontvieille selbst hat sich in Folge eines aufwendigen Verhübschungsprozesses zu seinem Nachteil verändert. Vom einstigen etwas schmuddeligen Straßendorf mit seinen leicht angegammelten Straßenbars ist nichts mehr zu sehen. Die Ortseingänge sind mit Blumenrabatten, mittelmeerischen Ziergewächsen, Zedern und Zargen verschönt – eine durchgrünte, mikroklimatisch optimierte, traditions- und ökologiekompatible Agenda-21-Gemeinde. Die einst verwitterten Fassaden der Häuser tragen jetzt leuchtende provenzalische Farben, wie man sie von den hier überall angebotenen Wachstuchtischdecken kennt, sind verziert mit provenzalischem Schmiedeeisen; antikisierte Schilder künden von neuen gastronomischen („Pizzas à emporter“) und immobiliären Dienstleistungen („Location demeures de charme“); in den Bäckereien und Metzge- 218 reien befinden sich jetzt Antquitätengeschäfte und provenzalische Gemischtwarenläden (Lavendel, Suppenschüsseln, Olivenöl, Wein und literarische Regionalia, darunter viele Ratgeber von verrenteten britischen Autorinnen, des Inhalts, wie der typisch provenzalische Kräutergarten zu pflegen sei). Fontvieille wirkt wie Fontvieille-lesBains. Das hat seine Ursachen zum einen in den sich von den Südhängen der Alpilles ergießenden Hotelanlagen der Luxusklasse, zum anderen in der Tatsache, daß der TGV die Reisezeit von Paris zum nahegelegenen Marseille auf drei Stunden verkürzt hat. Außerdem ist der Lubéron – seit Albert Camus‘ Lebzeiten die bevorzugte Zweitwohngegend der kunstsinnigen Pariser Schickeria – so überfüllt, daß allmählich das Vallée des Baux bis hinunter zum Grau, der Rhône-Tiefebene, dem Siedlungsdruck zum Opfer fällt. Die Immobilienpreise explodieren, die Gastronomie wird korrupt, die Region verkitscht. Schade drum. Wo sind Jean und „mémé“ Jeannette abgeblieben? Die beiden Schweizer Schwestern wissen es nicht. Keiner von denen, die wir an diesem Abend fragen können, weiß es. Alle sind erst vor kurzem hier zugezogen oder arbeiten nicht länger als zwei Jahre in Fontvieille. Dienstag, 11. Juli Gestern war Consuelo Vladimirs Geburtstag. Nachdem die Solidarität der Jarims mit den schafzüchtenden Globalisierungsgegnern etwas verblaßt war, hatten wir dem Geburtstagskind einen Besuch bei McDo, der zur Feier des Tages ausnahmsweise kein McDoof ist, versprochen. Da wir gestern keine Gelegenheit dazu hatten, kehren wir heute im McDo an der Weichlinie Montpelliers ein. Dort die übliche Mischpoke: Urlauber aus den Niederlanden, die bis über die Ohren mit Ketchup verschmiert sind, Briten, die feingliedrig die Brötchenpampe halten, Deutsche, die der „cold turkey“ des Wop- 219 per-Entzugs auf dem Weg nach Spanien erwischt hat, Kinder aus circa acht Nationen und 40 Départements, zehn französische Hausfrauen aus den Vororten, die sich hier der Verwahrlosung hingeben. Consuelo ist glücklich: Erstens ist sie gerade zwölf geworden, und zweitens befindet sie sich seit langem wieder mal in einer vertrauten Umgebung; das ist für sie wie Knödel nach zwanzig Tagen Rimini (ich meine natürlich das Rimini in der Frühphase des Wirtschaftswunders für unsere Eltern). Wieder zu Hause ist der Himmel bedeckt, das Wetter drückend. Aufs Neue kommen Windböen auf, die jedoch keine Abkühlung bringen. Die Hunde sind gereizt, ihr Gebell füllt das Lärmvakuum, das die heute beharrlich schweigenden Zikaden hinterlassen haben. Die Hausfliegen nerven, selbst die Stechmücken sind entgegen sonstiger Gewohnheit tagesaktiv. Hagen Knotterbeck ist endlich nach Béziers gefahren. Die Kinder haben sich in den Garten verzogen, um nach etwaigen Untieren Ausschau zu halten. Ich bin in Badious Kommentar der Episteln des Hl. Paulus vertieft. Die Frage stellt sich mir heute, wieso für Badiou (in seinem Kommentar von Römer 6,4 f) die Wiederauferweckung von den Toten eine „Bedingung der Immanenz“ ist. Immerhin heißt es dort: „So sind wir ja mit ihm begraben durch die Taufe in den Tod, damit, wie Christus auferweckt ist von den Toten durch die Herrlichkeit des Vaters, auch wir in einem neuen Leben wandeln. Denn wenn wir mit ihm verbunden und ihm gleichgeworden sind in seinem Tod, so werden wir ihm auch in der Auferstehung gleich sein.“ Ich zucke zusammen, denn da höre ich ein Hämmern am Gartentor, und das klingt gar nicht immanent, sondern ziemlich transzendent. Die Kinder kommen angerannt, Kiki Estragon schreit: “Einbrecher”, Consuelo Vladimir meldet: “Besuch”. Ich stürze nach draußen, falle über die Kinder und krieg mich vor Schreck kaum noch ein: Zwei Motor- 220 räder stehen urplötzlich in der Auffahrt, so große Dinger wie noch nie zuvor gesehen, Chopper mit riesigen Antennen, die dem Aufzug etwas Marshaftes verleihen, einer hat einen Beiwagen. Es entfalten und entblättern sich drei Gestalten, zwei große, eine kleine dicke. Nein, nein und dreimal nein. Das ist doch nicht möglich. Das hat mir gerade noch gefehlt: Es sind die Kohlhepps. Er: Siegmund Kohldepp, äh, ich meine: Kohlhepp, 55, Rentner (er sagt: “Ronntijee”). Sie: Susanne Kohlhepp, offizielles Alter 45 (ich tippe auf 300, für Vampire ja noch ganz passabel). Das fette Marsmännchen in der maßgeschneiderten Lederkombi: Katharina Kohlhepp, 10, sie allein schon Veranlassung genug, den Urlaub sofort abzubrechen und das Weite zu suchen. Ich könnte Hagen Knotterbeck verfluchen. Offenbar hat sie in einer vorübergehend milden Gesittung (die sie manchmal auch gegenüber den größten Nervbolden dieser Welt an den Tag legt) den Kohlhepps unsere Koordinaten verraten. Nach den aufgeräumten Begrüßungsritualen (seitens der Kohlhepps) erfahre ich, daß sie von Spanien kommen, Costa Cacania oder Costa Pissatoria oder so ähnlich), wo sie zwei Wochen im Ferien-?, (wo denkste?), nein im VIP-Better-days-for-a-better-life-Club verbracht haben. Alles inklusive, Super-Luxus-KomfortAusstattung, sogar die Wäsche zum Wechseln und die Ausgehklamotten vom Ve ranstalter per Luftfracht organisiert - man kann sie ja in der Menge, wie es dem Bedarf der Kohlhepps entspricht, nicht auf dem Motorrad mitführen. Jetzt wollen sie, so langsam, wie es das mitgeführte Outfit erlaubt, durch Südfrankreich, das Limousin (“haben gehört, daß dort die Trüffel gut sind”), die Auvergne ("soll es super Wild und Geflügel geben"), Burgund (“Spitzenlagen”) undsoweiter nach Deutschland zurück. 221 Siegmund hat sein Vermögen mit einer Eigenentwicklung gemacht, eine Software zur Kompostierung von Gartenabfällen erfunden (oder zusammengeklaut), den dazu gegründeten Start-up an die Börse gebracht, um sich wenige Stunden vor dem All-Time-High seiner Aktie und wenige Tage vor dem Konkurs seines Unternehmens ins Privatleben zurückzuziehen, natürlich mit einem satten Kursgewinn, der ihm nach meiner Schätzung einen mittleren zweistelligen Miobetrag (De-Mark damals, nicht Euro) eingebracht hat. Ich will gar nicht wissen, woher Hagen die Kohlhepps kennt, ich möchte am liebsten überhaupt nichts von ihnen wissen, aber nun sind sie hier, und es entwickelt sich, nachdem ich ihnen als pflichtbewußter Gastgeber zwei Tassen mit Ricorée vorgesetzt habe, folgender unliebsamer Einakter: Das Scheitern der Auslöschung oder: Mars macht mobil Kriegsposse in einem Aufzug Château Pohl, Südterrasse, Gartentisch, vier Stühle, ein Liegesessel Siegmund Kohlhepp, Susanne Kohlhepp, Cater Jarim, nicht im Bild: Katharina Kohlhepp, Consuelo Vladimir, Kiki Estragon S I E G M U N D (sich gleich auf den Liegesessel werfend): “Was treibste denn da? Hast Ansichtskarten geschrieben oder haste das Haushaltsbuch geführt, ha, ha? (Cater Jarim hat geistesgegenwärtig den Badiou weggeräumt; ein Kuli mit ein paar Notizzetteln liegen noch herum, aber Siegmund ist schon beim nächsten The- 222 ma.) Scheißwetter in Südfrankreich, bei uns war Sonne pur - 14 Tage, auch sonntags, 24 Stunden, wenn der blöde Mond nicht gewesen wär’, ha ha.” S U S A N N E : “Nett habt ihr‘s hier, nur ein bißchen primitiv (sie unterzieht den Plastikstuhl einem Belastungstest, er hält stand). Wo issen Hagen?“ C A T E R J A R I M : “In Béziers. Wollte mal allein sein.” S U S A N N E : “Habt ihr Krach? Kein Wunder bei dem Wetter, und dann büschen eng hier, da geht man sich schnell auf die Nerven.“ C A T E R J A R I M : "Merk' ich aber erst seit ein paar Minuten." S U S A N N E (hat nicht hingehört, Siegmund lüpft währenddessen seinen Hintern und feuert eine Salve Darmgase ab): „Was isn das?“ (Sie zeigt auf die Betonwanne, die zugegeben etwas unvermittelt im Garten steht.) C A T E R J A R I M : “Wird ‘n Schwimmbad. Ist noch nicht ganz fertig.” S U S A N N E : “Sieht mir nicht danach aus, daß es überhaupt mal fertig wird. Also ich könnt’ das nicht ohne Pool aushalten.” S I E G M U N D : “Habt doch gar kein Wetter hier fürn Pool. Friert man sich ja den Bibbes ab, wenn man rauskommt. Ha, ha. (Lüpft neuerlich seinen Hintern, diesmal jedoch nicht aufgestauter Winde wegen, sondern um einen besseren Überblick zu haben.) Aber ist doch Wasser drin?” 223 C A T E R J A R I M : “Die Besitzer nutzen das einstweilen noch als Zisterne. Wasser für den Garten...” S I E G M U N D (läßt sich wieder fallen): “Gute Idee, aber bei dem vielen Regen hier braucht man doch gar nicht zu gießen, ha ha.” S I E G M U N D (nimmt einen Schluck aus der Tasse, verbrennt sich den Mund und prustet den Kaffee in die Tasse zurück): “Pfui, was haste uns da für’ne Brühe gemacht?” CATER J A R I M : “Eine Spezialität aus Montpellier. Ziemlich teuer. Nehmen die Pied-Noirs dort an Festtagen.” S I E G M U N D : “Issen das, Pieenowa?” C A T E R J A R I M : “Rückwanderer aus Algerien.” K A T H A R I N A (mischt sich aus dem Off ein, Kreischstimme): “Ich hab’nen Motorradführerschein gemacht.” K I K I : “Au geil.” C A T E R J A R I M : “Den was?” S I E G M U N D : “Junior-Motorradführerschein im Club, aber auf ‘ner richtig kleinen Harley. In echt! Jeden Tag Fahrstunden, vormittags und nachmittags. Hat ne schöne Stange extra gekostet.” (aus dem Off, unveränderte Kreischstimme): “Babbaaa, wann krieg ich mein eigenes Bike?” KATHARINA 224 C A T E R J A R I M (jetzt doch etwas bewegt): “Meint ihr nicht, das ist zu früh? Muß doch in dem Alter nicht sein.” K I K I : “Och, das möchte ich auch mal, ein richtiges Motorrad fah- ren.” S U S A N N E : “Kannst du haben. Kommst mal mit zum Training. Siegmund und ich haben uns gesagt, daß wir Katrinchen zu Hause weiter ausbilden lassen. Haben da so eine Schule gefunden. Junior Bike Training Center, gar nicht weit, in Rodgau 3. Wär’ ja schad’, wenn sie’s wieder verlernen würde, bevor sie 18 iss, gell.” C A T E R J A R I M : “Kommt gar nicht in Frage.” S U S A N N E (empört): “Na hör’ mal. Ist doch unsere Sache.” C A T E R J A R I M : “Ich habe das zu Kiki gesagt, was ihr macht, ist mir schnuppe. (Mit Nachdruck) Kommt nicht in Frage, das mit dem Training!” K I K I : “Och schaade...” S U S A N N E : “Ist ganz ungefährlich. Passiert weniger als mit dem Skateboard. Fahren ja nicht auf der Straße.” C A T E R J A R I M : “Das meine ich nicht...” S U S A N N E (fällt ihm ins Wort): “Haben uns erkundigt. Beste Betreuung. Fachpersonal. Alles ehemalige Erzieher oder arbeitslose Lehrer.” 225 C A T E R J A R I M : “Ich will nicht, daß meine Tochter...” (Im Hin- tergrund ein Plumps, dann ein Schrei. Katharina ist in die Betonwanne gefallen. Wollte den Frosch, der dort zu Hause ist, fangen. Siegmund bleibt sitzen, möchte seinen Sitz nicht aufgeben oder ist einfach zu faul, um aufzustehen. Cater Jarim fischt Katharina heraus. Susanne greift sich das Tischtuch, um Katharina abzutrock nen.) S U S A N N E : “Ist irgendwie nicht ganz kindgerecht hier...” C A T E R J A R I M : “Kiki und Consuelo ist hier noch nichts pas- siert. Ich finde eher, daß Motorradfahren nicht ganz kindgerecht ist.” S U S A N N E : “Was hast du denn gegen das Motorradfahren?” C A T E R J A R I M : “Ziemlich viel. Und vor allem in diesem Alter.” S U S A N N E : “Je früher desto besser. Gibt zu viele alte Knacker, die zu spät angefangen haben.” C A T E R J A R I M : “Wie ihr zum Beispiel.” S I E G M U N D : “Nun hör’ aber auf. Ich wollt’, ich hätt’ die Gele- genheit gehabt, als kleiner Bub. Aber damals war der Va dder froh, wenn er net mit der Straßenbahn fahren mußt’ und was eigenes hatte. Ein Moped zum Beispiel, wie bei meinem Vadder. Ich konnte froh sein, daß ich das Fahrrad von meinem Bruder gekriegt hab’. Gell.” 226 C A T E R J A R I M : “Ist ja auch nicht das Schlechteste, ein Fahrrad und dazu keine Schokoriegel und Pommes-Mayo. Braucht man keine Kombi, und vor allem nicht soviel Leder für die Kombi.” S I E G M U N D : “Nun wirst du wieder unsachlich. Man kann die Menschen nicht über einen Kamm scheren. Der eine findet das, der andere was anderes gut. Haste mal was von Biodiversität gehört?” C A T E R J A R I M : “Hat das was mit deinem Kompost zu tun?” S I E G M U N D (aufgeräumt): “Erinner’ mich bloß nicht daran. Bio- diversität besagt, daß es Vielfalt geben muß, verstehste, daß, wenn alle gleich wären, das Leben langweilig wäre, daß es keinen Fortschritt geben würde, keine Weiterentwicklung. Vielfalt der Bedürfnisse - Vielfalt des Angebots. Darauf beruhen Kulturleistungen. Also net, daß du mich falsch verstehst. Ich habe nix gegen die Massai zum Beispiel, auch nix gegen die Schwarzen. Aber wenn wir alle wären wie die Massai, dann wären wir wie die Massai.“ C A T E R J A R I M : “Überraschende Erkenntnis.” S I E G M U N D : “Warte, ich bin noch net fertisch...” S U S A N N E (die gerade nach der Trockenlegen ihrer zehnjähri- gen Tochter das Tischtuch auf den Boden geschmissen hat, unterbricht ihn): “Darum geht’s doch gar nicht. Erstens: Es macht Katrinchen Spaß. Zweitens: Wir können es uns leisten, und das ist zwar ein bißchen mehr, als sich unsere Eltern leisten konnten, aber das hätten die an unserer Stelle auch getan, und drittens ist Katrinchen durch das Motorradfahren viel ausgeglichener geworden. Ich sag‘ dir eins: Der Umgang mit der Maschine, die Verantwortung für 227 sich und die anderen und auch unser Vertrauen, das wir ihr zeigen, hat sie viel selbstbewußter gemacht. Sie ist ja ein bißchen labil...” C A T E R J A R I M : “Davon ist nichts zu spüren.” S U S A N N E : “Ja, ja, du mit deinen Superkindern. Die kriegen nix. Die wollen nix...” K I K I : “Ich möchte auch Motorradfahren, darf ich?” C A T E R J A R I M : “Kommt nicht in die Tüte.” S U S A N N E : “Warum nicht? Mit deiner Einstellung treibst du das Kind in die Isolation. Wer nicht mitmacht, gehört nicht dazu..." C A T E R J A R I M : "Ach..." S U S A N N E (unbeeindruckt fortfahrend): "Willst du, daß es dei- nen Kindern schlechter geht als anderen. Wir leben nun mal in einer Zeit, in der vieles möglich ist, von dem wir noch nicht mal geträumt haben. Das Leben ist kurz..." C A T E R J A R I M : “Zu lang für Motorradfahrer. Es wird zuviel gefahren auf den Straßen und zuwenig gestorben.” S U S A N N E : “Nun bleib’ mal auf dem Teppich. Ich sag‘ dir eins: wenn sich Katrinchen gut fühlt nach dem Motorradfahren...” C A T E R J A R I M : “...dann ist Motorradfahren gut für Kinder, willst wohl sagen. Als nächstes kommt: Motorradfahren ist gut für die Menschheit. Wie wär’s denn damit? Geburtstagsparty für Achtjährige mit Entertainer und Hip-Hop-Band, Ferienkurs für die Zehn- 228 jährigen im Extremklettern, Selbsterfahrungswochenende für Sechsjährige. Später, wenn sie erwachsen sind, Swingerclub im nepalesischen Kloster oder ne Party zu Hitlers Geburtstag mit 'ner KlezmerCombo. Dann kann man sich ja noch die Prostata piercen oder den Gebärmutterhals tätowieren lassen, geräucherte Pandabärenfilets essen, ne Sightseeingtour im Leprakrankenreservat machen und dazu noch die plastifizierte Oma in der Wohnzimmervitrine ausstellen.” S I E G M U N D (richtet sich auf): “Du haste ja net mehr alle.” C A T E R J A R I M (sich in Erregung steigernd): “Den Silberjeep zum Promenieren auf der Fressgass' habt ihr schon, genauso wie das Sechsthandy, das Zweitbuch, ne elektrostatische Analdusche im Klo und Piranha-Aquarium im Badezimmer, Hubschrauber fürs Wanderwochenende in Graubünden. Habt doch bestimmt schon alles für euren Abgang geregelt, Beerdigung in Marbella, mit original Dixieland-Combo aus New Orleans, im teflonbeschichteten Zinksarg mit Platinintarsien..." S U S A N N E (voller Empörung): “Muß ich mir das anhören. Du bist ja wohl plemmplemm.” C A T E R J A R I M (lauter): "Euch müßte mal der Obertaliban aufs Dach steigen, ihr mit eurem Wohlstandsgehirntumor..." S I E G M U N D (springt aus seinen Liegesessel auf, wird laut): “Du, du Wichsä, mach’ doch deinen Urlaub in Afghanistan oder im Irak!” C A T E R J A R I M (rot vor Zorn): “Ich mach' meinen Urlaub hier, und der würde mir sogar gefallen, wenn nicht solche Vollidioten wie ihr mich von der Erholung abhalten würden.” 229 S I E G M U N D (rennt auf und ab, jetzt in apoplektischer Erre- gung): “Du bist so’en Arschloch, so was ist mir ja schon lang’ net mehr begeschnet. Dich müßte man ja aus dem Verkehr ziehen." K A T H A R I N A (zu Kiki): “An deiner Stelle würde ich mich schä- men, so einen Papa zu haben.” (Kiki fängt an zu weinen, Consuelo zündet einen Kracher, der für die 14.-Juli-Feier angeschafft wurde, und schmeißt ihn den Kohldepps vor die Füße.) C A T E R J A R I M (so laut er kann): “Alle raus hier. Verschwindet und laßt euch ja nicht mehr blicken, auch nicht zu Hause. (Etwas leiser) Für den Kaffee nehme ich kein Trinkgeld.” S U S A N N E : “Ich muß mal mit Hagen reden, daß sie dich in die Klapse steckt. Komm', Siggi.” S I E G M U N D (faßt sich an die Stirn, schreit): “Für den Muckefuck verlang ich Schmerzensgeld.” (Die Kohldepps ab, machen auf dem Kiesweg einen Blitzstart, so daß einzelne Steinchen bis in die Tassen mit dem erkalteten Ricorée fliegen. Consuelo schmeißt ihnen einen Kracher in den Beiwagen, doch Siegmund hält die Balance.) Das Tor bleibt offen. Der Vorhang fällt. Ende. Manchmal unterschätze ich Siegmund. Habe glatt gedacht, daß er mir die Sache mit der Kaffeespezialität von den Pieds-Noirs abnimmt. Ich widme mich wieder dem Badiou, bin aber zu aufgewühlt, um das ordentliche Studium mit Textexegese und Exzerpttätigkeit wieder aufnehmen zu können. In mir toben die widerstreitenden Erkenntnisse aus dem Vorfall in einem Aufzug: Das Gute an dem Streit ist, daß ich endgültig Ruhe vor den Kohldepps haben werde, und das 230 ab sofort, nicht erst, wenn sie in ihrem blöden Zinksarg liegen. Andererseits mißfällt mir die Pattsituation. Mir ist es nicht gelungen, die Kohldepps vernichtend zu schlagen, die besseren, die alles niederschmetternden Argumente zu entwickeln, einfach meinen bescheidenen Teil dazu beizutragen, die planetarische Dummheit, die sich in den Kohldepps manifestiert, auszulöschen. Frühere Generationen konnten sich da noch wenigstens auf den göttlichen Zorn verlassen. Wir jedoch sind auf uns allein gestellt, und das kann doch nicht sein, sage ich mir. "Dies irae, dies illa, Solvet saeculum in favilla - Tag der Rache, Tag der Sünden, wird das Weltall sich entzünden", diese wunderschön bedrohliche Formel, die mein Schulfreund Franz-Joseph Lieblang als gesungenen Bannfluch gegen die Lehrer schleuderte, bleibt angesichts solcher Zeitgenossen wie der Kohldepps einfach wirkungslos, ja rundweg verfehlt. Auch das „Dies irae“ hat sich hoffnungslos säkularisiert, ist von Mozart mozartkugelhaft kandidiert, von Verdi überstrapaziert, von Brahms zitiert, entschärft und verharmlost worden. Neuerdings nennen sich sogar Gothic-Rockgruppen danach. Und es sollte uns doch der Tag der Abrechnung verhießen sein, einfach, weil es den Hochmögenden wie mich ein Trost ist zu wissen, daß es ein individuelles Gericht gibt (beim Tod eines jeden) und ein Endgericht (beim Untergang der Welt). Was können wir tun, uns, den Selbstgerechten und den Ungerechten, das gerechte Antlitz eines sich nicht mehr offenbarenden Gottes vor Augen zu führen, auf daß wieder Demut, Vernunft (ja Vernunft!) und Bescheidenheit einkehrten und die Welt ablasse von ihrem lästerlichen Treiben? Und da faselt Badiou von einer Identität aller in Christus. Mit mir nicht, Identität mit den Kohldepps kommt gar nicht in Frage. Ich bin schlichtweg das Nichtidentische zu ihnen. 231 Vielleicht aber gibt es einen brauchbaren Hinweis in einem anderen Werk Badious: Ich habe seine „Ethik“ („L’éthique. Essai sur la conscience du Mal“) immer deshalb geschätzt, weil sie sich vorzüglich als Splitterbombe gegen Habermasens Diskursethik einsetzen läßt. Aber auch dort ist nichts zu finden, was sich gebrauchen läßt, kein Sollen, das aus dem Sein folgt, nur Warten auf das Ereignis. Es stimmt schon, was Odo Marquard sagt, daß Sollenshypertrophie zur Seinsvermiesung führt. Aber reicht es, wenn man auf das Sollen verzichtet, und - wie Badiou - im Wald der Ungewißheiten und Unwahrheiten die Melodie des Wahrheitsereignisses pfeift? Und: Kann denn Pfeifen Wahrheit sein? Ich muß zurück ad fontes, zu Paulus selbst. Mal im Original blättern, was ihm zu den Kohldepps einfällt, bezweifle aber von vorneherein, daß es sich zu einem ordentlichen Anathema, ich meine einem solchen mit wirklich höchster Effizienz, reicht. Wie wär's mit: "So tötet nun die Glieder, die auf Erden sind, Unzucht, Unreinheit, schändliche Leidenschaft, böse Begierde und die Habsucht, die Götzendienst ist. Um solcher Dinge willen kommt der Zorn Gottes über die Kinder des Ungehorsams." (Kolosser 3,5-6) Ich fürchte, daß das die Kohldepps unbeeindruckt läßt, ja daß die Wirksamkeit sich umlenkt, auf den, der das Anathema ergehen läßt, konkret: mich der Lächerlichkeit preisgibt. Siegmund wird sagen: "Soll er doch kommen, der Zorn, ha, ha." Und von Susanne höre ich auch schon: "Hä, ist doch voll peinlich, Vorhaltungen wegen Unzucht, und das heutzutage." Was mich aber zugegebenermaßen vollends ratlos macht, ist die Passage, die mir gerade eben beim Sondieren der Episteln ins Auge springt: "Denn worin du den andern richtest, verdammst du dich selbst, weil du ebendasselbe tust, was du richtest." (Römer 2,1) Wie denn? Was denn? Wer soll nun richten, wenn der altestamentari- 232 sche Gott mildernde Umstände walten läßt und Paulus das Hohelied der Liebe singt? Hier muß ich mir noch viele Gedanken machen und womöglich noch viele Seiten fühlen. Aber erst mal muß ich abschalten. Ich genehmige mir einen dreistöckigen Pastis aus Gabors unerschöpflichen Vorräten, unverdünnt. Ah, das tut gut. Der Geist des Wermuts brandet heiß in mir auf. Absinth mit seiner halluzinogenen Wirkung wäre noch besser gewesen (obwohl der Besuch der Kohldepps mir wie eine Halluzination vorkam) - die grüne Fee, nur ein kleines bißchen Thujon, Gift des Absinths, und die Gedanken kämen gegen die Kohlhepps wieder in die richtige Stellung. Die Alternative hätte in was Biblischem bestanden, in einem „Kanaanbalsam“ zum Beispiel. „Kanaanbalsam“ setzt sich zusammen aus einem Deziliter Brennspiritus, zwei Deziliter dunklem Bier und einem Deziliter gereinigter Politur. Sein Erfinder, der russische Schriftsteller Wenedikt Jerofejew, verheißt „Vulgarität und dunkle Kräfte“, die sich beim Genuß des Cocktails einfinden würden. Das wäre das richtige für mich: Vulgarität und dunkle Kräfte. Aber ich habe keine gereinigte Politur, und ob ich das dunkle Bier hier kriege, ist auch fraglich. Und was mache ich dann, wenn ich hoffnungslos besoffen, vulgär, brutal und womöglich vom Satan beseelt bin? Wird das Mme Knotterbeck gutheißen? Wohl kaum? Also nichts mit der grünen Fee, nichts mit dem „Kanaanbalsam“. Nur Pastis. Immerhin entfaltet er eine Wirkung, eine unzulängliche zwar, aber eine womöglich in einem gänzlich anderen Sinne brauchbare: Aus dem Nebel des illuminierten Bedenkens steigen die Umrisse einer Lösung auf: eine Theorie des Komplotts, eine mit hohem Durchschlageffekt und einer Langzeitwirkung, wie ich bang erhoffe. Leider kann ich mich aber nicht sofort mit ihr beschäftigen. Die Uhr erinnert mich, daß ich mich der Küche und nicht der Theorie des Komplotts zu widmen habe. Heute gibt es was nicht Alltägliches, es 233 wird eine Trias von kulinarischen Höhepunkten einleiten, die in dieser Woche noch abzuarbeiten ist und deren Schlußakkord ich noch nicht verraten möchte. Das Wetter erlaubt uns nämlich ein Gericht, das sich eher für kühle Wintertage als für den kalendarischen Hochsommer eignet: Cassoulet - und zwar nicht so eine gehaltlose Grütze, die einem die Billiggastronomie liefert, sondern ein „Cassoulet Royal au Maître Cater Jarim“. Und dazu benötige ich (alle Angaben für gut sechs Personen - ich nehme für die Familie Jarim heute etwas weniger): Ein Kilo kleine weiße oder braune Bohnen, je ein halbes Pfund Bauchfleisch vom Schwein, Lammfleisch, Dörrfleisch, zwei Entenkeulen, eine Knoblauchwurst (am besten die hier unten bekannte Chorizo, eine Trockenwurst mit Paprika und Knoblauch; die im Cassoulet häufig empfohlene Saucisse toulousienne, eine Art Bratwurst, ist mir zu weich) acht kleingeschnittene Schalotten (ersatzweise drei Zwiebeln), ein halbes Pfund kleingewürfelte Möhren, sechs Knoblauchzehen, zwei Lorbeerblätter, vier bis sechs Gewürznelken, einige Zweiglein Thymian, Butter, Olivenöl, Salz, Pfeffer, Gemüsebrühe, eine Flasche Rotwein (am liebsten mag ich dazu den schwarzen Cahors, das hat aber rein rituelle, keine geschmacksbezogenen Gründe - es gehen alle Weine aus dem Südwesten und Süden, nicht verwenden würde ich Burgunder oder Beaujolais, oder gar deutschen Portugieser oder - horrible dictu - Dornfelder, aber die stehen hier nicht zur Debatte). Die Bohnen habe ich über Nacht eingeweicht. Das Einweichwasser wird weggeschüttet, denn hierbei handelt es sich um ein mit flatulenzbildenden Inhaltsstoffen hochangereichertes Destillat. Bohnen anschließend nochmals gut abspülen. Das Fleisch mit Ausnahme der Entenkeulen wird im Gänsebräter oder einem ähnlichen backofenfesten Gerät angebraten. Zu Hause nehme ich eine große 234 Kasserolle und steige dann für den weiteren Gargang in der Röhre auf meinen irdenen Elsaßtopf (meine „Cocotte d'Alsace“) um. Die Schalotten und die Möhren werden mitgeröstet, die Bohnen und die Gewürze kommen hinzu; das gesamte Bratgut einschließlich dem Gemüse wird mit dem Rotwein übergossen, bis der Inhalt des Topfes knapp bedeckt ist. Obenauf kommen die Entenkeulen, und der gut verschlossene Topf kommt jetzt für drei bis vier Stunden in die auf etwa 175 Grad vorgeheizte Röhre. Eine halbe Stunde vor Ende der Garzeit wird der Deckel abgenommen, zehn Minuten vor Ende der Garzeit kommt die in Scheiben geschnittene Knoblauchwurst hinzu, am Schluß wird noch das Geflügelfleisch abgelöst. Es gibt natürlich noch andere Zubereitungsarten. So wird in der Gegend von Castelnaudary (der Hochburg des Cassoulet) statt des Rotweins etwas Brühe zugegeben und eingekocht, wieder zugegeben und eingekocht und dieser Vorgang mehrmals wiederholt, bis sich auf der Oberfläche eine dunkle Kruste bildet. Beliebt ist auch, das Ganze mit Semmelbröseln zu übergeben und zu gratinieren. Genau genommen gibt es so viele Zubereitungsarten des Cassoulet, wie es zwischen dem Mittelmeer und der Gironde Familien gibt also so schätzungsweise fünf Millionen Varianten. Hier in der Gegend wird Weißwein (statt des Rotweins), dazu Tomatenpüree verwendet. Was die Zutaten betrifft, so kann man auch Gänse-Confit einsetzen. Um Weihnachten nehme ich statt der Enten- zwei ganze Gänsekeulen. Das macht das Cassoulet noch schwerer und schafft eine gute Grundlage, gegen die allfällige Kälte mit einem guten verdauungsfördernden Obstschnaps zu Leibe zu rücken. Weil ich bereits mit dem Pastis gesündigt habe und heute nur ein leichtes Cassoulet, gewissermaßen ein Cassoulette, zu mir genommen habe, verzichte ich auf einen Digestif, habe aber nicht darauf 235 geachtet, was Hagen, die inzwischen eingetroffen ist, zu sich nimmt. Meine Vermutung, daß sie nach ihrem Montag in Béziers einen Seelentröster benötigt, erweist sich als irrig. Ihr hat es dort ausnehmend gut gefallen, und das sollte mir zu denken geben. Denn ihr kann es, schlußfolgere ich, nur deswegen gefallen haben, weil sie mich mal nicht um sich hatte. Oder ist sie ganz einfach froh, dass sie die Kohldepps verpaßt hat? Mittwoch, 12. Juli Früh um Acht. Hupen vor der Toreinfahrt. Nein, nein, viermal nein. Nicht schon wieder Besuch. Kann man denn nirgendwo auf der Welt in aller Ruhe, im Kreise der Lieben seinen Urlaub verbringen, ohne dass sich der Aufenthaltsort sofort herumspricht? Ich zu Hagen: „Wir reisen sofort ab. Ich will nach Hause.“ Doch zu spät, Messali Kadour und Dionys Kallaengoulberck fangen mich auf der Terrasse ab. Es sind die beiden größten Nassauer im Erdenrund, zwei Megaschmarotzer, die sich jedes Jahr im Sommer auf den Weg machen, um zwischen Apenninen und Sierra Nevada erholungssuchende Bekannte mit ihrer Anwesenheit zu beglücken. Ich kenne Leute, die gegen alle ihre Überzeugungen und Neigungen nur deshalb an der Zuidersee Ferien machen, weil sie dort vor den beiden einigermaßen sicher sind. Hollands Gestaden nämlich behagt Messali und Dionys überhaupt nicht: schlechte Küche, schlechtes Klima, schlechter Käse, so Dionys, der es wissen muß - sein Vater stammt aus Brabant. Haben sich wohl früh aus den Betten geschält, um das gemutmaßte reichhaltige internationale Frühstück bei uns nicht zu versäumen. In der Tat stehen auf dem Frühstückstisch: Schoko-Müsli (für die Kinder), ein Glas Erdbeermarmelade (für Hagen), eine Tube Mayonnaise und eine Büchse Ölsardinen (für mich). An den langen Gesichtern der beiden sehe ich, daß ich mit meiner 236 Vermutung völlig richtig lag. Also hole ich aus dem Kühlschrank noch zwei etwas eingetrocknete Scheiben Kochschinken und meine nahezu unversehrte Saucisson, was aber die Mienen wenig aufhellt - im Gegenteil, wenn ich es genau beobachte, sogar weiter verdüstert. Die beiden haben eine mehrtägige Irrfahrt in den Cevennen hinter sich, auf der (erfolglosen) Suche nach irgendeinem Thomas und dessen Lebensgefährtin, die - so eine vermeintlich zuverlässige Quelle - in der Nähe von Le Vigan ein toskanisches Landhaus mit integriertem Pool und beheizbarem Weinberg oder umgekehrt besitzen sollen. Mit Messali, einem gebürtigen Algerier, der vor vielen Jahren nach Deutschland rübergemacht hatte, bin ich vor zwei Jahren, als die Sommertournee wegen Dionys’ Windpocken ausfallen musste, vom Isèretal durch die Berge des Tricastin zum Mont Ventoux gewandert. Da wir dummerweise die Michelinkarte 1: 200 000 benutzten und dementsprechend die Entfernungen falsch einschätzten, sind wir fast verdurstet, von den tagelangen Abirrungen mal ganz abgesehen, die uns fast um unseren Verstand brachten. Aber das war noch gar nichts gegen die Vorwürfe, die ich mir allabendlich, wenn ich Messali zum Essen freihielt, anhören mußte. Welcher Beelzebub, Satan oder Scheitan mich denn wohl geritten habe, in Südfrankreich eine so strapaziöse Wanderung zu unternehmen, statt mich, wie es den klimatischen Bedingungen angemessener gewesen wäre, einer Dauersiesta, nur unterbrochen von Mahlzeiten und kleineren Zechgelagen, in einem behaglich ausgestatteten Ferienhaus zu unterziehen? Dionys Kallaengoulberck kenne ich seit gut einem Vierteljahrhundert. Es ist eine schwierige Freundschaft, die wir beide pflegen, im Grunde genommen gar keine Freundschaft, eher eine Art Ve rtrautheit. Ich kenne seine Fehler und er meine Schwächen. Diese Einsei- 237 tigkeit weiß er geschickt auszunutzen. Auf uns trifft in etwa das zu, was der Realitätenhändler Karl Ignaz Hennetmair in Bezug auf Thomas Bernhard sagte: „Seit sieben Jahren kennen wir uns, vor fünf Jahren waren wir splitternackt in der Alm baden, aber erst in den letzten Wochen hat die Bekanntschaft einen Grad erreicht, daß wir laut voreinander furzen.“ Eine Steigerung war kaum mö glich gewesen, deshalb haben sich Bernhard und Hennetmair drei Jahre später unwiederruflich verkracht. Dionys’ und meine Bekanntschaft dagegen hält immer noch an, obwohl es Dionys in allen Bereichen der Schlechtigkeit durchaus mit Bernhard aufnehmen kann, konnte, muß man sagen, denn Bernhard bietet keine Ve rgleichsmöglichkeit mehr, weil er ja 1989 das Zeitliche segnete. Nur zusammen gefurzt haben wir nicht, auch nicht - wenn ich das so recht bedenke - zusammen gebadet, und nackt schon gar nicht. Stattdessen haben wir in jungen Jahren die ganze Provence durchpflügt und die Côte d’Azur abgegrast, immer auf der Suche nach grenzlosen Abenteuern und immerzu nur unendliche Enttäuschung findend. Dionys hatte die Angewohntheit, sich tagelange Schweigegelübde aufzuerlegen, nachdem ihm, dem Gelegenheitsdichter, einige Verse abhanden gekommen oder nicht wie erwartet zugeflogen waren. Die Schweigephasen, waren mir nicht unangenehm, obwohl ich seine gelehrten Deklamationen durchaus zu schätzen wußte. Ausgesprochen lustig waren seine Starckdeutschgedichte. Starckdeutsch ist eine dem Mittelhochdeutschen entlehnte Kunstsprache mit stark betonten Vokalen und Konsonanten und deftigen - “starcken”- Sujets. Dionys hatte Starckdeutsch zwar nicht erfunden (die Urheber entstammten einer Nürnberger-Westberliner Clique um Matthias Koeppel), er ist aber Virtuose im Rezitieren und Neudichten. Kostprobe (der Kinder wegen eine harmlose): „Wanns klingult upf dem Fluore, donn izt wollst Teilephun / Ein Männlein kuommt hervuore / Unn säggt: ‚Hüor bünn ick schuon.‘“ 238 Außerdem kann Dionys gut bellen. Er kann so gut bellen, daß Hunde ihn für seinesgleichen nehmen und ihre Herrchen und Frauchen sich, wenn sie seiner ansichtig werden, veralbert fühlen. Das ist manchmal lustig und manchmal (wenn ein Herrchen zubeißt) weniger. Dionys hat weitere merkwürdige Angewohnheiten. Zum Beispiel die zwanghafte Beschäftigung mit ziemlich abgedrehten Themen. Das für ihn wichtigste ist in einer unveröffentlichten und unpublizierbaren Publikation mit dem Titel „Der blasphemischkynogologische Gottesbeweis“ dargelegt. Unpublizierbar ist die Publikation deswegen, weil sich die zunächst in Schwachdeutsch gehaltene Gottesbeschimpfung über den in Starckdeutsch formulierten Mittelteil zu einer in Mordsdeutsch gehaltenem, also schon kaum mehr lesbaren (und auch weder zitier- noch rezitierfähigen) rhapsodischen Delirium der Gottesverwünschung steigert. Die Idee ist folgende: Gott wird in einem dem Menschen eben noch möglichen, bis zur Aphasie reichenden blasphemischen Auswurf, der schließlich in reine Bellgeräusche („die große Gottverbellung“) übergeht, aufs (nach menschlicher Vorstellung) Äußerste gereizt, und, weil er auf die Herausforderung nicht reagiert, ist der Beweis seiner Existenz erbracht. „Wie das?“, frage ich. Dionys: „Würde er reagieren, hätte er sich dadurch als menschlich erwiesen, und das widerspricht der Gottesbedingung.“ Cater Jarim: „Einwurf, Euer Ehren. Das beweist gar nichts: Wenn es ihn nicht gibt, dann kann er auch die Herausforderung nicht annehmen.“ Dionys: „In diesem Falle ließe sich seine Nicht-Existenz aber nicht falsifizieren. Ich sage nur Popper, Karl Popper. Klippschule des 239 kritischen Rationalismus! Und dann ist seine Nicht-Existenz auch nicht existent.“ Cater Jarim: „Und wenn er existierte, deine Blasphemie aber unterhalb seiner Wahrnehmungsschwelle läge? Sozusagen als Folge der Nichtrelevanz menschlichen Tuns?“ Dionys: „Du machst wohl Witze, Wahrnehmungsschwelle, und das bei einem Gott!“ Der eigentliche Anlaß für Messalis und Dionyss Besuch ist das Konzert von Emir Kusturica mit seinem „No Smoking Orchestra“ in den Arènes von Béziers. Sie wollen mich zum Mitkommen überreden. Emir habe ich mal im „Café Orfeo“ in Frankfurt getroffen. Er war dort zu Besuch bei seiner Produktionsfirma Pandora, die im gleichen Haus ihren Sitz hatte. Ich kann mich nicht mehr sehr gut an ihn und schon gar nicht mehr an unser Gespräch erinnern, denn ich war sehr zu an diesem Abend. Genau genommen weiß ich überhaupt nicht, ob ein Gespräch stattgefunden hat und im Grunde genommen auch nicht, ob ich ihn je dort getroffen habe. Aber mir ist so, als sei da was gewesen, und wenn ich seine Filme sehe, bin ich mir sogar wieder sicher. Ich erinnere nur an “Underground”, “Schwarze Katze - weißer Kater”. Wer könnte nach diesen herrlichen Werken der Cinemagie vergessen, daß sich unsere Wirklichkeit nur aus Projektionen zusammensetzt, wenigstens so lange man sich nicht den Kopf an der geschlossenen Tür einrennt. Nun gut, sage ich, ich habe Emir noch nicht auf der Bühne erlebt, ich komme mit. Diesmal hat Hagen die Chance, unliebsame Gäste abzufertigen. So denn solche eintreffen, dann mag sie sich gewiß sein, daß sie weder aufgrund einer Einladung noch eines Versprechers meinerseits kommen; außerdem pflege ich ich keinen Umgang 240 mit Leuten, die auch nur näherungsweise dem Grad von Kreuzdummheit entsprechen, der den Kohldepps eigen ist. Immerhin verschafft mir der Besuch von Messali und Dionys die Gelegenheit, meine Thesen zum Hl. Paulus im gelehrten Diskurs zu überprüfen. Nassauer sind immer auch Müßiggänger, und Müßiggänger haben viel Zeit sich privatim weiterzubilden. Messali beipielsweise ist Experte des Marranentums, also der Kultur der spanischen Juden, ein Experte allerdings, der die gemeinsame Abneigung des Schweins durch Juden und Araber mit dem Stierkult der Spanier zu einer neuartigen Theologie des Hornviehs, einer Art minotaurischen Religion amalgiert hat. Er folgt darin dem katholisch-anarchistischen Schriftsteller José Bergamín, der in den 20er Jahren eine Taurologie erfunden hat. Dionys wiederum hat seine im bürgerlichen Sinne „Dauerbeschäftigungslosigkeit“ dazu genutzt, den ganze Goethe in der von Japanern nachgedruckten Ausgabe zu lesen - nur um hinterher sagen zu können: „Ist doch alles Mist, was der Geheimrat da geschrieben hat. Wer das nicht glaubt, der soll es mir erst mal nachmachen und die 60 000 Seiten gefälligst selber lesen, bevor er mir Contra geben will.“ Messali und Dionys kennen Sète noch nicht. Sie folgen deshalb willig meinem Vorschlag, eine kleine Spritztour dorthin zu unternehmen. Der Tag ist ohnehin im Eimer, und so kann ich mir wenigstens den zusätzlichen Aufwand in der Küche und bei Tische ersparen. Das Auto parken wir in der Nähe des Pont de la Victoire, einer Drehbrücke, die alle Schiffe auf dem Weg in den Canal du Midi passieren müssen, weil wir dann - als kleine Reverenz an unseren maghrebinischen Freund - gemächlich durch das Araberviertel schlendern können. Messali ist glücklich, obwohl er keinen geldwerten Vorteil davon hat, saugt die Atmosphäre auf. Er stellt - Meister der Indiskretion - die Lauscher auf, berichtet uns in allen Einzelhei- 241 ten über die Gespräche seiner Landleute und wird vor allem im PMU-Tiercé fündig, wo wir einen ersten Kaffee trinken: Hier drehen sich die Erörterungen vornehmlich um Immobiliengeschäfte, etwas Geldwäsche ist dabei, ein wenig Menschenschmu ggel, aber sonst um die Geschehnisse zu Hause in der Heimat, um gegebene und gebrochene Eheversprechen, ignorierte Rückzahlungsverpflichtungen, kurz: um die kleinen Dramen des Alltags. Ich will meine Gäste ins „Marty“ schleusen. Da weiß man, was man hat, und unangenehme Überraschungen versehen mit den entsprechenden Kommentaren zur Lage bleiben mir erspart. Aber wo zum Teufel ist das „Marty“ abgeblieben? War das nicht vor zwei Wochen noch rosa? Dieses Lokal, das auch „Le Marty“ heißt, ist ganz in bleu - genauso scheußlich wie das alte „Marty“, aber Scheußlichkeit in bleu. Die Auflösung des Rätsels: Der Besitzer hat gewechselt, und das erste, was er getan hat, war ein Konzeptwechsel. Der Umstieg von Altrosa auf Neubleu soll wohl die Neuorientierung verdeutlichen. In Frankreich nennt man sowas "nouvelle formule", und das bedeutet Übervorteilung ohne Aufsehen: Man muß damit rechnen, daß die Zahnpasta mehr Tube und weniger Inhalt hat, die Krankenversicherung ermäßigte Leistungen und höhere Prämien, und Restaurants eben mehr Chic (oder was die Betreiber dafür halten) und schlechteres Essen. Zur "nouvelle formule" des „Marty“ gehört wohl der schwule Kellner, der Bestellungen mit einem "Wenn Sie befehlen, tue ich das für Sie" oder "Für Sie tue ich doch alles" quittiert. Bedenklich sollte stimmen, daß das Lokal bis ein paar "marquereaus" (Goldkettchentypen), am Nachbartisch, wohl Freunde des Hauses, brechend leer ist. Meine Befürchtungen werden nicht enttäuscht, das Essen ist schlecht, der Picpoul sauer wie ein angeketteter Pittbull. 242 Das einzige, was die Situation rettet, ist das jetzt einsetzende Spektakel an den gegenüberliegenden Molen: Die Fischerboote kommen zurück, nur sind sie viel größer als damals vor dreißig Jahren, mächtige Trawler, begleitet von riesigen Möwenschwärmen. Ein Schauspiel ohnegleichen, das trotz der Mechanisierung des Entladevorgangs (es sind kaum Menschen beteiligt) etwas vom Flair des alten Sète hat. Die Stadt lebt vom Meer, und man merkt, daß sich hier die Einheimischen treffen, um Tag für Tag Zeugen der immerwiederkehrenden Entladeaktion zu werden. Unmöglich, sich dem Vorgang zu entziehen, und wem das Gefühl für das Sakrale noch nicht gänzlich abhanden gekommen ist, der wird ergriffen sein, von dem was er da sieht. Schnell weg, bevor mich die Rührung packt oder sich der Kellner womöglich noch zu einer erlebnisgastronomischen Bemerkung hinreißen läßt. Ich überreiche ihm das Schälchen mit dem sorgfältig abgezählten Rechnungsbetrag, sage auf Deutsch: "Steck' dir's wo hin", und wir verziehen uns. Namens meiner Begleiter bitte ich die Leser, meine der Verärgerung geschuldete Bemerkung zu entschuldigen und die Telefonnummer im zweiten Kapitel des vorliegenden Buches zu streichen. Messali und Dionys sagen: "Null Punkte für das, was du uns da geboten hast, na ja, vielleicht fünf Punkte wegen der Fischaktion. Sei froh, daß wir gekommen sind, um dich aus dem Urlaubsmief herauszureißen. Wir bieten dir heute Abend etwas, das seine hundert Punkte wert ist." Noch wissen wir alle drei nicht, wie wahr das gesprochen ist. Emir Kusturica scheint in Frankreich etwas zu gelten: Vor den Arènes wartet, als wir ankommen, eine vielhundertköpfige Menge auf Einlaß. Wir stellen fest, daß wir zusammen mit den Musikern das Durchschnittsalter empfindlich nach oben treiben. Um uns herum Hip-Hopper, Rastas, Neo-Folks, kettenrasselnde Punks, Lederfeti- 243 schisten, die jüngste Edition der „blousons noirs“ (das sind die in Frankreich seit fünfzig Jahren mit jeder Generation neu erstarkenden Halbstarken) und sonstige Wiedergänger der vergangenen Jugendkulturen, aber kaum einer oder eine über dreißig. Die einzigen, die keinen Botschafter entsandt haben, sind die Anhänger des Gothic Rock. Vielleicht hängt die Begeisterung für die Mannen um die 50 damit zusammen, daß Emir, der in der Gruppe den Elektrobaß spielt, einen Film über die sommerliche Tournee dreht, der "Super 8 Stories" heißen und irgendwann auch mal in die Kinos kommen soll. Wer weiß, werden sich die heute anwesenden Subkulturen da gesagt haben, vielleicht kommen wir als Stars oder wenigstens als Statisten in einen Film, der für ein zwei drei Oskars nominiert wird (was natürlich nicht der Fall sein wird, genauso wenig wie für die Goldene Palme oder das Bambi). Das „No Smoking Orchestra“ ist eine Art „Leningrad Cowboys“, nur weniger festgelegt. Da gibt es nicht wie bei der Finnentruppe mit ihren zu Riesenbananen aufgetürmten Frisuren ein einheitliches Markenzeichen; das einheitliche Markenzeichen ist beim „No Smoking Orchestra“ das Uneinheitliche. Man muß sich vorstellen, daß Rock, Latino, Gypsy, Folk, Polka, Punk, Freestyle, alle möglichen Klangfiguren dieser Welt sich zu einem gefährlichen Mix aufaddieren, den die Band „Unza unza Musik“ nennt. 1980 in Sarajewo gegründet, wurde die Gruppe vor und nach dem Zerfall Jugoslawiens mehrmals verboten - Verbote, die vor allem eins bewirkten, daß sie noch bekannter wurde, vor allem jetzt auch im Ausland (wozu Deutschland trotz einiger Deutschnummern im Repertoire komischerweise nicht zählt). Was wir heute abend in den Arènes von Béziers erleben, das hätte ich mir allerdings lieber auf den Allées Paul Riquet, der riesigen platanengesäumten Promenade im Herz von Béziers, vorgestellt, und 244 zwar sonntagsnachmittags zur besten Fiestazeit. Das würde die Biterrois und Biterroises (so heißen abgeleitet vom Stadtnamen die Ureinwohner) etwas aufmischen, und zwar so, daß sie sich künftig nicht mehr so lachhaft - gockelhaft die Biterrois und hinkelhaft die Biterroises - benehmen. Wie Dr. Nelle Karajic, der Frontmann zum Song "Lubenica" einen Striptease simuliert, den besten noch nicht einmal angedeuteten Striptease, der je auf dieser Erde zu sehen war. Oder wie der Akkordeonist Zoki Miloshevic auf „Imao Sam Bjelog Konja“ ein Solo gibt, das in seiner Gewalttätigkeit die Kriegsverbrechen seines Beinahe-Namensvetters übertrifft. Oder wie auf dem programmatischen “Unza Unza Time” Alexander Balaban und Nesho Petrovic mit der Tuba und dem Saxophon ein ganzes muslimisches Blasorchester in den Schatten stellen und darauf Dejan Sparavalo mit einem teuflischen Violinsolo zur Verarschung der wichtigsten britischen Subkulturbotschaften durch Dr. Karajic überleitet (“Hit me with my rhytm stick” und “Video kills the radio star”) - all das ist geeignet, das zentralistische Frankreich gefährlich zu balkanisieren oder gar das monetäre Europa aus den Angeln der gemeinsamen Währung zu heben. Nach dem Konzert und den fünf Zugaben sind wir angenehm ermattet. Ich hätte nicht gedacht, daß Popkonzerte (ich habe das letzte in den 80er Jahren bei Paul Weller in der Jahrhunderthalle Höchst hinter mich gebracht, Dionys war noch nie in einem, und Messali weiß gar nicht, was das ist) noch so entgiftend auf mich wirken. Wir fühlen uns in etwa so großartig wie Kusturicas Filmfiguren nach einem einwöchigen Slibowitz-Marathon und beschließen, auf dem Heimweg irgendwo bei Valras-Plage einen Drink zu nehmen und dabei noch erkenntnisgesättigte Eindrücke vom Nachtleben im Languedoc mit nach Hause zu nehmen. Doch als wir auf den Parkplatz kommen, herrscht in der Parklücke neben unserem Auto Aufregung. 245 Zwei Youngster stehen da und zeigen entsetzt auf die Bremslichter eines Renault-Kangoo, die sich schnell in der Nacht entfernen. Dionys erfaßt als erster die Situation: klarer Fall von schwerem Diebstahl. Hier ist, meint er, Solidarität unter den Jüngern Kusturicas gefragt. Er schiebt die Jungs in unsere Karre, überhört meine Frage: “Die, die den Bruch gemacht haben, waren doch auch im Konzert? Sind wir mit denen nicht solidarisch?” Er schwingt sich hinters Steuer, und wir nehmen mit Karacho die Verfolgung auf. Das ist so ganz nach seinem, nicht aber nach meinem Geschmack. Als Kind wollte Dionys wie einige Millionen andere Kinder Rennfahrer werden, sein Berufswunsch wurde, wie man heute weiß, nicht erhört, aber es hat zum einem Taxiführerschein gereicht, und dieser Aufgabe hat er sich vorzugsweise im Frankfurter Bahnhofsviertel mit Bravour erledigt. Einmal hat er sogar einen steckbrieflich gesuchten Mörder - nolens volens - aus der Gefahrenzone gebracht – und zwar so nachhaltig, daß sein Fahrgast nie gefaßt werden konnte. Kaum gestartet, gewinnen wir auch schon Anschluß an die Fahrzeugdiebe; Dionys klebt jetzt an der Ladetür des Kangoo, und so brettern wir - wie im Film - durch die Nacht, über die Départementale 15 in Richtung Roujan. Die im Kangoo haben den Braten schon längst gerochen, sie versuchen, uns mit Bremsmanöver und kalkulierten Schleudereinlagen (man muß sich über die Spurtreue des Kangoo nur wundern) aus dem Konzept zu bringen, doch da haben sie bei Dionys die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Die beiden Jungs auf der Rückbank kommen ins Bibbern, und wir (ich habe meine Bedenken im Rausch der Verfolgungsjagd zurückgestellt) müssen sie mit Nachdruck daran erinnern, daß im Kampf gegen das Verbrechen Kleinmut und Zweifel unangebracht sind. Nach zehn Kilometer bietet sich endlich die Gelegenheit zu einem Überholma- 246 növer, mit dem wir den Anfang vom Ende des Diebstahlversuchs einleiten wollen. Aber natürlich ist es - abermals wie im Film, wir sind wohl im Film, und zwar in einem der C-Kategorie - ein Bauer mit einem unbeleuchteten Fahrrad, der unser Vorhaben vermasselt. Dionys muß in die Bremsen steigen, der Bauer düst in den nahen Entwässerungsgraben, der Abstand vergrößert sich wieder, und wir sehen nach zwei Kilometern gerade noch, wie weit vorn der Kangoo in einen Feldweg einbiegt. Hatten wohl gedacht, der Sichtkontakt sei abgerissen, klarer Fall von Denkste, wir jagen den Feldweg, der jetzt in eine bewaldete Schlucht mündet, entlang, gleich haben wir sie, aber nein, wir können gerade noch auf einem Miniparkplatz in einer Lichtung abbremsen. Vor uns großes Getöse, Hip Hop wie in den Gorges d’Héric, nur vermessener, gespeist von einem gigantischen Soundsystem. Messali schreit, da sind sie, und sie sind da, aber um sie herum etwa zehn Typen mit Baseball-Schlägern in der Hand und zwei Mastinos an regelrechten Hochseeankerketten. Wie im Film kommen sie langsam auf uns zu, sicherlich nicht, um unsere Rostkarre auch noch zu beschlagnahmen, sondern ganz offensichtlich aus reiner Mordgier. Die Begleitmusik der Gattung „White Trash, Big Noise“ ist auch nicht dazu angetan, etwas Kreativeres als Mord- und Totschlag zuzulassen. Die Killer lassen sich Zeit, spielen noch ein bißchen mit ihren Opfern, vielleicht aber sind sie so zu, daß sie gar nicht schneller können. Unsere beiden Fahrgäste ducken sich hinter uns, Messali versucht, mit einigen arabischen Verwünschungen mögliche, aus seiner Heimat stammende Mitläufer einzuschüchtern, dabei auf einen Rest Autoritätsgläubigkeit seiner Gegner vertrauend, Dionys kommentiert die Lage auf seine gewohnt illusionsvernichtende Weise, und ich habe unser Vorhaben, dem Verbrechen mit mustergültiger zivilcouragierter Selbsthilfe zu begegnen, so weit in meinen Hinterkopf 247 gerückt, daß ich mich noch nicht einmal mehr daran erinnern kann, es je mitgetragen zu haben. Die Baseballschläger rücken immer näher, schon kann man durch den Lärmteppich hindurch die Unmutsäußerungen der Mastinos vernehmen, ja ich bilde mir ein, bereits den stinkendem Odem aus ihren mordgierigen Lefzen zu riechen. Gerade spielt die Musik, falls man sie als solche bezeichnen kann, einen tief wummernden Gangsta-Rap mit einer ganzen Arie von Polizeisirenen..., als die Bestien auf uns zu..., aber in der überdehnten Zeit realisiere ich, daß die Sirenen gar nicht in das Stück hineinpassen. Haben die das falsch gesampelt? Das sind doch französische und nicht amerikanische Martinshörner, oder sind es Halluzinationen der Todesangst, die mich glauben machen, daß ich, statt den Biß zu spüren, Blaulicht sehe (verdammte Synästhesie). Doch es stellt schnell heraus: Ich bin keineswegs Halluzinationen aufgesessen, die Musik erstirbt, zackige Befehlslaute mischen sich unter hysterisches Gekreisch und heißere Flüche. Es ist die Polizei, die das Gemetzel an uns stoppt, irgendwer aus der Umgebung muß sie gerufen haben, und sie treibt mit militärischer Präzision die Raver in die zehn grünen Minnas, die hinter unserer Karre Position bezogen haben. Leider machen unsere Retter keine Unterschiede zwischen Opfern und Tätern, und so werden wir gleich miteingebuchtet. Unser Protest auf Hocharabisch, Deutsch und Saarländisch verfängt bei Ihnen nicht, wir werden wie die anderen, inzwischen von ihren Waffen und Blindenhunden befreiten Mordbrenner nach Montpellier verfrachtet, dort in die Turnhalle einer Polizeikaserne getrieben und von deutschen Schäferhunden (immerhin vertrautere Gesichter) bewacht. Es ist jetzt elf Uhr spätabends, einzelne Raver werden zum Ve rhör abgeführt, Messali versucht den Wachhabenden zu erklären, daß wir vom Alter her gesehen kaum zu der übrigen Partygesellschaft 248 passen, doch das verfängt nicht. Cool erklärt der Polizist, daß er normalerweise bei der Sitte ist, und daß er Ähnliches von habituellen Kinderschändern mehrmals am Tag zu hören kriegt. Wir protestieren in vollem Rechtsbewußtsein so laut, wie es uns gerade noch ratsam erscheint, gegen diesen Vergleich, bringen aber nur unsere Mitgefangenen gegen uns auf, in deren Augen der Wunsch nach Blutrache neuerlich aufklimmt. Weitere Raver werden abgeführt, wohl zum Verhör und nicht zum Erschießungspeloton (was nur recht und billig wäre). Wir, die wir trotz unserer unvorteilhaften Umg ebung nicht den Eindruck von Rädelsführern machen, bleiben ohne Aufforderung, und müssen unterm Raver-Fußvolk ausharren. Ich sehe mich schon als Mauerblümchen hinter dicken Gefängnismauern vertrocknen, da werden wir endlich (es muß jetzt eins in der Früh sein) zum Rapport gerufen. Wir erfahren in einer als Ve rhörzimmer ausgestatteten Umkleidekabine, daß wir gehen, ja, Sie haben richtig gehört: gehen, einfach verschwinden dürfen. Ohne Begründung, ohne Entschuldigung, ohne Entgegennahme unserer Aussagen, militärisch knapp und mit professionell zur Schau getragenem Desinteresse. Vor den Verhörzellen warten die beiden Jungs, denen der Kangoo entwendet wurde, mit einem blasierten Herrn in unserem Alter. Er ist - wie sich herausstellt - der Vater des einen Jungen, ein bekannter Rechtsanwalt aus - nun ja - Béziers. Er bedankt sich für unseren heldenhaften Einsatz, tadelt uns ein wenig dafür, daß wir uns durch unsere Selbsthilfeaktion mitsamt den Jungs in eine etwas unkomfortable Situation gebracht haben, und fährt uns zu unserem Auto zurück, das immer noch mit den anderen geklauten oder ehrlich erworbenen in jenem Steinbruch steht, wo die illegale Party von der Polizei vorzeitig beendet worden ist. 249 Gegen drei sind wir in Péret zurück und können Hagen, die sich keine Spur Gedanken um uns gemacht hat, von unserem Abenteuer berichten. “Les rave-parties” sind in diesem Jahr der große Hit. Beinahe täglich meldet der “Midi libre” irgendwelche Vorkommnisse der kriminellen Art. Ist Mord und Totschlag eine Begleiterscheinung der Party, wird gerne der Ausdruck “rave sanglante” verwendet. Letzte Woche beispielsweise berichtete die Zeitung von einer besonders blutigen “rave sanglante”. In Corbère-les-Cabanes (Département Pyrénées Orientales) schoß ein bisher unbekannter Täter mit einer Pump -Gun in die Menge. Ein junger Katalane wurde tödlich, weitere Teilnehmer liegen mit lebensgefährlichen Verletzungen in den umliegenden Krankenhäusern. Zwei Tage später fand ein junger Auvergnat bei einer Festivität nahe Vias-Plage den Party-Tod. Er wurde mit Baseball-Schlägern gemeuchelt. Die Polizei hat überdies, vermeldet der “Midi libre”, eine Bande dingfest gemacht, die Rave-Parties mit Extasy-Lieferungen über Filialen in sämtlichen größeren Städten von Toulouse bis Nîmes versorgte. Ich sage zu Dionys: “Da haben wir ja noch mal Glück gehabt, daß wir nicht als Drogenkuriere aus Osteuropa verdächtigt wurden - bei unserem Französisch, das wir sprechen.” Dionys sagt: “Dazu sehen wird zu alt aus.” Ich sage: “Ja, du hast recht, dann hätten wir alt ausgesehen.” Hagen sagt: “Ja, ja, Drogenkuriere mit Hörgerät und Blindenstock...” Donnerstag, 13. Juli Bin heute etwas später als sonst im Dorf, Dionys knackt noch, die restlichen Jarims wälzen ebenfalls ihr Faulfleisch in den Federn. Messali - wie zur Kontrolle schon zu meiner Aufstehzeit ums Haus streunend - begleitet mich. Wir haben Glück und treffen vor dem 250 Zeitungsladen Madame Simone an. Ich stelle Messali meiner Madame vor, und zwar als einen der wenigen Maghrebiner, die in Deutschland leben. Wie aus der Pistole geschossen zählt sie uns ihre verwandtschaftlichen Bande zu Algeriern auf. Der Schwager zum Beispiel, der die Schwester ihres Mannes geheiratet hatte und der daraufhin von der Familie verstoßen wurde. Dessen Bruder, der als vermeintlicher FNL-Sympathisant während des Algerienkrieges eingekerkert war und im Gefängnis gestorben ist, schließlich der in Frankreich exilierte Onkel des ersteren, der beim Verzehr eines Schweinekoteletts erstickte. Messali schüttelt sich; wir gehen zu harmloseren Themen über. Ihr Mann sei viel zu früh gestorben, Riesentumor – dreimal so groß als Mitterrand seiner. Messali ist doppelt angewidert, es schüttelt ihn vor Mitterrands Tumor, und er verachtet Mitterrand wegen dessen Algerienpolitik in den 50er Jahren. Weiter geht’s mit der Küche (Messali mag keine schlüpfrigen Themen, bevorzugt als alter Basargänger Tips und Tricks vom Marktleben): vom gesunden Knoblauch, den man in Lézignan kaufen soll („nur den rosaroten“) und den man den ganzen Winter über aufbewahren kann, von der richtigen Zubereitung der Kartoffeln. Sie bevorzugt die „épluchés“, mit Öl und Knoblauch gedünstet und mit Petersilie untermengt. Es geht weiter mit Couscous und den Unterschieden zwischen jenem algerischer und dem tunesischer Povenienz. „Letzterer ist weniger schmackhaft“, sagt Messali, „ist viel besser“, behauptet Madame Simone. Einig sind sie sich, daß er grobkörniger ausfällt. Zander aus dem Salagou soll sehr gut sein. Ihr Mann, behauptet Madame Simone, habe mal einen so großen aus dem See gezogen sie macht eine Geste, die darauf hindeutet, daß er mindestens so groß gewesen sein muß wie der Tumor ihres Mannes oder wie jener Wels, der im Parkteich von Wanne-Eickel einen Dackel verspeist 251 haben soll. Aber das Anglerglück war ihrem Mann vor seiner Zeit mit dem Tumor vergönnt, einem Tumor übrigens, der mindestens viermal so groß war wie der von Mitterrand. Dann natürlich das Thema Wetter: Madame Simone behauptet, daß es im Sommer in Péret gewöhnlich heißer ist als in Tunis, was Messali vermutlich nur deshalb gelten läßt, weil es sich um das verabscheuenswürdige Tunis und nicht um das hochzuschätzende Algier handelt. Die Themen wenden sich und drehen sich und kommen wieder zurück zur Küche, speziell zur arabischen Küche. Madame Simone sagt, daß ihr Beaufrère, eben nämlicher Schwager aus Algerien, sie an ihrem letzten Geburtstag reingelegt habe. Er hatte ihr als Überraschung ein Gericht vorgesetzt, was ausgesprochen gut schmeckte, aber erst nach dem Essen verraten, was es war: "les parties de mo uton". Messali grinst. Ich stehe auf dem Schlauch. Sie macht einige Gesten, windet sich, bis ich endlich kapiere und zurückfrage: „Sie meinen ‚les couilles‘, des ‚Hammels Eier‘“? Das war nicht sehr galant, schon gar nicht gegenüber einer fast siebzigjährigen alten Dame. Sie zuckt zusammen; diese Frontalreplik hat sie nicht erwartet. Messali lacht sich schief. Es ist für Ausländer - wenn sie denn keine Nordafrikaner sind wirklich schwierig, die französischen Euphemismen für derartige Dinge zu verstehen: Lamm- und Hammelhoden heißen "parties" oder noch beschönigender "parties nobles", was etwa "ehrenwerte Teile" bedeutet. Sie werden aber auch als "animelles" bezeichnet, was man, stelle ich mir vor, etwas mit dem Wortstamm "tierisch" (mit der Doppelbedeutung, die ihm auch im Deutschen eigen ist) zu tun hat. Stierhoden heißen "rognons blancs", wörtlich: "weiße Nierchen", oder "roubignoles", was man mit „Bocksbeutelchen“ übersetzen könnte. 252 Beim Frühstück diskutieren wir über die gestrigen Ereignisse. Leider kann uns der “Midi libre” noch keine Zusatzinformationen liefern - der Polizeieinsatz fand lange nach Redaktionsschluß statt. Erste Berichte sind demnach erst morgen zu erwarten. Ich referiere über das Konzept der “Temporary Autonomous Zone”, kurz TAZ genannt. Es stammt von dem amerikanischen Philosophen Hakim Bey. Danach ist die Welt voll und ganz territorialisiert. Alle Gebiete sind irgendwelchen Gesetzen unterworfen, von Grenzen abgeschirmt, kartografiert, von Polizei, Armeen und Aufsichtsbehörden kontrolliert. Vorbei die Zeiten, da man noch von befreiten Gebieten, dem Reich der Morgenröte, der Insel Utopia, von tatsächlich autonomen Zonen träumen konnte. Hakim Bey stellt dagegen die “temporären autonomen Zonen”, die sich in der Zeit entwickeln und in der Zeit vergehen, eben nicht wie die Utopien der alten Gattung als “permanent” ausgegeben werden können. Die „temporäre autonome Zone“ sucht nicht die Konfrontation, sie entgeht vielmehr der Konfrontation. Sie ist auch keine Abstraktion der Realität, die gewaltsam zur Wirklichkeit drängt, um ihre schließlich aus der Geschichte bekannten verheerenden Wirkungen zu entfalten, sie vollzieht sich in der Wirklichkeit. Die TAZ sind ein Werden und Ve rgehen, eine “offene Möglichkeit”, wie Hakim Bey sagt. Eine “offene Möglichkeit” bedeutet aber “für” und nicht “gegen” etwas zu sein. „Gegen“ ist der Aufstand, die Insurrektion und die Emeute. Das prototypische “Für” jedoch ist das Fest, oder im Zeitalter von PostWoodstock das Festival beziehungsweise sein kleinerer Ableger (folgere ich), die Rave-Party. Noch temporärer wird das Fest durch das “psychische Nomadentum” (was immer das heißt) und die „driftworks“, die systematische De-Zentrierung des Ereignisses. Die weltweit größte autonome Zone ist das Burning-Man-Spektakel in der Wüste von Nevada, wo jedes Jahr bis zu einer halben Million zeitweiliger Aussteiger zum völlig gesetzeslosen Treiben zusammenkommen, nackt rumrennen, große Feuerchen machen (die 253 sonstwo nicht erlaubt wären), unhygienisch leben, kiffen, was das Zeugs hält und irgendwelche aufgedonnerten Fahrzeuge im Treibsand versenken, bevor sie wieder in ihr Berufsleben zurückkehren, um sich vielleicht acht Wochen später zum Bikertreffen nach Florida zu begeben, wo auf einer sex-, pardon: sechstägigen Beach-Party das ganze noch mal unter der Rubrik „beer and tits“ wiederholt wird. Die Polizei ist hier wie da ständig präsent, aber ihre einzige Aufgabe besteht darin, die Exzesse nicht auf bewohnte Gebiete übergreifen zu lassen. Dionys sagt: “Daran siehst du den ganzen Quatsch. Kontrollierte Waldbrände. Wenn wirklich was an den ‚temporär befreiten Zonen‘ dran wäre, dann wären sie wirklich temporär und nicht geografisch. Dann müßte sich das temporäre Subjekt der temporären Befreiung nicht in den Steinbruch von Roujan quälen. Der ist vielleicht abgelegen genug für eine örtlich befreite Zone, aber viel zu weit weg für eine temporär befreite Zone. Wo doch jeder weiß, daß Zeit Geld ist, auch für die Kappen von Ravern. Ne, hier geht es nur darum, daß man unter sich sein will, und das ist nur garantiert durch die Ortsveränderung.” Dionys weiter: “Die wirklich befreiten Zonen sind die Jarmärkte ohne h. Wo die Polen Maschinengewehre aus pakistanischer Produktion verschieben, Vietnamesen Zigaretten garantiert ohne Zutaten aus der amerikanischen Tabakindustrie verkaufen, Chinesen balinesische Hühnerbrühe in Dosen und Bulgaren Rosenwasser aus russischen Chemiefabriken. Alles vom Weltmarkt abgekoppelt, und doch alles Ware. Dort kann man noch Mercedesscheinwerfer direkt gegen Damen aus dem Ural tauschen ohne Geld und Devisen.” Dionys ist ein großer Kenner der Szene, er hat sich selbst schon als Ikonenschmuggler verdingt, und zwar zu Zeiten, als die Grenzen noch richtig schön dicht waren und sich freizügiger Verkehr auf 254 Devisenpuffs beschränkte; anders als heute, da es ja leider keine Ikonen mehr gibt. Damals stand auf Schmuggel von unveräußerlichem Volkseigentum (gerade auch des aus dem Kirchenbesitz beschlagnahmten) jahrzehntelanges Zwangslager in Nowosibirsk. Hagen fragt: “Und was hat das mit den befreiten Gebieten zu tun?” Dionys: “Gar nichts. Oder doch: Befreiung geht nur, wo Zwang herrscht. Wo aber herrscht bitteschön Zwang rund um die befreiten Zonen, ob sie jetzt temporär oder wie auch immer sind. Befreit ist auch das Raucherabteil der Regionalbahn von Frankfurt nach Mainz, temporär befreit - eine Strecke 40 Minuten. Reicht dicke für 15 Zigaretten im Nichtraucherabteil, ein Sixpack-Gelage, und einen GV mit vollem Programm, was es ja dort auch geben soll, macht hinterher 15 neue Brandlöcher in den Polstern, ein Kilo Scherben auf dem klebrigen Boden und einen kalten Bauer an der Scheibe. Befreiung ist Müll.” Hagen sagt: “Daß ihr immer im Dreck wühlen müßt.” Ich sage: “Hakim Bey sagt, wir müssen uns auch deshalb befreien, weil unsere Lebenszeit immer mehr eingeengt wird. Im Mittelalter, sagt Hakim Bey, waren fast ein Drittel aller Tage Feiertage.” Hagen sagt: “Da sieht man, was dein Hakim Bey für einen Schmarren erzählt. Heute sind weit mehr als ein Drittel der Tage Feiertage: Sonntage, Samstage, Urlaub und dann noch die Feiertage, und das bei einer viel längeren Lebens- und einer viel kürzeren Lebensarbeitszeit.” Messali sagt: “Ihr redet immer von ‘befreit’. Wißt ihr denn nicht, was damit auch gemeint sein könnte? Befreit heißt: ‚nicht eingelocht‘. Und 80 Prozent der Jungs von gestern abend sind wirklich temporär befreit, die meiste Zeit verbringen sie nämlich hinter schwedischen Gardinen.” Ende der Debatte, ich muß noch auf den Markt, Einkäufe tätigen, um meiner Ankündigung eines weiteren zünftigen Gerichts aus der 255 Dreierreihe gerecht zu werden. Die Preise haben abermals angezogen, so daß ich reumütig auf den bewährten „HyperU“ zurückgreife. Dort kaufe ich anderthalb Kilo Aubrac-Rind, das teuerste und natürlich beste im Angebot, denn es muß das Stierfleisch aus der Carmargue ersetzen; heute sollte es ja „Boeuf à la gardiane“ geben. Gardian ist der Cowboy der Carmargue, und Cowboys aus Frankreich geben sich nicht mit Bohnen zufrieden, sondern bevorzugen wie ihre argentinischen Kollegen deftige Fleischgerichte, zubereitet von der Gardiane. Nun, Stierfleisch ist hier in der Gegend nicht zu haben, also gibt es „Daube à la provençale“ mit Rindfleisch aus der Auvergne, und das ist auch nicht schlecht. Hagen Knotterbeck fährt mit den Kindern an den Salagou - inzwischen müßten die Freiburger abgereist sein. Messali und Dionys verziehen sich nach Cabrières in den “Sanglier” (zur Erinnerung: „die Wildsau“), Gabors Hauskneipe. Sie nehmen dazu den Weg von Péret über den Berg an der Steinzeit-Kupfer-Mine vorbei und kommen fast punktgenau an. Der “Sanglier” ist die dortige Dorfkneipe, gepflegte Atmosphäre zum “Soûlen” („se soûler“ - nicht, wie es der Kneipenname nahelegt, „sich suhlen“, sondern „sich besaufen“) oder zur bescheidenen Nahrungsaufnahme (die Menüs rangieren in der Preiskategorie von zehn bis 14 Euro). Ich dagegen muß an den Kochtopf, ganz so wie es Hagen Knotterbeck zu Beginn unseres Urlaubs angekündigt hat und so wie ich es bisher auch klaglos getan habe. Keine Rede war allerdings bisher davon, daß ich zwei Fresser (und um solche handelt es sich) mehr am Tisch haben werde. Das bedeutet für mich doppelten Arbeitsaufwand und eine nicht bezifferbare Quantität entgangener Urlaubsfreuden. Ich werde mit ihr mal unter vier Augen über das Thema „temporär besetzte Zonen“ sprechen müssen. 256 Gleichwohl also lustvoll ans „daube“. Dazu benötige ich: anderthalb Kilo Rinderbraten, wie gesagt, Appellation Aubrac Contrôlée; drei Karotten, ein größeres Stück Sellerie, Olivenöl und Butter, sechs Schalotten, vier Tomaten, zwei Nelken, zwei Zweige Rosmarin, fünf Knoblauchzehen, eine Flasche Rotwein, kleingehackte schwarze Oliven oder Olivenpaste (die beste gibt es in der Kooperative von Clermont, die nach der in Nyons - nordöstlich des Mont Ventoux gelegen - das beste Olivenöl Frankreichs herstellen soll). Fleisch scharf anbraten, kleingeschnittenes Gemüse andünsten. Braten zusammen mit dem Gemüse und den Gewürzen etwa zwei Stunden im Backofen bei maximal 175 Grad im Bräter garen. Nach und nach von Beginn der Bratzeit an mit dem Rotwein ablöschen. Gegen Ende der Garzeit etwa 20 Minuten auf feuerfester Platte in der ausgeschalteten Röhre ruhen lassen. In der Zwischenzeit aus der Gemüsebrühe und dem Fonds Sauce bilden. Eventuell etwas binden und anschließend passieren. Abends beim Essen Diskussion über Bové. Dionys sagt: “José Bové ist der Franzosendarsteller schlechthin.” Er hat den Ausdruck „Franzosendarsteller“, wie er zugibt, von Eckhard Henscheid, der ihn einst auf Pierre Bourdieu münzte. “Dabei war Bourdieu”, sagt Dionys, “eher dem Deutschen Günter Grass zugetan, obwohl der sich seit seinem Aufenthalt in Frankreich in den 50er Jahren immer als Franzosendarsteller versucht hat, mit seinen jahrzehntelangen Schnauzbart, den Filterlosen, dem Nikotinsabber an den Bartspitzen...” Hagen: “Es reicht jetzt...” Dionys: “...und dem Béret. Das hat er sogar beim Schlafen aufbehalten. Nein, der Franzosendarsteller war nicht Bourdieu; das war Grass. Und zwar solange, bis Grass seine Rolle als Grassdarsteller gefunden hat. Nach der Verleihung des Nobelpreises war das. Zwei Jahre war der Posten vakant, bis 257 eben Bové aufgetreten ist und mit Grass-Schnauzer und Grass-Pfeife den Franzosen wieder heim nach Frankreich geholt hat...” Es ist jetzt erstmals wieder etwas wärmer, so daß wir den Abend im Freien verbringen können. Warten alle auf die „feux d’artifices“, die am Vorabend des Nationalfeuertags gezündet werden sollen. Wir warten vergebens. Der Präfekt von Hérault hat sie, wie wir am nächsten Tag aus dem „Midi libre“ erfahren, untersagt, weil der Grenzwert von 50 Stundenkilometern Windgeschwindigkeit überschritten ist. Einige Kommunen verschieben ihre Feuerwerke auf Samstag – vorausgesetzt, der Wind hat sich bis dahin gelegt. Wir diskutieren etwas lustlos über Badiou und Žižek. Messali mißfällt beider Hinwendung zum Christentum, auch wenn sie ihre Gedankenspiele unter den Vorbehalt des Atheismus stellen. Dionys verurteilt das „Wahrheitsgesülze“, wie er sich ausdrückt: „Mal abgesehen von dem ganzen Žižek’schen Unsinn über seinen Säulenheiligen Lacan und dessen Verhältnis zur Frage von Christus und Kastration bleibt noch eins, was Badiou und Žižek fasziniert: die Hypostasierung der Wahrheit und Paulus‘ Plädoyer für den neuen Menschen, der sich stets neu schafft. Neuer Mensch, das ist doch bolschewistische Nostalgie, und Wahrheit? Da liegt doch ein Kategorienfehler vor. Es ist nicht die Wahrheit, die beiden vorschwebt, sondern die bolschewistische Version der Wahrheit, die ‚Prawda‘. Ich kenn‘ mich damit aus – ich habe sie, und sie hat mich gesehen. Als ich in Moskau war, na ihr wißt schon: wegen der Ikonen, da hat mich immer einer beobachtet, mein Schatten, so ein unauffälliger Zeitungsleser, hatte ein Loch in seine ‚Prawda‘ geschnitten, da hat er durchgeguckt. Die ‚Prawda‘, der Spalt? Wie würde Žižek das nennen? Die Leerstelle des Genießens in ihrer traumatischen Begegnung mit dem Realen? Oder das Loch als symbolisches Gesetz gegen die volle Befriedigung des Begehrens? Oder der Riß als Akt 258 der Entsagung, der Aufrechterhaltung des Abstands zum geliebten Objekt groß A?“ Nach einer kleinen Pause Dionys weiter: „Kennt ihr übrigens den? Kommt ein Kunde zur Marktfrau...“ Ich sage: „Ach der alte Witz von Erich Kästner über Ernst Jünger und Gottfried Benn...“ Dionys: „Erstens ist der Witz von mir, und zweitens geht er nicht über Jünger und Benn‚ sondern über Sloterdijk und Žižek. Also kommt der Kunde zur Marktfrau und fragt: ‚Ei, was lesen Sie denn da, meine Liebe, ist das etwa ein Buch von Peter Sloterdijk?‘ Erwidert die Marktfrau: „Nein, ein Buch von Slavoj Žižek, Sloterdijks extra-uterine Begriffsüberwölbungen von Weltinterpretation und Daseinsbeschreibung ist mir etwas zu prätentiös. Slavoj Žižeks Verfahrenschritte der kontrafaktischen Trash’n‘ Pulp-Analyse gibt mir mehr.‘“ Hagen Knotterbeck, Messali Kadour und Cater Jarim (alle sehr gequält): „Ha, ha.“ Wir sind jetzt an einer Leerstelle angekommen, die wir nur noch begießen können. Aber ist „Begießen“, in diesen Zusammenhang gestellt, nicht Pollution der abwesenden Schöpfung, also irgendwie ziemlich frevelhaft und schöpfergotteslästerlich? Angesichts dieser nicht zu klärenden Gottesfragen ad hominem opfern wir lieber dem Dämon der entzündeten Leber. Um Plagiatsvorwürfen vorzubeugen: Diesem Dämon ist Wolfgang Koeppen auf seinen „Reisen durch Frankreich“ mehrfach begegnet. Ich möchte das Buch rückhaltslos als Einführung in ein untergegangenes Land empfehlen, eine Beschreibung, die als einzige ihrer Art auf Verklärung gallischer Ve r- 259 hältnisse verzichtet. Ich frage mich nur, welchem Dämon Koeppen geopfert hatte, als er im Saarbrücken des Jahres 1960 veritable „Wolkenkratzer“ ausmachte, „die sich gleichermaßen jung und unmittelbar aus dem Nichts erheben“. Das war gleichermaßen eine Erhöhung Saarbrückens und eine Herabsetzung der damals noch jungen Landeshauptstadt! Mit 30 Mikrogramm Tannin im Kreislauf endet der Tag noch vor seinem kalendarischen Ende schon um zehn Uhr. Freitag, 14. Juli Messali und Dionys entschließen sich, bis zu unserer Abreise zu bleiben. „Wir können euch doch nicht im Stich lassen, bei den Waldbränden, die hier toben“, behaupten sie. Die Kinder wollen ein letztes Mal an den Strand. Dionys und Messali wollen nicht. Wir kaufen uns frei, indem wir unsere Gäste in den „Sanglier“ verfrachten, gegen freie Kost und Logis selbstredend. Der Strandaufenthalt wird strapaziös, sagen wir uns. Es ist Feiertag - der Nationalfeiertag, in Lothringen “Kaddaschouijé” („Quatorze Juillet“) genannt, und das heißt, mit dem heutigen Tag beginnt ein langes Wochenende mitten in der Hochsaison, díe Strände dürften überlaufen sein. Wir machen uns also und trotzdem auf den Weg nach Cap d’Agde. Cap d’Agde hat den Vorzug, daß man einen kleinen Stadtbummel machen kann, ohne sich zu allzu weit vom Strand entfernen zu müssen, falls es dort zu eng wird. Außerdem wollte Hagen Knotterbeck einmal eine richtige Ferienagglomeration erleben, deren schlechter Ruf zudem bis nach Deutschland vorgedrungen ist. „Wir sind ja nicht hierher gekommen“, sagt sie, „nur um der Sehenswürdigkeiten willen. Wir müssen auch die Schattenseiten kennen lernen.“ Ich: „Warum aber Schattenseiten-Kennenlernen ausgerechnet am vorletzten Tag der dritten Urlaubswoche? Von Schattenseiten habe ich schon 260 genug mitbekommen.“ „Das mag zwar sein“, erwidert Hagen ungerührt, „aber das war nicht vorgesehen. Heute sind eben die Schattenseiten mal Programm, und das Programm bestimme ich.“ Ich: „?????????!“ In Péret herrscht Sonnenschein, aber über der Ebene liegen vereinzelt schwere Wolkenbänke, die sich – ungewöhnlich hier – zum Meer hin verdichten. Südlich von Pézenas dann wieder ungetrübter Sonnenschein. In der Höhe Vias aber kommen uns die ersten Autos mit eingeschaltetem Nebelscheinwerfer entgegen. Dann eine Strecke mit Sichtweite unter 30 Metern und dann wieder Aufklaren. Zum Meer hin liegt ein Grauschleier, durch den sich die Sonne nur als matte Scheibe zu erkennen gibt. Immer dichtere Nebelschwaden umfloren uns, als wir uns Cap d’Agde nähern. Im Ort selbst herrscht ein milchiges Licht, das die herrschaftlichen Villen der „Côte“ mit einem leichten Porzellanfirnis veredeln würde, nicht aber Cap d’Agde mit seinen unansehnlichen Betonbauten, deren Firnis dreißig, vierzig Jahre nach Fertigstellung allenthalben aus Schimmel besteht. Nicht im entferntesten ist etwas davon auszumachen, was Cap d‘Agde seinen Ruf eingebracht hat: Die Leute sind dem Wetter angemessen bekleidet, die Postkarten auch nicht pornografischer als anderswo (die enthemmtesten und abgedrehtesten dieses Ge nres gibt es im Clermonter Zeitungsladen, der sich wie der Traiteur in der Rue Doyen René Gosse befindet). Cap d’Agde steht nämlich europaweit für Nacktheit, grenzlose Blöße und seit Michel Houllebecqs Bestseller „Die Elementarteilchen“ auch für extremen Gruppensex in den Dünen. Cap d’Agde ist für Houllebecq so etwas wie die Apokalypse Europas, Sinnbild für (wie er das nennt) sozialdemokratischem Sex, der wiederum die vor- 261 letzte Schwundstufe des Menschseins verkörpert. Cap d‘Agde ist so gut in das kollektive Gedächtnis eingeführt, daß deutsche Urlauber, die hier (an der einzigsten Stelle der französischen Mittelmeerküste) statistisch wahrnehmbar auftreten, ihr „Cap d’Akt“ haben; möglicherweise ist deshalb der Ort zum Gravitationszentrum für Deutschtourismus fernab der beglaubigten germanischen Urlaubszonen geworden. Nebenbei bemerkt, funktioniert das Wortspiel mit dem Akt im Französischen nicht, weil „acte“ weniger mit den einschlägigen Konnotationen belegt ist: Zwar gibt es den „acte charnel“ (eine ziemlich priesterhafte Bezeichnung des Geschlechtsaktes), aber der Akt im Sinne von Aktaufnahme oder dergleichen wird – obwohl es auch „acte“ gibt – unverklemmter ausgedrückt als „nu gleich nackt“. Irgendwie scheinen wir Deutschen die Nacktheit von nackt kamoufliert zu haben, nicht durch Hinzufügung von Feigenblatt und sonstigen Schamblenden, sondern durch Weglassung, in diesem Falle des n und des c: nackt – (n + c) = Akt. Die Frage, die ich nicht zu beantworten weiß, lautet also: Ist das typisch deutsch? Ich neige zu einem: Ja, weil die Deutschen, die Bayern zumal, eher und bestimmter die (Leder-)Hosen fallen lassen als die Angehörigen anderer Nationen. München gibt es noch nicht mal in Paris, und das will was heißen. Gleichwohl ist der hier geübte Nudismus phänomenologisch nicht ausschließlich deutschen Ursprungs. Eher, könnte man sagen, handelt es sich um die kerneuropäische Variante einer zur Schau gestellten Nacktheit, die nur noch wenige nationale Standardabweichungen erlaubt, wobei ich hier von Selbstbloßstellung als Massenereignis spreche. Das ist in der Welt nicht unbemerkt geblieben: Die internationale Organisation „Transcultura“ lädt seit einigen Jahren afrikanische Ethnologen und Anthropologen ein, sich mit „fremdem Blick“ ein Bild europäischer Verhaltensweisen zu machen. Die Afrikaner registrieren dabei verhaltensauffällige Tatbestände. Zu ihnen 262 zählt aus afrikanischer Sicht an erster Stelle die Tatsache, daß Europäer gern Hunde ausführen und nackt am Strand promenieren. Strenggenommen gibt es im generischen Sinne fünf Modi der nackten Nacktheit. Es handelt sich dabei natürlich um Formen der willkürlichen, nicht der notwendigen Nacktheit. Diese letztere ist unvermeidbar: so die Nacktheit aus Kleidermangel oder aus klimatisch-kulturellen Gründen. Auch die situationsbedingte Nacktheit gehört dazu, zum Beispiel Nacktheit auf dem Seziertisch. Der Literaturnobelpreisträger Thomas Mann wollte in einem letzten Aufbäumen von Geschamigkeit verhindern, daß die Leichenwäscherin sein entblößtes Glied sehe; umstandshalber konnte er sich nicht durchsetzen, aber das ist ein anderes Thema, das uns hier nicht zu beschäftigen hat. Eine Sonderform der notwendigen Nacktheit bilden die Orgien. Hier ist man nackt, um Triebstau durch Zeitverlust zu vermeiden, oder anders gesagt: Zeitgewinn durch Kleiderlosigkeit zu erwirtschaften. Häufig finden deshalb Orgien nicht im vollständig entkleideten Zustand statt, sondern unter Anbehaltung der Socken, wie Praktiken in modernen Swingerclubs zeigen. Obwohl hier wiederum von Kennern der Szene geltend gemacht wird, daß es sich um eine Art der Kondomsierung handelt, geeignet, der Übertragung des gefürchteten Fußpilzes vorzubeugen. Aber zurück zu den Modi der nackten Nacktheit. Ich habe mir die Freiheit genommen, sie in der folgenden Denkschrift zu kategorisieren. Es sind dies: 1) der gewöhnliche Exhibitionismus: Ich habe den ersten Exhibitionisten bezeichnenderweise im München der 60er Jahre erlebt, als ich blondgelockter Jüngling, der ich war, eines Tages fürbaß die Isarauen entlangschritt. Es war ein kaum älterer junger Mann, an dem mir zweierlei bemerkenswert schien: sein "strotzend Glied" (wie der Dichter Apollinaire zu bemerken pflegte - ich hatte ja bisher nur schlaffe Fremdpenisse gesehen) und - damals ungewöhnlich - das 263 Rennrad, das er mit sich führte. Irgendwie hat die Oberstange des Gefährts in mir Assoziationen geweckt, die wieder auf das Zentrum der nackten Tatsache zurückverwiesen - Zufall oder intendierte Notwendigkeit? Davon abgesehen, war ich angewidert, entsetzt und betroffen. Ich machte ihm, das klingt zwar blöd, war aber die damals geläufige Form des Stinkefingers, den Vogel, und entfernte mich rasch. Der Exhibitionist verstand das entweder als Einladung (man bedenke den Hintersinn des Ausdrucks „Spatz“) oder war durch Gesten der Beleidigung einfach nicht davon abzubringen, sich weiterhin vor mir zu zeigen, setzte auf Wiederholung an anderem Ort, verhedderte sich aber beim Anziehen der Hose, fiel auf den Kopf und mußte den durch eine kurze Ohnmacht erlittenen Zeitverlust wieder wettmachen (deshalb wohl das Rennrad). Er überholte mich auf dem Parallelweg, um sich mir in der nächsten Lichtung wieder in voller Pracht und mit dem von ihm sicherlich intendierten Überraschungseffekt zu präsentieren. Die Wissenschaft hat inzwischen festgestellt, daß Exhibitionismus sozusagen nur die Einstiegsdroge zu noch schwereren bis hin zu unaussprechlichen sexuellen Verfehlungen darstellt. Insofern war mein damaliges Tun oder eher NichtTun in höchstem Maße fahrlässig. Ich hätte ihm das Vergnügen der Anschauung seiner Geschlechtlichkeit bereiten sollen, was ihn vor dem Abstieg in die gefährlicheren Zonen der Lust bewahrt hätte, in die er nach wissenschaftlicher Meinung unweigerlich geraten ist. Aber wäre für mich nun wiederum kalkulierbar gewesen, mit welcher Blicktechnik und mit welchem Zeitaufwand die befriedigte Erschlaffung bei ihm eintreten würde? Und die wichtigste Frage, heideggerisch gesprochen: Geht es bei gegebener Seins-Mächtigkeit des Ge Mächtes um seine bloße Vorhandenheit oder nicht vielmehr – igitt – auch Zu(r)handenheit, um den Exhibitionisten beim lustvollen Abschluß seines Begehrs zu unterstützen? Ich weiß es bis heute nicht und will es auch nicht wissen. Auf jeden Fall sollte man sich vergegenwärtigen, daß der Exhibitionismus unter das Verdikt des Hl. 264 Paulus fällt, der bekanntlich sagte: "Darum hat sie Gott auch dahingegeben in schändliche Lüste. Denn ihre Weiber haben verwandelt den natürlichen Brauch in den unnatürlichen. Desselbigengleichen auch die Männer haben verlassen den natürlichen Brauch des Weibes und sind aneinander erhitzet in ihren Lüsten, und haben Mann mit Mann Schande gewirket und den Lohn ihres Irrtums (wie es denn sein sollte) an sich selbst empfangen.“(Röm 1,1) Vielleicht an dieser Stelle aus gegebenem Anlaß (aber nicht so recht passend, ich weiß) eine Anmerkung zu den Bibelausgaben. Das Zitat entstammt dem saftigen Luther'schen Original. Das ist nicht zu verwechseln mit den heute gehandelten Bibelübersetzungen nach Martin Luther und schon vollkommen inkompatibel mit der sogenannten Einheitsübersetzung, wo es heißt:: "Darum lieferte Gott sie entehrenden Leidenschaften aus: Ihre Frauen vertauschten den natürlichen Verkehr mit dem widernatürlichen; ebenso gaben die Männer den natürlichen Verkehr mit der Frau auf und entbrannten in Begierde zueinander; Männer trieben mit Männern Unzucht und erhielten den ihnen gebührenden Lohn für ihre Verirrung." Hier kommen die sexuellen Minderheiten zwar etwas besser weg als bei Luther, aber es handelt sich um eine jener skandalösen Verharmlosungen, die besonders ärgerlich sind, wenn wie im Hohelied Salomos die Zartheit der Stimmungsbilder brachial entstellt werden, als hätten sich die Übersetzer jene Weisheit Otto Weiningers zu eigen gemacht, die da lautet: „Es gibt nur ‚platonische Liebe‘. Denn was sonst noch Liebe genannt wird, gehört in das Reich der Säue.“ Aber schnell zurück zur Nacktheit als Zustand und Prozeß. Denn es gibt: 2) den Wiederholungszwangstatbestand (ein schwieriges Wort für einen noch schwierigeres Phänomen): Der nackte Jörg aus Frankfurt-Sachsenhausen entledigte sich eines Tages, als er nur der Jörg und noch nicht der nackte Jörg war) seiner Kleider und muß es seither immer wieder tun. Er gab vor der Polizei, die ihn anfänglich wie- 265 derholt sistierte, an, daß seine Haut keine Textilien vertrüge. Die Haut des Jörg verträgt heute - nach vielen Jahren - immer noch keine Kleider, aber die Obrigkeit ist unterdessen nacktheitsverträglicher geworden, und so spaziert der nackte Jörg im Adamskostüm, nur bekleidet mit einem Walkman, der sein Ohr vor beleidigenden Kommentaren schützt, unbehelligt durch die Straßen auch außerhalb Sachsenhausens - er wurde schon in einem Supermarkt im Westend sowie in der Nähe des Zoos gesichtet, vermeidet aber offensichtlich Uferpromenaden mit gebüschartigen Holzgewächsen, welche bekanntlich die Glacis für richtige Exhibitionisten bilden, mit denen der nackte Jörg aus Gründen des Selbstschutzes nicht verwechselt werden will. Der nackte Jörg zählt zu denen, die dem Wiederholungszwang ausgeliefert sind. Die Behauptung einer Kleiderallergie ist dabei keineswegs als Schutzbehauptung zu werten. Wiederholungszwangstäter (ich bin mir der Fragwürdigkeit des Epithetons „Täter“ bewußt) ereilt früher oder später tatsächlich das, was sie als Motiv ihres Handelns rationalisieren. Die Exhibitionismusforschung, die sich zunächst zuständigkeitshalber, dann aber auch unzuständigkeitshalber mit der zwanghaft-begierdelosen Nacktheit beschäftigt hat, ist zu dem zweifelsfreien Ergebnis gekommen, daß bei manchen Neo-Nackten die klinische Kleiderallergie schon beim ersten Abwerfen von Kleidungsstücken virulent wird. Ihre Haut wehrt sich schon von Anbeginn mit neurophysiologischen Symptomen gegen das, was der Kopf zuvor abgelehnt hat. Diese Emergenz der Kleiderallergie ist in der Allergieforschung noch das allerdunkelste Kapitel. Der Befund leitet über zur 3) programmatischen Nacktheit: Sie kann nicht sehr trennscharf von 2) unterschieden werden, denn Kunst und Ethik sind begrifflich so weit gefaßt, daß man im Falle der Kunst nach einem Jahrhunderte währenden Streit um Definitions- und Abgrenzungsfragen erst kürz- 266 lich zu dem Ergebnis gekommen ist, daß alles Kunst sei. Mit der Ethik verhält es sich nicht viel anders. Als ethisches Verhalten, das ohnehin schon seit längerem das moralische Gebot des richtigen Handelns abgelöst hat, gilt heute, daß man sich bei seiner Entscheidung sowohl für A und gegen B als auch für B und gegen A ihrer Äquivalenz bewußt ist und von daher immer falsch, dafür aber eingedenk der Problematik handelt. Die Universalisierung von Ästhetik und Ethik vereinfacht die Sache, erledigt Abgrenzungs- und Definitionsbemühungen, und so kann beispielsweise der Nacktkünstler Melem Kaschmir aus Berlin, der sich bis auf einige winzige körperliche Details in nichts von dem nackten Jörg unterscheidet, seine Nacktheit zur Kunst erklären. Aufgemerkt aber: Er erklärt nicht seinen Körper zur Kunst, das wäre ihm zu billig, gewissermaßen Kunst light. Es ist die Nacktheit als Vorgang und als Zustand, die werkhaft und ergebnisbezogen zum Kunstwerk wird. Deutlich wird das in der Aktionskunst, dem Orgien-Mysterien-Theater, bei dem die Ankündigung bereits zum Vorgang gehört, weil sie Aktionen auslöst (Polizeieinsatz, gerichtliche Verbote und die Transgression derselben). Darin besteht der Unterschied heutiger Ethiker und Ästheten der Nacktheit zu den Rousseauisten, Barfuß- und Nacktapostel früherer Zeiten: Diese wollten ein besseres Leben, jene wollen ihre Körpergrenzen erweitern, in unbekannte, ja widerständige Zonen vordringen. Vincent Bethel aus Coventry beispielsweise, der Begründer der Bewegung „Freedom to be yourself“, pflegt seine Nacktheit immer in der öffentlichen Auseinandersetzung. Er braucht viele angezogene Menschen, er braucht die Bühne des städtischen Lebens, ja er braucht den polizeilichen Übergriff (möglichst unter der Gürtellinie, äh, pardon: unterhalb des Nabels) um seine Nacktheit sichtbar zu machen. Der radikale Flügel der Bewegung, deren Mitgliederzahl sich im letzten Jahr rasant von zehn auf zwanzig verdoppelt hat, betrachtet Nudität als konsequente Konsumverweigerung, auch dies nicht im Sinne von Barfüßlern, sondern im Sinne eines radikalen 267 No-label-Verständnisses: Wo keine Hülle ist, werden Designerlogos gegenstands- und ausdruckslos. Wie fragil indessen das Selbstverständnis der „Freedom to be yourself“-Bewegung ist, zeigt die heiße Diskussion um die Frage, welche Rolle den Plakaten (Mit Inschriften wie: „Get naked in public“) zukommt, die man sich in SandwichManier umhängt. Die einen sagen: „Wir brauchen das, um uns Ausdruck zu verschaffen.“ Für die anderen dient es als Unterscheidungsmerkmal zum gewöhnlichen Exhibitionismus. Einig ist man sich nur darin, daß die Plakate entscheidende Merkmale der Körperlichkeit tunlichst unverhüllt lassen. Für die allerradikalste Fraktion, die aus Russel Higgs und einem weiteren Mitstreiter besteht, sind solche Fragen Lappalien. Russel Higgs hat vor kurzem angekündigt, daß er jetzt seinen ganzen Leib und nicht mehr bloß seine nackte Hülle einzusetzen gedenkt, er will, sagt er, einen unbegrenzten Hungerstreik führen. Besonders bedenklich ist die Nacktheit, die sich der Freiburger Psychotherapeut Peter N. auf die Fahnen geschrieben hat. N. gibt sich als Vorkämpfer des Nacktläufertums aus, bestreitet aber bei forensischem Nachverfolg seiner Nackthandlungen, nackt gewesen zu sein – vielmehr habe er stets die entscheidende Blöße mit einem fleischfarbenen Strumpf verhüllt. Der mangelnde Bekennermut bei stark exhibitioniertem Berufethos legt nahe, daß es sich um den Grenzfall folgender Nacktheit handelt: 4) der psychiatrischen Nacktheit: Dazu zählt die zwanghafte, aber schubweise Entledigung der Kleider ohne Lustvorsatz. Ich habe davon mal im Zusammenhang mit einer entfernten Verwandten gehört, die bisweilen auf Familienfesten Flitzertum avant la lettre betrieben hat, ohne daß dies – wegen einer gewissen Unansehnlichkeit ihrer körperlichen Fülle - auch nur stillschweigendeste Zustimmung von erwachsenen Gästen männlichen Geschlechts gefunden hätte. Die entfernte Tante wurde jeweils nach einer solchen Aktion nach Merzig (dem Sitz der saarländischen Irrenanstalt) entfernt, kam 268 aber alsbald immer wieder als harmloser Fall in Freiheit, so daß sie ihr selbstentblößendes Treiben bei nächster Gelegenheit fortzusetzen in der Lage war. Nähere Umstände und klinische Befunde sind mir nicht bekannt. Anders der Fall von Tobias L., der sich nackt durch Feld, Wald und Fluren im Bergwinkel, der geografischen Überlappung von Vogelsberg, des Spessart und der Rhön, bewegt, und der einmal (es war einer dieser üblichen Ostermontage mit Schneeregen und Höchsttemperatur um die vier Grad) nackt auf dem Fahrrad an unserem Haus vorbeifuhr. Tobias L. ist ein klassischer Fall für die Anhänger der Ödipustheorie. Als Sohn eines Kleiderfabrikanten in Fulda will er zweifelsfrei mit seiner Kleidung den Vater abtöten, um sich dann - wieder zu Hause angekommen - in Rock und Bluse gekleidet seiner Mutter zu nähern. Es ist auch nicht ausgeschlossen, daß er mit seinem Verhalten - lacanianisch gesprochen den großen Anderen treffen will, das heißt: den ekklesianischpolitischen Komplex, für den die Bischofsstadt Fulda steht, wo lange Jahre der hinreichend bekannte Erzbischof Dyba wirkte. Jürgen Langhoff, ein angeheirateter Verwandter Hagen Knotterbecks, der als Psychiater in Sindelfingen wirkt, weiß von ähnlichen Fällen zu berichten. Patienten mit diesen Symptomen stammen seiner Beobachtung nach aus bestimmten Gegenden der Schwäbischen Alb, wo noch ein ungebrochener Traditionalismus herrscht. Oft - so Jürgen - gehen die vergleichsweise harmlosen Merkmale einher mit tieferen Störungen, z.B. das, was die Wissenschaft ekklesiogene Verhalte nennt, Verhalte, die den Durchsatz durch den Harnleiter, den Enddarm und/oder den Samenleiter betreffen können. Doch nun endlich zu 5) der Freikörperkultur, der pathologischsten aller Nacktheitsformen: Sie ist fast zum Allgemeingut geworden - nationale, rassische, kulturelle Unterschiede bestehen nicht mehr. Sie, geneigter Leser, sind 269 nicht mehr imstande, am Nacktbadestrand zwischen Franzosen, Deutschen oder Schweden zu differenzieren. Allenfalls Engländer und Belgier fallen noch durch differentiae specificae auf: die einen durch eine gewisse steife Haltung (die sich auf den Körper, nicht auf einzelne Körperteile bezieht) und die Belgier durch eine gewisse Schamblendenhaftigkeit (sie lassen gerne die Hände oder irgendwelche Utensilien vor dem Schambereich baumeln; dazu paßt, daß in Belgien erst seit diesem Sommer an einem einzigen etwa 30 Meter breiten Strand nackt gebadet werden darf). Früher konnte man im Frankfurter Umland noch Frankfurter und Offenbacher unterscheiden, letztere pflegten - als Herren - der Vokuhila-Mode zu folgen (nur auf die Kopfhaare bezogen) und - als Damen - zebragestreift zu gehen (auch nur auf die Haupthaare bezogen, obwohl bicolore Schambehaarung schwer im Kommen ist). Da konnte schon einmal ein Frankfurter sagen: „Du Offebächer du, geh‘ mir aus der Sonn‘.“ Heute ist das unmöglich, da sind sich Frankfurter und Offenbacher selbst in voller Montur gleich. Das einzige Unterscheidungsmerkmal ist und bleibt (soweit sie im Auto unterwegs sind) das Nummernschild, und das wird auch immer noch gern ausgekostet. So machte sich der Fahrer einer Frankfurter Straßenbahn, die von einem PKW mit Offenbacher Kennzeichen blockiert wurde, dadurch Luft, daß er zur denkbar größten Beleidigung griff und ausstieß: „Sie Offebächer, Sie!“ Aber zurück zur Nudität. Etwa 25 Millionen Kerneuropäer baden nackt, und da ist man zu sagen geneigt: Soviele Nackte können nicht irren. Und doch wird man bei näherem - jedoch nicht allzu nahem - Besehen die Feststellung treffen müssen: Sie irren allesamt. Aus einem einzigen Grund, den ich in eine Frage kleiden (!) will: Warum sollte man sich ausziehen? Was daran ist, wie behauptet, so natürlich? Kehren wir denn auch zum Säuglingsgeplapper zurück, weil uns die auf der Sprache basierende Ausdrucksweise weniger förderlich erscheint als unartikuliertes Geplapper? Ontogenese, sagt Dionys Kallaengoulberck (auch er ein entschiedener Antinudist) ist 270 eine Einbahnstraße. „Oder kannst du dir vorstellen“, hat er mich mal gefragt, „daß wir die Badehose gegen eine Windel austauschen, um uns schließlich nach einer Entwöhnungsphase gänzlich nackert zu geben? Packt man die Nudisten beim ...na ja: Wort, dann wären am Strand nur noch Greise zugelassen.“ „Außerdem“, fuhr Dionys Kallaengoulberck fort, “sollte der große Skandal der Natur, den Heinrich Heine dereinst wie folgt auf den Begriff gebracht hat: ‚Was dem Menschen dient zum Seichen, / Damit schafft er Seinesgleichen‘, sollte also dieser Skandal tunlichst verhüllt werden.“ Recht haben sie, Dionys Kallaengoulberck und Heinrich Heine. Aber der größte Einwand gegen die Nacktheit besteht in der bloßen (sic!) Feststellung: Nacktheit ist in idiotischer Weise blöd, weil das Hose- oder das Höschen-Fallen-Lassen reine Selbstbezüglichkeit bedeutet, ein „acte gratuit“ (schon wieder Akt), mutwillig, uninspiriert, idiotisch im heutigen und in der alten Griechen Sinne. Doch damit nicht genug: Der Kieler Philosoph Hermann Schmitz, ein großer Einzelgänger der Zunft, der sich als einziger neben Sartre, aber viel umfassender als dieser, dem Komplex der Defäkation, oder weniger wissenschaftlich: dem Stuhlen angenommen hat, weist auf eine Eigenart der deutschen Sprache hin, die geeignet ist, die ostentative Nacktheit bloßzustellen: Die deutsche Sprache unterscheidet zwischen Körper und Leib. Leib ist, folgt man Schmitz, das, was man an sich erlebt, sich einem von sich mitteilt, die Regungen, denen man ausgesetzt ist, wie Hunger, Durst, Angst, aber auch Wollust und Behagen; Körper dagegen das, was gesehen wird und das man zur Schau trägt. Zu früheren Zeiten war die Trennschärfe noch größer: Da galt der Körper cum grano salis als etwas Lebloses, als äußerliche Hülle - die Übersetzung des Corpus Christi lautet ja folgerichtig Leib Christi und nicht despektierlicherweise Körper Christi (obwohl es den, vorausgesetzt der historische Jesus war existent, auch gegeben hat). Ähnlich wie Schmitz weiß als guter Phänomeno- 271 loge auch Michel Henry von der Universität Montpellier um die Dualität der körperlich/leiblichen Erscheinung: Der Körper („corps“) ist zunächst das, was uns als Objekt der Welt erscheint, was sichtbar ist, die gewissermaßen dingliche Dimension; das, was Henry dagegen als “corps vivant” bezeichnet, ist das Erleben meiner körperlichen Möglichkeiten, das Empfinden des Fühlens und Wollens. Die Frei-Körper-Kultur bezieht sich demnach allein auf den Körper, man zeigt sich, stellt sich aus, und der Nackte ist wie ein Hohlblockstein, nicht so hart und rauh, in jedem Fall aber hohl. Aber was noch wichtiger ist: Der Körper wird durch sein Posing disponibel gemacht, ja fragmentarisiert, und so sind Schönheitschirurgie, Organentnahme sowie Transplantation bis hin zur völlig beliebigen Neukombination (Dreiarmigkeit oder Ohrennasigkeit), auch das Ausweiden (Resteverwertung im Separator) durchaus anschlußfähig an die Freikörperkultur. Das Humanum des Menschen verschwindet hinter seiner Körperlichkeit, und allein die sympathische Arglosigkeit, die in der organisierten Nacktheit angelegt ist und darin besteht, daß dem universalen Genußimperativ des “Du Darfst” in größter Unbedingtheit ein “Aber faß’ mich nicht an” folgt, hindert mich, für ein generelles Verbot sämtlicher Nacktheit zu plädieren. Was aber unbedingt mit einem generellen Verbot, na ja, wenigstens Ächtung, belegt werden müßte, ist der Exhibitionissimus, der Superlativ des Exhibitionismus. Der Exhibitionissimus besteht im Rasieren und Epilieren, im Extirpieren und Eliminieren der Körperbehaarung und im anschließenden Polieren und Makadamisieren der so grundgereinigten Oberfläche. Ich zähle dazu Entfernen der Achsel-, Schamund Kopfbebehaarung, im harmlosesten Falle den „brazilian cut“, im fortgeschritten Stadium die Ganzkörperglatze, auf der sich – „les extrêmes se touchent“ – Prüderie und Entblätterungszwang in puris naturalibus ein Stelldichein geben. 272 Die Überlegungen zur Nacktheit sind jetzt alles in allem etwas zu lang geraten, deshalb referiere ich die wichtigsten Eckpunkte (unter Auslassung zu direkter Passagen) der Familie Jarim, doch weder Hagen noch die Kinder zeigen sich sonderlich interessiert; Nachfragen, die ich insbesondere von den Kindern erwartet habe, werden nicht gestellt, und da wir solchermaßen mit der Nudität nichts am Hut haben, gehen wir auch nicht zu Europas zweitgrößtem Nacktbadestrand, sondern halten fest, daß uns der Hinweis mit dem Zeigestock der Exhibitionisten unbeeindruckt läßt und entsprechende Fälle der Fürsorge der Staatsgewalt überantwortet werden sollen. Die nackten Jörgs dagegen, die Melems, wollen wir nackt sein lassen und Patienten wie Tobias L. jene „professionelle Betreuung“ empfehlen, die heute die unterschiedlichen Angebote vom Beichtstuhl angefangen über die Verhaltenstherapie bis hin zur Einweisung in die Klapse umfaßt. Weil die Wolken sich am Mont St Loup verfangen und das Cap in undurchdringliches Grau hüllen, verlassen wir den Ort der unsichtbaren Nacktheit und fahren weiter westlich nach Grau d'Agde, wo der Hérault ins Meer mündet. So ungefähr stelle ich mir Vororte von Lima vor, das gleiche Klima, der Nebel, die Luftfeuchtigkeit, das kalte, ganz und gar nicht subtropische Meer. An und für sich gar nicht mal so schlecht, nicht so urlauberhaft wie Cap d'Agde, nicht so erdrückend wie La Grande Motte, nicht so aufdringlich wie Grau du Roi und nicht so abgeschmackt wie die Neu-Venedigs an der Côte d’Azur. Wir gehen zum Strand, wo sich heute die Passanten und Liegegäste witterungsbedingt ungewöhnlich zugeknöpft geben. Die Kinder scheuen das Wasser jedoch nicht, werden aber nach einer Viertelstunde von freundlichen Wächtern herauskomplementiert - inzwischen hat die rote Fahne an der Station Badeverbot signalisiert. Hier gibt es nichts zu besichtigen (selbst wenn wir wollten), nichts, das zu weiteren Unternehmungen anregen 273 könnte (wir haben auch keine Ideen, was für welche), also folgen wir einmal mehr stoffwechselbedingten Erfordernissen und finden uns alsbald im "La Pergola" ein (18, quai C. Méric, Tel. 0467948390). Welch eine Überraschung, die „Pergola“ ist bei moderaten Preisen wirklich mehr als passabel, passabler, als man es in diesen Breiten vermuten könnte. Der Kellner, vielleicht ein nebenamtlicher DJ, der im „Club Tahiti Beach“ am Naturistenstrand auflegt, vielleicht aber auch ein Student des Maschinenbaus aus Montpellier, ist auffallend freundlich, beflissen, schäkert mit den Kindern, zieht sämtliche Register, die ein Kellner, dem ein gutes Trinkgeld zusteht, so drauf haben muß. Wir essen Fischplatte mit allem, was das Meer bietet, fragen uns auch nicht, was wohl hier von der Küste und dem Golf von Lyon, und was von der Mangrovenküste Brasiliens und den Fischgründen vor Wladiwostock und Neufundland stammt, es schmeckt gut, und wir zahlen für dies und eine Menge von Getränken 40 Euro. Wäre das Wetter besser gewesen, hätten wir auf einer Ponton-Terrasse auf dem Hérault dinieren können, so essen wir geschützt in einem jener Aquarien, die jedem Restaurant hier vorgebaut sind, geschützt vor dem Wind und den heute bekleideten Passanten, die vielleicht morgen schon wieder die Kleider fallen lassen. Wir kehren nach Péret zurück, im Nieselregen, der sich jetzt eingestellt hat, in diesem Sommer, der - so Madame Simone - so "exceptionelle" ist, wie es noch keiner war, und der gleichwohl den Vorteil hat, daß noch nie in den letzten dreißig Jahren so viele Leute so wenig nackt waren. Samstag, 15. Juli Über Nacht ist es richtig heiß geworden. Ein leichter Wind kommt direkt aus Afrika und vertreibt die Wolken aus dem Midi. Die Zika- 274 den haben einiges nachzuholen, sie kreischen wie noch nie gehört. Der Pirol schlägt seit den frühen Morgenstunden an, die Spatzen schilpen, die Haubenmeise (oder ist es ein Mittelmeersteinschmätzer mit Windhaube?) trällert ihr Lied, selbst die Ameisen zeigen wieder verstärkte Aktivitäten (sie werden doch nicht...?). Aber uns Zweibeinern schlägt die plötzlich aufflammende Hitze aufs Gemüt. Von mir abgesehen, der (wie Hagen Knotterbeck behauptet) bedenkliche Symptome einer senilitätsbedingten Bettflucht zu erkennen gibt, kommen die Jarims nicht so richtig in Gang. Gleiches gilt für Dionys und Messali, von denen nichts zu sehen ist. Ich nutze die witterungsbedingte Abneigung gegen urlaubsgerechte Betätigung, um mich über Giorgio Agambens Buch herzumachen. Agamben konzentriert sich auf die Römerbriefe und präpariert sehr schön die paulinische Kritik des Gesetzes heraus. Es geht Agamben um die Erhellung des Widerspruches, der sich bei erster Lektüre ergibt zwischen dem sozusagen „alttestamentarischen“ Römer 7,12 („So ist also das Gesetz heilig, und das Gebot ist heilig, gerecht und gut“) und dem „neutestamentarischen“ Römer 10,4 („Christus ist des Gesetzes Ende; wer an ihn glaubt, der ist gerecht“). Agamben schlägt nun - wenn ich das in der Eile richtig sehe - eine Lektüre vor, die um den griechischen Ausdruck „kartagein“ kreist, ein häufig in den Episteln verwendetes Wort, was soviel wie „verfallen“, „in-aktiv werden“ bedeutet. Dieses „kartagein“ - das Gegenteil von „energein“ (das wiederum den Sprachstamm von Energie bildet), entbindet den Gläubigen vom Gesetz, aber nicht, um ihn in die Gesetzeslosigkeit zu treiben, sondern um ihn in der Position der Schwäche empfänglich zu machen für das Evangelium, was ja nichts anderes als frohe Botschaft heißt. Die Inversion des Gesetzes und der Gesetzesgläubigkeit - und das ist für Agamben das absolut Neue an Paulus - setzt die subversive Kraft des Christentums, die Stärke seiner Schwäche, frei. „Für Paulus“, schreibt Agamben, „er- 275 schöpft sich die messianische Kraft nicht in seinem ‚ergon‘, vielmehr erhält diese sich in der Form der Schwäche.“ Das ist es, durchfährt es mich und ich fühle mich plötzlich gar nicht mehr schwach und schlaff, neige nun dem „energein“ statt dem „kartagein“ zu : Man muß die Kohldepps dieser Welt nicht mit dem dicken Knüppel der Zurechtweisung und des Verbotes schlagen, nicht mit dem Hammer der Kritik und nicht unter Anrufung des Wohlfahrtsausschusses, wir müssen sie eher aus der Position der Geschehenlassenden destabilisieren, für die Geschichte erledigen, um so die kommenden Generationen vor ihnen in Schutz nehmen. Wir haben uns ja zu umstandslos das biologistische Menschenbild des „survival of the fittest“ angeeignet. „Ganz falsch“, werde ich nun deutlicher lauter und springe in meinem Enthusiasmus vom Stuhl auf, „wir sind stark durch unsere Niederlagen, durch unsere Fähigkeit, die Strategien des Gegners im buchstäblichen Sinne zu durchqueren.“ „Du durchquerst nichts“, sagt Mme Knotterbeck, die unvermutet hinter mir auftaucht, „heute ist unser letzter Tag, da bleibst du doch hoffentlich hier und machst uns was Schönes zu essen.“ In der Tat, morgen ist Abreisetag; ich durchquere ein letztes Mal das Dorf (das gesteht mir Hagen zu), verabschiede mich von Madame Simone, die mich für heute in ihr Haus in der Rue Pierre et Marie Curie bestellt hat. Das birgt ein gewisses Risiko für sie, einen "jungen" Mann zur Verabschiedung in der Wittib Haus zu lassen; ich kann mir vorstellen, wie sich ihre Klatschtanten darüber das Maul zerreißen könnten. Deshalb fühle ich mich geehrt, kann es gar nicht fassen, daß unsere Beziehung, die sich in den letzten Tagen und Wochen aufgebaut hat, auf diese Weise ihre Vollendung erfährt. Die Nummer 10 ist ein schmales Gebäude, im Erdgeschoß: der Salon und die offene Küche; drei Zimmer insgesamt in den oberen beiden Stockwerken, die ich aber schicklicherweise nicht zu sehen bekomme. Dafür zeigt mir Madame Simone alles, was sich im Kühlschrank und der Gefrier- 276 truhe befindet, voller Stolz auf ihre Beute. Der Inhalt stammt nämlich von richtigen Beutezügen, nichts ist gekauft, alles "mitgebracht", "organisiert", "getauscht", „geschenkt“: die Forellen "von einem Copain", das Boeuf aus der Auvergne "von ihrem Sohn", das Wildbret "von einem Freund ihres Mannes, der ihm noch was schuldig ist", die Tomaten "geschenkt vom Nachbarn", die Bohnen "selbst geerntet im Garten des anderen Nachbarn, der sich in Urlaub befindet", die Auberginen "eingetauscht gegen Selbstgebackenes". Ich verkneife mir die Frage, ob es nicht vielleicht was gibt, das auf unredliche Weise in ihren Besitz gelangt sein könnte. Madame schenkt mir „Croquets du Roussillon“, das sind kleine Hartekuchen aus Mandeln und gleich ein handgeschriebenes Rezept obendrein, dazu ein Glas selbstgemachte Pfirsichkonfitüre. Sie preist die milden Gaben ganz unbescheiden in den höchsten Tönen - wie immer, wenn sie von Eßbarem spricht, unterstreicht sie ihre Ausführungen mit einem genießerischen Zungenschlag über ihren Dreitage-Oberlippen-Damenbart. Ich bin ganz gerührt von den kleinen Aufmerksamkeiten, gerührt von der Bescheidenheit, die dieses stille Anwesen ausstrahlt. So geht es also auch, denke ich mir, man muß nicht alles haben, und auch die geringsten Kleinigkeiten machen es wert, hernieden achtbar zu wandeln. Armut, Bescheidenheit bilden keinen Gegensatz zu einem Leben in Menschenwürde, im Gegenteil, rede ich mir ein, sie bilden sogar die Voraussetzung zu einem solchen. Schlimm ist allenfalls das Elend, die Verkommenheit und Selbstaufgabe, aber die sind nicht von den Einkommensverhältnissen abhängig. Wo jene herrschen, ist der Gesellschaft keine Zukunft beschieden. Es ist die im wahrsten Sinne des Wortes nicht gesellschaftsfähige Haltlosigkeit, das Verschlampte und Verkommene, das Pöbelhafte und Verrottete, das auf dem Vormarsch sich befindet und allenfalls von der authentischen Armut gestoppt werden könnte. 277 Der infame Mensch, den Michel Foucault für die Zeit des Ancien Régime in einer kleinen Studie untersucht hat, kehrt in unsere Zeit zurück. Er trägt die Züge holländischer und Schweizer Raver, inkorporiert sich in den Kohldepps und offenbart sich in den verwahrlosten Hausfrauen, die bei McDo ihre Familienpflichten vernachlässigen. Aber nirgendwo geben sie jene schwarzen Helden ab, deren anstößiges und erbärmliches Leben noch gut war für die Partituren der Märchen, Sagen und Legenden. Sie sind aber auch keine "unwesentlichen Existenzen" mehr, wie Foucault sagte, sie sind im Gegenteil dabei, wesentlich zu werden. Seltsamerweise macht sich die Verkommenheit deshalb breit, weil sie der Armut entkommt. Und ergriffen von diesem Gedanke denke ich: Solange es Menschen wie Madame Simone gibt, die sich in ihren Hier und Jetzt bescheiden und dabei glücklich sind, und Leute wie mich, denen solche Kaliber wie die Kohldepps ein Greuel bedeuten, solange besteht noch Hoffnung für die Menschheit. Da erzählt mir Madame Simone, daß sie in zwei Wochen nach Martinique fliegt, mit einer Freundin, vierzehn Tage Urlaub in einem Vier-Sterne-Hotel verbringt, und wenn es ihnen gefällt, geht’s nächstes Jahr nach Tahiti. Au Backe und au revoir Madame Simone, et bonnes vaccances. Die Auskunft über ihre Urlaubsvorhaben hat mich natürlich nicht gerade erheitert. Und dann auch noch, als ich zurück bin, die langen Gesichter rund um den Tisch. Ist was passiert? Sehe ich richtig? Ja kein Zweifel, die Ameis en formieren sich wieder. Ich bin tief enttäuscht von mir, der chemischen Industrie und Mark Twain. Aber sage ich, Cater Jarim, der ich gerade wieder einmal einer Täuschung ent-kommen, also ent-täuscht bin: Uns kann es doch letztlich egal sein, was die Ameisen zu tun gedenken, morgen sind wir weg. 278 Weg? Ja, der Urlaub geht jetzt unweigerlich seinem Ende zu. Die Kinder sind bedrückt, Hagen ist noch knottriger als sonst, Dionys und Messali wirken einsilbig. Es aktualisiert sich die Frage, die uns Sie erinnern sich? - schon letzten Sonntag begegnet war: Haben wir die Flemm'? Für Nichtsaarländer muß man dieses Gefühl, das in Wirklichkeit nur Saarländer kennen, übersetzen. Die Flemm' ist eine periodische Abkehr der Heiterkeit, die dem Saarländer, wie es Außenstehenden zu Unrecht erscheinen mag, in essentieller Weise zu eigen ist. Doch es handelt sich nicht um einen bloßen Heiterkeitsverlust - man muß schon genau hinsehen, wenn einer die Flemm’ hat. Um also präzise zu sein: Ich habe als einziger die Flemm‘, die Kinder allenfalls in einer Dosierung, die ihnen gemäß den Mendelschen Gesetzen zukommt. Alle anderen haben Depressionen oder sonst was Unappetitliches. Es trifft sich schlecht, daß ausgerechnet in dieser Woche der „Nouvel Obs“ eine Definition der "flemme" in einen launigen Artikel verpackt: "Es ist Sommer“, schreibt der Autor, „Zeit der Siestas, des Rosés und der schweren Verdauung. Ihre, lieber Leser, Augenlider wiegen zwei Tonnen, Ihr Geist ist so munter wie eine alte Sandale, und was mich betrifft, der ich hier vor der Schreibmaschine sitze, ich fühle mich so lebendig wie eine ölverklebte, mit Tranquilizern behandelte Qualle. Das nennt man die 'flemme', die Krankheit des Augenblicks." Ich bin davon überzeugt, daß an dieser zeitgemäßen französischen Fassung der Flemm' so gut wie alles falsch ist. Sie bildet (obwohl Flemm' durchaus ethymologisch von „la flemme" abstammt) so etwas wie die Negativfolie zu der eigentlichen Flemm'. Erst, wenn man tief hinabsteigt und dem Ausdruck "la flemme" (der wörterbuchvereinfachend mit "Faulheit" wiedergegeben wird) an die Wurzel geht, ihn sozusagen einer Wurzelbehandlung unterzieht, kommt ein Bedeutungshalo zum Vorschein, der uns zur richtigen Flemm' führt. „La flemme" nämlich stammt von "flemma" ab, dem 279 italienischen Phlegma. Phlegmatisch aber kann nur der Franzose sein, der Saarländer ist eher melancholisch, bezieht in einem Akt überdrehter Selbstreflexion noch einen lustbetonten Umgang aus seinem Trübsinn, anders gesagt: erwirtschaftet aus dem elegischen Ennui, der ihn zuweilen oder auch oft befällt, einen Restgewinn an Lebensintensität. Die Flemm’ ist nichts anderes als ein luxurierender Weltschmerz, „la flemme“ dagegen Lethargie. Der Franzose sagt: „Honni soit qui mal y pense“. Der Saarländer dagegen: "Honn ich heit di Flemm‘“. Damit bekundet er einen an sich ungelegenen Gemütszustand und bezieht aus der Bekundung selbst einen Lustgewinn. Die Flemm' ist transzendental, la flemme ziemlich franzosenhaft flach, so harmlos, ach was, hinterhältig wie die Syphilis in der Form des kleinen Franzos'. Ich bin im Gegensatz zu den anderen Jarims und den beiden Freunden jedoch weit davon entfernt, mich schicksalsergeben in den Tagesablauf zu fügen. Und ich habe bereits eine Idee zur Ge staltung des heutigen Tages. Sie ist - zugegeben - nicht aus dem Bauch heraus entstanden, sondern von der heutigen Ausgabe des "Midi libre" inspiriert. Dem Blatt zufolge haben gestern überall im Land viele kleine und große Franzosen der Aufforderung ihrer Regierung Folge geleistet, am Nationalfeiertag ein Riesenpicknick entlang des "grünen Meridians”, auszurichten. Der grüne Meridian wiederum ist eine Baumreihe, die entlang des zweieinhalben Längengrades, der durch Paris führt, vom Pas-de-Calais im Norden bis zu den Ostpyrenäen entstehen soll. Die Idee ist so vollkommen beknackt, daß ihr nur im zentralistischen Frankreich Aussicht auf Erfolg beschieden ist: Am "incroyable pique-nique", dem unglaublichen Picknick zur Promotion des grünen Meridians, haben sich gestern 337 Kommunen beteiligt, und die Einzelheiten der unglaublichen Veranstaltung sind von Mal zu Mal unglaublicher: Da gab es eine unglaubliche Tafel, unglaubliche Buffets, unglaubliche Degus- 280 tationen, unglaubliche Wettkämpfe und so weiter und sofort. Unglaubliche 600 Kilometer Tischtuch hat der "Midi libre" ausgemacht, es ist einfach unglaublich. Das Ungeheuerliche des Ereignisses, dem wir leider nicht beiwohnen konnten (der grüne Längengrad führt nicht durch Cap d'Agde, aber wie wäre es mal mit einem nudistischen Meridian und einer unglaublichen Nacktheit mit 337 nackten Bürgermeistern?), liefert mir, wie gesagt eine Idee, in die ich Messali als Kenner der Materie einweihe: das unglaubliche Hodenessen, das wir natürlich aus Gründen der Diskretion Dionys und der Familie Jarim vor Tische verschweigen müssen. Aus gutem Grund: Vor vielen Jahren hat der bereits erwähnte Oberhegelforscher in Le Cailar eine von ihm selbst geschossene Wildente nach einem mittelalterlichen Rezept zubereitet. Er ließ das Tier in vollem Federkleid eine Woche im Keller seines Hauses hängen, bis es voller Maden war. Dann rupfte er den Kadaver (das geht im Zustand der fortgeschrittenen Verwesung wie von selbst) und schmorte es mitsamt den Maden und weiteren geheimen Zutaten acht Stunden lang, bis das Fleisch der Maden und das der Ente zu einem dicken Jus verkocht waren. Diesen Jus zog er unter eine Einbrenne, so daß eine dunkle, fein-aromatische Sauce entstand, die er zu „Pommes de terre à la Dauphine“ kredenzte. Es schmeckte vorzüglich, aber der Oberhegelforscher hätte während des Essens nicht die Art und Weise der Zubereitung referieren dürfen; dies war bei nur einer Toilette im Haus ausgesprochen töricht gewesen. Messali und ich beschließen daher, im Falle des Gelingens unseres Vorhabens strengstes Stillschweigen zu wahren - immerhin geht es um die seelische Unversehrtheit meiner Familie. Bedenken habe ich keine, im Gegenteil: Das unglaubliche Menü halte ich für einen würdigen Abschluß unseres Frankreichaufenthaltes. Messali sieht 281 es genauso. Ich referiere zu meiner eigenen Sicherheit Hakim Bey, der das in Saturnalien ausartende Essen modellhaft als gelungenes temporäres Aufbegehren ausgibt, welche einerseits den Essern gut tut und andererseits Obrigkeiten und sonstige Träger der Macht nicht zu unangenehmen Gegenmaßnahmen provoziert. Leider vergeht der gesamte Vormittag über der Suche nach Lammhoden. In Clermont nichts zu bekommen, ebensowenig in Pézenas. Wir müssen bis nach Bionne, einem Vorort von Montpellier, wo wir kurz vor der Mittagspause endlich mit einem unglaublichen Überzeugungsakt bei einem muslimischen Metzger die benötigte Menge an Rohmaterial erstehen können. Die Hoden waren für einen Ve rwandten reserviert gewesen, aber Messali versteht es mit orientalischer List, sich als jemand auszugeben, dessen Eltern im selben Dorf wie der Metzger geboren wurden (dabei liegen zwischen den fraglichen Orten mindestens 1500 Kilometer Luftlinie). Das verbindet, das fordert gegenseitige Großzügigkeiten heraus. Der Metzger rückt die Hoden raus, Messali will dafür bei seinem nächsten Algerienbesuch dessen Eltern einen persönlichen Gruß bestellen. Mehr noch: Für die Hoden brauchen wir nichts zu zahlen; Messali soll davon süße Mitbringsel für die Metzgereltern kaufen. Hoden sind in der deutschen Küche unbekannt. Das hängt nicht zuletzt damit zusammen, daß den Schlachtereien bis in die jüngste Zeit der Verkauf untersagt war. Die hessische Schlachtordnung beispielsweise hatte sogar ausdrücklich jede Weiterveräußerung (auch die Schenkung) von Hoden verboten. Noch Mitte der 80er Jahre veranstaltete ein Eat-Art-Künstler am Frankfurter Städel ein großes Hodenessen und kalkulierte dabei ein publikumswirksames Verbot ein (was unterblieb und daher der Öffentlichkeitswirkung der Aktion abträglich war). Eine gutbesuchte Veranstaltung war dagegen die Buchmessenaktion des erwähnten Albert Sellner im Oktober 282 2000 in den Räumen der Hessischen Landesbank. Albert hatte zu einer Lesung mit österreichischen Autoren geladen. Im Rahmenprogramm trat beziehungsreich ein päpstlicher Kastratensänger auf, zu den kulinarischen Köstlichkeiten zählten Blunzen (Blutwurst als Huldigung der zahlreich anwesenden österreichischen Autoren) und-– laut Einladung - Lammhoden. Leider blieb es - was letztere betraf - bei der Ankündigung. Ismat Abou-Zaki, der Chef des legendären libanesischen Lokals "L'Emir" zu Frankfurt, sollte sie liefern, verwechselte dummerweise das Datum und stand montags am Empfang des Hessentowers, die Veranstaltung war aber am Vortag gewesen. So kam es, daß einmal mehr eines der seltenen Hodenessen in Deutschland scheiterte, diesmal aber nicht wegen mangelnder Nachfrage, massenhafter Ablehnung oder einer einstweiligen Ve rfügung, sondern aufgrund interkultureller Ve rständigungsprobleme. Ein Trost: Auch in Ländern, die sich gegenüber dem Verzehr tierischer Weichteile aufgeschlossener zeigen, fehlen Hoden vielfach auf der Speisekarte oder sind dort, wo sie aufgeführt sind, dennoch nicht erhältlich. Anläßlich meines bisher einzigen Überseeaufenthaltes besuchte ich 1987 in Buenos Aires mit Hagen Knotterbeck und unserem Freund Jimmy Lindner (der damals als Fotograf in Argentinien tätig war) das bekannte Lokal "La Chacra" auf der Avenida Córdoba. Ich bestellte nach der viersprachigen Karte "giradillas", also Stierhoden. Der bösartig wirkende “mozo” (Kellner) murmelte auf spanisch - nicht ahnend, daß ihn Jimmy ausgezeichnet verstand: "Friß‘ doch deine eigenen Eier." Laut aber sagte er auf Englisch: "Bedaure mein Herr, sind leider ausgegangen. Argentinien verfügt über keine Hoden mehr. Wird alles exportiert." Auch in Frankreich sind Hoden von den Küchenplänen gutbürgerlicher Restaurants verschwunden. In deutsch-französischer Grenznähe macht hier das "L'Abattoir" in Straßburg-Kronenburg 283 (16, Place de l'Abattoir, direkt neben der A4 von Zabern kommend am Eingang Straßburgs gelegen, Tel. 03 88 26 29 60), eine rühmliche Ausnahme, wobei man wissen muß, daß es mit dieser Ausnahme seinem Namen Ehre erweist, denn "abattoir" heißt "Schlachthof". Auf der Speisekarte finden sich unter der Rubrik "frivolités" (das ist die Sammelbezeichnung für entsprechende Gerichte: zum Beispiel "les rognons blancs Spaetzle maison" (Rinderhoden auf Spätzle). Das "Abattoir" bietet - dies als ergänzende Bemerkung - auch ausgezeichnete Kutteln, Kalbsbriese, Kalbsköpfe, Schweinsfüße, und eben nach Marktlage Lammhoden („les parties nobles du mouton“). Mir bleibt unerfindlich, warum Leute, die sich Gourmets nennen, einen weiten Bogen um gewisse tierische Bestandteile machen. Sicher, auch ich habe meine Vorlieben und Abneigungen, was Innereien betrifft. Ich mag beispielsweise keine Lüngerl, schätze aber sehr die Mägen und Herzen, und wenn ich in München bin, dann natürlich nicht, um die Alte Pinakothek oder das Deutsche Museum oder auch das Valentinsmuseum aufzusuchen (all das interessiert mich herzlich wenig), sondern um mir im „Braunauer Hof“ oder in anderen Traditionsgaststätten Kalbsbrieswurst oder Herzgulasch einzuverleiben. Es gibt selbstredend auch Zeitgenossen, die aus therapeutischen Gründen dem zusprechen, was sie ansonsten abstoßend finden. Zu ihnen zählt mein Ensheimer Freund Michel Maurer, mit dem ich zum Abschluß schwerer Trinkgelagen stets bei “Kohls” eingekehrt bin: ich, weil ich regelmäßig nach Alkoholausschreitungen einen Heißhunger nach “Flauzen” verspürte (das sind Kutteln als Salat angemacht – ähnlich dem Ochsenmaulsalat), Michel, weil er die Kaldaunen zur innerlichen Körperreinigung benötigte (womit er “Innereien” eine zusätzliche Wortbedeutung verlieh). Denn kaum waren die Noppen des Pansens mit seinem Ga umensegel in Kontakt getreten, mußte sich Michel rasch zur Ausscheidung seines in Bier und Schnaps eingelegten Mageninhalts entfernen, um 284 sodann - an Leib und Seele kuriert - die Zecherei mit einigen gut mundenden Absackern einem würdigen Ende zuzuführen. Nachdem ich mit meinem Freund vom ausgedehnten Marktgang zurück bin, wird die Familie in Begleitung von Dionys auf den Berg zum Kräutersammeln geschickt. Oberhalb von Notre Dame kann man auf freier Wildbahn jede Menge an Thymian, Rosmarin und Lorbeerblättern ernten. Unterdessen wasche und blanchiere ich auf die Schnelle die drei Kilo Hoden, enthäute sie und befreie sie von Knorpeln, schneide ein Kilo in schmale Streifen, zwei Kilo in Würfeln. Ich muß dabei an das unglaubliche Knödelessen denken, das Albert Sellner aus Anlaß der ersten Wahlen zum Europäischen Parlament 1984 für ein internationales Publikum zubereitete. Seinerzeit gab es Knödel als Vor- sowie Hauptspeise und zum Nachtisch, als Dessert beispielsweise Germknödel mit der üblichen Zucker-MohnLava. Luc Rosenzweig, damals Deutschland-Korrespondent von "Libération", heute leitender Redakteur bei "Le Monde", brachte eine Kiste Champagner mit und nötigte uns, zu den Knödelgerichten Schampus zu trinken, in Wirklichkeit nicht, um uns zu Gefallen zu sein, sondern um am übernächsten Tag in „Libération“ tatsachengemäß zu berichten, daß die Deutschen ständig Knödel, sogar zur Vor- und Nachspeise, essen und mittlerweile in ihrer Wohlstandsperversion Champagner statt Bier dazu trinken. Ich bereite die Hoden, da es sich um ein „unglaubliches Menü“ handelt, auf folgende Arten zu: Um von hinten zu beginnen (zunächst das Rezept für den "flan cateran" (die Crème Caramel nach Art Cater Jarims); es handelt sich um das Dessert, und das muß bis zum Abend erkalten: Ich koche die Hodenstreifen eine Stunde, püriere sie dann und stelle die Masse zur Seite. Dann karamelisiere ich in einem eisernen 285 Pfännchen fünf Eßlöffel Zucker und verteile die Masse in einer Kuchenform (am besten Gugelhupfform aus Blech). Dann koche ich einen Liter Milch auf und lasse sie zehn Minuten ruhen. Unterdessen schlage ich in einer Schüssel vier ganze Eier und vier Eigelbe leicht an, vermische sie mit dem Hodenpüree und etwa hundert Gramm Zucker und gieße vorsichtig unter Rühren die Milch unter. Das Ganze kommt in die Kuchenform und wird im Wasserbad bei 180 Grad in der Röhre etwa anderthalb Stunden gestockt, anschließend kalt gestellt und bis zum Verzehr im Kühlschrank gekühlt. Zum Hauptgang benötige ich zwei Kilo Hoden, die ich salze und in einem schweren Bratentopf zusammen mit einem Kilo kleingehackte Zwiebeln in ordentlich Butter und Öl anbrate. Nachdem das Bratgut eine dunkle Farbe angenommen hat, lösche ich es mit einem halben Liter Rotwein ab, gebe eine Messerspitze Safran, einen halben Kaffeelöffel weißen Pfeffer, zwei Tassen Wasser sowie ein "bouquet garni" zu (Gewürzkräutersträußchen mit Lauch, Bleichsellerie und landestypisch auch: Schalen von Bitterorangen). Das Ga nze lasse ich anderthalb Stunden bei kleiner Flamme köcheln. In der letzten Viertelstunde reduziere ich die Flüssigkeit und füge zum Schluß noch ein „beurre manié“ (eine Mehlbutter: gut drei Eßlöffel Mehl, die ich einem Becher Crème fraiche untergerührt habe) hinzu, so daß ein sämige Sauce entsteht. Dazu serviere ich sehr kleine Kartoffeln in der Schale, die ich vermengt mit grobkörnigem Salz in einem Topf ohne Wasser bei kleiner Hitze 20 Minuten gare (der Topf muß bei geschlossenem Deckel immer wieder geschüttelt werden; den Deckel während des Garen nicht abnehmen). Man kann dieses Gericht auch mit Kichererbsen, Rote Beete, weiße Rübchen und Gurken zubereiten, aber das mute ich der Familie Jarim und ihren Freunden nicht zu. 286 Zur Vorspeise paniere ich ein Pfund Hodenstreifen „à l'anglaise“, das heißt mit Milch und Mehl, Salz und Pfeffer, brate sie scharf an, gebe Streifen von zwei roten und zwei grünen Paprikaschoten dazu, dünste das Ganze, bis der Paprika etwas von seiner Festigkeit verloren hat und serviere sie zusammen mit einem Omelette. Die Familie geht mit Appetit ans Werk - ich behaupte, es handelt sich bei den Schlieren im Dessert um Gelantine, bei der Vorspeise um einen besonderen südfranzösischen Pilz (eine Kreuzung zwischen weißen Trüffeln und Milchling, der das ganze Jahr über wächst) und beim Fleisch um Gulasch von einem korsischen Spanferkel (daher der leichte Nierengeschmack, den ich als WildHautgout ausgebe), verstehe aber nicht, warum Messali - als ich den Begriff „Ferkel“ gebrauche - grün und gelb im Gesicht wird und sich rasch entschuldigt (offensichtlich habe ich etwas gesagt, das in seinen arabischen Ohren unappetitlich klingt). Hagen ist noch etwas mißtrauisch, und wundert sich über den doch leichten Hammelnierengeschmack des Spanferkels, läßt es aber als Schwein der wilderen Art durchgehen. Dionys gibt ein Starckdeutsch-Gedicht zum Besten, in dem es von Kalbsschnautzen, käßmilbigem Hirn, Bautzen, Ferckensschwentzlin, Tribdärm, Hirschenzemmer, Rollpansen, Börsel, Gehenck, Kröß und Utter nur so wimmelt. Ob er wohl etwas gemerkt hat? Seltsam, daß er sich nicht in seine Eigenzitate aus dem blasphemischen Gottesbeweis hineinsteigert (oder nimmt er nur Rücksicht auf die Kinder?) Ich greife vorsichtshalber das starckdeutsche Thema auf und lenke es um auf die Dichtungen des großen Johann Fischart, der in Forbach Ende des 16. Jahrhunderts als Amtmann wirkte und mit seiner "Affentheurlich Naupengeheurlichen Geschichtsklitterung" das vielleicht bedeutendste deutschsprachige Dokument der vorbarocken Literatur verfaßte. 287 „Klingt wie Fischart“, sage ich, „der hat auf die Fleischdärm, die Kalpsbraten, Hammelschlegel, ‚Nirpraten mit Kompost auß der Kappesbütten‘, den ‚geplotzen Rettich und den gekotzten Mörrettich‘ ein dithyrambisches Tischgebet verfaßt.“ Hagen sagt: „Muß das jetzt sein?“ und meint damit nicht das Tischgebet, sondern die Sache mit dem „Mörretisch“. „Es sitzen doch Kinder am Tisch.“ Das gibt mir die Gelegenheit, auf harmlosere Themen überzuleiten: Fischart, dessen „Geschichtsklitterung“ eine sehr freie und und zudem auf das Dreifache ausgedehnte Übersetzung von Rabelais‘ „Gargantua und Pantagruel“ darstellt, läßt zu einem Gelage (was ich tunlichst verschweige: zu einer Kuttelorgie) Säufer und Fresser aus dem gesamten süddeutschen Raum aufmarschieren, darunter auch „Sanct Urbans Jünger umb Ensheim“. Hagen fragt: „Wie ‚Ensheim‘? Gab’s das damals schon?“ Ich sage: „Natürlich, ich nehme mal zu unseren Gunsten an, daß er das richtige Ensheim meinte. Gut mö glich, daß er, der gebürtige Straßburger, auf das Entzheim vor den Toren seiner Stadt abstellte (der Ort ist jedoch erst durch eine Schlacht hundert Jahre später verbürgt) oder, weil er vor seiner Forbacher Zeit als Advokat in Speyer tätig war, das Ensheim bei Alzey. Aber da die heutige Edition der „Geschichtsklitterung“ auf der um 1590 erschienenen Ausgabe letzter Hand basiert, darf man getrost unterstellen, daß es sich bei dem genannten Ensheim um den später saarländischen Ort handelt. Fischart hatte nämlich in seinen letzten Forbacher Jahren das Werk stark überarbeitet, und er dürfte dabei das gerade mal zehn Meilen entfernte Ensheim im Sinn gehabt haben.“ Hagen und Messali wollen mehr zu Fischart wissen, ich lüge - da ich nicht darauf vorbereitet bin - das Blaue vom Himmel herunter, Geschichten aus seinem Leben, dann eine derbe Ausschmückung seines tragischen Todes. Die Situation ist gerettet, und der Hoden-Flan findet allgemeines, wenn auch nicht gerade überschwengliches Lob. 288 Es sei - um Nachfragen zu vermeiden - darauf hingewiesen, daß die Ensheimer Passage in der „Geschichtsklitterung“ den Tatsachen entspricht. Sie findet sich in der wunderschönen Ausgabe der von Hans Magnus Enzensberger herausgegebenen „Anderen Bibliothek“ (Frankfurt am Main 1997) auf Seite 218 unten. Bei Sankt Urbans Jüngern - dies ist meine Interpretation - liegt keine Ve rwechselung mit der seinerzeitigen Ensheimer Petrusbruderschaft vor. Vielmehr handelt es sich um eine Anspielung auf das bekannte Bacchantentum der Ensheimer - Sankt Urban ist nämlich der Weinkönig unter den Heiligen (ich befinde mich hiermit möglicherweise im Dissens mit Freund Albert, der Urban in seinem Heiligenkalender als Heiligen gegen die Trunksucht ausweist.) Bereits stark illuminiert bringe ich das Tischgespräch jetzt zu dem mich bewegenden Thema (noch habe ich die Theorie des Komplotts im Hinterkopf). Kann denn der Raserei der Menschen, der Ekstase ihrer Dummheit, der Entfesselung ihrer Süchte, der Verderbtheit ihrer Sitten, der galoppierenden Schwindsucht ihrer Beschäftigungen, dem Delirium ihrer Mißratenheit, den Tollheiten ihrer Phantasmagorien, den Veitstänzen ihrer Ideen, dem Taumel ihrer schäbigen Conditio humana...“ Einwurf Hagens: „Nun laß mal gut sein!“ „...nicht Einhalt geboten werden?“ Dionys verweist auf seinen „Blasphemischen Gottesbeweis“. Ich sage: „Oh Gott.“ Dionys erwidert: „Laß den bittschön aus dem Spiel. Nicht in diesem Zusammenhang! Ich meine doch damit nur, daß man analog zur Gottesbeschimpfung in meinem ‚Blasphemischen Go ttesbeweis‘ die vollkommene Herabsetzung des Menschlichen erreichen soll, um dann, am Umschlagpunkt angekommen, das Rest- 289 menschliche herauszustellen.“ Ich weiß nicht, ob ich ihn da richtig verstanden habe, er vermag mir auch keine näheren Angaben darüber zu machen, weil er sogleich in eine zwischen Schwach- und Starckdeutsch angesiedelte Menschheitsbeschimpfung verfällt. Aber die Idee ist brauchbar. Sie muß in meinem Hirn noch reifen, wie ein Rotwein im Barriquefaß. „Ich möchte nicht wissen“, sagt Hagen, „wie es in deinem Hirnfaß aussieht. Ob dort unter dem Holz überhaupt Eiche zu finden ist?“ Das hätte sie sich verkneifen können, ich rufe mir rachsüchtig in Erinnerung, wie ich sie mit den Hoden geleimt habe („Hodenleimen was ist denn das schon wieder?“, denkt es in den Rundungen meines Barriquefasses, äh...ich glaube ich habe zuviel getrunken). Wir lassen uns von den Ameisen, die inzwischen wieder bis auf Tuchfühlung herangerückt sind, nicht stören, trinken, nunmehr wie die mißratene Menschheit völlig enthemmt, noch mehr von dem guten Cabrières, den ich für unsere Gäste heimlich mit der Appellation Cacanac Contrôlée (Name aus juristischen Gründen geändert) verpanscht habe. Das erscheint mir durchaus als korrekt, weil ich das Zeugs ja irgendwie loswerden muß. Es ist dunkel geworden, die Ameisen sind letzten Endes doch zu Bett gegangen, am Horizont leuchten die „feux d’artifices“ auf, die ursprünglich für den Vo rabend des 14. Juli vorgesehen waren - wir sind besoffen, harmonischer kann ein letzter Urlaubstag nicht ausklingen, dabei hätte nur die Erwähnung von “Hoden” ausgereicht, um den Abschiedsschmerz mit einem noch größeren Schmerz zu überbieten. 290 Sonntag, 16. Juli Wir fahren in der Früh, wollen aus dem Languedoc heraus sein, bevor der Sonntagsausflugsverkehr beginnt. Dionys und Messali konnten nach dem unglaublichen Abend mit dem unglaublichen Hodenessen nur mühsam zur Abreise bewegt werden. Die verkaterten Hoden, pardon: ich meine natürlich Köpfe standen der Überwindung der Schwerkraft entgegen. Die beiden wollen demu ngeachtet doch noch rüber in den Lubéron, irgendwelche Leute aus Darmstadt heimsuchen, die dort eine Finca oder einen Palazzo oder sonst was Ferienhausartiges ihr eigen nennen. Die Fahrt ist gediegen langweilig, strahlender Sonnenschein, wenig Verkehr. Die Kinder schwärmen von zu Hause, wo ihre Plüschtiere, Bücher, Videokassetten und Computerspiele seit drei Wochen unberührt geblieben sind und sich wieder mit frischen Erlebniswerten aufgeladen haben, Hagen konzentriert sich auf die Autobahn, ich rekapituliere das, was ich in den letzten Tagen erlebt habe. Immer noch steht das Projekt einer Komplott-Theorie vor meinen Augen, ich bin wegen meiner starken gastronomischen und gastrischen Beanspruchung in den vergangenen Tagen noch nicht zum entscheidenden Punkt vorgestoßen. Bis Arles ist mir zur Bestimmung des Komplotts nur die Ausarbeitung von Pierre Klossowski (der übrigens in wenigen Wochen im hohen Alter von 96 Jahren gestorben sein wird) eingefallen. Klossowski hat in seinem 1969 erschienenen Buch “Nietzsche et le cercle vicieux” die Ableitung eines Komplotts hergestellt, die mir für meine Zwecke dienlich sein könnte. Hagen sagt zwar: “Immer nur Bücher. Totes Wissen. Lies’ nicht über ein Komplott, mach’ gefälligst selbst eins.” Ich aber weiß, daß es so einfach nicht geht. Das Komplott will gut überlegt sein, wenn es sich zur Wirksamkeit entfalten soll. 291 Von der Ferne grüßt der Mont Ventoux. Vor drei Jahren habe ich ihn, wie gesagt, mit Messali bestiegen. Von Malaucène auf der Westseite haben wir zunächst einen Bogen geschlagen, um ihn von der Nordflanke zu bezwingen. Schwierig war es am Fuß des Berges, wo sich der Einstieg in steilen Geröllawinen verlor. Der bewaldete Hang auf der mittleren Ebene dagegen war angenehm, Wanderer sind über Stunden von der Sonne abgeschirmt, bevor es dann durch Kermeseichen und Krüppelkiefern wieder ins Freie und schließlich die letzten dreihundert Meter durch schwer zu begehende und steil sich auftürmende Geröllhalden geht. Wir hatten mit Umwegen knapp sechs Stunden gebraucht und gerieten - kaum auf dem Gipfelplateau, das auch mit dem Pkw zu erreichen ist, angekommen - mittenmang hinein in eine Auseinandersetzung zwischen Touristen ausnahmslos deutscher Abstammung. Der Streit ging um einen Schäferhund, dem seine Besitzer umsichtigerweise - denn auf dem Gipfel herrscht an sonnigen, windstillen Tagen, wie dies damals einer war, eine qualvolle Enge - einen Maulkorb umgehängt hatten, was im Ergebnis dazu führte, daß sie von einem ihnen fremden, aber ebenfalls deutschen Ehepaar der Tierquälerei bezichtigt wurden. Der Hund könne mit dem Maulkorb in der dünnen Luft nicht richtig durchatmen - ein Problem, das mit Blick auf die 1909 Meter, die der Ventoux zählt, noch nicht einmal die Franzosen in Bezug auf ihre kleinlungigen Caniches zu erkennen vermögen. Messali und ich haben uns, solange wir dort in Gesellschaft waren, nur französisch unterhalten. Ich stelle das Komplott etwas zurück und schlage Hagen einen kleinen Umweg über den Ventoux vor. Das Wetter ist schön, die Luft selten klar, da sieht man vom Montblanc bis zu den Pyrenäen, ohne - was auch selten ist - den Mistral in Kauf nehmen zu müssen. Hagen lehnt ab. Sie sagt: “Wenn ich bedenke, wer allein aus unserer Bekanntschaft schon mit dem Rad dort hochgefahren ist, kann ich 292 mir vorstellen, wie es auf der Gipfelstraße zugeht. Ich habe keine Lust, die alten Knacker in deinem Alter wiederzubeleben, die sich unbedingt noch unter Beweis stellen müssen.” Das mit den Radfahrern stimmt, das muß ich zugeben, an solchen Tagen wie heute (es ist schön und es ist Sonntag) verstopfen sie die Serpentinen. Ständig fallen einem erschöpfte, frühvergreist aussehende Herren in schrillem Outfit auf die Kühlerhaube. Andere wälzen sich röchelnd und mit Schaum vor dem Mund im Straßenstaub. Oben auf dem Gipfel ist es noch schlimmer, da fallen Damen, die mit Mann und Hund in klimatisierten Limousinen hochgekommen sind, reihenweise in Ohnmacht, wenn ihre unartigen „p’tit caniches“ am Rande des Abgrunds der sexuellen Versuchung erliegen und trotz der dünnen Luft auf die vielfältigen Kopulationsangebote eingehen. Am Mont Ventoux sind schon viele gescheitert, Tour-de-FranceFahrer, Amateurradler, Wanderer, die den berühmten Sonnenaufgang über der Haute Provence erleben wollten und beim nächtlichen Aufstieg in der Dunkelheit abgestürzt sind, Hunde und ihre Frauchen, die den Streß auf dem Gipfel nicht ertragen konnten und Blessuren fürs Leben davongetragen haben, Pilger, die im Gedenken an Francesco Petrarca hierher gekommen waren und sich aus Verzweiflung sogleich in den Abgrund warfen, nachdem sie die Zustände dort oben erleben mußten. Nebenbei bemerkt bezweifele ich, daß Petrarca in der geschilderten Echtzeit den Ventoux bezwungen hat. Er will in nur einem Tag den Gipfel erreicht, wieder ins Tal zurückgefunden und dazu noch spät in der Nacht seine "Besteigung des Mont Ventoux" aufgezeichnet haben; das erscheint mir umso unwahrscheinlicher, als es im Jahr 1336 noch keine markierten Routen gab, und Petrarca selbst zugibt, sich öfters verstiegen, ja weitläufig verirrt zu haben. Aber die Authentizität der Schilderung ist nicht entscheidend, sage ich mir, 293 entscheidend ist die allegorische Bedeutung des mühevollen Aufstiegs mit seinen Irrungen und Wirrungen, bevor der Icherzähler zu sich selbst in seiner doppelten Eigenschaft als triumphierender und in seiner Gottergebenheit demütiger Mensch findet. Auf dem Gipfel sind Schaulust und Weltgenuß, die sich seiner bemächtigen, durchwirkt von den Selbstbetrachtungen, die er mit Augustinus' "Confessiones" anstellt, und da fällt das entscheidende Wort des Hl. Paulus, das er als Zitat den "Confessiones" entnimmt: "Nicht in Gelagen und Saufereien, nicht in Beischlaf und Unzucht, nicht in Streit und Eifersucht wollen wir wandeln; vielmehr zieht den Herrn Jesus Christus an, kümmert euch nicht zu sehr um euren Körper, damit ihr nicht von seinen Lüsten geknechtet werdet." (Römer 13,13) In Luthers Original: “Lasset uns ehrbar wandeln als am Tage, nicht in Fressen und Saufen, nicht in Kammern und Unzucht, nicht in Hader und Neid; sondern ziehet an den HERRN Jesus Christus und wartet des Leibes, doch also, daß er nicht geil werde.” Herbert Achternbusch war 641 Jahre nach Petrarca hier. Er mußte zur Entgegennahme des Petrarca-Preises, der soeben von Hubert Burda gestiftet worden war und inzwischen, glaube ich, abgesetzt ist, zusammen mit Peter Handke den Berg besteigen. Die kulturschickeriahaften Umstände der Preisverleihung, möglicherweise auch der bierlose Aufstieg zusammen mit dem zu ihm reichlich inkomp atiblen Handke hatten Achternbusch so in Harnisch gebracht, daß er an Ort und Stelle das Preisgeld verbrannte. Die Aktion ist nicht ganz verbürgt, ich habe sie gleichwohl sehr geschätzt, obwohl ich damals ziemlich sauer auf ihn war. Zu dieser Zeit nämlich vertrank er mit Sepp Bierbichler eine Wirtschaft in Ambach am Starnberger See, die Bierbichler als Erbe zugefallen war. Und weil das ständige Trinken an sich nicht sehr aufregend ist, haben sie nach Groupies Ausschau gehalten und unter anderen durch den in Frankfurt lebenden Schauspieler Alfred Edel meine damalige Gespielin abzuwerben versucht. 294 Möglicherweise handelte Alfred Ekel, äh ich meine: Alfred Edel ohne Auftrag in eigener Sache, mit eigenen unlauteren Absichten. Wie auch immer, ich empfand das als perfiden Angriff auf meine lebensabschnittspartnerschaftliche In tegrität. Hagen Knotterstolz, äh -beck, die meine vorehelichen Beziehungen nicht sehr schätzt, sagt: "Hätten Sie doch bloß..." Hätten Achternbusch und Petrarca erlebt, was sich heute auf dem Gipfel des Ventoux unseren Augen darböte, so wäre der eine vom Glauben abgefallen und hätte sich der andere beim nächsten Oktoberfest im Bierfaß ertränkt. Es ist mir, sage ich Hagen, unbegreiflich, wie in noch nicht einmal 700 Jahren die Menschheit so auf den Hund gekommen ist, daß spirituelle Erlebnisse wie die von Petrarca auch dem Wohlmeinendsten nicht mehr möglich sind, denn wohin man kommt, immer sind schon welche vor dir da, die statt schauend und staunend sich in der "contemplatio caeli", in der "Betrachtung des Himmels" zu ergeben, an ihrer Plastikflasche nuckeln, über Zahnkränze fachsimpeln, sich um Parkplätze streiten, wegen ihrer Köter in die Wolle bekommen und den nächtstgelegenen Steinhaufen bebrunzen. Das auffälligste Geräusch auf dem Gipfel ist jenes, das der Klettverschluß von sich gibt. Klettverschlüsse, die betätigt werden mü ssen, gibt es dort oben vieltausendfach, Klettverschlüsse an den Windjacken, den Foto- und Fernglastaschen, den Rucksäcken und Out-door-Hosen, den Radlerschuhen und Fleecefutter-Kappen. Wir leben im Zeitalter des Klettverschlusses. Wenn ich des Morgens im Zug zur Arbeit fahre und des Abends von der Arbeit komme, dann macht es um mich herum raaaatsch, raaaatsch (die MammutKlettverschlüsse an den Laptop-Taschen oder Day-Packs) und ritsch, ritsch (die kleineren an den Jacken und Puffärmeln). Nur ja kein Nesteln, Einfädeln und feine Fingerarbeit, nur noch die Grob- 295 motorik des Aufreißens und Zuklappens. Und so geht es weiter, auf der Autobahn mit Wucht in die Lücke, gewaltige Schubleistungen beim Anfahren, Entfesselung der Antriebskräfte beim Überholvorgang, Booster-unterstütztes Hörempfinden im fahrenden und stationären Wohnzimmer, breitarschiges Platznehmen mit Streuutensilien im „cordon sanitaire“ des Körperumfeldes bei gleichzeitiger flagranter Verletzung von Körpergrenzen durch Schmatzen, Dummsprech, wechseljahrkompensierende Parfüm-Over-kills, explosionsartiges Bild-Zeitungsblättern oder ausladende Gliedmaße in Folge der Fettsucht. Dazu kommt der Drang, alles mitzumachen, was das Leben so bietet - ohne Feinheit, ohne ein Sich-Zurücknehmen, einfach Ausgreifung, Ausschweifung, Dummbabbel und Völlerei. Was sonst habe ich in diesem Urlaub erlebt, mit all den Kohldepps, wildgewordenen Winzern, Mittelstreifenbefahrern, Besichtigungsneurotikern, koprophagen McGästen, zwangshandelnden Kleiderabwerfern, anabolikagemästeten Monstern, sodomitischen Franzmännern, unappetitlichen Freizeitköchen, französischen Maneken Piss’, verblödeten Outdoor-Ravern... So wie der Klettverschluß Unmittelbarkeit ohne Investition in die Leibes-Erziehung (nicht: Leibeserziehung!) verspricht, so verkürzt sich der Lebenssinn auf somatische Stimulanz, und so leben sie dahin, vor sich und gegen sich hin, affektiert und uninspiriert, uninteressiert, ungeniert, unkontrolliert, führen ein rein vegetatives Leben, das nur der Selbsterhaltung, der Lustausweitung dient und selbst die Arterhaltung, den Gattungsauftrag, von sich geschoben und an das Klonlaboratorium delegiert hat. Die Feinmotorik hat sich zivilisatorisch erledigt. Daraus resultiert ja noch nicht einmal ein Selektionsvorteil; es führt nur dazu, daß das Ungeschlachte und Unbeherrschte sich breit macht und unsere Welt in einen Taumel versetzt, so wie die vielen Dicken, die ja auf der nördlichen Hemi- 296 sphäre geballt auftreten, eine kosmische Unwucht auszulösen drohen. Der in Savoyen lebende englische Schriftsteller John Berger hat dazu in einem Nachruf auf den Situationisten Guy Debord, der sich 1994 die Kugel gab, sehr treffend bemerkt: Weil das Leiden, die Niederlagen verbannt sind, weil heute neben der körperlichen Unmittelbarkeit nur noch die Masken, das Spektakuläre, präsent sind, fehlt der Bezug zur Notwendigkeit. Dieser aber war noch in der mitgeteilten Geschichte, den Fabeln, den Sprichwörtern, den mündlichen Überlieferungen enthalten. Als Lehrstück, so Berger, „war der Kampf, mit der Notwendigkeit zu leben, ein ewig-fortdauernder, furchterregender, aber manchmal auch schöner Kampf, der Kampf mit einer Notwendigkeit, die das Rätsel der Existenz ist, die der Schöpfung folgte und immerzu den menschlichen Geist inspirierte." Es gibt, zugegeben, auch eine Dummheit der Notwendigkeit: das Barbarentum, die Ungebildetheit, die Zurückweisung des Fremden, das vegetative Revierverhalten - kurz: die Dummheit unserer Generationsvorgänger. Die Dummheit der Notwendigkeit aber wird übertroffen von der Dummheit der Freiheit und der Dummheit in der Freiheit unserer Zeitgenossen: das Sich-Breitmachen, das vorsätzliche Exkrementieren unverdauter Kultur- und Konsumgüter, die inhaltslose Eloquenz der Fernsehdebattierer, die Amtsschimmelhaftigkeit von amtlosen Personen, die Verrechtlichung unbedeutenster Vorgänge, das endlose Schmatzen, Verdauen, Ausscheiden, die Überwältigung, Überrumpelung, Überbietung... Mme Knotterbeck sagt: “Aufhören, ich kann’s nicht mehr hören.” Die Kinder sagen nichts, sie schlafen wieder seit Montélimar. Ich sage: "Wart's nur ab." Und denke: "Sie hat recht, Zeit für Gegenmaßnahmen." Knotterbecks Einwand hat mich aus meinem nutzlosen Haß-Lamento, 297 neudeutsch: hate speech, gerissen. Ich muß auf die Theorie des Komplotts zurückkommen. Also Klossowskis / Nietzsches Konzept funktioniert theoretisch etwa so (und der Witz ist – um dies vorwegzunehmen, daß das Komplott in seiner Erfüllung scheitert oder umgekehrt sich durch sein Scheitern erfüllt): Die Gesellschaft muß sich im Sinne einer ständigen Optimierung (von Wirtschaft, Kulturleistungen, Moralvorstellungen und im Sozialen selbst) unablässig selbstaffizieren, sozusagen die permanente Revolution betreiben und zugleich das Controlling durch Beobachter dieses Veränderungsprozesses in Permanenz sicherstellen. Die Crux ist für die Gesellschaft nicht das selbsterregte Gesellschaftsmitglied, dessen Dynamik und (gewünschte) Exzentrik sich gegen die Gesellschaft wendet - da hat Foucault gezeigt, wie die Biopolitik das Individuum erfolgreich konditioniert. Die Crux besteht wesentlich im Beobachter selbst, der ja gefordert ist, seine Erkenntnisse zu optimieren und mit immer kruderen Interpretationen zu belasten. Der Beobachter hält diese Zumutung nur aus, wenn sie ihm Vergnügen bereitet und die eigenen Ergebnisse des Controllings sekundär, beliebig, aussagelos werden. Und nun sagt Nietzsche etwas ganz Entscheidendes: “Der VerNichtsung durch das Urtheil sekundirt die Ver-Nichtung durch die Hand.” Der Beobachter säße also am Mischpult, wo er in einem FeedBack-Verfahren seine nunmehr subversiven, lustvoll aufgeladenen Beobachtungen in die Gesellschaft zurücksteuerte, am roten Knopf seiner Dossiers, mit dem er den Gau auslösen könnte? Ein Luhmann mit seinen Luhmännern, die mit ihren vieltausend Seiten starken Schriften imstande sind, die Gesellschaft in die Luft zu jagen? Nein, sagen Klossowski und Nietzsche, damit würde sich der Controller in der Logik der Gesellschaft selbst befinden, die sich dynamisieren 298 muß und gleichgültig gegen sich selbst fortzubestehen hat. Das Komplott, sagt jetzt Klossowski, “soll dem Einzelfall eine Perspektive eröffnen und der Species als Gattung jeden Ausweg verschließen: alles, was für sie verständlich war, wird dunkel, ungewiß und beängstigend.” Wer ist nun dieser Einzelfall: Es ist Nietzsche selbst, als derjenige, der dies alles vorausgesehen hat, und dessen Weissagung sich als “boshafteste Karikatur” des Lukas-Evangeliums (“Das Reich Gottes ist mitten unter euch...”) verwirklicht hat. Jeder ist sein eigener Controller, und betreibt die Deregulierung jedweder Moral, die nicht der Optimierung der Gesellschaft und ihres schließlichen Untergangs dient. Keine Frage, daß das Komplott von Klossowski / Nietzsche nur bedingt tauglich ist, man muß es in der Entwendung verändern (auch das ist ja bereits ein Komplott, diesmal gegen Klossowski / Nietzsche). Mir schwebt nach dem, was ich von Giorgio Agamben und Dionys Kallaengoulberck vernommen habe, ein Komplott des Nichthandelns vor, der äußersten Passivität, der unterlassenen Hilfeleistung, sozusagen einer universalisierten passiven Sterbehilfe. Ich spreche nicht von einem Programm für die Gattung, wie das Nietzsche vor Augen hatte, sondern von einer Haltung angesichts einer auf absoluter Freiwilligkeit fußenden, eines selbst bei den konditioniertesten Reflexen beruhendem autonomen Wunsches nach kollektiver Selbstauslöschung. Was ich damit meine, wird deutlich an dem, was Sepp Bierbichler (dem ich hiermit vergebe) jüngst in seinem Buch „Verfluchtes Fleisch“ beschrieben hat. Er will nicht die ihm mißfallenden (das heißt: nahezu alle) Theaterregisseure umbringen, sondern empfiehlt, daß sie ihren Selbstmord wollen können möchten. Bei Vienne jagt mit 190 ein Franzosenbolide an uns vorbei, reißt in der Kurve vor dem Gefälle zum Rhônetal aus der Spur, purzelt den 299 Steilhang hinunter und endet in einem Feuerball. Hagen ist entsetzt, zittert am ganzen Leib, will anhalten. Ich sage: “Sofort weiter.” Hagen sagt: “Aber, wir müssen doch...” Ich sage: “Wir müssen gar nichts. Im Gegenteil: Das Komplott beginnt zu wirken, wir sind gehalten, es durch Nichthandeln zu fördern.” Hagen sagt gar nichts mehr, sie schreit jetzt: “Hör doch endlich auf damit...” Die Kinder sind aufgewacht und fragen: “Was schreit ihr denn so, was ist denn passiert?” Hagen Schlotter- äh Knotterbeck gibt Gas, sie und ich sagen gleichzeitig: “Ach nichts...” Ich sage: “Sieh’ es doch mal so: Wenn wir auf der richtigen Seite des Komplotts stehen, haben wir doch auch Vorteile. Hätten wir angehalten, stünden wir jetzt im Stau.” Dummerweise nimmt uns der nächste Stau gefangen. Ein Laster ist kurz vor Lyon - wie der Verkehrsfunk aufklärt - umgekippt und hat seine Ladung Wein (aus dem Languedoc vermutlich) auf die Bahn geleert. Ich zeige natürlich kein Bedauern für den Verlust des Gutes (aber das hat nichts mit dem Komplott zu tun), sondern befrage flugs die Karte, ob wir dem Stau wenigstens teilweise entgehen können. Wir können, müssen aber noch fünf Kilometer im Stop and go überwinden, bevor wir uns auf der Autobahn Richtung Bourgen-Bresse davonmachen können. Die Strecke von Bourg nach Dole ist fast leer. Offensichtlich haben die anderen Autofahrer, die es uns hätten gleichtun können, hier nichts verloren oder wollen unbedingt Anteil am ausgeflossenen Wein nehmen. Nach einer wirklich angenehmen Fahrt am Rand des Jura vorbei, machen wir auf der Raststätte "Aire du Jura" auf der Höhe von Lons-le-Saunier eine Mittagspause. Die funkelnagelneue Anlage ist eine verunglückte Huldigung an den Revolutionsarchitekten Claude-Nicolas Ledoux, der vor zweihundert Jahren hier in der Nähe wirkte, und stellt eine substantielle Ausweitung der Idee animierter Autobahngastlichkeit dar. Unterfüttert ist die Zelebration von Tradition und Convenience mit 300 jener Kitschprosa, die von der Provence über die nördliche Rhône geschwappt ist: „Gôuter les couleurs, les saveurs, les odeurs du territoir.“ Verwiesen wird auf Spezialitäten der Umgebung, die keiner haben will, weshalb das Angebot nur noch virtuell per Computeranimation stattfindet. Alle Anwesenden, darunter wir, drängen unter diesen Umständen zu den internationalen Warmhalteplatten mit den ekeligen Hühnerteilen, der schleimigen „Potage du jour“, den stinkenden Andoullietten, den verschimmelten Merguezwürsten und den rohölverklebten Pommes. Vor mir ein flämisches Ehepaar, das sich mit seinen Tabletts, die es als Distanzwaffen nutzt, auf die rücksichtsloseste Weise an uns vorbei in der vor Hunger geifernden Schlange vorgekämpft hat. Er, der Ehemann, strebt weiter nach vorn, gerät mit seinem Tablett in eine Schieflage, seine Cola kippt, ergießt sich über meine Füße. Er klotzt dumm, beklagt vor seiner Frau den Verlust. Zu mir aber kein Wort der Entschuldigung. Ich bücke mich, um den Schaden mit meinem gebrauchten Papiertaschentuch etwas zu mildern, da sülzt mir seine Frau die Ketchup-Pommes ans Gewand. Schon will ich aus der Haut fahren, um Belgien auf seine Bedeutungslosigkeit im Kreis der Nationen hinzuweisen, da besinne ich mich auf das Gebot der Toleranz und der Mitmenschlichkeit. Ich versenke also, als Belgien an der Kasse mit dem Zahlen beschäftigt ist, unbemerkt mein Taschentuch in Mijnheers Suppe und drapiere zwei, drei Glassplitter in Mevrouws Currysauce. Hinter mir versucht sich derweil ein schwarzer „p’etit caniche“ (Wie? Diese Rasse gibt es doch in Frankreich gar nicht!) in einer Beißattacke auf Kiki. Zu seinem Leidwesen hindert ihn ein riesiger Floh-Trichter daran, sein Vorhaben korrekt auszuführen. Dennoch ist Kiki zu Tode erschrocken. Hagen Knotterbeck kippt der Bestie ungerührt ihren gerade erworbenen heißen Kaffee in den Trichter. „Le p’tit caniche“ jault. Frauchen schreit Zeder und Mordio, das ganze auf welschschweizerischem Franzö- 301 sisch, daher also die schwarze Farbe ihres Lieblings. Es entsteht ein Tumult, wie er meiner Komplott-Theorie würdig ist. Bravo Hagen, wenngleich ihre Aktion – wie übrigens auch meine Gegenattacke noch nicht ganz konform geht zu der von der Theorie des Komplotts empfohlenen Ideallinie. Hinter der Raststätte gibt es ein kleines Museum, das zwar nicht so heißt, dafür aber „Forum“ oder "espaces" oder "location" oder sonstwie; ein semantisch und mit allem audiovisuellen Schnickschnack aufgedonnertes Gebilde. Überall auf dem Areal wird der Geist Ledoux' beschworen, der Genius loci brummt, und das Museum befindet sich in einem Pavillon, der aus kreisrunden Betonscheiben gebildet ist, drumherum Stege, Einfassungen von Wasserbecken, dazu eine begehbare 25 Meter hohe Säule, das Ganze bisher unrealisierten Plänen Ledoux’ nachempfunden. Wir nutzen das Angebot, um uns ein wenig die Füße zu vertreten. Ich doziere über Ledoux, doch von Ledoux ist drinnen nichts zu sehen, dafür umso mehr aus der Welt des Jura vor hundert Jahren, von heute und von morgen, Kunst, Kitsch und Krempel - eine Kombination aus Dorfmuseum und Weltausstellung mit dem Informationsgehalt kleiner / gleich Null. Als wir den "Pavillon des cercles" verlassen, sehen wir den gewohnten Pinkler, der gerade dabei ist, die Hortensien einer Säurebehandlung zu unterziehen. Bei Dole fädeln wir uns wieder in die Burgundautobahn zurück. Wir stellen hohes Verkehrsaufkommen fest und zählen bis kurz vor Langres ein brennendes Auto, zwei beschädigte Lastkraftwagen und eine Wohnwagenruine mit verlorengegangener Zugmaschine, drei pinkelnde Franzosen, die es aus Prinzip nicht mehr bis zur nächsten „Aire Toilettes“ geschafft haben, eine Schlägerei auf dem Standstreifen mit Angehörigen unterschiedlicher Nationalität (wie aus den Kennzeichen der chaotisch geparkten Fahrzeuge zu ent- 302 nehmen ist), eine Gruppe von Landfahrern, die auf dem Mittelstreifen Picknick machen, und eine ausgesprochen nachlässig wirkende Polizeikontrolle mit derangiert wirkenden Agenten. Dazu jede Menge Hektiker, Abstandspsychoten, Testpiloten im Tiefflug, Sonambulisten mit offenem Verdeck und Cabriofahrer mit verrutschter Perücke. Mir fällt zur Unterstützung meiner Gedanken zur subversiven (das heißt aber auch richtungslosen) Schwäche eine Ausarbeitung des spanischen Philosophen Santiago Lopéz Petit ein, von dem leider nur ein kurzer Aufsatz auf Deutsch zugänglich ist, und zwar in dem Hamburger Theorieorgan „karoshi – Zeitschrift für den vorzeitigen Tod in der Arbeitsgesellschaft“. Die These ist an Agamben durchaus anschlußfähig. Sie lautet etwa: Das Subjekt als machtvoller Treiber der Geschichte, man könnte auch sagen: der Menschheitsentwicklung, des Fortschritts, der Kulturleistungen, ist hinfällig, unmöglich geworden. Was hier auf den Straßen unterwegs ist, werfe ich schnell ein, ist die Karikatur des Subjekts, ein Subjekt, das sich in formalen Verfahren bewegt und mit dem, was ihm unbekömmlich und unzuträglich ist, schon längst arrangiert hat, ja mit Fleiß und Geschick an seiner Selbstauslöschung arbeitet. Dem Subjekt, wie es noch als Phantom durch die wissenschaftlichen Bestandsaufnahmen irrlichtert, setzt Lopéz Petit das „Konzept“ des anonymen Menschen entgegen, eines Menschen, der vieles von dem, was in einem höheren Sinne (im Sinne geschichtlicher Einsicht) verwerflich ist, in sich verwirklicht, der sich aber gleichzeitig durch seine Indifferenz einer systematischen und systemischen Vereinahmung entzieht, das System vielmehr durchquert, ohne von ihm vollständig als Wahlbürger, Konsumer, Malocher festgelegt werden zu können. Lopéz Petit: „Jetzt wird offenkundig, daß die Definition der Unmöglichkeit des unmöglichen Subjekts, soll sie in all ihrer Radikalität formuliert werden, nur die Form der Herausforderung haben kann. Einer Her- 303 ausforderung, die darin besteht, sich als ein unerträgliches Subjekt zu konstituieren, das sich selbst nicht erträgt. Dabei geht es nicht um einen persönlichen Weg zur Entsubjektivierung. Im Gegenteil, in dem Maße, wie das unmögliche Subjekt im Vollzug seiner eigenen Unmöglichkeit fortzuschreiten wagt, vereinseitigt es die Situationen, entleert es die Ordnung und eröffnet eine Durchquerung des Nihilismus, die eine notwendig kollektive Politisierung der Existenz ist." Das finde ich im großen und ganzen zustimmungsmöglich; womit ich mich aber irgendwie noch schwer tue, ist der Vorschlag Lopéz Petits, daß ich mit den Kohldepps und vielen anderen ein Kollektiv bilde, in dem ich mich als gleichberechtigt unmögliches Subjekt wiederfinde. Es ist absurd, wir bewegen uns nicht wie die Autonauten auf der Kosmos-, sondern wie die Aufgußtierchen, die ProtoplasmaEinzeller auf der Chaosbahn. Vor Langres wieder ein Unfall; die Autofahrer in Richtung „Autoroute de l’Est“ werden gebeten, die Ausfahrt Langres-Süd zu nehmen und in Langres-Nord die Autoroute zu regagnieren. Ich muß voller Rührung an die Schilderung Ludwig Harigs denken, der irgendwo (ich habe vergessen wo) die Fahrt auf der „Nationale“ durch Langres schildert, wie man damals in den Fünfzigern den Berg vor der Ortsmitte nehmen mußte, wie die altersschwachen Automobile der Nachkriegszeit dort vom Schon- in den Kochgang gerieten. Es hat sich wenig geändert, Langres ist so verschlafen wie seinerzeit, aber man muß, um dem Schlachtfeld Autobahn rund um die nahe Abzweigung nach Lille und Paris zu entgehen, noch immer durch; nur sind die Autos in zwischen cwgestreamlined, kw-hochgerüstet - was ihnen aber auch nicht viel nützt, wenn sie in der Langreser Blechkolonne hängen. Die Komplott-Theorie bedarf zu ihrer weiteren Vervollkommnung noch dringend einiger Präzisierungen, das heißt, für das Komplott 304 ist noch ein wichtiges Supplement erforderlich. Ich finde es nach einigem Nachdenken bei dem im Zusammenhang mit dem Körperkult erwähnten Michel Henry. Dumm nur, daß sich sein Buch, das ich in Montpellier erworben habe, im Kofferraum befindet. Und Hagen wird nicht dazu zu bewegen sein, ebenmal anzuhalten, damit ich es mir vorknöpfen kann. „Wir sind doch nicht auf einer wissenschaftlichen Expedition“, wird sie sagen, oder „Unser Auto ist doch keine fahrende Bücherei“ oder „Die Öffnungszeiten des Biblioteksbusses sind vorbei“. Ich muß mir also - bei drohendem Informationsverlust alles ohne literarischen Support in meinem dröhnenden Barique...äh Schädel zusammenreimen. Wahrheit ist nach Henry ein Sich-Zeigen, ein ständiges Offenbaren. Wahr ist nicht, daß es heute mäßig warm und ziemlich bewölkt ist, das natürlich auch, denn es trifft zu. Wahr ist vor allem die Tatsache, daß es sich zeigt, daß es mäßig warm ist undsoweiter. Das macht aber die Wahrheit gleichgültig gegenüber allem, was sich zeigt. Und das ist eine schwere Beeinträchtigung, die - das sagt nicht Henry, sondern ich - der Ver-Nichtsung Nietzsches und den Theorien all der Negativisten von Heidegger bis Sartre – nahekommt. Können Sie noch folgen? Denn es geht weiter. Hagen mault, daß sie sich konzentrieren muß und ich doch bitteschön nicht so laut fantasieren möge. Die Trennung im Wahrheitsbegriff, sagt jetzt Henry, zwischen der Wahrheit selbst und dem, was sie zeigt, was sie also wahr sein läßt, ist weltlich. Eine dynamisierte Offenbarung, so Henry, überwindet diese Trennung. Der Mensch erweist sich im Lichte dieser Selbst-Offenbarung des Lebens und seiner Teilhabe daran als ein Mehr als bloße Ansammlung von Molekülverbindungen, Wasser und Aminosäuren, mehr als eine Kombination von Zellverbindungen und Biologie, und durch seine Liebesfähigkeit entschieden mehr als ein Lebewesen mit Drüsenabsonderungen und Saftausscheidungen; er offenbart sich als ein Wesen, das nicht nur Wünsche äußert, sich erfreut, Glücksempfindungen hat, sondern intellektuell in der Lage ist, an dieser Selbst- 305 Offenbarung teilhaftig zu werden. So ist das im Leben und so ist es mit dem Leben. Und wenn sich diese Wahrheit des Lebens uns zeigt, dann sind wir auch nicht mehr auf Unterlassungsverfügungen und Verbote angewiesen, die uns den Weg zeigen, ja, dann sind uns die Gebote geradezu fremd, sind ganz im paulinischen Sinn außer Kraft zu setzen, denn dann handeln wir gemäß der Wahrheit, die sich uns eben gerade in einer exzessiven Weise gezeigt hat. Eine Klarstellung für Leute, die wie ich schon anderthalb Semester Philosophie an der Volkshochschule studiert haben: Es geht hier selbstredend nicht um die „körperlich“ nackte Wahrheit (wie könnte ich?), auch nicht um metaphysische Wesensheiten, nicht um die nachmetaphysische Ent-Bergung, sondern schlicht um die entfesselte Wahrheit, die uns durch den Akt der Entfesselung in ein Schleudertrauma versetzt, das uns unsere lustvolle Schieflage verleidet. Realitätsvermiesung durch Realitätsertüchtigung sozusagen. Das ist der Code, nach dem ich die ganze Zeit gesucht habe - der Code des Wahrheitsexzesses. Lassen wir also im Anblick dieser Wahrheit die Unwahrheiten sich selbst „vernichtsen“, ohne unsererseits dem Vernichtungsvorgang unsere Hand zu bieten. Ich lehne mich entspannt zurück, um dem weiteren Chaos gefaßt ins Auge zu sehen. Es ist Sonntagnachmittag, in einem mäßig warmen mitteleuropäischen Hochsommer. Die Badeseen sind leer, die Museen geschlossen, die Dorffeste ausgesetzt, die Leute wissen nichts mit sich anzufangen. Beten tun sie nicht mehr, die Kirchen sind verschlossen, die Sportplätze verlassen, die Dorfkneipen verfallen. Bleibt nur noch die Autobahn oder der Fernseher. Weil aber heute keine Formel 1 übertragen wird, finden die Rennen hier statt, wo wir uns mühevoll und erschöpft in Richtung Heimat bewegen. Und so liefern sich die Adepten des großen ARSCH, diese „Kaulquappen des Neoliberalis- 306 mus“ (Sepp Bierbichler) einen Kampf mit aller Härte, ohne zu wissen, worum es geht. Mme Knotterbeck sagt: "Du mußt mal deine Ausdrucksweise überprüfen. Deine Wortwahl ist unter aller... äh..., und das vor deinen Kindern." Die Kinder fragen: "Was hat der Papa gesagt?" Ich sage: "Der ARSCH ist ein Akronym, das heißt: Jeder Buchstabe steht für einen bestimmten Sachverhalt; ARSCH wie Auto, Reisen, Sex, Computer und Haus. Und das ist, was die Welt heute für erstrebenswert hält." Die Kinder: „Ach!?“ Hagen fragt: "Und was ist mit Essen, Trinken, Kleidung?" Ich sage: "Paßt nicht in das Akronym hinein. Aber du weißt ja, was gemeint ist." Ich bin jetzt zu erschöpft, um mich mit unbedeutenden Einzelheiten aufzuhalten. Vielleicht ist es die Wirkung des Komplotts, dessen Konturen mir in diesem Vorspiel der Agonie gleichwohl deutlicher werden. Wir befinden uns jetzt kurz vor Forbach, und nunmehr hilft mir das Eingedenken Johann Fischarts, jenes Fischarts, der gesagt hat: „Schaut nur ihre glühroten Schnüffelnasen und ihre Dickbäuche an, da steht die Wahrheit augenfällig eingeschrieben.“ Die Theorie des Komplotts, so wie sie sich mir jetzt darstellt, ist eine auf dem Gebot äußerster Toleranz und bedinglosen Respekts und Wohlwollens gegenüber dem Nächsten gegründete Anschauung. Sie beinhaltet Respekt und Wohlwollen auch gegenüber dem, was er so tut und treibt - soll er doch tun und treiben, wie es ihm beliebt, er wird am Ende schon sehen, was dabei rauskommt. Die Theorie des Komplotts ist sozusagen eine entfesselte Maschinerie, die auf die Selbstdezimierung der Dummheit setzt. Nicht zulässig ist laut ihren Prämissen eine gestaltende Einflußnahme - darin unterscheidet sich meine christlich inspirierte Theorie des Komplotts von jener Nietzsches, der bekanntlich das treten wollte, was ohnehin fiel. Das Komplott meiner Prägung stellt die Fusion dar von Mosche- 307 roschs hermeneutischem, Fischarts satirischem, Giorgio Agambens/Lopéz Petits subjektkritischem und Michel Henrys phänomenologischem Einzelkomplott. Es ist jetzt später Nachmittag, wir sind müde, ich bin verschwitzt, habe stechenden Durst, fühle mich nicht in der Lage, die Konfusion, äh ich meine: die genannte Fusion zu exemplifizieren (das mache ich, es sei hier angedroht, in einer weiteren Rolle meiner Aufzeichnungen). "Bitte nicht", sagt Mme Knotterbeck, "schone die Menschheit und die Generation unserer Kinder und Kindeskinder." "Was hat denn der Papa", fragen die Kinder, "muß er auf den Topf?" Ich sage, schon völlig ermattet: "Nein im Gegenteil, mich dürstet." Wir erreichen die Goldene Bremm. Kaum zweihundert Meter vor uns fegt ein Motorradfahrer auf die Spurverengung zu, verliert bei gleichbleibend hoher Geschwindigkeit den Überblick, gerät ins Schleudern und brettert in die ehemalige Zollabfertigung rein, die dort zur Kontrolle von Hooligans und Kofferträgern talibanischer Schläfer noch stehen geblieben ist. Wir nehmen geistesgegenwärtig die zweite Spur und fahren unbehelligt an der explodierenden Baracke vorbei. Mit dem Komplott bewegen wir uns in der heißen Zone zwischen Aktiv und Passiv. Das Komplott ist nicht Nicht-Handeln. In ihm kommt das Gebot des "Seinlassens des Seienden“ zum Ausdruck, aber nicht als abendländische Kontemplatio, nicht als buddhistische Indifferenz, nicht als taoistische Unwirksamkeit (und was es sonst noch an exotischen Fernsehweisheiten gibt), sondern als Zustand aktivster Passivität. Das Komplott vertraut andererseits auch nicht der strafenden Gerechtigkeit des Himmels und schon gar nicht jener der irdischen Instanzen (insofern muß ich von meinen eigenen Erwartungen an einen gutdosierten Tugendterror Abstand nehmen). Ihm eignet gerade als christlich inspiriertes Komplott nichts Politisch-Diesseitiges oder Appelativ-Normatives oder NumerischRegulatives. Das von mir erdachte Komplott hat auch nichts zu 308 schaffen mit Bazon Brocks Theorie der Affirmation oder Christof Schlingensiefs Konzept der paradoxalen Verdoppelung („Scheitern als Chance“, „Reinigung durch Selbstbeschmutzung“) oder Manlio Sgalambros zynischer Philosophie der Katastrophe. Es ist im Gegenteil hyper- , besser noch: metakritisch, es bedeutet die Kultivierung des Abscheus bei einer Haltung „bewaffneter Neutralität“ (wie Kierkegaard sagte). Das komplottierende Handeln ist zu einer Handlung geworden, in der Agens und Patiens absolut ununterscheidbar geworden sind und in der Mittel und Zweck, Absicht und Effekt, Erwartung und Ergebnis, ja Differenz und Indifferenz unbestimmt werden; es ist eine Haltung der reinen Denunziation, die über keine Machtmittel verfügt mit Ausnahme des Wahrheitsexzesses, nämlich der Bloßstellung und der Selbstbloßstellung. Erst wenn wir diese Stufe des Komplotts erreicht haben, sind wir zu wahrer Menschlichkeit fähig, in der nur noch zwei komplottierende, äh, ich meine korrespondierende Gebote gelten, das der Demut und das, den Bedürftigen zu helfen. "Ich kann's nicht glauben, du willst den Bedürftigen helfen, und nötigst mich, die Unfallopfer zu ignorieren", sagt Hagen. "Ich habe von Bedürftigen gesprochen, nicht von Behinderten", sage ich und hebe den Finger; soll mir Hagen jetzt ja nicht mit kleinlichen Einwürfen kommen oder das Komplott zu unterlaufen suchen... Ich selbst bin jetzt bei der Apokalypse des Johannes angekommen, wo auf eindrucksvolle Weise geschildert wird, was passiert, wenn das Komplott mißlingt und die Mächte der Finsternis die Lufthohheit gewinnen: „Und es tut große Zeichen, so daß es auch Feuer vom Himmel auf die Erde fallen läßt vor den Augen der Menschen; und es verführt, die auf Erden wohnen, durch die Zeichen, die zu tun vor den Augen des Tieres ihm Macht gegeben ist; und sagt denen, die auf Erden wohnen, daß sie ein Bild machen sollen dem Tier, das die Wunde vom Schwert hatte und lebendig geworden war.“ 309 Die Kinder fragen: „Was issen das für ein Tier, von dem du da redest?“ Ich sage: „ Beelzebubs schwarzer Engel.“ Die Kinder: „Schwarzer Engel? Beelzebub?“ „Ach irgendso’n Tier, stellt euch einen von Lord Voldemort ferngesteuerten Riesenbasilisken vor.“ Die Kinder sagen: „Ah, wir verstehen.“ Ich gehe nicht weiter auf die kindliche Vorstellungswelt ein, fahre in meinem Komplott fort und komme nun zur Großen Verwünschung, die für die richtige Ausstattung der „bewaffneten Neutralität“ unabdingbar ist, bevor ich dem wachsenden Mißvergnügen der ungeneigten Leserschaft bald ein Ende bereite und das vorliegende Werk beschließe: Soll doch der Raver den Hörsturz bekommen und von den Felsen dieser Welt stürzen, sollen die Kohldepps sich doch in die Umlaufbahn des Mars schießen, sollen doch die Dicken platzen, die Nackten sich den Windtripper einfangen, die Osteoporosegestelle unter den Anabolikamastsäcken zusammenkrachen, sollen doch die Fernsehköche am Induktionsbräter verglühen oder am Kombidämpfer verdampfen, sollen doch die Franzosen von ihren „caniches“ gefressen werden und die Deutschen sich von ihren Schäferhunden beschälen lassen, sollen doch die Eckenpisser zu Salpetersäulen erstarren, die Anemophoben an den Darmwinden scheitern, sollen doch die Wagen- und Fahrzeug-Sager unter ihre Autorräder kommen, sollen doch die Freizeit-Sommeliers die Fettleber kriegen und die Schöner-Kochen-Adepten in der Fettlebe verenden, sollen doch die hausgemachten Patienten der sensorischen Deprivation langsam veröden, sollen doch den Gourmets die St-Peter-Gräten und den Gourmands die Saftschinken-Knochen im Halse stecken bleiben, die Tout-Sète-Schicksen im neuen „Marty“ eine Salmonellenvergiftung sich einhandeln, sollen doch den McDoofen die Ballaststoffe aus- 310 gehen, die Kleiderallergiker Sonnenbrand oder Nässeschäden bekommen, die Freiburger, Magdeburger und Chickenburger am Autorouter verzweifeln, sollen doch die Silikonträgerinnen gleich den Putenfleisch-Putern auf die Brust kippen, die 12-Zylinderjeeps zu Schrott verbacken, die Wellness-Fanatiker im Sarg ihre ewige Wellness finden, sollen doch die Lüstlinge von neuartigen selbsterregten Lustseuchen befallen werden, sollen doch die Leihmütter bei der Invitro-Fertilisation den Scheidenkrampf bekommen und die Samenspender eine Penisverkrümmung, sollen doch die Fernreisenden in der Geiselhaft landen und die Helischifahrer in der Gletscherspalte, sollen doch die Mittelstreifenpiloten einer Dampfwalze oder einem Bergepanzer begegnen, soll sich doch Madame Simone auf Martinique in Rum und José Bové auf dem Larzac als Schafskäse einlegen lassen, sollen doch die Zecher sich platt rechnen und die Weininvestoren an der Bierbaisse verspekulieren, sollen doch die Beziehungsskrupulanten in den Exkrementen ihrer Großraumdackel ersticken, die Sammeltassen- und Webstuhl-Sammler im Sperrmüll versinken, sollen doch die Modephilosophen an der Lallmauer zerschellen, die Weltdeuter im Schwallstau ersticken, sollen doch die weißen Klone mutieren, bis sie schwarz und die gelben, bis sie rot werden, sollen doch die Bauern in der Gülle ertrinken, soll doch die Giftpumpe die sie bedienenden Winzer sodomieren, soll doch das Gesindel, das hier von Süd nach Nord und von Nord nach Süd und von Ost nach West und von West nach Ost unterwegs ist, zur Hölle fahren, soll doch dem Pack, das zu Hause bleibt und schöner wohnt, das Dach, nein der ganze Himmel auf den Kopf fallen, soll doch die Pfuinanzpumpe pumpen und die Enthirnungsmaschine enthirnen...Ich wünsche... Nein Cater, das darfst du jetzt nicht sagen, bleib cool, laß‘ die Welt das Zeitliche segnen und unterstütze sie dabei nach Kräften mit deinen besten Wünschen und Kenntnissen vom großen Komplott. 311 Wir übernachten heute nicht in Ensheim, sondern versuchen Land zu gewinnen, um rechtzeitig daheim zu sein, bevor noch Schlimmeres passiert. Hagen übergibt mir das Steuer, sie hofft, daß ich mich dort abreagiere - so wie es alle anderen auch tun. Auf der Autobahn Kaiserslautern - Fahrbahn Richtung Mainz ist mit Ausnahme unseres eigenen Klapperkastens kein Auto zu sehen; offensichtlich tummeln sich die Pfälzer auf den Malediven, oder treiben Unzucht in Thailand oder versaufen im Colorado oder haben sich saufend in ihren Eigenheimen verschanzt. Die Trasse, die bei Alzey unsere Route kreuzt, ist überfüllt, auf ihr wälzt sich die sais onal übliche Kolonne holländischer Wohnwagen auf der Suche nach einem warmen Stellplatz in die Provence. Was uns beunruhigt, ist eine schwarze Wolke Nordnordost, die so gar nicht nach Meteorologie ausschaut, sondern irgendwie menschengemacht wirkt. Die Wolke bläht sich mit jedem Kilometer auf. In Höhe von Ensheim (ich meine das in Nordpfalz), dort, wo man für wenige Sekunden den Blick frei hat auf die Mainebene, erkennen wir einen riesigen Feuerball, aus dessen Scheitel sich der Wolkenpilz aufbaut. Das muß Frankfurt sein, mein Gott, was ist dort passiert? Ein Flugzeugabsturz? Ein Nuklearschlag? Ein Vu lkanausbruch? Die Kernschmelze der Hochpfuinanz? Und wieso, weshalb? Ein Unfall? Ein Anschlag? Al Qaida? Die unkontrollierbare Folge meiner Komplotttheorie? Was auch immer, ein Inferno jedenfalls. Die Kinder schlafen, Hagen ist kreidebleich. Aus mir bricht der kalte Schweiß heraus. Mich schaudert vor dem Gedanken, ich könnte mit meiner Komplotttheorie der Verursacher des Infernos sein. Ich sage, um irgendwas zu sagen, da ist wohl nichts zu machen, da kommen wir nicht durch, da ist doch sicher das Frankfurter Kreuz gesperrt: „Wir kehren um.“ Noch bevor Hagen ihre Zustimmung 312 geben kann oder mich wegen meiner Theorie maßzuregeln beginnt, habe ich auch schon kehrtgemacht und jage als Geisterfahrer - heute kostet's ja nix - zum Kreuz Alzey zurück, lasse die Holländer in die Provence abziehen, und fahre jetzt wieder als loyaler Verkehrsteilnehmer, das heißt auf der regulären Fahrbahn durch die menschenleere Pfalz - wohin? Hemm natürlich. Ich bin damals, kurz nachdem ich mit Gabor in Sète war, wegen Adorno nach Frankfurt gezogen; er hat sich leider wenige Tage vor meinem Umzug dem weltlichen Treiben und damit auch mir entzogen. Seither stehe ich aber in parapsychischem, um nicht zu sagen patapsychischem Kontakt mit ihm. Er meldet sich hin und wieder aus dem Jenseits. „Flaschenpost mit Adressatem“, nennt er das. Manchmal gibt er mir Empfehlungen, wie zum Beispiel jene, in dem folgenden Satz das Reflexivpronomen nachzustellen. Es ist auch schon vorgekommen, daß er im Bewusstsein der Unfreiheit, die er dort empfindet, wo immer er ist, Luft durch nicht endenwollendes Rezitieren von noch Ungeschriebenem, ja Ungedachtem sich verschafft. Zumeist aber gibt er mir Seitenzahlen durch, damit ich aus seinem umfassenden (diesseitig publizierten) Oeuvre ein situationsgerechtes Zitat parat habe. Auch diesmal übermittelt er mir eine Fundstelle: „’Negative Dialektik’, S. 366 f.“ Ich habe aber keine „Negative Dialektik“ dabei, Hagen hätte mich schon längst mit dem Wälzer erschlagen, wenn ich den auch noch mitgenommen oder womöglich auch noch hinterm Volant deponiert hätte. Also funke ich zurück: „Bin volltransitorisch unterwegs – stop - keine negative dialektik zur hand – stop - gattin genervt – stop - erbitte asap vollständiges zitat“. Gott sei Dank ist Adorno parapsychisch hellwach. Umgehend trifft das Zitat ein, das ich hier nur gekürzt wiedergeben kann: 313 „Was metaphysische Erfahrung sei, wird am ehesten wie Proust sich vergegenwärtigen, an dem Glück etwa, das Namen von Dörfern verheißen wie Ensheim, Peppenkum, Seyweiler, Niedergailbach. Man glaubt, wenn man hingeht, so wäre man in dem Erfüllten, als ob es wäre. Ist man wirklich dort, so weicht das Versprochene zurück wie ein Regenbogen. Dennoch ist man nicht enttäuscht; eher fühlt man, nun wäre man zu nah, und darum sähe man es nicht. Dabei ist der Unterschied zwischen Landschaften und Gegenden, welche über die Bilderwelt einer Kindheit entscheiden, vermutlich gar nicht so groß. Dem Kind ist selbstverständlich, daß, was es an seinem Lieblingsstädtchen entzückt, nur dort, ganz allein und nirgends sonst zu finden sei; es irrt, aber sein Irrtum stiftet das Modell der Erfahrung, eines Begriffs, welcher endlich der der Sache selbst wäre, nicht das Armselige von den Sachen Abgezogene. Glück, das einzige an metaphysischer Erfahrung, was mehr ist denn ohnmächtiges Verlangen, gewährt das Innere der Gegenstände als diesen zugleich Entrücktes.“ Hemm also, nicht heim ins Reich, heim ins Hemm vielmehr. Keinesfalls dorthin, wo nach Ernst Bloch noch niemand war, sondern dort, wohin niemand je kommen wird. Und so fahren wir dem Ort meiner Kindheit entgegen, wohl wissend, daß uns in diesem auch nichts anderes erwartet, als das, was hier überall zu finden ist. Aber vielleicht ist es die Kindlichkeit, die uns immer wieder hemm treibt, wenn die Welt vom Kopf her stinkt, vielleicht ist es das kindliche Gemüt, das uns rettet, das kindliche Gemüt, das uns dazu befähigt, wenigstens in eigener Person dem Komplott zu entrinnen. Laßt uns also Kinder sein! (Hagen faßt sich an die Stirn.) Halten wir es - bevor ich schließe - mit unserem Peter Wust, der in seinem Abschiedsbrief 1940 schrieb: „Und wenn Sie mich noch fragen sollten, bevor ich jetzt gehe und endgültig, ob ich nicht einen Zauberschlüssel kenne, der einem das letzte Tor zur Weisheit des Lebens erschließen könn- 314 te, dann würde ich Ihnen antworten jawohl: Das Gebet, als letzte Hingabe gefaßt, macht still, macht kindlich, macht objektiv.“ Hagen sagt: „Hier wird nicht gebetet, laß’ die Hände am Steuer und die Objektivität aus dem Spiel. Sonst macht uns dein Komplott platt.“ Ich: „Komplatt? Issen das?“ *** 315 Index nominum Abou-Zaki, Ismat, in Frankfurt wirkender libanesischer Koch und Gastronom Accursi, Daniel, pataphysischer Wirtschaftswissenschaftler Achternbusch, Herbert, Maler, Autor, Regisseur, Schauspieler und Biertrinker Adenauer, Konrad, deutscher Politiker Adorno, Theodor Wiesengrund, Frankfurter Sozialphilosoph Agamben, Giorgio, italienischer Philosoph und Schauspieler Antonioni, Michelangelo, italienischer Filmregisseur Apollinaire, Guillaume, französischer Dichter und Pornokrat Antoine, französischer Protestsänger Aragon, Louis, französischer Schriftsteller Atlas, Natascha, britisch-ägyptische Sängerin Bach, Dirk, deutscher Schauspieler Badiou, Alain, französischer Philosoph Balaban, Alexander, balkanischer Musiker Balibar, Etienne, französischer Philosoph Barthes, Roland, französischer Semiotiker Becker, Boris, Deutscher Becker, Heinz, Saarländer Benn, Gottfried, deutscher Schriftsteller Berger, John, englischer Schriftsteller Bernhard, Thomas, österreichischer Schriftsteller Bethel, Vincent, englischer Nacktaktivist Bey, Hakim, US-amerikanischer Phisosoph Bierbichler, Josef, Schauspieler Bismarck, Otto v., deutscher Politiker Biolek, Alfred, deutscher Fernsehkoch Bizet, Georges, französischer Komponist Bofill, Ricardo, spanischer Architekt 316 Bourdieu, Pierre, französischer Sozialwissenschaftler Bové, José, französischer Schafzüchter Bowles, Paul, US-amerikanischer Schriftsteller Brahms, Johannes, deutscher Komponist Brassens, Georges, französischer Sänger Brétégnier, Colette, französische Hausfrau Brière, Pierrot, französischer Dorfwächter Brock, Bazon, deutscher Ästhetikprofessor Bruel, Patrick, französischer Schauspieler und Sänger Burda, Hubert, deutscher Zeitungsverleger Cacciari, Massimo, italienischer Politiker und Philosoph Camus, Albert, französischer Schriftsteller und Philosoph Cavanna, François, französischer Satiriker Chabrol, Claude, französischer Filmregisseur Char, René, französischer Dichter Consuelo Vladimir, Tochter Cortázar, Julio, agentinisch-französischer Schriftsteller Cousteau, Jacques, französischer Meeresforscher Daho, Etienne, französischer Sänger Dalí, Salvador, spanischer Künstler Debord, Guy, Situationist De Gaulle, Charles, französischer General und Politiker Deleuze, Gilles, französischer Philosoph Derrida, Jacques, französischer Philosoph Dillard, Annie, US-amerikanische Schriftstellerin und Literaturwissenschaftlerin Dunlop, Carol, kanadisch-französische Schriftstellerin Dyba, Johannes, deutscher Erzbischof Edel, Alfred, Schauspieler und Selbstdarsteller Enzensberger, Hans Magnus, deutscher Schriftsteller Faure, Bertrand, französischer Hausmann und Künstler Ferré, Léo, französischer Sänger 317 Fischart, Johann, Amtmann und deutschsprachiger Schriftsteller Fries, Jürgen, Ensheimer Foucault, Michel, französischer Philosoph Frêche, Georges, französischer Lokalpolitiker Furet, François, französischer Historiker Gault, Henri, französischer Gastronomiekritiker Gerasimchuk, Ivetta, russische Denkerin und Schriftstellerin Giacometti, Alberto, schweizerisch-französischer Bildhauer Goethe, Johann Wolfgang v., deutscher Schriftsteller Gotta, Frank, Lebemann, Journalist und Schriftsteller Gracián, Balthasar, spanischer Schriftsteller Grass, Günter, deutscher Schriftsteller Habermas, Jürgen, deutscher Sozialphilosoph Hagen Knotterbeck, Ehefrau Halliday, Johnny, französischer Sänger Halprin, Daria, US-amerikanis che Schauspielerin Handke, Peter, österreichischer Schriftsteller Harig, Ludwig, saarländischer Schriftsteller Hedren, Tippi, US-amerikanische Filmschauspielerin Hegel, Georg Wilhelm Friedrich, deutscher Philosoph Heidegger, Martin, deutscher Philosoph Heine, Heinrich, deutscher Schriftsteller Heidemann, Gerd, deutscher Journalist Hennetmair, Karl Ignaz, österreichischer Immobilienmakler Henry, Michel, französischer Philosoph und Schriftsteller Henscheid, Eckhard, Frankfurter Schriftsteller Hesselbach, Babba, hessischer Fernsehstar Higgs, Russel, englischer Nacktaktivist Hitchcock, Alfred, US-amerikanischer Regissseur Hitler, Adolf, deutsch-österreichischer Vertreter des großen Tieres Houellebecq, Michel, französischer Schriftsteller Hutersch Wiss, Ensheimer 318 Jarim, Ella, Tante Jarim, Josef, Onkel Jarim, Trudel, Tante Jarry, Alfred, französischer Schriftsteller Jesus (von Nazareth), Gottes Sohn Jesus (von Saarbrücken), saarländischer Kneipier Jesus (von Sachsenhausen, i.e. Henner Drescher), Frankfurter Künstler Jean Paul (i.e. Johann Paul Friedrich Richter), deutscher Schriftsteller Jerofejew, Wenedikt, russischer Schriftsteller Jörg, der nackte, von Sachsenhausen Johnson, Hugh, amerikanischer Weinbuchautor Jünger, Ernst, deutscher Schriftsteller und Soldat Kadour, Messali, Jarim-Freund Kästner, Erich, deutscher Schriftsteller Kallaengoulberck, Dionys, Jarim-Freund Kant, Immanuel, deutscher Philosoph Karajics, Dr Nelle, balkanischer Musiker Kaschmir, Melem, Berliner Künstler Kennedy, John F., US-amerikanischer Politiker Kierkegaard, Sören, dänischer Philosoph Kiki Estragon, Tochter Klossowski, Pierre, französischer Schriftsteller und Philosoph Koeppel, Matthias, Berliner Maler und Schriftsteller Koeppen, Wolfgang, deutscher Schriftsteller Kohlhepp, Siegmund, Deutsche Kohlhepp, Susanne, Deutsche Kohlhepp, Katharina, deutsche Tochter Kujau, Konrad, deutscher Fälscher Kundera, Milan, tschechisch-französischer Schriftsteller Kusturica, Emir, balkanischer Filmregisseur und Sänger 319 Lacan, Jacques, französischer Psychoanalytiker Langhoff, Jürgen, Verwandter und Psychiater Lavilliers, Bernard, französischer Sänger Ledoux, Claude-Nicolas, französischer Architekt Lenin, Wladimir Iljitsch, sowjet-russischer Diktator Le Roy Ladurie, Emmanuel, französischer Historiker Levi-Strauss, Claude, französischer Ethnologe Lieblang, Franz-Joseph, Exil-Saarländer Lindner, Jimmy, wahlspanischer Photograph Lopéz Petit, Santiago, spanischer Philosoph Luhmann, Niklas, deutscher Sozialwissenschaftler Luther, Martin, deutscher Reformator Maak, Gert, holländischer Publizist Mandela, Nelson, südafrikanischer Staatsmann Mann, Thomas, deutscher Schriftsteller Mao Tse-tung, chinesischer Vertreter des großen Tieres Marquard, Odo, deutscher Philosoph Marx, Karl, deutscher Philosoph Maupassant, Guy de, französischer Schriftsteller Maurer, Michel, Ensheimer Gastronom Mendel, Gregor Johann, Mönch und Botaniker Millau, Christian, französischer Gastronomiekritiker Miloshevic, Zoki, balkanischer Musiker Miou-Miou, französische Filmschauspielerin Mitchell, Eddie, französischer Sänger und Filmschauspieler Mitterrand, François, französischer Politiker Molière (i.e. Jean-Baptiste Poquelin), französischer Theatermacher und -autor Moscherosch, Johann Michael, süddeutscher Schriftsteller und Amtmann Mozart, Wolfgang Amadeus, österreichischer Komponist Niebergall, Ernst Elias, hessischer Schriftsteller 320 Nietzsche, Friedrich, deutscher Philosoph Noilly, Joseph, französischer Schnapsbrenner Noiret, Philippe, französischer Filmschauspieler Oreillopoulos, Dimitri, bulgarischer Physiologe Pasolini, Pier Paolo, italienischer Filmregisseur und Autor Patric, okzitanischer Sänger Paulus, Hl., Apostel Petrovic, Nesho, balkanischer Musiker Petrarca, Francesco, mittelalterlicher Schriftsteller Peymann, Claus, deutscher Theaterregisseur Pfaff, Dieter, deutscher Schauspieler Pinochet, Augusto, chilenischer Diktator Pohl, Gabor, Ensheimer Pohl, Liz, Ensheimerin Popper, Karl, britischer Philosoph Porte-Jarrytelles, Monsieur, französischer Radfahrer Rabelais, François, französischer Schriftsteller Rancière, Jacques, französischer Philosoph Randur, Simone, Einwohnerin Pérets Rauschenberg, Robert, US-amerikanischer Maler Reboul, J.-B., provenzalischer Kochbuchautor Riesel, René, Bauernführer und Alt-Situationist Rosenzweig, Luc, französischer Journalist Rousseau, Jean-Jacques, französischer-schweizerischer Philosoph Saint-Just, Louis Antoine Léon, französischer Politiker Sartre, Jean-Paul, französischer Schriftsteller und Philosoph Schlingensief, Christof, Theaterregisseur, Schauspieler und Selbstdarsteller Schmitz, Hermann, deutscher Philosoph Schopenhauer, Arthur, deutscher Philosoph Schustek, Karl, staatenloser Allergieforscher Schuhmacher, Michael, deutscher Autofahrer 321 Schwarzinger, Heinz, Übersetzer Sellner, Albert, Frankfurter Autor, Verleger und Organisator Serres, Michel, französischer Philosoph Sgalambro, Manlio, italienischer Philosoph Sparavalo, Dejan, balkanischer Musiker Shakespeare, William, englischer Schriftsteller Siffre, Michel, französischer Höhlenforscher Sloterdijk, Peter, deutscher Philosoph Soboul, Albert, französischer Historiker Spaemann, Robert, deutscher Philosoph Stalin, Joseph, russisch-georgischer Vertreter des großen Tieres Stengel, Friedrich Joachim, deutscher Barockarchitekt Strauß, Franz-Josef, deutscher Politiker Tanner, Alain, schweizerischer Filmregisseur Tàpies, Antoni, spanischer Künstler Tavernier, Bernard, französischer Filmregisseur Tinguely, Jean, Schweizer Künstler Trebes, Klaus, Frankfurter Gastronom Trenet, Charles, französischer Sänger Twain, Mark, US-amerikanischer Schriftsteller Ulbrich, Claudia, Frankfurter Agentin Valentin, Karl, bayerischer Schauspieler Valéry, Paul, französischer Dichter Verdi, Guiseppe, italienischer Komponist Wallauschek, Richard, deutsch-österreichischer Ingenieur Weibel, Peter, österreichischer Künstler Weininger, Otto, österreichischer Schriftsteller Weißer, Hartmut, Sachsenhäuser Weller, Paul, englischer Musiker Wilmenrod, Clemens, deutscher Fernsehkoch Wilson, Edward O., US-amerikanischer Ameisenforscher Wittgenstein, Ludwig, österreichischer Philosoph 322 Wust, Peter, saarländischer Philosoph Ziegler, August, Ensheimer Žižek, Slavoj, slowenischer Psychoanalytiker und Philosoph Zlunka, Franz, Frankfurter Gastronom 323 Index locorum: Adissan, Languedoc-Roussillon Agde, Languedoc-Roussillon Anian, Languedoc-Roussillon Aigues Mortes, Languedoc-Roussillon Algier, Algerien Coucourde, Rhônetal Aix-en-Provence, Provence Allerheiligen, Schwarzwald Ambach, Bayern Arles, Provence Ascot, England Athen, Griechenland Avignon, Provence Bad Brückenau, Franken Baden-Baden, Baden Barcelona, Spanien Basel, Schweiz Bassin de Thau, Languedoc-Roussillon Bayreuth, Franken Beaucaire, Provence Besançon, Franche-Comté Bédarieux, Languedoc-Roussillon Belfort, Franche-Comté Béziers, Languedoc-Roussillon Biarritz, Südwestfrankreich Bionne, Languedoc-Roussillon Bitburg, Eifel Bourges-en-Bresse, Bresse Bouzigues, Languedoc-Roussillon Bratislawa, Slowakei 324 Brüssel, Belgien Buenos Aires, Argentinien Cahors, Quercy/Südwestfrankreich Cannes, Côte d‘Azur Cap d’Agde, Languedoc-Roussillon Cabrières, Languedoc-Roussillon Campan, Pyrenäen Carcassonne, Languedoc-Roussillon Casablanca, Marokko Castelnaudary, Midi-Pyrénées Causse-de-la-Selle, Languedoc-Roussillon Celles, Languedoc-Roussillon Cirque de Mourèze, Languedoc-Roussillon Cirque de Navacelles, Larzac Clermont-Ferrand, Auvergne Clermont l’Hérault, Languedoc-Roussillon Combaillaux, Languedoc-Roussillon Condom, Gascogne Corbère-les-Cabanes, Pyrenäen Coursan, Languedoc-Roussillon Coventry, England Davis / USA Denver / USA Dijon, Burgund Dole, Franche-Comté Echternach, Luxemburg Ensheim / Saar Ensheim bei Alzey Entzheim, Elsaß Eschringen / Saar Fechingen / Saar Fénétrange, Lothringen 325 Fontvieille, Provence Forbach, Lothringen Frankfurt am Main Freiburg im Breisgau Frontignan, Languedoc-Roussillon Gelnhausen, Hessen Gignac, Languedoc-Roussillon Gorges d’Héric, Languedoc-Roussillon Gorges de l’Hérault, Languedoc-Roussillon Gorges du Tarn, Causses Grau d'Agde, Languedoc-Roussillon Grau-du-Roi, Languedoc-Roussillon Grenoble, Dauphiné Grotte de Clamouse, Languedoc-Roussillon Habkirchen / Saar Hanau, Hessen Heidelberg, Kurpfalz Jorwerd, Holland Keskastel, Lothringen Königgrätz, Tschechien Lac du Salagou, Languedoc-Roussillon La Grande-Motte, Languedoc-Roussillon Lamalou-les-Bains, Languedoc-Roussillon Le Cailar, Camargues Le Thor, Provence Les Baux, Provence Le Vigan, Cevennen Lézignan-la-Cèbe, Languedoc-Roussillon Lima, Peru Lodève, Causses London, England Lons-le-Saunier, Jura 326 Lourdes, Pyrenäen Lunel, Languedoc-Roussillon Lyon, Département Rhône Mailand, Italien Mainz, Rheinland-Pfalz Malaucène, Provence Marpingen / Saar Marseille, Département Bouche-du-Rhône Marseillan, Languedoc-Roussillon Marseillan-Plage, Languedoc-Roussillon Mérifons, Languedoc-Roussillon Mers el Kebir, Algerien Merzig / Saar Mettlach / Saar Metz, Lothringen Millau, Larzac Montagnac, Languedoc-Roussillon Monte Carlo, Monaco Montélimar, Provence Montpellier, Languedoc-Roussillon Mont Lozère, Cevennen Mont St Clair, Languedoc-Roussillon Mont St Loup, Languedoc-Roussillon Mont Ste Odile, Elsaß Mont Ventoux, Provence Moskau, Rußland Mourèze, Languedoc-Roussillon Mulhouse, Elsaß München, Bayern Narbonne, Languedoc-Roussillon Nancy, Lothringen Neapel, Italien 327 Nébian, Languedoc-Roussillon Neustadt an der Weinstraße, Pfalz New Orleans, USA Niedergailbach / Saar Nîmes, Languedoc-Roussillon Nizza, Côte d‘Azur Nowosibirsk, Sibirien Offenbach, Hessen Ottenhöfen, Schwarzwald Palavas-les-Flots, Languedoc-Roussillon Pamplona, Spanien Papeete, Tahiti Paris, Frankreich Paulhan, Languedoc-Roussillon Peppenkum / Saar Péret, Languedoc-Roussillon Perpignan, Languedoc-Roussillon Pézenas, Languedoc-Roussillon Pierrelatte, Provence Pilsen, Tschechien Pisa, Italien Port-Camargue, Carmargue Poujol-sur-Orb, Languedoc-Roussillon Reims, Champagne Rimini, Italien Rognonas, Provence Rothenburg ob der Tauber Roujan, Languedoc-Roussillon Saarbrücken / Saar Salasc, Languedoc-Roussillon Salon-de-Provence Salzburg, Österreich 328 Sankt Peter Ording, Nordsee Sarajewo, Bosnien Sarreguemines, Lothringen Sarrebourg, Lothringen Sauternes, Bordelais Sauteyrargues, Languedoc-Roussillon Saverne, Elsaß Sète, Languedoc-Roussillon Seyweiler / Saar Shenyang, China Shijiazhuang, China Sindelfingen, Württemberg Sisteron, Haute-Provence Speyer, Pfalz St Andéol-de-Clerguemort, Cevennen St André-de-Sanconis, Languedoc-Roussillon St Guilhelm-le-Désert, Languedoc-Roussillon St Jean-de-Fos, Languedoc-Roussillon St Martin-de-Londres, Languedoc-Roussillon St Pargoire, Languedoc-Roussillon St Tropez, Côte d‘Azur Strasbourg, Elsaß Tanger, Marroko Tarascon, Provence Toul, Lothringen Toulouse, Midi-Pyrénées Vaison-la-Romaine, Provence Vallabrègues, Provence Vauvert, Camargue Vendargues, Languedoc-Roussillon Venedig, Italien Vézelay, Burgund 329 Vias, Languedoc-Roussillon Vias-Plage, Languedoc-Roussillon Villeneuvette, Languedoc-Roussillon Wanne-Eickel, Ruhrgebiet Wladiwostock, Sibirien Züntersbach, Hessen 330 Index receptarum prohibitarum: Aligot (Käse-Karoffel-Gericht) Animelles panées à l'anglaise (panierte Hoden) Artichauts à la barigoule (Artischocken) Bourride Sètoise (Fischsuppe) Cassoulet royale (Bohneneintopf) Daube à la provençale (Rinderschmorbraten) Flan cateran (Hoden-Flan) Huhn mit Kichererbsen Lamm mit Bohnen Lentilles à la provençale (Linseneintopf) Rognons blancs en sauce (Hoden in Rotweinsauce) Soupe au pistou (Gemüsesuppe mit Pesto) Tajine (Lammfleischeintopf) 331