Merrrdre - Scheitze

Transcription

Merrrdre - Scheitze
Joachim Klein
Merrrdre - Scheitze
- Tagebuch eines Wanderkerfs -
Editions La Gidouille
Joachim Klein
Merrrdre - Scheitze
- Tagebuch eines Wanderkerfs -
© Joachim Klein, 2001
© Editions La Gidouille 2001
merrrdre@kleinjoachim.de
Prolog:
„Ich beginne ein Unternehmen, das ohne Beispiel ist und das
kaum einer nachahmen wird. Ich will einen Menschen in der ganzen
Naturwahrheit zeigen, und dieser Mensch werde ich sein. Ich allein,
wenn auch zusammen mit meiner Familie und inmitten von seltsamen
Gattungsangehörigen, die als meine Zeitgenossen zu bezeichnen
einer Banalität gleichkommt. Ich lese jedoch in meinem Herzen und
kenne die Menschen. Mag die Posaune des Jüngsten Gerichts wann
immer erschallen, ich werde mit diesem Text in der Hand vor den
obersten Richter treten. Ich werde laut sagen: ‚Sieh, das habe ich
erlebt. Ich habe das Gute und das Böse mit dem gleichen Freimut
erzählt. Ich habe nichts Schlimmes verschwiegen, nichts Gutes hinzugefügt und weder Zote noch Schmäh ausgelassen. Und wenn es
mir manchmal passierte, daß ich eine bedeutungslose Zutat verwandte, so geschah es nur, um eine Lücke zu füllen, die mir mangelnde Erinnerung oder unvollständige Wirklichkeit verursachte.‘“
Jean-Jacques Rousseau / Cater Jarim
Samstag, 24. Juni
Die ganze Welt ist von nun an eine Michelinkarte. Wir befinden
uns auf der Autobahn in Richtung Nancy. Vergessen sind die Straßenbuckel in Lothringen, die wir bei den Landfahrten mit den Eltern
zu durchqueren hatten. Damals in den 50ern. Was hatten wir als
Kinder in die Simca Aronde gereiert, immer haargenau an der bereitgehaltenen Emailleschüssel vorbei, immerzu aufs gute Polster oder
den gerade gereinigten Sonntagsstaat der Eltern und Großeltern.
Aber nicht nur wir Kinder, auch Tante Ella aus München, die wir mit
der Aussicht, daß diese Route, wenn man auf ihr bliebe, spornstreichs nach Lourdes führe, zur Tagesfahrt nach Metz und Nancy
(das die Oma noch Nantzig nannte) verlockten... Tante Ella aus
München also kübelte, als gelte es sämtliche Rekorde im
Weit(aus)wurf zu brechen. Heute ist die verkehrstechnische Situation entschärft; nur noch Ludwig Harig erinnert gelegentlich in seinen Schriften an die längst vergangene Eigenart der ostfranzösischen Straßenführung.
Der Verkehr fließt gemächlich, und die Autobahn nimmt die lothringische Stufenlandschaft mit stetem Verlauf. Kein Brechreiz also
im Anmarsch. Uns geht es, danke der Nachfrage, soweit so gut.
Uns, damit meine ich: mich natürlich, Cater Jarim, der hier lenken,
nachdenken und schreiben muß, Hagen Knotterbeck, meine Frau,
Consuelo Vladimir, unsere elfjährige Tochter, und die Kleine, Kiki
Estragon, acht Jahre alt. Falls sich jemand die Frage stellt, warum wir
so seltsame Namen haben, und warum die Familienmitglieder weiblichen Geschlechts ganz oder teilweise Männernamen in ihrer von mir
verliehenen Identität führen, möchte ich die Antwort darauf durchaus schuldig bleiben, auf die Offenheit des Kunstwerks, äh, ich
meine: der vorliegenden Aufzeichnungen verweisen und der androgynen Leserschaft psychoanalytische Spekulationen anheimstellen.
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Wir sind heute morgen in Ensheim gestartet, einem Vorort von
Saarbrücken, meinem Geburtsort, der aber zur Zeit der Cater‘schen
Herabkunft auf Erden noch nicht Saarbrücken war, ja noch nicht
einmal in Deutschland lag. Ensheim wurde wie der Rest des Saarlandes 1957 politisch und zwei Jahre später wirtschaftlich eingedeutscht. Die damals noch selbständige Gemeinde fiel Anfang der
70er den Saarbrückern zu; die vollständige Integration aber darf als
gescheitert gelten; Ensheim hat seine eigene Telefonvorwahl, eine
eigene Gemeindekultur und jede Menge Eigensinn, und all das hat
wiederum seine historische Bewandtnis: Die bayerisch- preußische
Grenze verlief nämlich bis 1919 genau zwischen der geographischen
Mitte von Gemeinde und Stadt, ein Umstand, der sich bis vor wenigen Jahren in der hohen Zahl der Ensheimer Gasthäuser bemerkbar
machte. Außerdem sprechen die Ensheimer (zwar keinen bayerischen, wohl aber) einen alemannischen Dialekt, der noch zu meiner
Zeit die Verständigung mit Leuten aus dem Sprachkreis des HeinzBecker-Deutschs hörbar erschwerte. Doch das ist Geschichte, heute
sprechen die Ensheimer astreines Heinz-Becker-Deutsch, und ich
wohne schon lange hinter Frankfurt hart an der Grenze zu Bayern,
dort, wo die Zugereisten aus allen deutschen Gauen den Hessen die
Sprache des großen Hesselbach und des noch größeren Niebergall
austreiben.
Es schüttet vom Himmel, was das Zeug hält, Liz und Gabor versprachen uns bei unserer Abfahrt herrlichstes Wetter, und zwar am
Zielort, dem südfranzösischen Péret. Liz und Gabor Pohl, um auch
dieses Personal der vorliegenden Aufzeichnungen einzuführen, sind
die in Ensheim beheimateten Besitzer des „Château Pohl“, des Ferienhauses, das wir nunmehr ansteuern. Gabor hat ein Vermögen mit
Spezialflanschen gemacht, die er, wenn ich das richtig verstanden
habe, aus usbekischer oder slowakischer Produktion aufkauft und
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mit einer bekömmlichen Marge über seine beiderseits der deutschfranzösischen Grenze domizilierende Firma an französischneufundländische Konsortien weiterveräußert, die sie wiederum für
den Bau irgendwelcher Gaspipelines von Mers el Kebir via Marseille
und Bratislawa nach Usbekistan verwenden, um die dortige Flanschenherstellung mit Energie aus Algerien zu versorgen. Liz und
Gabor verbringen, um die Verwirrung komplett zu machen, die Ferien
nie in ihrem Haus nahe Montpellier, sondern in nordschwedischen
Anglerhütten, ausgerechnet dort, wo wegen des Permafrosts keine
Pipelines gebaut werden können.
Vor dem Tunnel in Lyon geraten wir in einen kleinen, in einen
wirklich nur winzigen Stau. Ich sage, was ich immer an dieser Stelle
sage: „Hätten wir doch lieber die ‚periphérique‘, die Umgehungsstraße genommen“. Die Kinder sagen nichts, sie schlafen.
Der Blasendruck legt ein Atü zu, Pinkelpause tut not: Wir befinden uns jetzt zehn Kilometer vor Montélimar und steuern den Rastplatz mit dem pittoresken Namen "Aire de la Coucourde" an. Der
Rastplatz ist auf das Liebenswerteste beschrieben in einem Buch
von Julio Cortázar, das eines der wenigen Bücher darstellt, die ich
ohne Vorbehalte empfehlen kann. Cortázar und seine Frau Carol
Dunlop beschreiben darin eine Reise, die sie im Sommer 1982 unternommen haben: eine Reise so ungewöhnlich wie die Umstände, die
ihr vorausgingen. Es handelte sich nämlich um eine Fahrt von Paris
nach Marseille, wobei die Reiseetappen sich nach den ungefähr 70
Rastplätzen entlang der Autobahn richteten: ein Rastplatz zum Aufenthalt während des Tages, der nächste zur Übernachtung. Für die
Distanz, die bei mittlerer Fahrgeschwindigkeit gut acht Stunden
beanspruchen würde, benötigten Cortázar/Dunlop einen ganzen
Monat. Oder anders gesagt: Die Zeit hat sich in dieser kleinen Ve rsuchsanordnung um ein Vielfaches verlangsamt. Die Tragik - oder
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soll man angesichts dieser Verlangsamung sagen: das Glück - bestand darin, daß die künstliche Verzögerung von Reis ezeit nicht nur
eine Unmasse an Erkenntnissen über die menschliche Spezies einbrachte, sondern auch einen Aufschub an Lebenszeit bewirkte Carol Dunlop ist ein halbes Jahr nach der Reise an Krebs gestorben,
ihr Mann ein Jahr darauf kurz nach der Niederschrift des „Expeditionsberichtes“, der 1996 unter dem Titel "Die Autonauten auf der
Kosmobahn" auf Deutsch erschienen ist. Tragisch auch: Beide
wußten um ihre nur mehr kurz bemessene Lebensfrist. Ich werde
ganz traurig und gedenke der beiden Autoren. Aber die Würde des
Augenblicks wird von zwei Franzosen besudelt, die neben der Toilettenanlage stehen, sich lautstark über Fußball auseinandersetzen
und wie beiläufig die Astern beharnen.
Der Himmel beginnt sich aufzuhellen, auf der Höhe von Montélimar zeigt sich der Midi in botmäßigem meteorologischen Zustand.
Bei Avignon beginnt der mediterrane Sommer. Hinter Nîmes treibt
das Außenthermometer auf die 38 Grad zu.
Die Kinder wachen, sobald wir die Autobahn verlassen, aus einem
neuerlichen, viel zu kurzen Koma auf und entdecken von mir animiert das Meer. Ich verschweige, daß es sich dabei gar nicht um das
Meer, sondern bloß um den „Bassin de Thau“, einen Brackwassersee, handelt. Ich greife, nebenbei bemerkt, oft und gern zu solchen
kleinen Realitätskorrekturen, um die Wirklichkeit etwas stärker zu
"akzentuieren", wie das heute heißt. Die Akzentuierung geht allerdings meistens daneben, Hagen Knotterbeck murmelt dann als Zeichen ihrer Mißbilligung einige unverständliche Ordnungsrufe (sie
murmelt nur, um die Kinder nicht zu desillusionieren, ansonsten
stößt sie Ordnungsrufe naturgemäß laut aus), aber bei den Kindern,
die immer schon desillusioniert sind, werde ich wie der leibhaftige
Käptn Blaubär behandelt. Sei's drum.
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Die Fischstände, Restaurants und Snacks in Mèze nahe Sète mit
ihrem überquellenden Angebot an Muscheln und Austern, den
Ejakulaten des Bassin, überzeugen auch den stärksten Zweifler
davon, daß wir uns am Meer befinden. Hagen Knotterbeck und die
Kinder bemerken noch, daß sie keine Austern mögen, dabei hat
Mme Knotterbeck bisher erst einmal Austern gegessen und zwar man lasse sich dies wie eine derselben auf der Zunge zergehen - in
Denver/Colorado, und die Kinder haben allenfalls mal welche im
„Cora“ (einer französischen Supermarktkette) gesehen. Ich selbst
habe noch nie Austern gegessen, was mich aber nicht davon abhält,
sie aufrichtig zu verabscheuen.
Um fünf Uhr nachmittags kommen wir in Péret an. Wir finden das
Château nicht nur auf Anhieb, sondern sogar ganz toll. Den Konventionen gemäß ist auch ein „Kronenbourg“ zur Begrüßung da (die
Vorbesucher müssen immer ein Six-Pack sowie eine Flasche Rotwein
zurücklassen). Die Kinder haben ebenfalls Durst, sie dürfen aber
noch kein Bier trinken, deshalb machen wir uns sofort zum nächstgelegenen Supermarkt auf. Er befindet sich in Clermont l'Hérault und
nennt sich „HyperU“. Trotz seines bescheuerten Namens und seiner
im Vergleich zu den „Carrefours“ und „Coras“ recht bescheidenen
Dimension kommt er einer Offenbarung gleich. "Nein dieses Angebot an Meeresgetier, an Käse, an französischem Wein undundund"
- so entfährt es uns. Nur bei den Innereien, den so genannten "abats", scheiden sich mal wieder die Geister. Als ich all die Pansen
und Kaldaunen, Ziegenhirne, Kalbsköpfchen, -bäckchen und -briese
bewundere, werde ich sofort zum Aufbruch ermahnt. Mme Knotterbeck behauptet, wir seien alle müde.
Ich nehme in der Eile? in der Euphorie? aus Verzweiflung? noch
eine „Saucisson aux myrtilles“ mit. Das ist, geht es mir in Bruchteilen
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einer Sekunde (das heißt viel zu schnell für mich) durch den Kopf,
hinreichend exotisch und womöglich noch für den Rest der Familie
akzeptabel. Sowohl Hagen Knotterbeck als auch die Kinder mögen
Salami; und sie mögen Heidelbeeren; und unversehens kommt mir
die Kombination aus beiden reichlich provenzalisch, also unserem
Urlaub angemessen vor.
Im „Château Pohl“ machen wir uns über unsere Erwerbungen her:
Hagen Knotterbeck und die Kinder mögen keine Saucisson, und ich
spucke sie nach dem ersten Bissen wieder aus. Natürlich ist eine
Wurst „aux myrtilles“ viel zu abartig, als daß sie der hohen Tradition
französischer Wurstküchen entstammen könnte (es scheint mir bis
zum Beweis des Gegenteils eine Originalkreation eines menschenverachtenden „meat engineerings“ holländischer oder brasilianischer Provenienz zu sein). Mme Knotterbeck meint: "Typisch" und
diagnostiziert „Übersprungshandlung beim Kauf. Du bist vom Gegenteil überzeugt und tust es trotzdem.“ Consuelo Vladimir sagt:
„Egal, was du tust, aber tu das Ding weg, das hat ja eine ganz unappetitliche Farbe.“ Ich ertränke meinen Kummer im vorgefundenen
Rotwein, der ungefähr so schmeckt, wie die „Saucisson aux myrtilles“ aussieht und entgifte mich mit dem im „HyperU“ erworbenen
erheblich magersüchtigen Pouilly-Fumé (die hiesigen Weine sind
uns noch nicht geläufig, und was der Bauer nicht kennt...), bevor
schließlich im milden Abendwind unter einem glasklaren Sternenhimmel die Welt trotz allem ihren Liebreiz entfaltet.
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Sonntag, 25. Juni
Heute Nacht hatte ich einen der typischen Träume, in denen ein
Riesenproblem auftaucht und zu dessen Lösung verblüffend einfache Schritte notwendig sind. Dieses Mal war es die Frage, wie hoch
die Transferleistungen reicher Industrienationen sein müßten, um in
Papua-Neuguinea eine stabile Subsistenzwirtschaft zu etablieren.
Die Lösung ergab sich aus der Anzahl der Treffer, die ich mit dem
Pfeil- und Bogenspiel der Kinder erzielte, kombiniert mit dem zum
Überleben erforderlichen Mindestbedarf an Mehl, Zucker und Fett
und der Analphabetenquote, die ich aus dem Fischer-Weltalmanach
erfuhr, wobei ich - was nichts zur Sache tut - zunächst AnalPhabetenquote lese. Auf welche Weise ich die Parameter in Beziehung setzte, habe ich sofort nach dem Erwachen wieder vergessen,
so daß die Welt noch weiter der Lösung ihrer dringendsten Probleme harren muß. Ich nenne diese Art von Träumen, die mich in jeder
dritten Nacht ereilen, Träume der portionierten Weltformel, und der
Witz dabei ist, daß ich während des Traumes immer das sichere
Gefühl habe, es genügten meine Träume bzw. deren Ergebnisse
zusammenaddiert, um die Welt tatsächlich für jedermann lebbar zu
machen, ohne daß auch nur noch ein Rest an Unglück zurückbliebe.
Im Grunde genommen ist das die simple, aber auch wünschenswerte
Außer-Kraft-Setzung der Schopenhauerschen Weltformel, wonach
die Summe allen Leides (auch aller Dummheit) immer konstant bleibt.
Das „Château Pohl“ besteht an und für sich nur aus einem Raum.
In Südfrankreich nennt man das Salon - eine Mischung aus Wohnund Eßzimmer. Hier ist – „à l'américaine“ - angeschlossen eine kleine
Küche. Separiert sind: ein Schlafzimmer, ein Bad (mit Wanne und
Bidet, jenem Gerät, das wir Deutschen in früheren Zeiten als steinerne Aufforderung zur Fußreinigung ansahen) sowie - durch zwei
Holzstiegen und -loggien erschlossen - noch drei weitere Schlaf-
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räume, sozusagen im Obergeschoß des Salons. Die Kinder hatten
sich bei unserer Ankunft begeistert gezeigt und sofort die oberen
Zimmer in Beschlag genommen. Hagen Knotterbeck und mir war das
vollseparierte Schlafgemach insofern zupaß gekommen, als die Aussicht auf das benachbarte Cabinet beruhigend wirkte - haben wir
doch unter altersbedingten Schwächlichkeiten hinsichtlich der
Harnresistenz zu leiden. Außerdem, muß ich gestehen, habe ich
bereits in der ersten Nacht von pinkelnden Franzosen gealpträumt,
die in sonder Zahl an Autobahnraststätten Astern und Robinien
beschiffen, und sowas kann – falls das wiederkehren sollte – zu
akuten Nachahmungstäterschaften führen.
Péret ist ein 500-Seelen-Dorf, das haargenau auf jenem Saum liegt,
den die Küstenebene des Languedoc mit dem Vorgebirge zur Causses bildet. Die ersten Häuser stehen noch in der Ebene, der Chemin
des Roques, der an das „Château Pohl“ angrenzt, steigt bereits steil
an. Nördlich und nordwestlich von Péret schließt sich echte Landschaft an, südlich gibt es - um mit Salvador Dalí zu sprechen - noch
nicht mal geologische Gegebenheiten. Péret selbst ist in jeder Hinsicht von extremer Schlichtheit. Die einzige Berühmtheit unter den
Bewohnern ist Michel Siffre, ein „spéléologue“, ein Höhlenforscher.
Siffre erlangte in seiner Zunft dadurch Ansehen, daß er spektakuläre
Selbstexperimente mit extremem Zeitentzug bei vollständiger Isolation – vorzugsweise in der knapp 30 Kilometer entfernten Grotte de
Clamouse - praktizierte. Der Populärwissenschaftsjournalismus,
immer um die richtige Rubrifizierung bemüht, nennt ihn den „Kommandanten Cousteau der Höhlen“.
Ein erster Kontrollgang durch das Dorf ergibt:
1. Der Franzose und der französische Dorfbewohner zumal ist kein
Frühaufsteher. Keine Menschenseele zu sehen.
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2. Eine Kneipe ist nicht vorhanden. Das bedeutet: Es handelt sich
um kein richtiges Dorf, sondern lediglich um eine unstrukturierte
Ansammlung von Häusern mit dem Erscheinungsbild eines Dorfes.
3. Es gibt nur eine Bäckerei und die ist zu allem Überdruß sonntags geschlossen - es ist mithin keine richtige Bäckerei (ein Fakt der
noch dramatisch an Wahrheitsgehalt gewinnen sollte), sondern ein
Versorgungsdepot mit einem Minimum der dafür erforderlichen
Ausstattung (eine Etagère, ein Tisch).
Alles in allem eine ernüchternde Eröffnungsbilanz. Was die Sache
mit der Kneipe anbelangt, so ist Péret natürlich kein Ausnahmefall,
sondern die Bestätigung einer Regel, die das Selbstverständnis des
republikanischen Frankreich erschüttert. Die französischen Linksparteien, die in der Dorfkneipe - jedenfalls dort, wo sie die Mehrheit
hatten - richtigerweise die säkulare Stellvertretung des Himmels auf
Erden gesehen haben, die wiederum die Dorfkirche in einer von
Pfaffen befreiten Zukunft ersetzen würde - haben sich in den siebziger und achtziger Jahren verschiedentlich an Projekten kommunaler
oder gar parteieigener Dorfkneipen versucht. Sie sind allesamt gescheitert: Eher geht das TV-verwöhnte Kamel durch das Nadelöhr
der heiligen Sonntagsmesse als zum Himmelreich laizistischer Begegnungen am Tresen. Es ist wie die Bestätigung eines früher in der
Umgebung des saarländischen Merzig gebräuchlichen Stoßgebetes,
das der einzige saarländische Philosoph von Rang (ein Erzkatholik
natürlich), Peter Wust, überliefert hat: "Vater unser, der Du bist bleib' ein jeder, wo er ist."
Daß nicht ein jeder bleiben kann, wo er ist, lehrt die reine Unmittelbarkeit. Nehmen wir den Kirchgänger. Auch er muß äußerste
Mobilität walten lassen, wenn er dem Sonntagsgebot Folge leisten
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will. Tatsache ist, daß Péret eine Kirche hat, keine schöne, aber
immerhin eine, die sich nicht nur in das Weichbild des Ortes einfügt,
sondern - comme il faut - dem ganzen auch einen Mittelpunkt verleiht, der es als Ort identifizierbar macht. Und mit seinem nach oben
offenen, midigerechten "clocher", der von einer sogenannten "barbarottes", dem Eisenkäfig für die Glocken, überwölbt ist, läßt es an
Abertausende von Dörfern denken, die sich von Spanien bis hart an
die dalmatinische Küste hinziehen. Nebenbei bemerkt: Es gibt nicht
nur eine touristische Verballermannisierung der Méditerranée, sondern auch seit alters eine architektonische Vernatursteiner- und
Vertrockenmauerisierung, die alle Menschen, die vor dieser Kulisse
erscheinen, gleich aussehen läßt - schwarz die Frauen, grau die
Männer - und die Jungen kommen in diesem jahrhundertealten Film
immer nur in den Koloraturen kurzer und heftiger Leidenschaften
vor, bevor sie blitzschnell altern und schwarz und grau werden.
Nur: Pérets Gotteshaus als gebieterisches Zentrum göttlichen Willens, wonach die Kirche im Dorf zu bleiben hat, bleibt für das Dorf
verschlossen. Kirchgänger müssen in Ermangelung klerikaler
Betreuungskapazitäten den Weg nach Clermont l'Hérault nehmen einen Weg immerhin, der per pedes apostolorum zwei Stunden in
Anspruch nimmt und von rachitischen Altersbeinen (die hier ab
sechzig das Maß aller Dinge sind) vier Stunden abverlangt, weswegen eine Alte aus Péret, die 65 Lenze zählt, gerade erst ankommt,
wenn das Agnus Dei gesprochen wird - wenn es denn ordnungsgemäß gesprochen wird und wenn sie, die Alte, jemals ankommt.
Nicht nur die Kirche ist verschlossen, auch das Urinioir à la Clochemerle hat zu. An seiner Außenmauer die charakteristische dreieckige Nässespur, die auf hohe Bedürfnisbefriedigungsnachfrage
(oder andersrum: auf ein Urinüberangebot) bei mangelnden Entsorgungsfazilitäten schließen läßt.
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So ein Dorf bietet zudem wenig, um eine typische Kleinfamilie des
beginnenden 21. Jahrhunderts mehr als zwei Stunden bei der Stange
- oder soll man sagen: im Schlagschatten des „clocher“, des Glockenturms - zu halten. Auch das „Château Pohl“ mit seinen Darbietungen an Fernblick (Cap d'Agde und der Mont St Clair sind zu
erkennen) zeigt sich nicht in der Lage, fesselnde Aufmerksamkeit
seiner stummen Existenz zu erzielen. Nur das Fernsehen vermag
einen Teil der Familie, den altersmäßig geringfügigsten Teil, zu fesseln: Es können alle deutschen Programme, nicht nur die Sendeplätze solidester Halbbildung wie Arte und 3Sat, sondern auch sämtliche Abwässerkanäle des elektronischen Boulevards empfangen
werden. Daß die Kinder dies erst heute, einen Tag nach Ankunft,
entdecken, ist Pech für sie - sofern man die Anwesenheit einer betriebsbereiten Glotze mit der Abwesenheit von Unglück oder umg ekehrt die Abwesenheit der Röhre mit der Anwesenheit von Unglück
gleichsetzen kann. Glück für sie jedenfalls, daß sie sogleich den
Choc der Fremde mit einer heimatsprachsynchronisierten Daily Soap
dämpfen können.
Großes Protestgeschrei deshalb, als der Haushaltsdoppelvorstand
einstimmig beschließt, dem Trägheitsprinzip der Muße zu widerstehen und sich unverzüglich urlaubskonformer Tätigkeit zu widmen.
Ich ziehe also meine kurzen Buxen an, halte der dräuenden Hitze
meine gebleichten Beine entgehen und steige mangels anderer
Schuhe in meine Wandergaloschen Marke Meindl, eine Vorgehensweise, mit der ich mir sofort einen Verweis von Mme Knotterbeck einhandele. Das Schuhwerk sei zwar womöglich steigeisenfest,
aber bei weitem nicht großstadtfähig, zumal überhaupt mit diesen
knochenbleichen Gebilden zwischen Oberleder und Shortszwickel...Schluß jetzt, sage ich, die Schuhe bleiben an und die Beine
unverhüllt - oder soll ich mich etwa in langen Hosen und dafür bar-
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fuß in Sète bewegen, wo doch ein jeder weiß, welche Gefahren in
französischen Städten dräuen, Gefahren in Form von Tretminen aus
den Dickdärmen der beliebten endemisch auftretenden "p'tits caniches" (das sind die widerlichen weißen Zwergpudel, die es nur in
Frankreich und Belgien gibt)? Man darf nicht vergessen, daß in der
Grande Nation pro Jahr mehr als eine Million Welpen geboren werden, die später auf die Straßen scheißen dürfen, aber nur 750 000
Babys, denen es untersagt ist, irgendwo anders hin als in ihre eigene Windel zu kacken. Das finden auch die Kinder empörend und
mehr als einen hinreichenden Gegengrund zum Barfußlaufen.
Wie das Leben so spielt, bestraft es die Bedenkenträger, gibt damit aber noch lange nicht den Unbedenklichen recht. Kaum in Sète
angekommen, trete ich mit meinem festen Mont-Ventoux-erprobten
Schuhwerk in einen riesigen Haufen, ein wahres Gebirge von Scheiße, das aufgrund seiner Ausmaße unmöglich aus dem Innern eines
„p'tit caniche“ stammen kann. Diese Masse von schier alpenländischer Dimension muß eine Hunderasse des Gebirges und keineswegs der Küstenebene entbunden haben - ein Bernhardiner zum
Beispiel. Die Frage ist nur: Wo kommen all die Bernhardiner her und
was wollen sie hier? Denn Sète ist an diesem wunderschönen Sonntagvormittag voller Bernhardinerausscheidungen, die nicht nur die
ebenfalls vorhandenen, allerdings mageren Pudelexkremente beschämen, sondern auch, weil an strategisch wichtigen Orten plaziert,
Ortsfremden zur Falle werden, ganz so, wie es in der Absicht der
Eidgenossen lag, die im Zweiten Weltkrieg allüberall Brückenfallen
gegen allfällige Invasoren errichteten.
Das zusätzliche Gefährdungspotential wird mir jäh gewahr, als wir,
in einem Café an der Place Aristide Briand sitzend, Zeuge eines
Vorgangs werden, dessen Abscheulichkeit auf dem Papier kaum
nachgezeichnet werden kann, es sei denn, es handelte sich um Toi-
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lettenpapier. Vorbeimarschieren im Gleichschritt einige Gruppen von
Trommlern, Flötisten und Fanfarenspielern unterschiedlichsten
Alters. Alle sind - Erwachsene wie Kinder - weiß gekleidet, dunkelblaue Bordüren schmücken ihre Hemden, auf den Mützen prangt
jeweils ein stilisierter Anker. Der Aufzug verleiht dem Defilé untrüglich maritime Bezüge. Ich habe gerade noch Zeit, die Bedienung
nach dem Anlaß der Darbietung zu fragen (ihrer Antwort in kaum
verständlichen Midipatois entnehme ich, daß es sich um das Fischerfest zum Namenstag des Hl. Peter, des Schutzpatrons der Fischer, handelt), bevor mein Blick (von was wohl?) gefangen wird:
natürlich von einem braunen Monsterklacks, der sich bis in schwindelerregende... na, ich will nicht lügen: einen ganzen Fuß, und zwar
Schuhgröße 48, über den Asphalt erhebt. Seltsam genug, tritt kein
Teilnehmer der drei ersten Spielmannszüge in den Haufen, alle, die
ihm zu nahe kommen, unterbrechen ihren Gleichschritt für einen
Bruchteil von Sekunden und finden - das Hindernis kaum überwunden - innerhalb ebenso kurzer Zeit durch geschicktes Trippeln in
den alten Rhythmus zurück. Dafür aber erwischt es die nachfolgenden Züge umso ärger. An die zehn Mann versenken ihre frisch gewichsten Eintänzerschuhe in den stinkenden Glibber, geraten aus
dem Takt, machen unter dem Gelächter einiger „plais antins“ aus den
benachbarten Cafés, die sich sichtlich schon einige "ballons" (so
heißen paradoxerweise die kleinen Gläser Wein) reingepfiffen haben,
Ausfallschritte und Verrenkungen, als seien die Hornissen hinter
ihnen her. Die Kinder schreien: „Ihhh, sind das Ferkel, die Franzosen“; Hagen Knotterbeck, deren Selbstbräunerfassade ob der Zumutung dieser Szenen in britische Blässe gewechselt hat, ächzt
pflichtbewußt: „Nicht die Franzosen, die Köter...“ und ich, der ich
meinerseits korrigierend eingreifen mü ßte (Hunde sind Hunde, aber
definitionsgemäß keine Ferkel), ich zeige mich - bis auf ein paar
klägliche Würggeräusche, die mir unversehens entfahren, sprachlos. Die Bedienung, fesches Weib, das den „plaisantins“ schon
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einige Entzückungsrufe entlockt hat, glaubt, eine Erklärung schuldig
zu sein und sagt so etwas, das so klingt - aber aus ihrem Munde
durchaus glaubwürdig - wie: "Rata pong, rata peng - baise-moi au
p`tit mateng", und lacht anzüglich. Derweil verschwinden einige
Pinkler, die den langen Weg durchs Lokal in dessen Abschlagkabinett scheuen, hinter die Platanen und nehmen die Stämme schamlos
a tergo.
Warum aber, das ist für mich schon eine Frage von geradezu ontologischer Tragweite, sind nicht die Marschierer an der Spitze zum
Opfer der stinkenden Bombe geworden, wohl aber alle in der Mitte
gehenden Teilnehmer des vierten, fünften, sechsten Zuges? Die
Antwort ist undenkbar einfach, offenbart sich aber erst, als das
Defilé zum zweiten Mal an unserem Standort vorbeikommt - augenscheinlich gehört es zu den Umzugsbedingungen, mehrmals die
Place zum umkreisen: Am Herkunftsort der Züge, abzulesen an den
Standarten, zeigt sich, wer in die Scheiße geraten war, und wer nicht.
Die Sétois haben sie traumwandlerisch umgangen, die Pfeifer und
Trommler aus Grau du Roi, Agde, Marseillan, Palavas oder Bouzigues hat’s erwischt. Zufall oder Notwendigkeit, das ist hier die Frage, die nur einer aus Sète, und dies sicherlich nicht wahrheitsgemäß
beantworten kann.
Zu den harmloseren Vergnügungen gehören - verglichen mit den
Vorgängen um die tierischen Ausscheidungen - die Rituale der
Nahrungsaufnahme, die sich an den Quais abspielen. Dort sind
Zelte im internationalen Partystil, bestückt mit den obligaten Partytischen, aufgebaut. Hineinströmt (in die Zelte) ein Publikum in redressierter Festbekleidung, angesiedelt irgendwo zwischen Pferderennen in Ascot und Feuerwehrball in Großwiemelshausen, ein Look,
den man in Frankreich „endimanché“ nennt. Da wir aber im Süden
sind und am Meer, läuft die Mehrheit der Männer in weißer Hose
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und weißem Hemd herum (die Füße irgendwie wenig hundescheißeavers mit Flechtschuhen umhüllt) und die Damen in beigen Kostüm
mit Hutgebilden in nicht ganz so exzentrischer Abmessung als auf
der Insel. Dazu - zwingende Accessoires - bei den Damen Sonnenbrille in Horn gefaßt und bei den Männern Goldkettchen mit Anker.
Tout-Sète strömt also in die Zelte versorgt sich mit Champagner, der
in ultraschallartiger Geschwindigkeit hinter die goldkettchenbewehrte Binde gekippt wird, und mit Austern, die mit einem kollektiven
dezibelstarken Schlürfgeräusch („hrrrschlfff“) ebenso rasant einverleibt werden. Was dazu führt, daß sich die Zelte ebenso rasch wieder entleeren, wie sie sich zuvor gefüllt hatten. Nach etwa einer
halben Stunde bleibt der Partymüll, der es gut und gern mit einem
24stündigen Ausstoß eines Innenstadt-McDo aufnehmen könnte,
verlassen zurück. Denn Tout-Sète ist nach der Magenstipulation
mittlerweile in die zig Restaurants an der Rampe Paul Valéry zum
Abschluß des sonntäglichen Menüs verschwu nden.
Inzwischen haben wir mächtig Kohldampf und sind gewillt, dem
Beispiel von Tout-Sète zu folgen. Wir suchen natülich ein rekommandiertes Lokal und kein Neppetablissement. Aber wie finden?
Fast auf jeder Boulevardterrasse stehen Aufreißer männlichen und
weiblichen Geschlechts, die mit obszön anmutenden Gebärden auf
die jeweils gleichen Vorzüge des eigenen Hauses aufmerksam machen. Wir biegen also in die Promenade J.B. Marty ab, schlendern
unentschlossen unter den Arkaden, wo sich Restaurant an Restaurant reiht und warten auf das Signal eines noch zum Schutze des
Gastes zu befehlenden Heiligen, der uns behilflich sei, eine gute
Kneipe zu finden, von der wir später als gastronomische Sensation
zu berichten wüßten.
Tatsächlich aber gibt, wie Freund Albert Sellner in seinem "Immerwährenden Heiligenkalender" aufgeführt hat (der ihn über 15
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Lebensjahre ohne Beistand eines Schutzbefohlenen kostete), Heilige gegen rektales Wundsein (Agathá, Martin, Wolfgang), Heilige
der Pastetenbäcker (Jakobus der Jüngere, Erzengel Michael, Philippus), ja sogar einen Heiligen für Ministerialbeamte (Ivo Helory), und
natürlich auch solche, die gegen ungesunde Säfte (Kosmas, Damian), Totgeburten (Ignatius von Loyola) oder Harn- und Blutfluß
(Gervasius, Protasius) zuständig sind, aber keinen respektive keine,
in dessen/deren Ressort das Wohl des schwelgenden Gastes fallen
würde, wenn man einmal davon absieht, daß die Heilige Bibiana,
wohl ob ihres Namens, zur Patronin der Trinker erklärt wurde, in
Wirklichkeit eine standhafte Jungfrau war, die vom bösen Statthalter
Apronian des noch böseren Heidenkaisers Julian Apostata ins
Bordell gesteckt und dort wegen ihrer Standhaftigkeit mit bleibeschwerten Geißeln zu Tode gepeitscht wurde.
Vielleicht hat das Stoßgebet zum Heiligen Arbogast geholfen, seines Amtes zuständig gegen Niedergeschlagenheit, oder auch zum
Heiligen Bruder Konrad von Parzham, dem ewigen Pförtner von
Altötting, den wir versehentlich angerufen haben, da er doch für
das Seraphische Liebeswerk zuständig ist, aber wie Albert mir später
versichert, durchaus bei allen Nöten bemüht werden kann. Jedenfalls zeigt Hagen Knotterbeck, während ich schon zur Selbstverdauung übergegangen bin, auf ein Lokal, in dem viele schwitzende,
dicke, krachfröhliche, einfach gewandete Menschen beiderlei Geschlechts, aber nur einer Klassenzugehörigkeit (des im Verschwinden begriffenen gemeinen Volkes) sitzen, und bar jeder Tischsitten
und ohne jeden Respekt vor komplexen Krustengetier vor sich hinschlemmen. Kein Angehöriger von Tout-Sète und kein Tourist weit
und breit zu sehen. Das Lokal selbst (Le Marty, 17 Promenade J.B.
Marty, Tel. 67.74.46.45) ist von bestechender Häßlichkeit: ein langer
Schlauch mit dem „zinc“ (dem schweren Tresen, der in Frankreich
wie in allen romanischen Ländern immer um ein Vielfaches solider,
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authentischer und teurer aussieht als seine deutschen Artgenossen,
die immer noch in Resopalbeschichtung oder in plastehaltigem Holzimatat daherkommen) und wenigen Tischchen (die nun wiederum in
echtem Resopal), die Wände in einem Rosa gehalten, das jedes
andere Rosa, auch das der Hüfthalter für mollige Damen, um ein
Vielfaches an Geschmacklosigkeit übertrifft. Vor diesem Schankraum
das Arkadentrottoir, auf dem sich einige fliegende Händler niedergelassen haben und ihre geschmacklosigkeitskompatible Kunstgewerbekollektionen (Armreifen, Negerskulpturen, Silberlöffelchen und
sonstiger Ethnokitsch) anpreisen, und davor wiederum der
Schnettwittchensarg einer umglasten Boulevardterrasse, in dem sich
die fröhlichen Gäste breitgemacht haben.
Wir finden noch einen Platz, Mme Knotterbeck zeigt sich zufrieden, die Kinder sind wie immer mißtrauisch, ein Mißtrauen, das fehl
am Platze ist und sich sofort legt, als ihr Hors d'oeuvre kommt handgeschnitzte Pommes, die sie beispielsweise im gesamten RheinMain-Gebiet nur noch in einer einzigen Kneipe, nämlich im Spanischen Demokratischen Arbeiterverein in Hanau zu finden sind (Tel.
06181 - 21772, unbedingt Tisch reservieren), einer Kneipe, die so
heißt, weil sie mal unterm Francoregime die Anlaufstation für unbotmäßige Spanier aus dem Dunlop und dem Heraeus war, inzwischen aber von Privathand als „Spanier“ für Spanier geführt wird.
Immer noch stehen melancholische spanische Vereinsfrauen in der
Küche, um die Kartoffeln ohne andere Hilfsmittel als „Kneipchen“
(hessisch für kleines Schälmesser) und Fettpfanne zu drechseln, zu
sautieren und zu frittieren, auf daß ihre Patates so werden und so
munden wie heute im "Marty". Wir nehmen als Vorspeise unsere
erste Fischsuppe, eine "bourride sétoise", eine ihrer Art, die in Sète
etwas anders als sonstwo hergestellt wird (warum, werde ich noch
verraten), Hagen Knotterbeck wählt als Hauptspeise "moules farcies" und ich "seiche sétoise", die übrigens auch schon in der
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Fischsuppe geschwommen ist, aber mir in dieser Darreichung erneut
heftig konveniert. Die Kinder verspeisen als Hauptspeise nochmals
eine Riesenportion Pommes und zum Nachtisch eine kleiner dimensionierte Crème brulée. Beschwingt vom Picpoul-de-Pinet, dem regionalen Weißwein, keinem besonders hervorstechenden Tropfen,
der aber frisch, fromm und frei daherkommt und selbstverständlich
mit der Meeresfauna gut harmoniert, genießen wir den Ausblick, der
tatsächlich das bietet, was die Vis itenkarte des "Marty" verspricht:
„Terrasse panoramique sur le port“. Heute ist wenig Betrieb im alten
Hafen, aber wochentags geht hier die Post ab, vor allem, wenn am
frühen Nachmittag die hochseetauglichen Fischkutter aus den weitentlegenen Fanggründen kommen, hier anlanden und die Beute
ausspucken. Dann sitzen die Fresser des Marty und nicht die der
nobleren Etablissements am Quai Général Durand in der ersten Reihe.
Fresser, wie beispielsweise am Nachbartisch der alte Hagestolz,
von dem man sich gut vorstellen kann, daß er mit dem gleichaltrigen
Georges Brassens, dem in Sète gebürtigen Chansonnier, zusammen
die Unschuld in einem der Puffs zwischen Quai Louis Pasteur und
Quai Vauban vergeudet hat. Monsieur Vieux-Pote-de-Georges also
entkrustet und entpanzert Unmassen Langusten, Austern und Muscheln und setzt diese in seinem mit mindestens drei Litern Picpoul
gefüllten Wanst frei. Oder am anderen Tisch die Dupont, deren
identische Nasenform und -farbe auf ihre ländliche, und zwar unverkennbar binnenländische Herkunft hindeuten. Wahrscheinlich
stammen sie aus St Andéol-de-Clerguemort am Fuße des Mont
Lozère und haben die gut 120 Kilometer hierher auf sich genommen,
um den dort üblichen, mit einem „p'etit rouge“ begossenen Hammel
gegen „dorade royale au thym à la tomate acidulée“ (etwa: Goldbrasse der Extraklasse ) und einem Clairette, dem Weißwein aus den
auflandigen Lagen des Languedoc, auszuwechseln. Die Nasenbären
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von Dupont wechseln kein Wort miteinander (die Leute am Mont
Lozère sind in Worten so karg wie die Berge dort an Bäumen), sie
geben sich stattdessen still der Eß- und Trinklust, das aber mit so
ungebremstem Vergnügen hin, daß es einem für ihre Heimfahrt auf
der stark frequentierten Nationale 110 angst und bange sein muß.
Am Quai de la Résistance, den wir auf dem Rückweg passieren,
steht ein weiterer Nasenbär mit rostrotem Zinken und pinkelt in
formvollendeten Bogen - die parkenden Autos als Schamblende
mißbrauchend - auf einen rostigen Kahn, der im (schiffbaren) Canal
de Sète vor sich hindümpelt. Hat wohl aufs Meer gehalten, der Eichstrich, der bei ihm vier Promille anzeigt, verhinderte den Treffer. Was
die Übeltat keineswegs entschuldigt: Ist doch wirklich unheuerlich
diese öffentliche Unbeherrschheit im Blickfeld einer deutschen Familie.
Montag, 26. Juni
Der Urlaubsalltag beginnt. Das heißt, ich habe Croissants und
Baguette(s) zu organisieren. Die etwa fünf Dorfbewohner, denen ich
in den stillen Straßen auf dem Weg zur Bäckerei begegne, schauen
betreten unter sich und können sich erst zu einem mühsamen „Bonjour“ aufraffen, als ich ihnen, urlaubsjovial wie ich heute nunmal
gestimmt bin, einen solchen entgegenbelle.
Der gestrige Erkundungsgang erspart mir Umwege und ich erreiche die vorgebliche Boulangerie pünktlich zur Öffnungszeit. Dort
sind bereits einige Frauen und Mannsleute versammelt. Die Frauen
sehen aus wie Klatschweiber, sind auch Klatschweiber, aber nicht
hier und heute und nicht bei diesem Zusammentreffen - es herrscht
tiefes Schweigen. Ob die sich wohl nicht grün sind, ob wohl Mada-
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me Sauvaire der Madame Jourdan beim Blumengießen die Wäsche
bepinkelt hat? Oder die Schwiegertochter von Madame Pignol der
Tochter von Madame Capely, dieser Schlampe, übel nachredet?
Oder Madame Graillac der Madame Robert immer die letzten Croissants wegschnappt?
Letzteres scheint - wie sich alsbald zeigt - in dieser Bäckerei zur
Regel zu gehören: Obwohl ich mich rechtzeitig eingefunden habe,
bekomme ich statt der gewünschten vier gerade noch eins. Madame
la Boulangère, die im Kopfrechnen offensichtlich so unterbelichtet
ist, daß sie die Preise des 1 Stück Croissant und des 1 Stück Baguette in einem zeitaufwendigen Additionsverfahren auf dem
Schreibblock ermitteln muß, empfiehlt Vorbestellung. Madame la
Boulangère fehlt übrigens so ziemlich alles, was dem durch Film,
Funk und Literatur gespeisten Stereotyp der typisch französischen
Mischgattung von Bäckersfrau und Confiseuse ausmacht: ich meine
jenen drallen Urtyp von Bäckersfrau mit den vollen Lippen, dem
Kirschrotmündchen, das den Kunden aus dem milchhäutigen Gesichtchen anspringt, die allerallerreizendste Ehebrecherin, die im
Verkaufsgespräch mit lasziven Gesten von den phallischen Backwaren auf die Naschwerke mit deren ohnehin allerzweideutigsten Benamungen überleitet: auf die Jésuites oder die Réligieuses (die
"Nonnen", das sind gefüllte Windbeutel, weswegen es in der Burleske recht anzüglich heißt: "Laßt uns eine paar Nonnen genehmigen..."). Also die französische Bäckerei als solche riecht und
schmeckt nach erotischem Abenteuer, ganz im Unterschied zur
französischen Metzgerei, die in der kollektiven Imagination eher
zuständig ist für die gleichsam platonische Liebe durch den Magen.
Die Bäckerei steht für die unabwendbar sich steigernde lustvolle
Kundenorientierung, wohl auch deshalb, weil der müßiggängerische
männliche Kunde alle Zeit der Welt für die finale Begegnung mitbringt, während der Bäcker selbst, der bereits gehörnte oder erst
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noch zu hörnende Ehemann, zu den unmöglichsten Zeiten schuften
muß, seine Säfte vor dem heißen Backofen austranspiriert, und ihm
die beginnende Mehlallergie ohnehin Neigung zu Ausschweifungen
raubt, vulgo: auf den (Mehl-)Sack schlägt.
Nichts davon in Péret. Die einheimische Vertreterin ist mürrisch,
bei mehr als drei Kunden im Laden, die wirklich nichts anderes im
Sinn haben als den Erwerb einer harmlosen Flûte oder einer noch
harmloseren Ficelle, bereits in panischer Auflösung begriffen, zeigt
eine Psychomotorik, als hätte es zwischen Ausgabetisch und Brotregal, aus der die Baguettes steif aufragen schon einmal eine versuchte Vergewaltigung gegeben. Nichts wie weg hier, die Befangenheit steht sogar, wie ich im Rausgehen bemerke, dem circa
80jährigen Opa ins Gesicht geschrieben, der hinter mir steht und
wohl einen Imbiß für die Arbeit im Hausgarten erwerben möchte.
Locker dagegen die Atmosphäre im Zeitungsladen, wo ich mir den
„Midi libre“ besorge. Hier ist alles zu finden, was das Herz begehrt:
vom Insektenvernichter über Rasierapparate bis hin zu Kondomen
(die in Frankreich alle Bezeichnungen tragen außer eben "Kondome"). Sind im Laden - wie heute der Fall - mehr als zwei Kunden
anwesend, herrscht Towobawohu; der etwa 70jährige Besitzer diskutiert lautstark mit seinen Stammkunden, seine Frau kreischt dazwischen, die zwei Tölen geifern (natürlich reinrassige „p'etits caniches“). Als der zweite Stammkunde sich zum Scherz darüber beschwert, daß er wegen des unbeschreiblichen Chaos nicht findet,
was er sucht, wird er mit dem Hinweis zurechtgewiesen, daß „Monsieur le touriste“ (damit bin ich gemeint) sich sehr wohl zu orientieren wisse, obwohl er doch das erste Mal im Laden sei (aha!).
Im heutigen „Midi libre“ kündigt sich ein Thema an, noch etwas
verschämt als Eckenbrüller (das ist die Spalte rechts außen auf der
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Aufmacherseite) getarnt, und dieses Thema wird die République
Francaise in den nächsten Monaten noch sehr viel stärker beschäftigen: "l'Affaire McDo", der Prozeß gegen den Schafzüchter José
Bové und neun weitere Bauern, die im Jahr zuvor in Millau eine kurz
vor der Fertigstellung stehende McDonalds-Filiale verwüsteten,
und zwar nicht, indem sie randalierenderweise mit Pappbechern um
sich schmissen, sondern unter Einsatz schwersten landwirtschaftlichen Geräts, mit dem sie den Bau buchstäblich schleiften. Die Kinder werden hellhörig: McDonalds? Das bewegt auch sie. Obwohl sie
trotz besserer Einsicht hin und wieder rückfällig werden und unversehens ihren Appetit an Rindspappe und Preß-Pommes einklagen,
begrüßen sie den Hack des Hackers. "McDo", sagen sie,"=
McDoof." Mme Knotterbeck billigt in der familiären Meinungsbefragung ebenfalls die Aktion, lehnt aber die Alternative, die Bové
anbietet, rundweg ab: Roquefort statt Burger. Ich für meine Wenigkeit, der ich auch den Roquefort herzlich verachte, plädiere für Vin
de pays statt Cola.
Badewetter: Wir entscheiden uns wegen unserer nordischen
Bleichhäutigkeit gegen das HV-intensive Meer und für den Lac du
Salagou, den größten Stausee im Département, wenige Kilometer
hinter Clermont. Der Lac liegt in einer Mondlandschaft aus rotem
Tuffstein, der allmählich zu Staub verwittert und bei den häufigen
Scherwinden, die hier oben herrschen, in unangenehmen
Staubstürmen aufwirbelt. In der Tiefe des Sees sollen sich noch
einige erloschene Krater befinden, um die sich - als das Tal noch
nicht überflutet war - Dinosaurier im heißen Aschenregen gesuhlt
hatten. Einige Fußabdrücke sind im oberen, nicht überfluteten Tal
zwischen dem Weiler Mérifons und einem Dorf mit dem serbokroatisch klingenden Namen Salasc erhalten. Die Größenordnung der
Spuren bewegt sich in der Dimension jenes sagenhaften Kohlekastens der historischen Saarbrücker Schuhhandlung Braun, in den
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Hutersch Wis s, ein wegen seiner Plattfüßigkeit bekannter Ensheimer, vor ungefähr siebzig Jahren gestiegen war, um dann den Kommentar abzugeben: „Passsst! Genn ma noch die Nischtele und sie
sinn gekaaf.“
Der Lac du Salagou indes ist jüngeren Datums als das Saarbrücker
Schuhgeschäft und vor allem lange nach den prä- und postkarbonarischen Epochen entstanden. Er wurde nämlich erst Anfang der 70er
Jahre des gerade zu Ende gegangenen Jahrhunderts angelegt, wobei
den Vermessungstechnikern ein bezeichnendes Mißgeschick unterlief. Dazu muß man wissen, daß die Franzosen ein typisches 2-DVerhältnis zu ihrer Umwelt haben. In ihrer bekannt oberflächlichen
Art sind sie Artisten der zweidimensionalen Wahrnehmung, weswegen sie mit der Carte Michelin schon kurz nach 1900 eine der
weltbesten Straßenkartenwerke erfunden haben, aber sie sind
gleichsam große Legastheniker der räumlichen Apperzeption, weswegen sie zu den Rekordhaltern bei Totalkollisionen im Straßenverkehr zählen. Mit anderen Worten: Franzosen wissen, wo's langgeht,
nur nicht, wie. Jedenfalls haben ihre dem Nationalcharakter typischen Eigenschaften dazu geführt, daß im Falle des Lac du Salagou
einige - darunter außergesprochen peinliche - Fehler gemacht wurden: Beispielsweise wurde ein Dorf - Celles - evakuiert, weil man
glaubte, daß dieses beim Aufstauen des Wasser überflutet werden
würde. Da aber Celles, heute am Nordwestrand des Sees zu finden,
höher liegt als die Krone der Staumauer im Osten, was auch einem
Blinden mit Pupillenverengung ohne weiteres ersichtlich ist, blieb es
von den Wassermassen verschont. Nur hatten sich die Bewohner
mittlerweile in alle Ecken Frankreichs verzogen. Deshalb wurde zweite Merkwürdigkeit - aus nicht mehr nachvollziehbaren Gründen
des französischen Haftungsrechts ein Zaun um die mittlerweile
weitgehend dachlosen Häuser gezogen. Auch wurde ein Wächter,
Monsieur Brière, bestallt, der inzwischen zu einer wichtigen Figur
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der ökologischen Szene rund um den See avanciert ist. Monsieur
Brière wird von den Leuten der Umgebung "Bichette" genannt.
Warum, das konnte ich nicht in Erfahrung bringen. Doch erscheint
mir der Spitzname dem hohen Amte abträglich zu sein, denn „bichette“ bedeutet „junge Hindin“, und man stelle sich zum Kontrast vor,
ein deutscher Hausmeister hieße Rehkitz oder Zicklein.
Die Umweltschützer haben gestern übrigens ihre Stärke eindrucksvoll unter Beweis gestellt: Im Beisein von José Bové fand
eine für hiesige Verhältnisse machtvolle Demo mit annähernd 1500
Teilnehmern vor dem Zaun von Celles statt. Unter dem Motto
"Tous au Lalagou" ging es gegen die Pläne eines amerikanischen
Milliardärs, der bei Lodève eine Autorennstrecke und zusätzlich am
Salagou eine Golf-Hotel-Anlage mit allen erdenklichen Angeboten
der Lustbarkeit finanzieren will. Überhaupt haben die Amerikaner
das Languedoc entdeckt - weniger als Touristen, da stehen Paris,
Pisa, Athen und Heidelberg vor, als vielmehr mit ihrer Kapitalkraft.
McDoof ist in dieser Hinsicht noch ein harmloses Beispiel für einen neuerlichen Schub des Imperialismus, der nunmehr auch die
Gegend zwischen Gard und Canal du Midi erreicht. Behauptet jedenfalls ein Monsieur Porte-Jarrytelles, mit dem ich auf der Landungsbrücke ins Gespräch komme, die sich von der Straße sinnlos in den
Saligou hinausschiebt. Ein merkwürdiger Zeitgenosse, der, wie er
sagt, hier mindestens sechs Monate im Jahr verbringt, und der mir
dadurch schon von weitem aufgefallen ist, daß er nicht nur von Karl
Valentin Figur und Physiognomie entlehnt zu haben scheint, sondern auch - für die Geländebeschaffenheit ganz und gar ungewöhnlich - mit einem Hollandrad in hellblauer Metalliclackierung unterwegs ist.
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M. Porte-Jarrytelles (zweifellos ein Künstlername, der sich im
Deutschen etwa als "St(r)umpf- und Stielhalter" ausnimmt) erklärt in
etwas seltsam anmutenden Worten warum: „Wir haben es bis hierher mit dem Versuch zu tun gehabt, die man aus dem (fiktiven) Reich
des Königs Ubu kennt: Mit der Enthirnungsmaschine, die kulturelle
Eigenarten gleichrichtet.“
Cater Jarim: „Mit der Enthirnungsmaschine?“
M. Porte-Jarrytelles: „Ja natürlich, etwa vergleichbar mit der Deterritorialisierungs- und Reterritorialisierungsmaschine von Gilles Deleuze. Zuerst werden Verhaltensweisen entgrenzt, am zweckmäßigsten unter Zuhilfenahme von Muster und Orientierungen der Systemgegner - man denke an die sexuelle Revolution. Dann wird die
Leerstelle, die sich auftut, der Nullpunkt der Möglichkeiten, mit
neuen Kulten, beispielsweise den neuen Körperkulten aufgefüllt.
Sexualität wird dann aus einem Tiefen- zu einem Oberflächenphänomen. Statt Penetration und Ejakulation - Pentitentation, was man
etwa mit Selbstverklappung umschreiben könnte. Nicht mehr gilt:
Nutze die Brunft der Stunde. Sondern: Ersetze den Schwund der
Lunte. Durch was? Durch permanentes Posing, durch konsequenzlose Balz, die gewissermaßen die Fleischlichkeit der Sexualität entmaterialisiert.“
Cater Jarim: „Wenn ich Ihre Sexualmetaphern übersetze, dann
meinen Sie also, daß in sämtlichen Lebensvollzügen und Vorgängen, die unsere heutige Existenz bestimmen, eine Selbstaufwertung
bei gleichzeitiger Selbstbeschneidung, äh, ich meine: Selbstbescheidung im Gange ist, ein Nullsummenspiel, eine Nullbilanz von Aufwand und Ertrag? Das soll doch wohl heißen, daß niemand von dem
was wir so treiben, profitiert und keiner geschädigt wird und man
selbst nichts davon hat?“
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M. Porte-Jarrytelles: „Nein, keineswegs. Genau das ist der
Trugschluß. Ich habe nicht umsonst von einer Enthirnungsmaschine gesprochen. Das, was Sie selbst als das Phänomen McDoof
bezeichnet haben, ist nur ein, übrigens vergleichsweise harmloses
Beispiel für den Vorgang. Was hier im Gang ist, ist die Zerstreuung,
die Zerstäubung von Intelligenz. Die ist es, die auf der Strecke
bleibt, ein Vorgang, der ein gefährliches Spaltprodukt freisetzt, und
ich meine damit nicht die Risiken der neuen Körperkultur, wie etwa
entzündete Piercingnarben oder letaler Schädelbruch beim Bungeesprung oder Dauerschäden durch Anabolikaschock. Nein, was
sich hier auftut, ist die Unmöglichkeit, Ideen zu finden, Konzepte zu
ersinnen, Phantasie zu entwickeln - eine Art Versehrtheit zweiten
Grades. Denken reduziert sich auf das Studium von AnwenderManuals, Liebe auf den bedingten Reflex des Habenwollens, Go tteserfahrung auf die Praxis von Feng-Shui, Naturerleben auf die
Eignungsprüfung von Stock und Stein für Extremsport.“
Cater Jarim: „Die alte kulturkritische Klage...“
M. Porte-Jarrytelles: „Vorsicht, denn das ist noch nicht alles: Jetzt
kommt der zweite Grad der Analyse: Jetzt kommt die Phynanzpumpe
ins Spiel.“
Cater Jarim: „Die was?“
M. Porte-Jarrytelles: „Die Phynanzpumpe. Sie ist schon in ‚König
Ubu‘ ansatzweise erklärt, und es ist das Verdienst des pataphysischen Wirtschaftswissenschaftlers Professor Daniel Accursi, darauf
hingewiesen zu haben, wie die Enthirnungsmaschine und die Phynanzpumpe zusammenwirken. Sie funktionieren, so Accursi, in etwa
wie kommunizierende Röhren. Je mehr Kapital - Phynanz eben - in
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die Welt gepumpt wird, desto schneller geht die Enthirnung vonstatten. König Ubu hat deshalb in dem gleichnamigen Theaterstück
die Konsequenz der Globalisierung schon vor hundert Jahren vorhergesehen: Der Triumph der Märkte bedeutet die Selbstentmächtigung (ich habe vorhin gesagt: die Pentitentation) der Akteure, jedenfalls, was die Fähigkeit zur Willensentscheidung, die Bedingung
der Möglichkeit von Freiheit betrifft. Marxistisch gesprochen fällt
das Subjekt, auf gut katholisch ausgedrückt das personale
Menschsein in reine Natur zurück, um fortan in der Ge stalt eines
muskulösen Wurms weiterzuexistieren. Dieser wird mit einem Minimum von Ganglienzellen ausgestattet sein, so daß er sich beizeiten
(und das ist künftig immer) krümmen kann. Das wäre eine umkehrte
Evolution, aber nicht im Sinne der Involution von Gilles Deleuze,
einer Art Weiterentwicklung durch den ebenso willkürlichen wie
angepaßten Verzicht, sondern eine unwillkürliche Selbstpreisgabe
der Fähigkeiten, die den Menschen angeblich auszeichnen. König
Ubu hat - nebenbei bemerkt auch dies vorausgesehen - und den
alles verschlingenden Kosmos, der aus einer Art negativen Kosmogenese resultiert, ‚la Gidouille‘, wörtlich: den Wanst‘, genannt. La
Gidouille, größer als die Erde, wie König Ubu bemerkt, ist ein Pansen, gefüllt mit der Hirnmasse der Menschen, ein riesiger Magmasee, in den die Phynanzpumpe unentwegt Kapital pumpt. Die Phynanzpumpe fusioniert also Geld und Intelligenz, eine Fusion, die
letzten Endes nur Konfusion bewirkt. Sie löscht Differenzierungsvermögen ebenso aus wie Unterschiede in der Sache selbst. Was
Sie hier sehen - M. Porte-Jarrytelles macht eine ausladende Geste
vom See auf die Küstenebene -, ist der selbstreflexive Verzicht auf
Kultur, die Auslöschung von Erfahrungen ganzer Generationen.“
Cater Jarim: „Ich sehe nur Weinstöcke und Olivenbäume.“
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M. Porte-Jarrytelles: „Aber genau darum geht es. Die Finanziers
vergreifen sich an allem, was die Besonderheit eines Territoriums
ausmacht, sie bemächtigen sich des Landes und des Lebens. Land:
weil der Aufkauf von Ländereien beginnt. Leben: weil sie die Subsidenzfähigkeit eines Landes untergraben. Um ganz konkret zu werden: Nachdem die Großwinzer aus Kalifornien spitz gekriegt haben,
daß das Languedoc-Roussillon ebenjene Gegend in Europa ist, die
als einzige die Voraussetzungen für eine dauerhafte Wettbewerbssituation mit den kalifornischen Quantitäts- und Qualitätslagen aufbringt, versuchen sie, sich in die einheimischen Domänen einzukaufen. Das wiederum bringt, in einer Art nationalen Affekt den Staat
und die Großkooperativen auf den Plan. Sie treten in den Wettbewerb ein und bereiten mit Entwicklungsplänen den Boden für verzinsliche Investments. Letzten Endes ist es völlig egal, woher die
Phynanzen kommen - Hauptsache die Pumpe pumpt, während die
Enthirnungsmaschine das Know-how absaugt und nur noch das
Know-that übrigläßt. Die Bauern wissen dann nicht mehr, wie der
Weinbau funktioniert, sondern nehmen per E-Mail entgegen, welche
Folie sie aufspannen müssen, sollte das Thermometer unter drei
Grad sinken, welchen Knopf sie drücken müssen, wenn die Giftpumpe den Pestizid-Cocktail zusammenrührt, und wo der Stecker zur
Berieselungsmaschine steht, die aus den Bodensensoren die Information über den Feuchtigkeitsbedarf erhält. Die restlichen 90 Prozent, die einen guten Tropfen ausmachen, werden ohnehin in den
Großkellereien automatisch erzeugt, wobei sich die Dosage an Eichenfaßaromen nach den letzten Markterhebungen richtet.“
Cater Jarim: „Ich habe nicht den Eindruck, daß die altehrwürdigen
Winzer hier den Wein besonders kultivieren. Ich seh` die immer nur
beim Giftspritzen. Bei uns in der Kooperative von Péret steht ein
riesiger Tank - nicht etwa mit Wein gefüllt, sondern mit den feinsten
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Mischungen an Herbiziden und Insektiziden. In Deutschland...
Kennen Sie die Pfalz?“
M. Porte-Jarrytelles: „Nein.“
Cater Jarim: „Was, Sie kennen die Pfalz und die Pfälzer - Le Palatinat et les palatins - nicht?“
M. Porte-Jarrytelles: „Bedauere!“
Cater Jarim: „Na, ist auch nicht weiter schlimm. Selbst in der Pfalz
sieht man nur einen Bruchteil an Giftspritzern im Vergleich zu hier.
Dabei ist das Languedoc klimatisch begünstigt, die Pfalz hat - aufgrund des feuchteren Klimas - auch viel mehr Unkraut und Schadtiere.“
M. Porte-Jarrytelles: „Ich behaupte auch nicht, daß die Enthirnungsmaschine erst seit heute in Betrieb ist. Sehen Sie, auch bei der
Enthirnung gibt es eine fortschreitende Entwicklung. Sie verläuft
zwar zyklisch, aber ihre Intensität steigert sich. In der letzten Periode
hatten wir noch die agrarische Raffinesse, aber auch schon den
industriellen Einsatz (‚enjeu industriel‘). Die Phynanzpumpe hatte da
schon für billige Hilfsmittelchen wie Dünger und Gift gesorgt. Beim
Bauern stehen Bedenken in Korrelation zum Preis, deshalb geht er
bis heute sorglos und großzügig um mit dem, was er hat.
Landwirte und Winzer bilden eine seltsame Gattung. Hier im Süden gibt es das Sprichwort: ‚Steht der Bauer voll im Saft, fehlt es ihm
an Lendenkraft‘. Aber Scherz beiseite: Die Widersprüchlichkeit
seines Berufsstandes wird verschwinden, kommen wird das roboterisierte Agrarwesen mit enthirnten Winzern und Landwirten. Das ist
dann die Phase, in der sich die Phynanzpumpe zur Pfuinanzpumpe
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transformiert. Auch das hat König Ubu vorhergesehen. Apropos
Pfui...“
M. Porte-Jarrytelles fixiert einige Flugobjekte hoch am ultramarinblauen Himmel: „Sehen Sie die Vögel dort? Das sind Komorane. Sie
vermehren sich rascher als jede andere Tierart - Ameisen und
Stechmücken vielleicht ausgenommen. Heute gibt es in Frankreich
so viele wie in ganz Europa vor dreißig Jahren. Inzwischen verbreiten sie bei den Anglern und Fischern weit mehr Schrecken als die
neuesten Jagdgesetzesnovellen den Jägern. Denn jedes Exemplar
frißt mindestens ein Kilo bester Forellen und Sardinen am Tag, Salzoder Süßwasser ist ihm scheißegal. Aber das ist nicht das Interessante - um ehrlich zu sein, die Herrschaften der Jäger- und Anglerassoziationen haben nichts besseres verdient. Das Interessante ist,
daß der Komoran das einzige Lebewesen außer dem Menschen ist,
der seinen Artgenossen auf den Kopf scheißt, der Komoran im
buchstäblichen, der Mensch im übertragenen Sinne. Die Stärksten
und Erfolgreichsten sitzen oben und pflastern die Schwachen und
Glücklosen mit ihren Exkrementen zu. Und was für Exkremente - Sie
kennen Guyano. Die ätzendste aller Scheiße dieser Welt entstammt
dem Arsch des Guanokormorans, der den merkwürdig klingenden
wissenschaftlichen Namen „Phalcroorax bougainvillei“ trägt. Wenn
sich also die Komorane vermehren, ist dies ein Menetekel: Die
Enthirnungsmaschine, die Pfuinanzpumpe und der Weltgeist, sie
spielen auf zur großen Caca-Fonie. Guten Tag, mein Herr, ich
wünsch‘ Ihnen noch einen schönen Tag.“ M. Porte-Jarrytelles
schwingt sich auf sein Hollandrad und läßt mich einigermaßen perplex zurück.
Wir fahren auf dem Rückweg zum „Château Pohl“ an der Domaine
du Temple vorbei, um unsere Weinbevorratung - Herbizide hin,
Pfuinanzpumpe her - aktiv anzugehen. Domaine du Temple: Das
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klingt zum einen geschichtsträchtig und erfahrungsgesättigt. Zum
anderen wurde das Gut auf der Gemarkung von Cabrières in den
schriftlichen Hinterlassenschaften einiger Vorbesucher des „Château Pohl“ mit großem Lob bedacht. Wir hatten auch einen kleinen
Prospekt entdeckt, der den Genius loci beschwört und Paul Valéry,
den großen Sétois, zitiert. Die Evokationen von Steineichen, Oliven,
Thymian, Lavendel und Rosmarin lassen an das Heideggersche
Seyn denken, das sich ja üblicherweise immerzu dem Dasein entzieht, aber hier trotz seines flüchtigen Charakters im Wein inkorporiert. "Die wahrhafte Tradition der großen Dinge“, läßt der Prospekt
den schon längst auf dem „Cimetière marin“ zu Sète ruhenden Dichter Valéry sagen, "besteht nicht in der Wiederholung dessen, was
die anderen vor uns gemacht haben, sondern darin, den Geist wiederzuerlangen, der diese großen Dinge bewirkt hat", nicht ohne den
Hinweis zu vergessen, daß die kleine Produktion des Weingutes für
die Qualität seiner - selbstverständlich biologisch angebauten und
natürlich ausgebauten Produkte bürgt. Wenn also M. PorteJarrytelles widerlegt werden soll, dann gleich heute noch und hier kaum fünf Kilometer von unserem Ferienhaus entfernt.
Der Weg dorthin gestaltet sich indessen wenig beschaulich. Wir
kurven, nachdem wir das Landsträßchen von Cabrières nach Roujan
verlassen haben, auf einem staubigen Weg über den Berg, dann
durch ein Tal, dann wieder über einen Berg in das nächste Tal. Der
Weg ist unbeschreiblich löchrig, führt in engen Kurven an alten
Olivenbäumen vorbei, windet sich um einzelne Weinstöcke und
stellt die Sollbruchstellen unseres betagten Autos auf die Probe. Die
Kinder drohen schon mit Besudelung des automobilen Interieurs,
Hagen Knotterbeck dankt dem Hl. Christopherus, daß er uns nicht
bewogen hatte, vor Urlaubsantritt unser altersschwaches Auto
gegen eine schickere, nach dieser Tortur aber gar nicht mehr schick
wirkende Limousine auszutauschen, und tadelt den unseligen Cater
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Jarim, der sie bewogen hat, imaginäre Weingüter in gottverlassenen
Gegenden anzusteuern. Ich schwöre Hagen zu meiner Entlastung,
daß die Irrfahrt nicht auf eigenen Recherchen der Wegstrecke beruht, daß ich mich vielmehr auf die Archive des „Château“ verlassen
habe.
Als wir schon alle Hoffnung fahren lassen, jemals die Domaine du
Temple zu erreichen, versperrt uns eine Dogge, Größe XXL, das ist
Faktor 2 im Vergleich zum Hund von Baskerville, den Weg. Wir
hupen zaghaft, um das Monstrum zum Verschwinden zu bewegen,
ohne uns seinen Zorn zuzufügen. Hagen Knotterbeck ist sauer auf
den Hl. Christopherus, daß er uns mit einem Autowrack in eine solche Gegend geführt hat, die Kinder klappern mit den Zähnen, ich
beiße sie zusammen, um kein Klappern aufkommen zu lassen, und
wir sind jetzt alle einem Zustand nahe, der aus der Sterbeforschung
als die resignative Phase vor dem Exitus bekannt ist, als eine resolute Stimme das Untier von uns wegbefiehlt. Auftaucht eine Mittvierzigerin vom Typ verblühte Larzac-Kommunardin und fragt, was
unser Begehr sei. „Unser Begehr“, sagen wir schlotternd, noch gelb
und grün vor Angst, Entbehrung und Übelkeit, „ist die Domaine du
Temple zu finden.“ „Domaine du Temple“, so die Erscheinung, „das
bin ich“, und lädt uns mit unbewegter Miene in ihre Bauernkate ein,
die von der gemutmaßten Templerburg sich ungefähr so unterscheidet wie die Toreinfahrt des „Château Pohl“ vom Arc de Triomphe. Mit weichen Knien begeben wir uns in den Keller, der immerhin mit seinem Rundgewölbe verhaltene Assoziationen an Mittelalter und Tempelritter weckt, probieren rasch vom dargereichten
Wein. Ich zücke die Scheckkarte und bezahle in Windeseile zwölf
Flaschen Cuvée Tiveret Rouge (den Jahrgang habe ich ebensowenig zur Kenntnis genommen wie die Preisklasse) und nochmal ein
halbes Dutzend Cuvée Jacques de Molay oder Guy de Maupassant
oder so ähnlich, nur um hier schnell wieder wegzukommen.
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Zu Hause gehe ich in mich. Eingedenk der Worte M. PorteJarrytelles, daß man nicht allem entsagen sollte, was man an Ideen,
Vorhaben undsoweiterundsofort in sich trägt, werde ich mich fortan
nützlicher und sinnstiftender Tätigkeit widmen. Da ich nichts anderes beherrsche, als dumme Gedanken zu Papier zu bringen oder
etwas auf den Teller, das immer wieder zu meinem Erstaunen allgemeine Zustimmung findet, werde ich mich zunächst an den Kochtopf begeben. Es gibt „Soupe au pistou“. Sie wird zwar eher in der
Provence als hier im Languedoc gegessen, doch das tut ihrem Ve rzehr in Péret und Umgebung keinen Abbruch - Grünkohl mit Pinkel
oder Teltower Rübchen wären dagegen etwas fehl am Platz. Doch
halt: Teltower Rübchen sind so verkehrt nicht, denn das Wichtigste
in der „Soupe au pistou“ sind neben dem Pistou weiße Rübchen, die
in Deutschland allenfalls unter Teltower Rübchen bekannt waren,
mittlerweile aber in der Frankfurter Kleinmarkthalle, wo die dortigen,
aus Sachsen oder Kleinsachsen oder Nordhessen stammenden
Fischhändler in französischen Kellnerschürzen herumrennen und
den Kunden mit dem ihnen einzig geläufigen französischen Wort
"Bongschuhr Müssjöh, Kommängtalleewuh?" begrüßen, als "navets" ausgeschildert sind.
Für eine gute „Soupe au pistou“ benötigt man jeweils ein dreiviertel Pfund Karotten und kleine grüne Bohnen, drei bis vier Rübchen
(„p'tits navets“), zwei mittelgroße Stangen Lauch, sechs nicht allzu
kleine Stangen Bleichsellerie (man kann auch zwei, drei Scheiben
Sellerie aus der Knolle nehmen), etwa ein halbes Pfund Kartoffeln,
zwei Zwiebeln und eine große Dose weiße Bohnen (Abtropfgewicht
480 Gramm, sie dürfen natürlich auch durch eine entsprechend gerundete Menge - zuvor eingeweichter - Trockenbohnen ersetzt
werden). Der Pistou, der - wie man leicht erraten kann, der französische Bruder des Pesto ist - setzt sich zusammen aus: einem großen
Bund Basilikum, je nach Temperament und Gusto vier bis sechs
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ausgedrückten Knoblauchzehen, gut 100 Gramm geriebenem Gruyère (ich finde Parmesan oder Peccorino wegen seiner festeren Konsistenz viel geeigneter) sowie viel Olivenöl und - dies ist ein Additiv
von mir - einem Döschen Tomatenmark oder die gleiche Menge aus
der Tube. Dazu muß man wissen, daß ich nie nach einem wie auch
immer gearteten Originalrezept koche, sondern es richtig und notwendig finde, kleinere Fälschungen und Aberrationen vornehme,
eingedenk der Erkenntnis Friedrich Nietzsches, daß es ohnehin kein
Original gibt und alles, was als Original bezeichnet wird, nur die
Interpretation von Interpretationen ist - aber natürlich ist auch diese
Behauptung eine kleine Umleitung des Nietzsche'schen Originals.
Außerdem habe ich den ersten Pistou in meinem Leben als roten
Pistou genossen, und zwar zubereitet von einem Unterhegelforscher, der sich wie ich 1978 im Haus eines Frankfurter Oberhegelforschers zu Le Cailar in der Camargues aufhielt. Darauf wird bei Gelegenheit noch zurückzukommen sein. Der rote Pistou aber is t unabhängig von unserer Auslegung und Rezeptfreiheit durchaus verbreitet. Ich habe ihn andernorts in der Provence hin und wieder zu
Nudelgerichten erhalten, wenngleich er mehr einem Sugo (also der
italienischen Tomatensauce) ähnelte als dem Pesto.
Zurück zur „Soupe au pistou“: Zunächst die großen Gemüse klein
schnippeln, grüne Bohnen auf etwa halbe Länge verkürzen. Sodann
nach und nach anbraten beziehungsweise -dünsten: Zwiebeln, gelbe und weiße Rübchen, Lauch, Sellerie. Ausreichend Gemüsebrühe
angießen, so daß die Gemüse ihren Freischwimmer machen können,
das Ganze aufkochen, etwa eine Stunde köcheln lassen. Zur Hälfte
der Garzeit Kartoffelwürfel und grüne Bohnen, kurz vor Ende der
Garzeit die weißen Bohnen (sofern aus der Dose stammend) dazugeben. In der Zwischenzeit den Pistou zubereiten: Pinienkerne zerstoßen; ich selbst benutze dazu ein Rollmesser, weil mir beim Zerstoßen mit dem Mörser immer wieder die Pininienkerne um die Ohren
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fliegen. Auf die Kerne den kleingehackten Basilikum und den ausgepreßten Knoblauch geben, mit Olivenöl anrühren, den geriebenen
Käse hinzufügen, das ganze wiederum mit Olivenöl verrühren bis
eine fast pastenartige Sauce entsteht. Am Schluß noch den Tomatenmark unterrühren - fertig. Der Pistou wird bei Tisch ganz nach
Geschmack in die Suppe eingerührt. Manche Rezepte sehen auch
Safran vor, ich unterlasse solches, der gehört nicht überall rein; ist
der kritische Punkt überschritten, dominiert er, darunter macht er
allenfalls den Kuchen gelb, geht aber in stark gewürzten Gerichten
wie der „Soupe au pistou“ unter. Außerdem soll man sich den Safrangeschmack für Gelegenheiten bewahren, wo er dem Gericht zuträglicher ist (auch darüber wird noch zu reden sein). Um aber zum
Abschluß des Rezeptes noch eine Angabe zur Werthaltigkeit der
„Soupe au pistou“ zu machen: Sie ist in Restaurants keineswegs ein
Billiggericht, in der mittleren Preiskategorie werden gut und gerne
zehn bis 15 Euro die Portion berechnet - ein neuerlicher Beweis
dafür, daß gerade die einfachste, aber gutgeratene Kost einen SnobAppeal-Zuschlag rechtfertigt. Mit der vergleichsweise teureren
Bouillabaisse hat es eine andere Bewandtnis: Sie ist zwar auch nicht
besonders kompliziert zuzubereiten, allein aber die Auswahl an Fischen rechtfertigt mit Blick auf die leergefischten Fanggründe ihren
Preis - außerdem lohnt der Aufwand (Beschaffung und Diversität
der Ingredienzen) nur bei großen Portionen.
Zur „Soupe au pistou“ verputzen wir farblich abgestimmt einen
Roten aus der Domaine. Hagen Knotterbeck und ich geraten alsbald
in ausgelassene Stimmung, die wir uns auch beim Gedanken an die
große Giftpumpe (oder war's die kleine Giftspritze und der große
Phynanzklumpen?) nicht vermiesen lassen. Die Kinder lassen sich
unterdessen von einer Stimmungskanone der deutschen Fernsehanstalten beschießen.
Dienstag, 27. Juni
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Weil der brettebene Salagou zum (scheinbar) risikolosen Wassersport einlädt, uns aber dazu noch das Equipment fehlt, beschließen
wir, ein Boot zu kaufen. Kein teueres hochsee- oder wildwassertüchtiges. Aber ein gerade mal eben mit den nötigen Auftriebskräften
ausgestattetes sollte es schon sein. Tja, Platz im Auto darf es natürlich auch nicht beanspruchen, es sollte aber andererseits halbwegs
professionell aussehen und nicht den Eindruck eines der Gummiente
unmittelbar folgenden Evolutionsstandes vermitteln, und - ganz
wichtig - es müßte natürlich ohne Kompressor oder Motorpumpe
aufblasbar sein. Nachdem wir in der Familie all diese Kriterien gedanklich hin und her bewegt, das Für des einen gegen das Wider
des anderen gestellt und schließlich zu einem Anforderungsprofil
dialektisch verdichtet haben, schreiten wir zum Kaufakt, und dessen
Aufführung findet auf der Bühne des Lebens - wo wohl? - natürlich
im „HyperU“ statt. Auch in Sachen Schiffahrtstechnik beansprucht
der „HyperU“ das regionale Monopol - die Modellreihen der Sportgeschäfte Clermonts verharren dagegen tatsächlich auf dem Evolutionsstand Gummiente.
Wir kaufen im „HyperU“ das einzig dort und dies auch noch in einem letzten Exemplar vorhandene Modell "Challenger K2", kompakt
in stabiler und eindrucksvoll bebilderter Pappschachtel verschachtelt und von daher auch hinsichtlich der Packmaße absolut überzeugend. Mit dem Boot ("Made in China im Kofferraum düsen wir zum
Salagou, der sich heute etwas bewegter als gestern zeigt. Die Kinder
fragen: „Was heißt ‚Challenger‘?“ Mme Knotterbeck antwortet:
“Herausforderer. Es gab außerdem mal eine Raumfähre namens
‚Challenger‘.” Die Kinder sagen: “Geil.” Ich sage: “Aber die ist in
der Luft explodiert, damals als ich eure Mama kennengelernt habe.”
Die Kinder: „Ups.“ Sie fragen nach dem Zusammenhang zwischen
unserem Kennenlernen und der Explosion. Ich sage: “Da gibt es
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einen, aber ich habe ihn vergessen.” Die Kinder fragen: “Und was
heißt ‚K2‘?” Ich bleibe die Antwort verständlicherweise schuldig,
denn kann es sein, frage ich mich, dass ein von der deutschen Firma
Klepper hergestelltes Gummiboot die Typenbezeichnung „Zugspitze“ oder „Watzmann“ erhielte - da stimmt doch was nicht im Ve rhältnis von Branding und Semiotik.
Wir enthüllen die Neuerwerbung, stellen mit Genugtuung fest,
daß das Gelb ihres Gummileibes nicht nur halbwegs dem Verpackungsfoto entspricht, sondern durchaus auch den Vorstellungen,
die Landratten von Wassersportgerät haben - man vergegenwärtige
sich zum Kontrast ein supercooles Raftinggefährt in Regenbogenfarben oder in Hellblau oder in Kirchentagslila... Auch die Anleitung
zur Montage, die angesichts des Aufwandes, der zu treiben ist,
zweifellos dem Profistatus des Bootes entspricht, nimmt uns auf den
ersten Blick ein: Sie steht auf dem Bootsboden, geht damit niemals
verloren und stört auch nicht das rasante Challenger-Finish, sie ist
zudem in einwandfreiem Deutsch gehalten, was den Verdacht auslöst, daß eine für den Einsatz in deutschen Gefilden bestimmte Challenger-Charge auf dem Weg vom Herstellerland zum Bostal- oder
Edersee versehentlich in der „HyperU“-Logistikzentrale gelandet ist.
Alles in allem durchaus zuträglich für uns. Weniger zuträglich ist
der Vorgang des Aufblasens. Der deutsche Ausdruck "Schlauchboot" suggeriert Leichtigkeit, Mühelosigkeit, Geschmeidigkeit, während das französische "bateau gonflable", das aufzublasende Boot
also, geeignet ist, Illusionen gar nicht erst aufkommen zu lassen.
Nach der einstündigen Vorbereitung und einer halbstündigen Rekreationspause wollen wir endlich zum Stapellauf schreiten. Allein
ein plötzlich aufkeimender Zweifel hält uns von der Jungfernfahrt
ab. „Challenger K2“ wirkt bei näherem Besehen seltsam unförmig,
irgendwie bananenhaft-asymmetrisch, ganz und gar nicht challen-
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gerhaft. Wir nehmen uns die Verpackung vor, vergleichen Abbild
und Wirklichkeit und stellen fest: Dieses Gebilde, dessen Material
durchaus für den Gebrauch im Wasser bestimmt zu sein scheint, ist
weder Challenger noch Gummiboot, sondern ein Utensil außerirdischer Intelligenz, wobei sein Verwendungszweck für uns Menschenwesen unzugänglich bleibt. Wir halten Familienrat: Ich mu tmaße, daß im fernen Shijiazhuang oder Shenyang die automatische
Heißnahtschweißmaschine falsch programmiert gewesen sein muß.
Mme Knotterbeck sagt: “Unsinn, die haben dort noch gar keine
Heißnahtschweißmaschinen. Die verarbeiten in den armeeeigenen
Gummibootfabriken alles noch von Hand, und da müßten dem Oberkontrolleur die unpassenden Schnitte der Folien aufgefallen sein.
Die sind da sehr genau in China: Auf Sabotage droht Todesstrafe
und Organentnahme.” Die Kinder sagen: “Egal, was die Chinesen
gemacht haben, mit so einem Boot gehen wir nicht ins Wasser. Da
gehen wir ja unter, und die anderen Kinder lachen uns aus.”
Wir betreiben weiter Ursachenforschung und sondieren Handlungsalternativen: Das Boot zum „HyperU“ zurückbringen und
Kompensationsleistungen für einen halben Tag entgangener Urlaubsfreuden einklagen? Den freundlichen jungen Mann von der
nahen Windsurfschule befragen, uns gewissermaßen nautischer
Expertise sichern, bevor wir weitere Schritte unternehmen? Das Boot
nicht zurückbringen, sondern gewaltsam mithilfe der Reelingskordel
in eine andere Form zwingen? Mme Knotterbeck sagt: “Ich hab's.
Die Form! Wir haben das Boot falsch aufgeblasen. Das Ding muß
umgestülpt werden. Seit wann steht der Schriftzug auf der Innenseite?” Tatsächlich ist das stolze "Challenger K2" wenn überhaupt nur
für die Insassen zu erkennen. Wir müssen also die Luft ablassen
und von vorn beginnen.
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Angesichts der fortgeschrittenen Zeit und des drohenden Kraftaufwandes beschließen wir Erwachsenen, die neuerliche Montage
auf morgen zu vertagen. Die Kinder stimmen dagegen, unterliegen
aber bei der Abstimmung, weil sie Kinder sind; sie werden zur Abkühlung ihrer Renitenz ins Wasser geschickt. Da das Luftablassen
nicht weniger Zeit beansprucht als das Aufblasen, können wir uns,
nachdem wir das gewissermaßen noch jungfräuliche Wassersportgerät wieder verstaut haben, langsam auf den Heimweg machen.
Auf dem Weg zurück passieren wir nicht ein einziges dieser typisch französischen Verkehrsrondelle, ohne daß dort nicht ein Repräsentant des französischen Mannestums steht und die Blumenrabatte näßt. Die Kreuzungsfreiheit der Verkehrsführung wird schamlos zur Befriedigung dringender männ(sch)licher Bedürfnisse ausgenutzt. Eine Nation von Pissern und Pinklern. Es stellt sich die
Frage, wie sich die Ehefrauen, Verlobten, Töchter und Omas bei
soviel kollektivem Harndrang verhalten (verhalten?).
Im „Château Pohl“ erwartet uns die nächste böse Überraschung es ist wirklich kein guter Tag: Während unserer Abwesenheit hat
eine Armee von Ameisen unsere Küche okkupiert. Manche tragen
noch Flügel, die Mehrzahl ist flügellos und von kleinerer Gestalt als
ihre flugtauglichen Kollegen. Eine erste Inaugenscheinnahme mö glicher Wirkursachen ergibt: Sie scheinen oberhalb der Spüle in die
Küche eingedrungen zu sein. Ihr Einfallstor läßt sich bald genauer
orten. Hagen Knotterbeck hat nämlich gerade zur erstbesten chemischen Keule gegriffen - „Sidolin“ für blitzeblanke Fensterscheiben und damit eine ganze Kohorte gekeult, als aufgeschreckt aus ihrem
Versteck sich weitere Einheiten in Bewegung setzen. Sie kommen
aus der Holzverkleidung zwischen Fenster und Spüle. Keine Chance
für die Eindringlinge - sie werden örtlich betäubt und gleich weggespült. Der Vorgang straft natürlich Ernst Jünger, den subtil(er)en
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Jäger, Lüge, der schlankweg behauptete: "Die Tiere haben ein untrügliches Gefühl für den günstigen Ort und scheuen keine Mühe,
ihn zu bestellen; sie wissen, wo die Erde standhält und nicht Überschwemmungen oder andere Unbilden drohen." Wissen sie nicht
die Bohne, denn sonst hätten sie sich denken können, daß mit der
Familie Jarim nicht zu spaßen ist.
Wir säubern Spüle, Anrichte und Fensterscheibe von den inzwischen gefallenen Nachzüglern und genehmigen uns nach dem
Schreck einen „Kir Picboul“. Kaum aber ist das Glas geleert, weiten
sich Hagen Knotterbecks Augen voller Entsetzen: Die Ameisen sind
entweder von den Toten auferstanden oder haben, was noch wahrscheinlicher ist, die Hauptarmee auf den Plan gerufen: Jedenfalls
sind binnen Minuten mehr Kriechbeiner aufmarschiert als wir nach
unserer Rückkehr vom Salagou vorgefunden hatten: Jetzt nähert
sich eine ganze Armada, um entweder - der günstigere Fall - unseren
Cassis auszusaufen oder um - die bedrohlichere Variante - sich an
uns für ihre gefallenen Kameraden zu rächen. Hagen Knotterbeck
stürzt sich auf die Sidolinflasche, gibt die nötigen Ordres aus ("Weg
mit dem Cassis!", "Kinder raus aus der Küche!"), hält eine kleine
Ansprache zur Hebung der Moral und erklärt sich bereit, die Invasoren solange in Schach zu halten, bis ich ihrem Befehl, beim Zeitungshändler für den Waffennachschub zu sorgen, nachgekommen
sei und sie entsetzt haben würde. Ich eile von dannen, tue, wie mir
geheißen, und kehre nach kurzer Fachberatung durch Monsieur
Marchand de journaux mit „Foudroyant Volants“ des Herstellers
Caussade ins „Château“ zurück. Hagen Knotterbeck hat inzwischen
weitere rund tausend Krieger der Spezies Furuncula weggespült.
Wir sprühen sorgsam jeden mutmaßlichen Schlupfwinkel aus, bis
uns selbst von dem Kir toxique ganz schwindlig wird.
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Ameisen, Ameisen, krabbelnde Flut: Während sie dich kaltlassen,
wenn sie in gebührender Entfernung ihren Ameisenstraßen entlangziehen oder in ihren Bauten herumwuseln, selbst dann noch, wenn
sie dich mit Schnellstraßen, Zubringer und Verkehrsumleitungen
umzingeln, gerätst du in Panik, wenn sie sich wie von einer Zentrale
ferngesteuert auf dich zubewegen, sich an Tisch und Bett breitzumachen beginnen. Ich habe festgestellt, daß es nicht die Bewegung
als solche ist, die Panik verursacht (sie marschieren ja nicht im
Gleichschritt, obwohl sie damit Ernst Jünger einen großen Gefallen
erwiesen hätten), sondern der Umstand, daß sie absolut geräuschfrei vorgehen. Kakerlaken machen deutlich wahrnehmbare TrippTrapp-Schrittchen - knips' in einem kakerlakenverseuchten Raum
das Licht an, und du hörst sofort das hurtige Trippeln, bevor du,
wenn überhaupt, den Käferschwanz in der nächsten Ritze verschwinden siehst.
Bei Spinnen, die neben Gewürm und Otterngezücht als die Ekeltiere par excellence gelten, lösen kleine Herden ebenfalls nicht mehr
Abneigung als Einzelexemplare aus, denn auch sie verhalten sich
nicht lautlos. Ich bin davon überzeugt, daß man bei einer Spinne, die
man mit einem Resttonverstärker belauscht, einen kleinen Jubelschrei ausmachen kann, wenn sich die Fliege in ihrem Netz verfängt,
oder ein Schmatzen, wenn sie diese verzehrt, ein Sauggeräusch,
wenn sie die Beute auslutscht, oder einen ärgerlichen Pfiff, wenn du
das Netz zerreißt. Nicht minder bei der Zecke, die in Pawlowmanier
mit einem nässenden Schmatzen ihre Vorfreude bekundet, sobald sie
sich endlich nach Jahren der Askese über die zuckende Menschenhaut hermachen darf, oder die mit einem tödlichen Seufzer ihr jähes
Ende quittiert, wenn man ihr den Zeckenkopf ausreißt. Und bei fliegenden Insekten dient das Brummen und Summen und Pfeifen und
Zischen sowieso dazu, sich Geltung zu verschaffen beim lästigen
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Konkurrenten oder auch beim Wirtstier, dessen Blut in Aufwallung
gebracht werden muß.
Bei den Ameisen aber kann man sich allenfalls ein leises Gruspeln
beim Zersägen, Zernagen und Zerlegen ihrer Beute, ein winziges
Kräcken vorstellen, für uns Menschen vielleicht erst wahrnehmbar,
wenn sie sich den schmackhaften Knorpel der Ohrmuschel zu Gemüte führen. Bis es jedoch soweit kommt, ist nichts, aber auch gar
nichts zu vernehmen - lautlose Kriegsführung, seit alters das Ideal
vieler Militärstrategen, die immer den Kanonendonner und die Gewehrsalven als störenden Rest, als zu unterdrückenden, zu verfemenden Teil, schlicht als das Unwesentliche des kriegerischen
Handwerks ansahen. Für weitere militärische Reflexionen ist jetzt
aber keine Zeit, wir müssen uns dem Endkampf gegen die Eindringlinge widmen. Wir sprühen, was das Zeugs hält, und kriegen tatsächlich die Invasion zum Stillstand. Dafür haben wir nun Hekatomben toter Ameisen, deren Leiber unter dem zersetzenden Einfluß des
Giftes langsam zum einem tiefbraunen Chitinkuchen verbacken.
Apropos Chitinkuchen: Ich muß in die Küche, um das Aligot zu
präparieren. Aligot ist ein höchst einfaches, allerdings auch kraftaufwendiges Gericht. Man benötigt dazu ein Kilo Kartoffeln, die
man als Püree zubereitet. In diesen sehr heißen Erdapfelbrei rührt
man mit dem Schneebesen, oder wenn der sich zu sehr verbiegt, mit
einem Holzlöffel oder -spatel gut ein Pfund geriebenen Tomme aus
dem Département Cantal darunter, solange bis Käse und Kartoffeln
zu einem schmackhaften Seim amalgieren, und das kann nach Tomme-Konsistenz gut eine halbe Stunde dauern. Man muß nur darauf
achten, daß man einen sehr jungen Tomme verwendet, am besten
den hier überall erhältlichen Aligot-Tomme. Das Gericht wird von
der Familie unterschiedlich bewertet. Die Kinder finden es prima;
Hagen und ich kommen zum Schluß, daß Aligot bei aller Schmack-
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haftigkeit recht eigentlich nur zum Abbau von EUKäseüberschüssen taugt. „Ich habe nichts gegen Schlichtheit“, sagt
Hagen, „aber ein Raclette läßt sich wenigstens etwas erlebnisreicher
gestalten - das hier ähnelt zu sehr der Nahrungsaufnahme.“ Sie sagt
das mit deutlicher Mißbilligung in meine Richtung. Von mir stammte
nämlich die Idee mit dem Aligot - dabei bin ich nur darauf gekommen, weil Plakate einen Riesenaligot für das nächste Wochenende
in Cabrières ankündigen - die Initiatoren wollen (heißt es bei den
Neidern aus Péret) unbedingt im Guinessbuch der Rekorde erwähnt
werden.
Mittwoch, 28. Juni
Auf dem Weg vom Zeitungshändler zum Bäcker oder besser gesagt zur Depotmanagerin kommt mir ein ziemlich maroder Hund,
Rasse nicht zu ermitteln, ein mit einer Federboa gekreuztes Teckelartiges entgegen, ermittelt meine Geruchskoordinaten und identifiziert
mich sofort als Feind, stürzt sich also naturgemäß auf mich, um mir
mit seiner zahnlosen Schnauze wenigsten die Espadrilles zu besabbern. Ein scharfer Ordnungsruf jedoch hält ihn von diesem Vorhaben ab, und er beginnt, sich protestbellend zu verziehen. Die Ordnungsruferin, eine kleine alte Frau, maßstäblich auf einen Nenner
gebracht so alt wie ihr Hund und ebenso wie dieser von einer federboahaft zerrupften Erscheinung, sagt wider Erwarten nicht das, was
alle Hundebesitzer sagen, nämlich: “Keine Angst. Der tut nichts”,
sie macht mich statt dessen auf die extreme Ge fahrenlage aufmerksam, der ich ihrer Meinung nach gerade entronnen bin: “Oh, da
haben Sie Glück gehabt, Monsieur, Pichot ist ein gefährlicher Jagdhund. Er hat meinen Mann selig immer bei der Wildschweinjagd
begleitet und schon mindestens 60 Keiler zur Strecke gebracht.
Ohne daß mein Mann auch nur eine Patrone hätte vergeuden mü s-
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sen.” Ein Alter mit zwei Baguettes unterm Arm kommt uns entgegen; er nickt und sagt: „Ha, ha, ich glaub‘ es waren nur 59, grüß‘
dich, Simone.“ Madame Simone erwidert zerstreut den Gruß und
wendet sich wieder meiner Wenigkeit zu. Sie erweist sich als überaus redselig und fragt mich mit einem einigermaßen passablen, auffallend wenig dialektgefärbten Französisch, ob ich Urlauber bin (ich
bin), erklärt mir in einem Aufwasch, daß das Wetter in diesem Jahr
nicht so ist, wie es sein müßte, daß sie heute drei Baguettes kaufen
muß, weil ihre Enkelkinder aus Marseille zu Besuch kommen, daß sie
aus Reims stammt (daher also ihr fast hannoveranalog astreines
Französisch), daß heute Monsieur Jacques Sowieso in der Rue
Fabre selbstangebaute Pfirsiche verkauft, die nur halb so viel kosten
wie im „HyperU“, daß die Engländer im Eckhaus Rue de l‘Egalitité /
Rue Wasweißich gestern nacht wieder ordentlich gelärmt haben,
hält - das Stichwort ist gefallen - plötzlich inne, sieht mich mißtrauisch von der Seite an: “Sind Sie Engländer?” “Nein.” “Pariser?” Ich
weiß nicht, ob ich mit mildernden Umstände rechnen dürfte, wenn
ich einer wäre, oder ob mich dieser Umstand in ein ungünstiges
Licht rücken würde. Deshalb antworte ich wahrheitsgemäß, daß ich
Deutscher bin. “Ah, sehr gut, ich mag die Deutschen. Sie waren
immer sehr liebenswürdig gewesen im Krieg, und gut aussehen
taten sie auch. Oh, das waren Erscheinungen - Sie müssen wissen,
ich war eine fünfzehnjährige Göre, und die deutschen Offiziere, die
hatten was...Meine Mutter hat das natürlich ganz anders gesehen,
mein Vater war in der Deportation... Aber das ist ja Vergangenheit.
Wo kommen Sie denn her?” – “Geboren in Saarbrücken...” – “Ah,
sehr gut, das kenne ich, an der Sarrrrr‘ war mein Sohn stationiert,
und ich war mal in Mettlack. Habe ich mir gemerkt, weil es da so eine
Firma mit französischen Namen gab, aber ich habe vergessen, warum ich dort war. Was machen Sie denn hier?” – Wie, was mache ich
hier? “Urlaub.” “Ach so, sagten Sie ja schon.” Fast klingt es ein
wenig enttäuscht, vielleicht wäre ihr lieber gewesen, sie hätte im
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Verein mit ihrem Jagdhund einen Agenten der Nazis gestellt, mit
dem sie nach einem scharfen Kreuzverhör Erinnerungen an die gute
alte Zeit hätte austauschen können. Der Jagdhund hebt das Bein,
ein Rüde wohl, der sich die französischen Zweibeiner zum Vorbild
genommen hat. Madame verliert unversehens das Interesse an ihrem Beutegermanen und empfiehlt sich: “Oh là là, ich bin schon viel
zu spät dran, ich muß die Brote holen, bevor nichts mehr zu haben
ist.”
Daß diese Bemerkung mehr war als nur so dahingesagt, zeigt sich
im Brotdepot. Es ist halb neun, aber die Regale sind schon fast leer wie vor fast sechzig Jahren in der Champagne, als das Brot besatzungs- und kriegsbedingt rationiert war. Da offenbaren sich natürlich die wunderbaren Pfade der Wirtschaftsentwicklung, die in jeder
Hinsicht wieder dort hinführen, wo sie ihren Ausgang genommen
haben - in die Knappheit der Güter - nur mit dem Unterschied, daß
wir uns in Ermangelung von Brot und sonstigen Grundnahrungsmitteln nicht mehr in die Wälder zum Beerensammeln verschlagen mü ssen, sondern zum nächsten Einkaufszentrum fahren dürfen, um dort
Gummiboote, Ameisenköder, Badeschlappen, Duschgel, Fertigsuppen, Sonnencreme, Äpfel aus Zentralchile oder Nougat aus Hochanatolien, tibetanisches Duftöl oder schwedischen Blasentee, Honigbonbons und Nelkenfett, Öko-Kaffefilter und Grillanzünder, Spinatravioli und Mehrwegtampons, Türschloßenteiser und Schmierbeutelverschließer zu kaufen und uns damit “nichtskompensatorisch”, wie Freund Hartmut Weißer, der Tiefentrinker und Thekenphilosoph von Sachsenhausen Mitte sagt, über den Verlust von
Wahrheit und Klarheit, aber auch von Bäckerei, Metzgerei und
Dorfkneipe hinwegzutrösten. Hartmut Weißer meint, daß wir zunehmend von einem anderen Stern sind, weil uns der alte Planet den
Boden unter den Füßen wegzieht. Er gibt den Japanern dafür die
Schuld, denn er arbeitet für eine japanische Company.
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Der Holländer Gert Maak beschreibt in seinem Buch über das Dorf
Jorwerd das Verschwinden der “eigenen Wirtschaft innerhalb der
großen”, das Verschwinden der Krämerläden, Fleischereien, der
Dorfgastsstätten und letztlich auch der öffentlichen Einrichtungen,
und er hat diesem Situationsbericht nicht von ungefähr den Titel
“Wie Gott verschwand aus Jorwerd” gegeben. Es ist ja auch kein
Zufall, daß in Péret auch die Kirche geschlossen hat - eine katholische wohlgemerkt, die eigentlich immer offenstehen müßte: Wo es
in einem Dorf der Wohlstandsgesellschaft kein Brot mehr gibt, von
dem hat sich auch Gott zurückgezogen. Die Kirche von Péret steht
nur noch als Monument da und bietet ein paar Mal im Jahr die Kulisse für einen importierten Gottesdienst, gehalten von einem Reis epfarrer, der sonntagmorgens durch die Provinz fegt und wegen der
zeitkritischen Situation Kompaktversionen der Hl. Messe anbietet.
Und selbst das einzige Mal, in der während unserer Anwesenheit
eine Hl. Messe gelesen werden wird, wird Gott seine Gnade verweigern. Ich werde mir vornehmen, zur Kirche zu gehen, aber ich werde
es nicht fertigbringen, weil Gott nicht verhindern wird, daß der Teufel Alkohol mich am Vorabend in Versuchung geführt haben wird
und ich werde zwangsläufig der Versuchung erlegen sein, den
Kirchgang nicht zu unternehmen.
Aber noch sind es ein paar Tage bis zu diesem Sündenfall, einstweilen bin ich noch hier in dieser trostlosen Bäckerei, aus der ich
mich jetzt mit der mir zugeteilten Brotration (eine halbe Baguette
statt deren zwei ganze) verabschiede.
Der heutige Küchenplan sieht - welch Zufall - vor, daß ich koche
und daß ich nicht nur irgendwas koche, sondern, wie von Mme
Knotterbeck gewünscht, Fischsuppe: “Egal, wie du sie machst,
Hauptsache Fischsuppe - wir sind doch nicht weit vom Meer und
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das müssen wir ausnutzen!” – “Frage: Aber wir wollten doch zum
Salagou. Und das ist ein Süßwassersee. Hast du schon mal was von
Zandersuppe gehört oder von Schleiensuppe?” Antwort: “Wir
fahren ohnehin nach Clermont zum Wochenmarkt, dort gibt es
Fischhändler genug, und damit basta.”
Der Markt von Clermont ist mittwochs und wird, soweit es der
kleine Platz an der Eglise Saint Paul zuläßt, von all jenen Händlern
beschickt, die samstags in Pézénas, donnerstags in Paulhan, dienstags in Gignac und freitags in Montagnac vertreten sind. Er bietet
alles in allem ein gut sortiertes Angebot, das einerseits der Rolle
Clermonts als einem kleinen Handelzentrum mit 600 Quadratkilometer Umland gerecht wird, andererseits gerade eben oberhalb der
Wahrnehmungsschwelle der Touristen rangiert, die sich in verblüffend hoher Zahl in einer Entfernung von gut 40 Kilometern hinter
der Küstenlinie tummeln. Es gibt auch Fischhändler mit einem so
übersichtlichen Angebot, daß man nicht unbedingt ein Lied auf den
Reichtum der Meere anzustimmen geneigt ist. Immerhin warten sie
mit einer Alibiauswahl an Felsenfischen auf, die dem Klischee südfranzösischer Meeresangelegenheiten gerecht werden, aber mit
todbringender Sicherheit nicht von den inzwischen fischlosen südfranzösischen Küsten stammen. Mir selbst ist das egal, nicht aber
Hagen Knotterbeck und den Kindern, die sofort eine ungehörte
Protestnote gegen das Freveltum der Fischindustrie ausstoßen und
wegen des vergleichsweise ungewöhnlich hohen Erregungskoeffizienten auf Unverständnis bei den Passanten stoßen.
Wir halten uns nicht bei dem fahrenden Kleinzoo auf, der winzige
korsische Wildschweine zum Streicheln gegen eine Spende feilbietet, weil wir auch da frevlerische Dinge, wie nichtartgerechte Kleintierhaltung vermuten. Auch das Ölgemälde mit blühenden Lavendelfeldern interessiert uns nicht, genausowenig wie der Ledermann, der
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Handtaschen und Gürtel im flamboyanten Zigeunerstil produziert,
oder die gutaussehende junge Dame, die dem Empfang einer Werbeagentur entwichen sein könnte und hier an einem ultragestylten
Markttisch reines und parfümiertes und mit Gewürzen oder Edelpilzen aromatisiertes Olivenöl in Losgrößen eines Fingerhutes feilbietet. Und selbst der rotnasige Trunkenbold, der eben gerade sein
Wasser gegen die größte Platane am Platze setzt, wird von uns ignoriert.
Obwohl die Kinder eine starke Neigung signalisieren, den Klamottenhändlern mit den vielen bunten Wimpeln, Wallegewändern und
sonstigen Körpertextilien einen Informationsbesuch abzustatten,
konzentrieren wir uns auf die Erfordernisse von Tisch und Tafel und
kaufen nach kurzem Preisvergleich bei den Vertretern des Fischhandels (es herrscht natürlich das örtliche Preiskartell, und selbst Preisdifferenzen im unteren Centbereich sind nicht auszumachen), wir
kaufen also ein Pfund „Seiche“ - das ist nicht, was sich unsere Elterngeneration vorstellte, eine Ausscheidung des menschlichen
oder tierischen Körpers, sondern eine Art Tintenfisch, sozusagen
das Totemtier des Sèter Traditionsfischfangs - und dazu ein halbes
Pfund „Lotte de mer“, Seeteufel, den ich mir, weil er ein etwas
schwieriger Knochenfisch ist, von der Marktfrau entbeinen lasse,
wobei ich mir natürlich den Knochen angesichts des exorbitanten
Preises aushändigen lasse. Nachdem wir die Zutaten gekauft haben,
Tomaten und Lauch, rasen wir - den Fisch in der Kühltasche - wieder nach Péret zurück, verstauen unsere Einkäufe im Kühlschrank,
bestücken die Kühltasche mit Obst, Kaltgetränken und Schinkenstullen fahren die zehn Kilometer zurück nach Clermont, am Markt
vorbei hinauf zum Salagou.
Dort angekommen, verbringen wir die erste Stunde mit dem Aufpumpen der diversen K2-Kammern und -Wülste. Diesmal wird, weil
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wir höllisch aufgepaßt haben, alles gut, und das Boot kommt in
Form. Die Kinder sind aufgeregt, wir Eltern dagegen ausgelaugt,
müssen erstmal unter Dauergenörgel von Kiki und Consuelo flach
auf dem Boden ausgestreckt unseren Kreislauf wieder in Ordnung
bringen. Nach einer Viertelstunde, kaum sind wir trotz des Protestlärms kurz eingenickt, werden wir von einem Schwall kalten Salagouwassers aufgeschreckt. Mit der Empörung des Gerechten neige
ich sofort dazu, die Luft aus dem Boot zu lassen und nach Hause,
und damit meine ich in der ersten Erregung: zurück nach Deutschland zu fahren, doch Hagen Knotterbeck beruhigt mich, indem sie
mit außerordentlicher Lautstärke verbal auf die Kinder eindrischt.
Die übrigen Badegäste wenden sich jetzt mit ungeteilter Aufmerksamkeit unserem Treiben zu, ich spüre ihre spöttischen Blicke wie
kleine Lanzenstiche nicht nur auf meiner sonnengeröteten Haut,
sondern auch auf meinem feuerroten Kopf. Da heißt es also gute
Miene zum bösen Spiel machen, sich die Verlegenheit und den Zorn
und den Weltüberdruß und den Haß auf Kinder nicht anmerken
lassen. Wir schreiten, äußerlich ungerührt, mit dem Boot im
Schlepptau zum Wasser. Das heißt von Schreiten kann bei dem
spitzigen Bodenbelag an der Wasserkante nicht die Rede sein und
zur Schonung des Materials auch nicht von Stapellauf. Wir wanken,
„Challenger K2“ huckepack tragend, hundert Meter durch das
seichte Wasser, um den Bodenkontakt der empfindlichen Hülle zu
vermeiden, bevor wir die Gummiwülste ablassen können. Doch die
majestätische Imposanz von „Challenger K2“ versöhnt uns mit den
Anstrengungen, die wir bisher - uns?, den Kindern?, nein dem Boot
und seinem rein Daseinhaften zuliebe auf uns genommen haben. Ich
besteige mit den Kindern zusammen das Gefährt, erkenne, kaum daß
ich zwei drei Ruderschläge getan habe, daß Challenger seinen Namen völlig zurecht trägt: Es stellt keine geringe Herausforderung
dar, mit dem unförmigen Gebilde von einem Punkt A nach einem
nahegelegenen Punkt B zu kommen.
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Das gelbe Gummigewulst liegt platt auf dem Wasser und bewegt
sich in etwa dem Tempo der Echternacher Pilger vorwärts. Hat man
mit erheblichem Paddeleinsatz den Bug des K2 nach vorne gewuchtet, zieht sich der dadurch überdehnte Gummi sofort wiederzusammen und man wird unversehens zum Heck zurückgerissen. Hagen
Knotterbeck ruft mir vom Ufer zu: “Das liegt an deiner Paddeltechnik. Du mußt den Schwerpunkt nach hinten verlagern und mehr vom
Bootsende rudern, dann schiebt sich alles wie von automatisch
nach vorne.” Die Kinder sagen: “Papa, du bist unfähig.” Ich sage:
“Wenn ich unfähig bin, bitteschön, dann rudert doch alleine. Werdet sehen, wie weit ihr kommt.” Und gehe von Bord. Die Kinder
ergreifen die Paddel, drehen sich ein paarmal im Kreis und gewinnen
ziemlich rasch Fahrt in Richtung Seemitte. Ich sage: “Glück gehabt.
Das können die nicht aus eigenem Geschick, sondern nur deswegen, weil der Wind sie schiebt.” Tatsächlich war ein rasch sich verstärkender Wind aufgekommen, wahrscheinlich der Tramontane, der
hier jedes Mal um die Mittagszeit aufkreuzt, wenn sich das erhitzte
Land eine scharfe Termik genehmigt. Ich versuche das gerade Hagen Knotterbeck in allen mir bekannten meteorologischen Einzelheiten zu erklären, als sie mich anschreit: “Halt‘ doch bitte mal die
Klappe” (sie sagt, nein, sie schreit tatsächlich "bitte"), “siehst du
denn nicht, daß die Kinder kaum noch zu sehen sind?“
Keine Frage, ein gelber Punkt mit zwei dunklen winzigen Ausbuchtungen (die Köpfe des Nachwuchs) entfernt sich mit rascher
Geschwindigkeit in Richtung Seemitte, ja um genauer zu sein ist er
schon nicht mehr zu sehen. Ich schreie jetzt auch: “Das gibt's doch
nicht. Die können doch nicht so einfach...” Wir winken, toben, rennen rein ins Wasser, wieder raus aus dem Wasser, ohne Rücksicht
auf unsere geschundenen Füße. Mittlerweile haben sich auch einige
Badegäste hinzugesellt, die ebenfalls wild gestikulieren und in allen
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Sprachen dieser Welt - so scheint es mir jedenfalls - Ratschläge
erteilen. Der ein oder andere hackt auf das Tastenfeld seines Handys ein, wohl um die Küstenwache oder die Feuerwehr oder den
Notarzt zu informieren oder womöglich (ich will es nicht ausschließen) seine daheimgebliebenen Angehörigen brühwarm von dem
ungeheuerlichen Geschehnissen in Südfrankreich zu unterrichten.
Schon taucht ein Hubschrauber am Horizont auf, überquert uns
winkendes Häuflein in großer Höhe und macht sich in Richtung
Montpellier auf und davon. Wie das? Das ist doch ein Skandal. Die
sehen doch, was hier los ist. Ah nein, das war offensichtlich das
Vorauskommando, denn da kommt schon die ganze „Force de frappe“ oder zumindestens zwei Vertreter des glorreichen Düsengeschwaders. Aha, die Verantwortlichen lassen sich nicht lumpen,
setzen zur Rettung in Not geratener Touristen gleich die Luftwaffe
ein. Vorbildlich das, beispielhaft, zur Nachahmung empfohlen! Aber
ist es denn zu fassen? Auch die bremsen nicht ab, zünden im Gegenteil effektvoll ihre Nachbrenner und düsen, ohne auch nur den
geringsten Schlenker zu machen, in Richtung Lyon ab. Schande
über die Verantwortlichen, ich wünsche ihnen eine militärische Niederlage an den Hals, die sich gewaschen hat, Spielzeugarmee, Pappkameraden, Papiertiger, Schleudersesselfurzer!! Will uns denn keiner
helfen? Einzig und allein ein dickbäuchiger Monsieur stürzt sich
wagemutig mit seiner Riesenbadeente in die Fluten und versucht,
aus dem Uferbereich zu kommen - jedoch es gibt einen Knall, die
Badeente verpufft, is t wohl wegen der Last den Steinen zu nah gekommen, und der dickbäuchige Monsieur muß seinerseits geborgen
und wiederbelebt werden. Ich sinke Hagen Knotterbeck in die Arme,
sie stürzt, ich begrabe sie unter mir, sie protestiert nicht einmal, und
wir geben uns wortlos unserem Schmerz hin. Keine Kinder mehr und das Gummiboot auch noch umsonst aufgepumpt...
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Doch da: Die Menge, die sich inzwischen um uns versammelt hat
und uns Trost spendet (hörte ich eben: "so ein schönes Boot.."?),
seufzt kollektiv mit einem langgezogenen "Ah" auf. Der Grund der
Erregung: Ein Motorboot nähert sich, mit K2 und den Kindern im
Schlepptau.
Wie sich herausstellt, hat der Besitzer der unterhalb des Dorfes
Liausson gelegenen Windsurfschule das Drama verfolgt und reaktionssicher in das Geschehen eingegriffen. Er führt uns mit vorwurfsvollen Gebärden die Kinder zu, wir müssen eine Gardinenpredigt
über uns ergehen lassen, von der inhaltlich nicht viel zu sagen ist,
außer daß sehr gehäuft "grenzloser Leichtsinn" und "unverantwortlich" vorkommt. Wir hören aber gar nicht hin, denn die Kinder kriegen sich gar nicht mehr ein vor Begeisterung: "Das war voll cool.
Das Schlauchboot ist Spitze. Kommen wir morgen wieder her?" Jetzt
bin ich es, der sprachlos ist, doch Hagen Knotterbeck hat die Situation unter Kontrolle: "Sofort einpacken. Das Boot wird verschrottet.
Und das ganze Gummizeug kommt in die gelbe Tonne, oder wie die
hier heißt."
Auf dem Nachhauseweg kehren wir kehren zum Frustkauf in die
Kooperative von Cabrières ein und erwerben dort zur Vervollkommnung unseres Weinvorrates je sechs Flaschen Weißwein für 3,50
Euro die Flasche, Rosé zu 3,75 Euro, Rotwein zu wiederum 3,50
Euro. Und dann noch das High-End-Produkt, einen Cuvée Prestige
Rouge aus dem Eichenfaß für 9 Euro.
Nach dem Schreck in der Mittagsstunde erwartet uns zu Hause
neues Grauen. Die Ameisen haben ihren von der Giftbowle stammenden Mordsrausch ausgeschlafen und sind wieder putzmunter
auf der Ameisenstraße unterwegs. Und das bedeutet, daß die etwa
zehntausend Erstankömmlinge gerade dabei sind, in der Küche ihr
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Katerfrühstück einzunehmen. Also ich wieder zum Monsieur Marchand de journaux, um eine neue toxische Handfeuerwaffe zu erwerben. Ich entschließe mich diesmal, ohne seinen Rat abzuwarten, für
„KB Cafards Cafouet“ (eingetragenes Warenzeichen), das, wenn
das stimmt, was auf dem Etikett steht, nur gegen Waffenschein
ausgegeben werden dürfte. Da heißt es beispielsweise auch: „jet
foudroyant pour l'action longue durée“, was soviel sagen will, daß
es sich bei dem Produkt um eine heftige wirkende Waffe mit verheerender Wirkung für den Blitzkrieg gegen Kakerlaken handelt. Ich
denke, was den Kakerlaken recht ist, kann den Ameisen nur billig
sein, eile zu Hagen Knotterbeck, die bereits im heftigen Nahkampf
mit den Ameisenkriegern steht. „KB Cafards Cafouet“ zeigt sofort
Wirkung. Kurz auf die vorrückenden Angriffsspitzen appliziert,
zeitigt es Folgen wie ein Atomschlag: überall gekrümmte Ameisenleiber, die Beinchen wie zur Anklage gegen die Schöpfung in die
Luft gereckt, kleine Giacometti-Skulpturen aus dem Kosmos der
Insekten und Käfer. Es scheint, daß das Gift die Leiber karamelisiert:
Das tiefe Karamelbraun steht den Toten besser zu Gesicht als der
blasse Kognak-Ton den Lebenden.
Wir gehen nun zur Leichenbeseitigung über, damit sich kein Kadaver in meine „bourride sétoise“, die Fischsuppe aus Sète, verirrt.
Und die geht, zur gefälligen Nachahmung empfohlen, so (ich meine
die Fischsuppe, nicht die Kadaverbeseitigung): Sechs nicht allzu
große Tomaten werden entkernt, von ihrem geschmacklosen Tomatenschleim befreit und in Achteln geschnitten. Sechs Schalotten
hacke ich klein - ebenso das Weiße von zwei Stangen Lauch. Vier
große Knoblauchzehen zerkleinere ich, wälze sie in Salz und zerdrücke die ganze Chose mit der Schneide eines Küchenmessers. Ich
röste nun die Schalotten in heißem Olivenöl an, rühre die Knoblauchpaste unter und gebe unter häufigem Wenden zunächst den
Lauch dazu, dann die Tomatenstücke, lasse alles ein wenig köcheln,
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gieße schließlich einen halben Liter Picpoul sowie einen dreiviertel
Liter Wasser in den Sud, füge das Rückgrat des Seeteufels dazu,
rühre Gemüsebrühe unter, gebe dann gerade soviel Safran rein, daß
seine Farbe sich wirkungsvoll entfaltet, kröne das Ganze mit zwei
Thymianzweiglein. Inzwischen schneide ich den dreiviertel Pfund
Fisch (zur Erinnerung: ein Drittel Seeteufel, zwei Drittel Seiche) in
kleine Stücke, und - sollte von der Seiche noch ein wenig Haut anfallen (in der Regel sind sie rückstandslos vom Fischhändler ausgenommen) - gebe ich auch diese dazu und lasse die Suppe bei kleiner
Flamme etwa eineinhalb Stunde köcheln. Nach Ende der Garzeit
passiere ich die Suppe durch ein Sieb - ein Sieb habe ich gesagt, ich
habe nicht von einer Behandlung mit dem Rührstab gesprochen,
denn dieser schließt die Säure der Tomaten auf und das wiederum
macht das Gericht auch wegen des Picpouls zu säuerlich. Jetzt lasse
ich die von den Gemüse- und Fischresten befreite Suppe nochmals
aufkochen, gebe die Fischstücke dazu und lasse sie eine Viertelstunde mitköcheln. Es sollte hier nicht verschwiegen werden, daß
echte Sétois, wie mir beim Zeitungshändler gesagt wurde, für den
Sud ganz wenig Picpoul, dafür aber umso mehr Meerwasser benutzen. Ich habe das für eine grobe Verarschung gehalten, aber es
wurde mir von einer wohlmeinenden Bedienung in einem Mèzer
Lokal bestätigt, und zu guter letzt habe ich tatsächlich einen Beleg
in der gastronomischen Literatur dafür gefunden.
Die Frage ist bloß noch: Nimmt man zur Suppe Rouille oder Aioli?
Meine Antwort ist, zumal sich die Grenzen zwischen Rouille und
Aioli immer mehr verwischen und in Restaurants ein schier ungenießbarer Verschnitt aus beiden gereicht wird: weder noch und
schon gar nicht deren Chimäre. Wenn überhaupt, dann die klassische Rouille. Diese ist ja an und für sich nichts anderes als ein Gemisch von Knoblauch, Öl, roten Pfefferschoten und viel Semmelbrösel. Aioli dagegen ist eine Knoblauchmayonnaise, die man auf ge-
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röstetes Weißbrot streicht, um damit Schiffeversenken in der Suppe
zu spielen; wie beim richtigen Schiffsuntergang bilden sich starke
ölhaltige Schmutzfladen auf der Oberfläche, die nach allgemeiner
Ansicht weder was im Meer noch nach meiner speziellen Auffassung was in der Suppe zu suchen haben. Ich übe also durchweg
Verzicht, und ganz besonders dann, wenn der Aioli (von Natur blaß
gelblich) rostrot wie die Rouille daherkommt oder umgekehrt, wenn
die Rouille streng genommen eine Aioli mit einer Überdosis Safran
darstellt. Um aber der Systemgastronomie mit ihren authentisch
wirkenden Fertigprodukten Gerechtigkeit willfahren zu lassen, sei
vermerkt, daß die Verwirrung längst auch die gekrönten Häupter der
Haute Cuisine erfaßt hat: Da wird in den einschlägigen Verlautbarungen der Starköche schamlos Rouille für Aioli und umgekehrt
Aioli für Rouille ausgegeben - ein für mich (dank der Aufklärung
durch M. Porte-Jarrytelles) klares Indiz dafür, daß die Phynanzpumpe die grauen Zellen sogenannter Spitzenkastronom... äh ich meine:
Spitzengastronomen abgesaugt hat.
Es gibt natürlich viele Arten von Fischsuppen, und die Bourride,
historisch gesehen die Vorläuferin der Bouillabaisse, wird überall an
der Küste unterschiedlich zubereitet. Claudia Ulbrich, Mitglied der
Amazonenbrigade Sachsenhausen und Chefin jenes Geheimdienstes, der mutmaßlich für Franz Zlunka, den Wirt und Küchenmeister
des Frankfurter Literaturhauses, verschiedenen Quellen zufolge
auch für Klaus Trebes, den republikbekannten Chef des “Gargantua”, ebenfalls in Frankfurt, arbeitet, zählt in ihrem Dossier zur Bourride insgesamt 98 verschiedene Arten der Zubereitung auf, dort
noch nicht mal kleinere Abweichungen von der Gemüsezugabeverordnung mitberücksichtigt. Die meisten basieren auf einem Fischfond aus sogenannten Weißfischen: Quappen (besser bekannt als
Wolfsbarsche), Seehechten, Merlanen, natürlich auch Seeteufeln,
manchmal sogar Makrelen. Im Unterschied dazu enthält die Bouilla-
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baisse eine größere Vielfalt an Fischen, muß aber Vertreter der festeren Qualität, wie den Drachenkopf, den Seeaal und den Knurrhahn
enthalten, dazu aber die gleiche Menge von Fischen weicherer Beschaffenheit wie den Wolfsbarsch, den Merlan oder den Petersfisch. Die Herstellung von Bouillabaisse ist gebührend reglementiert, es gibt deshalb nur gute oder schlechte. Die wesentlich einfachere Bourride bietet dagegen mehr Freiheit und ist damit auch gut
für Entdeckungen.
Die abgedrehtesten Rezepte hat Claudia Ulbrich an der Rhônemündung gefunden, dort wo es wilde, fast autarke Siedlungen gibt,
um welche die Staatsbediensteten wie Steuereinnehmer oder Polizisten einen großen Bogen machen und deren Bewohner den elektrischen Strom von Generatoren beziehen und das Wasser aus selbst
angelegten Brunnen: Bourride mit „Brandade de morue“, einer Paste
aus getrocknetem Stockfisch und Mayo, oder noch schlimmer mit
Hoden von einem geklauten Camargue-Stier - ein wahrer Eintopf aus
Gelegenheitszutaten und Hehlergut.
Gleichwohl, wir lassen uns die Bourride schmecken. Die Kinder
sind zwar nach dem Salagou-Desaster etwas angesäuert, aber der
Hunger treibt sie wieder zu höherem Einvernehmen mit den Eltern.
Ich schlage, befeuert von dem Picpoul, vor, gegen die Ameisen
nicht nur körperlich, sondern auch in geistiger Hinsicht vorzugehen,
um auch auf diesem Wege die totale Lufthoheit und Territorialautonomie in und um das „Château Pohl“ auf das Nachhaltigste zu verdeutlichen. Der Hintergedanke besteht natürlich darin, mit der Stigmatisierung des äußeren Feindes die Familienbande wieder enger zu
knüpfen.
Ein Manifest, auf das sich alle Angehörigen der Jarim-Sippe verständigten und das eine bindende Geisteshaltung gegen die Invaso-
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ren vorgäbe, hätte nicht nur Signalwirkung nach außen (Merke: Mit
den Jarims kann man nicht so umspringen!), sondern entwickelte
auch erhebliche Kohäsionsdynamik nach innen. Ich empfehle daher,
zunächst eine Themensammlung durchzuführen, auf deren Grundlage ich das Manifest gegen die Ameisen redaktionell ausformulieren
würde. Nach zwei Stunden, in denen sich die Kinder ausnahmsweise
nicht mit dem deutschen TV-Verdummungsprogramm beschäftigt
haben, steht das Gerüst. Inzwischen ist leider auch der Picpoulspiegel gestiegen, weshalb die Ausformulierung auf den nächsten Tag
verschoben werden muß.
Donnerstag, 29. Juni
Der Weg zur Bäckerei, Verzeihung, dem Brotdepot, führt mich jeden Tag den Chemin des Roques hinunter. Dann ein kurzes Stück
dorfeinwärts auf der Straße, die Péret mit Cabrières verbindet. In der
Höhe der Kooperative nehme ich die Avenue Marcellin Albert,
biege an der Verzweigung nach rechts in die Rue Blaise Pascal ab,
von der die Rue Jean Jaurès den Berg hoch zur Place de la Liberté
führt. Man könnte die Strecke auch nach den Hunden schildern, die
am Wegesrand lauern. Kaum bin ich aus dem Haus getreten, schlagen die beiden Bassets des Nachbarn an, irgendwo weiter hinten
aus der Tiefe des Raums melden sich noch mindestens zwei unsynchronisierte Hundestimmen zu Wort, vielleicht sind es auch vier
weitere, freilich paarweise synchronisierte. Gegenüber rast ein „Caniche nain champagne“ (ein hellbeiger Fellzwerg) auf das Tor zu und
kriegt sich vor Zorn kaum noch ein, weil ihn die engen Gitter des
Gartentores daran hindern, mir die Waden zu zerbeißen. Ein Haus
weiter unten noch ein undefinierbarer Straßenköter, der aber bloß
bellt, weil alle anderen bellen. Gegenüber, im Haus des Monsieurs,
der tagaus tagein an irgendwelchen Mauern herummauert, die ohne
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jedes System sein Grundstück durchziehen (ein Muralfetichist
wohl), heult eine versehentlich im Salon eingeschlossene (vielleicht
auch versehentlich eingemauerte) und von seinen Kollegen alarmierte Promenadenmischung. Unten an der Ecke - ich bin jetzt erst
an der Abzweigung zum Chemin des Roques - fletschen mich aus
dem Spalt des Holzauns ein Satz Fangzähne mitsamt zweier erheblich nässender Lefzen an - es ist nicht zu deuten, um welche Rasse
es sich handelt, es muß aber mindestens ein Bullenbeißer sein.
Schräg gegenüber in dem Haus, dessen Schwimmbad, Marke Saint
Trop' für Minderbegüterte, von der Straße aus zu sehen ist, wieder
zwei, diesmal kackbraune Caniches. Unterhalb der Kreuzung nach
Adissan in dem von einer durchwirkten Betonwand umgebenen
Grundstück ein Berger Allemand, ein Schäferhund, der mich sofort
als feindlichen Landsmann identifiziert und seine umständehalber
nicht stillbaren Mordgelüste mit einer Bellkanonade kompensiert.
Oberhalb der Kreuzung, auf dem Riesenareal gegenüber der Kooperative, sind bereits, wenn ich noch kaum zu sehen bin, zwei Doggen
gestartet und rasen mit einer derartigen Geschwindigkeit auf mich
zu, daß der Maschendrahtzaun, der mich von den Bestien trennt,
zwei tiefe Beulen davonträgt.
Der etwas schüchterne Caniche (Farbe mir nicht bekannt, da er offensichtlich Ausgehverbot hat) im Haus rechts von der Kooperative
ist nicht der Rede wert, so daß mich die nächste Attacke erst von
den beiden Settern erwartet, die im Garten des Anwesens oberhalb
der Stützmauer an der Rue Blaise Pascal patrollieren. Ich muß gestehen, daß deren durch interferierendes Bellen kenntlich gemachte
Tötungsabsicht den größten Eindruck auf mich hinterläßt. Sie geifern von der etwa drei Meter hohen Mauer herab und machen jedes
Mal, wenn sie meiner ansichtig werden, Anstalten, sich im wahrsten
Sinne des Wortes auf mich zu stürzen. Ihnen käme dann, wenn dies
je gelänge, der Boxer von der gegenüberliegenden Straßenseite zu
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Hilfe, der sich für gewöhnlich auf verbale Einschüchterungsversuche beschränkt, aber ganz ohne Zweifel im Blutrausch seine Zurückhaltung aufgäbe und die von den beiden Mauerspringern begonnene Bluttat mit einem finalen Reißbiß beenden würde.
Nachdem ich diese Zerberusse am Eingang zum Dorfkern passiert
habe, bin ich aus dem Gröbsten heraus. Denn nun beginnen die
Häuser ohne Hof- und Gartengrundstücke. Hunde gibt es auch hier
mehr als genug, sie sind aber allesamt Straßenköter ohne Revierbewußtsein oder besser gesagt: mit einem rudimentären, gewissermaßen flexibilisierten Revierverhalten: Sie setzen ihre Duftmarken, als
gelte es die Welt in Pisse und Scheiße zu ertränken, unterlassen es
jedoch, ihren Markierungen allzugroße Bedeutung beizumessen - sie
heben die Beine eher beiläufig und kacken durchweg im Laufen. Es
herrscht eine aufgeräumte multikulturelle Stimmung, von der ich
profitiere, indem ich mich unangefochten durch ihr Territorium bewege, oder vielmehr: relativ unangefochten, denn die vielen Hundehaufen bergen natürlich ein nicht zu verkennendes Restrisiko.
Tumult verursacht also hier im Getümmel nicht der ausländische
Okkupant, dessen die Pluto, Fido, Michou und Milou plötzlich gewahr würden, sondern die unverhoffte Begegnung untereinander.
Da wird sich in der bekannt schamlosen Weise beschnuppert, so als
ob die jeweilige soziale Stellung anhand der Anzahl von Colibakterien oder der Bandwurm-Proglottiden zu ergründen sei. Die These,
die Philippe Noiret in Bernard Taverniers Film "Der Saustall" aufstellt, leuchtet mir angesichts dessen, was ich hier auf der Straße
erlebe, gleichwohl nicht ganz ein. Nach Philippe Noiret hielten die
Hunde einmal einen Kongreß ab, zu dem Vertreter aller Rassen geladen waren. Um Konflikte während der Tagung zu vermeiden, mu ßten sie allesamt ohne Ansehen der Person und des Rangs ihr Hundearschloch an der Garderobe abgeben. Die Garderobenfrau ver-
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wechselte indes die Marken und händigte nach Ende des Kongresses den Teilnehmern die falschen Arschlöcher aus. Dies sei der
Grund, so Philippe Noiret in einem melancholischen Resümee, das
als Höhepunkt der Filmgeschichte gelten darf, warum die Hunde auf
der ganzen Welt ihre Hintern beschnupperten: Sie suchten nach
ihrem Arschloch, von dem sie sich seinerzeit nur mit der Erwartung
getrennt hätten, es wieder unversehrt zurückzuerhalten. Soweit
Noiret.
Ich für meinen Teil glaube vielmehr, daß es sich bei dem nasalen
Analkontakt um eine, wenn auch primitive Form gegenseitiger Anerkennung handelt. So wie wir uns mit dem Nachbarn weitgehend
diskurslos durch ritualisierten Kommunikationsersatz verständigen,
so erweisen sich die Hunde gegenseitig Respekt durch den Schnuffeltest. Aber im Unterschied zu den Menschen sind sie wahrhafte
Universalisten. Sie beschnuppern unterschiedslos sämtliche hündischen Arschlöcher, die für ihre Schnauzen erreichbar sind, wohingegen die Menschen nach Nähe und Ferne differenzieren. Gewiß
könnte man die Worte "schönes Wetter heute", die man an den
Nachbarn oder den Geschäftspartner richtet, mit der hinterhältigen
Schnuffeltätigkeit des Hundes vergleichen. Dennoch wird man diese
Worte nicht an alle verschwenden, deren man ansichtig wird, nicht
an den Passanten in der Großstadt, nicht an die Männer von der
Müllabfuhr und nicht an die Bedienstete an der Mautstelle. Solche
Formeln wie die vom „schönen Wetter heute“ dienen nicht dazu,
tatsächliches Expertenwissen, glaubwürdige Mutmaßungen oder
Wunschvorstellungen auszutauschen, sie sind wohl aber geeignet,
den öffentlichen Raum mit Attributen von Nähe und Distanz zu
versehen, ihn quasi zu vermessen, nach diesem Maßstab Intimität
zu erzeugen, wo es nicht peinlich, und Anonymität, wo es notwendig ist. Der Mensch schützt sich damit vor Überlastung. Wenn er
die Verlegenheitsfloskel vom „schönen Wetter“ benutzt, steht ihm
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alles offen: Er kann das Gespräch jetzt wieder anbrechen, nachdem
er den Gesprächspartner als Seinesgleichen nobilitiert hat, er kann
aber genausogut das Gespräch weiterführen und auf einen ihm
wichtig erscheinenden Sachverhalt lenken oder mit anderen Worten:
vom Uneigentlichen auf das Eigentliche übergehen. Im Umkehrschluß bedeutet das allerdings, daß er die Last der Nähe annehmen muß, wenn er in irgendeiner Form die Vorteile von Geborgenheit und Solidarität sich erhalten will.
Aber ich verliere mich in Mutmaßungen, die hier nicht angeraten
sind. Was ich sagen wollte, ist, daß die Hunde über ein intaktes
Dorfleben verfügen, nicht aber die menschlichen Einwohner. Von
Pierre Bourdieu stammt die Erkenntnis, daß ein Dorf gestorben ist,
wenn nicht mehr gegrüßt, oder, wie man früher sagte, die Zeit geboten wird. Nur ganz wenige in Péret grüßen sich, und noch weniger
unterhalten sich über das Wetter, und die Allerwenigsten vertiefen
sich in ein Gespräch oder ratschen oder klatschen. Vor der Bäckerei
unterhält sich Madame Simone mit einer Anwohnerin. Ich grüße,
registriere einen fragenden Blick der Gesprächspartnerin und höre
schon die Antwort Madame Simones: „Un estivant“ („ein Feriengast“) und mit einer kleinen Kunstpause, welche die Bedeutung
ihres Wissens wohl überhöhen soll: „Un Allemand.“ Bevor ich den
Laden betrete, mache ich noch eine Bemerkung über das Wetter:
"Schwül heute." "Ja", antworten die Alten, "aber morgen, wird es
noch schwüler." Während die Bäckerin das Geld nachzählt, stelle
ich mir vor, daß wir, die Bäckerin, Madame Simone, die Nachbarin
und ich, im übertragenen Sinne gerade unsere Hintern beschnuppert
haben, und trete bei der Vorstellung der jeweiligen Hinterteile mit
gemischten Gefühlen meinen Heimweg an.
Kurz vor halb neun fällt ein Schwarm Vögel ein. Von einigen Bäumen hört man einen kurzen, aber heftigen Aufschrei der Zikaden. Ich
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führe mir vor Augen, wie sich so ein gefiederter Bruder gerade eine
Zikade geschnappt hat und sich jetzt mit der Beute unter lebhafter
Anteilnahme seiner Kollegen, die leer ausgegangen sind, aus dem
Staub macht. Hagen Knotterbeck meint, die Zikaden seien doch
ausgesprochen groß, zu groß für die Vögel, außerdem unverdaulich.
Die Kinder finden die Vogelattacke in Ordnung, sie haben den Zikaden wegen ihres Lärms und ihres schlechten Aussehens ohnehin
keine Sympathie entgegengebracht.
Consuelo Vladimir kommt aufgeregt aus dem Garten zurück: ein
Papagei, ein Papagei! Ist aber keiner, sondern ein eher durchschnittlicher Vogel mit einem Hauch von Exotik. Er trägt eine braune Kappe, an der Seite glänzen gelbe Federn. Ich identifiziere ihn anhand
des hauseigenen Vogelbestimmungsbuches als Stieglitz. Vielleicht
ist es aber ein Pirol. Mein Problem ist, daß der Stieglitz so klein ist;
der hier ist aber viel größer, aber auch wiederum nicht so groß wie
der Pirol. Der Stieglitz oder Distelfink muß ja auf einer Distel landen
können, ohne daß diese in die Knie geht. Annie Dillard hat dies in
ihrem hinreißenden Buch „Der freie Fall der Spottdrossel“ beschrieben, ein Buch, das auch mich als Naturverächter zugleich bestätigt
als auch beschämt hat, so genau und schonungslos geht Dillard mit
der grausam-schönen Natur um. Trotzdem weiß ich immer noch
nicht, was Consuelo und ich denn da gesehen haben; die Welt der
Viecher, ach, ist nicht mein Ding. Ich behaupte also, um nicht vor
Consuelo beschämt dazustehen, daß es ein Stieglitz war. Punktum.
Morgen hat sie die Begegnung eh vergessen, und ich könnte ihr
dann sogar einen ausgewachsenen Eichelhäher unterjubeln.
Der “Midi Libre” meldet, daß gestern die Polizei in Aniane einen
Exhibitionisten festgenommen hat. Er wird beschuldigt auf der Nationale 109 zwischen Clermont und Gignac, „gewütet“ zu haben (OTon “Midi Libre”). Ich plädiere am Stamm- äh Frühstückstisch dafür,
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den Unhold mehrmals am Tage kalt abzuduschen - ein Strafmaß, das
mir als einem, der notorisch wasserscheu ist, besonders grausam
dünkt. Hagen Knotterbeck macht geltend, man habe, um das Strafmaß zu finden, doch zu berücksichtigen, ob sich der Delinquent,
was aus der Meldung nicht hervorgeht, entweder im parkenden
Auto oder im fließenden Verkehr, womöglich noch jenseits der erlaubten 90 kmh exibitionistisch oder obendrein gar onanistisch betätigt hat. Die Kinder wollen wissen, was ein Exhibitionist ist. Ich
verspreche ihnen eine genaue Erklärung, wenn wir mal in Cap
d’Agde sind.
Auf dem Markt in Paulhan kaufe ich die Zutaten für das Tajine,
das für heute abend geplant ist. Obwohl Paulhan zweifellos zu Südfrankreich gehört, und Südfrankreich wenigstens in Zeiten, in denen
nationale und regionale Eigenarten noch etwas galten, unter vielen
anderen für seine Vorliebe für Schaffleisch bekannt war, ist hier auf
dem Markt kein Fleischer zu finden, der Hammel oder Lamm anbieten
würde. Nichts. Rien. Nada. Der ortsansässige Metzger immerhin hat
noch etwas Lammschulter. Die Dorfschönen, die sich im Verkaufsraum befinden, lassen mir den Vortritt. Vielleicht sind sie sich selbst
noch unschlüssig, was sie kaufen wollen, vielleicht haben sie zuviel
Zeit und langweilen sich, vielleicht aber sind sie nur neugierig, was
dieser Mensch, der vom Aussehen ein Engländer sein muß, mit
seiner Kaufentscheidung im Schilde führt. Hat man nicht schon mal
was von Lammkeule mit Pfefferminzspinatsauce oder Hammelbraten
im Puddingmantel oder ähnlichen Monstrositäten gehört? Sie sind
enttäuscht, daß ich mir das Fleischstück bloß zuschneiden lasse
und dem Metzger partout nicht mitteilen will, was ich damit vorhabe,
so als sei ich ihnen als Exot Rechenschaft über intime Einzelheiten
meines Sexual- äh ich meine: Küchenlebens schuldig. Entsprechend
spitz fällt ihr "Au revoir, Monsieur" aus, als ich den Laden verlasse.
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Ähnlich teuer wie mein Fleisch ist das Gemüse, das ich kitschgestimmt am Marktstand erwerbe. Mir ist schleierhaft, wie bei den
Preisen, die hier verlangt werden, die französische Küche zugleich
alltagstauglich sein kann und ihrem hohen Qualitätsanspruch gerecht werden will. Oder ist es vielleicht so, daß, wenn es heute ein
Gericht nach den Regeln der „Cuisine régionale ou authentique ou
traditionelle“ gibt, die Hausfrau ihren Lieben am nächsten Tag
Pommes aus der Tiefkühltruhe mit den Merguezwurstersatz aus
Schweineschabfleisch kredenzen muß? Es ist leicht einsehbar, daß
der Durchschnittsfranzose nicht tagaus tagein wie Gott in Frankreich leben kann, daß er aber nicht wie ein Franzose in Frankreich
leben kann, grenzt an einen Skandal, der nur noch vom Skandal der
amerikanischen Eßgewohnheiten und dem des Welthungers übertroffen wird.
Wir genehmigen uns heute einen Ruhetag und verzichten trotz
des Protestes der Kinder auf die Annehmlichkeiten des Strandlebens. Die Ameis en scheinen von unserer Anwesenheit allerdings
nicht sehr angetan zu sein; der Großteil ihrer Streitmacht bleibt vorsichtshalber in ihren Militärbasen, nur vereinzelt machen sich Späher auf den Weg zur Küche, um anschließend ihren Strategiestäben
über uns und unser Treiben Rapport zu erstatten.
Die Zurückhaltung der Ameisen ficht uns jedoch nicht an. Wir
lassen uns nicht täuschen und stellen vereinbarungsgemäß unser
Manifest fertig. In der gegen 15 Uhr endabgestimmten Fassung liest
es sich folgendermaßen:
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Ameisenmanifest
I
Der Mensch versucht, sich klein zu machen, die Ameisen vermehren sich ungeniert und laufen breitbeinig durch die Gegend.
Während der Mensch sich ständig Kränkungen zufügt und
beispielsweise behauptet, vom Affen abzustammen oder vom
Unbewußten gesteuert zu werden oder ein Gehirn zu haben, das
wie ein rostiger Computer funktioniert, ist den Ameisen alles
egal, sie wissen von nichts und finden auch nichts dabei,
nichts zu wissen. Der Mensch ist voller Zweifel, Ameisen sind
dumm.
II
Der Mensch kann sich nicht riechen, deshalb benutzt er Seife,
Deos und Parfüm. Ameisen produzieren Duftstoffe und riechen
sich gern. Der Mensch verständigt sich mittels einer hochdiffizilen Sprache. Ameisen senden und empfangen einfachste Botenstoffe. Stark parfümierte Menschen findet der Mensch assi
und macht einen Bogen um sie. Ameisen lieben ihr ätzendes
Parfüm und kommunizieren desto heftiger, je stärker ihre Ausdünstungen. Der Mensch (von französischen Pinklern abgesehen) ist ein kulturelles Wesen, das präzise Unterscheidungsmerkmale kultiviert, die Ameisen haben ein primitives System
von Signalen, denen sie blind folgen. Der Mensch ist raffiniert,
Ameisen sind besoffen von sich selbst.
III
Der Mensch krönt einige seiner Häupter, um sie dann zu köpfen. Die Ameisen haben eine Königin, die ihre Untertanen nach
getaner Arbeit köpft. Der Mensch hat eine natürliche (sagen die
einen) oder gewachsene (sagen die anderen) Abneigung gegen
die Barbarei, die Ameisen sind ganz einfach barbarisch und
empfinden auch nichts dabei. Der Mensch ist zur Republik und
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zur Demokratie befähigt, die Ameisen schaffen es bloß zum
Ameisenstaat.
IV
Der Mensch macht Pläne und konstruiert Bauwerke, die
manchmal (weil sie fehlerhaft berechnet sind oder Mängel am
Material aufweisen) wieder zusammenbrechen, Bauwerke, die
manchmal was taugen und oft auch gar nichts. Die Ameise
fängt bedenkenlos an und bohrt und fegt und schichtet, bis das
zu sehen ist, was wir Menschen unserer Bequemlichkeit halber
Ameisenstraßen und Ameisenhaufen nennen. Der Mensch ist
poetisch, die Ameisen sind einfach nur so.
V
Der Mensch kümmert sich um seinen Verkehr, legt Schienen
und begradigt Flüsse, baut Auto- und Datenbahnen, installiert
Ampeln und Signalanlagen. Die Ameisen laufen, aus ihrem Bau
kommend in eine bestimmte Richtung, was aufgrund ihrer hohen Zahl zu langen, aber schmalen Schneisen in der Natur
führt; sie kümmern sich weder um Vorfahrt noch Gegenverkehr
und überrennen sich mir nichts dir nichts bei Karamb olagen.
Der Mensch muß manchmal die Verkehrsregeln ändern oder
seine Straßen zurückbauen oder sich selbst aus dem Ve rkehr
ziehen; die Ameisen dagegen überlassen den Rückbau der Natur, kennen keine Regeln und werden allenfalls von Ameisenbären oder sonstigen Feinden aus dem Verkehr gezogen. Der
Mensch ist ein Verkehrswesen, die Ameisen sind aus höherer
Sicht verkehrt.
VI
Der Mensch ernährt sich von Tier und Pflanze, nachdem er sie
als Lebensmittel veredelt hat. Die Ameisen fressen alles, was
ihnen unter die Greifwerkzeuge und Ätzdrüsen kommt, aber am
allerwenigsten das, was dem Menschen schadet. Sie schonen
nicht nur die Schadtiere des Menschen, sondern tragen auch –
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wie das in ihrem Verhältnis zur Blattlaus der Fall ist – zu deren
ausdrücklichem Wohlergehen bei. Der Mensch ist ein ehrlicher
Parasit, der manchmal für seinen Eigennutz bitter bezahlt (indem
ihm die Rinder und Schweine und Schafe wegsterben oder der
überdüngte Salatkopf sich selbst entzündet oder die unter 10
Atü Wasserdruck stehende Tomate beim Anbiß explodiert). Die
Ameisen dagegen schmarotzen und nassauern und fühlen sich
prächtig dabei. Der Mensch ist im Bewußtsein seiner Tragik ein
tragisches Wesen, die Ameisen sind blind triumphierende Läuse im Pelz der Natur.
VII
Der Mensch ist dank seiner Fertigkeiten zur eigenen Auslöschung in der Lage. Die Ameisen überleben jede Situation, die
der Mensch oder die Natur zu der Ameisen Nachteil herbeiführen - mit einer Ausnahme: das Ende der irdischen und damit
auch der Ameisenwelt. Der Körperbau des Menschen ist zerbrechlich, und sein Knochengerüst hält kaum das Zweifache
des menschlichen Eigengewichts aus. Die Chitinausstattung
dagegen gestattet den Ameisen, gigafachen Belastungen
standzuhalten. Der Mensch vermag Lasten von höchstens zwei
Dritteln seines Körpergewichts zu transportieren. Die Ameis en
befördern mühelos das tausendfache ihrer Körperschwere. Es
ist schwierig für den Menschen, eine Ameise zu zertreten. Das
Umgekehrte gilt zwar auch, aber es fällt den Ameisen leicht,
dem Menschen das Leben zur Hölle zu machen. Der Mensch ist
groß und schwach und zartfühlend, die Ameisen sind klein und
robust und brutal.
VIII
Des Menschen Ausscheidungen lassen die Ameisen kalt. Die
stark ätzenden Ausscheidungen der Ameisen dagegen sind,
wie gewisse Folterriten namentlich asiatischer Völker belegen,
in hoher Konzentration für Menschen extrem gefährlich. Zwar
hat sich der Mensch die Säure der Ameise in vielerlei Hinsicht
72
zunutze gemacht, doch inzwischen ist er in der Lage, sie künstlich herzustellen. Der Mensch ist schlau und gefährdet, die
Ameisen sind dumm und gefährlich.
IX
Der Mensch belebt in knapp sechsmilliardenfacher, individuell
höchst eigenartig geprägter Ausfertigung den Planeten. Die
Ameisen, deren Anzahl nach jüngsten Schätzungen weltweit 10
hoch 16 beträgt, sind bis auf die artspezifischen
(schwarz/braun, klein/winzigklein) und kastenspezifischen Unterschiede (Arbeiterinnen, Königin, Männchen), also im wesentlichen, völlig gleich. Der Mensch (an)erkennt sich als Person, die Ameisen personifizieren sich als welche, die der Erde
aufgrund ihrer hohen Zahl Beine machen.
X
Der Mensch ist fähig, sich selbst durch Auszeichnung einzelner, vorbildlich sich aufführender Individuen zu überhöhen,
auch Tote zu ehren und ihrer auf das Zarteste zu gedenken. Die
Ameisen sind, wenn überhaupt, nur in der Lage, gefallene Kollegen beiseite zu räumen oder sie in einem oft geübten Akt des
Kannibalismus zu entsorgen. Der Mensch, wenn er sich denn
der Menschenfresserei überantwortet hat, hat dies zugleich in
einem religiösen Affekt, also in einem höheren Sinn getan. Für
Ameisen ist der Kannibalismus nur ein Akt der Müllbeseitigung. Der Mensch ist erhaben gleich den Göttern, die er verehrt, die Ameise ist schäbig wie die Schabe, mit der sie hadert.
XI
Der Mensch findet keinen Gefallen an den Ameisen. Die Ameisen finden aber Gefallen am Menschen. Der Mensch sorgt unwillentlich für sie, indem er seine Nahrungsmittel nicht restlos
verzehrt und immer wieder Krumen und Krümeln und Fasern
und Soßenspritzer produziert. Die Ameisen dagegen lassen dem
Menschen nichts, aber auch gar nicht über - außer dem
73
Verdruß, den sie ihm durch ihre Existenz bereiten. Der Mensch
schmeckt den Ameisen, die Ameisen jedoch nicht dem Menschen. Der Mensch ist Feinschmecker, die Ameisen sind
Vielfraße und Menschenfresser.
XII
Aus all dem folgt: Der Mensch hat das Recht, sich der Ameisen
zu entledigen. Wenn dies auch aus Respekt vor der Schöpfung
nicht immer und überall geschehen mag, dann doch wenigstens
hin und wieder und vor allem da, wo es sich als unumgänglich,
das heißt: ziemlich oft als notwendig erweist. Der Mensch weiß
das, die Ameisen wissen es nicht. Das ist dem Menschen ein
Trost und der ist geeignet, ihm Genugtuung zu verschaffen und
den Rang des Menschen in der Schöpfung stets aufs Neue zu
beglaubigen.
Consuelo Vladimir, Kiki Estragon, Hagen Knotterbeck und Cater Jarim
Schon während des Verlesens der Erklärung treten die Ameisen
ihren Rückzug an. Wir glauben sogar zu bemerken, daß sie, aufs
heftigste durch das Manifest beschämt, in ausgesprochen geduckter Haltung davonschleichen.
Ich habe zu kochen und kann mich jetzt ungestört dem für heute
vereinbarten Tajine widmen. Dazu benötige ich das Lammfleisch (ich
habe etwa anderthalb Pfund netto, also ohne Knochen, gekauft),
drei wiederum entkernte und entschleimte Tomaten, zwei große
Zwiebeln, zwei kleingehackte Knoblauchzehen, eine rote und eine
grüne Paprikaschote, 150 g Rosinen, 150 g Mandelblättchen („amandes effilés“), zwei Kaffeelöffel Honig. Und jetzt, was das wichtigste ist, das Tajine-Gewürz von Amora. Man kann dieses Produkt
nicht hoch genug loben, es ersetzt alles, was man in Europa an Gewürzkomposition zusammenstellen kann, und ich bin mir sogar si-
74
cher, dass es auch mit den Zutaten aus einem original marokkanischen Gewürzlabor konkurrieren kann.
Das Lammfleisch, das ich mir schon beim Metzger habe in Stücke
schneiden lassen, brate ich in Olivenöl scharf an, lasse die Zwiebeln
glasig werden, gebe die in Streifen geschnittenen Paprikaschoten
und den Knoblauch dazu und rühre die Gewürzmischung unter
häufigem Wenden unter. Dann füge ich die Tomaten und die Rosinen hinzu, gieße etwa einen halben Liter Wasser auf, so daß die
Fleischstücke nicht ganz bedeckt sind. Das Ganze etwa eine Stunde
köcheln lassen, dann bei geöffnetem Deckel die Sauce etwa 10 bis
15 Minuten reduzieren. In der Zwischenzeit die Mandeln in einem
Pfännchen vorsichtig so weit erhitzen, daß sie eine braune Farbe
annehmen (aufgepaßt, daß sie nicht verbrennen, dann werden sie
bitter), Honig unterrühren, Mandeln, eventuell kleingehackte glatte
Petersilie draufgeben. Fertig. Man kann das Gericht auch noch sehr
viel schonender in der Röhre zubereiten. Dazu brät man das Fleisch
wie geschildert an, schmort das Gemüse zusammen mit dem Tajinegewürz und etwas Brühe ungefähr eine halbe Stunde, bevor man die
restlichen Zutaten dazugibt und das Ganze im geschlossenen Topf
in der Röhre bei 150 Grad rund anderthalb Stunden gar werden läßt.
Bei der Tajine-Zubereitung sind der Fantasie keine Grenzen gesetzt: Es gibt Tajine ohne Kartoffeln, dann aber mit Couscous oder
Reis oder sogar den dicken grünen Bohnen (fèves) als Beilage. Statt
Paprika kann man auch Feigen oder Pflaumen verwenden, man darf
auch die Rosinen durch grüne entkernte Oliven ersetzen (in diesem
Falle, auch bekannt als „Tajine de Provence“, würde ich aber drei
Eßlöffel Honig hinzufügen). Huhn ist auch erlaubt (dann sind zwei,
drei Scheiben Zitronen, die mitgeschmort werden, geschmacksfördernd), nur bei Schweinefleisch würde ich mich vergewissern, ob
nicht ein mit einem Krummschwert bewaffneter Gotteskrieger in der
75
Nähe ist. Tajine-Gewürz kann man natürlich auch selbst herstellen.
Ich habe bei den Schriftgelehrten der arabischen Küche nachgeforscht und gelernt, daß folgendes vermengt werden muß: ein Eßlöffel Ingwer, ein Eßlöffel gemahlener Zimt, eine gute Messerspitze
Safran, Koriander (ein Eßlöffel gemahlen oder 50 Gramm frischer
Koriander gehackt), etwas Kreuzkümmel („cumin“!, nicht unser bei
den Völkern des Mittelmeeres und auch bei den Franzosen weitgehend unbekannte Kümmel, der „carvi“ heißt). Verwendet man frisch
gehackten Koriander, dann sollte er erst am Schluß der Ga rzeit hinzugefügt werden, weil er ansonsten sein Aroma verliert.
Ich serviere zum Tajine einen Sidi Brahim Rosé, den berühmten
algerischen Wein, der auch als Rouge erhältlich ist. Er stammt aus
dem „HyperU“ und enttäuscht auf der ganzen Linie. Ein guter Sidi
Brahim, den es bei uns manchmal in Dritte-Welt-Läden gibt, hat ein
Aroma, das die besten Kräuter der Provence mit Weihrauch und
Myrrhe aus dem Morgenland vereinigt, ein Aroma, das sich am
besten entfaltet, wenn man ihn gut gekühlt kredenzt und dann,
wenn er zum Munde geführt gerade seine Kältestarre überwunden
hat.
Nach dem Essen, das in aller Bescheidenheit gesagt, alles übertrifft, was ich bisher an Tajines genießen durfte (es waren zwei),
gehe ich mit den Kindern ins Dorf, um ein bißchen südfranzösische
Abendstimmung einzufangen und um - wenn der Dunst es zuläßt,
von der Höhe des Weges oberhalb der Häuser einen Blick auf Casablanca zu riskieren. Wir nehmen dazu den Chemin des Roques
bergwärts. Vo n den Nachbarn sehen wir trotz der Feierabendstunde
keine Spur. Im Unterschied zu den Gartennazis in Deutschland, die
sich um diese Tageszeit kollektiv der Köpfung von Halm und Blatt,
der Extirpation des Vegetativen zugunsten der autorisierten Ve rsteppung (Nietzsche: „Extirpation des deutschen Geistes zugunsten
76
des Deutschen Reiches“) widmen. Nur die Hunde nehmen uns zur
Kenntnis, und wenn ich sage, die Hunde nehmen uns zur Kenntnis,
dann heißt das, daß wir an jedem Anwesen von wenigsten drei
Exemplaren der unterschiedlichsten Rassen bebellt, bewinselt, beheult und bekläfft werden. Wir biegen am höchsten Punkt des Wegs
in die Rue de l’Egalité ab. Die Nummer eins der Rue de l’Egalité ist
von Engländern bewohnt, und ich nehme die Ironie der Geschichte
zu den Akten, daß ausgerechnet die Angehörigen jener Nation,
welche die Exilanten des Ancien Régime so gastfreundlich aufgenommen hat, die Nummer eins des im Straßennahmen inkorporierten
Gleichheitsideals der Großen Revolution sind. Ich erzähle das Mme
Knotterbeck, aber das erwartete Lob für meinen Assoziationsreichtum bleibt aus. Ihrer Meinung nach besteht die Ironie der Rue de
l‘Egalité darin, daß der Dorffriedhof mit seiner Front fast die gesamte
Länge der Straße einnimmt – „denn im Tode sind wir doch alle
gleich, oder?“ Von Casablanca ist nichts zu sehen, wir kommen
noch nicht einmal bis Barcelona, ja streng genommen noch nicht
einmal bis zum 20 Kilometer entfernten Pézenas. Die Luft ist zu diesig.
Freitag, 30. Juni
Der “Nouvel Observateur” titelt José Bové. Dazu ein achtseitiges
Farbsupplement “30 Jahre Larzac”. Der Anlaß: Heute beginnt der
Auftakt des Prozesses wegen der “démontage” des McDonaldsRestaurants, und dazu werden in Millau, zugleich Tatort und Stand
der Gerichtsbarkeit, heute abend mehrere zehntausend Demonstranten erwartet. Auch der “Midi libre” erscheint mit einem Sonderteil:
auf dem Titel der Angeklagte mit gereckter Faust. Die Redaktion hat
aber sichtlich Mühe, sich zu entscheiden zwischen ihrer eigenen
Bonhommie, der sie selbstverpflichtet ist, und der Sympathie für
77
Bové, die ihnen offenbar die breite Leserschaft abverlangt. Dafür ist
der Serviceteil des Supplements tadellos: mit Stadtplan, Hotelverzeichnis, Fahrplänen und natürlich dem volls tändigen Programm. Ein
kleines Woodstock soll stattfinden in, wie es beziehungsreich heißt,
„Seattle-sur-Tarn“, ein Woodstock mit französischen Rockgrößen
wie Noir Désir (Frontmann Bertrand Cantat ist wegen Totschlags
seiner Lebensgefährtin Marie Trintignant noch nicht eingebuchtet)
und Altbarden wie Patric, Protestsänger aus der Zeit, als man den
Larzac gegen die Militärs verteidigte. Dazu süffige Fotos: José Bové
mit Schäfchen, mit Handy, mit Pfeife, in Handschellen aber diesmal
ohne Pfeife, mit Pressevertretern in Seattle, einer Abordnung der
amerikanischen Verbraucherschutzorganisation “Citizen people”
Roquefort und Rotwein kredenzend und schließlich vor dem inzwischen fertiggestellten McDo in Millau.
Wir aber fahren nicht die etwa 90 Kilometer nördlich nach Millau,
sondern nehmen die südliche Richtung zum gut 40 Kilometer entfernten Strand, wir sind ja nur Touristen und wollen uns tunlichst
als solche verhalten. Für Millau, das im engen Tal der Tarn eingangs
der Gorges du Tarn liegt, ist ein Verkehrschaos vorausgesagt. Ein
Grund mehr, die Gegenrichtung zu nehmen. Da heute die französischen Ferien beginnen, wird in den nächsten Stunden die erste
Tranche der nordfranzösischen Urlauberschaft in den Süden einfallen. Es gibt ja zwei traditionelle Transitstrecken von „Paris“ (dem
Synonym für ganz Nordfrankreich) in den Süden. Zum ersten die
Nationale 7, die legendäre, von Charles Trenet schon besungene
„Sätt“, und parallel dazu die “Autoroute du Soleil”, die Paris mit der
Côte d’Azur verbindet und die auch die deutschen Spanienurlauber
ertragen muß. Zweitens die Nationale 9, die geradewegs von Paris
zum Languedoc/Roussillon führt. Wegen der ungünstigen Topographie war für eine Paralleltrasse kein Platz mehr, und so wurde die
9 zur Autobahn ausgebaut, bis auf einen kleineren Streckenab-
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schnitt um Millau und einen größeren von Clermont zum Meer. Was
das bedeutet, eine Autobahn zwischen zwei engstehenden Platanenreihen, werden wir spätestens morgen erfahren. Heute also Badetag am Meer als letzte Gelegenheit in der Vorsaison.
Wir kommen in Marseillan-Plage an und schlagen uns durch die
schmalen Dünenpassage an einer Toilettenanlage vorbei zum Strand
durch. Nach einer Stunde starker Blasendruck. Da ich kein Franzose
bin, der des öffentlichen Urinierens mächtig ist, stehen mir zwei
Möglichkeiten offen: zu den Toiletten (der Luxus-Version des „Toi
Toi“) gehen und dort mein Wasser abschlagen, wobei die sachgerechte Bedienung des Roboterklos bei akutem Harndrang (zumal
durch einen Nichtfranzosen) ein Ding der Unmöglichkeit ist; oder
ins Meer pinkeln, was ich aber aus mehreren Gründen unterlasse:
Erstens ist das Wasser zu kalt und aufgrunddessen die Selbstblockade sprich: der Harnverhalt unvermeidlich, zweitens erscheint es
mir nicht angeraten, auf diesen Seiten mein „coming out“ als Wasserpinkler zu dokumentieren, und drittens habe ich bei Ertapptwerden mit einem starken Verweis durch Mme Knotterbeck zu rechnen.
Dessen unbeschadet, das muß ich hier doch mal zu Protokoll geben,
toben die Kinder stundenlang im Meer herum, ohne ein einziges Mal
von Hagen Knotterbeck befragt zu werden, warum sie denn nicht
wie üblich stundenweise die Bläschen entleert hätten. An den Toiletten, die durchaus nicht den Eindruck einer „Klappe“ machen,
lungern „loubards“ (also die halbwüchsigen Tagdiebe) herum. Sie
warten allem Anschein nach nur darauf, daß sich ein des französischen Toiletten-High-Techs Unkundiger in den Bedienungsschritten verheddert, die den Zugang zum Örtchen, die hygienegerechte
Entsorgung und den geregelten Rückzug von den Örtlichkeiten
regeln. Beim Gedanken daran, daß ich mit meinem dringenden Bedürfnisangelegenheiten für den Spott der kleinen Strolche sorge,
und ich selbst bei der Entsorgung zu allem Unglück noch von der
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Automatiktür gefangen genommen werde, mache ich mir schon auf
halben Weg in die Hosen. Nicht zu vergessen auch die Zwangsvorstellung einer Testikelverbrühung durch Eau de Javel oder eine
vergleichbar ätzende Chemikalie, die sich bei der Selbstreinigung
aktiviert. Urrrghhh. Vorbei die Zeiten, als französische Klos noch
Klos waren und Zeitungspapier der höchste aller Komforts darstellte. Obwohl es auch hier Bedenklichkeiten gab, freilich ganz anderer
Art. Beispielsweise erschien bis 1956 die katholische Zeitung „La
Croix“ mit einem Kruzifix im Titel. Dieses wurde in Wallfahrtsorten
vom örtlichen Hotel- und Gaststättenpersonal sorgfältig entfernt,
damit fromme Pilger nicht genötigt waren, das Kreuzzeichen mit
ihren nackten Hintern in einen entwürdigenden Zusammenhang zu
bringen. Undenkbar auch, daß ein in modernen Toiletten verlorengegangenes Gebiß wieder zu seinem Besitzer zurückfindet. Eine
meiner Großtanten hatte Ende der vierziger Jahre nach einer Wallfahrt zum Othilienberg im Elsaß zu stark dem Edelzwicker zugesprochen und mußte sich auf dem Plumpsklo des „Café du Commerce“ in
Keskastel übergeben. Das Gebiß, dessen Verlust sie bei dieser Aktion zu beklagen hatte, wurde ihr in einem Päckchen 1957 – fast zehn
Jahre nach dem Vor-, ich meine: Reinfall, zugestellt. Es war bei der
Entleerung der Sickergrube gefunden worden, und der Patron hatte
sich noch seines damals schwer derangierten Gastes erinnert.
Hier ist aber kein Plumpsklo, und bevor ich unter dem Gelächter
der „loubards“ an den Zugangsvoraussetzungen des Automaten
scheitere oder mir sonstiges Unbill widerfährt, gehe ich lieber ins
Café, muß dort aber gleich zweimal gehen. Erstens, bevor der Kaffee
kommt, zweitens nach dem Kaffee. Jean Paul (nicht Sartre, sondern
Jean Paul Richter, Autor und Biertrinker aus Bayreuth): „Wenn ich
Kaffee vor dem Saufen trinke, muß ich zuviel pissen.“ Ich bitte um
Entschuldigung für die derbe Ausdrucksweise, aber sie stammt von
80
einem der größten unserer Dichterheroen und entspricht im übrigen
der Wahrheit.
Gegen vier haben wir die Nase voll vom Strand mit seiner weithin
sichtbaren Toilettenanlage und entschließen uns, in Bouzigues zu
Abend zu essen. Die Zeit bis zum Essensgang vertreiben wir mit
einer Promenade in Marseillan, dem sich ein Kontrollbesuch bei
Noilly-Prat anschließt. Noilly-Prat ist ein wohlschmeckender Aperitif, der aus den Weinen der Umgebung (Pittbull, äh Picpoul und
Clairette) gewonnen wird. Dazu werden die guten Tropfen mit Wermut versetzt und in Eichenfässern gelagert, und zwar unter freiem
Himmel. Die Hitze des Languedoc, die sich sommers über die jeweils
600 Liter fassenden Eichenfässer legt (von denen manche schon
über hundert Jahre alt sein sollen), trägt zum Reifeprozeß bei, die
Kälte im Winter sorgt für die Läuterung der Destillate. Die Aromen
tauschen sich dann mit denen des Holzes aus, und die Flüssigkeit
reduziert sich ein wenig: um "la part des Anges" - um den Anteil,
der den Engeln zusteht. Aber auch diese Stufe des Herstellungsprozesses macht noch nicht das ganze Geheimnis des Noilly-Prat aus.
Die Zutaten selbst läßt man vor ihrer Verwendung in Fässern reifen,
die je nach dem aus italienischer oder französischem Eichenholz
bestehen. Die Ingredienzen sind bis auf die Trägerweine geheim, die
Formel wird seit Anfang des 19. Jahrhunderts, als Joseph Noilly,
den Aperitif erfand, in etwa so streng gehütet wie jene von CocaCola. Die Eichenfässer lagern zur Bestandssicherung ihrer aromatischen und olfaktorischen Potenzen auf einem mit starkem Maschendrahtzaun bewehrten Gelände, so daß männliche Passanten
keine Chance haben, mit ihrer Duftmarke zu einer geschmacklichen
Modifikation des Noilly-Prat beizutragen.
Der Noilly-Prat ist ein Apertif, wie er sein sollte: Er heizt den Magen an, im Gegensatz zu anderen Aperitifs, die den Kopf vernebeln,
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wie der Pernod (muß man leider sagen), oder den Gaumen verkleben,
wie ein zu gut gemeinter Kir. In den Verkaufsräumen der Firma klärt
uns eine freundliche Verkäuferin freilich auf, daß es auch einen
„Noilly-Prat très douce“ gibt, den man als Dessertwein zum Käse
oder zur Süßspeise nimmt. Ich sage: “Also eine Art Muscadet.” Sie
sagt: “Genau, nur besser.” Mme Knotterbeck sagt: “Oder wie ein
Gewürztraminer.” Sie sagt: “Oh là là, sagen Sie das hier nicht zu
laut.” Gewürztraminer scheint hier der Gipfel der Abartigkeit zu sein.
Zur Essenszeit in Bouzigue: wunderbare Abendstimmung, die einen zusätzlichen Reiz dadurch gewinnt, daß Bouzigue wie ein Fischerdorf am Lago di Garda aus den 50er Jahren wirkt. Das Geheimnis des ungetrübten Erscheinungsbildes: Es gibt keine Durchgangsstraße, die den Ort von der Küste trennt. Der Reiz hat seinen
Preis. Im Vergleich zu Sète mit seinem starken Wettbewerbsdruck in
der Gastronomie muß man hier mit einem Preisaufschlag von gut 50
Prozent rechnen. Wir essen Muscheln und anderes Meeresgetier
gratiniert, mariniert und farciert. Dazu im Hauptgang Sardinen frittiert (erkennbar auf Holzkohle gegrillt), und dazu wiederum, weil es
auch der Michelin-Führer befiehlt, Picpoul gut dekantiert und von
der Säure kaum strapaziert; wir nehmen aber auch wegen unseres
großen Durstes viel Wasser mit einem echten Appell an Geschirrspülung. Im Lokal sind mittlerweile alle Tische besetzt, viel Publikum
aus Sète – schätzungsweise obere Mittelschicht, die sich in ihrer
Mittelschichtsselbstgerechtigkeit an einem Tag wie diesem mit
Goldanker-Blazer (die Herren) und golddurchwirkter weißer Chiffonkutte (die Damen) präsentiert. Die Patronin hat Schwierigkeiten mit
meiner Kreditkarte. Sie ist es nicht gewöhnt, daß Ausländer keine
inländische Pin-Nummer parat haben und den Zahlungsvorgang
allein durch ihre Unterschrift beklau.. äh ich meine: beglaubigen. Der
polyglotte Kellner (Omerta-Italienisch, Aztekenspanisch und Pidgin-
82
Englisch), der wohl schon 24 Restaurants an der Côte d’Azur hinter
sich hat, hilft ihr auf dem Sprung zur Mondanität.
Auf dem Rückweg ertönt aus dem Autoradio: „Baiser les coquillages“ der französischen Wavegruppe Niagara. Was man vornehm als
“die Krustentiere küssen”, weniger vornehm aber eingedenk einschlägiger Metonymien als „die Muschel f...“ übersetzen könnte.
Zu Hause: keine Ameisen. Hat das Manifest gewirkt? Oder sind
sie bloß unsichtbar, weil sie schon zu Bett gegangen sind? Aufkeimendes Triumphgefühl, leicht bewölkt von Zweifeln. Deshalb letzte
Spülung mit der Domaine du Temple. Es ist zum ersten Mal hier
unten völlig windstill, und ein leichtes Sirren gibt uns eine Vorahnung davon, daß wir demnächst mit stark juckenden Pusteln zu
rechnen haben.
Um elf spätabends Anruf von Colette aus Vézelay im Burgundischen. Colette habe ich auf irgendeinem dieser typischen 70erJahren-Meetings in Straßburg kennengelernt. Sie kündigt an, daß
sie und ihr Lebensgefährte nicht, wie geplant nach Millau, zur “manif”, zur Demo, kommen könnten, weil Bertrand mal wieder unpäßlich sei. Die beiden bewohnen eine alte Abtei nahe Vézelay, mit der
sie auch schon viel Pech hatten (zu kalt, zu teuer in der Unterhaltung und ständig Ärger mit den Denkmalschutzbehörden), aber
dieses Dauerpech ist lächerlich im Vergleich zu jenem PermanentUnglück, auf das Bertrand abonniert ist. Bertrand nämlich ist ein
Künstler, Aktionskünstler; er sieht so aus wie der Frankfurter
Künstler Henner Drescher, mit dem ich zu jener Zeit, als er noch
„Jesus von Sachsenhausen“ genannt wurde, öfters mal „dribbdebach“, also in Sachsenhausen, im „Abtskeller“ und beim „Kochersperger“ versackt bin. Nur im Unterschied zu Henner, der seinen „objets trouvés“ aus den Shredderanlagen des Osthafens neue
83
Bedeutungen verleiht (Motto: „corriger la fortune“) und im Unterschied zu Henners massiver Erscheinungsweise ist Bertrand weniger diesseitig, er ist gewissermaßen ätherisch im Anspruch und
überschreitet regelmäßig die Grenzen seiner Möglichkeiten. Das
kommt zwar einem veritablen Künstler durchaus zu, Bertrand aber
gereicht es zum Verhängnis, einem multiplen Verhängnis, einer
Katastrophe in Raten.
Die Feuilletons berichten für gewöhnlich nur über gelungene Aktionen, zum Beispiel eine Verhüllung des Kilimandscharo-Gipfels
oder ein Kühlschrankhappening mit Kühlschränken, die zu einem
Kühlturm aufgestapelt sind. Weitgehend unbemerkt bleiben die
Aktionen, die mißlingen, bei denen der Künstler hachhaltige Schäden an Leib und Seele davonträgt. Gewiß, man hört hin und wieder
von Selbstverstümmelungen, doch bleibt dabei meistens unklar, ob
es sich um ein geplantes Ereignis oder um ein Versehen handelt; so
zum Beispiel die Schweigeaktion von Peter Weibel, der sich die
Zunge hat einbetonieren lassen, und bei der ein Stück verloren ging,
als sie nach Beendigung der Aktion mit einem Preßlufthammer freigelegt werden mußte, oder - um beim Beispiel Zunge zu bleiben eine Aktion Robert Rauschenbergs, der sich seine Maullasche
stempelte, dabei aber dummerweise eine Spezialtinktur verwendete,
die ihm auf Monate jeden Eß- und Trinkgenuß vermieste.
Nun, Bertrand ist wie gesagt ein Aktionskünstler, und zu seinen
spektakulärsten Unternehmungen, die schief gegangen sind, gehört
der Start einer Rakete aus dem 60 Meter tiefen bis dahin betriebsfähigen Brunnen der Abtei. Bertrand hatte nicht berücksichtigt, daß
die startende Rakete in dem engen Schacht einen Unterdruck erzeugt, der wiederum die Implosion des Bauwerks bewirkte, worauf
auf dem Grundstück nicht nur ein gehöriger Krater entstand, sondern auch der Denkmalschutz auf den Plan gerufen wurde, die wie-
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derum unseren Freunden eine saftige Geldstrafe aufbrummte. Die
Geldbuße fiel aber weit geringer aus als die Kosten einer Wasserleitung aus dem zwei Kilometer entfernten Ort. Ebenfalls eine tüchtige
Strafe – diesmal von der Feuerwehr und den Naturschutzbehörden –
brachte Bertrand der Start eines hundert Meter breiten Drachens im
Département Drôme ein. Auf ihm war nur die Abbildung des Himmels über der Drôme zu sehen – gemeint war die Aktion, wenn ich
es richtig verstanden habe, als Spektakularisierung eines unspektakulären Ereignisses, nämlich des ruhenden Sternenhimmels über der
Drôme. Eine plötzlich aufkommende Windböe, wie sie dort zwischen
Rhône und Alpen gar nicht selten sind, ließ das Ungeheuer an einer
von Pierrelatte kommenden 800 Kilovolt führenden Stromleitung
anlanden. Die Folge war ein ziemlich teuerer Kurzschluß und ein
vergleichsweise preiswerter kleiner Flächenbrand.
Diesmal, so Colette, war das Unglück etwas harmloser. Es steht
noch nicht fest, ob die Zehen von Bertrands rechtem Fuß verloren
sind; möglicherweise werden sie nach der sechsstündigen Operation, die im übrigen ohne Komplikation verlaufen sei, wieder anwachsen. Bertrand hatte eine veritable Guillotine in Betrieb gesetzt, die
eine Melone so zerteilen sollte, daß die herabfallenden Hälften wie
bei Tinguelys Maschinen einen komplizierten Mechanismus in Gang
setzen, an dessen beiden Enden kleine Roboterarme jeweils das
Buch von François Furet zur Französischen Revolution vorwärts
und das von Albert Soboul (ebenfalls zu diesem Thema, aber mit
gegenteiliger Aussage) rückwärts blättern sollte. Eigentlich war dies
gedacht, um das Thema „Das Sein, das Ereignis und die Interpretation“ zu versinnbildlichen, uneigentlich klemmte der Mechanismus
des Fallbeils. Bertrand hatte sich in die Höhe strecken mü ssen, wobei er mit den Zehen über die Führungsschiene hinaus gelangt war.
Ich wünsche ihm gute Besserung.
85
Bei dieser Gelegenheit frage ich Colette nach ihrer Meinung zu
Bové: “Historisch erwiesen ist”, sagt Colette, “daß die Mericanos
(sie meint damit die Amerikaner) im Zweiten Weltkrieg normannische Käsefabriken bombardiert haben. Warum? Weil sie diese für
Giftgasbetriebe hielten. Der Frevel steckt wahrscheinlich noch tief
im kollektiven Unterbewußten Frankreichs, und jetzt, wo die Mericanos endgültig siegen und mit ihren McDos ganz Hexagone (damit
meint sie das französische Territorium) überziehen, während sie die
Käsefabriken, die den Weltkrieg überstanden haben, von Procter &
Gamble aufkaufen lassen, jetzt, wo also die Geschichte ihrem Ende
entgegengeht, regt sich endlich Widerstand. Aber wie José Bové
den Roquefort zum Symbol unserer Kultur überhöht, das geht mir zu
weit. In der französischen Revolution haben sie den Kalender durch
ein Dezimalsystem ersetzt und Gott durch die VERNUNFT in Großbuchstaben. Was die Bovisten betrifft, ersetzen sie den Sozialismus,
an den sie vor ein paar Jahren noch geglaubt haben, durch Roquefort. Neh, also wirklich.” “Und da fällt mir noch was ein”, so Colette
weiter, “sind Bovisten nicht Pilze, die sich in Staub auflösen, wenn
man drauftritt?” Ich sage: „Die verwechselst du mit den Beutelstäublingen.“ Colette sagt: „Das ist doch egal, ihr deutschen
Besserwisser.“
Aber, sie wäre trotzdem gern gekommen, nach Millau, und man
hätte sich treffen können, ob in Millau, um Millau oder um Millau
herum. Schade.
Samstag, 1. Juli
Gegen vier Uhr morgens zieht ein Gewitter auf. Es blitzt und donnert bis fünf. Hagen Knotterbeck schickt mich auf die Terrasse,
Wäsche abzuhängen, Polsterauflagen sicher zu stellen und die Lä-
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den zu überprüfen. Ich tue klaglos, wie mir geheißen. Das „Château
Fitz“ ist jetzt eine unbezwingbare Trutzburg. Kaum liege ich wieder
im Bett und versuche, mich trotz des Lärms und des Tobens der
Naturgewalten erneut in Morpheus Arme zu begeben, fragt Mme
Knotterbeck: „Und die Gartendusche?“ Ich: „Was für eine Gartendusche?“ Mme Knotterbeck: „Die Dusche im Garten?“ Ich: „Wieso
die Dusche im Garten?“ Mme Knotterbeck: „Stell‘ dich nicht so
blöd. Hast du sie abmontiert?“ Ich: „Warum abmontiert?“ Mme
Knotterbeck: „Weil da der Blitz reinschlagen kann und dann unser
Haus abfackelt.“ Ich: „Ich habe noch nie gehört, daß der Blitz in eine
Gartendusche gefahren wäre“ (In Wirklichkeit habe ich bisher noch
nie überhaupt etwas von Gartenduschen gehört). Mme Knotterbeck:
„Du gehst jetzt hin und baust das Ding ab. Oder willst du, daß ich
hier vor Angst vergehe?“ Ich: „Und wenn der Blitz in mich einschlägt? Ich geh‘ nicht!“ Mme Knotterbeck sagt nichts mehr, sie
droht nur noch durch Schweigen. Als ich leicht hinüberdämmere,
macht sich auch schon der Alp unerledigter Gedanken bemerkbar:
Klar und deutlich steht die Wasserfontäne vor Augen, die aus der
vom Blitz verfetzten Gestänge emporsteigt, während ein weiterer Teil
meines Ich verzweifelt den Haupthahn vom „Château Pohl“ sucht
und natürlich nicht findet. Was ist zu tun? Sofort abreisen und die
Dinge möglichst schnell hinter sich zu lassen? Versuchen, mit dem
restlichen Tintenfisch im Kühlschrank oder mit einem PicpoulKorken das Leck abzudichten? Oder den Nachbarn, den Erbauer des
Hauses, um Beistand zu bitten? Dies wäre wohl die praktikabelste,
aber zugleich auch riskanteste Lösung. Denn wenn Sie einen Franzosen in seinem „Maison de champagne“ um vier Uhr morgens aus
seinem Bau locken, dann laufen Sie unweigerlich Gefahr, entweder
von seinen Wachhunden zerfleischt oder von den DumdumGeschoßen aus seinem Jagdgewehr durchsiebt zu werden. Die Todesstrafe ist zwar seit 1981 abgeschafft - aber nur die Todesstrafe,
die von Organen des Staates vollzogen wird. Die Todesstrafe durch
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den Verteidiger des privaten Immobilienbesitzes zumal in Südfrankreich ist nach wie vor nicht nur legitim, sondern sogar legal. Sie wird
von jedem Gericht als Putativnotwehr überaus positiv sanktioniert –
der Vorsitzende Richter pflegt mit seinem Lob für die vorausschauende, besitzstandswahrende und nachgerade staatsbürgerlich vorbildliche Haltung des Beklagten nicht eben sparsam umzugehen.
Wäre dem nicht so, wäre für die Besitzlosen und Entrechteten, die
mit einem falschen Paß verschärften Mundraub oder ähnliche Kapitalverbrechen begangen haben, kein Platz mehr in den Gefängnissen
frei – so hoch ist die Mortalitätsrate innerhalb der Einfriedungen
französischer Landhäuser. Ich befreie mich aus den Verwicklungen
meines Tag-Nachttraums und begebe mich in die Fluten, die vom
Himmel auf das Anwesen am Chemin des Roques stürzen. Aber wo
ist die Gartendusche, hat der Blitz etwa...? Und sind das tatsächlich
Wassermassen, die vom Himmel stürzen, oder handelt es sich um
ein gigantisches Duschbad auf Kosten der Pohl‘schen Wasserrechnung? Ich krieche durch den Schlamm und finde endlich den
Hahn, er ist vollkommen intakt, nur die Gartendusche ist weg. Wie
sich herausstellt, hatte Hagen Knotterbeck in eigener Person das
Ding abmontiert und in den Schuppen gestellt, am Vorabend schon
– was sie natürlich alles abstreitet, als ich völlig durchnäßt und von
Blitzen geblendet in die Schlafkammer zurückkehre.
Ich kann nicht wieder einschlafen. Deshalb stehe ich auf und mache mir eine Tasse Ricorée. Ricorée, inzwischen zur Firmengruppe
Nestlé gehörend, ist seit Jahrzehnten der unbestrittene Marktführer
unter den französischen Pulverkaffees. Er schmeckt scheußlich und
macht süchtig, eigentlich gute Voraussetzungen für eine erfolgreiche Schadenersatzklage gegen Nestlé.
Die Nacht verabschiedet sich, das Gewitter verzieht sich, der
Himmel klart auf, die Sonne schaltet den Deckenfluter an, die
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Nachtmahre verdünnisieren sich, und schon stimmen die ersten
Zikaden ihre Instrumente, zeigen sich bereit, gleich mit ihrem Konzert loszulegen. Um halb acht gehe ich wie gewohnt ins Dorf. In der
Rue Jean Jaurès paßt mich Madame Simone ab, um mir wortreich
über das Unwetter, das Ereignis des Tages, ich meine der Nacht
Bericht zu erstatten. Auch ihr Mann sei beinahe vom Blitz getötet
worden, leider habe ihn aber ein Prostatakrebs dahingerafft, wie bei
Mitterrand. Riesiger Tumor, aber viel größer als der von Mitterrand,
hä hä.“ 44 Jahre waren sie verheiratet gewesen.
Später auf dem Markt in Pézenas. Der Weg dorthin ist beschwerlich – eine endlose Autokolonne mit bleichgesichtigen und völlig
übernächtigten Urlaubern aus „Paris“ schiebt sich in Richtung Küste. Wir sind froh, daß wir nach wenigen Kilometern in Höhe des
Pont de Montagnac die zweispurige „Autobahn“ wieder verlassen
dürfen. Für die knapp fünf Kilometer von der Kreuzung bei Adissan
bis zur Abfahrt am Pont haben wir eine dreiviertel Stunde gebraucht.
Pézenas ist ein hübsches zwischen Péret und der Küste gelegenes
mittelalterliches Städtchen, dessen touristisches Alleinstellungsmerkmal darin besteht, daß Molière mit seiner Truppe einige Jahre
hier wirkte. Von daher versteht es sich, daß der Markt von unseresgleichen, die den Namen Molière irgendwie schon mal gehört haben,
überlaufen ist und als Folge davon mit gesalzenen Preisen zu rechnen ist. 90 Prozent der Händler sind unter 35 Jahre alt; sie identifizieren mit Kennerblick die Touristen und preisen ihre Ware gleich in
Englisch an. Die wenigen älteren Marktbeschicker konzentrieren
sich auf Einheimische und lassen ihren Charme mit bilderreichen
Gesten bei vollem Körpereinsatz spielen.
Das Wetter ist bedeckt, schwül, aber mit leicht reduzierten Temperaturen. Ich koche Linsen auf provenzalische Art. Wir trinken dazu
circa fünf bis sechs Liter Wein und lasse uns von den Mustiken
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beißen. Aber bevor ich Gefahr laufe, den Film zu verlieren, hier noch
schnell das Rezept. Es ist ganz einfach: Linsen auf provenzalische
Art benötigen Rotwein und lassen sich auch noch mit 2,899 Promille
produzieren.
Man braucht dazu ein Pfund Linsen, die am Vortag eingeweicht
oder - wenn es sich um moderne Linsen handelt - nach Packungsangaben zubereitet werden. Am besten sind die kleinen kernigen,
nicht die bei uns üblichen blassen Schällinsen, die bereits im kalten
Wasser zu einer Art Erbswurst-Schlamm aufquellen. Ein halbes bis
ein dreiviertel Pfund in schmale Streifen geschnittenes Dörrfleisch
(„petit salé“), zwei kleingehackte Zwiebeln, zwei gewürfelte Karotten, drei Knoblauchzehen, zwei Tomaten (wiederum entkernt / schleimt), zwei Eßlöffel Mehl, einige Nelken, zwei Lorbeerblatt, ein
Zweig Thymian.
Die Linsen (wenn es sich um eingeweichte handelt) werden mitsamt dem Lorbeerblättern, den Nelken und dem Thymian al dente
gekocht, das Kochwasser ab-, aber nicht weggeschüttet. Das Dörrfleischstückchen werden unterdessen angebraten, die Zwiebeln im
Fett glasiert, die Karottenwürfel dazugegeben, die kleingeschnittenen Tomaten sowie die ausgepreßten Knoblauchzehen untergerührt
und so lange geschmort, bis sich die Hymen der Tomaten zusammenkrümeln. Eventuell muß jetzt noch etwas Butter oder Olivenöl
zugegeben werden, um das nunmehr einzurührende Mehl aufzunehmen. Das Ganze anschwitzen, mit einem Glas Rotwein anlöschen,
soviel Linsenwasser zugeben, damit eine saucenartige Konsistenz
erreicht wird und mit Gemüsebrühenextrakt, Salz und Pfeffer abschmecken. Die Linsen mitsamt den Gewürzkräutern hinzugeben
und etwa zehn Minuten mitköcheln. Kenner geben nicht einfach die
Nelken und die kleingeschnittenen Zwiebeln hinzu, sondern spicken
eine Zwiebel mit den Nelken und lassen das Gebinde von Anfang an
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mitkochen. Dies hat einen gewissen dekorativen Effekt, der noch
unterhalb der Grenze zum Chichi zur Entfaltung kommt und deshalb
auch in meinen Augen gerechtfertigt ist.
Sonntag, 2. Juli
Um neun Uhr ins Dorf. Das Brotdepot hat am heutigen Sonntag
geschlossen. Deshalb muß ich mit der Alimentation vorlieb nehmen.
Vor dem Eisengitter eine Gruppe aufgeregt schnatternder Frauen.
Entweder ist der Bäcker noch nicht eingetroffen, oder Monsieur le
Boucher, der Ortsmetzger und Inhaber der Alimentation, hat verschlafen. – Kein Herankommen ans Brot. Ich kehre unverrichteter
Dinge wieder zurück. Denkbar, daß Monsieur le Boucher in der
Nacht zu lange geöffnet hatte. Denn zwischen Fleischertheke und
Alimentationsregalen stehen drei Tische, die bisweilen von Spuren
heftiger Zechgelagen gezeichnet sind. Auf einem weiteren Tisch
lümmelt ein betagter Computer. Er dient bei nächtlichen Zusammenkünften vermutlich als Mäusekino für Pornos aus dem Internet.
Jedenfalls schmückt sich die Alimentation seit neuestem mit einem
Schild, das auf ihre zusätzliche Funktion als „Espace Multiculturelle
et Multimédiale“ hinweist.
Mir fällt beim umständehalber kargen Frühstück ein, daß ich mich
noch zuwenig um die großen Hintergrundfragen gekümmert habe
und viel zu viel um Kochen, Trinken, touristische Lustbarkeiten und
Bekämpfung von Ameisen. Dazu muß man wissen, daß ich mich im
Urlaub gern diesseitigen und jenseitigen Menschheitsfragen widme,
die ich, wenn nicht für die Menschheit, so doch für mich beantworten will.
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Mme Knotterbeck sagt: „Untersteh‘ dich, du beantwortest gar
nichts, und schon gar nicht Fragen, die dir keiner gestellt hat.“ Ich
sage: „Es kann nicht sein, dass ich mich in geistige Abhängigkeit
von Monsieur le Boucher und Madame la Boulangère begebe, und
mich und meinen Lebensinhalt allein von den näheren Umstände der
Nahrungsaufnahme diktieren lassen. Der Mensch lebt nicht vom
Brot und Trunk allein.“ Umkehr tut not. Gott sei es gedankt, habe
ich für solche Notfälle das Neue Testament eingepackt. Ich nehme
die Paulus-Abteilung zur Hand und lege sie gleich wieder weg. Paulus und seine Bekehrung, das weiß ich auch ohne biblische Assistenz - dürfen ja nicht nur wortwörtlich, sondern auch als Zeichen für
den steten Neuanfang gelesen werden. Paulus im Brief an die Epheser: “Legt von euch ab den alten Menschen mit seinen früheren
Wandel, der sich durch trügerische Begierden zugrunde richtet.” Ich
will sofort abschwören dem Laster der Trägheit, der Sünde fleischlicher Begierde, der Untugend der Völlerei und natürlich auch dem
Teufel Alkohol. Ich will ein neuer Mensch werden und unverzüglich
meine zu Hause unterbrochenen Paulusstudien wieder aufnehmen
und den Sünd- wie Tugendhaften davon berichten...
„Unsinn“, unterbricht mich Mme Knotterbeck, „das sind geistige
Hungerödeme, vielleicht aber waren die Linsen gestern etwas zu
blähend. Ich mach’ dir einen Toast, und apropos Fleischwerdung,
wir haben noch etwas Wurst da, die muß auch gegessen werden,
deine ‚Saucisson aux myrtilles‘. Wenn du erst mal was zu dir genommen hast, dann kommst du wieder runter, wirst sehen. Das ist
doch keine Art, nur weil wir heute mal kein Brot haben. Und das mit
dem neuen Menschen hat noch etwas Zeit - wir machen heute einen
Ausflug, und zwar nach Mourèze. Eine kleine Wandertour im Felsenmeer würde auch den Kindern gefallen.“
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Der Cirque de Mourèze - keine zwölf Kilometer von Péret entfernt,
kommt im Guide Michelin auf zwei von drei möglichen Sternen. Es
handelt sich um den stark zerklüfteten Südhang ebenjenes Berges,
dessen Nordflanke steil zum Salagou abfällt. Was den Reiz des Cirque ausmacht, sind die zahlreichen Säulen, Klippen und Grate aus
Dolomitkalk, die zwischen der Steinwüste hervorkragen und aus
dem Gelände einen riesigen Irrgarten machen, der bevölkert ist von
steinernen Dämonen, allerlei Vertretern aus der vorsintflutlichen
Tierwelt, Drachen und Hexen; ja, manche Beobachter wollen sogar
Totenschädel im Großformat und sonstige abschreckende Einzelheiten der menschlichen Anatomie ausgemacht haben, geeignet, Außerirdische, die sich im Landeanflug befinden, zu beschämen oder in
Panik zu versetzen, um sie zur Rückkehr in welches schwarze Loch
auch immer zu zwingen, aus dem sie hervorgekrochen sein mögen.
Ich muß sagen, ich habe nichts dergleichen gesehen, nur unbehauene Findlinge, maßstabslose Felsnadeln, schründiges Gestein
und nutzloses Geröll. Das ist für Unbedarfte nicht ohne Reiz, und so
purzeln Jung und Alt, Caniche an der Leine oder Teleskopstock in
der Hand durch den Felskessel. Ab und an, wird jemand, der es zu
toll getrieben hat im lustvollen Ausschritt über Stock und Stein und
nun statt des Schreckens seiner Imaginationen den von überdehnten und gerissenen Bändern herrührenden Schmerz im Gesicht trägt,
von seinen Angehörigen abtransportiert - größere Unfälle kommen
selten vor, noch seltener sind Stürze mit Todesfolge.
Bevor wir in den Cirque einsteigen, müssen wir erstmal auf dem
Parkplatz 1,50 Euro berappen, das sind immerhin 75 Cent weniger als
in St Guilhelm-le-Désert, dem Touristenmagneten in den Gorges de
l‘Hérault, der gleichwohl im Guide nur einen Stern hat. Dafür erhalten wir kostenlos eine Wanderkarte, die sich im Praxistest als völlig
untauglich erweist. Die Franzosen verfügen zwar die besten Stra-
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ßenkarten der Welt und haben - wie gesagt - mit ihrer Michelinkarte
einen für andere Kartenmacher unerreichbaren Standard gesetzt.
Aber Wanderkarten sehen aus wie das Ergebnis von legasthenischen PC-Programmierern. Diese hier wartet mit weiteren Überraschungen auf: Die Himmelsrichtungen sind auf so heimtückische
Weise vertauscht, daß Sie, verehrter Kartenleser, in einen Abgrund
von 200 Meter Tiefe stürzen, wenn Sie gerade eben noch einen
Anstieg mit 25prozentiger Steigung erwartet haben. Erstaunlich, daß
die Sterberate im Cirque de Mourèze vergleichsweise gering ist und
nur deshalb eine leichte Überhöhung gemessen am Landesdurchschnitt aufweist, weil Körperkondition und Umweltbedingungen
mitunter zu stark auseinanderdriften - der Kessel heizt sich auch bei
mäßigem Sonnenschein enorm auf und bringt die Herzkranzgefäße
in Wallung und mitunter auch zum Bersten.
Ähnliches wie für Wanderkarten gilt auch für die Wettervorhersagen. Während „Radio France Hérault“ nicht der Lage ist, das zur
Stunde herrschende Wetter mit einigermaßen hoher Treffsicherheit
zu bestimmen, haut der “Midi libre” sogar bei den gelegentlich bemühten chronistenpflichtigen Rückblicken, beispielsweise auf das
Wetter des Vortages, daneben. Für heute war ein tiefblauer Himmel
vorhergesagt. Tatsächlich herrscht aber bei hoher Bewölkung fast
ein Zwielicht - die Sonne bleibt hinter einem dichten Schleier verborgen, erhitzt gleichwohl den Cirque in einer Weise, daß wiederum
einige Kreislaufzusammenbrüche zu befürchten sind. Daran dürften
auch die paar Tropfen nichts ändern, die gelegentlich vom Himmel
fallen und auf den Saunasteinen rasch verdampfen. Der Wind, der
laut „Radio France Hérault“ und “Midi libre” den ganzen Tag mit
Stärke sechs wehen sollte, hatte sich schon gegen neun Uhr gelegt.
Auch die Zikaden, sie sich bisher, was sie bei Wind über Stärke 1,5
immer tun, ausgeschwiegen haben, rechnen nicht mehr mit dem
Ende der Flaute und nehmen ihre eintönige Arbeit wieder auf. Sie
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zirpen jetzt nicht mehr nur nach Dienstvorschrift, sondern haben
etwa 80 Dezibel zugelegt. Uns klingen die Ohren von dem Lärm.
Wir wählen den gut beschilderten Einstieg im Dorf Mourèze, einem hübschen Örtchen, in dem merkwürdigerweise die autochthone
Bevölkerung noch über die demographische Mehrheit verfügt, folgen dem 50 Meter ebenso gut markiertem Weg, der abrupt vor einer
Steinwand endet. Also heißt es umkehren, einen unmarkierten
Trampelpfad wählen, um die empfohlene Rundwanderung fortsetzen
zu können. Der Pfad führt manchmal zum ursprünglichen Weg zurück, folgt den Markierungen und weicht ab, wenn die Wegezeichen
ausbleiben, bis er sich wie schon vor ihm der Hauptweg in den Geröllawinen verliert.
Die Touristenkinder finden das spannend, klettern mal rechts, mal
links irgendwelche Felstreppen hoch, müssen, wenn sie sich verstiegen haben, von den Erwachsenen wieder auf den Boden des
Gangbaren zurückgeholt werden. Die Erwachsenen (Hagen Knotterbeck und ich halten uns jedoch zurück) folgen ihrem Beispiel, und
so müssen immer wieder 60- und 70jährige beiderlei Geschlechts, die
in juvenilem Überschwang die Steilwände bekraxelt haben, von
ihren jüngeren Angehörigen aus der Bergnot gerettet werden.
Die Unübersichtlichkeit des Geländes fordert von allen Opfern.
Nach einer halben Stunde forschen Kletterns über enge Steige,
scharfe Klüfte und hangenden Fels, die bange Feststellung Kiki
Estragons: “Mir kommt das hier so bekannt vor.” Ich sage in vorsorglicher Abwehr: “Das kommt daher, daß sich die Steine alle gleichen.” Hagen Knotterbeck und Consuelo Vladimir aber befinden:
“Kiki hat recht, wir sind im Kreis gelaufen.” Also neuer Anlauf,
diesmal ganz gezielt nach Osten. Mit dem Ergebnis, daß wir nach
einer dreiviertel Stunde dort sind, wo wir eine halbe Stunde zuvor
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schon waren und nach anderthalb Stunden dort, wo Kiki ihre ersten
Zweifel angemeldet hatte. Wir steigen, jetzt schon deutliche Zeichen
der Ermattung fühlend, auf einen großen Stein, um uns Orientierung
in diesem Chaos von Felsen, Trampelpfaden und falschen Markierungen zu verschaffen. Unter uns wuselt, den Ameisen im „Château
Pohl“ gleich, die sonntägliche Besucherschar desorientiert und mit
verzweifelten Ausfallschrittchen durch das steinerne Labyrinth.
Hagen Knotterbeck deutet unterdessen auf eine circa 50 Meter
hohe Felskanzel in vielleicht zweihundert Meter Entfernung, auf der
sich etwa zwanzig Menschen augenscheinlich ohne Orientierungsstreß bewegen. Dies ist jedenfalls aus den sehr souverän
wirkenden Gesten des Zeigens und Bedeutens zu schließen, die
denjenigen zu eigen sind, die über alles Bescheid wissen und von
keinen Verunsicherungen der schnöden Welt da unten angefochten
sind.
„Wenn wir erst dort sind“, so Hagen Knotterbeck, „haben wir den
Überblick.“ Trotz der Anstrengungen der letzten beiden Stunden
sind die Kinder Feuer und Flamme - endlich mal raus aus den Steinen und hoch auf den Gipfel.
Wir schlagen einige Haken um das viele Geröll, immer die Kanzel
im Blick, und nähern uns dem Einstieg, dem mutmaßlichen Einstieg.
Leider ist uns der Zutritt zum Fuß des Felsens verwehrt, ein Zaun,
ein veritabler Maschendrahtzaun verhindert jedes Fortkommen. Wir
sondieren die Lage, Consuelo Vladimir entdeckt eine Stelle, wo das
Drahtgeflecht soweit runtergetreten ist, daß wir ihn mühelos überwinden können. Doch kaum haben wir das getan, als uns auch
schon zwei in Blaumännern gekleidete, klar als Wachpersonal identifizierbare Gestalten mit mangelnden Französisch- und Null Deutschkenntnissen in Gewahrsam nehmen und uns mit unmißverständli-
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cher Gestik zum Zahlen einer nicht verständlichen Summe auffordern.
Ich werd’ einen Dreck tun, sage ich im herrischsten Deutschton,
den anzustimmen ich mich in dieser Lage in der Lage fühle, von
wegen, hier einfach abzukassieren. Wir Deutsche kennen uns mit
dem Maschendrahtzaun aus, das ist Lager, das ist Nachbarschaftskonflikt, das ist Zonengrenze - mit mir nicht, wir haben aus der Geschichte gelernt, keinen Pfennig äh Centime äh Cent, zahlen wir für
so einen Unfug! Machen Sie sich da wieder hin, von wo Sie hergekommen sind! Dies letzte war nun halbwegs rassistisch, da das
Personal ohne jeden Zweifel nicht deutscher Nation ist, auch nicht
unbedingt französischer, ja mit der indogermanischen Rasse nichts
zu tun hat (ich tippe rückblickend und weitgehend unerregt auf
Karatekämpfer aus Papeete), macht aber nichts, ich habe Durst, bin
erschöpft, habe die Schnauze voll von diesen ständigen steinernen
Hindernissen, die uns der französische Fremdenverkehr in den Weg
legt.
Ich will rauf auf den Felsen, errege ich mich weiter, und zwar mit
der ganzen Familie, um einen Überblick über die Lage zu gewinnen,
in die wir unverschuldet durch falsches Kartenmaterial, gefälschte
Wegführung, vorsätzliche Falschinformation und überhaupt durch
willentliche Irreführung geraten sind. Seien Sie froh, daß ich nicht
alle Verantwortlichen auf entgangene Urlaubsfreuden verklage: die
Gemeinde Mourèze, falls es so eine gibt, das Département Hérault,
die Region Languedoc-Roussillon, den französischen Staat, die
gesamte frankophone Welt, Erbfeind elender, hast dich in nichts
gebessert, immer noch der alte, verschlagen tückische Franzmann...
Die Kinder sehen erstaunt zu mir rauf. Ich bin inzwischen auf
zweieinhalb Meter gewachsen. Hagen Knotterbeck guckt so betre-
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ten, daß ich sogleich alarmiert bin und auf Einmeterfünf schrumpfe.
Die Luft ist raus, ich lasse mich widerstandslos abweisen. Immerhin
bin ich der Festnahme entkommen und einem körperlichen Verweis
entgangen. Das Personal erscheint mir auch nicht mehr als Personal,
sondern als fleischgewordener Triumpf, dem ich mit meinem mickrigen touristischen Dasein nichts mehr entgegenzusetzen habe. Wir
schleichen uns den Maschendrahtzaun entlang durch das Felsenlabyrinth und sind zehn Minuten später in Mourèze. Dort sehen wir
einen Wegweiser zum „Parc des Courtinals“, einem Freilichtmuseum,
in dem nach Lage der Dinge unsere Aussichtsterrasse liegen muß.
Der Parc des Courtinals ist, wie eine Anzeigetafel bekundet, eine
prähistorische Siedlungsstätte, in der die Vorfahren der Franzosen
(aber nicht des Personals!) ihr prähistorisches Franzosentum pflegten, von hoher Warte ihre Steine (Hinkelsteine?) bewachten und so kommt es mir in den Sinn - ihre Abneigung gegen das aufkeimende Germanentum kultivierten. Die Kinder verstehen nur Hinkelsteine, Gallier und Römer und wollen sofort hinein in den Park. Ich:
Keinen müde Franc, äh Euro, noch nicht mal einen Centime, ich
meine: Pfennig, äh Cent...Hagen Knotterbeck schlägt sich auf die
Seite der Kinder: “Wenn wir schon mal hier sind.” Dieses “wenn wir
schon mal” kostet uns nicht einen Cent, sondern gleich zehn Euro,
und wenn ich die Getränke und das Eis, das ich an der Kasse für die
ausgedörrten Kehlen kaufen muß, dazu rechne, dann sind wir in
dieser Steinwüste einschließlich Parking umgerechnet 25 Euro losgeworden. Die Gegenleistung ist, wie auch Hagen Knotterbeck
gleich erkennen muß und was auch den Kindern nicht unverborgen
bleibt, gleich Null: prähistorische Siedlung, daß ich nicht lache, alles
Schwindel. Um nur ein Beispiel zu nennen: Präsentiert wird eine
Hütte aus dem Neolithikum - vier Holzstämme (vor zwei Jahren frisch
geschlagen), darüber eine Schilfrohrwand aus dem Baumarkt, dessen Eisendraht man aus Gründen der Authentizität durch eine Kor-
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del ersetzt hat (denn wir befinden uns in der Bronze- und noch nicht
in der Eisenzeit). Auf dem Boden einige Ausbuchtungen in den Fels
gekratzt und mit Heu bedeckt: die prähistorische Sitzecke. Gegenüber ein paar grob behauene, rotbraunlackierte Gasbetonsteine, die
entweder - ich mag gar nicht mehr die Anzeigetafel lesen - den prähistoris chen Herd oder das Sideboard für den Fernseher verkörpern.
Und so geht es weiter: Keramiken, die aus dem Abfall von Töpferkursen für Pariser Lehrerinnen aus dem Larzac stammen, Pfeilspitzen, die auch in der Ethnokunstabteilung der Galeries Lafayette zu
finden sind und Treppenstufen, die mit dem Preßlufthammer in den
Schaft unseres Turmes gehauen wurden. Und dann die Aussichtskanzel: Was uns von tief unten erstrebenswert erschien, nämlich
dort oben zu stehen und wie weiland Kapitän Achab das Felsenmeer zu durchpflügen, erweist sich, endlich dort angekommen, als
absolut überflüssig und sinnlos: Man sieht die Steine von oben,
sonst nichts. Halt, das ist nicht ganz richtig, man sieht auch unseresgleichen, wie es ameisenhaft über die Felsen krabbelt, von den
Flanken gleitet, sich wieder hochrappelt und zum Parkplatz
schleppt...Nur schnell weg von hier. Der Blick auf die Uhr zeigt, daß
wir uns inzwischen schon sechs Stunden in der zweigestirnten touristischen Attraktion bewegen und noch nichts gegessen haben.
Wir beschließen, nach Clermont zu fahren und uns im vielgerühmten “Le Tournesol” zu verköstigen. Das Essen dort ist weniger
als Naja und etwas besser als eine Katastrophe. Die „Voluté de
poisson“, eine leicht gebundene Fischsuppe zum Entrée ist nicht
schlecht, wir hatten aber schon deutlich bessere gehabt. Die „Papilottes de rouget“, in Pergament (hier in Aluminiumfolie) zusammen
mit Gemüse gedünstete Rotbarben, die ich bestellt habe, sind etwas
lieblos ratatouillehaft zubereitet. Ich als Dunkelmann der gepflegten
Küche und der ausgesuchten Gastlichkeit, wie sie von den Hochglanzpostillen propagiert wird, bevorzuge die Rougets ganz einfach
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gegrillt, aber ich gebe zu, daß sie mit einer „Matignon de légumes“
(kleingewürfelte Karotten, Tomaten, Sellerie, Fenchel mit feinen
Lauchstreifen) farciert und in einer Fischbouillon gegart auch nicht
schlecht schmecken. Hagen Knotterbecks „Magret de canard“ ist
unmittelbar unter der Hülle roh, muß zum weiteren Garen in die Küche retourniert werden. Die Muscheln für die Kinder scheinen in
Ordnung, die Pommes dazu aber stammen offensichtlich von einem
bekannten kanadischen Hersteller und werden naturgemäß halb
angekokelt serviert. Dafür aber viel Tischzauber mit Platztellern und
provenzalischem Gesteckchen, in die kleine Sonnenblumenmotive
drapiert sind.
Ich mache, nachdem ich die Rechnung bezahlt habe, die Rechnung auf und komme zu dem etwas ungerechtfertigten Ergebnis:
„Ras le bol du malbouffe au resto! Schnauze voll von dem Drecksfraß im Restaurant!“ Daß nämlich die Restaurants an Qualitätsdefizit
dem McDoof in nichts nachstehen, beweist ein kleines Rechenexperiment. Wir zahlen für einen McDabbel - Format Super-Royal, das
heißt den größten Wopper, den es gibt, „Le 280 poids lourds“, 2,75
Euro. Vorspeise fällt aus, die gibt es nämlich nicht im McDödel,
obwohl immer wieder in den Brätereien beidseitig des Rheins und
des Atlantiks von Menü die Rede ist. Weil es also mit Hors
d‘oeuvre nichts ist bei McBlödel, bestellen wir als Sättigungsbeilage eine kleine Pommes à einem Euro und hinterher zur abrundenden
Strafe für das bisher Verschlungene als Dessert ein „Moelleux
Pomme-Orange“ (fragen Sie mich nicht, was das ist) oder ein
„McCookie“, macht 1,50 Euro, oder alles in allem für die zwei Gänge „à la carte“ wohlgemerkt! - 5,25 Euro.
Zum Vergleich genehmigen wir uns im „La Chaumière“, es könnte
aber genausogut im „Clos des Vignes“ oder in der „Truite Enchantée“ oder in unserem Falle im „Tournesol“ sein, ein Menü für 28
100
Euro, das preiswerteste, was in einer lauschigen Gegend des Abends auf der Speisekarte steht. Dafür erhalten wir sechs Muscheln,
farciert mit einem altbackenen Fensterkitt, der gut und gerne auch
zur Panade für das Tauchölschnitzel des „Quickgrill“ auf der Frankfurter Kaiserstraße taugen würde. Wahlweise nehmen wir aber, weil
uns der Sinn an diesem Abend nach Gesundheit und Frische steht,
die „Crudité à la Provençale“, ein - wie sich bei Tische herausstellt übersichtliches Ensemble aus einer Scheibe Kochei, vier Scheiben
Tomaten, ein in Streifen geschnittenes Blatt vom Romana-Salat, je
zehn Gramm geraspelter Möhre und gestifteter Sellerie sowie zwei
schwarzen Oliven, betaut mit einer Vinaigrette von Amora. Als
Hauptgang erwartet uns nicht etwa eine zarte „Canette laquée au
miel de lavande“ (das heißt Entenbrüstchen in Lavendelhonig),
sondern ein robustes „Magret au canard“ - in diesem Falle eine in
der Bratpfanne gehärtete Entenbrust, deren verkohlte Oberfläche
von der opaken „Sauce au-miel-et-à-l’orange-ainsi-qu’au siroupe de
pastis oder so ähnlich“ optisch geschmeidiger gemacht worden ist.
Dazu zwei kleine Pyramiden mit dauphiniertem Kartoffelmus sowie
eine im Ofen gebackene Tomate, bis zum Rand gefüllt mit jener Farce, die uns schon bei den Muscheln begegnet wäre, hätten wir uns
angelegentlich der Vorspeise daran vergriffen. Abschließend nehmen wir, um unsere Geschmacksknospen von den bisher dargereichten Bitterstoffen zu reinigen, nicht die je ein Winzstückchen Roquefort oder Cantal, die uns die Küche („aimablement insprirée par le
terroir“ - so die Eigenwerbung) empfiehlt, sondern die „Crème brulée“, von der wir aus „Essen und Trinken“ oder ähnlichen Zentralorganen der forcierten Küchenkunst wissen, daß sie in einem aufwendigen Verfahren mit dem Schweißbrenner hergestellt wird. In
unserem Fall ist das natürlich keineswegs so, weil die Crème leicht
erkennbar die Abmessungen des im Supermarkt erhältlichen Produkts von Danone hat.
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So, und nun ans Rechnen: Grobsättigung im McKlacks: 5,25 Euro,
Menü im Resto-Super-Retro-Chic: 28 Euro. Multipliziert man den
Rechnungsbetrag im McKlecks mit einem kalkulatorischen Faktor
von 3, der sich aus dem Zuschlag für das Ambiente im Restaurant,
der Ausdifferenzierung der Beigaben (z. B. Tomate statt Ketchup)
und dem Reuekoeffizienten für den Besuch bei McDussel zusammensetzt, und neutralisiert zu guter letzt noch den geldwerten Vo rteil, den man aus dem unaufmerksamen Bedientwerden im „Le Romarin“ statt der Selbstbedienung im McDassel bezogen hat (dafür hat
man in Urlaubsstimmung nämlich zusätzlich 4 Euro an Trinkgeld
zurückgelassen) dann kommt man auf 11,75 Euro bei McMatt im
Vergleich zu jenen netto 28 Euro, die im Restaurant zu veranschlagen waren. Da man überdies im McPlatt nur eine Cola für zwei Euro
statt eines Viertel „Côtes du Ventoux“ zu 7 Euro, dem preiswertesten
Getränk auf der Karte, genossen hat, bleibt immer noch eine Ersparnis von 21,25 Euro (Trinkgeld nicht eingerechnet), die man zu Hause
gewinnbringend in zwei Flaschen des High-End-Produktes der Cave
Coopérative de Cabrières oder in sechs Flaschen von dem ebenfalls
keineswegs schlechten „L’Estabel Rouge“ aus der nämlichen Kooperative investieren kann. Und mit sechs Flaschen pro Person
kann man sich nun wirklich jeden Hautgout wegtrinken, den der
McFett im Körper hinterlassen hat. Fazit: McDoof ist besser als sein
Ruf, und nur wirklich Doofe lassen sich im französischen Landgasthaus das Fell über die Ohren ziehen, denn das ist die einzige Handwerkskunst, die viele Patrons der Cuisine Française noch zuverlässig beherrschen.
Auf dem Platz vor dem “Tournesol” hat sich während unseres Essens eine Zigeunerband aufgebaut, Gipsy-Kings-Look-a-likes, mit
allem drum und dran, Bühne mit Lichtshow, machtvolle Freibeschallungsanlage. Für den Soundcheck, der bei Tisch die akustische
Kulisse abgab, hätten wir vom Patron streng genommen einen statt-
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lichen Rabatt erwarten dürfen (das hätte mir freilich die Vergleichsrechnung verhagelt), so miserabel war das, was wir zu hören kriegten. Als wir das “Tournesol” verlassen, hat die (übrigens kostenlose, von der Clermonter Administration zum Zwecke der Tourismu sförderung finanzierte) Darbietung begonnen. Es stellt sich schnell
heraus, daß der Soundcheck besser war als die völlig übersteuerte
eigentliche Darbietung. Heruntergespult wird alles, was dem flachsten internationalen Niveau dieses Genres betrifft: "Bamboleo", "Volare", "Baila me" undsoweiterundnichtendenwollend; einige Alte
wackeln bedenklich mit dem Kopf, zwei drei Alt-Hippie-Larzac-BabaCool-Damen in roten Wallegewändern führen einen arthrosesteifen
Ausdruckstanz vor – das übliche halt in der Art von: Seht-ihr-wieich-mitgehe-aber-ihr-mitteleuropäische-Klemmheinis -könnt-euch-janoch-nicht-einmal-richtig-bewegen. Auftritt schließlich eine Sängerin mit arabischen Melodeien – ein Natacha-Atlas-Imitat. Ich doziere: “Das kommt von der engen Ve rbindung der spanisch und arabischen Kultur, welche die Zigeuner in sich aufgesogen haben.” Mein
Nachbar, ein älterer Herr mit kurzem gepflegten Graubart, schüttelt
sich ungläubig, nicht wegen meiner Worte (die er ja nicht versteht),
sondern offensichtlich wegen der Sängerin. Er ist, wie er mir lachend
erzählt, ein Harkis der ersten Generation, also eine Art heimatvertriebener Algerier. Da er bestens mit dem Hocharabischen, auch im
Ägyptischen (der Sprache dieser Sängerinnen) vertraut ist, entgeht
ihm nicht, daß die Künstlerin rein fiktive “paroles” darbietet, ich
übersetze für mich: onomatopoetisches Arabisch singt (ungefähr
so, wie Oss Fries aus Ensheim Russisch singt). Der Harkis hält auch
die Zigeuner nicht für echt.
Merkwürdig, daß höchstens 200 Zuhörer anwesend sind – trotz
der massiven Propaganda in den “Midi-libre”-Ausgaben der vergangenen Tagen und der ständigen Hinweise in „Radio France
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Hérault“. Wir machen, daß wir wegkommen und berauben damit die
Verantwortlichen um mindestens zwei Prozent ihrer Zuhörerschaft.
Montag 3. Juli
Der Himmel ist wolkenverhangen, es herrscht ausgesprochenes
Dämmerlicht. Wir bestimmen unisono, Montpellier einen Besuch
abzustatten und verordnen uns eine kleine Abenteuertour, indem
wir das Auto an der Peripherie parken und mit öffentlichen Ve rkehrsmitteln - der heute in den Regelbetrieb gehenden neuen Tram in das Zentrum fahren. Die Straßenbahn wird vom „Midi libre“ seit
Tagen als verkehrspolitische Großtat gefeiert, obwohl sie bis auf
weiteres nur eine einzige Linie vorzuweisen hat. Wir folgen den
Empfehlungen des „Midi libre“ und parken an dem eigens dafür
ausgewiesenen überwachten Parkplatz am Stade de la Mosson (dem
Fußballstadion Montpelliers an der Ausfallstraße nach Clermont).
Wir zahlen drei Euro für ganztägiges Parken einschließlich Hin- und
Rückfahrt per Tram für die ganze Familie. Das ist gemessen an den
Gebühren in Mourèze und St-Guilhelm-le-Désert spottbillig (man
bedenke die zwei Sterne Montpelliers im Guide), und man erwirbt
das Eintrittsbillet für ein Abenteuer pur.
Denn die Fahrt endet in unserem Fall, bevor sie überhaupt angefangen hat. Die Tram hat einen technischen Defekt und muß zunächst gründlich durchgecheckt werden: Es ist ganz so wie bei den
Verzögerungen eines Jumbostarts, mit dem Unterschied, daß die
Passagiere aus naheliegenden Gründen nicht zurück in die Abflughalle gebracht werden, sondern sitzenbleiben dürfen. Vor der Tram
aber große Hektik: Es eilt der Stationsvorsteher herbei; der Fahrer
macht unterdessen einige Funktionsübungen mit dem Schließmechanismus der Tür, ein Mann mit Overall geht seine Checkliste
durch und bespricht dann aufgeregt ein Walkie-Talkie, woraufhin
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ein blauer Kombi mit Tatütata eintrifft und zwei weitere Overallmänner auf das Rollfeld, äh ich meine: den Haltestellenbereich entläßt.
Erneute Checks, auch unter Zuhilfenahme eines Laptops, Ferndiagnosen und -therapien über Funk. Nach einer Stunde betätigt einer
der Techniker einen Knopf, der bisher (das wäre mir nicht entgangen) noch nicht bedient wurde, und die automatische Sperre, die
sich durch ein leises Piepsen bemerkbar machte, ist aufgehoben.
Die Tram setzt sich in Bewegung und erreicht nach wenigen Minuten ihre Diensthöhe, pardon: Dienstgeschwindigkeit von cira 10
Kilometer die Stunde. Da es nur eine Tramstrecke gibt, aber mö glichst viele Viertel angefahren werden müssen, bewegt sich der Zug
im Zickzackkurs mit extremer, ultramoderner Neigetechnik in Richtung Zentrum, so daß wir mit leicht verrenktem Kreuz nach einer
Stunde, das heißt zwei Stunden, nachdem wir unser Auto geparkt
haben, unser Ziel erreichen. Insgesamt hat die Tram also länger
gebraucht als die Straßenbahn von Ensheim zum Terminus “Holzkopp” in Saarbrücken (wo Tante Trudel als Bedienung arbeitete)
selbst im strengen Winter 1956, als die Weichen in Eschringen zugefroren waren.
Der hohe Unterhaltungswert, den die Fahrt bietet, wird von vielen
Montpelliérains ausgekostet. Schon nach drei Stationen von insgesamt 14, die die Straßenbahn auf dem Weg ins Zentrum ansteuert,
sind die Wagen überfüllt. Mosson / La Paillade ist überwiegend
von Nordafrikaner bewohnt, so daß wir uns alsbald wie in den
Souks von Algier fühlen. Bürgermeister Georges Frêche steht übrigens derzeit schwer unter Beschuß, weil er sich ausgerechnet bei
der vorgestrigen Probefahrt für die Presse und die örtlichen VIPs zu
der Bemerkung hatte hinreißen lassen, daß die Kopftuchträgerinnen
das Kopftuch benutzen, um ihre von Dauermumms geplagten Ohren
warm zu halten. Die Entgleisung - der Mann ist immerhin Sozialist -
105
schlägt Wellen bis in den Matignon, den Sitz des französischen
Premiers, wo sein Parteifreund Beschwichtigungssignale an die
arabische Staatengemeinschaft aussenden muß.
Mehr und mehr Fahrgäste müssen draußen bleiben, und dazu gehören allesamt die Bewohner der besseren Wohngegenden. Somit
haben die Parias endlich einmal einen strategischen Vorteil in jener
Stadt, an deren Rändern sie gedrängt worden sind. Andererseits
besteht die Gefahr, daß sich bei anhaltenden Kapazitätsproblemen
der Tram die „europäischen“ Fahrgäste zur extremen Rechten überlaufen, sofern sie nicht schon längst zum Lager des Front National
zählen. Immerhin trägt die Überfüllung der Bahn zu enormen Kommunikationsleistungen bei: Man muß sich mit mindestens 30 Leuten
verständigen, wenn man auszusteigen gedenkt, was in der Regel zu
weiterführenden Gesprächen über das Elend der Ve rkehrsmittel und
das der ganzen Welt führt, und zu Erörterungen, von wo man
kommt, wohin man will etceterapeepee. Wir verlassen die Bahn mit
einem größeren Schwall von Fahrgästen, und lassen uns dahin
spülen, wo wir die Stadtmitte vermuten. Es scheint zu stimmen: Place
de la Comédie steht da, kurz Comédie genannt. Wir dringen in die
Altstadt ein, die sich von unserer Warte aus betrachtet rechts an die
Comédie anschließt. Hagen Knotterbeck sagt: “Wie schön.” Die
Kinder sagen: “Wie langweilig.”
Gottseidank entwickelt sich die Szenerie recht bald zum Basar der
mondialisierten Billigheimer, so daß die Kinder nun auch auf ihre
Kosten kommen: Angeboten werden original Tuareg-Messer made
in Thailand, Day-Packs mit tibetanischen Motiven, Sioux-IndianerKetten, Handy-Pockets aus Lederriemchen, all das, was das Kleinkaufhaus in der deutschen Mittelpunktgemeinde zwar auch bietet,
aber hier mit dem Chic des Besonderen und Exotischen unterlegt ist.
Wir werden überall von Neo-Baba-Cools, Neo-Gammlern und Neo-
106
Hippies und Neo-Punks bedrängt, die sich bei allen Ausstattungskontrasten in einem ähnlich sind, sie machen immer auf dieselbe Art
“la manche” (“Haste mal zwei Öró?” - so hoch ist der Standardtarif).
Nur die Neo-Beatnicks und Neo-Exis, die auch zugegen sind, stolzieren mit Würde und unter strenger Mißachtung des Touristenpacks
an uns vorbei. Auffallend die Begleiter der Abgerissensten unter
den Abgerissenen - den nicht mehr klassifizierbaren Desperados:
riesige Köter unbekannter Rasse, meist jedoch dickfellig und ständig dem Juckreiz durch die vielen Pelzinsassen ausgesetzt. Wir mü ssen natürlich höllisch vor den Tretminen aufpassen, die hier außerordentlich angekränkelt aussehen. Die Kinder sind infolgedessen
ständig zu ermahnen, nicht in die Luft, nicht in die Schaufenster,
sondern auf den Boden zu sehen.
Nach einer Woche in der Sandstrandwüste oder der Abgeschiedenheit von Péret sind wir schon innerhalb kurzer Zeit durch die
Reizüberflutung so ermüdet, daß wir uns eine stille Rast im Restaurant gönnen - trotz der gestrigen Vorsätze, die wir hinsichtlich der
künftigen Verpflegungsmodalitäten gemacht haben. Wir lassen uns
an der Place de la Chapelle-Neuve “Chez Marceau” nieder. „Marceau“ klingt gut, irgendwie nach Künstler- und Bohème-Milieu;
außerdem kann man im Freien essen unter schattigen Platanen, ohne
das aufregende Treiben der Altstadthändler und der verschiedenen
Neos zu verpassen. Das Essen selbst ist ganz in Ordnung, es gibt
eine kleine Karte mit allem, was dem Einsteiger in die okzitanischprovenzalische Küche empfohlen sei (sogar eine veritable “Soupe
au pistou” ist zu haben), und das zum halben Preis verglichen mit
der Affäre “Tournesol”.
Auffallend die vielen Bovisten an den Nachbartischen: Ältliche
Lehrer-Ehepaare mit dem Buch von José Bové, junge Leute im AntiGlobalisierungs-Look, eine Note Che Guevara, zwei Prisen Hip-hop,
107
ein winziger Hauch fils - oder fille-à-papa, freundlich, höflich und
durchweg - wie einige Slogans auf den mondialisierten T-Shirts
zeigen - gegen mal-bouffe und für Roquefort. Hier ist hautnah zu
spüren, was die Medien seit diesem Wochenende den Bové-Effekt
nennen: der plötzliche Ruck, der durch die ermattete Gesellschaft
geht und, so der “Midi libre” in der Headline seiner heutigen Ausgabe, zur “erstaunlichen Fusion der Generationen” führt. Erstaunlich auch der Schwenk, den der “Midi libre” in so kurzer Zeit vollzogen hat - vor einer Woche stammtischpalavernd über die Rechtsbrecher von Millau herziehend, seit Freitag als Zentralorgan der
neuen Protestkultur dem Establishment unverhohlen mit einem neuen Mai 68 drohend. Dazu paßt, daß inzwischen auch “le Matignon”,
die Regierung im fernen Paris, bei Bové und den seinen um eine
Audienz nachgesucht, wohlgemerkt nachgesucht und nicht die
Gewährung einer Unterredung in Aussicht gestellt hat; dies natürlich erst, nachdem laut Meinungsumfragen mehr als die Hälfte der
Franzosen die Zerstörung von McDo befürworten. Wenn der gallische Hahn sich aufplustert, dann will man ja auch an höchster Stelle
sein Krähen nicht verpassen.
Wir setzen nach dem Essen unseren Rundgang durch Montpellier
fort. Natürlich besichtigen wir einige empfohlene Häuserfassaden
der Altstadt. Dann aber gehen uns die Ideen aus, wissen nicht, was
wir noch besichtigen könnten. Die Bofill-Bauten? Ach nee, das ist
doch Schnee, ich meine Eierschaum von gestern. Die viel gerühmten
Patios der Stadthäuser? Da kommen wir ohne Voranmeldung nicht
rein, außerdem sind die Kinder dagegen, immer diese uncoolen Kulturdenkmäler. Keine Burgen und Verliese und Achterbahnen und
Geistershuttler. Sie haben ja recht. Ihre Eltern leben ja eigentlich
nach der Devise des abgeklärten Touristen: “Berge nur von unten,
Kirchen nur von außen und Kneipen nur von innen.” Aber wo wir
doch schon mal hier sind? Uns fällt nichts ein, und ich bin mir si-
108
cher, daß wir jenes typische Bild von Touristen abgeben, die mit
dem stumpfen Blick der Ratlosigkeit zu Millionen und aber Millionen
in den touristischen Zentren dieser Welt unterwegs sind, und kurz
vor dem Zustand stehen, den man "Familientragödie" nennt und mit
einer Selbstauslöschung endet. Wir marschieren also zwecks Ris ikovermeidung zur Promenade du Peyrou, einer Art Terrasse mit
allerlei Aufgängen, Brüstungen, Standbildern, die man gesehen
haben muß, weil das Ensemble aus mir völlig unerfindlichen Gründen zwei Sterne im Guide erhalten hat. Auf mein Drängen entfernen
wir uns wieder rasch von diesem nichtssagenden Ort, so daß ich
seine Besichtigung rasch als Entgleisung meinerseits abbuchen
kann. Denn ich habe es mir zur schlechten Gewohnheit gemacht,
grundsätzlich nichts zu besichtigen. Ich bin - wie ich finde - nicht
auf die Welt gekommen, um dieselbe zu besichtigen, ich bin auf die
Welt gekommen... "Na wozu denn?", mischt sich Hagen Knotterbeck ein. "Ach, lassen wir das", sage ich. Jedenfalls lebe und arbeite
ich seit dreißig Jahren in Frankfurt, und ich habe noch nie das Go ethehaus besucht. Im berühmten Römer war ich ein einziges Mal - als
Hagen mich zur Hochzeit gezwungen hat (dort befindet sich das
städtische Standesamt). In Paris habe ich einen großen Bogen um
den Eiffelturm gemacht, und ich frage mich, wieso ich überhaupt
jemals in Paris war. Berlin? Da war ich mal in einer Kneipe am Prenzlauer Berg, und das nur, weil ich Durst hatte. Rothenburg ob der
Tauber? Da war ich auch inner Kneipe, weil ich auf der Rückfahrt
aus dem Allgäu außerhalb der Essenszeiten Hunger hatte. Im Allgäu? Dort gibt es glücklicherweise keine Sehenswürdigkeiten. Mailand? Dort war ich im Kaufhaus neben dem Dom, um den Kindern
ein Mitbringsel zu kaufen, ich war aber nicht im Dom. London? Dort
war ich im Kaufhaus Harrod's, weil ich dringend eine Krawatte
brauchte, und das Kaufhaus direkt neben dem Hotel lag. Brüssel?
Da war ich in einer Kneipe an der Grand' Place, und das auch nur,
weil schon wieder Durst hatte. In andere Städte bin ich gar nicht erst
109
gefahren, weil ich mir sagte, essen und trinken kannst du auch zu
Hause, und Sehenswürdigkeiten, die du nicht besichtigst, findest du
auch daheim. Hagen Knotterbeck unterbricht mich. Sie will nicht
hören, wo überall ich nicht war, und wenn ich doch irgendwo war,
warum ich dann nicht zu Hause geblieben bin.
Da ich mich, wie ich bereits eingestanden habe, im Urlaub immer
mit kleineren Gedankenarbeiten zu beschäftigen pflege, habe ich mir
nach dem bisherigen Scheitern meiner Vorsätze erneut zum Ziel
gesetzt, die Geheimnisse des Hl. Paulus zu ergründen, insbesondere
jenes Geheimnis, warum der Apostel Paul heute so hoch im Kurs
steht, und dies auch noch bei bekennendenden Atheisten wie Alain
Badiou, oder atheistischen Erforschern der Macht wie Giorgio Agamben oder gottlosen Psychoanalytikern wie Slavoj Žižek (der, der
nebenbei bemerkt, als Fast-Forward-Denker, als der er sich ausgibt,
in der Eile seines Bücherverfassens ab und an Paulus- und Johanneszitate verwechselt). Was ich leider nicht berücksichtigen kann,
sind die Paulus-Arbeiten von Massimo Cacciari, dem wenig katholischen (mittlerweile gewesenen) Oberbürgermeister Venedigs und
Ernst-Jünger-Jünger, weil mein Italienisch noch nicht einmal ausreicht, im Restaurant eine Bestellung aufzugeben, die nur ein wenig
komplizierter ist als die einer Pizza Salami. Leichter als PizzaBestellen in Italien (wo es ja bekanntlich nur Re-Imports aus
Deutschland und Amerika gibt) fällt mir das Bücherkaufen in der
Selbstbedienungskette FNAC. Ich erwerbe also zur Bevorratung
meiner Paulus-Schriften: Alain Badiou: Saint Paul. La fondation de
l’universalisme; Giorgio Agamben: Le temps qui reste. Dazu noch,
um den Link zwischen dem Hl. Paulus und dem Hl. Johannes nicht
unbeachtet zu lassen von dem an der hiesigen Universität lehrenden
Michel Henry: Incarnation. Une philosophie de la chair. Und
schließlich ein von Monsieur Porte-Jarrytelles empfohlenes Buch:
„Merdre - la philosophie du Père Ubu“ von Professor Daniel Accur-
110
si („Merdre“, das Lieblingswort des Ehepaares Ubu, hat übrigens
Heinz Schwarzinger für die deutsche Ubu-Ausgabe kongenial mit
„Scheitze“ übersetzt.) Mme Knotterbeck runzelt die Stirn.
Mich interessiert die Aktualität Paulus‘ gerade bei seiner atheistischen Pizza-Connection. Mir geht es insbesondere um die Frage,
wie der Anspruch auf Wahrheit und Universalität, der im Zentrum
paulinischen Denkens steht, zu dem ebenfalls bekundeten Liebesgebot, eben dem paradoxalen und ziemlich double-bind-mäßigem
Imperativ steht, der im Christentum die hammerhaft-unerbittliche
Befehlfsstruktur des alttestamentarischen Gottes ablöst. Fragen, die
ich hier nur stellen, aber heute nicht beantworten kann. Nach der
üblichen launischen Bemerkung Hagens, die wie immer darauf abzielt, daß ich Fragen nicht zu beantworten habe, es sei denn, sie
würden mir gestellt, treten wir die Heimfahrt an.
Das ist leichter gesagt als getan: An der Comédie, gewissermaßen
dem Hauptbahnhof der Bahn, diskutiert eine erregte Menschenmenge über die Schicksalsfrage, wie und vor allem in welche Richtung es nun weitergeht. Offenbar hat es in der Nähe wieder mal
einen „crash“ zwischen Individual- und Massenverkehr gegeben mit
der Folge, daß die Trams in großen zeitlichen Abständen fahren und
zudem in Höhe der Comédie umgeleitet werden. Wie dies geschieht,
davon habe ich keine Vorstellung, jedenfalls fährt die Tram, die zum
Stade de la Mosson führen soll, in Richtung Odysseum, und die
vom Odysseum kommende Tram in Richtung Stade davon. Wir
schließen uns der Mehrheitsmeinung an, daß man den nächsten
Zug einfach entern und den Fahrer gegebenenfalls zu Kursänderung nach Norden zwingen sollte. Das fällt uns umso leichter, als die
Mehrheit am späten Nachmittag tatsächlich in die nördlichen Vororte, ihrem Zuhause, will und nicht in die Bofill-City nach Süden, wo
sie ja soziokulturell rein gar nichts verloren hat.
111
Nachdem also etwa die Hälfte der Wartenden, darunter wir Jarims,
in den Fahrgasträumen verstaut sind, ruckelt die Tram los. Die Insassen sitzen und stehen, nein liegen jetzt in mehreren Schichten
übereinander, Hagen Knotterbeck ist es gelungen, wenigstens die
Kinder ganz nach oben zu schieben. Es hätten bei diesem Transportverfahren zweifellos noch circa fünfzig weitere Personen in die
Tram gepaßt, wenn nicht in der Mitte des zweiten Wagens, in dem
wir uns natürlich befinden, die riesige Lache einer Oralemission
geprangt hätte, die exakt die Schicht aus Menschenleibern im Frontabschnitt des Wagens von den Fahrgastsedimenten in seinem hinteren Teil trennt. An die 200 Personen begehren an der zweiten
Haltestelle Einlaß - er muß ihnen umständehalber versagt bleiben.
Etwas abseits der meuternden Menge steht ein beleibter Herr, im
grauen Anzug, völlig unpassend zur Umgebung und Witterung. Er
trägt einen Panama in der Hand, ein resigniertes? ironisches? Lächeln auf den Lippen. Aber halt mal, ist dies nicht Gottfried Benn?
Jetzt vernehme ich auch vertraute deutsche Laute, leise zwar, aber
klar und deutlich:
"Zersprengtes Ich - o aufgetrunkene Schwäre verwehte Fieber - süß zerborstene Wehr - :
verströme, o verströme du - gebäre
blutbäuchig das Entformte her."
Außerdem höre ich was von "Massejauche in Massekuhlen".
Ist es Wirklichkeit, ist es eine Halluzination? Ich weiß es nicht,
komme auch nicht zum Nachdenken, denn derweil gebiert die Tram
einige entformte Individuen und quetscht sie auf die Straße aus. Sie
sind kaum noch in der Lage, ihre Gliedmaße zu richten und torkeln
112
zerborsten den Seitenstraßen entgegen, wo sie vermutlich überfahren werden. Der Zug startet durch; ich winke Benn oder seiner Erscheinung zu, sofern man in meiner Lage von Winken sprechen
kann, der große Dichter oder sein Schemen lächelt gequält zurück
und wird immer kleiner.
Kaum in Fahrt, stellt die Tram ihren Betrieb wieder ein. Ein Kleinlaster blockiert die Gleise. Hagen Knotterbeck zischt mir von oben
zu: “Unternimm’ was.” Ich möchte zurückfragen: “Was denn, wie
denn, wo denn?” Stattdessen kommt nur ein Krächzen über meine
Lippen, auf meinem Brustkorb sitzen mindestens fünf Personen.
Hagen Knotterbeck knottert, die Kinder schweigen. Kein “Voll cool
hier oben” oder “das macht Spaß”. Die Luft unter dem Straßenbahndach ist, wie man sich denken kann und wenn man von ihr
überhaupt als Luft sprechen kann, als andere als cool oder spaßfördernd. Keine Bewegung, kein Luftzug, nur Lähmung. Hier und da
entfährt der Lasagne aus Menschenfleisch und Menschenschweiß
ein leichtes Stöhnen; wir als Kollektiv sind mittlerweile zu schwach
und wohl auch von den Ausdünstungen des Mundstuhls zu geschwächt, um dem Fahrer der Tram oder des Lasters eins überzuziehen und/oder wenigstens die Gleise freizuhieven. Fünf Minuten
vergehen, die Fahrer diskutieren, die ersten Fahrtgäste würden in
Ohnmacht fallen, wenn sie denn fallen könnten, zehn Minuten vergehen, die Fahrer diskutieren immer noch, die zur Lache Hingewandten sind bereits kollabiert, eine Viertelstunde ist rum, und ein Ende
des Disputs läßt weiter auf sich warten.
Erst nach zwanzig Minuten schickt sich der Kondukteur des Camions an, das zu tun, was er 21 Minuten zuvor schon hätte tun
können, nämlich sein Fahrzeug einfach zurücksetzen. Die Tram kann
weiterfahren; an der nächsten Haltestelle kriecht die unterste
Schicht hinaus, bei den Bewußtlosen wird nachgeholfen, Hagen
113
Knotterbeck und ich haben also wieder halbwegs Bodenkontakt. An
der übernächsten Haltestelle geben diejenigen, auf denen ich bisher
stand, entnervt auf und winden sich aus der Tram. Dank unserer
vergleichsweise günstigen Ausgangsposition weit oben gelingt es
uns, bis zur Endstation durchzuhalten.
Ein Glück, daß unser Auto unversehrt geblieben ist - der Parkplatzwächter hat ganze Arbeit geleistet, beinahe eine zu gute Arbeit,
denn er will uns gar nicht einlassen mit dem Eindruck, den wir machen, mit unserer zerrissenen Kleidung, den verwüsteten Gesichtszügen und ausgerenkten Gliedmaßen. Unmöglich, denkt er sich, daß
so einem Pöbel diese wunderbare, altersschwache, scheckheftgepflegte Mittelstandslimousine nichtfranzösischen Fabrikats gehören
soll. Wir aber können, weil wir einwandfreie Papiere vorweisen und
gepflegtes Deutsch beherrschen, ihn schließlich von der Rechtmäßigkeit unseres Vorhabens überzeugen und dürfen jetzt endlich den
Heimweg antreten.
Dienstag 4. Juli
In der Nacht ist ein weiteres Gewitter aufgezogen, ich wache auf
und finde wegen des hohen Tanningehalts nicht mehr zurück zum
Schlaf. Ich stehe also in noch völliger Dunkelheit auf, setze mich in
den Garten und lasse mir von den Stechmücken die noch pustelfreien Stellen meines Körpers behandeln.
Das Wetter ist - wie sich nach Sonnenaufgang zeigt - makellos,
die Spatzen machen bald Jagd auf die Zikaden, der Pirol stimmt seinen klagenden Ruf an. Im “Midi libre” nichts zu finden vom gestrigen Chaos-Tag in Montpellier, stattdessen nur Gutes zur Tram. Wir
haben keine Lust mehr auf Kulturlandgänge in Städten mit zwei
114
Michelinsternen, auch nicht in historischen Stätten mit drei Sternen,
sondern allenfalls darauf, was 15 Millionen Languedoc-Urlauber
auch tun, und begeben uns zum Abhängen an den Strand. Wir
wählen nach kurzer Diskussion Vias-Plage.
Die Kinder sind begeistert, an den Buhnen, die es dort im Unterschied zu anderen Strandabschnitten gibt, finden sie Krabben und
jede Menge Muscheln. Wir sehen und hören nichts von ihnen; wir
sehen und hören nur Holländer und Flamen, die hier besonders
massiert anzutreffen sind und sich auf eine etwas eindringlichere
Weise verständlich machen, als dies resteuropäische Völker (die
Deutschen eingeschlossen) zu tun pflegen. Natürlich sind auch
Franzosen am Strand, und zwar nicht eben wenige, aber sie fallen
nicht weiter auf; sie sind betont zurückhaltend, scheu, familienmäßig
introvertiert, irgendwie Fremde im eigenen Land, sogar ihre Hunde
sitzen brav in Mamis oder zunehmend auch in Papis Schoß und
machen keine Anstalten, sich am ausgelassenen Treiben zu Wasser
und zu Sande zu beteiligen.
Laut sind nur einige wenige Franzosen: die Beignet-Verkäufer.
Beignets sind Krapfen, bei uns als Berliner, Kreppel oder Kräppel
bekannt. Laut Žižek wurde übrigens John F. Kennedys Ausspruch:
„Ich bin ein Berliner“ von verschiedenen amerikanischen Medien in
Unkenntnis dessen, daß es sich um die Bewohner einer Stadt handelt mit „I am a doughnut“ zurückübersetzt. Die Beignets sind etwas kleiner, es gibt sie in verschiedenen Geschmackvariationen, die
gängigste Sorte ist die mit Apfelfüllung. Die jungen Beignetverkäufer stampfen mit riesigen Bauchläden, auf denen die Ware gestapelt
ist, oder mit überdimensionalen Backblechen auf dem Kopf durch
den heißen Sand und preisen scheinbar gut gelaunt mit singendem
Tonfall ihre Ware an. Häufig flechten sie, um den potentiellen Käufer aus seinem Dösschlaf herauszureißen, in ihre Werbesprüche
115
Schlüpfrigkeiten ein, die auf eine vorgeblich aphrodisische oder gar
priapeische Wirkung ihrer Krapfen hindeuten. Die Preise bewegen
sich der Preisklase von Viagra: Unter zwei Euro ist kein Stück zu
haben, dabei kommt der Beignet auf höchstens ein Drittel des Gewichts eines ausgewachsenen Berliners. Ich habe während des
ganzen Tages keine einzige Transaktion erlebt, vom Erwerb dreier
Beignets durch Hagen Knotterbeck abgesehen - für sich selbst und
ihre Kinder: "Die sind so teuer, daß du leider leer ausgehen mußt",
sagt Hagen zur Entschuldigung.
Das Beignetgeschäft ist hart, die Konkurrenz groß: Ich zähle an
die 15 fliegende Händlerinnen und Händler, die an diesem Tag hier
vorbeikommen. In La Grande Motte ist es darüber zum offenen Konflikt zwischen der Beignet-Lobby und der Munizipalverwaltung
gekommen. Nachdem die sogenannten "ventes au panier" (also der
fliegende Handel von Backwaren und Naschwerk) angeblich überhand genommen hatten, schuf die Verwaltung für nicht autorisierte
Geschäfte Verbotsszonen, die zufälligerweise mit den attraktivsten
Strandabschnitten zusammenfallen. Der Hintergrund ist natürlich
rein fiskalischer Natur und besteht nicht etwa in der Sorge, die Badegäste vor Belästigungen zu schützen (das ist ja tatsächlich nicht
der Fall, eher bringt das Markttreiben etwas Abwechslung in das
eintönige Strandleben). Es geht den Offiziellen nicht nur um Steuerhinterziehung durch die Schwarzhändler, nein es geht auch um das
Kopfgeld von 1300 €, die der Gewerbeschein für den Beignetverkauf
in der Saison kostet.
Sollen die sich um die Beignets zanken, Kiki und Consuelo tun es
auch, ich halte mich zurück, übe zwangsweise Verzicht und kontrolliere lieber den “Guide du Routard”, gegen dessen Redaktion Michel
Houellebecq vor ein paar Tagen wüst vom Leder gezogen hat (von
wegen publizistische Schützenhilfe beim Sextourismus in Thailand,
116
also genau das, was er selbst praktiziert), und stelle fest, daß die
Ausgabe “Languedoc-Roussillon” politisch völlig korrekt ist, sieht
man von einem gewissen, im Praxistest nicht nachvollziehbaren
Wohlwollen ab.
Restaurants in Vias-Plage stehen nicht im „Guide du Routard“.
Daß sie dort nicht aufgeführt sind, dürfte daher rühren, daß a) die
Restaurants hier keine Restaurants sind, eher aufgeblähten Imbißbuden gleichen, und b) die Halbwertzeiten dieser „Restaurants“ vom
Juli gerechnet den Monat August nicht überschreiten. Vias-Plage
ist ein Bidonville, eine Wellblechstadt, wie man früher zu sagen
pflegte, allerdings eine Wellblechstadt aus Spritzbeton und Plaste.
Eine Favella, nur mit dem entscheidenden Unterschied zu der brasilianischen Version, daß hier noch nicht einmal McDo Einzug gehalten hat.
Dennoch: Wir machen hier keinen Cluburlaub, wir sind vielmehr
gekommen, die inzwischen stark notleidende Tourismusbranche des
Languedoc-Roussillon zu unterstützen. Denn diese geht einer sichtbaren Krise entgegen. Erst vor vierzig Jahren wurde die Region
entdeckt. Sie sollte - so die Pläne von de Gaulles Technokraten
damals - die sehr viel attraktivere Côte d'Azur entlasten, dem prosperierenden spanischen Schwerindustrietourismus Konkurrenz
machen, Arbeitsplätze in Frankreichs Armenhaus schaffen und des
Kleinbürgers baukonjunkturfördernden Traum von Hausbesitz in
subtropischen Meeresgefilden stimulieren. Flugs wurden die Küsten trockengelegt, die Mücken beseitigt und Appartmentsilos in La
Grande-Motte, Port-Camargue, Palavas-les-Flots, Grau-du-Roi und
Cap d'Agde hochgezogen. Der Tourismus boomte und boomt weiter, aber es ist ein Tourismus der nicht sehr Kaufkräftigen. Die Urlauber - überwiegend Innerfranzosen; dazu ein paar Ausländer (mit
Ausnahme von Cap d'Agde), meistens Holländer und belgische
117
Flamen (die sich mit Pommes frites begnügen) - machen preiswerte
Familienferien in den Appartements, die inzwischen Substandard
haben, oder noch preiswertere Ferien auf dem Campingplatz. Sie
verpflegen sich über die Ketten „Carrefour“ und „Mousquetaire“,
deren Erträge bei geringer Personalintensität und damit bescheidener Kostenstruktur wiederum nach Innerfrankreich fließen. Etwa
zwei Drittel der wie gesagt 15 Millionen Touristen, die hier jährlich
einfallen, kommen ohnehin nur während des Juli und des August;
und wenn diese Sommerfrischler was ausgeben, heißt es in den
Gastronomenverbänden, dann nur in den Billigrestaurants für anspruchslose Schnellmahlzeiten.
Weil die mäßige Infrastruktur eine niedrige Eintrittsschwelle für
Neueinsteiger und Existenzgründer darstellt, ziehen immer mehr
Marginalisierte in der Hoffnung auf den schnellen Euro in die Gegend, tragen zu ihrer Banalisierung bei und belasten wegen des
extremen Saisoncharakters der Wirtschaft die Sozialbilanzen. Nach
Angaben von Verbandsoffiziellen trägt der Tourismus nicht mehr
als fünf Prozent zum in der Region erwirtschafteten Bruttoinlandsprodukts bei; der Anteil der Arbeitsplätze, die vom Tourismus abhängig sind, liegt knapp über diesem Niveau; die Quote aber spiegelt die Realität nur unzureichend wider, weil es sich bei den Stellen
zumeist nur um unqualifizierte, schlechtbezahlte Saisonjobs handelt,
die den Abbau der mit 13 Prozent zweithöchsten Arbeitslosenquote
in Frankreich (nach dem extremen Norden am Ärmelkanal) kaum
befördern. Manche mutmaßen, daß der Tourismus im LanguedocRoussillon schwer defizitär ist, erst recht, wenn man die ökologischen Schäden einbezieht, selbst wenn man diese nur konservativ
bewertet.
Angesichts dieses ernüchternden Fazits aus noch nicht einmal
dreißig Jahren Massentourismus setzt man jetzt auf die wohlhaben-
118
dere Klientel; sie soll durch gezieltes Marketing in das Hinterland
gelockt werden, justament in jene Gegend, wo wir, die Jarims, zur
Zeit gerade unsere Billigferien auf Selbstversorgerniveau verbringen. Das gibt uns zu denken, ja das stimmt uns nachdenklich, und
so entschließen wir uns zu einem Akt der Solidarität und der Förderung unserer Region. Auch heute wird unsere Küche kalt bleiben;
ein weiteres Mal - das ist Ehrensache - werden wir uns systemgastronomisch verköstigen. Hagen Knotterbeck guckt als Austragungsort für die zu praktizierende Solidarität eine Baracke (Restaurants gibt’s ja nicht) am naheliegenden Wendehammer aus. Es
herrscht eine „Boulick“ wie in den Anwesen des ob seiner Haarund Barttracht sogenannten Jesus von Saarbrücken, der in den 60er
Jahren hart an der deutsch-französischen Grenze einen Campingplatz mit Rot-Licht-Restaurant unterhielt; aber im Unterschied zu
den Etablissements Jesu sind hier überwiegend ältere französische
Herrschaften vertreten, die partout weder in die BallermannUmgebung von Vias-Plage noch in dieses Lokal passen, das immerhin seinen Namen wie eine Distanzwaffe gegen jedes feinschmecklerische Publikum einsetzt: Es heißt nämlich „McMoules“, und sein
Name ist Programm.
Was sich hier bietet, ist Abenteuer der feinsten Sorte und straft
alle Kritikaster wie mich Lügen, die immer noch behaupten, daß sich
die Unterschiede zwischen den Kulturen der beiden Erbfreunde
diesseits und jenseits des Rheins einebnen. Wir nehmen an einem
der Camping-Tische im „McMoules“ Platz, ein freundlicher junger
Mann, kein Garçon, eher der Inhaber eines von stark saisonalen
Gegebenheiten abhängigen McJobs, klärt uns über die Spielregeln
auf. Die sind zwar recht einfach zu verstehen, widersprechen aber und das macht das Verständnis so schwierig - allem Restregelwerk,
über das die Fastfood-Gastronomie selbst in Frankreich verfügen
muß, um international wettbewerbs- äh satisfaktionsfähig zu sein.
119
In Kürze: Wir geben unsere Bestellung auf (es gibt Muscheln und
Pommes zur Auswahl oder in Kombination), der McJob notiert auf
einem kleinen Notizzettel die Orders mitsamt den nicht recht nachzuvollziehenden, aber durchaus gastfreundlichen Preise: Aha, die
Eltern wollen Moules-Pommes, die Kinder nur Pommes, dazu einen
halben Liter Picpoul für die Erwachsenen und Cola für die Kinder.
Als ich vorsichtshalber auf die im Preisschild angekündigte Möglichkeit verweise, wonach ein Kind unter zehn Jahren straf-, pardon:
kostenfrei ausgehe, erklärt der freundliche junge Mann ohne Zögern, daß er tatsächlich nur eine Portion Moules-Pommes zu berechnen gewillt sei. Im übrigen entspreche es den Spielregeln, bei
gleichem Preis soviel zu verzehren, wie es eben geht. Das klingt im
Zeitalter universeller Merkantilität zwar reichlich ungewohnt, ist
aber so. Wir bekommen den Zettel in die Hand gedrückt und diesen
eigenhändig dem freundlichen Koch überbringen, der das weiße
Ebenbild von Uncle Tom darstellt.
Uncle Sam (oder ist es ein gebleichter Uncle Ben?) ist hinter drei
riesigen Gulaschkanonen zugange, aus denen er die gegarten Muscheln schöpft. Flankiert werden die Garinstrumente von einigen nur
wenig kleineren Pommes-Brätern und diese wiederum von Öltanks,
die den früheren Badewannenöfen gleichen und deren Sinn und
Zweck uns bald erschließen wird. Nachdem man seine Schüssel
Muscheln abgeholt hat, bequemt man sich zu den Öltanks, in denen,
wie sich jetzt zeigt, die Saucen zur Auswahl köcheln: eine weiße mit
Weißwein und Zwiebeln, eine rote mit Tomaten-Knoblauch und eine
dazwischen, deren Zusammensetzung ich vergessen habe. Unterdessen sind auch die Pommes abholbereit. Getränke werden entgegen den sonstigen Gepflogenheiten bei Tische serviert, zum Zahlen
jedoch begibt man sich jedoch an die Zentralkasse, hinter der eine
fette öltriefende Frau thront (sicherlich die Patronin, die ihre Zu-
120
ständigkeit für Geld- und Ölwechsel nicht zu delegieren bereit ist).
Den Kindern schmeckt‘s, Hagen Knotterbeck habe ich auch schon
mal unzufriedener erlebt - kein Grund also, zwischen diesen Zeilen
am Essen herumzunörgeln.
Am Nebentisch sitzt einer, nein arbeitet einer - annähernd siebzig
Jahre, gestärktes weißes Hemd, maritim-bleue Hose, Look SorbonneProf in der Sommerfrische, distinguiertes Aussehen irgendwo zwischen Claude Chabrol und Claude Levi-Strauss, mit einer Brille auf
der Nase, die man in Frankreich lunettes-au-cul-de-bouteille-à-vin
nennt, ein Nasenfahrrad also mit Gläsern in Weinflaschenbodenstärke: Er hat einen dreiviertel Liter Rosé vor sich stehen. Der Kühler
sieht wie ein Abfalleimer aus und macht den Eindruck, daß er eher
den Wein warmhält. Monsieur Claude schleckt sich jetzt die Finger
ab (wie Levi-Strauss bei den Primitiven der „traurigen Tropen“ und
wie Chabrol in jenem Film, dessen Titel ich ausgerechnet jetzt nicht
mehr zusammenbringe), erhebt sich, leert umständlich den Kübel
mit den Muschelresten aus, ordert einen gleichgroßen Nachschlag,
gibt eine weitere Portion Pommes in Auftrag. Bizarr...
Wir können‘s nicht glauben, weder die Unmassen an Muscheln,
die der gleichbleibend freundliche Uncle Tom ausgibt, noch, was
das System als solches betrifft, denn wir bezahlen tatsächlich nur
eine Portion Muscheln-Pommes plus eine Portion Pommes pur plus
Getränke. Das reichhaltige Trinkgeld, das ich eingedenk der allgemeinen touristischen Misere in Aussicht stelle, quittiert die Patronin
mit einem, wie ich zu verstehen glaube, "für die Schweine"; ich denke, mich tritt die Sau, ich meine ein Pferd, sie meint aber "für das
Schwein...", im speziellen für das riesengroße Sparschwein, das auf
der Theke prangt und für die McJobs, den Kellner also, Uncle Tom
und den Spüler da ist.
121
Zurück in Péret ist die Ameisenstraße weiterhin leer, und das nun
schon seit Tagen, ein Umstand, der mich langsam zu beunruhigen
beginnt. Denn ich glaube in der Tiefe meiner Seele nicht an den
Erfolg unseres Gifteinsatzes in Kombination mit dem Manifest, Ameisen, bilde ich mir ein, haben selbst Napalmeinsätze überlebt, und
Anthrax kann ihnen auch nichts anhaben (sie haben keine Milz, die
der Erreger schädigen könnte). Vielleicht handelt es sich um ein
Komplott, um eine vorübergehende taktische Maßnahme, die nur
dazu dient, uns in Sicherheit zu wiegen, während neue Einheiten
eingeflogen werden, die nicht nur die Verluste ersetzen sollen...
Ich vertiefe mich in die Paulus-Lektüre von Badiou. Von ihm - ich
meine Badiou und nicht Paulus – habe ich vor einigen Jahren das
Hauptwerk „L’Etre et l‘Evenement“ gelesen. Na ja, wenn ich ehrlich
bin, lag es mir vor und alsbald lag es hinter mir, denn es war von
einer solchen Unlesbarkeit, daß selbst Gilles Deleuze sich nicht
sicher war, ob er es verstanden hat. Deleuze hat dies in einer Fußnote eines seiner Spätwerke bekannt; Badiou wiederum hat den Hinweis als Kompliment aufgefaßt und Deleuze derart penetrant den
Hof gemacht, daß dieser sich (wenn auch nicht nur deswegen) 1995
aus dem Fenster stürzte. Badiou hat daraufhin, gewissermaßen als
Nachruf, ein Buch über Deleuze geschrieben, das - ich habe es
diesmal in Gänze gelesen - weniger von Deleuze als vielmehr von
Badiou handelte und dessen wenige Bemerkungen zu Deleuze bei
den Deleuze-Schülern auf glatte Ablehnung gestoßen ist.
Im Grunde geht es Badiou um die Wahrheit (oder gibt er nur vor,
daß es ihm darum geht, und in Wirklichkeit geht es ihm darum, daß
er recht behält?). Die Wahrheit zeigt sich, wenn ich dies hier mal
kurz referieren darf, in vier modalen Ereignis - (und nicht Seins)Weisen: der Liebe, der Mathematik, der Politik, der Poesie; diese
entsprechen den vier Arten des „Begehrens der Philosophie“, wie
122
das Badiou nennt: der Revolte, der Logik, der Allgemeinheit und der
Wette; der wiederum vier Hindernisse entgegenstehen, die dem
Geiste des Kapitalismus (Badiou nennt ihn „KapitaloParlamentarismus“) entsprungen sind: die Ware, die Kommunikation, die Geldabstraktion und die Sicherheitsbesessenheit. Es stellt
sich die Frage, was all das mit dem Hl. Paulus zu tun hat. Nun, zunächst gar nichts, ich habe es nur vorausgeschickt, um einen Eindruck von der schamanistischen Zahlenakrobatik zu vermitteln, mit
der Badiou virtuos umzugehen weiß.
Der Paulus von Badiou ist ein nachgerade luzides Werk. Ich stelle
fest, daß ich es auch als Strandlektüre eignen würde. Es geht im
Kern um Folgendes: Die einen sagen dies, die anderen behaupten
jenes, das war in der biblischen Epoche nicht anders als heute. Wer
aber hat recht? Nun, im Neuen Testament waren es die Wunder, mit
denen Jesus seinen Status als Gottessohn beglaubigte, oder es war
- wie im Johannesevangelium gehäuft - der Ausschließlichkeitsanspruch, man könnte auch sagen die performative Behauptung, die
Wahrheit zu verkörpern. Paulus geht einen anderen Weg, und darauf beruht sein Anspruch, der gesamten Menschheit Christi Wahrheitsanspruch zu künden. Die Selbstproklamation leitet er von dem
Ereignis der Auferstehung ab, und das ist, was Badiou fasziniert.
Das Ereignis begründet unhintergehbar, unhinterfragbar, unanfechtbar und unantastbar (um hier einmal mehr eine, diesmal auf
meinem Mist gewachsene, Viererreihe anzubringen) die Wahrhaftigkeit seiner selbst. Das Ereignis wird zum Universalschlüssel einer
programmatischen Erkenntnis mit Ausschließlichkeitsanspruch, und
diese Universalität des Universalschlüssels hat der Hl. Paulus entdeckt / behauptet / bewahrheitet / beglaubigt. Er hat sich, indem er
seine singuläre Haltung universalisiert hat, nicht nur zum Dissidenten der bisherigen Anschauungen gemacht (des griechischen Denkens, der jüdischen Gesetzestreue und des schwachen wundergläu-
123
bigen Christentums), sondern auch zur Leitfigur des politischen
Philosophen, den (so darf man sich vorstellen) Badiou zu beerben
trachtet. Badiou selbst gesteht im Vorwort, daß, was Marx im Ve rhältnis zu Lenin bedeutet, Christus für Paulus war. „Aber“, sage ich
mir, „was ist dann Badiou im Verhältnis zu wem?“ „Ist doch klar“,
antwortet Hagen, die ich gar nicht gefragt habe, „Stalin!“
Also, ich weiß ja nicht. Wie wär’s mit Mao als universelles Singuläre, oder die Viererbande als „Vierung des Gevierts“, um diesmal
das Heideggersche semiotische Quadrat anzubringen? Aspiranten
des inkorporierten Wahrheitsereignisses wäre aber auch einer wie
Saint-Just. Jedenfalls hat Badiou mal Andeutungen in dieser Richtung gemacht (in: „Qu’est-ce qu’un thermidorien?“). Das ist mir
nicht unsympathisch, da ich selbst gewisse Elemente der Wohlfahrtsausschußeligkeit vor allem im Kampf gegen öffentlich Urinierende in meine Denküberlegungen einbezogen habe. Aber, was
genau Badiou im Verhältnis zu wem verkörpert, das läßt sich heute
nicht hinreichend klären, schon gar nicht nach diesem anstrengenden Tag mit dieser Ladung Muscheln im Bauch, die dort in einem
halben Hektoliter Picpoul eine neue Muschelbank suchen.
Am späten Abend, während Hagen Knotterbeck und ich einen
Absacker zu uns nehmen, kommt ein leichter Wind auf. Die Mückenschwärme verziehen sich, wir können endlich wieder die Natur
genießen. In den letzten Tagen hat sie sich uns gegenüber viel zu
naturgemäß verhalten, als daß sie unsere Zustimmung gefunden
hätte. Nun zeigt sie sich von ihrer besseren Seite, so daß wir befeuert vom Rotspon aus Cabrières (der Picpoul ist inzwischen verklappt), alsbald in naturschwärmerische Kitschstimmung versinken.
Da hat sie - die Natur - natürlich leichtes Spiel: Hier in der Abgeschiedenheit des Chemin des Roques läßt sich das Säuseln des
Windes vielstimmig vernehmen. Er rasselt an den trockenen Blättern
124
des Eukalyptus zu unserer Rechten, läßt dessen mumifizierte Rindensplitter knarren, wiegt die Blattspindeln mitsamt ihren Endfiedern der Robinie, die den linken Rahmen zur Totale auf die Küste
bildet, pfeift ganz verhalten durch den weiter entfernt stehenden
Olivenhain, schlägt die langen Lanzen des Schilfes wie eine äolische
Harfe an, verwirbelt sich in den Grasrispen und klappert hie und da
mal an den Läden, um in Erinnerung zu rufen, daß die Welt menschlicher Objekte, auch dann und dort, da und wo diese sich ausnahmsweise keinen Eigenlärm bildet, in die Fauna und Flora hineinragt.
Ich bin ja, auch in nüchternem Zustand und ganz dem Hier und
Heute ergeben, einer, den die Winde euphorisieren. Die junge Russin Ivetta Gerasimchuk hat in ihrem Wörterbuch der Winde, für das
sie vor einigen Jahren den europäischen Essaypreis der Zeitschrift
"Lettre" gewonnen hat, solche Leute wie mich mit dem Gattungsbegriff „Anemophile“ bedacht. Diese "ziehen", so die Gerasimchuka,
"den Wind stets seiner Abwesenheit vor, selbst wenn es sich um
den größten Sturm handelt." Die metaphysische Ausdeutung der
Anemophilie, zu der sich die russische Windexpertin versteigt, wonach die Liebe zu den flutenden Winden eine grundsätzliche Disposition zur Zukunftsbejahung und zur Vergangenheitsvernichtung
beinhaltet, kann ich in dieser pauschalisierenden Form nur zurückweisen. Zwar trifft es zu, daß mir die Musealisierung zuwider ist
(und ich werde dies hoffentlich noch zur Genüge deutlich machen),
doch ist mir die die Zukunftgewandheit ebenso verdächtig, es sei
denn, man zählte den radikalen Neuanfang, zu der ja auch der Hl.
Paulus mit großem Nachdruck auffordert, bereits zur Zukunft. Hier
wären wir aber bei unserem Thema, aber zu dessen Vertiefung wäre
ein etwas verhaltenerer Zuspruch zum Rouge "velouté et puissant"
(zusprucherregend und wirkmächtig) von Cabrières conditio sine
qua non, wenn mir der geneigte Leser noch folgen kann.
125
Auch in anderer Hinsicht muß man die Erkenntnisse der jungen
Russin, so überzeugend sie sich auch geben, stark relativieren: Sie
entwickelt einen Antagonismus zwischen Anemophilie und Anemophobie, der logisch sicherlich gerechtfertigt ist, aber in seiner
praktischen Auslegung wiederum fragwürdig erscheint. Die Windangst, so die Gerasimchuka, zeichne sich durch die Abneigung
gegen den "starken oder den Wahnsinnswind aus" und bewirke ein
ausgeprägtes Leiden am Wind. Die Konstruktion des Gegensatzes
zwischen Windangst und Windliebe trifft aber nicht zu. Beweis:
Hagen Knotterbeck liebt die leichten zarten Winde, verabscheut
aber Gewitter- und Mistralwinde. Ich dagegen bejahe auch diese
und zeige mich allenfalls gegenüber Leibes- oder Darmwinde reserviert, wenngleich ich mit dem Philosophen Kant auch hier eine Einschränkung machen muß, der bekanntlich gesagt hat (ich habe die
Stelle nicht mehr gefunden und zitiere aus dem Gedächtnis): "Wenn
der hypochondrische Wind durch die Eingeweiden tobet, dann
kommt es darauf an, welche Richtung er nimmt. Geht er nach unten,
wird ein Furz daraus. Steigt er jedoch empor, dann wird er zum Gedankenblitz." Als Anemophiler und redlich denkender sowie die
Gedankentätigkeit bejahender Mensch könne ich also durchaus eine
Anemophobie gegen Fallwinde entwickeln. Hagen Knotterbeck
meint mit einer gewissen, den Umständen geschuldeten Nachsicht,
jetzt sei ich bezüglich des F...es etwas zu weit gegangen. Die Kinder
finden das nicht, sie schlafen schon längst.
Mittwoch, 5. Juli
Ungewohnte Menschentätigkeit in der Nachbarschaft. Oberhalb
des „Château Pohl“ wohnt der Bürgermeister mit seiner Familie.
Später erfahre ich von Gabor, daß nur noch dessen Familie dort
126
wohnt; der Bürgermeister hat sich zwar nicht von seinem Amt, wohl
aber von seiner Frau entfernt und in einen anderen, mit einer jüngeren Hausfrauensperson ausgestatteten Haushalt eingetreten. Ich
sehe zum ersten Mal einen Angehörigen des BürgermeisterHaushaltes. Zweifellos der Sohn. Er besteigt das vermutlicht väterliche Auto (eins von rund fünf fahrbaren Familienuntersätzen) und
rast wie vom Teufel gejagt den Berg hinunter. Ich bin davon überzeugt, dass die rasante Fahrweise der großen Scheu der Franzosen
geschuldet ist, sich in der Öffentlichkeit zu bewegen. Sie wird besonders heftig auf kurzen Distanz gepflegt, dort nämlich wo das
Risiko des Sozialkontakts am größten ist. Das Auto bietet ja keine
Rundum-Privatsphäre. Anders gesagt: Je schneller ich fahre, desto
weniger muß ich mich in dieser diffusen Halböffentlichkeit aufhalten. Dazu passen die nunmehr fast täglichen Berichte des "Midi
libre" über Verkehrsunfälle mit letalem Ausgang. Zwischen Paulhan
und Nébian haben gestern vier junge Leute ihr Leben an einer Platane ausgehaucht; in Combaillaux hat vorgestern ein 28jähriger
seinen 206 gegen den Baum gesetzt. Alleenbäume wurden bei uns
aus verkehrshygienischen Gründen (freie Fahrt für freie Bürger)
schon längst gefällt. In Frankreich aber haben sie eine hohe demographische Bedeutung, denn sie zählen zur Nummer 2 der Todesarten und tragen mithin enorm zur Entlastung der Rentenkassen bei noch höher allerdings wäre der Ertrag, würden sich mehr ältere Erwerbstätige, die bereits als hohe Nettozahler aufgetreten sind, zum
Hinschied an der Platane entscheiden.
Im Rang der präferierten Freitodmethoden stehen ihnen die Touchés an der Mittellinie nur um wenig nach. Das ist noch besser, weil
sich die Todeswahrscheinlichkeit um den Faktor zwei erhöht. Und
dann die Idealkombination: Mittelalter Geisterfahrer, der die Kasse
in zehn Jahren nicht mehr belasten wird, schaltet älteres Ehepaar
aus, das gerade Kassensturz ihrer 50jährigen Einzahlung machen
127
wollte. Letzte Woche war dies in Sauteyrargues, als ein 50jähriger
mit einem Renault Cabrio (detaillierte Informationen zum Wagentyp
war den Unfallfotos nicht mehr zu entnehmen) einen Peugeot Boxer
mit einem älteren Ehepaar an Bord zermalmte.
Wagen mit 34er Kennzeichen pflegen grundsätzlich in der Straßenmitte zu fahren (eine mediterrane Gewohnheit, die auch schon in
anderen Anrainerstaaten aktenkundig geworden ist). Das führt
schon bei normalem Gegenverkehr zu interessanten frontalen Begegnungen. Noch prickelnder wird es, wenn zum ultimativen und
häufig finalen Überholvorgang gestartet wird. Die Straßenführung
zwischen den Platanen bietet keine Ausweichmöglichkeit und peng.
Zum Beispiel jener 63jährige, der im Geiste jung, also körperlich
schnell geblieben, bei einem mißglückten Überholmanöver seinen
Rentenanspruch an einer Platane in St Pargoire abgab. Der Überholvorgang, der bei uns auf der Überholspur stattfindet - ein Umstand,
der das geflügelte Wort vom Leben auf der Überholspur ausgelöst
hat - heißt bei den Franzosen euphemistisch „doubler“. Aber es
geht nicht um die Doublette, sondern um das Überholen, und geht
dies schief, dann spricht der Franzose statt von einer falschen
Doublette lieber von einem "dépassement raté", einem verfehlten
Überholmanöver. Macht der mediterrane Franzose ein Fahrzeug mit
ausländischem Kennzeichen vor sich aus, setzt er aus dem bedingten Reflex heraus sofort zum Überholen an; ein erster Blick gilt der
Automarke, der zweite dem Geschlecht des Fahrers und erst der
dritte der Gegenfahrbahn - das ist ein Spiel, für das die Amerikaner,
die freilich generell nicht darauf achten, welche national, geschlechts- oder markenspezifische Identität ihr Vormann hat, „Chicken game“ nennen. Der Ausdruck scheint mir korrekter zu sein,
weil es sich ja tatsächlich um ein Spiel handelt, freilich eins auf Leben und Tod.
128
Madame Simone ermahnt mich täglich, so auch heute, im Straßenverkehr ja auf die „dingues“ und die „cinglés“, die Bekloppten und
die Vollidioten, aufzupassen; sie seien unfähig, auch nur einen Kilometer zu fahren, ohne mindestens zwei Unfallsituation heraufzubeschwören. Madame Simone vergißt dabei nie zu erwähnen, daß
ihr Mann selig sich 40 Jahre lang unfallfrei durch den Großstadtverkehr bewegt hat, und dies in Marseille, wo er einerseits unter lauter
Verrückten der einzig Normale gewesen sei, andererseits als Krankenwagenfahrer sozusagen von der Idiotie seiner Mitmenschen
gelebt habe. Immerhin habe ihm dies die Chance eröffnet, eines
natürlichen Todes zu sterben, ausgelöst durch einen Gehirntumor:
„...mindestens doppelt so groß wie Mitterrand seiner“.
Wir kommen ungeschoren an den Salagou. Nach den erwähnten
Vorkommnissen waren wir nicht mehr dort gewesen. Jetzt, denken
wir, sind die Algen drüber gewachsen und die Seedesaster vergessen. Am Lac ist die Sommersaison ausgebrochen. Seit dem Wochenende bieten sich eine Strandbar, ein Fahrradverleih und ein
Erfrischungskiosk dem zahlenden Publikum an. Außerdem sind jetzt
zwei sympathische Sapier-Pompiers als Strandwächter anwesend,
und ich glaube nicht, daß sie unseretwegen gekommen sind.
Gleichwohl verkehren wir incognito am Strand; „Challenger K2“ ist
zu Hause geblieben - trotz des Protestes der Kinder, und wir tun so,
als hätten wir mit uns vor einer Woche nichts zu tun. Gottlob sind
keine Zeugen der seinerzeitigen Vorkommnisse zugegen, wenigstens erkenne ich niemanden, der mich erkennen würde, und auch
kein Mensch scheint sich für uns zu interessieren. Ausgenommen
eine Familie aus Freiburg im Breisgau, die mitbekommen hat, daß wir
Landsleute sind. Und das bedeutet für mich, daß ich heute die Paulus/Badiou-Lektüre abschreiben, ich meine zur Verdeutlichung:
abschminken kann. Die Badenser sind reichlich unbedarft, wohnen
Vollpension und in einer Zeltstadt bei La Grande Motte. Haben
129
bisher immer Urlaub in Mallorca und oder am Schliersee gemacht.
Und weil sie die Alpen lieben und das Meer, haben sie sich dieses
Jahr für die Meeralpen entschieden und bei Ikea Family gebucht,
und zwar ein festinstalliertes Zelt mit allem Drum und Dran einschließlich Halbpension, Frühstück und Abendessen in einer Art
Bierzelt. Sie sind losgefahren in Freiburg, haben den Autopiloten,
ich meine den Navigator eingeschaltet und sind in La Grande Motte
gelandet. Erst nach vier Tagen, also vorgestern haben sie gemerkt,
daß La Grande Motte nicht, wie gemutmaßt, zwischen Nizza und
Monte Carlo, sondern auf der anderen Seite, grob gesagt zwischen
Marseille und Perpignan liegt. Es gefällt ihnen aber auch hier, nur
sind sie aus begreiflichen Gründen seither schwer verunsichert und
fragen sich immer wieder, wo sich gerade befinden. Der Freiburger
fuchtelt ständig mit einer Karte aus dem Notizkalender herum Maßstab 1: zehn-hoch-acht -, aus der er die Koordinaten des Salagou zu ermitteln versucht. Keine Ahnung, wie sie auf den Salagou
gekommen sind, es scheint mir eher ein Irrtum vorzuliegen, wollten
wohl an den Golf von Biskaya.
Die Freiburgerin findet es hier ganz in Ordnung, bis auf die Steine
und die Tatsache, daß das Meer keine Wellen hat und es keine
Kneipe mit Sangriaprobe gibt. Die 14-jährige Tochter quängelt und
will wieder heim nach Grande Motte zu den Strandgigolos aus
Montpellier-La Paillade. Der Achtjährige möchte Strandburgen bauen, was natürlich hier nicht geht, er bemüht sich zunächst redlich,
aus dem roten Beton-Estrich die erforderlichen Baumaterialien zu
fördern, und quittiert schließlich seinen Frust mit einer nicht enden
wollenden Heularie. Ich lasse bei den Eltern mein Expertentum raushängen, mache viel Namedropping mit Sehenswürdigkeiten, die ich
nie gesehen habe und die ich auch in diesem Leben nicht mehr zu
sehen beabsichtige. Ich gebe ein paar falsche Tips, die mit allergrößter Dankbarkeit aufgenommen werden, zum Beispiel, daß nur dreißig
130
Kilometer weiter der letzte echte Vulkan des Larzac aktiv ist, oder
daß in Cap d'Agde nächste Woche das nudistische Oktoberfest mit
echt Münchner Bier und Carmargue-Stier am Spieß stattfindet, zu
dem 20 000 nackte Deutsche erwartet werden, die traditionsgemäß
nur mit blau-weiß-karierten Stulpen bekleidet sein werden.
Die Freiburger nehmen das dankbar auf, obwohl sie es mit dem
Nackten nicht so haben, die Freiburgerin zieht zwar am Strand von
La Grande Motte das Oberteil aus, und er pinkelt auch mal in Zehnerreihen, aber ganz nackt, das haben sie nur einmal bei Sankt Peter
Ording gemacht, und da waren die Kinder noch nicht da. Na immerhin ein undeutscher Wesenszug, ansonsten aber machen sie gleich
den Vorschlag, daß wir sie übermorgen besuchen mögen in La
Grande Motte. Morgen ginge es leider nicht, denn morgen - so kündigen sie freudestrahlend an - wollten sie zu dem Vulkan.
Die Strandwächter halten mit einem Riesenfernstecher angestrengt nach Gefahrensituationen Ausschau, betrachten sich hin
und wieder Badenixen am linken Ufer. Wir sind schon geneigt, uns
als einschlägig erfahrene Spezialisten in irgendein Risiko zu begeben, um sie etwas bei ihrem drögen Tun zu erheitern, unterlassen
dies aber, weil wir von der Ernsthaftigkeit der beiden tief beeindruckt sind. Denn nach Stunden durch nichts mehr zu überbietender
Ereignislosigkeit bauen sie ein Gerüst auf, eine Art Schiedsrichterstuhl vom Tenniscourt, auf dem sie abwechselnd Platz nehmen, um
besser die Seemitte in Augenschein nehmen zu können, auf der sich
freilich weiter nichts tut. Hagen Knotterbeck sagt: „Sehr sympa, und
so beflissen.“ Ich sage: „Ist nicht dein Alter.“ Die Kinder finden,
daß das Wasser viel zu flach ist, als daß man Bademeister benötige.
Davon abgesehen frappiert uns das Mißverhältnis zwischen obrigkeitshafter Präsenz bei völligem Anlaßmangel und totaler Absenz
von Gefahrenmomenten, um dies mal klar und deutlich zu sagen. In
131
den meisten Küstengemeinden ist es trotz der drohenden Gegenwart
des Meeres nicht viel anders; dort sind die Bademeister dazu da, am
Strand Ordnung zu halten. So verdonnert die Gemeinde Frontignan
ihre Angestellten, Papierschnipsel aufzusammeln und von BeignetVerkäufern Wegezoll zu kassieren.
Die Freiburger veranlassen uns zum baldigen Aufbruch. Wir versprechen, daß man sich übermorgen wieder sieht. Da ist jetzt, nachdem die Ferien in Frankreich begonnen haben, der Strand von Grau
du Roi bis hinunter nach Port Bou an der spanischen Grenze, ja
strenggenommen von Südkalabrien bis nach Gibraltar mit Sonnenhungrigen überfüllt, Strandkorb an Strandkorb (äh, ich muß widerrufen: Strandkörbe gibt es hier nicht), also Sandburg an Sandburg,
eine einzige Festung gegen Sarrazenen und Maghrebiner. Besser
hier am Salagou, dem Geheimtip, den außer uns kein Mensch kennt.
Das nehmen sie dankbar auf, nur der Achtjährige kriegt einen Rückfall, als ich unvorsichtigerweise das Wort Sandburg erwähne. Hagen macht mir, als wir zum Auto zurückkehren, Vorhaltungen - meine
kleinen Lügengespinsten betreffend -, ich aber berufe mich auf Badiou: Wo kein Wahrheits-Ereignis ist, ja wo überhaupt kein Ereignis
ist, da steht auch keine Wahrheit zu Gebote. „Außerdem“, sage ich,
„hast du ja kräftig mitgeflunkert.“ Hagen sagt nichts, sie schweigt,
und das kann als Drohung ausgelegt werden.
Zurück in Clermont: Der Markt ist heute wegen der Ferien länger
(bis 13 Uhr) und größer („afin de bien accueillir nos amis touristes et
vancanciers“, „zum Wohle unserer lieben Feriengäste“). Die Preise
haben sich dem touristischen Zuspruch angepaßt. Wir kaufen Artischocken nach Gramm bemessen. Denn heute wird es „Artichauts à
la barigoule“ geben. Das Gericht soll auch das Kontrastprogramm zu
den Restauranterfahrungen gestern (Nullpunkt der Gastronomie
insgesamt) und am Sonntag (Nullpunkt der gehobeneren Gastrono-
132
mie) bilden. „Artichauts à la barigoule“ sind die Quadratur des Kreises, nein: die Kreisbildung des Dreiecks: Sie kosten (vorausgesetzt
man kauft die Zutaten bei uns in Deutschland und nicht im Artischockenland Frankreich) so gut wie nichts, schmecken himmlisch
(auch Kindern!) und sind allereinfachst zuzubereiten. Von Konrad
Adenauer, der bekanntermaßen mit einem aktiven Wortschatz von
800 Wörtern (zum Vergleich Goethe: 80 000, Shakespeare 25 000 und
Jarim 957) auskam, stammt das Wort: “Je einfacher sprechen ist eine
jute Jabe Jottes.” In Abwandlung dessen könnte man für den angemessenen kulinarischen Genuß die Formel ausgeben: “Je einfacher
kochen ist eine jute Jabe Jottes.” „Artichauts à la barigoule“ sind
ein solches Produkt einfachster Küche, aber ich kenne keinen, der
sich bei dessen Genuß je dazu verstiegen hätte, irgendetwas anderes besser zu finden oder je gefunden zu haben als „Artichauts à la
barigoule“.Oder wenn sie jemandem wider Erwarten nicht schmecken, dem empfehle ich ein Wort Paul Valérys: „Ce qui est simple est
faux, mais ce qui est compliqué est inutisable – Was einfach ist, ist
falsch, aber was kompliziert ist, ist nicht zu gebrauchen.“
„Artichauts à la barigoule“ bilden beim Verzehr Anlaß zu Küchenund Tischgesprächen in vielfacher Variation, deren Nenner aber
einheitlich ist: Nie hätte ich mir vorstellen können, daß Artischocken
so gut schmecken. Variantenreich sind auch die Rezepte für das
Gericht. Die einfachste (und um das vorwegzunehmen die überzeugendste) Zubereitung lernte ich erst kennen, nachdem ich selbst
jahrelang die verschnörkelsten und abartigsten Rezepte von „Artichauts à la barigoule“ nachgekocht hatte. Den wichtigen Hinweis
auf die folgende, ich schwöre es schmackhafteste Zubereitung fand
ich per Zufall, als ich eine meiner wöchentlichen Expedition in die
Welt ungewöhnlicher und abartiger Sexualpraktiken unternahm, die
das Internet zu virtuellen und realen Nachahmung empfiehlt. Ich
landete bei einer dieser Expeditionen auf "GayWatch-Home" der
133
Website gaystation.de, die Hinweise auf Fernsehsendungen mit
entsprechenden Inhalten oder mit einschlägig beleumundeten, pardon: geouteten Personen bringt. Was mich mir höchste Erregung
verschaffte, war nicht das Posing eines wohlgestalteten Gayman auf
dem Bildschirm, sondern ein Fernsehtip: „Kochen mit Bio“.
Seit Clemens Wilmenrod, dem früh sich selbst entleibt habenden,
womöglich ungeouteten schwulen Fernsehkoch der Adenauerzeit,
habe ich mir nie wieder eine Kochsendung angesehen, und auch
Clemens Wilmenrod nur, weil der sich mangels Programmalternativen nicht wegzappen ließ (denn seinerzeit gab es nur ARD).
Kochsendungen also seither nie: weder Schlaffer oder Laffer, noch
Meuth-Neuner-Duttenhöfer (oder heißt sie Mein-Gott-NeunkirchenDudenhöfer oder Bexbach-Moinerdecker?), noch Witzigmann, noch
Machwitzemann, noch Schubarek, noch Schwarzenbeck oder Willi
„Ente“ Lippens. Ich unternehme keine TV-Schlemmerreisen durch
die Toskana oder das köstliche Deutschland, mache mich auch nicht
mit dem vertraut, was die Großmutter angeblich noch wußte, finde
Koch- so unpassend wie Pistolen- oder Säbelduelle, und die Erkenntnisse in Naddels Kochbuch interessieren mich nicht die grüne
und auch nicht die weiße Bohne.
Also gut: Weil das Dementi immer ein Schuldeingeständnis ist,
gebe ich zu, daß ich grundsätzlich keine Kochsendung im Fernsehen verpasse, genausowenig wie Thomas Gottschwall, SchalckGott-oh Gottski und die Talkrunden, in denen dann alternierend alle
Köche, Naddel und Daddel, und auch Lotterschwalk wieder zu finden sind. Ich sehe auch alle Softpornos an, damit ich weiß, um wen
es sich handelt, wenn Dolly Laster oder Inge Kleysel bei Bio mit
Rettichen hantiert und mit Gartenkürbissen jongliert.
134
Zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges, der auch in Ensheim vieles
an Veränderungen gebracht hatte, lebte hart an der Grenze zum
Krummen Elsaß im lothringischen Fénétrange, das damals noch
Finstingen hieß, der Amtmann Johann Michael Moscherosch. Moscherosch hat in seinem wunderbaren Werk "Wunderliche und
Wahrhafftige Ge sichte Philanders von Sittewalt" ein Loblied der
einfachen, aber gehaltvollen Küche angestimmt, das die Edelfreßwelle von damals und heute denunziert: "Muß dan ewere weise
alzeit die beste sein? Thut es ein stuck rindfleisch, Speck vnd SaurKraut nicht mehr? Muß es alles mit Feld-huenern, Wachteln, Kramatzvoegel, Austern, Schnepffen, Schnecken vnnd Trecken verpfeffert sein? Muß es dan mit eitel Melonen, Citronen, Lemonen, Pomerantzen, Ragousts vnd Ollipotridos hergehen? Mit solchen Trachten: da mit einer jeden Zwoelff arme Maenschen haetten erhalten
vnd gespeiset werden moegen." Vnd muß es dan seyn, fahre ich
fort, daß alle nemlichen fresser "so frisch sich erzeigen vnnd einen
Courranten daher Singen vnnd springen werden so gayl vnd ramelich als die Katzen vmb Liechtmeß?" Ganz ähnlich übrigens auch
Baltasar Gracián in seinem „Kritikon“ das etwa zur gleichen Zeit wie
Moscheroschs „Gesichte“ erschien: „Der Mensch nötigt alle Elemente, ihm darzubringen, was immer sie bergen: die Luft ihre Vögel,
das Meer seine Fische, die Erde ihr Wild, das Feuer sein Wohlgeschmack, zur Reizung - nicht zur Befriedigung - seiner Eßlust, und
noch immer beklagt er sich, es sei alles zu wenig.“
Um jedoch die Sache mit den Artischocken nicht zu vergessen,
die wir zur Befriedigung unserer Eßlust zubereiten wollen: Was
mich also bei Gay-Watch elektrisierte und was mich tatsächlich dazu
gebracht hat, mir die Sendung trotz meiner mir bekannten stabilen
Vorurteilsstrukturen anzusehen, war der Hinweis auf die Zubereitung von Artischocken mit Speck. Es handelte sich in der Tat, wie
sich herausstellte, um ein weiteres Rezept aus der großen Rezeptfa-
135
milie der „Artichauts à la barigoule“, und mich irritierte weniger, daß
sie (die Artischocken) nicht beim richtigen Namen genannt wurden
als vielmehr die Tatsache, daß Dieter Pfaff, der sie zubereitete (und
den ich meinen Vorurteilsstrukturen gemäß zunächst für Dirk Bach
gehalten habe), ständig von seiner Frau erzählte. Um dies nicht
weiter zu vertiefen, hier jetzt endlich das Rezept:
Man nehme vier mittelgroße Artischocken, ein Pfund Schalotten,
ein Pfund Kartoffeln, je 200 Gramm Dörrfleisch (in kleinen Würfeln)
und Kochschinken (in Streifen), ein viertel Liter Weißwein sowie
einen halben Liter Gemüsebrühe sowie nicht zu knapp Olivenöl. Die
Artis chocken werden geviertelt und mit einem scharfen Küchenmesser von ihrem Heu befreit. Die vergilbten, eingerissenen oder
sonstwie unansehnlichen Blattspitzen kupiert man - am besten mit
einer Gemüseschere. Die enthäuteten und der Länge nach halbierten
Schalotten werden nun in einem großen Bräter zusammen mit den in
grob gestückelten (natürlich zuvor geschälten) Kartoffeln und den
Dörrfleisch-Schinken-Stückchen im heißen Olivenöl gewendet. Das
Ganze löscht man mit dem Weißwein ab, gießt die Gemüsebrühe an
und gibt vorsichtig die Artischocken-Viertel hinzu, schließt den
Deckel des Bräters und läßt das Gemüse eine halbe Stunde schmu rgeln. Nach der Garzeit Deckel runter und zugelangt mit allen körperlichen und mechanischen Hilfsmitteln. Es ist alles erlaubt: Messer,
Gabel, Löffel und Finger.
„Artichauts à la barigoule“ eignen sich genau so gut als Aphrodisiakum wie zur Befriedigung der Eßlust. Sie haben ihren Namen
nicht etwa von einer Barigoulerin (so wie die Forellen Müllerin von
einer Müllerin), sondern von einem unscheinbaren Pilz namens
Milchling, der auf Provenzalisch "barigoule" heißt. Nicht von ungefähr sehen viele der etwa 198 einschlägigen Rezepte Champignons
vor, die zusammen mit den Artischocken, dem Speck, den Schalot-
136
ten und/oder zwei in dünne Scheiben geschnittene Karotten geschmort werden.
Kenner bevorzugen die ganz jungen Artischocken, die noch kein
Heu gebildet haben und die nahezu mit Stumpf und Stiel, ich meine:
mit Boden und Blättern gegessen werden können. Dummerweise
sind sie (oder besser: waren vor Einführung des Weltmarktes) lediglich im Mai erhältlich, nur gibt's dann keine Milchlinge, weshalb man
auf Zuchtchampignons auswich. Aber Milchlinge hin, Champignons her: Es gibt auch, wie gesagt, einige abgedrehte Rezepte. So
werden auch zwei in Streifen geschnittene Kopfsalate mitgeschmort
- schmeckt gar nicht so schlecht, einzig störend sind die schlaffen
Streifen, die sich lamettaartig in den Artischockenblättern verheddern. Nebenbei bemerkt ist „laitues braisées“ ein provenzalisches
Traditionsgericht, das ebenfalls mehrere in Speck gebratene und mit
Wein abgelöschte Salatköpfe vorsieht. Bei einer weiteren Variante
der „Artichauts à la barigoule“ werden die Spitzen von grünem
Spargel beigefügt. Beliebt sind auch unzerteilte und entheute (nicht:
enthäutete) Artischocken, die mit einer Farce von ausgelassenem
Speck, gedünsteten Zwiebeln, Champignons, viel Petersilie, wenigen Eigelben sowie Brotkrumen gefüllt sind.
Die Artischocken heute sind wieder ein toller Erfolg. Das dicke
Ende kommt aber hinterher. Die Ameisen haben den Braten, ich
meine den Speck, gerochen. Ganze Raubzüge setzen sich schon
während des Auslassens in Bewegung, um ja nichts zu verpassen.
Sie waren also die ganze Zeit nur in Lauerstellung, haben sich in den
vergangenen Tagen, da wir aushäusig zu Tische saßen, ein bißchen
im Garten rumgetrieben, hier eine tote Zikade auseinandergenommen, dort vom Rispelchen eines Trockengrases genascht, zur Zerstreuung einen etwas zu langsamen Käfer lebendigen Leibes zersägt, ihren Ameisenbau neu verputzt, mittels ihrer Kommunikati-
137
onsdüften ein wenig geratscht und sich vor allem über die Zweibeiner kaputtgelacht, die mit ihrem „KB Cafards Cafouet“ statt mit körpereigenen Säuren und Giften herumgespritzt haben. Sie sind also
noch da und bereits auf dem Tisch, als wir uns an den Nachtisch
hermachen (Beignets aus dem Supermarkt zu 75 Cent das Stück).
Hagen Knotterbeck steht der Schreck ins Gesicht geschrieben. Was
tun gegen die neuerliche Invasion. Das Gift hat nichts genutzt, die
Spülaktionen waren vergebens, das Manifest hat sie unbeeindruckt
gelassen, mit Flammenwerfern dürfen wir hier nahe der Garrigues
nicht hantieren und zur Nuklearverteidigung sind wir nicht in Lage,
auch nicht willens, weil wir dann vermutlich mit Großmutationen zu
rechnen hätten.
Ich krame in meinem Gedächtnis, mir fällt ein, was mir bisher noch
nicht in den Sinn gekommen war, daß Mark Twain Substantielles
und gleichermaßen Herabsetzendes und auch diese Kleinspezies
zutiefst Entwürdigendes gesagt hat. Ich instruiere Kiki und diese
trägt zum besseren Verständnis der Ameisen mit ihrer hellen Stimme
die Zusammenfassung einer Twain'schen Erkenntnis vor, die ich im
Folgenden in der Originalfassung, aber stark gekürzt wiedergebe.
Sie beruht auf einer Bemerkung, die Twain bei seinem Bummel durch
Europa zwischen Ottenhöfen und Allerheiligen im Schwarzwald
machte:
"Seit vielen Jahren beobachte ich die Ameisen nun immer wieder,
wenn ich etwas Gescheiteres tun sollte, und bisher ist mir noch
keine lebendige Ameise begegnet, die mehr Sinn und Verstand zu
haben schien als eine tote...Ich gestehe ihr selbstverständlich ihren
Fleiß zu; sie ist das am härtesten arbeitende Geschöpf der Erde wenn gerade jemand zuguckt -, aber ich habe ihr doch ihren
Schwachsinn entgegenzuhalten. Sie geht auf Futtersuche aus,
macht ihren Fang, und was tut sie darauf? Geht sie nach Hause?
138
Mitnichten - alles andere als nach Hause. Sie weiß nicht, wo sie zu
Hause ist. Ihr Heim mag vielleicht nur einen Meter entfernt sein - tut
gar nichts, sie kann es nicht finden. Sie macht, wie ich schon sagte,
ihren Fang; in der Regel handelt es sich um etwas, das weder ihr
noch sonst jemandem irgendwie von Nutzen sein kann; es ist gewöhnlich siebenmal größer, als es sein sollte; sie sucht lange nach
der ungeschicktesten Stelle, und da packt sie zu; sie stemmt es mit
schierer Kraft hoch in die Luft und macht sich auf den Weg - nicht
nach Hause, sondern in entgegengesetzte Richtung; nicht gelassen
und klug, sondern in wilder Hast, die ihre Kraft vergeudet; sie stößt
auf einen Kiesel, und anstatt ihn zu umgehen, klettert sie, die Beute
nachzerrend, rückwärts über ihn hinweg, purzelt auf der anderen
Seite herunter, springt zornig auf, klopft sich den Staub von den
Kleidern, spuckt in die Hände, packt grimmig nach ihrer Habe, reißt
sie sie hierhin, dann dorthin, schiebt sie nun vor sich her, macht im
nächsten Augenblick kehrt und schleppt sie nun vor sich her, macht
im nächsten Augenblick kehrt und schleppt sie nach, wird wütender
und wütender, stemmt sie dann plötzlich steil hoch und rast in eine
vollkommen neue Richtung davon; trifft auf ein Unkraut; der Gedanke, das Unkraut zu umgehen, kommt ihr nicht - nein sie muß über
das Unkraut hinwegklettern, und sie klettert, zerrt ihren wertlosen
Besitz bis in die Wipfel - was ungefähr so gescheit ist, wie wenn ich
einen Sack Mehl von Heidelberg nach Paris über den Turm des
Straßburger Münsters hinweg trüge ... Nach etwa einer halben
Stunde gelangt sie an eine Stelle, die etwa eine Handbreit von der
Stelle entfernt liegt, von der sie aufgebrochen ist, und hier legt sie
ihre Last ab ... Nun wischt sie sich den Schweiß von der Stirn,
streckt die Glieder und marschiert dann in nicht geminderter Hast
ziellos davon. Im Zickzack erwandert sie sich eine Menge Gelände
und stolpert so nach einer Weile auch wieder über ihre Beute. Sie
erinnert sich nicht, sie jemals gesehen zu haben; sie wirft Blicke
nach allen Seiten, um festzustellen, wo es nicht nach Hause geht,
139
schnappt ihr Bündel und zieht los ... Die Wissenschaft hat kürzlich
herausgefunden, das die Ameise keine Wintervorräte anlegt. Damit
dürfte sie für die Literatur so ziemlich erledigt sein [der einzige
Sachverhalt, in dem Mark Twain sich getäuscht hat. Dies zeigt beispielsweise die hohe Reputation, die Twains Landsmann, der Ameisenforscher und Soziobiologe Edward O.Wilson mit seinen ausufernden Arbeiten zur Ameise findet. Das bescheuerste Buch, das
ich je gelesen habe stammt von Wilson und heißt „Consilience.
Einheit des Wissens“. C.J.] Sie arbeitet nicht, es sei denn, es schaue
jemand zu, und auch dann nur wenn tote ... Sie besitzt noch nicht
einmal genügend Scharfsinn, um Genießbares von Ungenießbarem
zu unterscheiden. Das läuft auf Unwissenheit hinaus und wird den
Respekt schmälern, den die Menschheit vor ihr hegt. Sie kann nicht
um eine Stoppel herumschlendern und trotzdem noch den Weg
nach Hause finden. Das läuft auf Schwachsinn hinaus, und wenn
diese schädigende Tatsache erst einmal unzweifelhaft feststeht,
werden nachdenkende Menschen aufhören, zu ihr aufzusehen, und
gefühlvolle, sie zu hätscheln. Ihr so gepriesener Fleiß ist nichts
weiter als Ruhmsucht und ohne Wirkung, da sie nie etwas zu Ende
bringt, was sie anfängt. Damit ist auch der letzte Rest ihres Rufes
hin, ihre vornehmliche Nützlichkeit als Werkzeug der Moral erledigt,
da nun der Faulenzer zögern wird, sich auch weiterhin zwecks bessernder Belehrung an sie zu wenden. Es ist sonderbar und absolut
unbegreiflich, das ein so ausgemachter Aufschneider wie die Ameise es fertiggebracht hat, so viele Völker zum Narren zu halten, und
zwar so raffiniert, daß man ihr jahrhundertelang nicht auf die Schliche gekommen ist."
Twain dixit, und krawum! Das hat gesessen. Die Ameisen purzeln
vom Tisch, können sich, unten angekommen, kaum berappeln, so
verwirrt sind sie, machen sich in heilloser Flucht davon und verlaufen sich im Garten.
140
Darauf stoßen Hagen und ich an, die Kinder bekommen Ameisensäu.., nein Gänsewein. Wir verbringen einen friedvollen Abend,
voller Behagen, lassen uns vom Wind umschmeicheln, und, weil wir
wunschlos glücklich sind, danken den Sternschnuppen, die sich
heute besonders üppig präsentieren, für das Ende ohne Schrecken.
Donnerstag, 6. Juli
Beim Gang zum Bäcker, diesmal über den Chemin des Roques, sehe ich im Vorgarten, kaum drei Meter von mir, einen vierschrötigen
Kerl, so an die 60, feist, braungebrannt. Ich grüße, er sieht mich auf
jene feindselige Art an, die den Kötern auf dem Nachbargrundstück
sehr gut zur Schnauze steht: Eine Personifizierung des Slogans
„bête et méchant – dumm und bösartig“, den der Satiriker Cavanna
Anfang der 60er für das „juste milieu“ erfunden hat und der bis
heute der Slogan seines Satiremagazins „Hara-Kiri“ geblieben ist.
Der Vorgartenmensch selbst hat nur das übliche Plüschtier, das
Leute in seinem Alter so mit sich herumtragen wie früher die Omis
ihren Muff - kein P’etit caniche blanc diesmal, sondern eine kackbraune Ausgabe - so wie die Farbe seines Hemdes.
Ich bin etwas früher aufgestanden, um im fiktiven „Café du Commerce“, an der Place de la Liberté, einen kleinen Plausch zu halten.
Das Café wird gebildet von einer Sitzbank und der Mauerbrüstung,
die den Platz von den angrenzenden Privatgrundstücken trennt.
Natürlich ist auch Madame Simone zugegen, ich höre ihr Organ
schon fünf Straßenecken vor dem Rencontre. Ich frage sie, was man
mit den "oignons doux", den vielgerühmten milden Zwiebeln aus
dem Nachbarort Lézignan anstellen kann. Sie sagt mit entwaffnender
Ehrlichkeit: "Nicht viel. Ist ein Verkaufstrick der Bauern dort, gibt’s
141
überall, nicht nur in Lézignan. Sind gut, wo rohe Zwiebeln passen,
für den ‚fromage blanc‘ beispielsweise, oder bei Leuten mit starkem
Mundgeruch und für solche, na ja, Sie wissen schon..." Sie haut mir
auf den Hintern. Die Klatschweiber aus ihrer Zuhörerschaft kreischen vor Lachen. Eine jede weiß was zu erzählen über die Flatulenz,
von beabsichtigten Auswirkungen und ungeahnten Folgen. Alle
brüllen jetzt durcheinander, fehlt nur noch, daß sie ein Exempel statuieren. Ich mache mich vorsichtshalber aus dem Staub, werde aber
noch eine Weile von unverständlichen, aber eindeutigen Bemerkungen verfolgt, die sich (da bin ich mir ganz sicher) auf sämtliche
Ausscheidungsorgane beziehen. Habe ich da nicht ganz zum Schluß
noch was von "Schwanz einziehen" gehört?
Wie es der Zufall will, bietet heute der Nachbar des Brotdepots
"oignons doux" auf seiner Etagère an. Ich kaufe welche und füge sie
dem Kartoffelsalat hinzu: in Würfel geschnittene Pellkartoffeln,
Tomaten, Vinaigrette aus Öl und Weißweinessig, Zwiebelstücke
dazu, fertig. Später in Clermont erwerbe ich beim Traiteur in der Rue
Doyen René Gosse ein sündhaft teures „poulet rôti“. Der Händler
fragt, ob ich bei ihm schon mal ein „poulet rôti“ erworben hätte. Ich
verneine. Er fragt, wie alt ich sei. Ich antworte, viel zu alt. Darauf
macht er macht eine hochdramatische Geste, holt tief Luft und stößt
sie mit den Worten aus: "Sie Unglücklicher, da sind Sie nun so alt
und haben in Ihrem Leben bisher das Beste verpaßt." Er dreht dabei
eine Pirouette, um das gesamte imaginäre Publikum an seinen Deklamationen teilhaben zu lassen. Seine Poulets seien nicht nur die
besten von Clermont, sondern des ganzen Hérault, wenn nicht des
gesamten Midi. Ich glaub's ihm, drücke meine Zustimmung mit heftigem Kopfnicken aus, um Offerten von weiteren „Best-of“Produkten zu entgehen, und verdünnisiere mich.
142
Wir sind ohnehin in Eile, denn wir müssen um Punkt zehn in St
Guilhelm-le-Désert sein. Dort haben wir bei dem Anbieter „Rapido“
zwei Boote (Tagesmiete 80 Euro) bestellt. Wir müssen ja den Kindern Ersatz bieten für die entgangenen Freuden mit „Challenger
K2“; wir haben ihnen eine abenteuerliche Wildwasserfahrt auf dem
Hérault für ihre Zustimmung erkauft, daß „Challenger K2“ im Trockendock bleibt. Sie waren bestechlich, und so befinden wir uns
jetzt in einem Kleinbus, mit dem offensichtlich schon Partisanen
während der deutschen Besatzung transportiert wurden und der uns
in halsbrecherischer Fahrt von St Guilhelm über die Hochebene bei
Causse-de-la-Selle auf Serpentinen wieder hinunter zum Ausgangspunkt an den Barrage Bertrand, einem kleinen Stauwerk, bringt. Wie
bei der geglückten Landung eines Charterfliegers brandet Beifall
auf, als wir unseren Bestimmungsort unversehrt erreichen. Der Flußabschnitt, den wir vor uns haben, hat den Vorteil, daß er durch
menschenleeres Gebiet führt. Kein Weg und keine Straße kommt an
den Hérault heran, und die Steilhänge schirmen das Gewässer vor
jedweder touristischen Nutzung - mit Ausnahme der Bootsdurchquerung - ab.
Mit uns startet eine amerikanische Familie, eine Gruppe von neun
Franzosen beiderlei Geschlechts, ein älteres dänisches Ehepaar, ein
französisches Motorradpärchen, vier Männlein und Weiblein aus
Belgien, die irgendwie den Status des Verlobtseins ausstrahlen, und
zwei holländische Paare gleichen Alters, die aber im Vergleich zu
den Belgiern eine Generation älter wirken. Wir vertrödeln ungefähr
eine Stunde, bis wir alle gewassert sind; nur das amerikanische Paar
mit seinen beiden halbwüchsigen Kindern, so stellt sich schnell
heraus, kann mit einem Kanu umgehen.
Die Amerikaner wirken etwas schüchtern, blicken hilflos um sich,
als ihnen die drei Rapidoleute in schlechtem Französisch, dafür aber
143
umso wortreicher erklären, wo überall todbringende Gefahren im
Hérault lauerten und welche Sicherheitsmaßnahmen aufgrunddessen unbedingt einzuhalten seien, gehen - da sie von allen anderen
übervorteilt wurden - mit dem ältesten Boot als letzte an den Start.
Aber kaum abfahrbereit, zischen sie auch schon an uns allen vorbei,
als gelte es, die Abfahrt auf dem Colorado zu gewinnen. Ich drehe
mich derweilen mit Consuelo Vladimir im Kreis; Hagen Knotterbeck
und Kiki Estragon sind schon etwas geschickter, haben aber Mühe,
sich aus dem Strudel unterhalb des Barrage zu lösen. Die französische Gruppe - ich schätze so im Alter zwischen 25 und 35 - albert mit
großem Gekreisch im Landungsbereich herum. Sie haben sich augenscheinlich zum Ziel gesetzt, die Kissenschlacht von gestern
abend mit nasseren Mitteln fortzusetzen. Nach zwei Minuten steht
das Wasser in ihren Booten dezimeterhoch; zwei der (zugegeben
attraktiven Damen) haben ihr Oberteil verloren. Nach vier Minuten
müssen die Kanus zum erstenmal geleert werden; nach acht Minuten wird der Verlust von drei Paddeln gemeldet; fünf Minuten später
stakst einer der Herren einem Weißstorch gleich durch den hier
dankenswerterweise seichten Fluß, um seine Brille zu suchen (obwohl doch in den Geschäftsbedingungen unmißverständlich festgehalten ist, daß Brillen mit Brillenschnüren zu sichern sind). Der
Verlust von weiteren Oberteilen ist indessen nicht zu beklagen,
dafür aber sind jetzt zwei Kanus gekentert.
Als wir uns endlich aus dem Gruppenknäuel gelöst haben (wie
gesagt inklusive Wassern nach circa einer Stunde) geht die Fahrt
zügig talwärts. Doch schon nach etwa dreihundert Metern hören wir
hinter uns ein großes Geschrei, das unvermittelt von freudig ausgelassenem wasserspielinduzierten spitzkegeligen Wonnerufen in
panisches, ja hysterisches Klagegeheul übergeht. Wir fühlen uns
alarmiert und steuern sofort das gegenüberliegende Flußufer an, wo
ich, als hätte ich noch nie in meinem Leben etwas anderes getan,
144
professionell die Boote sichere, auf daß wir, ohne durch Manövriertätigkeit behindert zu werden, nicht den Überblick über das Geschehen verlieren. Wie sich später herausstellt, war ein Franzose über
Bord gegangen und nicht wieder aufgetaucht. Anfänglich erwarteten die Frauen wohl noch, daß er jäh wie Neptun aus den Fluten
jagt, um ihnen mit seinem Dreizack die Bikinihöschen zu entreißen,
von daher die wonniglichen langezogenen Rufe, die ich halbbewußt
als „Yyyyyves“ deutete, aber Yves war nicht Neptun, (es wird bald
heißen, er habe gleichwohl gut schwimmen gekonnt), und Yves
taucht nicht auf. Alle sind wie gelähmt, bis auf die Amerikaner, die
längst schon hinter der nächsten Flußbiegung verschwunden sind.
Wir reden auf die verunsicherten Kinder ein, erzählen ihnen, daß
wir so etwas schon mal erlebt haben. Da hat einer den Vermißten
markiert, sich in die Büsche geschlagen, und die Boote an der
nächsten Engstelle gekapert. Aber so ganz leuchtet diese Erklärung
uns selbst nicht ein. Schon nach einer Viertelstunde hektischen und
laienhaften Suchens im Fluß (zu dem auch ich von Mme Knotterbeck abkommandiert worden bin) sind die Sapier-Pompiers aus dem
nahegelegenen Saint-Martin-de-Londres da. Taucher machen sich
auf den Weg. Nach zehn Minuten ziehen sie Yves an Land. Die
mittlerweile ebenfalls eingetroffenen Sanitäter versuchen es mit
Wiederbelebung, aber alle Mühe ist vergeblich, und Yves geht als
der dritte Tote des Hérault in die diesjährige Saisonstatistik ein. Die
Herren der Gruppe sind schreckensbleich, die Damen, soweit sie der
Bikinioberteile entbehren, versuchen ihre Blöße zu bedecken; allein
die Wet-Shirts lassen das, was verborgen werden soll, in noch obzönerer Weise hervortreten. Eine junge Frau ist in einen Schreikrampf gefallen und muß von ihren Begleitern sistiert werden - vermutlich handelt es sich um die Verlobte oder Freundin des Ve rblichenen.
145
Wahrscheinlich, rekonstruiere ich für mich und meine Familie den
Hergang, erhielt Yves, der sich mit unlauteren Absichten schwimmend einem der Boote genähert hatte, unversehens einen Schlag
von den bei der Verteidigung ihrer Tugend wild mit dem Paddel um
sich schlagenden Damen und ist jämmerlich ertrunken, ohne daß es
die Bootsinsassen (ich verbiete mir den Ausdruck „Insassinnen“,
klingt irgenwie nach „Assassinen“) so richtig gewahr wurden. Wie
wir am nächsten Tag aus dem "Midi libre" erfahren werden, sind
dem Ertrunkenen statistisch gesehen zwei junge Männer vorausgeeilt, die aber im Unterschied zu ihm nicht zuviel Wasser geschluckt
haben, sondern in Folge eines Sprungs von der Brücke (einer am
Pont du Diable eingangs der Gorges de l'Hérault, der andere unweit
von hier an der Brücke zur Chapelle de Saint-Etienne-d'Issensac) an
nicht eingeplanten Untiefen zerschellt sind. Hagen Knotterbeck sagt
zunächst gar nichts, klappert aber mit den Zähnen, die Kinder starren mit schreckgeweiteten Augen auf den Unfallort.
Ich bin ebenfalls erschüttert, lasse mir aber nichts anmerken, nutze
im Gegenteil den Anlaß, auf den gefährlichen Leichtsinn bei jeglicher Art von Wassersport hinzuweisen. Ich tue dies weniger, um
tatsächlich pädagogischen Niesnutz aus der tragischen Situation zu
ziehen, als vielmehr, um mit einer Politik der ruhigen Hand kein familiäres Machtvakuum und Kompetenzdefizit aufkommen zu lassen.
Denn Hagen Knotterbeck plädiert bereits für Abbruch der Kanufahrt. Ich bin - weil mich die 80 Euro mehr schmerzen als mich die
Erschütterung erschüttert - für unbedingte Weiterfahrt. Das mit den
80 Euro verschweige ich selbstredend; ich entwickele lieber fünf
plausiblere Argumentationsfiguren für die Weiterfahrt, die im folgenden - freigeben zur weiteren Verwendung - aufgeführt sein mögen:
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a) die utilitaristische Argumentation: Durch unsere Weiterfahrt
beglaubigen wir die Harmlosigkeit des Wassersports auf dem Hérault (was ja auch in Wirklichkeit der Fall ist, wenn man sich nicht
zum Leichtsinn verführen läßt). Die Möglichkeit des ausgelassenenen, freilich auch geordneten Treibens in den Fluten des Flusses
aber ist für den Tourismus unabdingbar. Die Verantwortlichen können einen Geschäftseinbruch nicht gebrauchen, im Gegenteil, blühendes Geschäft bringt Gestaltungsfreiheit für noch mehr Sicherheitsvorkehrungen. Oder anders gesagt: Sicherheit benötigt Unfälle
(oder auch Terrorschläge), um sich als Ordnungs- und Disziplinierungsfaktor immer wieder neu zu (re-)konstituieren. Dieses Prinzip
bejahen wir durch unser Verhalten. Die utilitaristische Argumentation verfängt bei der Familie nicht. Eine Begründung wird nicht gegeben. Deshalb
b) die konsequentialistische: Es ist im Sinne von Yves, daß wir weiterfahren. Er hatte sich so auf die Wasserspiele im Hérault gefreut
(unterstelle ich leichterdings); wir erfüllen sozusagen mit der Entscheidung gegen den Abbruch sein Vermächtnis. Die Familie runzelt
die Stirn. Also gleich weiter zu
c) der kasuistisch-jesuitischen: Wenn wir abbrechen, geben wir zu,
daß eine Kanufahrt auf dem Hérault gefährlich ist. Damit aber lenken
wir von der Tatsache ab, daß das Unglück allein auf Leichtsinn
zurückzuführen ist. Aber ganz davon abgesehen, daß die Abrede
von Leichtsinn der Wahrheit widerspricht und daher lügnerisch und
gleißnerisch genannt, ja als im moralischen Sinne höchst verwerflich
gebrandmarkt werden muß - wie könnten je Erfahrungen mit realen
Gefahren gemacht werden, wie könnte insgesamt Lebensbewältigung betrieben werden, die den Risiken des Lebens gerecht wird,
wenn der Handlungsabbruch zum Lebensprinzip erhoben würde?
147
Die Familie räumt ein, daß da es dran ist, hält aber das Argument für
nicht hinreichend, einen Abbruch zu begründen. Alsdann
d) die Figur der Üblichkeit: Das Leben geht weiter, wollen wir hier
sitzen, bis wir einen Sonnenbrand bekommen oder gar einen Sonnenstich? Yves erweisen wir damit keinen Gefallen. Wir holen wir
ihn nicht zum Leben zurück, gefährden aber uns selbst und unsere
Gesundheit. Das zieht bei den Meinen, aber ich triumphiere noch mit
e) der pragmatischen: Wenn wir hierbleiben, müssen wir als Zeugen
zur Verfügung stehen (obwohl wir nichts gesehen haben). Das kann
Stunden dauern. Besser, wenn wir uns jetzt, wo noch alles mit den
schnatternden Weibern aus Yves‘ Truppe beschäftigt und die Polizei noch nicht eingetroffen ist, aus dem Staub, ich meine aus den
Fluten machen.
Wir schwingen uns in die Boote und fahren in geduckter Körperhaltung davon, bis wir nach der nächsten Biegung die Menschenansammlung zu Wasser und zu Lande aus den Augen verlieren. Das
Leben geht weiter, aber wie heißt es so schön nach jedem Ereignis,
das beim Menschen Entsetzen auslöst? Nichts wird so sein wie
vorher. Ich kann diesen Gemeinplatz gut verstehen - er ist schon
uralt, und ich habe ihn als Kind bereits meinem Erfahrungsschatz
einverleibt. Ich mußte damals an fast jeden Sonntag meinen Opa
zum Ensheimer Flugplatz begleiten. Opa, im Ersten Weltkrieg Flieger
mit passiver Erfolgsbilanz - er hat einen Absturz überlebt, aber meines Wissens keinen der Feinde zu Fall gebracht - pflegte des Sonntags das aviatorische Geschehen mit den startenden und landenden
und zuweilen auch abstürzenden Maschinen (das Fluggerät in den
50er Jahren war durchweg veraltet und daher höchst störanfällig)
wehmütig zu beobachten, und in mir hatte er einen unkritischen
Konsumenten seines Fliegerlateins nach Art des Käpt’n Blaubär.
148
Nach unserem Flughafenbesuch sind wir dann immer in "Cunze"
eingekehrt, Opa hat zwei Bier zu je saarländischen 35 Franken getrunken und eine Fehlfarbe zu fünf Franken geraucht, ich bekam eine
Bluna zu 25 Franken - es herrschte noch die volle Parität zum alten
französischen Franc, der bis zu de Gaulles Machtergreifung 1958 in
Kraft war. Einmal im Jahr genehmigte uns Opa einen Flug, passiv
natürlich, ein Rundflug für 1200 Franken. Meistens saßen wir in dem
Flieger, der für Neufang-Bier Reklame flog. Es handelte sich dabei
um einen Tiefdecker, der den Vorteil hatte, daß er zu preiswerten
Tarifen flog, aber den Nachteil, daß man wegen der breiten Tragflächen außer dem Himmel und den Wolken nichts sah. Der Ein- und
Ausstieg bei Tiefdeckern geschieht bekanntlich über die Tragflächen, und so durfte ich mit eigenen Augen erleben, wie einmal ein
unvorsichtiger junger Mann im Alter von Yves das gerade zum
Stehen gekommene Flugzeug verließ, leider (für ihn) nicht nach
hinten, wie es korrekt gewesen wäre, sondern (günstig für mich, der
das, was nun kam, sehen durfte) nach vorn. Der auslaufende Propeller hieb ihm das linke Ohr ab, er blutete wie ein Schwein und sank
bewußtlos auf die Rollbahn. Für mich war dies ein Erlebnis, das mein
Leben veränderte. Künftig war nichts mehr so wie zuvor. Immer,
wenn ich sonntags den Neufangflieger sah, konnte ich Umstehenden davon berichten, daß ich einerseits schon mit ihm geflogen bin
und andererseits eigenäugig gesehen habe, wie der Propeller einem
Mann sein Ohr abgehackt hat.
Ich denke, daß es uns - und ich denke da natürlich insbesondere
an Consuelo Vladimir und Kiki Estragon - nach dem heutigen Tag
ebenso geht. Wir werden immer sagen können: Wir sind mit dem
Bootchen auf dem Hérault gefahren und dabei ist Yves abgesoffen.
Dieses Erlebnis wird sich also als ein Erfahrungsschatz herausstellen, die wir im späteren Leben nicht mehr missen möchten, man ist
geneigt zu sagen: Danke Yves! Dabei fällt mir noch eine Argumenta-
149
tionsfigur f) ein, die ich freilich nicht mehr benötige, weil die Familie
ja willfährig meinem Vorschlag gefolgt war. Ich will sie aber dennoch
zur Belehrung des geneigten Publikums referieren: Schon nach
wenigen hundert Metern wird Yves aus unserem Kurzzeitgedächtnis
gelöscht sein. Wir werden nämlich überwältigt sein von der landschaftlichen Schönheit des Engtals. Außerdem werden wir uns
immer wieder von dem Anblick der Steilhänge frei machen müssen,
die dem Fluß einen dramatischen Rahmen verschaffen und ihn wilder aussehen lassen, als er in Wirklichkeit ist, denn auch ein vergleichsweise zahmes Wildwasser wie der Hérault hat seine Tücken,
und die tauchen immer wieder unvermittelt auf und lassen die Tücken, an denen Yves gescheitert ist, Tücken, die er sich selbst geschaffen hat, vergessen. Wir werden aufpassen müssen, daß wir
korrekt über die flachen Stromschnellen kommen, daß wir nicht auf
Grund setzen, nicht die Tonne mit unseren Klamotten verlieren,
insbesondere nicht die Kühlbox mit dem sündhaft teuren Poulet und
dem kaum preiswerteren Rosé aus der Kooperative in Cabrières und
natürlich auch noch meinen Kartoffelsalat mit den „oignons doux“.
Wir werden über alldem Yves vergessen, aber das heißt im Umkehrschluß - und eben darin besteht der Gehalt der Argumentationsfigur f): Er und sein tragisches Schicksal werden uns im Langzeitgedächtnis umso lebendiger ("lebendiger"?) bleiben. Quintessenz aus f) also: Wir lassen uns von den Ereignissen unmittelbar
nicht beeinflussen und gehen in gewohnter Weise unseren Verrichtungen nach; dies ist die Voraussetzung dafür, daß das Geschehen
in seiner Plastizität und mit seiner ganzen Wirkmächtigkeit in uns für
alle Zukunft präsent bleibt.
Ich bin sehr zufrieden mit dieser meiner Erkenntnis, lehne mich
behaglich im Boot zurück, um mich von ihrem intellektuellen Nachhall durchfluten zu lassen und werde - potzblitz - sogleich selbst
geflutet. Ich habe ein Riff übersehen, das Boot dreht sich, wird wie
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ein übersteuertes Fahrzeug aus der Rinne getragen, schlägt breitseits an eine flach überspülte Barriere und kippt seinen Inhalt, das
heißt mich, die Tonne und Consuelo über das Riff in die dahinter
liegende Wanne. Das vom Tiefgang entlastete Boot schießt jetzt
durch die Schnelle an uns vorbei und macht sich flußabwärts davon. Consuelo und ich suchen rasch unsere Habseligkeiten zusammen, schwimmen ans Ufer und setzen über das Kiesbett zu Fuß dem
Boot und der Tonne nach.
Unser Glück, daß der „maquis“, jenes undurchdringliche Gestrüpp
des Südens, das sich von den Hängen ergießt, an diesem Flußabschnitt nicht ganz bis zum Ufer führt, so daß wir nach kurzem
Sprint unser verwaistes Gefährt wieder erreichen. Aber die Tonne
hat eine günstigere Strömung erwischt, sie düst davon und ist nach
wenigen Minuten aus unserem Gesichtskreis verschwunden. Hagen
Knotterbeck und Kiki Estragon sind inzwischen ebenfalls eingetroffen - sie haben sich augenscheinlich nicht so sehr mit Yves beschäftigt und sich mehr auf das Wasser konzentriert. Wir beschließen,
uns von dem Schreck zu erholen und unsere Vorräte aufzuzehren,
bevor auch diese womöglich noch verloren gehen. Die Kühlbox mit
dem sündhaft teuren „poulet rôti“ war als Wertgut natürlich in Hagens Boot verstaut gewesen und steht uns mithin zur Verfügung.
Das gleiche gilt für den Wein und wider Erwarten auch für meinen
Kartoffelsalat. Wir lassen uns auf einer Kiesbank nieder und packen
unsere Vorräte aus. Mir aber will das sündhaft teure „poulet rôti“
gar nicht so richtig schmecken, denn ich hadere noch mit meinem
Ungeschick.
Während meine Lieben schmatzen und Yves den toten Yves sein
lassen (ich wies ja bereits auf die mangelnde Leistungsfähigkeit des
Kurzzeitgedächtnisse hin) präpariere ich mir zur Ablenkung einen
weiteren Gedanken, der als Argumentationsfigur g) Geltung bean-
151
spruchen könnte: Yves hat es gar nicht verdient, daß man seiner
gedenkt oder auf einer zweiten Reflexionsebene dem Gedenken
seiner gedenkt. Denn wenn man an ihn oder an den Gedanken an
ihn denkt, dann handelt man selbst in grob fahrlässiger Weise. Was
wäre passiert, wenn wir aus Pietät die Bootsfahrt abgebrochen hätten? Wir hätten uns erstens einem anstrengenden Verhör unterziehen müssen, wären aus naheliegenden Gründen nicht in der Lage
gewesen, am Ort des Unglücks unser sündhaft teures „poulet rôti“
zu verzehren, hätten nach Stunden des Verhörs und des Darbens
erst wieder gegen Abend zu unserem Auto zurückgefunden, hätten
auf der Heimfahrt womöglich bei dem Gedanken an Yves und die
Vernehmungen zum Tathergang, dazu noch in Folge der Entbehrungen verkehrsbezogene Unaufmerksamkeiten begangen und im
schlimmsten Falle uns selbst an Leib und Leben gefährdet.
Nein, Schluß ist jetzt mit Yves, kein Gedanke mehr an ihn, keine
weiteren Argumentationsfiguren ha bis zett; mir schmeckt jetzt das
sündhaft teure „poulet rôti“ wieder, doch kann auch der immer noch
sehr gut temperierte Rosé einen Gedanken nicht vertreiben, der jetzt
in mir aufbrandet und der der Tonne gilt: Was wird uns der Bootsverleiher für ihren Verlust in Rechnung stellen? 30 Euro, 45 Euro
oder sündhafte 60 Euro? Unsinn, sagt Mme Knotterbeck, das zahlt
doch die Versicherung. Doch das ist keine Beruhigung für mich: Ich
weiß nicht, ich kenne dieses Verleihergesindel. Die sind wahrscheinlich gar nicht versichert. Die Prämien für den Hérault sind viel zu
hoch, wenn es hier lauter Tote gibt. Die behaupten dann, wir hätten
die Tonne nicht ordnungsgemäß und betriebsanweisungsgerecht
vertaut. Ich nehme nach dem Picknick mit gemischten Gefühlen die
Kanufahrt wieder auf, und werde nach etwa einem Kilometer von
meinen dunklen Gedanken erlöst. Am Ufer winken die Amerikaner
und deuten auf eine gelbe Tonne, die sie aus dem Wasser gefischt
haben. Es ist die unsere - wir erhalten sie unversehrt zurück und
152
danken unseren Wohltätern mit einer ausführlichen und deutlich
überzeichneten Schilderung der tödlichen Vorgänge flußaufwärts.
Immer wieder machen wir kleine Pausen und baden an lauschigen
Flußabschnitten in dem erfrischenden, aber nicht allzu kühlen Naß.
Ich bin mir, als wir nach vier Stunden an unserem Zielpunkt ankommen, sicher, daß wir bald einen unserer schönsten und erlebnisreichsten Ferientage hinter uns haben werden, an den wir noch
lange denken werden.
Aber noch ist nicht aller Tage Abend, auch die Rückfahrt nach
Péret steht im Erlebnisreichtum den bisherigen Tagesereignissen in
nichts nach. Denn zwischen St Jean-de-Fos (nahe dem Pont du
Diable) und St-André-de-Sanconis (kurz vor Clermont) hält uns eine
Wand aus schwarzem Rauch gefangen. Nein, keine Angst, es handelt sich nicht um einen Massenunfall mit weiteren Toten. Es ist
vielmehr eine Barrikade brennender Gummireifen, die uns an der
Weiterfahrt hindert. Der Verkehr wird von Winzern oder Bauern,
jedenfalls einigen grobschlächtigen Gestalten agrikulturellen Herkommens, über einen parallel zur Straße führenden Feldwirtschaftsweg umgeleitet.
Transparente stellen klar, daß es sich hierbei um eine Demonstration handelt, und zwar eine Demonstration gegen alle und alles, was
nach Meinung der Protestler die Entwicklung des hiesigen Weinbaus hemmt: den blindwütigen Weltmarkt, die Versager in der Regierung, die Terroristen in der EU, die doofen Konsumenten undsoweiterundsofort. Die Winzer nutzen die Gelegenheit, ihr Mütchen
an einigen Autofahrern zu kühlen, die sich dieser Sicht der Dinge
nicht umstandslos anzuschließen bereit sind. Sie führen eine Art der
Personenkontrolle durch, lassen sich zwar nicht die Fahrzeugpapiere
zeigen, sondern durchmustern mit mißtrauischem Blick das Wagen-
153
innere, um verdächtige Insignien ausmachen, die auf eine abweichende Meinung zu der ihrigen hindeuten könnten. Wir als Touristen sind weniger gefährdet. Der Franzose als solcher, und da machen auch aufgebrachte Protestierer keine Ausnahme, tritt aufgrund
des Sprachenproblems mit Ausländern ungern in Gesprächskontakt;
außerdem deutet unsere Rostlaube auf eine gewisse Ärmlichkeit hin,
die nicht in einen direkten Zusammenhang mit den Problemen der
Winzer hier zu rücken ist, und so werden auch wir zunächst durchgewinkt - zunächst wohlgemerkt. Denn ich mache in einem jäh aufwallenden, mir selbst unerklärlichen Gefühl der Solidarität das VZeichen, und das ist ein Fehler, wie sich schnell herausstellt. Sei es,
daß es als Siegeszeichen, das nicht ihnen gilt, sondern als Geste des
Triumphes von einem, der hier unbelästigt durchkommt, mißverstanden oder als mißlungener Stinkefinger oder als im fernen
Ausland als Zeichen der Mißfallens geltende Geste mißinterpretiert
wird, sofort stürzt sich der Trupp auf unser Auto, ich werde aus dem
Wagen gezerrt und einem hochnotpeinlichen Verhör unterzogen.
Was das soll? Was wir hier herumzufahren hätte, und überhaupt.
Die Angreifer sehen jedoch sehr schnell, daß es sich bei mir um
keinen ebenbürtigen Feind des französischen Winzertums handeln
kann und gehen langsam dazu über, sachgerechtere Fragen zu stellen, sofern man die Fragen nach seinen Konsumgewohnheiten sachgerecht nennen kann. Was ich denn so trinke? „Rotwein und Weißwein.“ Es erscheint mir nicht opportun, noch weitere Getränke, wie
Bier und Schnaps oder gar was Alkoholfreies anzuführen. Was für
ein Wein, welcher Herkunft? Es scheint mir angebracht, hierauf mit:
"Natürlich nur aus Frankreich, und vorzugsweise aus dem Languedoc", zu antworten. „Klaro“, sagt der Oberbonze, „was denn
sonst.“ Sie drehen den Spieß um. Was ich von kalifornischem Rotwein hielte, der sei doch „pas mal“? Ich bin auf der Hut und sage
nun nicht, wie das naheliegt: "Oh, ich habe keine Ahnung, ich hab'
154
noch nie welchen getrunken." Sondern: "Oh, ich hab' einmal welchen getrunken, er hat mir nicht geschmeckt, war irgendwie vielzu
gefällig, von plastikhafter Vollkommenheit. Man kann sich leicht
vorstellen, daß alle Lagen völlig gleich schmecken, irgendwie industriell von allen Differenzierungen befreit."
Das war schon ganz gut. Zwei der Unterbonzen nicken wohlwollend. Der Oberbonze aber tritt ihnen auf die Füße und zischt: "Und
australischer? Wie ist es damit, hein?" (Das "hein" erkläre ich später, denn ich muß nun schnell antworten.) Ich sage, um Zeit zu gewinnen: „Ja, ja, der australische, das ist so eine Sache.“ "Und, und,
wie denn jetzt?" drängt der Bonze. Ich sage etwas kleinlaut: "Also,
hab ich einmal probiert, war ja nicht schlecht." Der Bonze zieht die
Augenbrauen zu einem gefährlichen Ausdruck der Ablehnung zusammen. Ich weiter, schon ein wenig stotternd: "Ja, aber ich hatte
sooo Kopfschmerzen am nächsten Tag. Ich weiß nicht, was die da
hineintun, um den Geschmack aufzupolieren. Aber denen ist ja alles
zuzutrauen. Alle Australier stammen ja von Kriminellen ab, die die
Engländer da unten vor zweihundert Jahren ausgesetzt haben." Die
Unterbonzen nicken wieder, einer lächelt mir sogar verschwörerisch
zu.
Diesmal bleiben sie von Sanktionen durch den Oberbonzen verschont, na immerhin. Der wirkt jetzt entspannter, aber holt zu einer
vorletzten Frage aus. Ich habe es geahnt. "Und der chilenische? Hat
ja einen ganz guten Ruf. Oder?" Jetzt bin ich in der Klemme. Was
soll ich jetzt antworten, was sich vom bisher Gesagten unterscheidet
und doch plausibel klingt? Ich verlege mich ins Politische: "Also
darüber kann ich gar nichts sagen. Nie getrunken. Wissen Sie, den
boykottiere ich, solange Pinochet für seine Greueltaten noch nicht
zur Rechenschaft gezogen ist. Kein chilenischer Wein und auch
sonst nichts Chilenisches, keine Äpfel, Apfelsinen, keine Erdnüsse,
155
nichts." Die Miene des Oberbonzen verdüstert sich wieder, und
auch die Unterbonzen zeigen keine Spur mehr von Zustimmung. Das
war nämlich ein Fehler, und zwar nicht die Sache mit den Erdnüssen.
Die ganze Antwort war wenig durchdacht, denn der Bonze stellt
fest: "Aber chilenischen Wein würde Er trinken, wenn Pinochet
nicht mehr wäre oder im Knast säße? Bis das soweit ist, tut’s ja auch
der südafrikanische. Man muß doch Mandela unterstützen. Oder?"
Jetzt stehe ich vollends in der Ecke. Bleibt mir nur noch eins, um der
Abstrafung zu entgehen. Gerade ist mir eingefallen, daß wir in der
Kühlbox noch die leeren Roséflaschen von unserem Picknick mitführen, und die sind von der Kooperative in Cabrières. Manchmal
zahlt es sich doch aus, daß man den Abfall nicht einfach ins Gebüsch wirft, oder in den Hérault. Ich sage: "Darf ich Ihnen mal was
zeigen?" und ziehe das Leergut hervor, aus dem unzweifelhaft hervorgeht, daß der Wein, den wir heute getrunken haben, aus der
hiesigen Gegend stammt. "Sehen Sie", sage ich, "ich liebe Ihren
Wein, hätte im „HyperU“ auch bulgarischen und mazedonischen
gekriegt, bin aber extra zur Kooperative gefahren, und glauben Sie
mir, wir haben vor, von dieser wunderbaren Appellation soviel nach
Hause mitzunehmen, wie in den Kofferraum paßt."
Dies stimmt ihn augenblicklich versöhnlich, und der Freispruch
steht bevor. Ein Freispruch erster Klasse. Bleibt nur noch eine Abmahnung, ich meine: Ermahnung, und zwar derart, daß wir uns künftig nicht unbedingt in der Kooperative von Cabrières mit Wein versorgen möchten. Das seien Snobs dort, die sich nicht in allen Punkten solidarisch mit der Sache der Winzer zeigten, sondern versuchten, ihre eigene Nische zu bedienen. Aber das könnte ich, gibt er mir
jovial zu verstehen, nicht wissen. Besser sei es, in der Kooperative
von Cacanac (den Namen muß ich aus juristischen Gründen, wie
gleich verständlich wird, ändern). Am besten wird sein, daß uns
Monsieur Cacalac (einer der beiden Unterbonzen, es handelt sich
156
aber bei dem Namen ebenfalls aus juristischen Gründen um ein
Pseudonym) begleite uns dahin, auf daß wir ja den Weg fänden.
Und so kommt es, daß wir aufgrund der Einladung, die wir kaum
ablehnen können, für 150 Euro Wein aus der Kooperative von Cacanac (aus juristischen Gründen geändert) erwerben müssen. Hagen
Knotterbeck stößt noch etwas heraus, was wie "Wegelagerer, Diebe, Erpressung und kriminelle Methoden" klingt, aber Monsieur
Cacalac, der uns den Weg zur Kooperative "gezeigt" hat, ist sich
keiner Schuld bewußt und beglückwünscht uns zu unserer Kaufentscheidung. Immerhin, tröste ich mich, habe ich heute schon 60 Euro
für die Tonne gespart. Wir wollen nicht klagen, und vielleicht ist der
Wein aus Cacanac (Name aus juristischen Gründen geändert) nicht
ganz so mäßig wie der aus Péret. Der nämlich macht schon beim
bloßen Angucken dicke Backen. Bleibt noch nachzutragen, daß der
Oberbonze nach Ende des Verhörs sich von uns grußlos abgewendet und wie zum Hohn den nächsten Weinstock beharnt hatte.
Ich muß noch, wie versprochen, auf die Sache mit dem "hein" zurückkommen. Ich verbinde dies am besten mit einem kleinen, aber
sehr nützlichen Sprachkurs für Französisch-Anfänger. Der gemeine
Franzose, also der 99,9 Prozent-Franzose, nicht der klassisches Racine-Französisch sprechende Franzose, der seine Gattin noch mit
"Sie" anzusprechen pflegt, benutzt eine merkwürdige Lautfolge, die
in der Literatur mit „hein“ wiedergegeben wird, und sich in etwa „ää“
ausspricht (ein „ää“ ähnlich dem Stöhnelaut aus dem Munde von
Boris Becker, nur kürzer). Obwohl "hein" als Interjektion definiert
wird, handelt es sich nicht etwa um das Pendant zum deutschen
„äh", das man wahlweise auch rückwärts als "hä" aussprechen darf.
"Hein" ist auch kein Stotterlaut, ebensowenig wie eine Verlegenheitsfloskel oder ein Räuspern und hat, wie gesagt, auch nichts zu
tun mit dem "hä", jener deutschen Vulgärversion eines versprachlichten Fragezeichens. "Hein" dient eher zur Bestätigung des gerade
157
Gesagten, ersetzt aber in vielen Fällen das Unsagbare, sei es, weil
dieses tatsächlich im Wittgensteinschen Sinne nicht zu sagen ist,
sei es, weil es im aktuellen Repertoire des Sprechers nicht vorhanden ist. Das ist wichtig zu wissen und kann sehr hilfreich sein. Denn
es erlaubt, „hein“ universell dort einzusetzen, wo die Sprache versagt oder über nicht genügend Ausdrucksmittel verfügt.
Beispielsweise kann „hein“ zur Drohung eingesetzt werden (eine
Nuance im Unterton genügt), es kann zur Folter dienen (so der Winzer mir gegenüber). Es kann aus jeder Mutmaßung oder lauen Feststellung oder insignifikanten Äußerung eine apodiktische Feststellung mit unverrückbarem Geltungsanspruch machen. Und es eignet
sich als vollwertiger Ersatz für alle denkbaren Bezeichnungen eines
Gegenstandes, eines Ereignisses, eines Vorgangs, einer Tatsache,
eines Faktums, eines Vorhabens, einer (kann ich jetzt mit der Auszählung endlich aufhören, hein?). "Hein" läßt sich sogar performativ
verwenden, das ist bekanntlich der Fall, wenn der sprachliche Ausdruck eines Handelns und das Handeln selbst d eckungsgleich sind,
wie im Beispiel: "Ich wünsche dir einen guten Tag". "Hein", so
gebraucht, ist "hein" und nichts weiter als "hein". Doch damit nicht
genug: „Hein“ erhöht die Kompetenzvermutung bei Ihrem Gesprächspartner, ohne daß Sie überhaupt über irgendeine Kompetenz
außer der korrekten Aussprache von „hein“ verfügen müssen. Das
ist sehr vorteilhaft und bietet ungeahnte Möglichkeiten bei der
Aneignung des französischen Wortschatzes. Beispielsweise können Sie im Bäckerladen sagen: „Hein, cette...hein...“ und die Bäckersfrau weiß genau, daß Sie ihr jetzt kein unsittliches Angebot
gemacht haben (was etwa so lauten würde: „Hein, nous deux, hein
hein...“), sondern ein kleines Brot möchten, nicht zu kroß gebacken,
aber frisch und auch etwas größer als das allerkleinste Brot, was sie
im Angebot hat. Zum Bezahlen können Sie spielerisch Ihre Euro
vorzeigen und ein „Hein...“ ausstoßen, was in diesem Falle soviel
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wie „Macht wieviel bitte“ bedeutet. Vorsicht aber an der Bahnsteigkante, ich meine: am Ladentisch: Nicht gleichzeitig zum "hein" mit
den Euro Taschenbilliard spielen, das könnte dem "hein" wiederum
eine schlüpfrige Bedeutung verleihen.
Wie auch immer: Der Einsatz des "hein" erlaubt Ihnen den Einsatz
eines reduzierten Sprachschatzes auch bei hohem Ausdrucksverlangen. Ich selbst schätzte, daß man statt der 900 Wörter, die den
aktiven Sprachschatz eines Durchschnittsfranzosen bilden, nur etwa
ein Drittel erlernen muß; Spezialisten, die ein Minimum von 3000
Wörtern erwerben müssen, können immerhin noch gut die Hälfte
des Vokabulars verzichten; und wenn sie dort, wo es angemessen
ist, statt der korrekten Objektbezeichnung "truc" („Dingens“) verwenden, läßt sich ihr Wortpensum ebenfalls auf circa 300 Einheiten
runterdrücken. Zu dem "truc" sage ich jetzt nichts weiter - dies ist
nämlich eine Doku-Soap und keine sprachwissenschaftliche Abhandlung.
Zurück im „Château Pohl“ bleibt uns wenigstens eine weitere unangenehme Begegnung erspart: Die Ameisen sind wohl immer noch
beschämt und zeigen sich weiterhin bedeckt. Zum Abendessen gibt
es Lammragout mit grünen Bohnen und Kartoffeln. Weil ich für das
Gericht ein Glas Rotwein benötige (und weil mir danach ist), will ich
eine Flasche der gerade erworbenen Charge entkorken. Aber da
fährt mir Hagen Knotterbeck in die Parade: "Bitte heute nicht von
dem, sonst falle ich umgehend in Depressionen. Nimm, ich flehe
dich an, einen anderen." Also doch einen aus Cabrières, ich kann es
gut verstehen, obwohl ich auch gegen diesen nunmehr etwas voreingenommen bin - der Mensch ist ja so leicht zu beeinflussen.
Für das Gericht benötigt man etwa ein dreiviertel Kilo Lammfleisch
(am Besten aus der Schulter), zwei Tomaten, sechs Schalotten, drei
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Knoblauchzehen, ein Pfund grüne Bohnen, ein Pfund Kartoffeln, ein
Glas Rotwein - wie gesagt, ein Rosmarinzweig und zwei Thymianzweige.
Das gewürfelte Lammfleisch wird im Topf angebraten; die kleingeschnittenen Schalotten werden im Bratenfett geröstet, kurz vor
dem Ablöschen mit dem Rotwein kommt noch der Knoblauch hinzu.
Alles wenden, die gewürfelten und entkernten Tomaten sowie die
ebenfalls gewürfelten Kartoffeln unterrühren und noch ein bis zwei
Tassen Gemüsebrühe mitsamt den Gewürzen hinzugeben und etwa
eine Stunde köcheln lassen. Inzwischen werden die Bohnen geputzt,
gewaschen und im kochenden Salzwasser etwa acht bis zehn Minuten bißfest gegart. Bohnen abgießen, falls Eiswasser vorhanden ist,
mit diesem abschrecken (dann bleiben sie schön grün) und beiseite
gestellt. Am Ende der Garzeit werden sie kurz im Fleischtopf erwärmt.
Es ist ein wunderschöner Abend, der uns wieder einen leichten
Wind zur Begleitung bei Tische beschert. Wir essen still unser
Lamm, und ich vergesse, daß ich auch bei diesem Thema, ich meine
beim Thema Lammfleisch, Verdruß empfinden sollte. Denn es will mir
immer noch nicht einleuchten, daß in einem Land, das Schaf, Hammel und Lamm schon zu seinen Hauptfleischlieferanten zählte, als
wir in Deutschland noch nicht weiter als bis zum Lammfell und zur
Schafwolle denken konnten, Lammfleisch um gut ein Drittel teuerer
ist als bei uns, und wenn ich die Preise hier mit denen des Türken
am Hanauer Freiheitsplatz vergleiche, der „entre nous“ gar kein
Türke ist, sondern ein Syrer und dessen libanesische Frau ohnehin
im Geschäft das Sagen hat, dann komme ich zu der Feststellung, daß
hier das Lammfleisch doppelt so teuer ist und - was das Ganze noch
schlimmer macht - von unverkennbar minderer Qualität. In einer
Metzgerei der Frankfurter Kleinmarkthalle hing lange Zeit ein Rekla-
160
mespruch (bis er aus Gründen des Feminismus, der irgendwann
auch an diesem unfeministischen Ort Einzug hielt, entfernt wurde),
und der lautete: „Nur der Fachmann kennt das Stück / das der
Hausfrau Herz entzückt." Auch wenn mein oder der Hausfrau Herz
nie so voll und ganz entzückt war, dann hatte dies nichts zu tun mit
der Qualität (die war unstrittig gegeben, wenn man beim Kauf fein
Obacht gegeben hatte und dem Metzger gewissermaßen das Messer geführt hatte), sondern mit dem Preis. In Frankreich aber scheint
es Usus zu sein, abfallähnliche Ware preislich zu veredeln.
Es ist mir ohnehin ein Rätsel, wie es der Grande Fressernation in
den letzten zwanzig Jahren gelingen konnte, uns Deutsche sowohl
in den Lebensmittel- als auch in den Restaurantpreisen zu überholen, und zwar von einer Preisklasse kommend, die uns seinerzeit
beim Essen noch leuchtende Augen verschafft hat, in eine Kategorie reinrutschend, in der sich die Schweiz schon befindet. Ich habe
darüber mit manchen Experten gesprochen, mit Gourmets und
Gourmands und der geglückten Kreuzung aus beiden, mit Volkswirten, gallophilen Unternehmensberatern und frankophonen Weinhändlern. Die einen schieben es auf den Colbertismus, der in Frankreich immer noch herrscht und die Preise treibt, die anderen auf den
SMIG, den staatlich garantierten Mindestlohn, der das Preis Leistungsverhältnis verzerrt, die dritten auf die französischen
Verbraucher, die gerade mit Blick auf das Essen sämtliche Kritikfähigkeit verloren haben und sich damit zufrieden geben, daß Hauptsache irgendwas in den Magen kommt. Ich muß sagen, daß mir
keiner dieser Gründe so richtig einleuchtet; der Preiskrampf ist ein
Mysterium...
Apropos Mysterium: Es versteht sich von selbst, daß ich nach
diesem ereignisreichen Tag die gemeinsame Suche von mir, dem Hl.
Paulus und Alain Badiou nach der Wahrheit ausgesetzt bleibt. An-
161
ders gesagt: Ich setze mich heute mal - was die Relektüre betrifft auf Entzug. Ist nicht „soustraction“, die Unterschlagung / der Entzug, ein weiterer Schlüsselbegriff in Badious Philosophie?
Kein Entzug jedoch bei den Alkoholika: Nach der ersten Flasche
spüren wir eine zunehmende Gleichgültigkeit gegenüber der Appellation, nach der zweiten ist es uns vollkommen egal, woher der Rotwein stammt, und als wir uns bei der dritten Flasche das tragische
Geschick von Yves Revue passieren lassen, wissen wir schon gar
nicht mehr, was wir da trinken und nach der vierten Flasche, nicht
mehr, wer Yves war. Und die Wahrheit ist mir ohnehin schon den
ganzen Tag egal.
Freitag 7. Juli
Im „Radio France Hérault“ Plaudereien mit Hörern, wobei es um
die weltbewegende Frage geht, was sie gerade tun (die meisten
behaupten prompt, daß sie „Radio France Hérault“ hören) und die
üblichen Suche-Habe-Gefunden-Verloren-Meldungen: Corinne aus
Narbonne hat am Sonntag ihren „p’tit caniche“, Farbe Champagner,
verloren. Vielleicht ist er ja abgesoffen, tröste ich mich, der Seemannstod wäre für einen „p’tit caniche“ mal was ganz Extraordinaires.
Die Stimmung ist weiterhin mies, das Wetter wieder schlecht.
Wolken ziehen von den Bergen heran und lösen sich erst kurz vor
der Küste auf. Es ist kühl, ab und zu fällt ein Tropfen Regen. Die
Zikaden haben deshalb ihr Konzert für heute abgesagt. Der “Midi
libre” meldet sommerliche Hitze bei strahlendem Sonnenschein vom
Larzac bis zum Meer. Wir haben unter diesen Umständen keine Lust
zum vorgesehenen Familienausflug an den Cirque de Navacelles,
162
den die Michelins und Merians und Baedeckers als absolutes Muß
ausgeben. Vermutlich schneit es dort. Die morgendliche Meinungsumfrage ergibt: Die Kinder wollen zu McDo (Hagen und ich:
„Nein!“), dann doch wenigstens mal eine volle Fernsehdröhnung
(Wir: „Wenn’s sein muß“), und ich möchte mich meinen Bucherwerbungen widmen (Hagen: „Ja“). Hagen Knotterbeck zieht es nach
Béziers (Ich: „Ist doch nicht dein Ernst?“). Mich zieht nichts dorthin.
Béziers ist nämlich, wie ich mich in früheren Jahren überzeugen
konnte, ein Kaff, mit den Außenbezirken zwar größer als Sète, aber
ein Kaff. Es gibt Orte, sage ich, da möchte man auf gar keinen Fall
hin, und es gibt Orte, in denen mö chte man nicht einmal gewesen
sein. So ein Fall ist Béziers. Béziers ist 19. Jahrhundert. Béziers ist für
mich das, was für Thomas Bernhard Salzburg war. Daran ändert
auch die Tatsache nichts, daß Béziers keine Festspiele hat (was es
immerhin vor Salzburg auszeichnet). Genausowenig wie die hübsche
Altstadt mit ihren kleinen Restaurants oder die - durchaus sehenswerte - Markthalle. Selbst das einzige wirklich geschichtsträchtige
Gebäude, die Kathedrale St Nazaire, Schauplatz der Greueltaten der
Kreuzfahrer an den Albigensern und den sich von ihnen nicht distanziert habenden Katholiken, kann sich nicht gegen das alles überwölbende 19. Jahrhundert behaupten. Das Pfahlbürgertum dominiert, die Männer stolzieren des Sonntags in ihren Redingotes (die
noch überall die Schaufenster der Herrenausstatter zieren) die Platanenallee hinunter, goldbehängt, auf Plateausohlen, Krypto-Spanier
auf dem Weg zur Pseudo-Fiesta; die Frauen putzen sich bis ins
hohe Alter flamencomäßig heraus, verhüllt in die Mantones der
Tänzerinnen, tragen überdimensionale Tellerröcke mit circa 14 Volants, alle Carmen-Dubletten auf der Suche nach tragischer Liebeserfüllung. Ich warne Hagen, heute ist Montag, viele Geschäfte werden
geschlossen haben und aus Béziers noch mehr Béziers machen.
Hagen Knotterbeck läßt angesichts meiner Einwände von ihrem
Vorhaben ab.
163
Sie ist übel gelaunt und verdammt die ganze Tierwelt. Das sind
Tage, da sich die gesamte Schöpfung auf den Vorschein ihres Ve rschwindens reduziert. Tiere sind dann aus Menschensicht nur noch
akzeptabel, wenn sie für den Kochtopf geeignet sind. Hunde haben
ohnehin - dies ist meine allerprivateste Meinung - in der Schöpfung
nichts verloren, außer in China, Korea und Graubünden, wo Hundemahlzeiten (gemeint sind: Gerichte aus Hunden für Menschen
und nicht umgekehrt) wohlgelitten und verbreitet sind. Die Kinder
finden das nicht richtig, und belegen ihren leiblichen Vater mit unflätigen Bezeichnungen. Der Gefahren zum Trotz, die dem Hundefeind
an solchen Tagen durch die freilaufende Meute droht, begebe ich
mich zur Sicherung des Grundnahrungsbedarfs ins Dorf. Außerdem
muß ich natürlich die Presseresonanz zu den gestrigen Vorkommnissen einholen.
Madame Simone ist auch schon auf den Beinen; ich erzähle ihr in
knappen Worten die Erlebnisse am Hérault, was ihr die üblichen
mustergültigen Kommentare abnötigt: Der Hérault wurde schon
immer unterschätzt, aber noch schlimmer als die Strömungen sind
die Vipern oberhalb von St Guilhelm, akkurat dort, wo der Jakobsweg vorbeiführt. Deshalb sind schon weit mehr Pilger durch
Schlangenbisse ums Leben gekommen als Touristen in den Fluten
des Hérault abgesoffen. Ja, wenn man es genau nimmt, dann kann
nur ein in Worten nicht mehr zu fassender Leichtsinn dazu geführt
haben, daß man in einem solchen Fluß ertrinkt. Ihr Mann selig habe
40 Jahre lang in jedem Sommer an der Tarn geangelt, und die ist viel
reißender als der Hérault, und selbst die stärksten Fische, mit denen
er kämpfen mußte, haben ihn nicht untergekriegt. Ich verabschiede
mich schnell, bevor ich mich verplappere und die Geschichte mit den
Winzern erzähle und wie die mich abgezockt haben. Das hätte ihr
gefallen, mir Spott und Häme eingebracht, aber auch - da bin ich mir
164
sicher - geheuchelte Worte des Trostes, verkleidet in eine nicht
endende Tirade gegen die Gauner, die sich als Winzer ausgeben,
nichts und nochmals nichts mit den Winzern von vor vierzig, fünfzig
Jahren gemein haben, die noch ernsthaft ihrem Beruf nachgegangen
sind und dem Winzerstand alle Ehre machten.
Die Sichtung des “Midi libre” ergibt: Die Lage bei den Winzern ist
explosiv und der Hérault gefährlich. Aber zuallerst muß ich eine
Meldung referieren, die so ganz nach meinem Geschmack ist: In
Montpellier wurde gestern ein älteres Ehepaar überfallen und seines
Hundes beraubt. Nicht genug, daß es am hellichten Tag in der belebten Bahnhofsbrasserie passierte, nein, es handelte sich bei der
Beute zudem um einen deutschen Schäferhund, der sich von den
dreisten Gangstern, die zuvor dem Herrchen noch eins aufs Maul
gegeben hatten, widerstandslos abführen ließ.
Doch das uns in höherem Maß interessierende Thema ist der Fall
Yves. Der „Midi libre“ dazu in einem Summarium: Die näheren Einzelheiten der tragischen Vorkommnisse sind noch nicht aufgeklärt.
Aber die Unfallstatistik zeigt: Die Mortalitätsrate des Hérault ist darin sind sich die Experten einig - zu hoch für Flüsse dieser Größenordnung und dieser Fließgeschwindigkeit. In der letzten Saison
gab es am Pont du Diable allein drei Ertrunkenheitsdelikte, davon
zwei tödlich, ein Ertrunkener wurde gerettet - tragischerweise handelte es sich um einen Selbstmörder. Wem die Rettung eines ertrunkenen Selbstmörders spanisch vorkommt, der sei auf die Eigenart
der französischen Sprache hingewiesen, die von einem "noyé sauvé" spricht - eine Wortgleichung, die aufgrund ihres Widersinns
unübersetzbar ist. Der Sprung von der „Brücke des Teufels“, aus
Gründen der Dramatisierung auch "Pont noir" genannt, bleibt das
Gefährdungsmoment Nummer eins, wobei es allerdings im letzten
Jahr im Gegensatz zu diesem nur für einige schwere Verletzungen
165
gereicht hat. Gefährlich auch die Wirbel an den Stauwehren sowie
unter den Felsen, insbesondere im Abschnitt zwischen Pont du
Diable und St Guilhem, wo die dort schroff abfallenden Kalksteinwände großenteils unterspült sind. Die vermeintlich stillen und
flachen Wasser am Wehr von Vernède haben einem jungen Mann
das Leben gekostet, einem „wohltrainierten Rubgy-Man von 19“,
wie der "Midi libre" zu erwähnen nicht vergißt. Sein Leichnam wurde erst nach einigen Tagen intensivster Suche gefunden. Relativ
selten sind Kollisionen von schwimmendem Material sowie unbedachte Handlungen, die den Tod oder schwere Verletzungen nach
sich ziehen. Hier dürfte der Fall Yves bei der Statistik etwas nachhelfen. Fazit des Blattes: "Der Hérault ist schön, aber nicht immer friedlich". Am Rande vermerkt: Bei der Truppe um Yves handelte sich um
Lehrpersonal eines Gymnasiums in Clermont (Ferrand, nicht
l’Hérault). Der Berufsstand erklärt einige Formen ihrer postjuvenilen
und prämortalen Ausgelassenheit.
Grundsätzlich unfriedlich in diesen Zeiten sind die Winzer, und
ihre unfriedlichen Absichten sind auch heute wieder pressenotorisch geworden. Der "Midi libre", verschweigt die Aktion, der ich
zum Opfer gefallen bin, meldet aber kursorisch gewalttätige Unruhen
in der gesamten Region. Außerdem ist am heutigen Freitag mit einem großen Auftrieb in Carcassonne zu rechnen; 5000 bis 10 000
Weinbauern aus den Départements Aude und Hérault werden zu
einer machtvollen Kundgebung erwartet. 100 000 Hektar Anbaufläche, rechnen die Winzer vor, hat die Region in den letzten zwanzig
Jahren verloren. Der größte Teil der Verluste betrifft aber die einfacheren Lagen, in den Arealen der Appellation dagegen ist der
Rückgang weniger ausgeprägt, anders gesagt: die Ebene mit ihren
Großanbauzonen verliert, die Hänge gewinnen - man sieht das auch
zwischen Péret und Cabrières sowie im Seitental zur Boyne zwischen
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Cabrières und Villeneuvette, wo trotz der Weinschwemme viele
Neuanbauflächen entstanden sind.
Keine Frage, daß es irgendwann zu einem Überangebot an teurerem Wein kommen wird: Der „Vin du Pays“ verschwindet, und die
Appellationen machen sich den Platz in den Regalen streitig. Uns
Verbrauchern, ich meine damit die Kategorie der Verbraucher, die wir
Jarims repräsentieren, kann das nur recht sein. Unsereiner spekuliert
auf die Preisklasse, in der am meisten Bewegung ist, die Preisklasse
zwischen billig und preiswert. Denn wir haben die Feststellung gemacht, daß der Unterschied zwischen einem Wein, der zwischen 1,50
und 2,50 Euro kostet, größer ist als der zwischen vier und 16 Euro.
Also trinken wir für gewöhnlich welchen zwischen 2,50 und vier
Euro, nicht mehr und eher weniger. Der Vorgang ist aus den Wirtschaftswissenschaften bekannt und heißt dort: verbrauchergerechte
Reaktion auf den abnehmenden Grenznutzen. Man könnte auch
umgekehrt sagen: Den Gewinn an Qualität, den man beispielsweise
in der höheren Preisstufe dadurch erzielt, daß man 15 Euro mehr für
die Flasche berappt, beträgt nur ein Bruchteil dessen, den man in
den unteren Preisklassen durch ein Mehrinvest von nur einem Euro
erzielt. Ich selbst habe deshalb nur noch Hohn und Spott übrig für
die, denen Wein echtes Geld wert ist. Weinkennerschaft ist ein
Phantasma, das den Aufstieg des Bürgertums begleitete, weswegen
seine Rechtsnachfolger, die Kleinbürger von heute, Weinkennerschaft als Distinktionsmerkmal auserkoren haben. Am deutlichsten
kommt dies in einer Erzählung des Mathematikers und Philosophen
Michel Serres zum Ausdruck. Serres berichtet in seinem Buch "Die
fünf Sinne" von den "Chevaliers du Tastevin", einer Bruderschaft
von Weinkennern. Die Mitbrüder wollten, so Serres in einer Anekdote, ihrem größten Experten einen Streich spielen und beauftragten zu diesem Behufe einen Burgunder Winzer, eigens für den
Schabernack ein paar Weinstöcke außerhalb der bekannten Lagen
167
anzupflanzen. Jahre später kredenzte man dem "Papst unter den
Kennern" den daraus gewonnenen Wein. Die Hoffnung der Bruderschaft, daß der Trunk nicht zu identifizieren sei und der Kenner der
Kenner einen Offenbarungseid leisten mü sse, erfüllte sich jedoch
nicht. Er gab zur Verblüffung aller zu Protokoll: Diesen Wein gibt es
nicht, aber wenn es ihn gäbe, dann müßte er dort und dort gewachsen sein. Die Schilderung der topografischen Umstände entsprach
präzise dem tatsächliche Anbauareal. Was Serres hier mit der Überzeugung und der Autorität eines in Frankreich hoch angesehenen
Philosophen wiedergibt, hat natürlich den Wahrheitsgehalt der
Marpinger Marienerscheinungen: Sie sind wahr für den, der daran
glaubt. Der nicht daran glaubt, wird eher der Erkenntnis zuneigen,
die aus dem berüchtigten Davis -Dilemma gewonnen werden kann.
Die Hochschule der kalifornischen Stadt Davis hatte in den 80er
Jahren eine Reihe von Tests durchgeführt, die durchweg zu dem
Ergebnis führten, daß die Probanden - allesamt angesehene Weinkenner - in einem Blindtest noch nicht einmal Rotwein von Weißwein zu unterscheiden in der Lage waren. Die Untersuchungen
würden auch heute noch angestellt, wenn sich denn noch ein
Weinkenner fände, der sich noch zum Test herausfordern ließe.
Michel Serres stimmt übrigens in dem selben Buch ein Loblied auf
den Yquem, dessen Namen er subtilerweise auf die zehnte Ordnung
der Engel, die Ychim, zurückführt. Nun mag der aus Sauternes kommende Château d'Yquem wirklich ein exzellenter Wein sein, leisten
können ihn sich immer weniger - und Michel Serres auch nur, wenn
er gegen naturales Entgelt dort Vorträge vor den Sauterner Honoratioren hält. Die Preise für Spitzengewächse wie den Yquem, den
Pétrus, den Montrachet oder den Romanée-Conti explodieren geradezu, und das hat unerwartete Folgen: Internationale Finanziers
kaufen die Jahrgänge auf, in der Erwartung, sie nach kurzer oder
längerer Lagerzeit mit einem beträchtlichen Aufpreis an texanische
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Ölbarone, chinesische Organhändler, japanische Pornographen und
brasilianische Großgrundbesitzer oder an der European oder Wallstreet oder Universal Wine Exchange mit beträchtlichen Kursgewinnen veräußern zu können, während die wahren Liebhaber (ich unterstelle, daß es solche Idioten gibt), die das Zeugs auch noch mit
Genuß trinken, zunehmend leer ausgehen. Schon lange, klagt "Le
Monde" von heute, gilt nicht mehr die Bauernregel aus dem Bordelais: "Le vin est fait pour être bu et pissé, der Wein ist gemacht, um
getrunken und ausgepißt zu werden". Der Wein ist ein Prestige- und
mittlerweile auch Anlageobjekt geworden, um das sich Kenner und
Investoren balgen. Schöne Aussichten, die mir eine mehr als
klammheimliche Freude bereiten: Es sind nicht nur Winzeraufstände,
sondern künftig auch Konsumentenaufstände zu erwarten.
"Und wir?", fragt Hagen Knotterbeck vorwurfsvoll, "was soll aus
uns werden?". Wir gehen, wenn wir wieder zu Hause sind, ins Netz
und suchen uns bei „supermarktwein.de“ das günstigste Angebot
aus. Die Website „supermarktwein.de“ kann nur wärmstens empfohlen werden. Ihre Contentmanager aus dem Umkreis der Glücklichen
Arbeitslosen in Berlin trinken sich alle zwei Wochen durch das
aktuelle Angebot der großen deutschen Discounter. Fachchinesisch
und Bluffvokabular kommt in den Tests nicht vor, und die empfohlenen unedlen Tropfen gelangen garantiert nicht an die Börse.
Selbst schwer Alkoholabhängige und Grenzdebile verstehen die
Empfehlungen. Da heißt es nicht „trocken“ oder „lieblich“, sondern
„süß“ und „sauer“; keine Rede von "animalischen Tönen" oder
„ausgeprägten Fruchtnoten“ oder "konzentrierter Farbe“ oder „vitaler Frische“ oder „kräftigem Bukett und komplexem Aroma"; das
Urteil lautet vielmehr "schmeckt nach altem Turnschuh" oder
"Langweiler mit miesem Charakter". Alles in allem ein Verfahren, das
ein Höchstmaß an Objektivität bei einem Exzeß an subjektiven
Werturteilen bietet. Überraschungen bleiben nicht aus: Da kann
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sich schon mal ein "Soave Classico 1999" für 2,98 DM oder ein
Rotwein beziehungsweise Weißwein mit dem Fantasienamen
"Jeanne d'Arc" für 1,99 DM ganz gut neben dem vergleichsweise
teueren „Château Blaignan 1999“ für 9,98 DM behaupten. Ohnehin
gilt das, was Jean Paul schon vor gut zweihundert Jahren sagte:
"Ich habe nie ein Getränk getrunken blos für meinen Geschmack als
das Wasser; jedes andere nur für die Wirkung." Ich sehe deshalb
nicht ein, wieso ein "Le Rouge" von Aldi, der für ganze 1,99 Mark
(der Liter!) aus der hiesigen Gegend auf unseren Tisch kommt, wirkungsloser sein sollte als ein „Côtes de Cacanac, Appellation Côtes
de Cacanac Contrôlée“ (Name aus juristischen Gründen geändert)
für 5,50 € die Dreiviertelliter-Flasche. Jean Paul hat bei anderer Gelegenheit auf die Vorteile des Sparens aufmerksam gemacht, und zwar
an Hand des Weins, der aus der Nachbarregion kommt: "Da der
vorige Wein 45 kr. kostete: kann ich jeden Tag 4 gr. Ersparen durch
Trinken des Roussillon; und will ich einen gar halben Gulden ersparen, brauch ich bloß 2 Flaschen zu trinken."
Aber ganz abgesehen von der Kostenfrage müßte (läßt mich Jean
Paul assoziieren) aus Gründen kultureller Hygiene wieder mehr Bier
getrunken werden. Die Frage ist nur: Wo und welches? Über weite
Landstriche Deutschlands ist die Bierkultur verödet. 1970 (als der
Siegeszug des Pilsner begann) war das 1866, und Bitburg das Königgrätz der Braukunst. Norddeutschland obsiegte über Süddeutschland. Paradoxerweise, da ja Pilsen eher zu letzterem zählt.
Und daran haben bis heute die Bierspezialitäten aus Bayern und
Franken, die in sonder Zahl auch nördlich des Mains vertrieben
werden, nichts zu ändern vermocht; sie erreichen ausstoßmäßig, ach
was, absatzmäßig einfach nicht die erforderliche kritische Masse.
Hagen Knotterbeck sagt: "Laß‘ es mal gut sein, ich hab' noch den
Wein von gestern Abend zu verkraften. Da kann ich jetzt nicht an
170
deine Spitzenlagen denken." In der Tat, war die Cuvée von Weinen
aus Cacanac (Name aus juristischen Gründen geändert), der Domaine du Temple und der Coopérative de Cabrières nicht dazu angetan,
daß wir heute einen unbeschwerten Tag verbringen können. Wir
beschließen deshalb entgegen der Proteste unserer Kinder, auf ein
großes Programm zu verzichten und uns auf eine Einkaufstour mit
kleinem Stadtbummel in Clermont zu beschränken.
Hagen und ich wollen zunächst mal unseren Kopf auslüften und
machen einen Spaziergang zur Kirche Notre Dame de Puits oberhalb
von Péret. Es handelt sich dabei eher um eine Kapelle, die sich in
einem so erbärmlichen Zustand befindet, daß die Tür mit Holzbohlen
verrammelt werden mußte, um Besucher nicht der Gefährdung durch
einstürzende Deckenteile auszusetzen. Ein kleines zerfleddertes
Plakat an der Tür macht auf eine private Initiative aufmerksam, die
den Verfall aufhalten will. Eine Woche später werden auch die Reste
des Aushangs verschwunden, vom Winde verweht sein. Im Gegensatz zum Zustand unserer lieben Frau sind die vier Häuser des Weilers, die sich um das Kirchlein gruppieren, so herausgeputzt, als
wollten sie im Himmel Eindruck schinden. In ihnen wohnen Eigentümer oder Feriengäste aus Großbritannien und Holland, die über
allerlei Annehmlichkeiten, zum Beispiel in den Fels eingelassene
Schwimmbecken mit freiem Blick zur Küstenlinie, verfügen.
Wir steigen den Berg weiter hoch, am Wasserreservoir vorbei, bis
zum Kamm, dort, wo ein steinernes Kreuz von einer anderen Zeit
berichtet, als es hier noch keine „piscines“ und Urlauber aus Großbritannien, Holland und Saarbrücken gab. Der Weg führt weiter
durch ein Hochtal, das im Verlauf sich sanft nach Cabrières senkt;
wir müssen aber umkehren, weil wir die Kinder nicht solange mit
dem deutschen Fernsehprogramm alleine lassen wollen.
171
Apropos Radio und Fernsehen: Das „Radio France Hérault“ unterbietet sein Niveau von Tag zu Tag, und ist jetzt nicht mehr weit
von dem der deutschen Fernsehstationen entfernt. Während der
Sender in der Woche vor Ferienbeginn wenigstens noch Highlights
brachte wie die neuesten Veröffentlichungen von Etienne Daho
oder Patrick Bruel (letzterer mit seinem famosen "Au Café des délices"), oder einige Trouvaillen des französischen Chansons wie "Les
Elucubrations d'Antoine" oder "C'est extra" von Léo Férré, ist jetzt
Johnny Halliday angesagt. Alle dreißig Minuten Johnny mit seiner
diesjährigen Sommerkatastrophe "Pardon". Das alles wäre nicht zum
Aushalten, würde nicht stündlich Altmeister Eddie Mitchell, der ja
als Schauspieler in dem besagten "Saustall" mitgewirkt hat, dagegenhalten: "J'aime pas les gens heureux". Dazwischen Plaudereien
mit Hörern, wobei es um die weltbewegende Frage geht, was sie
gerade tun (die meisten behaupten prompt, daß sie „Radio France
Hérault“ hören) und die üblichen Suche-Habe-Gefunden-VerlorenMeldungen: Corinne aus Narbonne hat am Sonntag ihren „p’tit
caniche“, Farbe Champagner, verloren. Vielleicht ist er ja abgesoffen, tröste ich mich, der Seemannstod wäre für einen „p’tit caniche“
mal was ganz Extraordinaires. Aber jetzt kaum zu glauben, jetzt
kommt: "Est-ce ainsi que les hommes vivent?" wiederum von Léo
Ferré, das Saarbrücker Lied, etwas gehaltvoller als das, in dem sich
„Saarbrigger“ auf „Kligger“ reimt. Die Vorlage zu „Est-ce ainsi que
les hommes vivent?“ (das Bernard Lavilliers vor Jahren glückhaft
gecovert hat), stammt von dem Surrealisten Louis Aragon, der darin
seine Eindrücke als französischer Besatzungsoffizier im Saargebiet
festhielt. Im Urtext kommt auch das Gänseliesl vor, nur ist das
„Gaense-Liesel“ Aragons – die Fechinger wird’s kaum erfreuen –
eher eine Dame des horizontalen Gewerbes denn eine Säulenheilige
ihres Banns.
172
Bevor Johnny zurück ans Mikro darf, flüchten wir nach Clermont.
Wir lassen uns dort zunächst im Café ein wenig neppen (die Kinder
essen nämlich Eis, das aus ebenso unerfindlichen Gründen wie das
Lammfleisch hier dreimal so teuer ist wie bei uns) und tun dann was
für die Kultur, wie es schon schön heißt: In der „Chapelle des Pénitents“, die während der Ausstellung aus Gründen des Wohlklangs
in „Chapelle des Dominicains“ umbenannt ist, wird zeitgenössische
Kunst aus Frankreich, Italien, Schweden, England und Amerika
präsentiert. Vertreten sind alle Gattungen, die gerade eben noch auf
800 Quadratmeter unterzubringen sind: Malerei in Acryl, Öl, Chinatinte, Aquarellfarben, dazu Photographie, Schwarz-Weiß, Farbe,
Polaroid. Man merkt deutlich, daß im Conseil Municipal der Wunsch
Vater des Gedankens war: Wenn Avignon sein Theater-, Montpellier sein Tanz-, Arles sein Fotografie- und Aix sein Film-Festival hat,
so dachten sich die Conseillers, die im Zivilstand Metzger, Makler,
Versicherungsvertreter, Poulet-Rôtisseure, Systementwickler und
Sapiers-Pompiers-Hauptmänner sind, warum dann nicht Clermont
gleich mit einem Kunstsommer?
Der Titel der Ausstellung ist Name, Programm und Anspruch
zugleich: “Etat des lieux”, was sich noch nicht einmal ins Französische, geschweige denn ins Deutsche übersetzen läßt, aber in beiden
Sprachen höchst bedeutsam klingt. Viel Tàpies- oder FluxusVerschnitt. Malerei, Skulptur oder Fotografie, man konnte sich nicht
so richtig entscheiden, also hat man alles genommen, was man gekriegt hat, und man hätte noch viel mehr genommen, hätte man im
Hauptschiff der Kapelle Platz dafür gehabt. Nach zehn Minuten sind
wir durch, nicht nur weil die Kinder herumgenörgeln, sondern weil
wir tatsächlich nicht mehr wissen, wo wir jetzt noch hingucken sollen. Die Kinder wollen nach Hause, ich schließe mich ihrer Meinung
ausnahmsweise an. Aber Mme Knotterbeck sagt: "Wir haben uns
Kultur vorgenommen, also wird die Kulturflinte noch nicht ins Korn
173
geworfen. Wir gehen jetzt in eine andere Ausstellung." Ins "Cercle
Occitan", beschließt sie, wo ein Doppelereignis zelebriert wird, dessen Ankündigung mir schier den Atem abschnürt: Im Erdgeschoß
werden die "traditions folkloriques" vorgestellt, im ersten Stock
"outils cévenols" - Werkzeuge und Gebrauchsgegenstände aus den
Cevennen.
Nachdem wir uns durch das Sammelsurium historischer Fotos von
Festen und Bräuchen, alten Grammophonen, die einige Ga ssenhauer
von anno dunnemals herunterkrächzen, und mottenzerfressenen
Festtagsgewändern, die von besseren Tagen zeugen, gequält haben, müssen wir uns auch über den Gebrauch irgendwelcher Feldhacken, Kuhglocken, nein: Ziegenglocken, Sicheln, Spaten und
Fangeisen unterrichten lassen. Mir schwillt der Kamm nun endgültig, als ich einer kleinen Sonderausstellung ansichtig werde, die sich
mit Geschenken und Glückwünschen zur Silberhochzeit beschäftigt.
Beim Anblick einer Sammlung von Porzellan zum Ehrentag der
Hochzeiter kriege ich einen heftigen Fön und meinen ersten richtigen und einzigen Ferienkrach mit Hagen Knotterbeck, weil ich es
nicht aushalte, was die Geschichtsvereinsmitglieder von Clermont ich stelle mir vor: allesamt Rentner, die in der Sinnkrise sind und
nicht sterben wollen - so anhäufen.
Ich komme dann sofort auf ein größeres Thema zu sprechen, das
mich dann erst recht in Harnisch bringt: die Musealisierung der
Geschichte und ihre verderblichen Einflüsse auf den Geisteszustand
unserer Epoche. Denn ich bin überzeugt davon, daß die Geschichtsund Gedenkkultur immer dort, wo sie dinghaften Ausdruck findet ob im Errichten von Denkmälern, im Sammeln von Bügeleisen, in
Ausstellungen von Arumbaya-Fetischen oder im Horten von Nazidevotionalien - immer das gleiche Ziel hat: die Instrumentalisierung
der Geschichte für die schäbigen Belange der Gegenwart und das
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heißt auch: Verharmlosung der Ungeheuerlichkeit, die Geschichte
als Modus der Vergänglichkeit selbst ist, und Verharmlosung der
Ungeheuerlichkeiten, die in ihr passiert sind. Der Sammler identifiziert sich in lustvoller Trauer um den Verlust mit den Objekten, gerade auch dann, wenn sie stumme Zeugen der größten Geschichtsscheußlichkeiten sind und der Sammler vorgibt, mit der Inventarisierung jener die Erinnerung an diese lebendig zu halten.
Das weiß jeder, der mit den Sumpfblüten des Flohmarkts je Kontakt hatte, und das beste Beispiel ist der Stern-Reporter Heidemann
mit seinem Spezi Kujau, die schon recht bald die Ebenen zwischen
Spiel und Ernst, Fiktion und Wirklichkeit und Wahn und Täuschung
nicht mehr zu unterscheiden wußten. Nicht umsonst spricht der
Philosoph Odo Marquard (bezeichnenderweise zustimmend, aber
das habe ich von ihm nicht anders erwartet) von „Verehrungsdeponien“, auf denen – durchaus mit frommer Intention, wie das Reliquien zukommt - „Bestandteile einer Bewahrungskultur“ gelagert
würden. Ich spreche lieber von „Verehrungsmülldeponien“, in denen sich der Geisteszustand einer Epoche, nämlich der gegenwärtigen, verdeutlicht. Für solche Deponien gilt indes das Gesetz der
Verwahrlosungs- und Versiffungsdynamik: Schmeiß' deinen Müll in
die Ecke des Parks und der wird binnen kurzer Zeit eine Mülldeponie. Scheiß' in die Toreinfahrt und du findest bald hündische und
menschliche Nachahmer, so daß unversehens die Cloaca maxima
entsteht. Mach‘ ein Museum auf, und die Regression wird nicht
lange auf sich warten (ich will hier offen lassen, um welche Art von
Regression es sich handeln könnte).
Ich habe deshalb noch nie verstanden, daß mit dem ganzen Nazikram nicht sofort tabula rasa gemacht wurde. Das heißt, ich habe
schon verstanden: Die Hinterlassenschaften aus den zwölf gloriosen Jahren dienten zur fraglichen Zeit als mentale Krücke für die
175
notwendige Kontinuität zwischen Reich und Republik. Daß aber
heute - zu Seiten strammen Antinazitums und exzessiver Multikulturalität - der alte Plunder immer noch gehandelt, versteigert und gesammelt wird und Nazimonumente nicht einfach in Luft gesprengt
werden (und wenn doch - dann allenfalls aus dem zweifelhaften
Kalkül heraus, daß man für die Kameraden keine Fix- und Identifikationspunkte schaffen will), daß Flohmärkte nicht abgeriegelt und
entlaust (ja entlaust) werden, wo das doch viel einfacher zu bewerkstelligen wäre als die philiströsen, alibimäßigen Ringfahndungen
nach Nazipobel im Internet, daß all das möglich ist und vieles, das
nötig wäre, nicht durchsetzbar, das zeigt, daß ein wirkmächtiges
Motiv am Werk, und dieses Motiv ist der universale Wille zur Musealisierung. Mehr noch: Der heilige Schauder vor der Trophäe, die
Fetischisierung des Relikts konvergieren mit der Pflicht zur Erinnerung und bewirken gerade dadurch das genaue Gegenteil dessen,
was die politische Korrektheit mit dem Erinnerungsgebot aufzugeben vorgibt.
Und nun das Wichtigste: Es sind nicht unbedingt die Nazimemorabilien selbst, die Anlaß zum Entsetzen geben müßten. Viel gefährlicher, und zwar deshalb gefährlicher, weil es überhaupt erst die
Voraussetzung der Naziakzeptanz schafft, ist die allgemeine Huldigung des Geschichtlichen. Für die schlichteren Gemüter übersetzt:
Der Dreschflegel im Dorfmuseum, die Webstuhlvorführung auf
Jahrmärkten, der mittelalterliche Mummenschanz bei Stadtjubiläen,
die Großreproduktionen vergilbter Porträts von unbekannten Vo rfahren verstellen die Sicht auf die Gegenwart - von der Zukunft gar
nicht erst zu reden. Der Kult um das Vergangene verleiht der Ve rgangenheit eine Authentizität, deren bisweilen unübersehbare Makel mit den derzeit ins Kraut schießenden Entschuldigungsriten
exzorziert werden, auf daß die Tradition makellos sauber dastehe
und - Genuß ohne Reue - rückstandsfrei konsumiert werde. Deshalb
176
wäre die erste Bürgerpflicht, die Vergangenheit endlich dem Ve rgessen zu überantworten, da es ja offensichtlich doch nicht gelingt,
irgendwelche Lehren aus ihr zu ziehen und - dabei wären wir wieder
beim Thema Geschmack – so, und nur so, stilbildend für die Gegenwart nutzbar zu machen.
Es ginge also um nichts weniger als um den großen Befreiungsschlag, der die Würde wieder ins Recht setzte und schlichtweg das
Leben ermöglichte. "Le mort saisit le vif - Der Tote ergreift den Lebenden" - diese Formel aus dem französischen Erbrecht, wonach der
Erbe die Ämter und Verpflichtungen des Ve rstorbenen übernehmen
muß, hat Karl Marx zu der Reflexion veranlaßt, daß wir nicht nur an
Mißständen der Gegenwart leiden, sondern diese Mißstände durch
die Übernahme verbrauchter Attitüden noch verschärfen. Leben
aber - nicht das pathetische Leben zweifelhafter Lebensphilosophen, denen an der Überhöhung Trieb und Willen gelegen ist bedeutet Intensität, die sich gegenüber den Zumutungen des
Schicklichen bewahrt.
Mme Knotterbeck sagt: „Oh mein Gott.“ Und fragt: "Was folgt
daraus?" Ich muß nach diesem Ausbruch erstmal Luft holen und
sage etwas erschöpft: "Man müßte das „Cercle Occitan“ anzünden;
der Wind steht günstig." Hagen Knotterbeck weicht zurück, wirft
mir, nachdem sie sich gefaßt hat, wie üblich Verbalradikalismus vor:
„Immer nur draufhauen, zündeln, angreifen. Mehr fällt euch Männern nicht ein.“ Mehr nicht? Was soll das? Ich habe ihr doch eine
Eins-A-Begründung für die erforderlichen Maßnahmen geliefert. Sie
treibt mich noch in das Verbrechen, wenn sie so weitermacht.
Ich kann mich auch nicht beruhigen, als sie mir vorschlägt, im
„HyperU“ schöne Zutaten zu kaufen, die es mir erlauben, mich rein
gegenwarts- und genußbezogen der Kochkunst zu widmen. Mir
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geht die ständige Kocherei auf die Nerven, und zwar nicht die Kocherei als solche. Es ist vielmehr das Außenbild, das ich dabei abgebe. Denn nichts ist unter den ungezählten Scheußlichkeiten
(diesmal der Gegenwart) abscheulicher als Männer mittleren Alters,
die sich mit wildem und gezüchtetem Rucola abgeben, auf den Wochenmärkten mit Kennerblick das Spargelangebot examinieren, um
sich schließlich von der Marktfrau übers Ohr hauen zu lassen, die im
Büro Lammfleisch-Rezepte austauschen, sich vinologisch geben
und beim Sommelier-Vigneron Maître Rougenez in der Gelsenkirchener Innenstadt ver-kork-sten „Barbera del Montferrato“ gutheißen oder in der Geldwaschanlage Ristorante Polenta über „Sfogliata
di taglierini al tartufo“ fachsimpeln. Ich selbst koche nur deshalb,
weil ich Kochen bei meiner Oma gelernt habe und mir die leichte
Haushaltsführung aus dieser Zeit, da es aufgrund meiner starken
Großmutterbindung noch nicht ausgemacht war, ob ich mal schwul
oder hetero werden würde, beibehalten habe. Heute bin ich weder
schwul noch hetero, ich koche halt, aber ich will nicht mehr galloromanisch kochen und konsumieren müssen, ich will endlich meine
Neigung für Tanner Schwarzbier und Lohrer Keiler offenbaren, ich
möchte mich als Liebhaber von Saarländischen Gefillten, Ensheimer
Hong’kaale-Supp oder von Vogelsberger Beutelches outen, oder
noch besser: endlich zugeben dürfen, daß ich nur noch esse, weil
das mit dem Sex nicht mehr so klappt wie früher, ich mich aber fürs
Sterben noch zu jung fühle, mir also die Zeit bis zum Ableben noch
ein wenig überbrücken muß - mit Essen und Trinken, mit dem Ve rzehr von allem, was auf den Tisch kommt. Wittgenstein erwiderte
auf Vorhaltungen sein ungesundes Essen betreffend, er sei ein
Genießer, der alles gern esse, vorausgesetzt es sei immer das Gleiche. Alice aus dem Spiegelland in Ergänzung zu Wittgenstein:
“Marmelade gestern und Marmelade morgen, aber niemals Marmelade heute." Wittgenstein, als es bei anderer Gelegenheit wieder um
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seine einseitige Nahrungsaufnahme ging: „Die Menschen leben
ohnehin zu lang.“
Mme Knotterbeck: "Wie lange du zu leben hast, wissen wir nicht,
aber wir haben noch einiges vor. Ich möchte heute mal Huhn mit
Kichererbsen. Das mögen auch die Kinder, und das machst du ganz
gut."
Und so kommt es, daß ich an dieser Stelle wiederum nicht mit meinen Paulusstudien aufwarten kann, sondern einmal mehr ein Rezept
vorzustellen habe, das im Gegensatz zu Hagen Knotterbecks umgangssprachlicher Ankündigung kein Huhn, sondern eine Poularde
mit Kichererbsen ist. Und das Rezept stammt nicht von mir, auch
nicht aus provenzalischen Traditionsbeständen, ich habe es dem
"Stern" entwendet, der natürlich - Dementi tut not - nicht zu meiner
üblichen Lektüre zählt. Man benötigt dazu: eine mindestens zweieinhalb Pfund schwere Poularde, eine Dose Kichererbsen mit etwa
500 g Einwaage, eine Zitrone, ein Pfund Zwiebeln, Safran, zwei bis
drei Knoblauchzehen, drei (!) Bund glatte Petersilie, Thymian, Tomatenmark, drei Achtel Liter Gemüsebrühe.
Und so geht's: Die Zitrone schälen und in dünne Scheiben schneiden, Kichererbsen abspülen, Ziebeln zerkleinern; Poularde abspülen, trockentupfen, salzen, pfeffern, mit Zitronensaft einreiben, Beine
der Poularde zusammenbinden.
Die Poularde wird, nachdem sie zuvor kräftig angebraten wurde,
aus dem Schmortopf genommen. Im Bratfett werden nun die Zwiebeln glasig gedünstet, der Knoblauch wird kurz mitgewendet; dann
werden die Kichererbsen, die grob gehackte Petersilie sowie der
Thymian zusammen mit dem Tomatenmark und der Brühe dazugeben. Die Poularde auf das Gemüse-Kräuterbett legen, die Zitronen-
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scheiben um sie herum verteilen. Das Ganze kommt im geschlossenen Schmortopf in den nicht vorgeheizten Backofen und wird bei
225 Grad etwa 40 bis 45 Minuten gegart; danach Deckel abnehmen
und weitere 20 bis 25 Minuten zu Ende garen. Dazu paßt am besten
Weißbrot und ein in der Aldi-Werbung empfohlener Rotwein knapp
unter einem Euro. Weil wir uns aber in Südfrankreich befinden, nicht
wissen, wo es hier einen „Aldi“ gibt, und uns der „Lidl“, den wir in
Bédarieux gesehen haben, zu weit entfernt ist (nahezu 40 Kilometer),
begnügen wir uns mit einer sündhaft teuren Appellation Cacanac
Contrôlée (Name aus juristischen Gründen geändert), der dem Rotwein zu knapp einem Euro nahe kommt.
Der Wind ist noch stärker geworden, ich stelle mir lauthals vor,
der Zimmerbrand im „Cercle Occitan“ hätte unter seinem günstigen
Einfluß ein Inferno in ganz Clermont l'Hérault ausgelöst, womö glich
auf die Cave Coopérative de Cacanac (Name aus juristischen Gründen geändert) übergegriffen und den dort lagernden Appellation
Cacanac Contrôlée (Name aus juristischen Gründen geändert) zu
Glühwein verwandelt. Aber das hätte den Winzern so gefallen, eine
fette Versicherungssumme abzukassieren und noch dazu einen
schlechten Glühwein zu vermarkten. Deshalb breche ich meinen
Tag-, ich meine: Abendtraum an dieser Stelle ab und konzentrierte
mich auf die roten Streifen, die am Horizont auflodern (in Richtung
der Montagne de la Gardiole zwischen Sète und Montpellier). Es
scheint, daß dort die Garrigues (die aus Krüppeleichen, Stechginster, Zistrosengewächsen, Kräutern der Provence bestehende Heide)
in Flammen steht. Hagen Knotterbeck ist über meine Tiraden eingenickt. Ich habe (ich weiß nicht wie lange) ins Leere geredet. Höchste
Zeit, daß ich mir jetzt die Schlafmütze über die Ohren ziehe und mir
eine Mütze Schlaf genehmige.
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Samstag, 8.Juli
Der Wind legt noch einen Zahn zu. Die ganze Nacht hat er um das
Haus getobt, die Läden auf der Westseite fast abgerissen. Auch die
Wetterkarte des "Midi libre" zeigt sich von ihrer windigen Seite: Nur
daß sie, wo Sturm herrscht, Stille verheißt. Sie weiß nichts vom Tosen der Elemente, warnt sogar Surfer und Segler vor stundenwährenden Flauten, die für heute zu erwarten seien. Dies steht in auffallendem Gegensatz zu den Meldungen weiter vorn im Blatt: überall
Feuer im Languedoc und zwar - wie es dort heißt - vom Wind entfacht, bei Mèze, nahe Marseillan, in der Höhe von Bouzigue, vereinzelt in dem fast menschenleeren Gebiet zwischen Clermont und
Montpellier bis hinunter zur Autobahn, wo wir gestern den großen
Brand ausgemacht haben.
Aber was mich (obwohl Pyromane) weit mehr fesselt als die Nachrichten über Brände, ist die Berichterstattung über die gestrige Winzerdemo. Nachdem die Kundgebung in Carcassone bis zum Schluß
friedlich geblieben war, entlud sich am späten Abend der seit langem aufgestaute Zorn in einigen Vandalenaktionen, die stets nach
demselben Muster abliefen: Eine Gruppe Vermummter wirft ein Polizeiauto um, verprügelt die Insassen, und zieht damit das Interesse
des gesamten örtlichen Polizeiapparates auf sich, während eine
zweite, weit größere Gruppe in der Zwischenzeit dem Vorsatz der
größtmöglichen, durchweg zweckgeleiteten Sachbeschädigung
folgt. Das Ergebnis: unter anderem ein zerstörter Bahnhof, eine
plattgemachte Spirituosenzentrale, Brandschatzungen von Speditionen und mehrere Saccages (eine Form der kalten Brandschatzung)
von Supermärkten, darunter auch “unseres” „HyperU“; der kam
allerdings vergleichsweise glimpflich davon: Hier wurden nur die
elektronischen Kassen zerhauen und die Weinregale samt Inhalt
umgekippt.
181
Hagen Knotterbeck möchte ans Meer, der Wellengang sei sicherlich ein Erlebnis für die Kinder. Ich schlage die Corniche in Sète vor,
wo die Küste nicht ganz so vom flachen Sandstrand eingenommen
ist, und die Liegeplätze gleichwohl etwas geschützter sind. Meine
Empfehlung ist nicht ohne Hintergedanken, denn dann kann ich den
Badegang mit einer „sentimental journey“ verbinden: Während die
Restfamilie sich in den Wellen suhlt, bleibt mir viel Zeit, in der Stadt
meinen Erinnerungen nachzuhängen.
Wir taten gut daran, meinem Vorschlag gefolgt zu sein. Die Wellen geben sich an den benachbarten Felsklippen eindrucksvoll und
schmeißen ihre Gicht bis auf die Straße. Andererseits sind die Badebuchten der Corniche vor jenem Südwestwind geschützt, der Riesenmengen Sand von den Flachstränden mit sich trägt und diese
auf die Uferstraßen kippt. Ich lasse Hagen Knotterbeck und die
Kinder im Zentrum der Windhose zurück und kämpfe mich durch die
Zonen hoher Turbulenz zur Bushaltestelle durch. Der Bus wird fast
umgeblasen, so stark tobt der Sturm auf der Route de Béziers, die
sich ungeschützt über dem Strand erhebt. Ich witsche mit einem
halben Zentner Sand ins Wageninnere.
Die Busfahrerin - es ist ganz der Typ Bedienung vom Café an der
Place Aristide Briand, vielleicht ihre Schwester - lacht und gibt Gas,
als wolle sie dem Orkan Konkurrenz machen. Sie entschuldigt sich
jedesmal, wenn sie in die Eisen geht - und sie geht oft in die Eisen,
ständig lassen es irgendwelche Kleinwagen an Respekt missen und
können nur dank der Geistesgegenwart von Madame la Conductrice
vor der Schrottpresse bewahrt werden. Die Bremsen, klärt sie über
den Bordlautsprecher auf, seien so ausgelegt, daß sie gleich blockierten, also bei Verletzungen, Schädeltraumata und sonstigen
Reklamationen sich bitte nicht an sie, die Fahrerin, sondern gleich
182
an die Verkehrsbetriebe wenden. Hinter der Corniche biegen wir in
die Rue Jean Vilar ein und winden uns hinter dem „Cimetière marin“
(wo Paul Valéry, nicht aber Georges Brassens zu Hause ist) den
steilen Weg zum Mont St Clair hoch. Der Motor keucht, Madame la
Conductrice hüpft nervös auf ihrem Conductricensitz herum wie; sie
bedient jetzt noch schnell die letzten Haltestellen weit oberhalb der
Zitadelle, dann geht es nach einem umständlichen Wendemanöver
wieder abwärts, der Bus gewinnt an Fahrt, seine Lenkerin jauchzst
und frohlockt.
Das Können der Fahrerin entwickelt sich jetzt zur Kunst: Sie
nimmt die engsten Sträßchen mit einem mörderischen Tempo. Die
Fahrgäste rechnen unwillkürlich damit, daß dort, wo der Bus eben
vorbeikam, an mindestens 20 Autos die Türgriffe fehlen. Wenn man
mal vom Grad der Beschleunigung absieht, die einem das Gefühl
von Insassen eines abstürzenden Aufzugs verschafft, kann man der
Fahrt durchaus etwas abgewinnen. Vor uns öffnet sich immer wieder
der Blick über den tief unten liegenden Hafen, das Théatre Jean
Vilar, das sich wie eine Trutzburg ins sturmgepeitschte Meer
schiebt. So war es auch vor dreißig Jahren, als ich hier war und zum
ersten Mal die riesigen Brecher im sonst so friedliebenden Mittelmeer sah - die Arena des damals gerade im Fort Saint Pierre neu
installierten Theaters stand vollständig unter Wasser.
Ich war mit Gabor von Saarbrücken hierher getrampt, eine abenteuerliche Fahrt durch den Osten und den Süden Frankreichs. Erst
standen und lagen wir zwei Tage an der Goldenen Bremm, dem
Grenzübergang bei Saarbrücken, wurden dann am dritten Tag nach
Metz mitgenommen, was einer Entfernung von gerade mal 60 Kilometern entspricht (zu Fuß wären wir schneller vorangekommen).
Dann endlich ein Auto, das uns bis Belfort chauffierte. Das war zwar
nicht ganz unsere Richtung, und das Auto war ein alter Citroen H,
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ein Wellblech-Lieferwagen, der nach Heizöl stank (er wurde unterwegs im Fahren mit einer veritablen Kanne für Haushaltsölöfen
betankt). Außerdem entpuppte sich der zunächst freundliche Fahrer,
der uns nach acht Stunden Wartezeit in Metz aufgegabelt hatte, als
holländischer Rauschgifthändler, der uns zur Mitfahrt in die Türkei
oder Afghanistan überreden wollte, aber mitten in der Nacht und
inmitten der Vogesen eine A-conto-Zahlung auf die nichtvereinbarte Mitfahrerbeteiligung verlangte, wobei einige weitere Insassen des
Fahrzeugs, die wir bis dahin noch nicht so richtig registriert hatten,
uns gegenüber eine drohende Haltung einnahmen. In Belfort wurden wir dann gegen Morgen von einer wunderhübschen Pragerin,
die sich nach dem Einmarsch der Russen hier in der Nähe niedergelassen hatte und Milan Kundera als Steilvorlage für eine Handlungsträgerin seiner Romanen diente, nach Besançon mitgenommen.
Dort standen wir erstmal wieder etwas herum – wir waren nun im
sechsten Tag unseres Urlaubs und noch nicht mal bis Burgund
gekommen -, bevor es dann aber flott weiterging. Ein amerikanischer
Student nahm uns in seinen Käfer mit bis nach Südfrankreich, und
er hätte uns mitgenommen bis nach Marokko, wo er den Spuren
Paul Bowles’ und der ganzen damals noch unter Lebenden weilenden Beatnik-Gang nachgehen wollte.
Wir sind einfach in Sète ausgestiegen, weil wir der Meinung waren, daß wir uns von hier aus in aller Ruhe nach einem hübschen
Fischerdorf umtun könnten, wo es sich billig leben ließe, die Töchter
der Fischer hinreichend schön wären und wir uns des Abends beim
ritzeroten Sonnenuntergang einen Rausch mit dem noch tieferroten
Rotwein genehmigen würden, einem Rotwein zumal, der preislich die
algerischen Spitzenlagen noch unterböte. Stattdessen blieben wir in
Sète, es gab nur unnahbare Einwohnerinnen, schlechten Shit und
dreckige Hippies, die von Tanger (dem hipsten Reis eziel, das es
184
damals überhaupt gab) kamen oder nach Tanger wollten oder von
Tanger träumten, aber es nie bis nach Tanger schafften.
Ab und zu waren wir gezwungen, die imaginären Zelte (wir schliefen unter freiem Himmel, aßen rohe Muscheln und zur Abwechslung
mal Pommes vom Restaurant oben an der Küstenstraße und tranken
Rotwein für 80 Centimes der Liter) abzubrechen, dann nämlich, wenn
die Gendarmerie befand, daß solches Gesocks wie wir schleunigst
ein anderes Urlaubziel zu suchen hätte. Wir sind dann der Aufforderung jedesmal gern nachgekommen, weil wir auf Urlaub hinter Gittern, den immer eine repräsentative Auswahl von uns antreten durfte, keineswegs erpicht waren. Allerdings wechelten wir nicht denUrlaubsort, sondern mieteten uns dann vorübergehend in einer Herberge ein, die in der Rue Franklin lag, jener Rue Franklin, durch die
soeben mit eingezogenen Außenspiegeln der Bus donnert.
Es ist tatsächlich die Rue Franklin - leider kann ich bei dem Tempo
nicht das Anwesen sehen, wo wir damals “geunnert” haben. Madame la Conductrice balanciert jetzt den Bus mit deutlich gedrosseltem Tempo durch die Altstadt. Sie hüpft erneut auf ihrem Conduktricenstuhl herum. Es ist nicht Nervosität, die sie aus dem Sitz
katapultiert - sie muß auf die Außenmaße acht geben und sich zu
diesem Zweck mal weit nach rechts mal weit nach links beugen, die
Außenspiegel bleiben eingezogen, keine Chance, sie bei diesen
Straßenverhältnissen ihrer Bestimmung gemäß einzusetzen. Dann
und wann tauscht die schöne Fahrerin an den Straßenecken mit
irgendwelchen Bekannten Neuigkeiten aus oder plaudert einfach mit
ein paar unbekannten Passanten; der Fahrplan hat ohnehin nichts
zu sagen, wir können froh sein, daß uns ein falsch geparktes Moped
nicht noch größere Zwangsaufenthalte beschert. Der Anlaß des
Schwatzes ist meistens eine brenzlige Situation: Das war aber knapp.
Knapp meint, knapp an der Schramme vorbei.
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An den Halles steige ich aus, um noch einmal das Flair von Sète
einzuatmen. Schöne Mädchen wie damals. Obwohl man an dieser
Stelle einwerfen muß, daß die Mädchen von Montpellier seinerzeit
schöner war. Dem bekannten Historiker Emmanuel Le Roy Ladurie
verdanke ich den Hinweis auf eine mögliche Erklärung des Namens
Montpellier: Monpuellarum - die Stadt der schönen Mädchen. Die
Bevölkerung Montpelliers ist in den letzten dreißig Jahren durch
Zuwanderung um gut 500 Prozent gewachsen, so daß es heute eher
schöne Maghrebinerinnen, Antillerinnen und Senegalessinen, nicht
mehr aber die schöne Montpelliéraine gibt. In Sète dagegen ein
Hauch von Bella Italia: Die Ureinwohner stammen aus Italien. Selbst
Paul Valéry und George Brassens haben italienische Vorfahren.
Tausende sollen es gewesen sein, die im 17. Jahrhundert nach Fertigstellung des Canal du Midi (der hier seinen Ausgang nimmt) den
Grundstock zur italienischen Kolonie gebildet haben. Deshalb ist
auch heute noch in Sète manches anders als anderswo. Viele Gerichte passen eher zu Neapel als zum südfranzösischen Umland, die
Leute sind vom Größenwachstum trotz des evolutionsbedingten
Schubes, der die Wohlstandsvölker derzeit heimsucht, immer noch
hinter dem Landesdurchschnitt zurückgeblieben, die Mammas sind
halt Mammas und keine vertrockneten Pariserinnen “d’un certain
âge“.
Verschwunden aber sind die Fischerfamilien, die in den kleinen
Cabanes oberhalb der Grande Rue Haute und so auch in der Rue
Franklin wohnten, jene liebenswürdigen Nachbarn, die uns damals
beinahe täglich frischen Fisch schenkten, Fische aller Sorten, Farben, Fischgerüche - kein langweiliger Edelfisch, dessen Bestimmung
es ist, sich mühsam an hochgetunten Sättigungsbeilagen abzustützen. Wir haben die Präsente immer weggeschmissen, weil es uns
zum einen unzumutbar erschien, den Fisch zu entschuppen und
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auszunehmen, und weil wir zum anderen gar nicht wußten, wie er
zubereitet wird, und zum dritten, weil wir Angst vor galleartigen
Rückständen oder sonstwelchen Epizentren fischiger Geschmackserregungen hatten. Wir haben uns aber jedes Mal gestenreich bedankt und nie zu erwähnen vergessen, wie gut er uns gemundet hat,
der Fisch; Dank und Anerkennung, die uns beim nächsten Mal
noch größere Portionen bescherten.
Laut war es, die Mammas schwatzten und klatschten ohne Ende,
die Jungs prügelten sich um die Mädchen oder um „disques bleus“
(die Zigaretten aus der staatlichen Regie) oder um Kofferradios oder
was weiß denn ich; und wenn ihre Väter ausgeschlafen und das
Rotweinfrühstück eingenommen hatten, spielten sie noch etwas mit
der Quetschkommode auf, stimmten melancholische Lieder an, aus
denen ich heute (aber nicht damals) die nicht stillbare Sehnsucht
nach Bella Italia heraushöre. Dabei ist heute gar nichts mehr zu
hören. Der Lärm der Autos und der Mopeds ebbt oberhalb der
Markthallen und der Geschäftsstraßen zwischen Quai Général Durand und Rue Gambetta deutlich ab.
Selbst die Grande Rue Haute, die auf halber Höhe parallel zu den
Quais verläuft, wirkt leblos, wird nur von mäßigem Verkehr durchzogen. Keine Gemüsegeschäfte mehr, keine Fisch- und Zeitungshändler, keine Bäckerei, kein Metzger - auf Nimmerwiedersehen verschwunden das liebevolle Durcheinander, das nicht mehr zu steigernde Chaos, in das man geradezu lustvoll eintauchen konnte.
Heute kalte, geschlossene Fassaden, hinter den Fenstern junge
maghrebinische Paare und dann und wann eine der einsamen Omas,
die damals im blühenden Mamma-Alter waren, und deren Söhne und
Töchter längst in Montpellier, Marseille oder Paris und deren Männer schon seit vielen Jahren überhaupt nicht mehr leben. Ich steige
zur Rue Franklin hoch, orientiere mich an der Kirche, die unsere
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Herberge überragt hatte und bin endlich dort, wo wir trotz der Ratten, des Fischgestanks, der maroden Betten und der Stehklos uns
so wohl fühlten. Es ist nichts mehr vom Charme der Freiheit in Dreck
und Entbehrung geblieben. Heute steht dort eine Résidence, ein
Wohnhaus mit Eigentumswohnungen, bei dessen Fertigstellung
sicherlich mit dem Blick auf das Meer und der attraktiven Altstadtlage geworben wurde.
Wo wir einst mit den anderen Gästen nächtelang alberten, mit den
zwei Mädchen vom Nederlands Dance Theater, mit der Theaterkommune aus Berlin (ich glaube, der junge Otto Sanders war dabei)
mit Daniel, dem Anarchosyndikalisten von Renault-Billancourt, der
grundsätzlich nur weiße Bohnen aus der Dose aß und mit seinem
neuen Finnenmesser Jagd auf die Ratten machte (die er bei der Ve rfolgung als Flics beschimpfte), mit den beiden Schwestern aus Irland, die mit Hilfe von Eßlöffeln und ihren massiven Oberschenkeln
eine hybride Kastagnetteneinlage gaben, mit Joan, der Amerikanerin, die einige Jahre später in Antonionis Film “Zabriskie Point” die
Rolle der Daria gab (oder hätte geben können) und die uns vom
Monterrey Pop Festival erzählte, mit Danielle, der kleinen Kaufhausdiebin, die aussah wie Miou-Miou in Alain Tanners "Jonas",
und die eines Tages von der Polizei verhaftet wurde. Dort, wo sich
alle diese Durchgeknallten, Außenseiter mit den Unbedarften (Gabor
und mir) ein Stelldichein gaben, dort ist heute die Garagenausfahrt
der gehobeneren Wohneinheiten.
Die Auberge war ursprünglich ein Gemeindezentrum, das die Kirche zu Zeiten, als es noch Arbeiterpriester und „aktionen 365“ gab,
errichten ließ. Der Schlafsaal für die Gäste männlichen Geschlechts
war der ehemalige Kinosaal, die Berliner wohnten im Vorführraum,
Männer und Frauen zusammen, was der Karikatur von einem Pfarrer,
die einmal die Woche mit dem Gemeindevorsteher die Miete kassie-
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ren kam, überhaupt nicht schmeckte. Die Mädchen waren in einem
rückwärtigen Gebäudeteil untergebracht, natürlich gab es Arrangements gegen die Geschlechtertrennung, aber im großen und ganzen
war man aufgrund fehlender koedukativer Erfahrung noch etwas
ungeübt und akzeptierte die von der Kirche gezogene Schicklichkeitsgrenze. Immerzu waren die Klos verstopft, fiel die Dusche aus,
war das Wasser aus dem langen Waschbecken noch nicht mal zum
Fußwaschen geeignet. Aber das nahmen wir gern in Kauf, all das
war besser als die verlauste weiter unten gelegene Jugendherberge,
wo sich die ewig bekifften Gäste gegenseitig beklauten, ihre Parasiten austauschten und sich Schlägereien um verdorbene Wurstwaren lieferten.
Hier in der Rue Franklin herrschte die Atmosphäre einer Großfamilie, man teilte sich den Rotwein und den Käse und gab sich der
Illusion hin, so würde es ewig weitergehen. Ich spreche zwei Passanten an, die vom Alter her vielleicht noch Auskunft geben könnten über das Schicksal der Auberge, ihrer Nachbarn... Nur müdes
Achselzucken. Sind alles Zugezogene hier, haben auch wenig Kontakt untereinander, man lebt so und das ist doch “pas mal” oder?
Ich mache ausnahmsweise ein paar Fotos, von dem, was nicht mehr
zu sehen ist, und von dem, was an seine Stelle getreten ist. Tempora
mutantur, Schwamm drüber und zurück zum Strand.
Hagen Knotterbeck hat mit den Kindern schon im nahen Wellblechrestaurant Platz genommen und das Mittagsmahl geordert. Ich
esse eine Portion Muscheln, sie schmeckten wie tagelang von Holland hierher transportiert. Hätte es mit Hagen halten und mich für
auf Rebholz gegrillte Sardinen entscheiden sollen. Nur die „éperlans“, die ich als Vorspeise hatte, waren von guter Qualität, aber da
kann man ja nun wirklich nichts falsch machen. Eperlans, die im
Deutschen „Stinte“ heißen, sind kleine, allenfalls zwei Zentimeter
189
lange Silberfischchen, die fritiert oder gepökelt mit Haut und Haaren
gegessen werden (von Gräten zu sprechen, verbietet sich bei der
subatomaren Größe dieses Speisefisches). Die ersten ihrer Art habe
ich in August Zieglers Partykeller gegessen. August, ein Schulkamerad, hatte beim Zoll in Habkirchen einen Rieseneimer organisiert.
Damals besserten sich die Zollbeamten durch Verkauf von beschlagnahmtem Gut ihr kärgliches Gehalt auf. Gefragt waren von den
Abnehmern des Hehlergutes natürlich Zigaretten, Pernod und Cognac. Zu Hause hatten wir immer 80prozentigen weißen Cognac. Er
stammte aus Beständen, die zur Minimierung von Transportkosten erst kurz vor dem Verkauf „gestreckt“ und dann verbrauchergerecht
eingefärbt wurden. Mein Onkel Sepp, der als Kind in eine Wanne
mit Löschkalk gefallen war und sich dabei die Schleimhäute mitsamt
der Geschmacksnerven verätzt hatte, war ganz scharf auf das Zeugs,
weil ihm dieses Empfindungen bereitete, die harmlosere Spirituosen
nicht mehr zu bieten in der Lage waren. Die „éperlans“ waren übrigens der große Hit, die Mädchen kamen von weither, um uns beim
Verzehr zu unterstützen. Dazu muß man wissen, daß damals - wir
sprechen von den 60er Jahren - gerade „Goldfischli“ von „Wolf an
der Bergstraße“ als Partygebäck schwer en vogue waren („Stixis“
und die Salzstangen anderer Hersteller galten als spießig, besonders
in der Kombination mit Käsewürfel), aber gegen die „éperlans“
konnten Wolf-Produkte natürlich nicht anstinken.
Abends noch ein Anruf bei Colette und Bertrand: Ich frage, ob wir
bei unserer Rückreise vorbeikommen könnten. Das geht nicht, sie
werden sich in der fraglichen Zeit wegen Verhandlungen mit einem
Sponsor in Paris befinden. Ich wünsche dem Sponsor, äh Bertrand
viel Glück, und nehme die Gelegenheit wahr, sie nach ihrer Meinung
zum Kampf der Winzer zu befragen. Bertrand vertritt die Ansicht, es
müßte weniger auf die Gesundheit geachtet werden (typisch) und
wieder mehr getrunken werden in der Welt. Dann hätten alle ihr
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Auskommen: die Kalifornier, die Italiener, die Franzosen, die Ukrainer...”Ukrainer?” “Gehört die Krim denn nicht zu der Ukraine? Wenn
nicht, dann halt die Russen statt der Ukrainer. Können doch beide
viel vertragen.”
Colette findet, daß die Winzer an ihrer Misere selbst schuld sind.
Jahrelang den Staat in Geiselhaft zu nehmen (ich verschweige aus
Schamhaftigkeit mein eigenes Erlebnis von vorgestern), und jetzt als
ultima Ratio die Randale zu wählen, ist starker Toback. Statt eine
richtige Revolution zu machen, “eine richtig schöne Revolution,
Château d’Yquem für alle, Zuckererbsen für jedermann, bis daß die
Schotten krachen - hat das nicht euer Henri Heine gesagt? - und
jeden Tag Weinfest, mit dosiertem Terror, zum Beispiel Hugh Johnson an die Laterne und Henri Gault zusammen mit Christian Millau
aufs Schaffott...” Ich sage: “Kann dich gut verstehen, aber gehst du
da nicht ein bißchen zu weit?” “Ach was, wir Gallier könnten mal
wieder eine ordentliche Insurrection gebrauchen. Besser, ihr Germanen haltet euch dabei raus.” Ich sage: “Asterix und die Große Revolution...” Colette: “Spaß beiseite. Der Kardinalfehler der Winzer, aber
auch von so Leuten wie José Bové - die sich im übrigen gar nicht
riechen können - besteht darin, das sie gegen Konkurrenten ankämpfen und nicht gegen ihre eigene Enteignung.” Ich: “Enteignung?” Colette: “Ja, das sind doch Sandkastenspiele, Roquefort
gegen Wopper, Côtes du Roussillon gegen Zinfadel. In Wirklichkeit
werden die Bauern, seit sie sich von den Feudalherren befreit haben,
immer wieder aufs Neue enteignet. Immer mehr wird ihr Patent, für
die pflanzliche und tierische Reproduktion zu sorgen, ausgehebelt
und an die Saatguthersteller und Genfabriken übertragen. Sie verlieren ihre Lizenz zur Lebensmittelherstellung, und die Konzerne gewinnen die Lizenz auf Leben. Dabei waren es die Bauern und ihre
Vorfahren, die über Jahrhunderte diejenigen Kulturen herangezüchtet haben, auf denen die Konzerne jetzt aufsetzen. Oder wie würdest
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du es bezeichnen, wenn man für Möglichkeiten, die allen zustehen,
plötzlich Lizenzgebühren bezahlen mußt, hein? Nichts anderes machen Saatguthersteller, die biologische Uhren in ihre Produkte einbauen, kleine Zeitbomben, die das Keimmaterial abtöten, wenn die
Jahresgebühr nicht bezahlt wurde. Ich nenne das Piraterie.” Ich:
“Das kommt mir doch bekannt vor. Ich habe neulich einen Monsieur
Porte... ” Colette: “Warte, noch eine Bemerkung: Das ist nicht, wie
Bové behauptet, ein Kulturkampf, sondern ein Kampf um die Natur.
Bové will die Kultur naturalisieren; es kommt aber darauf an, die
Natur zu humanisieren. Und die neuen Herren sind dabei, statt sie zu
humanisieren sie gleich ganz abzuschaffen. Solltest mal jemanden
von der ‚Encyclopédie des Nuisances‘ sprechen...” Ich: “Von was
bitte? Von der Enzyklopädie der Schädlichkeiten?” Colette: “Ja, das
ist eine Gruppe von Bauern um René Riesel und anderen...” Ich:
“Alt-68ern natürlich...” Colette: “..., die das ein bißchen besser blicken als ein Herr Bové, der jetzt im Fernsehen auftritt als Käsespezialist wie euer Bio als Küchenexperte. Was wolltest du mir über deinem Monsieur..., wie hieß er nochmal, sagen?” Ich: “Ach laß’ es
Colette, ich dank’ dir, das mit 68 ist mir für heute ein bißchen zuviel
des Rückblicks, aber das verstehst du nicht, das ist eine andere
Geschichte. Mach’s gut.”
Sonntag, 9. Juli
Zur Feier des Sonntags begleitet mich Hagen Knotterbeck beim
Broteinkauf. Sie sagt das nicht so offen, will wohl Madame Simone
kennenlernen und unser ideelles Bratkartoffelverhältnis einer Inspektion unterziehen. Vor der Alimentation warten schon an die
zwanzig Dorfbewohnerinnen, Madame Simone ist dummerweise
nicht darunter. Das löst bei Hagen naturgemäß Argwohn aus. Mit
halbstündiger Verspätung erscheint Monsieur le Boucher, unrasiert
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(wie man sieht) und ungewaschen (wie Hagen vermutet). Sofort
nachdem das Ladengitter beiseite geschoben ist, kommt meine
Freundin angetrabt - ihre IMs haben ihr sicherlich Meldung erstattet, daß der Sturm auf die Backware losgeht. Es ist wie im Sommerschlußverkauf: Madame Simone und die Schar ihrer Geschlechtsgenossinnen (minus Hagen) stürzen sich auf eine Etagère,
die Monsieur le Boucher inzwischen mit süßen Teilchen belegt hat.
Sie befingern diese, wägen sie ab, analysieren die Unterseiten auf
Backschäden, schlecken sich die Finger, untersuchen neue Teilchen, bevor sie sich endlich zum Kauf entschließen. Zurückbleibt
ein klebriger Bodensatz von Blätterteig und kandierten Früchten.
Aufgrund des hohen Kollateralschadens in der Backecke verzichten
wir auf Süßware und beschränken uns auf das übliche Baguette.
Artig mache ich Hagen mit Madame Simone bekannt, Hagen muß
Madames klebriges Händchen schütteln, was mir nachher mit Sicherheit eine bissige Bemerkung eintragen wird. Aber gut für mich:
Das Phantom Simone demaskiert sich, und eine quirlige, an Hagens
Sympathie appellierende Alte kommt zum Vorschein. Madame parliert in anmutigster Weise über das Wetter, alle parlieren über das
Wetter - „un temps exceptionnelle“. Die derzeit in Griechenland und
der Türkei grassierende Hitzewelle - darin ist man sich einig - gehört
dort gar nicht hin, sondern hierher in den Süden Frankreichs. Das ist
doch blamabel, was man derzeit den Nordlichtern bieten kann. Aufgeregt diskutiert wird der Feuerstand an der Rhônemü ndung: In der
Nähe von Marseille sind gestern nämlich zwei Feuerwehrleute bei
der Bekämpfung eines Flächenbrandes ums Leben gekommen.
Am Chemin des Roques kommt uns ein Motorradfahrer entgegen,
er im Integralhelm, sie im ...(ja ist es denn die Möglichkeit?), sie ist
eine Pudeldame und sitzt auf dem Tank zwischen den behaarten
Pranken ihres Liebhabers, ihr (ich vermute: frisch onduliertes) Köpf-
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chen von einer hundespezifischen Helmkreation geschützt. Das
Wetter scheint Perverse anzuregen und Brände zu begünstigen. Die
Touristen leiden unter den raschen Wechseln zwischen Kalt und
Warm, Regen und Traufe, Sonne und Wolken. Die Einheimischen
macht dieser Sommer ratlos - so was hatten wir noch nicht, sagen
sie, was in Kenntnis der Redeweisen, wonach früher alles besser
war, wenig glaubhaft klingt. Wen das Wetter ebenfalls in Verzweiflung stürzt, das sind die Zikaden. Sie stellen bei jeder Wolke ihr
Konzert ein, legen beim geringsten Sonnenschein wieder los, um bei
einer weiteren Wolke abermals zu verstummen. Sie wissen nicht,
wann sie morgens starten und wann sie abends aufhören sollen,
machen selbst im Dunkeln weiter, wenn der Tag nicht ausreichend
Gelegenheit zum zikadenhaften Tun geboten hat.
Bei einer stabilen Hochdrucklage, wenn die Zikaden ohne Unterlaß von morgens sieben bis abends acht am Werk sind, wirkt ihr
Kettensägen viel weniger störend als bei wechselhaftem Wetter,
wenn die Kadenzen sich mit dem Wechsel von Sonne und Wolken
jagen. Bei den Zikaden handelt es ich, wie ich den täglichen Sendungen eines Zikadensachverständigen von „Radio France Hérault“
entnehme - um eine Sammelbezeichnung, deren größte Unterart die
Kaiserzikade (Pomponia Imperatoria) darstellt. (Einschub von mir:
Wieso diese von uns Deutschen zu früheren Zeiten auch als Singzikade bezeichnet wurde, bleibt mir unerfindlich. Ihr Geknarre und
Geratsche kann unmöglich wohlgefälliger als heute gewesen sein.
Wesentlich besser ist die Eindeutschung der gesamten Familie in
"Kerfe": Allein das Wort “Kerf” klingt eher danach, wie sie klingen,
obwohl es ja sämtliche Kerbtiere benennt.)
Im Hérault existieren etwa zehn Unterarten. Die kleinste ist der
knapp ein Zentimeter messende Pygmäenkerf („cigale pygmée“), der
sich vorwiegend im Trockengras des Hinterlandes aufhält. Die größ-
194
te ist die Pinienzikade mit bis zu sieben Zentimeter Körperlänge und
einer Flügelspannweite von fast 18 Zentimetern, kommt also eher
der Kaiserzikade nahe, heißt aber hier seltsamerweise „Cigale
plébénienne“, ist also vom Namen her das genaue Gegenteil eines
Kaisers.
Die gängigste Art ist die Es chenzikade („cigale du frêne“). Die Zikaden sind (bei Sonnenschein) deshalb im Dauereinsatz, weil sie
innerhalb der kurz bemessenen sommerlichen Kernzeit - und das
sind knapp vierzig Tage - freien, heiraten, die Ehe vollziehen und
ihre Nachkommen in die Welt setzen müssen. Das bedeutet für die
Männchen, stundenlang mit ihrem Singapparat auf die bekannt
entsetzliche Weise zu musizieren, mit einer Trommelhaut, die sie
durch Muskelkontraktion in Schwingungen versetzen und diese mit
ihrem Resonanzkörper aus Chitin verstärken. Wenn sie Glück haben,
kommt das das von den Beats erregte, durch einen dicken Brummbaß sich ankündigende Weibchen angeflogen und läßt sich alsbald
von dem Krawallbruder besteigen.
Die Zikaden ernähren sich - so der Zikadensachverständige, dessen Stimme im übrigen reichlich zikadenhaft klingt - von Pflanzensäften. Sie gehen dabei ähnlich vor wie die Stechmücken beim Menschen. Sie stechen den pflanzlichen Wirt an und nehmen die Säfte
auf, die - wenn sie im Falle der Esche verharzen das berühmte, in der
Bibel erwähnte Manna bilden. Soweit der Zikadensachverständige.
Im Garten des „Château Pohl“ gibt es etliche Bäume, vor allem der
Eukalyptus seitlich der Terrasse, die durch Zikadenbefall erhebliche
Schäden davongetragen haben. Jean Paul erwähnt in seiner Erzählung „Das Kampaner Tal“ (die übrigens bei Campan in den Hochpyrenäen spielt) einen „Warzenheuschreck“, der Warzen frißt und mit
seinem „korrosivischen Ätzmittel“, die er in die Wunde pumpt, die
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weitere Warzenbildung verhindert. Jean Paul nahm dabei zweifellos
die Zikade zum Vorbild, über die er aber nichts Genaueres wußte, so
wie er auch das Tal von Campan nur aus einem englischen Reis eführer kannte. Was ihm vollkommen entgangen war, ist der Lärm,
den die vorgeblichen „Warzenfresser“ machen. Er hätte, wäre ihm
das bewußt gewesen, natürlich nicht die Nützlichkeit des Kerbtieres
betont.
Ich jedenfalls freue ich mich, wenn die Vögel des Himmels einfallen und unter heftigem Schilpen (ein Wohllaut in meinen Ohren) den
Schädlingen den Garaus machen. Natürlich freue ich mich hauptsächlich in eigener Sache, denn der Lärm ist manchmal so groß, daß
ich zur Selbsthilfe greifen muß und mittels starker Schläge gegen die
Äste ihr Konzert unterbreche. Merkwürdig ist, daß ihre akustischen
Ausscheidungen viel intensiver wirken, wenn man nicht in Front zu
den Viechern steht, sondern ihnen nur ein Ohr zuwendet; dann wird
man bei einer Distanz von unter drei Metern ihr Krächzen wie eine
akustische Killerbombe empfinden. Der Mensch ist wohl ein nur
bedingt ein stereophones Wesen, müßte, um seinen Evolutionsvorteil zu optimieren, so hören wie die Hühner sehen, ständig den Kopf
hühnerhaft bewegend, um die Umwelt besser wahrnehmen zu können.
Professor Dimitri Oreillopoulos, ein Bulgare, hat darauf als erster
im Jahr 1906 hingewiesen. Obwohl er seine These im 1. Weltkrieg an
hörgeschädigten Kriegsopfern verifiziert zu haben glaubte, sah er
sich sowohl von militärischer Seite als auch seitens der Wissenschaft starken Angriffen ausgesetzt. Die Militärs verübeltem ihm
seine Empfehlungen, Infanteristen eine Hühnermotorik anzutrainieren. Dem Professor wurde Sabotage vorgeworfen, und er entging
nur deshalb der Militärgerichtsbarkeit, weil unterdessen die Materialschlachten individuelle Körpertechniken obsolet gemacht hatten.
196
Was die Wissenschaft betraf, so wurde gegen ihn geltend gemacht,
daß bei hühnerhaftem Gebaren die nach vorne gerichteten Augen in
ihrer Funktion beeinträchtigt würden: Wenn Hühnerohren, so
brachte dies einer seiner Gegner auf den Punkt, dann auch Hühneraugen. Die Konferenz, auf der dies zur Sprache kam, endete - am
Rande bemerkt - in einem Chaos, weil mehrere Koryphäen der Ohrenforschung dies als Anspielung auf ihr Fußleiden mißverstanden.
Andererseits wurden gewisse Erkenntnisse von Oreillopoulos bei
der Entwicklung der sogenannten Schallkanone gemacht, einem
System von Parabolspiegeln zur Bündelung von Druckwellen, aus
dem in den letzten Kriegstagen Naziexperten um Dr. Wallauschek
eine neue Wunderwaffe kreiieren wollten. Professor Oreillopoulos
geriet zunehmend in die Isolation, erlebte es leider nicht mehr, daß
neuere Erkenntnisse über die Wirkungsweise der Synästhesie einige
seiner umstrittenen Thesen rehabilitierten. Kurzum, es scheint was
dran zu sein, daß wir mit den Ohren sehen und den Augen hören.
Ich kann das nur bestätigen, denn wenn man der Zikaden ansichtig
wird, klingen diese viel lauter, als wenn sie nicht zu sehen sind.
Auch in den Gorges d’Héric, unserem heutigen Ausflugsziel gut
50 Kilometer westlich von Péret, huldigen die Zikaden ihrem dissonanten Tun, als müßten sie für eine kommende Eiszeit vorarbeiten.
Der Himmel hat sich indessen hinter Poujol-sur-Orb aufgehellt; die
windgeschützen Gorges wirken auf uns wie ein Feuerofen. Wir
durchqueren die malerische Schlucht mit dem munter plätschernden
Héric und quälen uns am Ende des Engtals zusammen mit vielen
Touristen und deren Hündchen bergan. Vor uns keuchen zwei
„vieux babas cools“, monströse, im Hippielook der 60er Jahre gewandete und vollkommen aus dem Leim gegangene Sechzigjährige,
die sich auf dem Weg mit seiner 45-Grad-Steigung in offenen Sandalen abmühen, dabei aber den „p’etit caniche“, den auch sie auf dem
Arm tragen, nicht in Bodenkontakt kommen lassen. Das Ziel all
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dieser Herrschaften ist eine alte, wunderhübsch gelegene Bergerie,
wo eine etwas schlamperte, aber freundliche Alte mit ihrem völlig
abgerissenen Sohn Cola in Dosen und lieblos belegte Sandwiches
zu Wucherpreisen anbietet.
Wir machen, daß wir schnell wieder ins Tal kommen, nicht nur
wegen der Preise und dem unbequemen Sperrmüll-Mobiliar, sondern
auch, weil es in dieser - immerhin fast siebenhundert Meter hochgelegenen - „refuge“ (wie sich der Ort hochtrabend und hochgebirgsmäßig nennt) empfindlich kühl ist. Unten am Flüßchen angekommen,
lassen wir uns an einem der letzten freien Naturbadeplätze des Héric
nieder, das heißt Hagen und die Kinder lassen sich nieder, während
ich zum Auto geschickt werde, Badeklamotten, Kühltasche und
Gummienten zu holen. Der Badeplatz ist, das kann man trotz der
widrigen Begleitumstände nicht anders sagen, wunderschön - die
Begleitumstände sind die laut mampfenden, schwatzenden, ihren
Kindchen und Hündchen Anweisungen erteilenden Franzosen, die es ist, nicht zu vergessen, Sonntag - auf Tuchfühlung mit uns logieren.
Die Kinder plantschen derweil in den großen Badewannen, die
das Wasser hier aus dem Fels gespült hat, springen von den Felsen
in die bis zu drei Meter tiefen Erosionskessel, klettern auf riesige
Kieselsteine, die der Héric in unvordenklicher Zeit hier abgelagert
hat. Die unliebsamen Begleitumstände verschwinden sehr bald, weil
sie sich von noch unliebsameren verdrängen lassen. Denn auftritt
eine Gruppe von etwa 16jährigen Mädels und Jungs, die sich als
Pfadfinder verkleidet haben und aus Neustadt an der Weinstraße
stammen.
16jährige von heute, selbst und gerade wenn sie aus Neustadt an
der Weinstraße stammen, sind massiv und übergewichtig. Das
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macht sich besonders unvorteilhaft bemerkbar, wenn sie von den
Felsen ins Wasser platschen und - wie in diesem Fall - mit ihrer
Wasserv erdrängung uns und die französischen Familien mitsamt
ihren Hundchen kalt abduschen. Von den Felswänden hallen zudem
die Wortkaskaden im original Pfälzer Idiom wider und begraben uns
und die Franzosen unter sich. Vor soviel teutonischem Furor nehmen letztere bald Reißaus, erstaunlicherweise ohne Murren und
Wehklagen, ohne verbale Rückzugsgefechte und Drohgesten, sie
verdünnisieren sich einfach. Wir aber müssen uns aus den Pfälzer
Kehlen das Lied von den zehn nackten Friseusen anhören, haben
leider keine Verständnisprobleme, als Olaf, das Schweinchen Dick
der Bagage, seinen Schniedel verkühlt, und wir auch sonstigen
Unmuts- und Begeisterungsschreien ungeschützt ausgesetzt sind.
Es ist nicht zum Aushalten. Wir geben durch Zwischenrufe zu verstehen, daß es sich bei uns zwar um keine Pfälzer handelt, wohl aber
um Zeugen des Geschehens, die unbedachte (auch auf Pfälzisch
gemachte) Äußerungen mit all ihren Nuancen interpretieren und
gegebenenfalls gegen ihre Urheber verwenden könnten. Das löst
den Entzückungsschrei aus: “Ah Londslait.” Gefolgt von einem
skandierten: “Doitschlond, Doitschlond, iwweroll.” Doch Mäßigung
der ausgelassenen Wasserspiele bringt das nicht. Als wir aufgrund
des Lärmens selbst die Zikaden nicht mehr verstehen, diskutieren
wir, wer der Raserei Einhalt gebietet.
Hagen Knotterbeck war im früheren Leben „Saftschubse“ bei
Lufthansa (wie Thekengänger in Sachsenhausen die dort zahllos
vagabundierenden Stewardessen nennen) und hat in dieser ihrer
Funktion durch fein abgestufte Eskalationsmaßnahmen schon viele
randalierende Fluggäste zur Strecke gebracht. Ich dagegen neige zur
konfliktscheuen Besonnenheit. Außerdem handelt es sich um “Pälzer”, gegen die ich als gebürtiger Saarländer eine nicht zu überbrückende Abneigung verspürte, und das könnte bei allzu hochdosier-
199
tem Schneid ins Auge gehen - angesichts der Überzahl in mein Auge selbstredend. Bei dieser Gelegenheit etwas zum Ve rhältnis Saarländer-Pfälzer: Die Genealogie der Abneigung ist leider nicht mehr
zu ergründen. Sie als wesensbedingt oder natürlich zu apostrophieren, hat jedoch einen unstatthaften metaphysischen Restgehalt.
Insofern, als sie im Kern durchaus geschichtliche Ursachen hat: Der
beliebte Kampfruf “Uff die Bääm, de Pälzer kumme” resultiert nicht
etwa aus jener Zeit, als der Saarländer, den es in dieser Entität nicht
zu allen modernen Zeiten gab, mit seinen Kulturleistungen (Barockarchitektur Stengels, Deutsch-französischer Garten, Lyoner, Klicker,
französische Lebensart, Verwendung von Fachvokabeln wie Parapluies und Rideaus sowie vieles mehr) gegen die in barbarischem
Zustand gebliebenen Pfälzer auftrumpfen konnte. Vielmehr stammt
dieser Spruch aus der unseligsten aller Zeiten - Schande über uns - ,
als dem Saarland nach seinem freiwilligen Anschluß an das Nazireich nicht wie erhofft die Gauleitung zufiel, sondern diese einem in
(ausgerechnet) Neustadt an der Weinstraße residierenden Pfälzer.
Die Abneigung resultiert mithin aus dem Liebesentzug des Reiches
und nur zu einem geringen Teil stammesanthropologischer Unverträglichkeit. Dies zu erwähnen war mir aus Gründen des Wahrheitsgebotes wichtig, doch schnell zurück zu den „Pälzern“ in den Go rges d’Héric.
Hagen Knotterbeck zieht also sämtliche Register der Beeinflussungskunst und redet auf die Jungs und Mädels ein, mit einer bewunderswerten Mischung von Appell an die erwachsene Vernunftstruktur und zeigefingerhafter Vorhaltung, ein Verfahren, das sich
auch bei unartigen Kleinkindern bewährt. Ich fürchte zunächst, daß
diese Modulation von Drohung und herrschaftsfreiem Diskurs ins
Auge geht, in Hagen Knotterbecks Auge, aber - oh Wunder - die
„Pälzer“ geben sich alsbald zerknirscht und entschuldigen sich für
den aus ihrer Sicht unwahrscheinlichen Fall, daß sie etwas über die
200
Stränge geschlagen hätten. Ja, man kann sagen, sie kuschen regelrecht; das geht soweit, daß sie sogar unsere Kinder in ihre inzwischen stark gemäßigten Wasserspiele einbeziehen. Es hat den Anschein, daß sie jetzt regelrecht erleichtert sind, nicht als die bösen
Pfälzer Buben und Mädchen im Feindesland auftreten müssen; ich
bin mir gleichwohl sicher, daß sie ihre frisch erworbenen Hemmu ngen fallen lassen werden, sobald Hagen Knotterbeck außer Sichtweite ist.
Wie wir auf dem Rückweg feststellen, waren wir mit unseren Pfälzern noch gut bedient gewesen. Schon in der nächsten Flußschleife
tagt eine laut grölende, stark alkoholisierte Truppe, deren Herkunft
ich dem Norden der holländischen Provinz Friesland zuordne. Allem
Anschein nach sind die besoffenen Holländer schon zu Pfänderspielen übergegangen, denn gerade, als wir vorbeikommen, gehen
einige recht robuste Jungs an die Badewäsche zweier kichernder,
von Sonne und Erregung hochgeröteter Mädchen. Eine Schleife
weiter ist es eine vernehmlich aus Basel-Vorstadt stammende Sturmtruppe, die sich mit wohlplazierten Angriffen auf die Naturidylle
begibt. Den Ghettoblaster, der für Partystimmung und in Freiluftbeschallung sorgt, haben wir schon in unserer Badebucht vernommen.
Auf einem 100 Kubikmeter-Kaventsmann von Flußkiesel steht eine
kompakte Blondine in Bikini (die von ihresgleichen wohl als “fettes
Teil” bezeichnet würde) und tanzt verzückt zu den Electronic Beats.
Sie wiederum toppt ein tangabekleideter, bis auf ein hellblaues Mephistobärtchen haarloser junger Mann, der auf einem drei Meter
hohen Riff bizarre Bewegungen ausführt, besser ausgeführt hat,
denn - als wir ihn passieren - stürzt er von seiner Bühne, reißt sich
die linke Brusthälfte an einer vorstehenden Felskante auf und bohrt
sich in das Flußbett. Der Héric nimmt eine leichte Rottönung an, die
ihm nicht schlecht zu Gesicht steht. Die Mithopper des „Verunfallten“ (wie es in der Schweiz heißt) nehmen den Vorgang nicht zur
201
Kenntnis; sie sind zu sehr damit beschäftigt, ihre Gliedmaße in Einklang mit den Beats zu bringen und dabei nicht aus dem Gleichgewicht zu geraten. Außerdem sind wegen des Lärms die Schreie des
Verletzten nicht zu vernehmen. Ich sage: “Bloß weg von hier, habe
keine Lust wegen unterlassener Hilfeleistung belangt zu werden.”
Die Kinder sagen: “Aber Papa, der Mann verblutet ja.” Ich sage:
“Derwische, und Schweizer Derwische zumal, verbluten nicht.” Die
Kinder fragen: “Was ist ein Derwisch?” Und: “Was ist der Unterschied zwischen einem Schweizer und einem deutschen Derwisch?”
Das Treiben an Fluß und Ufer steigert sich im weiteren Wegesverlauf, Flußbiegung über Flußschleife bis hin zum Parkplatz, von Buhne Sechs zu Ballermann Sex, wobei man einräumen muß, daß - je
näher der Parkplatz rückt - der Anteil der Franzosen an den Ballermännern und Ballerfrauen kontinuierlich zunimmt, was vermu tlich
darauf zurückzuführen ist, daß der Franzose das Picknicken liebt,
dies aber ausschließlich in Sichtweite seines Fahrzeugs.
Ich habe in der Zwischenzeit das Tempo forciert. Und das hat weniger damit zu tun, daß ich das Ende der Schlucht erreicht haben
möchte, bevor die Gorges d’Héric unter den Attacken von holländischen, deutschen und Schweizer Jugendlichen zusammenbrechen,
als mit der Tatsache, daß mir Mme Knotterbeck dicke Kieselsteine in
den Rucksack gepackt hat, die sie zu Hause als Souvenirs im Garten
deponieren mö chte.
Auf dem Rückweg nach Hause erwartet uns eine böse Überraschung. Kaum haben wir hinter Lamalou les Bains (wo dereinst
namhafte französische Literaten, vor allem von der knabenschänderischen Fraktion, ihre Sommerfrische verbrachten) eine Tankstelle
passiert, als uns ein Blick auf die Tankuhr offenbart, daß wir bereits
auf Reserve fahren. Macht nichts, sage ich, gleich vor Bédarieux
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kommt die nächste Gelegenheit zum Nachfüllen. Überall Schilder, die
auf Tanken “7 sur 7” und “24 sur 24”, also rund um die Uhr und
dieses das ganze Jahr über, hinweisen. Auf den Tanksäulen der
Station, die wir jetzt vor dem örtlichen „HyperU“ ansteuern, steht
“HyperU”, und sie sind von “HyperU” und es ist wahrscheinlich
auch “HyperU” drin , äh ich meine “SuperU”, nee, jetzt hab’ ich’s:
“Super”, nämlich das, was wir dringend benötigen. Die Tanksäule
spricht mich beim Nähertreten an und verlangt meine Kreditkarte.
Ich händige sie ihr trotz gewisser Bedenken aus. Die Tanksäule
schluckt (und ich meine auch ein leises Rülpsen vernommen zu
haben), spuckt die Kreditkarte wieder aus und verweist mich auf ein
heftig flackerndes Display, das mich belehrt, daß diese Kreditkarte
nicht gültig sei und ich den Vorgang mit einer gültigen wiederholen
möge. Ich händige der Tanksäule meine EC-Karte aus. Sie benimmt
sich ähnlich rüpel- oder wollte ich sagen: rülpserhaft wie beim ersten
Versuch. Nichts zu machen, der Automat zeigt sich störrisch. Wir
fahren weiter zur Station von „Intermarché“. Gleiche Verheißung
(7/7, 24/24), gleiche Ablehnung. Ein alter Bauer, der an seinen
schrottreifen 2 CV lehnt und mit einer funkelnagelneuen „Carte
bleue“ wedelt, fragt mich überflüssigerweise: “Sind Sie Deutscher?”
Ich, schon etwas angesäuert: “Ja, aus der DDR.” Der Bauer, kaum
überrascht: “Dann funktioniert das nicht. Kommen Sie mo rgen wieder, wenn der Tankwart da ist, aber nicht vor neun.”
Mit dem vorletzten Tropfen Benzin fahren wir zu unserem „HyperU“ in Clermont. Vielleicht klappt es ja dort, der ist stärker frequentiert als der in Bédarieux. Außerdem liegt er direkt an der einspurigen
A9, und da kommt doch - sage ich mir mit einem Rest an Illusion der eine oder andere treibstoffsuchende Engländer oder Holländer
vorbei. Um es kurz zu machen: Es klappt auch dort nicht. Ich versuche es wieder und wieder, Kreditkarte rein, EC-Karte raus, es bildet
sich eine Autoschlange, hinter mir hupen die Tankwilligen immer
203
gehässiger, durch meinen Kopf schießen Bilder von einem vermummten Cater Jarim, der inmitten von ebenfalls vermummten Winzern das „HyperU“ sachbeschädigt. In der Realität habe ich die
schweren Meindl an. Weiter kann ich leider in der Schilderung der
nun folgenden Ereignisse nicht gehen, weil mir Wochen drauf von
unserem Dorfgendarm Fotos vorgelegt werden, auf denen ich und
das Nummernschild unseres Autos - beide unvermummt natürlich zu sehen sind, was den Schluß nahelegt, daß wenigstens die Überwachungskamera an der Tankstelle funktioniert hat.
Hagen macht mir wegen meines vorausgegangenen Verhaltens
bittere Vorwürfe, und sagt, sie habe sich ob meines Ausflipps so
geschämt, vor all den Sonntagsausflüglern an der Tankstelle - sie
als Deutsche (ob BRD oder DDR oder gesamt sei vollkommen egal)
vor all den Franzosen. Und außerdem, das entwürdigende Bild, das
ich...
Wir haben doch noch unser Benzin gekriegt, es gibt eine letzte
nicht den Supermärkten gehörende freie Tankstelle an der Straße
nach Villeneuvette. Ich bin mir aber sicher, daß es die nicht mehr
lange gibt. Nicht wegen der „HyperUs“, „Intermarchés“ und „Carrefours“. Sondern wegen der unprofessionellen Haltung des Besitzers: Der ist nämlich rappeldabbelzu, kann nicht mehr bis drei Euro
zählen, tagt im Kassenraum mit einer Horde Männlein und Weiblein,
die es zusammen auf bestimmt 98 Oktan bringen. Aber vielleicht
sind es ja doch die „HyperUs“, „Intermarchés“ und „Carrefours“, die
an der hier herrschenden Verkommenheit schuld sind. Ich habe eine
ähnliche Zusammenkunft vor einigen Jahren in der besten Buchhandlung, die es je in Frankfurt gab, der „Huss’schen Buchhandlung“, erlebt. Damals lag, als ich den Laden betrat, ein schwerer
Alkoholdunst über den Büchern; die kreditgebende Bank hatte den
Geldhahn zugedreht, es reichte gerade noch für einige Flaschen
204
Grappa und Cognac. Die wirklich Verantwortlichen für diesen traurigen Abgang waren indessen weder die Banken noch die Spritfabrikanten, sondern ...(ich bitte den Leser um Nachsehen dafür, daß ich
den Satz nicht zu Ende führe, um den Absatz des vorliegenden
Werkes nicht vorsätzlich zu gefährden).
Wir fahren nach Hause, ich bereite lustlos einige „rougets“ (Rotbarben) auf dem Grill zu, die Kinder bekommen irgendwelche hochnitrathaltigen Würstchen (woher wohl? stimmt genau, aus dem
„HyperU“!), übergeben sich kurz und bringen das Thema McDo in
Art ihrer Kinderdialektik auf den Tisch: “Alsoooo, das Essen beim
McDo (sie vermeiden auffällig den Begriff McDoof) ist nicht gut,
das wissen wir ja. Aaaaber, das Essen aus dem Supermarkt ist ungenießbar. Bevor wir also verhungern, gehen wir dann doch lieber
zu McDo.” Ich sage nichts, und Hagen schweigt. Die Stimmu ng ist
am Nullpunkt. Haben wir die Flemm‘? Ich bin so fix und alle, daß ich
die Beantwortung dieser Frage und für Nichtsaarländer die Erläuterung der Flemm‘ auf einen gegebenen Anlaß verschieben muß.
Montag, 10. Juli
Um aus unserem Stimmungstief herauszukommen, haben wir uns
für heute Erregung und Heiterkeit verordnet. Beides winkt uns,
wenn wir - wie wir das schon lange vorhaben - einen Stierkampf
besuchen. Das ist montags ein gewisses Risiko, nicht der Stierkampf
als solcher - es geht um einen südfranzösischen Stierkampf, keineswegs um den blutigen iberischen; außerdem kämpfen wir nicht,
sondern sind nur unbeteiligte, doch hoffentlich bewegte Zuschauer.
Nein, das Risiko besteht darin, keinen zu finden. Der wie immer unzuverlässige “Midi libre” hat nämlich seine Stierkampf-Sonderseite
mit den Terminen, die gewöhnlich donnerstags, spätestens freitags
205
erscheint, einfach ausfallen lassen - die Ergebnis listen des französischen Abiturs, die traditionell in den regionalen Tageszeitungen
präsentiert werden, haben den ganzen Platz verschlungen.
Wir fahren also auf gut Glück in die Stierkampfregion. Diese wird
von einem Dreieck mit den Eckpunkten Avignon im Norden, Lunel
bei Montpellier im Westen und Salon-de-Provence im Osten gebildet. Es gibt noch verschiedene andere kleinere Regionen außerhalb
des Languedoc und der Provence. Die Kämpfe dort folgen jedoch in
der Regel völlig anderen Traditionen. In der Gascogne beispielsweise die „Courses Landaises“, die keine besonderen Regeln haben.
Dort gilt es lediglich, den Stieren, nein den Kühen, deren Hörner
überdies kupiert sind, mit besonders anmutigen Ge sten auszuweichen. Die richtigen, aber ebenfalls unblutigen „Courses Carmaguaises“ dagegen, auch „Courses de taureaux à la Provençale“ genannt,
folgen einem ausgefeilten Regelwerk und bewirken dadurch bei
Experten wie Laien zusätzliche Emotionsschübe: Zwar sind Foulelfmeter bei den Courses unbekannt, doch gibt es - im übertragenen
Sinne - jede Menge an Fehlentscheidungen durch überforderte
Schiedsrichter und demzufolge auch fehlentscheidungsbedingte
Ausschreitungen des Publikums .
Wenn wir Glück haben, dann erleben wir heute einen Kampf mit
echten, das heißt ausgewachsenen Kampfstieren. Diese sind zwar
nur etwa halb so groß beziehungsweise schwer wie ihre todgeweihten Kollegen der Corrida, aber nicht minder rauflustig, ja vielleicht
wegen ihrer größeren Wendigkeit noch biestiger als die spanischen
Schlachtstiere. Wenn wir allerdings Pech haben, dann müssen wir
mit den sogenannten „Courses de vache“ vorliebnehmen. Dabei
handelt es sich um Kämpfe mit den Nachwuchskräften, mit kaum
dem Kalbsalter entwachsenen, noch nicht so richtig geschlechtsreifen Jungtieren. Wegen ihrer Tolpatschigkeit erfreuen sie zwar das
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Herz der Kinder, Erwachsene jedoch lieben es prickelnder, wenn zu
erwarten steht, daß der Kämpfer auch mal das Horn des "biou", des
Kampfstieres, im Hintern verspürt.
Stierkämpfe finden traditionellerweise anläßlich einer Kirchweih
oder eines Dorffestes statt, und so bin ich mir sicher, daß wir, wenn
wir lange genug in der Carmargue und der Umgebung kreuzen, heute noch auf unsere Kosten kommen. Aber es ist gar nicht so einfach,
den richtigen Kampf mit allem Drum und Dran (dem geeignetetem
dörflichen Ambiente, den korrekten Erregungswerten des Publikums
und der entsprechenden Kampfbereitschaft der menschlichen und
tierischen Akteure) zu finden. Wir haben beispielsweise keine Lust
auf die Veranstaltung in Palavas, die über die ganze Woche gestreckt ist. Dort ist alles auf Tourismus abgestellt, und es steht zu
befürchten, daß das beim Kampf so wichtige Regelwerk in fahrlässiger Weise modifiziert wird, um den Touristen, die sich dort an der
Küste ballen, ein Mehr an spektakulären Einlagen zu bieten. Ich
stelle mir Stiere, geschmückt wie die Pferde der Hofreitschule vor,
und Zirkusclowns, die sich von ihnen ein bißchen durchs Stadion
hetzen lassen, dazu Kämpfer in Ritterrüstungen mit kleinen Turniereinlagen und zum Abschluß noch eine Lichtshow mit einer Parade
farbenblinder Milchkühe.
Fast jedes Dorf im Dreieck verfügt über eine Arena, viel kleiner
zwar als die großen Kampfstätten in Nîmes, Béziers und Arles, wo
regelmäßig die Kämpfe "mise à la mort" (also mit kalkulierter Todesfolge, nicht unbedingt des Kämpfers, sondern des Stieres) stattfinden. Manche bieten kaum 150 Personen Platz, aber Arena muß sein,
und wenn keine vorhanden ist, was die Reputation des Ortes empfindlich schmälert, dann wird für die entsprechenden Festtage eine
mobile Arena errichtet, die der Gemeinderat mieten kann, so wie bei
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uns ein Original-Bayeris ches-Bierzelt von einem professionellen
Zeltvertrieb zu haben ist.
Aber heute herrscht selbst in der Hochburg des Stierkampfes, in
Vauvert, ebenso wie in den umliegenden Dörfern tote Hose. Wir
kommen durch Le Cailar, knapp vier Kilometer von Vauvert entfernt.
In der Nähe des Dorfes - zur Plaine de la Carmargue hin gelegen befinden sich die großen Zuchtbetriebe, die ganz Südfrankreich mit
Fleisch und Kämpfernaturen versorgen, darunter der berühmteste
aller, die Farm des Marquis de Baroncelli. In Le Cailar gibt es ab drei
Promille, die zumeist durch Pastis generiert werden, nur zwei Themen: die Wildenten, die in den Drainagen der Umg ebung leben, und
die Stiere. Dem allerberühmtesten, der sinnigerweise “Le Sanglier”
(„die Wildsau”) hieß, hat die stierfromme Bevölkerung ein Grabmal
vor den Toren des Ortes errichtet. Die Aufschrift ("Aficionados!
Hier ruht Le Sanglier von der Manade (Zuchtbetrieb) F. Granon
Combet 1916 - 1933") verrät, daß gute Stiere ein biblisches Alter
erreichen. Bildnisse von der Wildsau in Art des röhrenden Hirsches
hängen in jeder guten Wohnstube; ich habe das selbst gesehen vor
vielen Jahren, als ich zusammen mit Frankfurter Hegelforschern,
deren Oberhegelforscher hier in Le Cailar ein Haus besitzt, einen
Urlaub verbracht habe. Zu erwähnen ist vielleicht noch ein kleines
Detail, das den legendären Ruf von „Le Sanglier“ begründet: Er war
- wie seine Fans sagen - ein wahrer "taù" und kein bloßer "biou",
was heißen will, er war im Gegensatz zu den heutigen
Kampf"stieren" unkastriert, also ein richtiger Stier. Und dennoch:
Mit Zuchtbullen wie "Orkan vom Wotanstein" aus dem hessischen
Züntersbach nahe Bad Brückenau haben die "Sangliers", die "Pythagores" und "Poseidons" und wie sie alle heißen, nichts zu schaffen. Während "Orkan von Wotanstein" gerade noch den Samenbock zu besteigen in der Lage ist, handelt es sich bei seinen südfranzösischen Kollegen um wahre Zehnkämpfer.
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Heute Montag ist aber auch in Le Cailar tote Hose. Die Nachfahren der Wildsau zeigen sich nicht. Wir fahren weiter - an Arles vorbei - in Richtung Avignon. Die Zeit drängt, wir müssen vor vier zum
Zuge kommen, sonst haben wir die Gelegenheit für heute und diesen Urlaub verpaßt. In Tarascon halte ich Ausschau nach Plakatanschlägen, die uns weiterhelfen könnten, ich suche die „Information
touristique“ auf, ich frage Passanten. Sie wissen alle von irgendwelchen Terminen gestern, vorgestern, am nächsten Wochenende,
nur heute scheint der Stierkampf allüberall ausgesetzt zu sein. Auch
in Beaucaire am gegenüberliegenden Rhôneufer, wo gelegentlich
auch blutige Kämpfe stattfinden, nichts. Hier gibt es nebenbei bemerkt ebenfalls ein Stierdenkmal - für den berühmten "Goya", der
Ende der 60er, Anfang der 70er Jahre sein Unwesen trieb.
Um zwei Uhr nachmittags machen wir uns keine Illusionen mehr;
ich will schon nach Avignon fahren, um dort die inzwischen maulenden Kinder und die knottrige Knotterbeck bei einem Stadtbummel
abzulenken, als mir in Rognonas - einem häßlichen Straßendorf nur
knapp vier Kilometer vom Zentrum Avignons entfernt - ein gerade
mal DIN-A-3-großes Plakat ins Auge fällt. Ich muß aus dem Auto
steigen, um die Mikroschrift überhaupt lesen zu können. Es ist
Kirchweih in Rognonas, und der örtliche “Club Taurin L'Abrivado”
veranstaltet aus diesem Anlaß einen Kampf, und zwar heute, um
vier. Mir fällt ein Stein vom Herzen, die kleinen Jarims haben etwas
zu Erleben, Hagen etwas zu Erinnern und ich habe etwas zu Lachen
(auch deshalb, weil mein etwas lädiertes Prestige wiederhergestellt
ist).
Die Stierkampfarena, bei der wir uns eine dreiviertel Stunde vor
Beginn einfinden, ist gar nicht mal so übel. Schön aus Stein gemauert; die Platanen, die überlicherweise die Ränge vor der Sonnenhitze
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schützen, sind hier riesengroß und verschatten sogar die Arena, ein
Umstand, der den kämpferischen Einsatz der "raseteurs" oder die in
manchen Gegenden so genannten „razeteurs“ begünstigt. Nach
und nach füllen sich die Ränge, keine Touristen außer uns, auch das
ist gut, man möchte sich halt nicht unter seinesgleichen aufhalten,
sondern so einen Kampf zusammen mit richtigen Afficinados erleben.
Angekündigt sind die üblichen sechs Durchgänge, jeder dauert
etwa eine Viertelstunde, zwischen dem dritten und dem vierten ist
eine Pause vorgesehen. Das deutet darauf hin, daß der Club Taurin
gute Stiere verpflichtet hat; bei lahmen plant man keine Rekreationsphase für die Raseteure ein. Auf dem Platz sind neun aktive
Kämpfer sowie vier "tourneurs", Hilfswillige in etwas gesetzterem
Alter, zumeist frühere Raseteure, die nur die Aufgabe haben, den
Stier zur Weißglut zu reizen oder in Gefahrenmomenten abzulenken ohne Waffen oder sonstige Hilfsmittel; zugelassen sind nur Stimmvermögen und Körpereinsatz.
Auf geht’s mit „Caribou“. Er macht einen guten Eindruck, braucht
kaum animiert zu werden und setzt nach der Aufwärmphase, das
heißt noch geblendet vom hellen Licht, gleich zum Angriff über. Er
trägt, ebenso wie seine nachfolgenden Stierkollegen, an einer zwischen den Hörnern befestigten Wäscheleine einen kleinen Wollknäuel, die "coupe de la cocarde" genannt, dann die "cocarde"
selbst, außerdem noch die "glands", die mythologisch aufgeladenen
Eicheln (in Wirklichkeit kleine Wollbombel), die jeweils mit der
"élastique", eine Art Gummiband befestigt sind, und schließlich
noch die "ficelle", die eng um die naturbelassenen Hörner gewickelt
ist. Es kommt für den Kämpfer - kurz gesagt - darauf an, die Ve rzierungen abzureißen. Dazu bedient er sich des "crochet", einer Rasierklinge, die in eine Art Schlagring eingearbeitet ist. Es gibt keine
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Hieb- und Stichwaffen; der Stier kommt also im gegebenen Fall weniger zu Schaden als ich bei meiner morgendlichen Rasur.
Gefährlicher ist es für den Raseteur. Er muß an seinen Gegner, den
"cocardier" (so heißt der sich im Kampf befindliche Stier) herankommen, und da er ihn nicht reiten, ihn auch nicht frontal angehen
kann (der Stier pflegt nicht stillzuhalten), ist er gezwungen, aus dem
toten Winkel heraus vor- und am Cocardier vorbeizubreschen, ihn
kurz mit seinem Hintern abzulenken und dabei zuzufassen. Diese
Attacke wird "rencontre", Begegnung, genannt. Gelingt die Begegnung, dann spricht man von "raset", der Rasur. Die Kokarde ist auf
diese Weise noch relativ leicht zu entfernen, schwieriger wird es bei
der Eichel und noch schwieriger bei den "ficelles". Es versteht sich
von selbst, daß mit dem Schwierigkeitsgrad auch das Risiko wächst,
das Horn ins Gesäß zu bekommen. In Coursan, zwischen Béziers
und Narbonne, wurde gerade vorgestern ein 17jähriger Raseteur
aufgespießt, und zwar unehrenhalber von einer "vachette", einem
Nachwuchsstierlein; vielleicht war sein Missgeschick darauf zurückzuführen, daß es im weit abgelegenen Coursan keine oder nur
wenige Profis gibt, andererseits stammte der Unglücksrabe aus
Vendargues, einem östlichen Vorort von Montpellier, der also
durchaus schon der engeren Stierkampfregion zuzurechnen ist. Wie
dem auch sei: Es hat aber auch schon Tote gegeben, und schwere
Verletzungen sind nicht selten.
Um angesichts dessen den Mannesmut zu entfachen, werden
Geldpreise ausgelobt. Örtliche Honoratioren stellen kleine Sümmchen zur Verfügung und diese werden dann mitsamt dem Namen des
Sponsors von dem Sprecher des Festkomitees verkündet. Die Kurse
steigen je nach Schwierigkeitsgrad bei der "cocarde" sowie nach
dem Ranking der Stiere. Weil der Sponsor möglichst oft genannt
werden will, portioniert er seinen Preis, und das hat zur Folge, daß
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sich wie bei einer amerikanischen Versteigerung die per Lautsprecher genannte Namen und Geldsummen sich jagen: Der Garagiste
Hinz fünf Öró, zehn Öró der Apotheker Kunz, 15 Öró der Hotelier
Castor und nochmal fünf Öró der Serrurier (Schlosser) Pollux und so
weiter, bis es dem Stier an die Wäsche, an die "élastiques" und die
„ficelles“ geht, die dann pro Wetteinsatz schon 20 oder 30 Euro wert
sind, so daß am Schluß leicht 500 oder auch 1000 Euro zur Entscheidung stehen. Damit nicht das Mißverständnis aufkommt, daß auch
diese so symbolträchtige Prozedur - immerhin handelt es sich ja
auch um die Entfernung von Eicheln und die Beschneidung des
Stierschmucks - durch und durch kommerzialisiert und monetarisiert
ist, gibt es ein zusätzliches Regelwerk von hoher Bedeutung und
gänzlich ohne geldliche Ausstattung, sozusagen rein ehrenhalber.
Und das ist die "Carmen", ein kurzer, nur sekundenwährender Auszug aus dem Torero-Marsch von Bizets gleichnamiger Oper. Der DJ,
äh ich meine der Komiteesprecher spielt ihn vom Band ab und dies
mit etwa 140 Phon, in etwa der Lautstärke eines startenden Düsenjets; erschwerend kommt hinzu, daß es sich dabei nicht etwa um
einen Dolby-Surround-Sound-gestützte Darbietung handelt, vielmehr um einen, bis zu 300 Megawatt übersteuerte Aufzeichnung
einer Bizet-Aufnahme von 1938, die sich im ungünstigen Fall stakkatohaft mehrmals wiederholen kann. Die "Carmen" erhält beispielsweise der Stier, wenn er den Kämpfer bis an die Barriere erfolgt
("coup de barrière"), manchmal aber auch der Raseteur nach einem
verwegenen Einsatz, nach einer besonders eleganten (und natürlich
riskanten Volte). Aber noch nie habe ich von einem Fall gehört, daß
der Stier 75 Euro gewonnen hätte. Üblich sind zwei bis sieben "Carmen" pro 15-Minuten-Durchgang; manche Clubs gehen so verschwenderisch mit der "Carmen" um, daß das Publikum aufbegehrt
und das Komitee ausbuht, in einzelnen Fällen sogar mit Pastisgläsern attackiert.
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„Caribou“ hat immerhin die "ficelle" behalten. Das ist dem Festkomitee eine "Carmen" wert. "Carmen" sind immer Anlaß für hitzige
Debatten. Es entsteht sofort nach der Fanfare heftige Unruhe, namentlich im männlichen Publikum. Hier haben mehr noch als im Fußballstadion die Exp erten (Expertinnen gibt es weder semantisch
noch physikalisch und beim Stierkampf schon gar nicht) das Sagen.
Und die sind mit der gerade gebotenen "Carmen" ganz und gar nicht
einverstanden. Soweit ich das den erregten, in tiefstem Provenzalisch geführten Debatten entnehmen kann, beklagt man eine gewisse Lahmarschigkeit des Stieres. Er habe, ist die überwiegende Meinung des Publikums, nicht genügend Einsatz gezeigt, und es reiche
durchaus nicht, daß er im allerletzten Moment, bevor es ihm ans
Horn geht, den Kopf senkt und entweder der Rasur ausweicht oder
den Raseteur mit einer eher beiläufigen Bewegung zu verletzten
sucht. Ein Stier muß rennen, schnauben vor Wut und unentwegt
versuchen, die Raseteure aufzuspießen oder zu zerstampfen.
Der vor mir sitzt, schmeißt ob der Fehlentscheidung des Komitees
erregt sein Béret in den Staub, springt wie Rumpelstilz auf seinem
Sitz herum und muß bei allem Respekt vor seinem Alter (kurz vor 80,
schätze ich) über die Lautsprecheranlage zur Raison gerufen werden: “Jeannot”, ermahnt ihn der Vorsitzende, “denk’an dein Herz.”
Der zweite Stier, „Iollié“, ist auch nicht viel besser als „Caribou“,
aber er läßt sich wenigstens sämtlichen Hornschmuck abnehmen, so
daß er gedemütigt das Feld verläßt. Der Dritte im Rennen, „Javon“,
scheint heute auch nicht in Form zu sein. Er weist zwar ein enormes
Laufpensum vor, braucht kaum aus der Ecke gelockt zu werden,
trabt aber zu oft ins Leere, fuchtelt mit seinem eindrucksvollen Geweih unmotiviert in der Luft herum und betätigt sich als Schattenkämpfer. Die Raseteure rennen ihm geradezu vor die Schädelplatte,
nicht nur um die "cocarde" zu erobern, sondern auch um das Publi-
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kum zu beruhigen: „Javon“ könnte schon nach zehn Minuten entblättert sein, doch das ist für die Raseteure nicht gut, weil dann die
"primes", die Preisgelder, auf einem niederen Level verharren. Deshalb ziehen sie die Prozedur künstlich in die Länge. Doch diese
Taktik wird von den Zuschauern durchschaut, und die Mißfallensrufe steigern sich zu einem kleinen Orkan, der die Platanenblätter
erzittern läßt und bis zur Pause anhält.
In der vierten Runde wird es spannender. Es läuft ein: „Colombeau“, eine wahre Bestie. Schade nur, daß ihre Zornesausbrüche
etwas unkontrolliert vonstatten gehen und sich nicht unbedingt
gegen die Gegner richten. „Colombeau“ hat es nämlich auf die "barrières", die Banden, abgesehen. Diese bestehen aus großen, starken
Verschalungsbrettern; sie schirmen den Laufgraben zwischen
Kampfplatz und Zuschauertribünen ab. Wenn sich die Raseteure in
Sicherheit bringen müssen, überspringen sie die Banden und landen
im Laufgraben, während der Stier dagegen anrennt. „Colombeau“,
der besonders oft und heftig mit den Verschalungsbrettern kollidiert, sitzt nun dem Mißverständnis auf, daß diese seine eigentlichen Gegner darstellen, und beginnt sie auseinander zu nehmen.
Das kommt vor allem beim jüngeren Publikum, auch bei Kiki und
Consuelo gut an, löst aber bei den Experten lautstark geäußerte
Vorbehalte aus.
„Colombeau“ muß, nachdem er drei Bretter zu Splitterholz verarbeitet hat, aus dem Rennen genommen werden, er hat sich da offensichtlich in etwas verrannt und ist nicht mehr auf die normale
Kampfebene herunterzubringen. „Maguelon“, die Nummer fünf, hat
es ebenfalls mit den Banden, nur daß er sie - im Unterschied zu seinem Vorgänger - nicht frontal angeht, sondern souverän überspringt. Wie ein Turnierpferd setzt er über und tobt im Laufgraben
rum. Von Nachteil für die Veranstalter ist, daß sich am Ende des
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Laufgrabens (wie so oft in Stierkampfarenen der Provence) eine Art
Bar befindet, wo sich die Herren mit Pastis versorgen und von dort
den Damen und Kindern eine Orangeade oder eine Cola mitbringen.
„Maguelon“ springt hinter den Tresen (die Barkeeper haben sich
natürlich zuvor schon in Sicherheit gebracht), haut die Pernodflaschen zu Klump und labt sich am austretenden Destillat. Er muß
nach einigen Minuten des Wütens und des Saufens volltrunken
abgeführt und in die Ausnüchterungszelle gebracht werden. Das
Publikum ist wieder gespalten, die Damen und die Kinder haben den
Vorfall mit schallendem Gelächter quittiert, die Experten rücken dagegen mit finsteren Mienen gegen die Tribüne vor, das Komitee
bringt sich in Sicherheit.
Nachdem wieder Ruhe eingekehrt ist, darf „Lou Beffi“ ran. Er
macht seine Sache gut, heimst einige "Carmen" ein, die auch noch
von Experten (die im Gegensatz zu den Laien nie, aber auch nie klatschen) positiv sanktioniert werden - jedenfalls ist dies ihren Gesichtszügen abzulesen. „Lou Beffi“, setzt zwar auch über die Banden, kehrt aber sogleich in die Arena zurück und nimmt den Kampf
wieder auf. Manche Stiere haben beim Überspringen der Banden ein
solches Tempo drauf, daß sie sich sogleich in die Zuschauerränge
hochkatapultieren. Dann entsteht Panik, und die Guardians (das
sind die Cowboys der Camargue, die ihre Tiere in die Arena begleitet haben) und die "tourneurs" haben alle Hände voll zu tun, den
Stier, der sich mittlerweile in den Sitzreihen verkeilt hat, wieder auf
den Boden der Tatsachen zurückzuholen. Der legendäre "Goya" soll
es sogar mal bis zu den allerobersten Rängen geschafft haben und
mußte - wie es heißt - mit dem Lasso eingefangen werden, weil er
sich über die obere Mauerbrüstung hinweg in die Tiefe zu stürzen
drohte. Ich weiß nicht, ob das stimmt, es gibt so viele meinesgleichen, die das Blaue vom Himmel lügen. Jedenfalls heißt es, daß
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ältere Damen Tribünenbesteigungen durch Stiere goutieren und mit
geradezu alterssexuell stimuliertem wollüstigen Gelächter bedenken.
„Lou Beffi“ war erwartungsgemäß der Beste in der Runde, und
wäre nicht noch ein kleiner Zwischenfall, könnte man von einem
rundrum guten Abschluß sprechen. Ein Mann mittleren Alters ist
auch gesprungen, nicht aber in den Laufgraben, sondern auf die
Tribüne, hat sich inzwischen zum Komitee vorgekämpft und geht
dem Vorsitzenden an die Gurgel. Weil das Mikro eingeschaltet ist,
können alle Anteil an dem - zugegeben etwas blechern wirkenden Todesröcheln nehmen. Doch just bevor der Vorsitzende seinen
Löffel abgibt, wird der Angreifer von einigen starken Stallburschen
sowie von zwei Raseteuren überwältigt und zu den Stierboxen geschleppt. Was dort geschieht, entzieht sich unserer Kenntnis, aber
die Schreie, die wir vernehmen, verheißen nichts Gutes, zumal sich
Lautäußerungen der Stiere darunter mischen, die wie Brunftschreie
ausgewachsener Elche klingen. Das Chaos ist perfekt, der Vorsitzende k.o., die Raseteure verwirrt, das Publikum außer sich; die
Veranstaltung muß abgebrochen werden. Tags drauf wird im „Midi
libre“ zu lesen sein, daß es sich bei dem Mann um einen landesbekannten Stierkampfgegner handelt, der in seinem Fanatismus die
Aktionen von den großen blutigen Corridas schon seit einiger Zeit
auf die Courses verlegt hat.
Wir machen uns schnell zurück zum Auto, bevor es zu weiteren
Ausschreitungen kommt. Ich habe schon in manchen Dörfern erlebt,
daß die Einwohner zur Stunde der "bandido" (dem Abtrieb der Stiere) vom vielen Ricard oder dem "51" breit wie die Nattern waren und
sich vor die Autos von vermeintlichen Parisern (hier gelten alle
Auswärtigen als Pariser) gelegt haben, um ihre Insassen als Saufgeiseln zu nehmen. Wie dann erst hier, frage ich mich, wo die ganze
Veranstaltung aus dem Ruder gelaufen ist?
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Auf dem Weg nach Hause treffe ich mit den Kindern die Vereinbarung, daß sie auf Nachfrage den heutigen Stierkampf als “mein
allerschönstes Ferienerlebnis” auszugeben haben. Sie murren noch
etwas, weil sie davon ausgehen, daß in dieser Woche noch einiges
passieren wird, das den Stierkampf übertreffen würde, und sie sind
sich nicht sicher, ob nicht die Rettungsaktion auf dem Salagou doch
noch etwas schöner war. Ich sage: “Schluß der Debatte. Jetzt sind
wir soweit - bis fast nach Avignon - gefahren, und die Eintrittskarten haben 20 Euro gekostet. Dies bleibt das allerschönste Ferienerlebnis.” Hagen Knotterbeck sagt: “Du sollst deine Kinder nicht
immer bevormunden. Laß' sie doch mal alleine entscheiden, was ihr
schönstes Ferienerlebnis ist.” Ich sage: "Man sollte sowas nicht
dem Zufall überlassen. Die Kinder müssen in entschieden richtiger
Weise auskunftsfähig sein." Hagen: "???!!!"
Hagens und mein schönstes Urlaubserlebnis vor 15 Jahren war
die Entdeckung des „Hotel Laetitia“ in Fontvieille, das gerade vor
uns auftaucht. Damals führten "mémé" Jeanette und der Patron,
Monsieur Jean, das Haus. Nie wieder haben wir so gut gegessen
wie in jenen Septemberabenden, die wir vorzugsweise auf der kleinen Terrasse des Hotels verbrachten und an denen wir uns von den
beiden verwöhnen ließen. Leider mußten Jean und Jeanette das
Hotel kurze Zeit danach aufgeben, Jeans Frau war ernstlich erkrankt,
und Jean konnte nicht die Mittel aufbringen, um die dringend notwendigen Investitionen vorzunehmen. Vielleicht hatte er einfach zu
gut gekocht und Aufwand und Ertrag nie in ein gesundes wirtschaftliches Verhältnis zueinander gebracht. Heute wird das „Laetitia“ von zwei liebenswerten älteren Schwestern aus der Schweiz
geführt, die aber leider das gastronomische Angebot auf ein Frühstücks- und ein kleines Abendbuffet reduziert haben.
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Deshalb müssen wir mit einem nahegelegenen Restaurant vorliebnehmen. Ich esse frische “Tripes provençales”, Hagen genehmigt
sich ein „Gigot d’agneau“, ein Stück Lammhaxe mit dem üblichen
Gemüseambiente, die Kinder kriegen Omelette und Pommes. Die
Preise sind auf provenzalischem Niveau, das heißt rund 20 Prozent
höher als im Languedoc, oder anders gesagt: stehen pari zu den
Preisen im Elsaß. Dafür darf man natürlich erhöhte Aufmerksamkeit
abverlangen. Sie besteht in meinem Falle in der besorgten Nachfrage
des Küchenchefs, ob ich denn wüßte, was ich da bestellt habe. Ich
weiß: es sind Kutteln, auf ähnliche Art zubereitetet wie die berühmten „Tripas da Fiorente“. Er habe ja auch nur gefragt, sagt er, weil
gestern etwas Unangenehmes passiert sei. Eine deutsche Touristin
habe das Gericht bestellt, sich leichtfertigerweise aber erst während
des Essens nach der Bedeutung von „tripes“ erkundigt und dann,
mit der Wahrheit konfrontiert, etwas Unaussprechliches getan.
Immerhin weiß ich jetzt, daß es die Kutteln schon gestern gab und
meine Exemplare nur aufgewärmt sind...aber nein, nicht doch, nicht,
was Sie jetzt denken...
Fontvieille selbst hat sich in Folge eines aufwendigen Verhübschungsprozesses zu seinem Nachteil verändert. Vom einstigen
etwas schmuddeligen Straßendorf mit seinen leicht angegammelten
Straßenbars ist nichts mehr zu sehen. Die Ortseingänge sind mit
Blumenrabatten, mittelmeerischen Ziergewächsen, Zedern und Zargen verschönt – eine durchgrünte, mikroklimatisch optimierte, traditions- und ökologiekompatible Agenda-21-Gemeinde. Die einst
verwitterten Fassaden der Häuser tragen jetzt leuchtende provenzalische Farben, wie man sie von den hier überall angebotenen
Wachstuchtischdecken kennt, sind verziert mit provenzalischem
Schmiedeeisen; antikisierte Schilder künden von neuen gastronomischen („Pizzas à emporter“) und immobiliären Dienstleistungen
(„Location demeures de charme“); in den Bäckereien und Metzge-
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reien befinden sich jetzt Antquitätengeschäfte und provenzalische
Gemischtwarenläden (Lavendel, Suppenschüsseln, Olivenöl, Wein
und literarische Regionalia, darunter viele Ratgeber von verrenteten
britischen Autorinnen, des Inhalts, wie der typisch provenzalische
Kräutergarten zu pflegen sei). Fontvieille wirkt wie Fontvieille-lesBains. Das hat seine Ursachen zum einen in den sich von den Südhängen der Alpilles ergießenden Hotelanlagen der Luxusklasse, zum
anderen in der Tatsache, daß der TGV die Reisezeit von Paris zum
nahegelegenen Marseille auf drei Stunden verkürzt hat. Außerdem
ist der Lubéron – seit Albert Camus‘ Lebzeiten die bevorzugte
Zweitwohngegend der kunstsinnigen Pariser Schickeria – so überfüllt, daß allmählich das Vallée des Baux bis hinunter zum Grau, der
Rhône-Tiefebene, dem Siedlungsdruck zum Opfer fällt. Die Immobilienpreise explodieren, die Gastronomie wird korrupt, die Region
verkitscht. Schade drum. Wo sind Jean und „mémé“ Jeannette abgeblieben? Die beiden Schweizer Schwestern wissen es nicht. Keiner von denen, die wir an diesem Abend fragen können, weiß es.
Alle sind erst vor kurzem hier zugezogen oder arbeiten nicht länger
als zwei Jahre in Fontvieille.
Dienstag, 11. Juli
Gestern war Consuelo Vladimirs Geburtstag. Nachdem die Solidarität der Jarims mit den schafzüchtenden Globalisierungsgegnern
etwas verblaßt war, hatten wir dem Geburtstagskind einen Besuch
bei McDo, der zur Feier des Tages ausnahmsweise kein McDoof ist,
versprochen. Da wir gestern keine Gelegenheit dazu hatten, kehren
wir heute im McDo an der Weichlinie Montpelliers ein. Dort die
übliche Mischpoke: Urlauber aus den Niederlanden, die bis über die
Ohren mit Ketchup verschmiert sind, Briten, die feingliedrig die
Brötchenpampe halten, Deutsche, die der „cold turkey“ des Wop-
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per-Entzugs auf dem Weg nach Spanien erwischt hat, Kinder aus
circa acht Nationen und 40 Départements, zehn französische Hausfrauen aus den Vororten, die sich hier der Verwahrlosung hingeben.
Consuelo ist glücklich: Erstens ist sie gerade zwölf geworden, und
zweitens befindet sie sich seit langem wieder mal in einer vertrauten
Umgebung; das ist für sie wie Knödel nach zwanzig Tagen Rimini
(ich meine natürlich das Rimini in der Frühphase des Wirtschaftswunders für unsere Eltern).
Wieder zu Hause ist der Himmel bedeckt, das Wetter drückend.
Aufs Neue kommen Windböen auf, die jedoch keine Abkühlung
bringen. Die Hunde sind gereizt, ihr Gebell füllt das Lärmvakuum,
das die heute beharrlich schweigenden Zikaden hinterlassen haben.
Die Hausfliegen nerven, selbst die Stechmücken sind entgegen
sonstiger Gewohnheit tagesaktiv. Hagen Knotterbeck ist endlich
nach Béziers gefahren. Die Kinder haben sich in den Garten verzogen, um nach etwaigen Untieren Ausschau zu halten.
Ich bin in Badious Kommentar der Episteln des Hl. Paulus vertieft.
Die Frage stellt sich mir heute, wieso für Badiou (in seinem Kommentar von Römer 6,4 f) die Wiederauferweckung von den Toten
eine „Bedingung der Immanenz“ ist. Immerhin heißt es dort: „So sind
wir ja mit ihm begraben durch die Taufe in den Tod, damit, wie
Christus auferweckt ist von den Toten durch die Herrlichkeit des
Vaters, auch wir in einem neuen Leben wandeln. Denn wenn wir mit
ihm verbunden und ihm gleichgeworden sind in seinem Tod, so
werden wir ihm auch in der Auferstehung gleich sein.“ Ich zucke
zusammen, denn da höre ich ein Hämmern am Gartentor, und das
klingt gar nicht immanent, sondern ziemlich transzendent. Die Kinder kommen angerannt, Kiki Estragon schreit: “Einbrecher”, Consuelo Vladimir meldet: “Besuch”. Ich stürze nach draußen, falle über
die Kinder und krieg mich vor Schreck kaum noch ein: Zwei Motor-
220
räder stehen urplötzlich in der Auffahrt, so große Dinger wie noch
nie zuvor gesehen, Chopper mit riesigen Antennen, die dem Aufzug
etwas Marshaftes verleihen, einer hat einen Beiwagen. Es entfalten
und entblättern sich drei Gestalten, zwei große, eine kleine dicke.
Nein, nein und dreimal nein. Das ist doch nicht möglich. Das hat
mir gerade noch gefehlt: Es sind die Kohlhepps. Er: Siegmund Kohldepp, äh, ich meine: Kohlhepp, 55, Rentner (er sagt: “Ronntijee”).
Sie: Susanne Kohlhepp, offizielles Alter 45 (ich tippe auf 300, für
Vampire ja noch ganz passabel). Das fette Marsmännchen in der
maßgeschneiderten Lederkombi: Katharina Kohlhepp, 10, sie allein
schon Veranlassung genug, den Urlaub sofort abzubrechen und das
Weite zu suchen. Ich könnte Hagen Knotterbeck verfluchen. Offenbar hat sie in einer vorübergehend milden Gesittung (die sie manchmal auch gegenüber den größten Nervbolden dieser Welt an den
Tag legt) den Kohlhepps unsere Koordinaten verraten.
Nach den aufgeräumten Begrüßungsritualen (seitens der Kohlhepps) erfahre ich, daß sie von Spanien kommen, Costa Cacania
oder Costa Pissatoria oder so ähnlich), wo sie zwei Wochen im Ferien-?, (wo denkste?), nein im VIP-Better-days-for-a-better-life-Club
verbracht
haben.
Alles
inklusive,
Super-Luxus-KomfortAusstattung, sogar die Wäsche zum Wechseln und die Ausgehklamotten vom Ve ranstalter per Luftfracht organisiert - man kann sie
ja in der Menge, wie es dem Bedarf der Kohlhepps entspricht, nicht
auf dem Motorrad mitführen. Jetzt wollen sie, so langsam, wie es das
mitgeführte Outfit erlaubt, durch Südfrankreich, das Limousin (“haben gehört, daß dort die Trüffel gut sind”), die Auvergne ("soll es
super Wild und Geflügel geben"), Burgund (“Spitzenlagen”) undsoweiter nach Deutschland zurück.
221
Siegmund hat sein Vermögen mit einer Eigenentwicklung gemacht,
eine Software zur Kompostierung von Gartenabfällen erfunden (oder
zusammengeklaut), den dazu gegründeten Start-up an die Börse
gebracht, um sich wenige Stunden vor dem All-Time-High seiner
Aktie und wenige Tage vor dem Konkurs seines Unternehmens ins
Privatleben zurückzuziehen, natürlich mit einem satten Kursgewinn,
der ihm nach meiner Schätzung einen mittleren zweistelligen Miobetrag (De-Mark damals, nicht Euro) eingebracht hat. Ich will gar
nicht wissen, woher Hagen die Kohlhepps kennt, ich möchte am
liebsten überhaupt nichts von ihnen wissen, aber nun sind sie hier,
und es entwickelt sich, nachdem ich ihnen als pflichtbewußter Gastgeber zwei Tassen mit Ricorée vorgesetzt habe, folgender unliebsamer Einakter:
Das Scheitern der Auslöschung oder:
Mars macht mobil
Kriegsposse in einem Aufzug
Château Pohl, Südterrasse, Gartentisch, vier Stühle,
ein Liegesessel
Siegmund Kohlhepp, Susanne Kohlhepp, Cater Jarim, nicht im
Bild: Katharina Kohlhepp, Consuelo Vladimir, Kiki Estragon
S I E G M U N D (sich gleich auf den Liegesessel werfend): “Was
treibste denn da? Hast Ansichtskarten geschrieben oder haste das
Haushaltsbuch geführt, ha, ha? (Cater Jarim hat geistesgegenwärtig den Badiou weggeräumt; ein Kuli mit ein paar Notizzetteln
liegen noch herum, aber Siegmund ist schon beim nächsten The-
222
ma.) Scheißwetter in Südfrankreich, bei uns war Sonne pur - 14
Tage, auch sonntags, 24 Stunden, wenn der blöde Mond nicht gewesen wär’, ha ha.”
S U S A N N E : “Nett habt ihr‘s hier, nur ein bißchen primitiv (sie
unterzieht den Plastikstuhl einem Belastungstest, er hält stand).
Wo issen Hagen?“
C A T E R J A R I M : “In Béziers. Wollte mal allein sein.”
S U S A N N E : “Habt ihr Krach? Kein Wunder bei dem Wetter, und
dann büschen eng hier, da geht man sich schnell auf die Nerven.“
C A T E R J A R I M : "Merk' ich aber erst seit ein paar Minuten."
S U S A N N E (hat nicht hingehört, Siegmund lüpft währenddessen
seinen Hintern und feuert eine Salve Darmgase ab): „Was isn
das?“ (Sie zeigt auf die Betonwanne, die zugegeben etwas unvermittelt im Garten steht.)
C A T E R J A R I M : “Wird ‘n Schwimmbad. Ist noch nicht ganz
fertig.”
S U S A N N E : “Sieht mir nicht danach aus, daß es überhaupt mal
fertig wird. Also ich könnt’ das nicht ohne Pool aushalten.”
S I E G M U N D : “Habt doch gar kein Wetter hier fürn Pool. Friert
man sich ja den Bibbes ab, wenn man rauskommt. Ha, ha. (Lüpft
neuerlich seinen Hintern, diesmal jedoch nicht aufgestauter Winde
wegen, sondern um einen besseren Überblick zu haben.) Aber ist
doch Wasser drin?”
223
C A T E R J A R I M : “Die Besitzer nutzen das einstweilen noch als
Zisterne. Wasser für den Garten...”
S I E G M U N D (läßt sich wieder fallen): “Gute Idee, aber bei dem
vielen Regen hier braucht man doch gar nicht zu gießen, ha ha.”
S I E G M U N D (nimmt einen Schluck aus der Tasse, verbrennt sich
den Mund und prustet den Kaffee in die Tasse zurück): “Pfui, was
haste uns da für’ne Brühe gemacht?”
CATER
J A R I M : “Eine Spezialität aus Montpellier. Ziemlich
teuer. Nehmen die Pied-Noirs dort an Festtagen.”
S I E G M U N D : “Issen das, Pieenowa?”
C A T E R J A R I M : “Rückwanderer aus Algerien.”
K A T H A R I N A (mischt sich aus dem Off ein, Kreischstimme):
“Ich hab’nen Motorradführerschein gemacht.”
K I K I : “Au geil.”
C A T E R J A R I M : “Den was?”
S I E G M U N D : “Junior-Motorradführerschein im Club, aber auf
‘ner richtig kleinen Harley. In echt! Jeden Tag Fahrstunden, vormittags und nachmittags. Hat ne schöne Stange extra gekostet.”
(aus dem Off, unveränderte Kreischstimme):
“Babbaaa, wann krieg ich mein eigenes Bike?”
KATHARINA
224
C A T E R J A R I M (jetzt doch etwas bewegt): “Meint ihr nicht, das
ist zu früh? Muß doch in dem Alter nicht sein.”
K I K I : “Och, das möchte ich auch mal, ein richtiges Motorrad fah-
ren.”
S U S A N N E : “Kannst du haben. Kommst mal mit zum Training.
Siegmund und ich haben uns gesagt, daß wir Katrinchen zu Hause
weiter ausbilden lassen. Haben da so eine Schule gefunden. Junior
Bike Training Center, gar nicht weit, in Rodgau 3. Wär’ ja schad’,
wenn sie’s wieder verlernen würde, bevor sie 18 iss, gell.”
C A T E R J A R I M : “Kommt gar nicht in Frage.”
S U S A N N E (empört): “Na hör’ mal. Ist doch unsere Sache.”
C A T E R J A R I M : “Ich habe das zu Kiki gesagt, was ihr macht, ist
mir schnuppe. (Mit Nachdruck) Kommt nicht in Frage, das mit dem
Training!”
K I K I : “Och schaade...”
S U S A N N E : “Ist ganz ungefährlich. Passiert weniger als mit dem
Skateboard. Fahren ja nicht auf der Straße.”
C A T E R J A R I M : “Das meine ich nicht...”
S U S A N N E (fällt ihm ins Wort): “Haben uns erkundigt. Beste
Betreuung. Fachpersonal. Alles ehemalige Erzieher oder arbeitslose
Lehrer.”
225
C A T E R J A R I M : “Ich will nicht, daß meine Tochter...” (Im Hin-
tergrund ein Plumps, dann ein Schrei. Katharina ist in die Betonwanne gefallen. Wollte den Frosch, der dort zu Hause ist, fangen.
Siegmund bleibt sitzen, möchte seinen Sitz nicht aufgeben oder ist
einfach zu faul, um aufzustehen. Cater Jarim fischt Katharina heraus. Susanne greift sich das Tischtuch, um Katharina abzutrock nen.)
S U S A N N E : “Ist irgendwie nicht ganz kindgerecht hier...”
C A T E R J A R I M : “Kiki und Consuelo ist hier noch nichts pas-
siert. Ich finde eher, daß Motorradfahren nicht ganz kindgerecht
ist.”
S U S A N N E : “Was hast du denn gegen das Motorradfahren?”
C A T E R J A R I M : “Ziemlich viel. Und vor allem in diesem Alter.”
S U S A N N E : “Je früher desto besser. Gibt zu viele alte Knacker, die
zu spät angefangen haben.”
C A T E R J A R I M : “Wie ihr zum Beispiel.”
S I E G M U N D : “Nun hör’ aber auf. Ich wollt’, ich hätt’ die Gele-
genheit gehabt, als kleiner Bub. Aber damals war der Va dder froh,
wenn er net mit der Straßenbahn fahren mußt’ und was eigenes
hatte. Ein Moped zum Beispiel, wie bei meinem Vadder. Ich konnte
froh sein, daß ich das Fahrrad von meinem Bruder gekriegt hab’.
Gell.”
226
C A T E R J A R I M : “Ist ja auch nicht das Schlechteste, ein Fahrrad
und dazu keine Schokoriegel und Pommes-Mayo. Braucht man keine
Kombi, und vor allem nicht soviel Leder für die Kombi.”
S I E G M U N D : “Nun wirst du wieder unsachlich. Man kann die
Menschen nicht über einen Kamm scheren. Der eine findet das, der
andere was anderes gut. Haste mal was von Biodiversität gehört?”
C A T E R J A R I M : “Hat das was mit deinem Kompost zu tun?”
S I E G M U N D (aufgeräumt): “Erinner’ mich bloß nicht daran. Bio-
diversität besagt, daß es Vielfalt geben muß, verstehste, daß, wenn
alle gleich wären, das Leben langweilig wäre, daß es keinen Fortschritt geben würde, keine Weiterentwicklung. Vielfalt der Bedürfnisse - Vielfalt des Angebots. Darauf beruhen Kulturleistungen.
Also net, daß du mich falsch verstehst. Ich habe nix gegen die Massai zum Beispiel, auch nix gegen die Schwarzen. Aber wenn wir alle
wären wie die Massai, dann wären wir wie die Massai.“
C A T E R J A R I M : “Überraschende Erkenntnis.”
S I E G M U N D : “Warte, ich bin noch net fertisch...”
S U S A N N E (die gerade nach der Trockenlegen ihrer zehnjähri-
gen Tochter das Tischtuch auf den Boden geschmissen hat, unterbricht ihn): “Darum geht’s doch gar nicht. Erstens: Es macht
Katrinchen Spaß. Zweitens: Wir können es uns leisten, und das ist
zwar ein bißchen mehr, als sich unsere Eltern leisten konnten, aber
das hätten die an unserer Stelle auch getan, und drittens ist Katrinchen durch das Motorradfahren viel ausgeglichener geworden. Ich
sag‘ dir eins: Der Umgang mit der Maschine, die Verantwortung für
227
sich und die anderen und auch unser Vertrauen, das wir ihr zeigen,
hat sie viel selbstbewußter gemacht. Sie ist ja ein bißchen labil...”
C A T E R J A R I M : “Davon ist nichts zu spüren.”
S U S A N N E : “Ja, ja, du mit deinen Superkindern. Die kriegen nix.
Die wollen nix...”
K I K I : “Ich möchte auch Motorradfahren, darf ich?”
C A T E R J A R I M : “Kommt nicht in die Tüte.”
S U S A N N E : “Warum nicht? Mit deiner Einstellung treibst du das
Kind in die Isolation. Wer nicht mitmacht, gehört nicht dazu..."
C A T E R J A R I M : "Ach..."
S U S A N N E (unbeeindruckt fortfahrend): "Willst du, daß es dei-
nen Kindern schlechter geht als anderen. Wir leben nun mal in einer
Zeit, in der vieles möglich ist, von dem wir noch nicht mal geträumt
haben. Das Leben ist kurz..."
C A T E R J A R I M : “Zu lang für Motorradfahrer. Es wird zuviel
gefahren auf den Straßen und zuwenig gestorben.”
S U S A N N E : “Nun bleib’ mal auf dem Teppich. Ich sag‘ dir eins:
wenn sich Katrinchen gut fühlt nach dem Motorradfahren...”
C A T E R J A R I M : “...dann ist Motorradfahren gut für Kinder,
willst wohl sagen. Als nächstes kommt: Motorradfahren ist gut für
die Menschheit. Wie wär’s denn damit? Geburtstagsparty für Achtjährige mit Entertainer und Hip-Hop-Band, Ferienkurs für die Zehn-
228
jährigen im Extremklettern, Selbsterfahrungswochenende für Sechsjährige. Später, wenn sie erwachsen sind, Swingerclub im nepalesischen Kloster oder ne Party zu Hitlers Geburtstag mit 'ner KlezmerCombo. Dann kann man sich ja noch die Prostata piercen oder den
Gebärmutterhals tätowieren lassen, geräucherte Pandabärenfilets
essen, ne Sightseeingtour im Leprakrankenreservat machen und
dazu noch die plastifizierte Oma in der Wohnzimmervitrine ausstellen.”
S I E G M U N D (richtet sich auf): “Du haste ja net mehr alle.”
C A T E R J A R I M (sich in Erregung steigernd): “Den Silberjeep
zum Promenieren auf der Fressgass' habt ihr schon, genauso wie
das Sechsthandy, das Zweitbuch, ne elektrostatische Analdusche
im Klo und Piranha-Aquarium im Badezimmer, Hubschrauber fürs
Wanderwochenende in Graubünden. Habt doch bestimmt schon
alles für euren Abgang geregelt, Beerdigung in Marbella, mit original Dixieland-Combo aus New Orleans, im teflonbeschichteten
Zinksarg mit Platinintarsien..."
S U S A N N E (voller Empörung): “Muß ich mir das anhören. Du bist
ja wohl plemmplemm.”
C A T E R J A R I M (lauter): "Euch müßte mal der Obertaliban aufs
Dach steigen, ihr mit eurem Wohlstandsgehirntumor..."
S I E G M U N D (springt aus seinen Liegesessel auf, wird laut): “Du,
du Wichsä, mach’ doch deinen Urlaub in Afghanistan oder im Irak!”
C A T E R J A R I M (rot vor Zorn): “Ich mach' meinen Urlaub hier,
und der würde mir sogar gefallen, wenn nicht solche Vollidioten wie
ihr mich von der Erholung abhalten würden.”
229
S I E G M U N D (rennt auf und ab, jetzt in apoplektischer Erre-
gung): “Du bist so’en Arschloch, so was ist mir ja schon lang’ net
mehr begeschnet. Dich müßte man ja aus dem Verkehr ziehen."
K A T H A R I N A (zu Kiki): “An deiner Stelle würde ich mich schä-
men, so einen Papa zu haben.” (Kiki fängt an zu weinen, Consuelo
zündet einen Kracher, der für die 14.-Juli-Feier angeschafft wurde,
und schmeißt ihn den Kohldepps vor die Füße.)
C A T E R J A R I M (so laut er kann): “Alle raus hier. Verschwindet
und laßt euch ja nicht mehr blicken, auch nicht zu Hause. (Etwas
leiser) Für den Kaffee nehme ich kein Trinkgeld.”
S U S A N N E : “Ich muß mal mit Hagen reden, daß sie dich in die
Klapse steckt. Komm', Siggi.”
S I E G M U N D (faßt sich an die Stirn, schreit): “Für den Muckefuck
verlang ich Schmerzensgeld.” (Die Kohldepps ab, machen auf dem
Kiesweg einen Blitzstart, so daß einzelne Steinchen bis in die Tassen mit dem erkalteten Ricorée fliegen. Consuelo schmeißt ihnen
einen Kracher in den Beiwagen, doch Siegmund hält die Balance.)
Das Tor bleibt offen. Der Vorhang fällt. Ende.
Manchmal unterschätze ich Siegmund. Habe glatt gedacht, daß er
mir die Sache mit der Kaffeespezialität von den Pieds-Noirs abnimmt.
Ich widme mich wieder dem Badiou, bin aber zu aufgewühlt, um das
ordentliche Studium mit Textexegese und Exzerpttätigkeit wieder
aufnehmen zu können. In mir toben die widerstreitenden Erkenntnisse aus dem Vorfall in einem Aufzug: Das Gute an dem Streit ist,
daß ich endgültig Ruhe vor den Kohldepps haben werde, und das
230
ab sofort, nicht erst, wenn sie in ihrem blöden Zinksarg liegen. Andererseits mißfällt mir die Pattsituation. Mir ist es nicht gelungen,
die Kohldepps vernichtend zu schlagen, die besseren, die alles
niederschmetternden Argumente zu entwickeln, einfach meinen
bescheidenen Teil dazu beizutragen, die planetarische Dummheit,
die sich in den Kohldepps manifestiert, auszulöschen.
Frühere Generationen konnten sich da noch wenigstens auf den
göttlichen Zorn verlassen. Wir jedoch sind auf uns allein gestellt,
und das kann doch nicht sein, sage ich mir. "Dies irae, dies illa,
Solvet saeculum in favilla - Tag der Rache, Tag der Sünden, wird
das Weltall sich entzünden", diese wunderschön bedrohliche Formel, die mein Schulfreund Franz-Joseph Lieblang als gesungenen
Bannfluch gegen die Lehrer schleuderte, bleibt angesichts solcher
Zeitgenossen wie der Kohldepps einfach wirkungslos, ja rundweg
verfehlt. Auch das „Dies irae“ hat sich hoffnungslos säkularisiert,
ist von Mozart mozartkugelhaft kandidiert, von Verdi überstrapaziert, von Brahms zitiert, entschärft und verharmlost worden. Neuerdings nennen sich sogar Gothic-Rockgruppen danach. Und es sollte
uns doch der Tag der Abrechnung verhießen sein, einfach, weil es
den Hochmögenden wie mich ein Trost ist zu wissen, daß es ein
individuelles Gericht gibt (beim Tod eines jeden) und ein Endgericht
(beim Untergang der Welt). Was können wir tun, uns, den Selbstgerechten und den Ungerechten, das gerechte Antlitz eines sich nicht
mehr offenbarenden Gottes vor Augen zu führen, auf daß wieder
Demut, Vernunft (ja Vernunft!) und Bescheidenheit einkehrten und
die Welt ablasse von ihrem lästerlichen Treiben? Und da faselt Badiou von einer Identität aller in Christus. Mit mir nicht, Identität mit
den Kohldepps kommt gar nicht in Frage. Ich bin schlichtweg das
Nichtidentische zu ihnen.
231
Vielleicht aber gibt es einen brauchbaren Hinweis in einem anderen Werk Badious: Ich habe seine „Ethik“ („L’éthique. Essai sur la
conscience du Mal“) immer deshalb geschätzt, weil sie sich vorzüglich als Splitterbombe gegen Habermasens Diskursethik einsetzen
läßt. Aber auch dort ist nichts zu finden, was sich gebrauchen läßt,
kein Sollen, das aus dem Sein folgt, nur Warten auf das Ereignis. Es
stimmt schon, was Odo Marquard sagt, daß Sollenshypertrophie zur
Seinsvermiesung führt. Aber reicht es, wenn man auf das Sollen
verzichtet, und - wie Badiou - im Wald der Ungewißheiten und Unwahrheiten die Melodie des Wahrheitsereignisses pfeift? Und:
Kann denn Pfeifen Wahrheit sein?
Ich muß zurück ad fontes, zu Paulus selbst. Mal im Original blättern, was ihm zu den Kohldepps einfällt, bezweifle aber von vorneherein, daß es sich zu einem ordentlichen Anathema, ich meine einem solchen mit wirklich höchster Effizienz, reicht. Wie wär's mit:
"So tötet nun die Glieder, die auf Erden sind, Unzucht, Unreinheit,
schändliche Leidenschaft, böse Begierde und die Habsucht, die
Götzendienst ist. Um solcher Dinge willen kommt der Zorn Gottes
über die Kinder des Ungehorsams." (Kolosser 3,5-6) Ich fürchte,
daß das die Kohldepps unbeeindruckt läßt, ja daß die Wirksamkeit
sich umlenkt, auf den, der das Anathema ergehen läßt, konkret: mich
der Lächerlichkeit preisgibt. Siegmund wird sagen: "Soll er doch
kommen, der Zorn, ha, ha." Und von Susanne höre ich auch schon:
"Hä, ist doch voll peinlich, Vorhaltungen wegen Unzucht, und das
heutzutage."
Was mich aber zugegebenermaßen vollends ratlos macht, ist die
Passage, die mir gerade eben beim Sondieren der Episteln ins Auge
springt: "Denn worin du den andern richtest, verdammst du dich
selbst, weil du ebendasselbe tust, was du richtest." (Römer 2,1) Wie
denn? Was denn? Wer soll nun richten, wenn der altestamentari-
232
sche Gott mildernde Umstände walten läßt und Paulus das Hohelied
der Liebe singt? Hier muß ich mir noch viele Gedanken machen und
womöglich noch viele Seiten fühlen.
Aber erst mal muß ich abschalten. Ich genehmige mir einen dreistöckigen Pastis aus Gabors unerschöpflichen Vorräten, unverdünnt. Ah, das tut gut. Der Geist des Wermuts brandet heiß in mir
auf. Absinth mit seiner halluzinogenen Wirkung wäre noch besser
gewesen (obwohl der Besuch der Kohldepps mir wie eine Halluzination vorkam) - die grüne Fee, nur ein kleines bißchen Thujon, Gift
des Absinths, und die Gedanken kämen gegen die Kohlhepps wieder in die richtige Stellung. Die Alternative hätte in was Biblischem
bestanden, in einem „Kanaanbalsam“ zum Beispiel. „Kanaanbalsam“
setzt sich zusammen aus einem Deziliter Brennspiritus, zwei Deziliter
dunklem Bier und einem Deziliter gereinigter Politur. Sein Erfinder,
der russische Schriftsteller Wenedikt Jerofejew, verheißt „Vulgarität
und dunkle Kräfte“, die sich beim Genuß des Cocktails einfinden
würden. Das wäre das richtige für mich: Vulgarität und dunkle Kräfte. Aber ich habe keine gereinigte Politur, und ob ich das dunkle
Bier hier kriege, ist auch fraglich. Und was mache ich dann, wenn ich
hoffnungslos besoffen, vulgär, brutal und womöglich vom Satan
beseelt bin? Wird das Mme Knotterbeck gutheißen? Wohl kaum?
Also nichts mit der grünen Fee, nichts mit dem „Kanaanbalsam“.
Nur Pastis. Immerhin entfaltet er eine Wirkung, eine unzulängliche
zwar, aber eine womöglich in einem gänzlich anderen Sinne brauchbare: Aus dem Nebel des illuminierten Bedenkens steigen die Umrisse einer Lösung auf: eine Theorie des Komplotts, eine mit hohem
Durchschlageffekt und einer Langzeitwirkung, wie ich bang erhoffe.
Leider kann ich mich aber nicht sofort mit ihr beschäftigen. Die
Uhr erinnert mich, daß ich mich der Küche und nicht der Theorie des
Komplotts zu widmen habe. Heute gibt es was nicht Alltägliches, es
233
wird eine Trias von kulinarischen Höhepunkten einleiten, die in
dieser Woche noch abzuarbeiten ist und deren Schlußakkord ich
noch nicht verraten möchte. Das Wetter erlaubt uns nämlich ein
Gericht, das sich eher für kühle Wintertage als für den kalendarischen Hochsommer eignet: Cassoulet - und zwar nicht so eine gehaltlose Grütze, die einem die Billiggastronomie liefert, sondern ein
„Cassoulet Royal au Maître Cater Jarim“. Und dazu benötige ich
(alle Angaben für gut sechs Personen - ich nehme für die Familie
Jarim heute etwas weniger):
Ein Kilo kleine weiße oder braune Bohnen, je ein halbes Pfund
Bauchfleisch vom Schwein, Lammfleisch, Dörrfleisch, zwei Entenkeulen, eine Knoblauchwurst (am besten die hier unten bekannte
Chorizo, eine Trockenwurst mit Paprika und Knoblauch; die im Cassoulet häufig empfohlene Saucisse toulousienne, eine Art Bratwurst, ist mir zu weich) acht kleingeschnittene Schalotten (ersatzweise drei Zwiebeln), ein halbes Pfund kleingewürfelte Möhren,
sechs Knoblauchzehen, zwei Lorbeerblätter, vier bis sechs Gewürznelken, einige Zweiglein Thymian, Butter, Olivenöl, Salz, Pfeffer,
Gemüsebrühe, eine Flasche Rotwein (am liebsten mag ich dazu den
schwarzen Cahors, das hat aber rein rituelle, keine geschmacksbezogenen Gründe - es gehen alle Weine aus dem Südwesten und
Süden, nicht verwenden würde ich Burgunder oder Beaujolais, oder
gar deutschen Portugieser oder - horrible dictu - Dornfelder, aber die
stehen hier nicht zur Debatte).
Die Bohnen habe ich über Nacht eingeweicht. Das Einweichwasser wird weggeschüttet, denn hierbei handelt es sich um ein mit
flatulenzbildenden Inhaltsstoffen hochangereichertes Destillat.
Bohnen anschließend nochmals gut abspülen. Das Fleisch mit Ausnahme der Entenkeulen wird im Gänsebräter oder einem ähnlichen
backofenfesten Gerät angebraten. Zu Hause nehme ich eine große
234
Kasserolle und steige dann für den weiteren Gargang in der Röhre
auf meinen irdenen Elsaßtopf (meine „Cocotte d'Alsace“) um. Die
Schalotten und die Möhren werden mitgeröstet, die Bohnen und die
Gewürze kommen hinzu; das gesamte Bratgut einschließlich dem
Gemüse wird mit dem Rotwein übergossen, bis der Inhalt des Topfes knapp bedeckt ist. Obenauf kommen die Entenkeulen, und der
gut verschlossene Topf kommt jetzt für drei bis vier Stunden in die
auf etwa 175 Grad vorgeheizte Röhre. Eine halbe Stunde vor Ende
der Garzeit wird der Deckel abgenommen, zehn Minuten vor Ende
der Garzeit kommt die in Scheiben geschnittene Knoblauchwurst
hinzu, am Schluß wird noch das Geflügelfleisch abgelöst.
Es gibt natürlich noch andere Zubereitungsarten. So wird in der
Gegend von Castelnaudary (der Hochburg des Cassoulet) statt des
Rotweins etwas Brühe zugegeben und eingekocht, wieder zugegeben und eingekocht und dieser Vorgang mehrmals wiederholt, bis
sich auf der Oberfläche eine dunkle Kruste bildet. Beliebt ist auch,
das Ganze mit Semmelbröseln zu übergeben und zu gratinieren.
Genau genommen gibt es so viele Zubereitungsarten des Cassoulet, wie es zwischen dem Mittelmeer und der Gironde Familien gibt also so schätzungsweise fünf Millionen Varianten. Hier in der Gegend wird Weißwein (statt des Rotweins), dazu Tomatenpüree verwendet. Was die Zutaten betrifft, so kann man auch Gänse-Confit
einsetzen. Um Weihnachten nehme ich statt der Enten- zwei ganze
Gänsekeulen. Das macht das Cassoulet noch schwerer und schafft
eine gute Grundlage, gegen die allfällige Kälte mit einem guten verdauungsfördernden Obstschnaps zu Leibe zu rücken.
Weil ich bereits mit dem Pastis gesündigt habe und heute nur ein
leichtes Cassoulet, gewissermaßen ein Cassoulette, zu mir genommen habe, verzichte ich auf einen Digestif, habe aber nicht darauf
235
geachtet, was Hagen, die inzwischen eingetroffen ist, zu sich nimmt.
Meine Vermutung, daß sie nach ihrem Montag in Béziers einen
Seelentröster benötigt, erweist sich als irrig. Ihr hat es dort ausnehmend gut gefallen, und das sollte mir zu denken geben. Denn ihr
kann es, schlußfolgere ich, nur deswegen gefallen haben, weil sie
mich mal nicht um sich hatte. Oder ist sie ganz einfach froh, dass sie
die Kohldepps verpaßt hat?
Mittwoch, 12. Juli
Früh um Acht. Hupen vor der Toreinfahrt. Nein, nein, viermal
nein. Nicht schon wieder Besuch. Kann man denn nirgendwo auf
der Welt in aller Ruhe, im Kreise der Lieben seinen Urlaub verbringen, ohne dass sich der Aufenthaltsort sofort herumspricht? Ich zu
Hagen: „Wir reisen sofort ab. Ich will nach Hause.“ Doch zu spät,
Messali Kadour und Dionys Kallaengoulberck fangen mich auf der
Terrasse ab. Es sind die beiden größten Nassauer im Erdenrund,
zwei Megaschmarotzer, die sich jedes Jahr im Sommer auf den Weg
machen, um zwischen Apenninen und Sierra Nevada erholungssuchende Bekannte mit ihrer Anwesenheit zu beglücken. Ich kenne
Leute, die gegen alle ihre Überzeugungen und Neigungen nur deshalb an der Zuidersee Ferien machen, weil sie dort vor den beiden
einigermaßen sicher sind. Hollands Gestaden nämlich behagt Messali und Dionys überhaupt nicht: schlechte Küche, schlechtes Klima, schlechter Käse, so Dionys, der es wissen muß - sein Vater
stammt aus Brabant. Haben sich wohl früh aus den Betten geschält,
um das gemutmaßte reichhaltige internationale Frühstück bei uns
nicht zu versäumen. In der Tat stehen auf dem Frühstückstisch:
Schoko-Müsli (für die Kinder), ein Glas Erdbeermarmelade (für Hagen), eine Tube Mayonnaise und eine Büchse Ölsardinen (für mich).
An den langen Gesichtern der beiden sehe ich, daß ich mit meiner
236
Vermutung völlig richtig lag. Also hole ich aus dem Kühlschrank
noch zwei etwas eingetrocknete Scheiben Kochschinken und meine
nahezu unversehrte Saucisson, was aber die Mienen wenig aufhellt
- im Gegenteil, wenn ich es genau beobachte, sogar weiter verdüstert. Die beiden haben eine mehrtägige Irrfahrt in den Cevennen
hinter sich, auf der (erfolglosen) Suche nach irgendeinem Thomas
und dessen Lebensgefährtin, die - so eine vermeintlich zuverlässige
Quelle - in der Nähe von Le Vigan ein toskanisches Landhaus mit
integriertem Pool und beheizbarem Weinberg oder umgekehrt besitzen sollen.
Mit Messali, einem gebürtigen Algerier, der vor vielen Jahren
nach Deutschland rübergemacht hatte, bin ich vor zwei Jahren, als
die Sommertournee wegen Dionys’ Windpocken ausfallen musste,
vom Isèretal durch die Berge des Tricastin zum Mont Ventoux gewandert. Da wir dummerweise die Michelinkarte 1: 200 000 benutzten
und dementsprechend die Entfernungen falsch einschätzten, sind
wir fast verdurstet, von den tagelangen Abirrungen mal ganz abgesehen, die uns fast um unseren Verstand brachten. Aber das war
noch gar nichts gegen die Vorwürfe, die ich mir allabendlich, wenn
ich Messali zum Essen freihielt, anhören mußte. Welcher Beelzebub,
Satan oder Scheitan mich denn wohl geritten habe, in Südfrankreich
eine so strapaziöse Wanderung zu unternehmen, statt mich, wie es
den klimatischen Bedingungen angemessener gewesen wäre, einer
Dauersiesta, nur unterbrochen von Mahlzeiten und kleineren Zechgelagen, in einem behaglich ausgestatteten Ferienhaus zu unterziehen?
Dionys Kallaengoulberck kenne ich seit gut einem Vierteljahrhundert. Es ist eine schwierige Freundschaft, die wir beide pflegen, im
Grunde genommen gar keine Freundschaft, eher eine Art Ve rtrautheit. Ich kenne seine Fehler und er meine Schwächen. Diese Einsei-
237
tigkeit weiß er geschickt auszunutzen. Auf uns trifft in etwa das zu,
was der Realitätenhändler Karl Ignaz Hennetmair in Bezug auf
Thomas Bernhard sagte: „Seit sieben Jahren kennen wir uns, vor
fünf Jahren waren wir splitternackt in der Alm baden, aber erst in
den letzten Wochen hat die Bekanntschaft einen Grad erreicht, daß
wir laut voreinander furzen.“ Eine Steigerung war kaum mö glich
gewesen, deshalb haben sich Bernhard und Hennetmair drei Jahre
später unwiederruflich verkracht. Dionys’ und meine Bekanntschaft
dagegen hält immer noch an, obwohl es Dionys in allen Bereichen
der Schlechtigkeit durchaus mit Bernhard aufnehmen kann, konnte,
muß man sagen, denn Bernhard bietet keine Ve rgleichsmöglichkeit
mehr, weil er ja 1989 das Zeitliche segnete. Nur zusammen gefurzt
haben wir nicht, auch nicht - wenn ich das so recht bedenke - zusammen gebadet, und nackt schon gar nicht. Stattdessen haben wir
in jungen Jahren die ganze Provence durchpflügt und die Côte
d’Azur abgegrast, immer auf der Suche nach grenzlosen Abenteuern
und immerzu nur unendliche Enttäuschung findend. Dionys hatte
die Angewohntheit, sich tagelange Schweigegelübde aufzuerlegen,
nachdem ihm, dem Gelegenheitsdichter, einige Verse abhanden
gekommen oder nicht wie erwartet zugeflogen waren. Die Schweigephasen, waren mir nicht unangenehm, obwohl ich seine gelehrten
Deklamationen durchaus zu schätzen wußte. Ausgesprochen lustig
waren seine Starckdeutschgedichte. Starckdeutsch ist eine dem
Mittelhochdeutschen entlehnte Kunstsprache mit stark betonten
Vokalen und Konsonanten und deftigen - “starcken”- Sujets. Dionys hatte Starckdeutsch zwar nicht erfunden (die Urheber entstammten einer Nürnberger-Westberliner Clique um Matthias Koeppel), er ist aber Virtuose im Rezitieren und Neudichten. Kostprobe
(der Kinder wegen eine harmlose): „Wanns klingult upf dem Fluore,
donn izt wollst Teilephun / Ein Männlein kuommt hervuore / Unn
säggt: ‚Hüor bünn ick schuon.‘“
238
Außerdem kann Dionys gut bellen. Er kann so gut bellen, daß
Hunde ihn für seinesgleichen nehmen und ihre Herrchen und Frauchen sich, wenn sie seiner ansichtig werden, veralbert fühlen. Das
ist manchmal lustig und manchmal (wenn ein Herrchen zubeißt)
weniger.
Dionys hat weitere merkwürdige Angewohnheiten. Zum Beispiel
die zwanghafte Beschäftigung mit ziemlich abgedrehten Themen.
Das für ihn wichtigste ist in einer unveröffentlichten und unpublizierbaren Publikation mit dem Titel „Der blasphemischkynogologische Gottesbeweis“ dargelegt. Unpublizierbar ist die
Publikation deswegen, weil sich die zunächst in Schwachdeutsch
gehaltene Gottesbeschimpfung über den in Starckdeutsch formulierten Mittelteil zu einer in Mordsdeutsch gehaltenem, also schon
kaum mehr lesbaren (und auch weder zitier- noch rezitierfähigen)
rhapsodischen Delirium der Gottesverwünschung steigert. Die Idee
ist folgende: Gott wird in einem dem Menschen eben noch möglichen, bis zur Aphasie reichenden blasphemischen Auswurf, der
schließlich in reine Bellgeräusche („die große Gottverbellung“) übergeht, aufs (nach menschlicher Vorstellung) Äußerste gereizt,
und, weil er auf die Herausforderung nicht reagiert, ist der Beweis
seiner Existenz erbracht. „Wie das?“, frage ich.
Dionys: „Würde er reagieren, hätte er sich dadurch als menschlich
erwiesen, und das widerspricht der Gottesbedingung.“
Cater Jarim: „Einwurf, Euer Ehren. Das beweist gar nichts: Wenn
es ihn nicht gibt, dann kann er auch die Herausforderung nicht
annehmen.“
Dionys: „In diesem Falle ließe sich seine Nicht-Existenz aber nicht
falsifizieren. Ich sage nur Popper, Karl Popper. Klippschule des
239
kritischen Rationalismus! Und dann ist seine Nicht-Existenz auch
nicht existent.“
Cater Jarim: „Und wenn er existierte, deine Blasphemie aber unterhalb seiner Wahrnehmungsschwelle läge? Sozusagen als Folge der
Nichtrelevanz menschlichen Tuns?“
Dionys: „Du machst wohl Witze, Wahrnehmungsschwelle, und
das bei einem Gott!“
Der eigentliche Anlaß für Messalis und Dionyss Besuch ist das
Konzert von Emir Kusturica mit seinem „No Smoking Orchestra“ in
den Arènes von Béziers. Sie wollen mich zum Mitkommen überreden. Emir habe ich mal im „Café Orfeo“ in Frankfurt getroffen. Er war
dort zu Besuch bei seiner Produktionsfirma Pandora, die im gleichen
Haus ihren Sitz hatte. Ich kann mich nicht mehr sehr gut an ihn und
schon gar nicht mehr an unser Gespräch erinnern, denn ich war sehr
zu an diesem Abend. Genau genommen weiß ich überhaupt nicht,
ob ein Gespräch stattgefunden hat und im Grunde genommen auch
nicht, ob ich ihn je dort getroffen habe. Aber mir ist so, als sei da
was gewesen, und wenn ich seine Filme sehe, bin ich mir sogar
wieder sicher. Ich erinnere nur an “Underground”, “Schwarze Katze
- weißer Kater”. Wer könnte nach diesen herrlichen Werken der
Cinemagie vergessen, daß sich unsere Wirklichkeit nur aus Projektionen zusammensetzt, wenigstens so lange man sich nicht den Kopf
an der geschlossenen Tür einrennt.
Nun gut, sage ich, ich habe Emir noch nicht auf der Bühne erlebt,
ich komme mit. Diesmal hat Hagen die Chance, unliebsame Gäste
abzufertigen. So denn solche eintreffen, dann mag sie sich gewiß
sein, daß sie weder aufgrund einer Einladung noch eines Versprechers meinerseits kommen; außerdem pflege ich ich keinen Umgang
240
mit Leuten, die auch nur näherungsweise dem Grad von Kreuzdummheit entsprechen, der den Kohldepps eigen ist. Immerhin verschafft mir der Besuch von Messali und Dionys die Gelegenheit,
meine Thesen zum Hl. Paulus im gelehrten Diskurs zu überprüfen.
Nassauer sind immer auch Müßiggänger, und Müßiggänger haben
viel Zeit sich privatim weiterzubilden. Messali beipielsweise ist Experte des Marranentums, also der Kultur der spanischen Juden, ein
Experte allerdings, der die gemeinsame Abneigung des Schweins
durch Juden und Araber mit dem Stierkult der Spanier zu einer neuartigen Theologie des Hornviehs, einer Art minotaurischen Religion
amalgiert hat. Er folgt darin dem katholisch-anarchistischen Schriftsteller José Bergamín, der in den 20er Jahren eine Taurologie erfunden hat.
Dionys wiederum hat seine im bürgerlichen Sinne „Dauerbeschäftigungslosigkeit“ dazu genutzt, den ganze Goethe in der von Japanern nachgedruckten Ausgabe zu lesen - nur um hinterher sagen zu
können: „Ist doch alles Mist, was der Geheimrat da geschrieben hat.
Wer das nicht glaubt, der soll es mir erst mal nachmachen und die 60
000 Seiten gefälligst selber lesen, bevor er mir Contra geben will.“
Messali und Dionys kennen Sète noch nicht. Sie folgen deshalb
willig meinem Vorschlag, eine kleine Spritztour dorthin zu unternehmen. Der Tag ist ohnehin im Eimer, und so kann ich mir wenigstens
den zusätzlichen Aufwand in der Küche und bei Tische ersparen.
Das Auto parken wir in der Nähe des Pont de la Victoire, einer
Drehbrücke, die alle Schiffe auf dem Weg in den Canal du Midi
passieren müssen, weil wir dann - als kleine Reverenz an unseren
maghrebinischen Freund - gemächlich durch das Araberviertel
schlendern können. Messali ist glücklich, obwohl er keinen geldwerten Vorteil davon hat, saugt die Atmosphäre auf. Er stellt - Meister
der Indiskretion - die Lauscher auf, berichtet uns in allen Einzelhei-
241
ten über die Gespräche seiner Landleute und wird vor allem im
PMU-Tiercé fündig, wo wir einen ersten Kaffee trinken: Hier drehen
sich die Erörterungen vornehmlich um Immobiliengeschäfte, etwas
Geldwäsche ist dabei, ein wenig Menschenschmu ggel, aber sonst
um die Geschehnisse zu Hause in der Heimat, um gegebene und
gebrochene Eheversprechen, ignorierte Rückzahlungsverpflichtungen, kurz: um die kleinen Dramen des Alltags.
Ich will meine Gäste ins „Marty“ schleusen. Da weiß man, was
man hat, und unangenehme Überraschungen versehen mit den
entsprechenden Kommentaren zur Lage bleiben mir erspart. Aber
wo zum Teufel ist das „Marty“ abgeblieben? War das nicht vor zwei
Wochen noch rosa? Dieses Lokal, das auch „Le Marty“ heißt, ist
ganz in bleu - genauso scheußlich wie das alte „Marty“, aber
Scheußlichkeit in bleu. Die Auflösung des Rätsels: Der Besitzer hat
gewechselt, und das erste, was er getan hat, war ein Konzeptwechsel. Der Umstieg von Altrosa auf Neubleu soll wohl die Neuorientierung verdeutlichen. In Frankreich nennt man sowas "nouvelle formule", und das bedeutet Übervorteilung ohne Aufsehen: Man muß
damit rechnen, daß die Zahnpasta mehr Tube und weniger Inhalt
hat, die Krankenversicherung ermäßigte Leistungen und höhere
Prämien, und Restaurants eben mehr Chic (oder was die Betreiber
dafür halten) und schlechteres Essen. Zur "nouvelle formule" des
„Marty“ gehört wohl der schwule Kellner, der Bestellungen mit
einem "Wenn Sie befehlen, tue ich das für Sie" oder "Für Sie tue ich
doch alles" quittiert. Bedenklich sollte stimmen, daß das Lokal bis
ein paar "marquereaus" (Goldkettchentypen), am Nachbartisch,
wohl Freunde des Hauses, brechend leer ist. Meine Befürchtungen
werden nicht enttäuscht, das Essen ist schlecht, der Picpoul sauer
wie ein angeketteter Pittbull.
242
Das einzige, was die Situation rettet, ist das jetzt einsetzende
Spektakel an den gegenüberliegenden Molen: Die Fischerboote
kommen zurück, nur sind sie viel größer als damals vor dreißig Jahren, mächtige Trawler, begleitet von riesigen Möwenschwärmen.
Ein Schauspiel ohnegleichen, das trotz der Mechanisierung des
Entladevorgangs (es sind kaum Menschen beteiligt) etwas vom Flair
des alten Sète hat. Die Stadt lebt vom Meer, und man merkt, daß
sich hier die Einheimischen treffen, um Tag für Tag Zeugen der
immerwiederkehrenden Entladeaktion zu werden. Unmöglich, sich
dem Vorgang zu entziehen, und wem das Gefühl für das Sakrale
noch nicht gänzlich abhanden gekommen ist, der wird ergriffen sein,
von dem was er da sieht. Schnell weg, bevor mich die Rührung
packt oder sich der Kellner womöglich noch zu einer erlebnisgastronomischen Bemerkung hinreißen läßt. Ich überreiche ihm das Schälchen mit dem sorgfältig abgezählten Rechnungsbetrag, sage auf
Deutsch: "Steck' dir's wo hin", und wir verziehen uns. Namens meiner Begleiter bitte ich die Leser, meine der Verärgerung geschuldete
Bemerkung zu entschuldigen und die Telefonnummer im zweiten
Kapitel des vorliegenden Buches zu streichen.
Messali und Dionys sagen: "Null Punkte für das, was du uns da
geboten hast, na ja, vielleicht fünf Punkte wegen der Fischaktion.
Sei froh, daß wir gekommen sind, um dich aus dem Urlaubsmief
herauszureißen. Wir bieten dir heute Abend etwas, das seine hundert Punkte wert ist." Noch wissen wir alle drei nicht, wie wahr das
gesprochen ist.
Emir Kusturica scheint in Frankreich etwas zu gelten: Vor den Arènes wartet, als wir ankommen, eine vielhundertköpfige Menge auf
Einlaß. Wir stellen fest, daß wir zusammen mit den Musikern das
Durchschnittsalter empfindlich nach oben treiben. Um uns herum
Hip-Hopper, Rastas, Neo-Folks, kettenrasselnde Punks, Lederfeti-
243
schisten, die jüngste Edition der „blousons noirs“ (das sind die in
Frankreich seit fünfzig Jahren mit jeder Generation neu erstarkenden
Halbstarken) und sonstige Wiedergänger der vergangenen Jugendkulturen, aber kaum einer oder eine über dreißig. Die einzigen, die
keinen Botschafter entsandt haben, sind die Anhänger des Gothic
Rock.
Vielleicht hängt die Begeisterung für die Mannen um die 50 damit
zusammen, daß Emir, der in der Gruppe den Elektrobaß spielt, einen
Film über die sommerliche Tournee dreht, der "Super 8 Stories"
heißen und irgendwann auch mal in die Kinos kommen soll. Wer
weiß, werden sich die heute anwesenden Subkulturen da gesagt
haben, vielleicht kommen wir als Stars oder wenigstens als Statisten
in einen Film, der für ein zwei drei Oskars nominiert wird (was natürlich nicht der Fall sein wird, genauso wenig wie für die Goldene
Palme oder das Bambi). Das „No Smoking Orchestra“ ist eine Art
„Leningrad Cowboys“, nur weniger festgelegt. Da gibt es nicht wie
bei der Finnentruppe mit ihren zu Riesenbananen aufgetürmten
Frisuren ein einheitliches Markenzeichen; das einheitliche Markenzeichen ist beim „No Smoking Orchestra“ das Uneinheitliche. Man
muß sich vorstellen, daß Rock, Latino, Gypsy, Folk, Polka, Punk,
Freestyle, alle möglichen Klangfiguren dieser Welt sich zu einem
gefährlichen Mix aufaddieren, den die Band „Unza unza Musik“
nennt. 1980 in Sarajewo gegründet, wurde die Gruppe vor und nach
dem Zerfall Jugoslawiens mehrmals verboten - Verbote, die vor allem
eins bewirkten, daß sie noch bekannter wurde, vor allem jetzt auch
im Ausland (wozu Deutschland trotz einiger Deutschnummern im
Repertoire komischerweise nicht zählt).
Was wir heute abend in den Arènes von Béziers erleben, das hätte ich mir allerdings lieber auf den Allées Paul Riquet, der riesigen
platanengesäumten Promenade im Herz von Béziers, vorgestellt, und
244
zwar sonntagsnachmittags zur besten Fiestazeit. Das würde die
Biterrois und Biterroises (so heißen abgeleitet vom Stadtnamen die
Ureinwohner) etwas aufmischen, und zwar so, daß sie sich künftig
nicht mehr so lachhaft - gockelhaft die Biterrois und hinkelhaft die
Biterroises - benehmen. Wie Dr. Nelle Karajic, der Frontmann zum
Song "Lubenica" einen Striptease simuliert, den besten noch nicht
einmal angedeuteten Striptease, der je auf dieser Erde zu sehen war.
Oder wie der Akkordeonist Zoki Miloshevic auf „Imao Sam Bjelog
Konja“ ein Solo gibt, das in seiner Gewalttätigkeit die Kriegsverbrechen seines Beinahe-Namensvetters übertrifft. Oder wie auf dem
programmatischen “Unza Unza Time” Alexander Balaban und Nesho Petrovic mit der Tuba und dem Saxophon ein ganzes muslimisches Blasorchester in den Schatten stellen und darauf Dejan Sparavalo mit einem teuflischen Violinsolo zur Verarschung der wichtigsten britischen Subkulturbotschaften durch Dr. Karajic überleitet
(“Hit me with my rhytm stick” und “Video kills the radio star”) - all
das ist geeignet, das zentralistische Frankreich gefährlich zu balkanisieren oder gar das monetäre Europa aus den Angeln der gemeinsamen Währung zu heben.
Nach dem Konzert und den fünf Zugaben sind wir angenehm ermattet. Ich hätte nicht gedacht, daß Popkonzerte (ich habe das letzte
in den 80er Jahren bei Paul Weller in der Jahrhunderthalle Höchst
hinter mich gebracht, Dionys war noch nie in einem, und Messali
weiß gar nicht, was das ist) noch so entgiftend auf mich wirken. Wir
fühlen uns in etwa so großartig wie Kusturicas Filmfiguren nach
einem einwöchigen Slibowitz-Marathon und beschließen, auf dem
Heimweg irgendwo bei Valras-Plage einen Drink zu nehmen und
dabei noch erkenntnisgesättigte Eindrücke vom Nachtleben im Languedoc mit nach Hause zu nehmen. Doch als wir auf den Parkplatz
kommen, herrscht in der Parklücke neben unserem Auto Aufregung.
245
Zwei Youngster stehen da und zeigen entsetzt auf die Bremslichter
eines Renault-Kangoo, die sich schnell in der Nacht entfernen.
Dionys erfaßt als erster die Situation: klarer Fall von schwerem
Diebstahl. Hier ist, meint er, Solidarität unter den Jüngern Kusturicas gefragt. Er schiebt die Jungs in unsere Karre, überhört meine
Frage: “Die, die den Bruch gemacht haben, waren doch auch im
Konzert? Sind wir mit denen nicht solidarisch?” Er schwingt sich
hinters Steuer, und wir nehmen mit Karacho die Verfolgung auf. Das
ist so ganz nach seinem, nicht aber nach meinem Geschmack. Als
Kind wollte Dionys wie einige Millionen andere Kinder Rennfahrer
werden, sein Berufswunsch wurde, wie man heute weiß, nicht erhört, aber es hat zum einem Taxiführerschein gereicht, und dieser
Aufgabe hat er sich vorzugsweise im Frankfurter Bahnhofsviertel
mit Bravour erledigt. Einmal hat er sogar einen steckbrieflich gesuchten Mörder - nolens volens - aus der Gefahrenzone gebracht –
und zwar so nachhaltig, daß sein Fahrgast nie gefaßt werden konnte.
Kaum gestartet, gewinnen wir auch schon Anschluß an die Fahrzeugdiebe; Dionys klebt jetzt an der Ladetür des Kangoo, und so
brettern wir - wie im Film - durch die Nacht, über die Départementale
15 in Richtung Roujan. Die im Kangoo haben den Braten schon
längst gerochen, sie versuchen, uns mit Bremsmanöver und kalkulierten Schleudereinlagen (man muß sich über die Spurtreue des
Kangoo nur wundern) aus dem Konzept zu bringen, doch da haben
sie bei Dionys die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Die beiden
Jungs auf der Rückbank kommen ins Bibbern, und wir (ich habe
meine Bedenken im Rausch der Verfolgungsjagd zurückgestellt)
müssen sie mit Nachdruck daran erinnern, daß im Kampf gegen das
Verbrechen Kleinmut und Zweifel unangebracht sind. Nach zehn
Kilometer bietet sich endlich die Gelegenheit zu einem Überholma-
246
növer, mit dem wir den Anfang vom Ende des Diebstahlversuchs
einleiten wollen. Aber natürlich ist es - abermals wie im Film, wir sind
wohl im Film, und zwar in einem der C-Kategorie - ein Bauer mit
einem unbeleuchteten Fahrrad, der unser Vorhaben vermasselt.
Dionys muß in die Bremsen steigen, der Bauer düst in den nahen
Entwässerungsgraben, der Abstand vergrößert sich wieder, und wir
sehen nach zwei Kilometern gerade noch, wie weit vorn der Kangoo
in einen Feldweg einbiegt. Hatten wohl gedacht, der Sichtkontakt
sei abgerissen, klarer Fall von Denkste, wir jagen den Feldweg, der
jetzt in eine bewaldete Schlucht mündet, entlang, gleich haben wir
sie, aber nein, wir können gerade noch auf einem Miniparkplatz in
einer Lichtung abbremsen. Vor uns großes Getöse, Hip Hop wie in
den Gorges d’Héric, nur vermessener, gespeist von einem gigantischen Soundsystem. Messali schreit, da sind sie, und sie sind da,
aber um sie herum etwa zehn Typen mit Baseball-Schlägern in der
Hand und zwei Mastinos an regelrechten Hochseeankerketten. Wie
im Film kommen sie langsam auf uns zu, sicherlich nicht, um unsere
Rostkarre auch noch zu beschlagnahmen, sondern ganz offensichtlich aus reiner Mordgier. Die Begleitmusik der Gattung „White
Trash, Big Noise“ ist auch nicht dazu angetan, etwas Kreativeres als
Mord- und Totschlag zuzulassen.
Die Killer lassen sich Zeit, spielen noch ein bißchen mit ihren Opfern, vielleicht aber sind sie so zu, daß sie gar nicht schneller können. Unsere beiden Fahrgäste ducken sich hinter uns, Messali versucht, mit einigen arabischen Verwünschungen mögliche, aus seiner
Heimat stammende Mitläufer einzuschüchtern, dabei auf einen Rest
Autoritätsgläubigkeit seiner Gegner vertrauend, Dionys kommentiert die Lage auf seine gewohnt illusionsvernichtende Weise, und
ich habe unser Vorhaben, dem Verbrechen mit mustergültiger zivilcouragierter Selbsthilfe zu begegnen, so weit in meinen Hinterkopf
247
gerückt, daß ich mich noch nicht einmal mehr daran erinnern kann,
es je mitgetragen zu haben. Die Baseballschläger rücken immer näher, schon kann man durch den Lärmteppich hindurch die Unmutsäußerungen der Mastinos vernehmen, ja ich bilde mir ein, bereits
den stinkendem Odem aus ihren mordgierigen Lefzen zu riechen.
Gerade spielt die Musik, falls man sie als solche bezeichnen kann,
einen tief wummernden Gangsta-Rap mit einer ganzen Arie von
Polizeisirenen..., als die Bestien auf uns zu..., aber in der überdehnten Zeit realisiere ich, daß die Sirenen gar nicht in das Stück hineinpassen. Haben die das falsch gesampelt? Das sind doch französische und nicht amerikanische Martinshörner, oder sind es Halluzinationen der Todesangst, die mich glauben machen, daß ich, statt
den Biß zu spüren, Blaulicht sehe (verdammte Synästhesie). Doch
es stellt schnell heraus: Ich bin keineswegs Halluzinationen aufgesessen, die Musik erstirbt, zackige Befehlslaute mischen sich unter
hysterisches Gekreisch und heißere Flüche.
Es ist die Polizei, die das Gemetzel an uns stoppt, irgendwer aus
der Umgebung muß sie gerufen haben, und sie treibt mit militärischer Präzision die Raver in die zehn grünen Minnas, die hinter
unserer Karre Position bezogen haben. Leider machen unsere Retter
keine Unterschiede zwischen Opfern und Tätern, und so werden wir
gleich miteingebuchtet. Unser Protest auf Hocharabisch, Deutsch
und Saarländisch verfängt bei Ihnen nicht, wir werden wie die anderen, inzwischen von ihren Waffen und Blindenhunden befreiten
Mordbrenner nach Montpellier verfrachtet, dort in die Turnhalle
einer Polizeikaserne getrieben und von deutschen Schäferhunden
(immerhin vertrautere Gesichter) bewacht.
Es ist jetzt elf Uhr spätabends, einzelne Raver werden zum Ve rhör
abgeführt, Messali versucht den Wachhabenden zu erklären, daß
wir vom Alter her gesehen kaum zu der übrigen Partygesellschaft
248
passen, doch das verfängt nicht. Cool erklärt der Polizist, daß er
normalerweise bei der Sitte ist, und daß er Ähnliches von habituellen Kinderschändern mehrmals am Tag zu hören kriegt. Wir protestieren in vollem Rechtsbewußtsein so laut, wie es uns gerade noch
ratsam erscheint, gegen diesen Vergleich, bringen aber nur unsere
Mitgefangenen gegen uns auf, in deren Augen der Wunsch nach
Blutrache neuerlich aufklimmt. Weitere Raver werden abgeführt,
wohl zum Verhör und nicht zum Erschießungspeloton (was nur recht
und billig wäre). Wir, die wir trotz unserer unvorteilhaften Umg ebung nicht den Eindruck von Rädelsführern machen, bleiben ohne
Aufforderung, und müssen unterm Raver-Fußvolk ausharren.
Ich sehe mich schon als Mauerblümchen hinter dicken Gefängnismauern vertrocknen, da werden wir endlich (es muß jetzt eins in
der Früh sein) zum Rapport gerufen. Wir erfahren in einer als Ve rhörzimmer ausgestatteten Umkleidekabine, daß wir gehen, ja, Sie
haben richtig gehört: gehen, einfach verschwinden dürfen. Ohne
Begründung, ohne Entschuldigung, ohne Entgegennahme unserer
Aussagen, militärisch knapp und mit professionell zur Schau getragenem Desinteresse. Vor den Verhörzellen warten die beiden Jungs,
denen der Kangoo entwendet wurde, mit einem blasierten Herrn in
unserem Alter. Er ist - wie sich herausstellt - der Vater des einen
Jungen, ein bekannter Rechtsanwalt aus - nun ja - Béziers. Er bedankt sich für unseren heldenhaften Einsatz, tadelt uns ein wenig
dafür, daß wir uns durch unsere Selbsthilfeaktion mitsamt den Jungs
in eine etwas unkomfortable Situation gebracht haben, und fährt
uns zu unserem Auto zurück, das immer noch mit den anderen geklauten oder ehrlich erworbenen in jenem Steinbruch steht, wo die
illegale Party von der Polizei vorzeitig beendet worden ist.
249
Gegen drei sind wir in Péret zurück und können Hagen, die sich
keine Spur Gedanken um uns gemacht hat, von unserem Abenteuer
berichten.
“Les rave-parties” sind in diesem Jahr der große Hit. Beinahe täglich meldet der “Midi libre” irgendwelche Vorkommnisse der kriminellen Art. Ist Mord und Totschlag eine Begleiterscheinung der
Party, wird gerne der Ausdruck “rave sanglante” verwendet. Letzte
Woche beispielsweise berichtete die Zeitung von einer besonders
blutigen “rave sanglante”. In Corbère-les-Cabanes (Département
Pyrénées Orientales) schoß ein bisher unbekannter Täter mit einer
Pump -Gun in die Menge. Ein junger Katalane wurde tödlich, weitere
Teilnehmer liegen mit lebensgefährlichen Verletzungen in den umliegenden Krankenhäusern. Zwei Tage später fand ein junger Auvergnat bei einer Festivität nahe Vias-Plage den Party-Tod. Er wurde
mit Baseball-Schlägern gemeuchelt. Die Polizei hat überdies, vermeldet der “Midi libre”, eine Bande dingfest gemacht, die Rave-Parties
mit Extasy-Lieferungen über Filialen in sämtlichen größeren Städten
von Toulouse bis Nîmes versorgte. Ich sage zu Dionys: “Da haben
wir ja noch mal Glück gehabt, daß wir nicht als Drogenkuriere aus
Osteuropa verdächtigt wurden - bei unserem Französisch, das wir
sprechen.” Dionys sagt: “Dazu sehen wird zu alt aus.” Ich sage: “Ja,
du hast recht, dann hätten wir alt ausgesehen.” Hagen sagt: “Ja, ja,
Drogenkuriere mit Hörgerät und Blindenstock...”
Donnerstag, 13. Juli
Bin heute etwas später als sonst im Dorf, Dionys knackt noch, die
restlichen Jarims wälzen ebenfalls ihr Faulfleisch in den Federn.
Messali - wie zur Kontrolle schon zu meiner Aufstehzeit ums Haus
streunend - begleitet mich. Wir haben Glück und treffen vor dem
250
Zeitungsladen Madame Simone an. Ich stelle Messali meiner Madame vor, und zwar als einen der wenigen Maghrebiner, die in
Deutschland leben. Wie aus der Pistole geschossen zählt sie uns
ihre verwandtschaftlichen Bande zu Algeriern auf. Der Schwager
zum Beispiel, der die Schwester ihres Mannes geheiratet hatte und
der daraufhin von der Familie verstoßen wurde. Dessen Bruder, der
als vermeintlicher FNL-Sympathisant während des Algerienkrieges
eingekerkert war und im Gefängnis gestorben ist, schließlich der in
Frankreich exilierte Onkel des ersteren, der beim Verzehr eines
Schweinekoteletts erstickte. Messali schüttelt sich; wir gehen zu
harmloseren Themen über.
Ihr Mann sei viel zu früh gestorben, Riesentumor – dreimal so
groß als Mitterrand seiner. Messali ist doppelt angewidert, es schüttelt ihn vor Mitterrands Tumor, und er verachtet Mitterrand wegen
dessen Algerienpolitik in den 50er Jahren. Weiter geht’s mit der
Küche (Messali mag keine schlüpfrigen Themen, bevorzugt als alter
Basargänger Tips und Tricks vom Marktleben): vom gesunden
Knoblauch, den man in Lézignan kaufen soll („nur den rosaroten“)
und den man den ganzen Winter über aufbewahren kann, von der
richtigen Zubereitung der Kartoffeln. Sie bevorzugt die „épluchés“,
mit Öl und Knoblauch gedünstet und mit Petersilie untermengt. Es
geht weiter mit Couscous und den Unterschieden zwischen jenem
algerischer und dem tunesischer Povenienz. „Letzterer ist weniger
schmackhaft“, sagt Messali, „ist viel besser“, behauptet Madame
Simone. Einig sind sie sich, daß er grobkörniger ausfällt.
Zander aus dem Salagou soll sehr gut sein. Ihr Mann, behauptet
Madame Simone, habe mal einen so großen aus dem See gezogen sie macht eine Geste, die darauf hindeutet, daß er mindestens so
groß gewesen sein muß wie der Tumor ihres Mannes oder wie jener
Wels, der im Parkteich von Wanne-Eickel einen Dackel verspeist
251
haben soll. Aber das Anglerglück war ihrem Mann vor seiner Zeit
mit dem Tumor vergönnt, einem Tumor übrigens, der mindestens
viermal so groß war wie der von Mitterrand. Dann natürlich das
Thema Wetter: Madame Simone behauptet, daß es im Sommer in
Péret gewöhnlich heißer ist als in Tunis, was Messali vermutlich nur
deshalb gelten läßt, weil es sich um das verabscheuenswürdige
Tunis und nicht um das hochzuschätzende Algier handelt. Die
Themen wenden sich und drehen sich und kommen wieder zurück
zur Küche, speziell zur arabischen Küche. Madame Simone sagt, daß
ihr Beaufrère, eben nämlicher Schwager aus Algerien, sie an ihrem
letzten Geburtstag reingelegt habe. Er hatte ihr als Überraschung ein
Gericht vorgesetzt, was ausgesprochen gut schmeckte, aber erst
nach dem Essen verraten, was es war: "les parties de mo uton".
Messali grinst. Ich stehe auf dem Schlauch. Sie macht einige Gesten,
windet sich, bis ich endlich kapiere und zurückfrage: „Sie meinen
‚les couilles‘, des ‚Hammels Eier‘“? Das war nicht sehr galant, schon
gar nicht gegenüber einer fast siebzigjährigen alten Dame. Sie zuckt
zusammen; diese Frontalreplik hat sie nicht erwartet. Messali lacht
sich schief.
Es ist für Ausländer - wenn sie denn keine Nordafrikaner sind wirklich schwierig, die französischen Euphemismen für derartige
Dinge zu verstehen: Lamm- und Hammelhoden heißen "parties"
oder noch beschönigender "parties nobles", was etwa "ehrenwerte
Teile" bedeutet. Sie werden aber auch als "animelles" bezeichnet,
was man, stelle ich mir vor, etwas mit dem Wortstamm "tierisch" (mit
der Doppelbedeutung, die ihm auch im Deutschen eigen ist) zu tun
hat. Stierhoden heißen "rognons blancs", wörtlich: "weiße Nierchen", oder "roubignoles", was man mit „Bocksbeutelchen“ übersetzen könnte.
252
Beim Frühstück diskutieren wir über die gestrigen Ereignisse. Leider kann uns der “Midi libre” noch keine Zusatzinformationen liefern - der Polizeieinsatz fand lange nach Redaktionsschluß statt.
Erste Berichte sind demnach erst morgen zu erwarten. Ich referiere
über das Konzept der “Temporary Autonomous Zone”, kurz TAZ
genannt. Es stammt von dem amerikanischen Philosophen Hakim
Bey. Danach ist die Welt voll und ganz territorialisiert. Alle Gebiete
sind irgendwelchen Gesetzen unterworfen, von Grenzen abgeschirmt, kartografiert, von Polizei, Armeen und Aufsichtsbehörden
kontrolliert. Vorbei die Zeiten, da man noch von befreiten Gebieten,
dem Reich der Morgenröte, der Insel Utopia, von tatsächlich autonomen Zonen träumen konnte. Hakim Bey stellt dagegen die “temporären autonomen Zonen”, die sich in der Zeit entwickeln und in
der Zeit vergehen, eben nicht wie die Utopien der alten Gattung als
“permanent” ausgegeben werden können. Die „temporäre autonome
Zone“ sucht nicht die Konfrontation, sie entgeht vielmehr der Konfrontation. Sie ist auch keine Abstraktion der Realität, die gewaltsam
zur Wirklichkeit drängt, um ihre schließlich aus der Geschichte bekannten verheerenden Wirkungen zu entfalten, sie vollzieht sich in
der Wirklichkeit. Die TAZ sind ein Werden und Ve rgehen, eine
“offene Möglichkeit”, wie Hakim Bey sagt. Eine “offene Möglichkeit” bedeutet aber “für” und nicht “gegen” etwas zu sein. „Gegen“
ist der Aufstand, die Insurrektion und die Emeute. Das prototypische “Für” jedoch ist das Fest, oder im Zeitalter von PostWoodstock das Festival beziehungsweise sein kleinerer Ableger
(folgere ich), die Rave-Party. Noch temporärer wird das Fest durch
das “psychische Nomadentum” (was immer das heißt) und die
„driftworks“, die systematische De-Zentrierung des Ereignisses. Die
weltweit größte autonome Zone ist das Burning-Man-Spektakel in
der Wüste von Nevada, wo jedes Jahr bis zu einer halben Million
zeitweiliger Aussteiger zum völlig gesetzeslosen Treiben zusammenkommen, nackt rumrennen, große Feuerchen machen (die
253
sonstwo nicht erlaubt wären), unhygienisch leben, kiffen, was das
Zeugs hält und irgendwelche aufgedonnerten Fahrzeuge im Treibsand versenken, bevor sie wieder in ihr Berufsleben zurückkehren,
um sich vielleicht acht Wochen später zum Bikertreffen nach Florida
zu begeben, wo auf einer sex-, pardon: sechstägigen Beach-Party
das ganze noch mal unter der Rubrik „beer and tits“ wiederholt wird.
Die Polizei ist hier wie da ständig präsent, aber ihre einzige Aufgabe
besteht darin, die Exzesse nicht auf bewohnte Gebiete übergreifen
zu lassen.
Dionys sagt: “Daran siehst du den ganzen Quatsch. Kontrollierte
Waldbrände. Wenn wirklich was an den ‚temporär befreiten Zonen‘
dran wäre, dann wären sie wirklich temporär und nicht geografisch.
Dann müßte sich das temporäre Subjekt der temporären Befreiung
nicht in den Steinbruch von Roujan quälen. Der ist vielleicht abgelegen genug für eine örtlich befreite Zone, aber viel zu weit weg für
eine temporär befreite Zone. Wo doch jeder weiß, daß Zeit Geld ist,
auch für die Kappen von Ravern. Ne, hier geht es nur darum, daß
man unter sich sein will, und das ist nur garantiert durch die Ortsveränderung.” Dionys weiter: “Die wirklich befreiten Zonen sind die
Jarmärkte ohne h. Wo die Polen Maschinengewehre aus pakistanischer Produktion verschieben, Vietnamesen Zigaretten garantiert
ohne Zutaten aus der amerikanischen Tabakindustrie verkaufen,
Chinesen balinesische Hühnerbrühe in Dosen und Bulgaren Rosenwasser aus russischen Chemiefabriken. Alles vom Weltmarkt
abgekoppelt, und doch alles Ware. Dort kann man noch Mercedesscheinwerfer direkt gegen Damen aus dem Ural tauschen ohne Geld
und Devisen.”
Dionys ist ein großer Kenner der Szene, er hat sich selbst schon
als Ikonenschmuggler verdingt, und zwar zu Zeiten, als die Grenzen
noch richtig schön dicht waren und sich freizügiger Verkehr auf
254
Devisenpuffs beschränkte; anders als heute, da es ja leider keine
Ikonen mehr gibt. Damals stand auf Schmuggel von unveräußerlichem Volkseigentum (gerade auch des aus dem Kirchenbesitz beschlagnahmten) jahrzehntelanges Zwangslager in Nowosibirsk.
Hagen fragt: “Und was hat das mit den befreiten Gebieten zu tun?”
Dionys: “Gar nichts. Oder doch: Befreiung geht nur, wo Zwang
herrscht. Wo aber herrscht bitteschön Zwang rund um die befreiten
Zonen, ob sie jetzt temporär oder wie auch immer sind. Befreit ist
auch das Raucherabteil der Regionalbahn von Frankfurt nach
Mainz, temporär befreit - eine Strecke 40 Minuten. Reicht dicke für
15 Zigaretten im Nichtraucherabteil, ein Sixpack-Gelage, und einen
GV mit vollem Programm, was es ja dort auch geben soll, macht
hinterher 15 neue Brandlöcher in den Polstern, ein Kilo Scherben auf
dem klebrigen Boden und einen kalten Bauer an der Scheibe. Befreiung ist Müll.”
Hagen sagt: “Daß ihr immer im Dreck wühlen müßt.” Ich sage:
“Hakim Bey sagt, wir müssen uns auch deshalb befreien, weil unsere Lebenszeit immer mehr eingeengt wird. Im Mittelalter, sagt Hakim
Bey, waren fast ein Drittel aller Tage Feiertage.” Hagen sagt: “Da
sieht man, was dein Hakim Bey für einen Schmarren erzählt. Heute
sind weit mehr als ein Drittel der Tage Feiertage: Sonntage, Samstage, Urlaub und dann noch die Feiertage, und das bei einer viel längeren Lebens- und einer viel kürzeren Lebensarbeitszeit.” Messali
sagt: “Ihr redet immer von ‘befreit’. Wißt ihr denn nicht, was damit
auch gemeint sein könnte? Befreit heißt: ‚nicht eingelocht‘. Und 80
Prozent der Jungs von gestern abend sind wirklich temporär befreit,
die meiste Zeit verbringen sie nämlich hinter schwedischen Gardinen.”
Ende der Debatte, ich muß noch auf den Markt, Einkäufe tätigen,
um meiner Ankündigung eines weiteren zünftigen Gerichts aus der
255
Dreierreihe gerecht zu werden. Die Preise haben abermals angezogen, so daß ich reumütig auf den bewährten „HyperU“ zurückgreife.
Dort kaufe ich anderthalb Kilo Aubrac-Rind, das teuerste und natürlich beste im Angebot, denn es muß das Stierfleisch aus der Carmargue ersetzen; heute sollte es ja „Boeuf à la gardiane“ geben.
Gardian ist der Cowboy der Carmargue, und Cowboys aus Frankreich geben sich nicht mit Bohnen zufrieden, sondern bevorzugen
wie ihre argentinischen Kollegen deftige Fleischgerichte, zubereitet
von der Gardiane. Nun, Stierfleisch ist hier in der Gegend nicht zu
haben, also gibt es „Daube à la provençale“ mit Rindfleisch aus der
Auvergne, und das ist auch nicht schlecht.
Hagen Knotterbeck fährt mit den Kindern an den Salagou - inzwischen müßten die Freiburger abgereist sein. Messali und Dionys
verziehen sich nach Cabrières in den “Sanglier” (zur Erinnerung:
„die Wildsau“), Gabors Hauskneipe. Sie nehmen dazu den Weg von
Péret über den Berg an der Steinzeit-Kupfer-Mine vorbei und kommen fast punktgenau an. Der “Sanglier” ist die dortige Dorfkneipe,
gepflegte Atmosphäre zum “Soûlen” („se soûler“ - nicht, wie es der
Kneipenname nahelegt, „sich suhlen“, sondern „sich besaufen“)
oder zur bescheidenen Nahrungsaufnahme (die Menüs rangieren in
der Preiskategorie von zehn bis 14 Euro).
Ich dagegen muß an den Kochtopf, ganz so wie es Hagen Knotterbeck zu Beginn unseres Urlaubs angekündigt hat und so wie ich
es bisher auch klaglos getan habe. Keine Rede war allerdings bisher
davon, daß ich zwei Fresser (und um solche handelt es sich) mehr
am Tisch haben werde. Das bedeutet für mich doppelten Arbeitsaufwand und eine nicht bezifferbare Quantität entgangener
Urlaubsfreuden. Ich werde mit ihr mal unter vier Augen über das
Thema „temporär besetzte Zonen“ sprechen müssen.
256
Gleichwohl also lustvoll ans „daube“. Dazu benötige ich: anderthalb Kilo Rinderbraten, wie gesagt, Appellation Aubrac Contrôlée;
drei Karotten, ein größeres Stück Sellerie, Olivenöl und Butter,
sechs Schalotten, vier Tomaten, zwei Nelken, zwei Zweige Rosmarin,
fünf Knoblauchzehen, eine Flasche Rotwein, kleingehackte schwarze Oliven oder Olivenpaste (die beste gibt es in der Kooperative von
Clermont, die nach der in Nyons - nordöstlich des Mont Ventoux
gelegen - das beste Olivenöl Frankreichs herstellen soll).
Fleisch scharf anbraten, kleingeschnittenes Gemüse andünsten.
Braten zusammen mit dem Gemüse und den Gewürzen etwa zwei
Stunden im Backofen bei maximal 175 Grad im Bräter garen. Nach
und nach von Beginn der Bratzeit an mit dem Rotwein ablöschen.
Gegen Ende der Garzeit etwa 20 Minuten auf feuerfester Platte in der
ausgeschalteten Röhre ruhen lassen. In der Zwischenzeit aus der
Gemüsebrühe und dem Fonds Sauce bilden. Eventuell etwas binden
und anschließend passieren.
Abends beim Essen Diskussion über Bové. Dionys sagt: “José
Bové ist der Franzosendarsteller schlechthin.” Er hat den Ausdruck
„Franzosendarsteller“, wie er zugibt, von Eckhard Henscheid, der
ihn einst auf Pierre Bourdieu münzte. “Dabei war Bourdieu”, sagt
Dionys, “eher dem Deutschen Günter Grass zugetan, obwohl der
sich seit seinem Aufenthalt in Frankreich in den 50er Jahren immer
als Franzosendarsteller versucht hat, mit seinen jahrzehntelangen
Schnauzbart, den Filterlosen, dem Nikotinsabber an den Bartspitzen...” Hagen: “Es reicht jetzt...” Dionys: “...und dem Béret. Das hat
er sogar beim Schlafen aufbehalten. Nein, der Franzosendarsteller
war nicht Bourdieu; das war Grass. Und zwar solange, bis Grass
seine Rolle als Grassdarsteller gefunden hat. Nach der Verleihung
des Nobelpreises war das. Zwei Jahre war der Posten vakant, bis
257
eben Bové aufgetreten ist und mit Grass-Schnauzer und Grass-Pfeife
den Franzosen wieder heim nach Frankreich geholt hat...”
Es ist jetzt erstmals wieder etwas wärmer, so daß wir den Abend
im Freien verbringen können. Warten alle auf die „feux d’artifices“,
die am Vorabend des Nationalfeuertags gezündet werden sollen.
Wir warten vergebens. Der Präfekt von Hérault hat sie, wie wir am
nächsten Tag aus dem „Midi libre“ erfahren, untersagt, weil der
Grenzwert von 50 Stundenkilometern Windgeschwindigkeit überschritten ist. Einige Kommunen verschieben ihre Feuerwerke auf
Samstag – vorausgesetzt, der Wind hat sich bis dahin gelegt.
Wir diskutieren etwas lustlos über Badiou und Žižek. Messali mißfällt beider Hinwendung zum Christentum, auch wenn sie ihre Gedankenspiele unter den Vorbehalt des Atheismus stellen. Dionys
verurteilt das „Wahrheitsgesülze“, wie er sich ausdrückt: „Mal
abgesehen von dem ganzen Žižek’schen Unsinn über seinen Säulenheiligen Lacan und dessen Verhältnis zur Frage von Christus und
Kastration bleibt noch eins, was Badiou und Žižek fasziniert: die
Hypostasierung der Wahrheit und Paulus‘ Plädoyer für den neuen
Menschen, der sich stets neu schafft. Neuer Mensch, das ist doch
bolschewistische Nostalgie, und Wahrheit? Da liegt doch ein Kategorienfehler vor. Es ist nicht die Wahrheit, die beiden vorschwebt,
sondern die bolschewistische Version der Wahrheit, die ‚Prawda‘.
Ich kenn‘ mich damit aus – ich habe sie, und sie hat mich gesehen.
Als ich in Moskau war, na ihr wißt schon: wegen der Ikonen, da hat
mich immer einer beobachtet, mein Schatten, so ein unauffälliger
Zeitungsleser, hatte ein Loch in seine ‚Prawda‘ geschnitten, da hat
er durchgeguckt. Die ‚Prawda‘, der Spalt? Wie würde Žižek das
nennen? Die Leerstelle des Genießens in ihrer traumatischen Begegnung mit dem Realen? Oder das Loch als symbolisches Gesetz
gegen die volle Befriedigung des Begehrens? Oder der Riß als Akt
258
der Entsagung, der Aufrechterhaltung des Abstands zum geliebten
Objekt groß A?“
Nach einer kleinen Pause Dionys weiter: „Kennt ihr übrigens den?
Kommt ein Kunde zur Marktfrau...“
Ich sage: „Ach der alte Witz von Erich Kästner über Ernst Jünger
und Gottfried Benn...“
Dionys: „Erstens ist der Witz von mir, und zweitens geht er nicht
über Jünger und Benn‚ sondern über Sloterdijk und Žižek. Also
kommt der Kunde zur Marktfrau und fragt: ‚Ei, was lesen Sie denn
da, meine Liebe, ist das etwa ein Buch von Peter Sloterdijk?‘ Erwidert die Marktfrau: „Nein, ein Buch von Slavoj Žižek, Sloterdijks
extra-uterine Begriffsüberwölbungen von Weltinterpretation und
Daseinsbeschreibung ist mir etwas zu prätentiös. Slavoj Žižeks
Verfahrenschritte der kontrafaktischen Trash’n‘ Pulp-Analyse gibt
mir mehr.‘“
Hagen Knotterbeck, Messali Kadour und Cater Jarim (alle sehr
gequält): „Ha, ha.“
Wir sind jetzt an einer Leerstelle angekommen, die wir nur noch
begießen können. Aber ist „Begießen“, in diesen Zusammenhang
gestellt, nicht Pollution der abwesenden Schöpfung, also irgendwie
ziemlich frevelhaft und schöpfergotteslästerlich? Angesichts dieser
nicht zu klärenden Gottesfragen ad hominem opfern wir lieber dem
Dämon der entzündeten Leber. Um Plagiatsvorwürfen vorzubeugen:
Diesem Dämon ist Wolfgang Koeppen auf seinen „Reisen durch
Frankreich“ mehrfach begegnet. Ich möchte das Buch rückhaltslos
als Einführung in ein untergegangenes Land empfehlen, eine Beschreibung, die als einzige ihrer Art auf Verklärung gallischer Ve r-
259
hältnisse verzichtet. Ich frage mich nur, welchem Dämon Koeppen
geopfert hatte, als er im Saarbrücken des Jahres 1960 veritable
„Wolkenkratzer“ ausmachte, „die sich gleichermaßen jung und unmittelbar aus dem Nichts erheben“. Das war gleichermaßen eine
Erhöhung Saarbrückens und eine Herabsetzung der damals noch
jungen Landeshauptstadt!
Mit 30 Mikrogramm Tannin im Kreislauf endet der Tag noch vor
seinem kalendarischen Ende schon um zehn Uhr.
Freitag, 14. Juli
Messali und Dionys entschließen sich, bis zu unserer Abreise zu
bleiben. „Wir können euch doch nicht im Stich lassen, bei den
Waldbränden, die hier toben“, behaupten sie. Die Kinder wollen ein
letztes Mal an den Strand. Dionys und Messali wollen nicht. Wir
kaufen uns frei, indem wir unsere Gäste in den „Sanglier“ verfrachten, gegen freie Kost und Logis selbstredend. Der Strandaufenthalt
wird strapaziös, sagen wir uns. Es ist Feiertag - der Nationalfeiertag,
in Lothringen “Kaddaschouijé” („Quatorze Juillet“) genannt, und
das heißt, mit dem heutigen Tag beginnt ein langes Wochenende
mitten in der Hochsaison, díe Strände dürften überlaufen sein. Wir
machen uns also und trotzdem auf den Weg nach Cap d’Agde. Cap
d’Agde hat den Vorzug, daß man einen kleinen Stadtbummel machen kann, ohne sich zu allzu weit vom Strand entfernen zu müssen,
falls es dort zu eng wird. Außerdem wollte Hagen Knotterbeck einmal eine richtige Ferienagglomeration erleben, deren schlechter Ruf
zudem bis nach Deutschland vorgedrungen ist. „Wir sind ja nicht
hierher gekommen“, sagt sie, „nur um der Sehenswürdigkeiten willen. Wir müssen auch die Schattenseiten kennen lernen.“ Ich: „Warum aber Schattenseiten-Kennenlernen ausgerechnet am vorletzten
Tag der dritten Urlaubswoche? Von Schattenseiten habe ich schon
260
genug mitbekommen.“ „Das mag zwar sein“, erwidert Hagen ungerührt, „aber das war nicht vorgesehen. Heute sind eben die Schattenseiten mal Programm, und das Programm bestimme ich.“ Ich:
„?????????!“
In Péret herrscht Sonnenschein, aber über der Ebene liegen vereinzelt schwere Wolkenbänke, die sich – ungewöhnlich hier – zum
Meer hin verdichten. Südlich von Pézenas dann wieder ungetrübter
Sonnenschein. In der Höhe Vias aber kommen uns die ersten Autos
mit eingeschaltetem Nebelscheinwerfer entgegen. Dann eine Strecke
mit Sichtweite unter 30 Metern und dann wieder Aufklaren. Zum
Meer hin liegt ein Grauschleier, durch den sich die Sonne nur als
matte Scheibe zu erkennen gibt. Immer dichtere Nebelschwaden
umfloren uns, als wir uns Cap d’Agde nähern. Im Ort selbst herrscht
ein milchiges Licht, das die herrschaftlichen Villen der „Côte“ mit
einem leichten Porzellanfirnis veredeln würde, nicht aber Cap
d’Agde mit seinen unansehnlichen Betonbauten, deren Firnis dreißig, vierzig Jahre nach Fertigstellung allenthalben aus Schimmel
besteht.
Nicht im entferntesten ist etwas davon auszumachen, was Cap
d‘Agde seinen Ruf eingebracht hat: Die Leute sind dem Wetter
angemessen bekleidet, die Postkarten auch nicht pornografischer
als anderswo (die enthemmtesten und abgedrehtesten dieses Ge nres gibt es im Clermonter Zeitungsladen, der sich wie der Traiteur in
der Rue Doyen René Gosse befindet).
Cap d’Agde steht nämlich europaweit für Nacktheit, grenzlose
Blöße und seit Michel Houllebecqs Bestseller „Die Elementarteilchen“ auch für extremen Gruppensex in den Dünen. Cap d’Agde ist
für Houllebecq so etwas wie die Apokalypse Europas, Sinnbild für
(wie er das nennt) sozialdemokratischem Sex, der wiederum die vor-
261
letzte Schwundstufe des Menschseins verkörpert. Cap d‘Agde ist
so gut in das kollektive Gedächtnis eingeführt, daß deutsche Urlauber, die hier (an der einzigsten Stelle der französischen Mittelmeerküste) statistisch wahrnehmbar auftreten, ihr „Cap d’Akt“ haben;
möglicherweise ist deshalb der Ort zum Gravitationszentrum für
Deutschtourismus fernab der beglaubigten germanischen Urlaubszonen geworden. Nebenbei bemerkt, funktioniert das Wortspiel mit
dem Akt im Französischen nicht, weil „acte“ weniger mit den einschlägigen Konnotationen belegt ist: Zwar gibt es den „acte charnel“ (eine ziemlich priesterhafte Bezeichnung des Geschlechtsaktes),
aber der Akt im Sinne von Aktaufnahme oder dergleichen wird –
obwohl es auch „acte“ gibt – unverklemmter ausgedrückt als „nu
gleich nackt“. Irgendwie scheinen wir Deutschen die Nacktheit von
nackt kamoufliert zu haben, nicht durch Hinzufügung von Feigenblatt und sonstigen Schamblenden, sondern durch Weglassung, in
diesem Falle des n und des c: nackt – (n + c) = Akt. Die Frage, die
ich nicht zu beantworten weiß, lautet also: Ist das typisch deutsch?
Ich neige zu einem: Ja, weil die Deutschen, die Bayern zumal, eher
und bestimmter die (Leder-)Hosen fallen lassen als die Angehörigen
anderer Nationen. München gibt es noch nicht mal in Paris, und das
will was heißen.
Gleichwohl ist der hier geübte Nudismus phänomenologisch nicht
ausschließlich deutschen Ursprungs. Eher, könnte man sagen, handelt es sich um die kerneuropäische Variante einer zur Schau gestellten Nacktheit, die nur noch wenige nationale Standardabweichungen erlaubt, wobei ich hier von Selbstbloßstellung als Massenereignis spreche. Das ist in der Welt nicht unbemerkt geblieben: Die
internationale Organisation „Transcultura“ lädt seit einigen Jahren
afrikanische Ethnologen und Anthropologen ein, sich mit „fremdem
Blick“ ein Bild europäischer Verhaltensweisen zu machen. Die Afrikaner registrieren dabei verhaltensauffällige Tatbestände. Zu ihnen
262
zählt aus afrikanischer Sicht an erster Stelle die Tatsache, daß Europäer gern Hunde ausführen und nackt am Strand promenieren.
Strenggenommen gibt es im generischen Sinne fünf Modi der
nackten Nacktheit. Es handelt sich dabei natürlich um Formen der
willkürlichen, nicht der notwendigen Nacktheit. Diese letztere ist
unvermeidbar: so die Nacktheit aus Kleidermangel oder aus klimatisch-kulturellen Gründen. Auch die situationsbedingte Nacktheit
gehört dazu, zum Beispiel Nacktheit auf dem Seziertisch. Der Literaturnobelpreisträger Thomas Mann wollte in einem letzten Aufbäumen von Geschamigkeit verhindern, daß die Leichenwäscherin sein
entblößtes Glied sehe; umstandshalber konnte er sich nicht durchsetzen, aber das ist ein anderes Thema, das uns hier nicht zu beschäftigen hat. Eine Sonderform der notwendigen Nacktheit bilden
die Orgien. Hier ist man nackt, um Triebstau durch Zeitverlust zu
vermeiden, oder anders gesagt: Zeitgewinn durch Kleiderlosigkeit
zu erwirtschaften. Häufig finden deshalb Orgien nicht im vollständig
entkleideten Zustand statt, sondern unter Anbehaltung der Socken,
wie Praktiken in modernen Swingerclubs zeigen. Obwohl hier wiederum von Kennern der Szene geltend gemacht wird, daß es sich um
eine Art der Kondomsierung handelt, geeignet, der Übertragung des
gefürchteten Fußpilzes vorzubeugen. Aber zurück zu den Modi der
nackten Nacktheit. Ich habe mir die Freiheit genommen, sie in der
folgenden Denkschrift zu kategorisieren. Es sind dies:
1) der gewöhnliche Exhibitionismus: Ich habe den ersten Exhibitionisten bezeichnenderweise im München der 60er Jahre erlebt, als ich
blondgelockter Jüngling, der ich war, eines Tages fürbaß die Isarauen entlangschritt. Es war ein kaum älterer junger Mann, an dem mir
zweierlei bemerkenswert schien: sein "strotzend Glied" (wie der
Dichter Apollinaire zu bemerken pflegte - ich hatte ja bisher nur
schlaffe Fremdpenisse gesehen) und - damals ungewöhnlich - das
263
Rennrad, das er mit sich führte. Irgendwie hat die Oberstange des
Gefährts in mir Assoziationen geweckt, die wieder auf das Zentrum
der nackten Tatsache zurückverwiesen - Zufall oder intendierte
Notwendigkeit? Davon abgesehen, war ich angewidert, entsetzt und
betroffen. Ich machte ihm, das klingt zwar blöd, war aber die damals
geläufige Form des Stinkefingers, den Vogel, und entfernte mich
rasch. Der Exhibitionist verstand das entweder als Einladung (man
bedenke den Hintersinn des Ausdrucks „Spatz“) oder war durch
Gesten der Beleidigung einfach nicht davon abzubringen, sich weiterhin vor mir zu zeigen, setzte auf Wiederholung an anderem Ort,
verhedderte sich aber beim Anziehen der Hose, fiel auf den Kopf
und mußte den durch eine kurze Ohnmacht erlittenen Zeitverlust
wieder wettmachen (deshalb wohl das Rennrad). Er überholte mich
auf dem Parallelweg, um sich mir in der nächsten Lichtung wieder in
voller Pracht und mit dem von ihm sicherlich intendierten Überraschungseffekt zu präsentieren. Die Wissenschaft hat inzwischen
festgestellt, daß Exhibitionismus sozusagen nur die Einstiegsdroge
zu noch schwereren bis hin zu unaussprechlichen sexuellen Verfehlungen darstellt. Insofern war mein damaliges Tun oder eher NichtTun in höchstem Maße fahrlässig. Ich hätte ihm das Vergnügen der
Anschauung seiner Geschlechtlichkeit bereiten sollen, was ihn vor
dem Abstieg in die gefährlicheren Zonen der Lust bewahrt hätte, in
die er nach wissenschaftlicher Meinung unweigerlich geraten ist.
Aber wäre für mich nun wiederum kalkulierbar gewesen, mit welcher
Blicktechnik und mit welchem Zeitaufwand die befriedigte Erschlaffung bei ihm eintreten würde? Und die wichtigste Frage, heideggerisch gesprochen: Geht es bei gegebener Seins-Mächtigkeit des Ge Mächtes um seine bloße Vorhandenheit oder nicht vielmehr – igitt –
auch Zu(r)handenheit, um den Exhibitionisten beim lustvollen
Abschluß seines Begehrs zu unterstützen? Ich weiß es bis heute
nicht und will es auch nicht wissen. Auf jeden Fall sollte man sich
vergegenwärtigen, daß der Exhibitionismus unter das Verdikt des Hl.
264
Paulus fällt, der bekanntlich sagte: "Darum hat sie Gott auch dahingegeben in schändliche Lüste. Denn ihre Weiber haben verwandelt
den natürlichen Brauch in den unnatürlichen. Desselbigengleichen
auch die Männer haben verlassen den natürlichen Brauch des Weibes und sind aneinander erhitzet in ihren Lüsten, und haben Mann
mit Mann Schande gewirket und den Lohn ihres Irrtums (wie es
denn sein sollte) an sich selbst empfangen.“(Röm 1,1) Vielleicht an
dieser Stelle aus gegebenem Anlaß (aber nicht so recht passend, ich
weiß) eine Anmerkung zu den Bibelausgaben. Das Zitat entstammt
dem saftigen Luther'schen Original. Das ist nicht zu verwechseln mit
den heute gehandelten Bibelübersetzungen nach Martin Luther und
schon vollkommen inkompatibel mit der sogenannten Einheitsübersetzung, wo es heißt:: "Darum lieferte Gott sie entehrenden Leidenschaften aus: Ihre Frauen vertauschten den natürlichen Verkehr mit
dem widernatürlichen; ebenso gaben die Männer den natürlichen
Verkehr mit der Frau auf und entbrannten in Begierde zueinander;
Männer trieben mit Männern Unzucht und erhielten den ihnen gebührenden Lohn für ihre Verirrung." Hier kommen die sexuellen
Minderheiten zwar etwas besser weg als bei Luther, aber es handelt
sich um eine jener skandalösen Verharmlosungen, die besonders
ärgerlich sind, wenn wie im Hohelied Salomos die Zartheit der Stimmungsbilder brachial entstellt werden, als hätten sich die Übersetzer
jene Weisheit Otto Weiningers zu eigen gemacht, die da lautet: „Es
gibt nur ‚platonische Liebe‘. Denn was sonst noch Liebe genannt
wird, gehört in das Reich der Säue.“ Aber schnell zurück zur
Nacktheit als
Zustand und Prozeß. Denn es gibt:
2) den Wiederholungszwangstatbestand (ein schwieriges Wort für
einen noch schwierigeres Phänomen): Der nackte Jörg aus Frankfurt-Sachsenhausen entledigte sich eines Tages, als er nur der Jörg
und noch nicht der nackte Jörg war) seiner Kleider und muß es seither immer wieder tun. Er gab vor der Polizei, die ihn anfänglich wie-
265
derholt sistierte, an, daß seine Haut keine Textilien vertrüge. Die
Haut des Jörg verträgt heute - nach vielen Jahren - immer noch keine
Kleider, aber die Obrigkeit ist unterdessen nacktheitsverträglicher
geworden, und so spaziert der nackte Jörg im Adamskostüm, nur
bekleidet mit einem Walkman, der sein Ohr vor beleidigenden Kommentaren schützt, unbehelligt durch die Straßen auch außerhalb
Sachsenhausens - er wurde schon in einem Supermarkt im Westend
sowie in der Nähe des Zoos gesichtet, vermeidet aber offensichtlich
Uferpromenaden mit gebüschartigen Holzgewächsen, welche bekanntlich die Glacis für richtige Exhibitionisten bilden, mit denen der
nackte Jörg aus Gründen des Selbstschutzes nicht verwechselt
werden will. Der nackte Jörg zählt zu denen, die dem Wiederholungszwang ausgeliefert sind. Die Behauptung einer Kleiderallergie
ist dabei keineswegs als Schutzbehauptung zu werten. Wiederholungszwangstäter (ich bin mir der Fragwürdigkeit des Epithetons
„Täter“ bewußt) ereilt früher oder später tatsächlich das, was sie als
Motiv ihres Handelns rationalisieren. Die Exhibitionismusforschung,
die sich zunächst zuständigkeitshalber, dann aber auch unzuständigkeitshalber mit der zwanghaft-begierdelosen Nacktheit beschäftigt hat, ist zu dem zweifelsfreien Ergebnis gekommen, daß bei manchen Neo-Nackten die klinische Kleiderallergie schon beim ersten
Abwerfen von Kleidungsstücken virulent wird. Ihre Haut wehrt sich
schon von Anbeginn mit neurophysiologischen Symptomen gegen
das, was der Kopf zuvor abgelehnt hat. Diese Emergenz der Kleiderallergie ist in der Allergieforschung noch das allerdunkelste Kapitel.
Der Befund leitet über zur
3) programmatischen Nacktheit: Sie kann nicht sehr trennscharf von
2) unterschieden werden, denn Kunst und Ethik sind begrifflich so
weit gefaßt, daß man im Falle der Kunst nach einem Jahrhunderte
währenden Streit um Definitions- und Abgrenzungsfragen erst kürz-
266
lich zu dem Ergebnis gekommen ist, daß alles Kunst sei. Mit der
Ethik verhält es sich nicht viel anders. Als ethisches Verhalten, das
ohnehin schon seit längerem das moralische Gebot des richtigen
Handelns abgelöst hat, gilt heute, daß man sich bei seiner Entscheidung sowohl für A und gegen B als auch für B und gegen A ihrer
Äquivalenz bewußt ist und von daher immer falsch, dafür aber eingedenk der Problematik handelt. Die Universalisierung von Ästhetik
und Ethik vereinfacht die Sache, erledigt Abgrenzungs- und Definitionsbemühungen, und so kann beispielsweise der Nacktkünstler
Melem Kaschmir aus Berlin, der sich bis auf einige winzige körperliche Details in nichts von dem nackten Jörg unterscheidet, seine
Nacktheit zur Kunst erklären. Aufgemerkt aber: Er erklärt nicht seinen Körper zur Kunst, das wäre ihm zu billig, gewissermaßen Kunst
light. Es ist die Nacktheit als Vorgang und als Zustand, die werkhaft
und ergebnisbezogen zum Kunstwerk wird. Deutlich wird das in der
Aktionskunst, dem Orgien-Mysterien-Theater, bei dem die Ankündigung bereits zum Vorgang gehört, weil sie Aktionen auslöst (Polizeieinsatz, gerichtliche Verbote und die Transgression derselben).
Darin besteht der Unterschied heutiger Ethiker und Ästheten der
Nacktheit zu den Rousseauisten, Barfuß- und Nacktapostel früherer
Zeiten: Diese wollten ein besseres Leben, jene wollen ihre Körpergrenzen erweitern, in unbekannte, ja widerständige Zonen vordringen. Vincent Bethel aus Coventry beispielsweise, der Begründer der
Bewegung „Freedom to be yourself“, pflegt seine Nacktheit immer in
der öffentlichen Auseinandersetzung. Er braucht viele angezogene
Menschen, er braucht die Bühne des städtischen Lebens, ja er
braucht den polizeilichen Übergriff (möglichst unter der Gürtellinie,
äh, pardon: unterhalb des Nabels) um seine Nacktheit sichtbar zu
machen. Der radikale Flügel der Bewegung, deren Mitgliederzahl
sich im letzten Jahr rasant von zehn auf zwanzig verdoppelt hat,
betrachtet Nudität als konsequente Konsumverweigerung, auch
dies nicht im Sinne von Barfüßlern, sondern im Sinne eines radikalen
267
No-label-Verständnisses: Wo keine Hülle ist, werden Designerlogos
gegenstands- und ausdruckslos. Wie fragil indessen das Selbstverständnis der „Freedom to be yourself“-Bewegung ist, zeigt die heiße
Diskussion um die Frage, welche Rolle den Plakaten (Mit Inschriften
wie: „Get naked in public“) zukommt, die man sich in SandwichManier umhängt. Die einen sagen: „Wir brauchen das, um uns Ausdruck zu verschaffen.“ Für die anderen dient es als Unterscheidungsmerkmal zum gewöhnlichen Exhibitionismus. Einig ist man
sich nur darin, daß die Plakate entscheidende Merkmale der Körperlichkeit tunlichst unverhüllt lassen. Für die allerradikalste Fraktion,
die aus Russel Higgs und einem weiteren Mitstreiter besteht, sind
solche Fragen Lappalien. Russel Higgs hat vor kurzem angekündigt,
daß er jetzt seinen ganzen Leib und nicht mehr bloß seine nackte
Hülle einzusetzen gedenkt, er will, sagt er, einen unbegrenzten Hungerstreik führen. Besonders bedenklich ist die Nacktheit, die sich
der Freiburger Psychotherapeut Peter N. auf die Fahnen geschrieben hat. N. gibt sich als Vorkämpfer des Nacktläufertums aus, bestreitet aber bei forensischem Nachverfolg seiner Nackthandlungen,
nackt gewesen zu sein – vielmehr habe er stets die entscheidende
Blöße mit einem fleischfarbenen Strumpf verhüllt. Der mangelnde
Bekennermut bei stark exhibitioniertem Berufethos legt nahe, daß
es sich um den Grenzfall folgender Nacktheit handelt:
4) der psychiatrischen Nacktheit: Dazu zählt die zwanghafte, aber
schubweise Entledigung der Kleider ohne Lustvorsatz. Ich habe
davon mal im Zusammenhang mit einer entfernten Verwandten gehört, die bisweilen auf Familienfesten Flitzertum avant la lettre betrieben hat, ohne daß dies – wegen einer gewissen Unansehnlichkeit ihrer körperlichen Fülle - auch nur stillschweigendeste Zustimmung von erwachsenen Gästen männlichen Geschlechts gefunden
hätte. Die entfernte Tante wurde jeweils nach einer solchen Aktion
nach Merzig (dem Sitz der saarländischen Irrenanstalt) entfernt, kam
268
aber alsbald immer wieder als harmloser Fall in Freiheit, so daß sie
ihr selbstentblößendes Treiben bei nächster Gelegenheit fortzusetzen in der Lage war. Nähere Umstände und klinische Befunde sind
mir nicht bekannt. Anders der Fall von Tobias L., der sich nackt
durch Feld, Wald und Fluren im Bergwinkel, der geografischen Überlappung von Vogelsberg, des Spessart und der Rhön, bewegt,
und der einmal (es war einer dieser üblichen Ostermontage mit
Schneeregen und Höchsttemperatur um die vier Grad) nackt auf dem
Fahrrad an unserem Haus vorbeifuhr. Tobias L. ist ein klassischer
Fall für die Anhänger der Ödipustheorie. Als Sohn eines Kleiderfabrikanten in Fulda will er zweifelsfrei mit seiner Kleidung den Vater
abtöten, um sich dann - wieder zu Hause angekommen - in Rock und
Bluse gekleidet seiner Mutter zu nähern. Es ist auch nicht ausgeschlossen, daß er mit seinem Verhalten - lacanianisch gesprochen den großen Anderen treffen will, das heißt: den ekklesianischpolitischen Komplex, für den die Bischofsstadt Fulda steht, wo
lange Jahre der hinreichend bekannte Erzbischof Dyba wirkte. Jürgen Langhoff, ein angeheirateter Verwandter Hagen Knotterbecks,
der als Psychiater in Sindelfingen wirkt, weiß von ähnlichen Fällen
zu berichten. Patienten mit diesen Symptomen stammen seiner Beobachtung nach aus bestimmten Gegenden der Schwäbischen Alb,
wo noch ein ungebrochener Traditionalismus herrscht. Oft - so
Jürgen - gehen die vergleichsweise harmlosen Merkmale einher mit
tieferen Störungen, z.B. das, was die Wissenschaft ekklesiogene
Verhalte nennt, Verhalte, die den Durchsatz durch den Harnleiter,
den Enddarm und/oder den Samenleiter betreffen können.
Doch nun endlich zu
5) der Freikörperkultur, der pathologischsten aller Nacktheitsformen:
Sie ist fast zum Allgemeingut geworden - nationale, rassische, kulturelle Unterschiede bestehen nicht mehr. Sie, geneigter Leser, sind
269
nicht mehr imstande, am Nacktbadestrand zwischen Franzosen,
Deutschen oder Schweden zu differenzieren. Allenfalls Engländer
und Belgier fallen noch durch differentiae specificae auf: die einen
durch eine gewisse steife Haltung (die sich auf den Körper, nicht
auf einzelne Körperteile bezieht) und die Belgier durch eine gewisse
Schamblendenhaftigkeit (sie lassen gerne die Hände oder irgendwelche Utensilien vor dem Schambereich baumeln; dazu paßt, daß in
Belgien erst seit diesem Sommer an einem einzigen etwa 30 Meter
breiten Strand nackt gebadet werden darf). Früher konnte man im
Frankfurter Umland noch Frankfurter und Offenbacher unterscheiden, letztere pflegten - als Herren - der Vokuhila-Mode zu folgen
(nur auf die Kopfhaare bezogen) und - als Damen - zebragestreift zu
gehen (auch nur auf die Haupthaare bezogen, obwohl bicolore
Schambehaarung schwer im Kommen ist). Da konnte schon einmal
ein Frankfurter sagen: „Du Offebächer du, geh‘ mir aus der Sonn‘.“
Heute ist das unmöglich, da sind sich Frankfurter und Offenbacher
selbst in voller Montur gleich. Das einzige Unterscheidungsmerkmal
ist und bleibt (soweit sie im Auto unterwegs sind) das Nummernschild, und das wird auch immer noch gern ausgekostet. So machte
sich der Fahrer einer Frankfurter Straßenbahn, die von einem PKW
mit Offenbacher Kennzeichen blockiert wurde, dadurch Luft, daß er
zur denkbar größten Beleidigung griff und ausstieß: „Sie Offebächer,
Sie!“ Aber zurück zur Nudität. Etwa 25 Millionen Kerneuropäer
baden nackt, und da ist man zu sagen geneigt: Soviele Nackte können nicht irren. Und doch wird man bei näherem - jedoch nicht allzu
nahem - Besehen die Feststellung treffen müssen: Sie irren allesamt.
Aus einem einzigen Grund, den ich in eine Frage kleiden (!) will:
Warum sollte man sich ausziehen? Was daran ist, wie behauptet, so
natürlich? Kehren wir denn auch zum Säuglingsgeplapper zurück,
weil uns die auf der Sprache basierende Ausdrucksweise weniger
förderlich erscheint als unartikuliertes Geplapper? Ontogenese, sagt
Dionys Kallaengoulberck (auch er ein entschiedener Antinudist) ist
270
eine Einbahnstraße. „Oder kannst du dir vorstellen“, hat er mich mal
gefragt, „daß wir die Badehose gegen eine Windel austauschen, um
uns schließlich nach einer Entwöhnungsphase gänzlich nackert zu
geben? Packt man die Nudisten beim ...na ja: Wort, dann wären am
Strand nur noch Greise zugelassen.“ „Außerdem“, fuhr Dionys
Kallaengoulberck fort, “sollte der große Skandal der Natur, den
Heinrich Heine dereinst wie folgt auf den Begriff gebracht hat: ‚Was
dem Menschen dient zum Seichen, / Damit schafft er Seinesgleichen‘, sollte also dieser Skandal tunlichst verhüllt werden.“
Recht haben sie, Dionys Kallaengoulberck und Heinrich Heine.
Aber der größte Einwand gegen die Nacktheit besteht in der bloßen
(sic!) Feststellung: Nacktheit ist in idiotischer Weise blöd, weil das
Hose- oder das Höschen-Fallen-Lassen reine Selbstbezüglichkeit
bedeutet, ein „acte gratuit“ (schon wieder Akt), mutwillig, uninspiriert, idiotisch im heutigen und in der alten Griechen Sinne. Doch
damit nicht genug: Der Kieler Philosoph Hermann Schmitz, ein großer Einzelgänger der Zunft, der sich als einziger neben Sartre, aber
viel umfassender als dieser, dem Komplex der Defäkation, oder weniger wissenschaftlich: dem Stuhlen angenommen hat, weist auf
eine Eigenart der deutschen Sprache hin, die geeignet ist, die ostentative Nacktheit bloßzustellen: Die deutsche Sprache unterscheidet
zwischen Körper und Leib. Leib ist, folgt man Schmitz, das, was man
an sich erlebt, sich einem von sich mitteilt, die Regungen, denen
man ausgesetzt ist, wie Hunger, Durst, Angst, aber auch Wollust
und Behagen; Körper dagegen das, was gesehen wird und das man
zur Schau trägt. Zu früheren Zeiten war die Trennschärfe noch größer: Da galt der Körper cum grano salis als etwas Lebloses, als äußerliche Hülle - die Übersetzung des Corpus Christi lautet ja folgerichtig Leib Christi und nicht despektierlicherweise Körper Christi
(obwohl es den, vorausgesetzt der historische Jesus war existent,
auch gegeben hat). Ähnlich wie Schmitz weiß als guter Phänomeno-
271
loge auch Michel Henry von der Universität Montpellier um die
Dualität der körperlich/leiblichen Erscheinung: Der Körper („corps“)
ist zunächst das, was uns als Objekt der Welt erscheint, was sichtbar ist, die gewissermaßen dingliche Dimension; das, was Henry
dagegen als “corps vivant” bezeichnet, ist das Erleben meiner körperlichen Möglichkeiten, das Empfinden des Fühlens und Wollens.
Die Frei-Körper-Kultur bezieht sich demnach allein auf den Körper,
man zeigt sich, stellt sich aus, und der Nackte ist wie ein Hohlblockstein, nicht so hart und rauh, in jedem Fall aber hohl. Aber was noch
wichtiger ist: Der Körper wird durch sein Posing disponibel gemacht, ja fragmentarisiert, und so sind Schönheitschirurgie, Organentnahme sowie Transplantation bis hin zur völlig beliebigen Neukombination (Dreiarmigkeit oder Ohrennasigkeit), auch das Ausweiden (Resteverwertung im Separator) durchaus anschlußfähig an die
Freikörperkultur. Das Humanum des Menschen verschwindet hinter
seiner Körperlichkeit, und allein die sympathische Arglosigkeit, die
in der organisierten Nacktheit angelegt ist und darin besteht, daß
dem universalen Genußimperativ des “Du Darfst” in größter Unbedingtheit ein “Aber faß’ mich nicht an” folgt, hindert mich, für ein
generelles Verbot sämtlicher Nacktheit zu plädieren. Was aber unbedingt mit einem generellen Verbot, na ja, wenigstens Ächtung,
belegt werden müßte, ist der Exhibitionissimus, der Superlativ des
Exhibitionismus. Der Exhibitionissimus besteht im Rasieren und
Epilieren, im Extirpieren und Eliminieren der Körperbehaarung und
im anschließenden Polieren und Makadamisieren der so grundgereinigten Oberfläche. Ich zähle dazu Entfernen der Achsel-, Schamund Kopfbebehaarung, im harmlosesten Falle den „brazilian cut“, im
fortgeschritten Stadium die Ganzkörperglatze, auf der sich – „les
extrêmes se touchent“ – Prüderie und Entblätterungszwang in puris
naturalibus
ein
Stelldichein
geben.
272
Die Überlegungen zur Nacktheit sind jetzt alles in allem etwas zu
lang geraten, deshalb referiere ich die wichtigsten Eckpunkte (unter
Auslassung zu direkter Passagen) der Familie Jarim, doch weder
Hagen noch die Kinder zeigen sich sonderlich interessiert; Nachfragen, die ich insbesondere von den Kindern erwartet habe, werden
nicht gestellt, und da wir solchermaßen mit der Nudität nichts am
Hut haben, gehen wir auch nicht zu Europas zweitgrößtem Nacktbadestrand, sondern halten fest, daß uns der Hinweis mit dem Zeigestock der Exhibitionisten unbeeindruckt läßt und entsprechende
Fälle der Fürsorge der Staatsgewalt überantwortet werden sollen.
Die nackten Jörgs dagegen, die Melems, wollen wir nackt sein lassen und Patienten wie Tobias L. jene „professionelle Betreuung“
empfehlen, die heute die unterschiedlichen Angebote vom Beichtstuhl angefangen über die Verhaltenstherapie bis hin zur Einweisung in die Klapse umfaßt.
Weil die Wolken sich am Mont St Loup verfangen und das Cap in
undurchdringliches Grau hüllen, verlassen wir den Ort der unsichtbaren Nacktheit und fahren weiter westlich nach Grau d'Agde, wo
der Hérault ins Meer mündet. So ungefähr stelle ich mir Vororte von
Lima vor, das gleiche Klima, der Nebel, die Luftfeuchtigkeit, das
kalte, ganz und gar nicht subtropische Meer. An und für sich gar
nicht mal so schlecht, nicht so urlauberhaft wie Cap d'Agde, nicht
so erdrückend wie La Grande Motte, nicht so aufdringlich wie Grau
du Roi und nicht so abgeschmackt wie die Neu-Venedigs an der
Côte d’Azur. Wir gehen zum Strand, wo sich heute die Passanten
und Liegegäste witterungsbedingt ungewöhnlich zugeknöpft geben. Die Kinder scheuen das Wasser jedoch nicht, werden aber
nach einer Viertelstunde von freundlichen Wächtern herauskomplementiert - inzwischen hat die rote Fahne an der Station
Badeverbot signalisiert. Hier gibt es nichts zu besichtigen (selbst
wenn wir wollten), nichts, das zu weiteren Unternehmungen anregen
273
könnte (wir haben auch keine Ideen, was für welche), also folgen wir
einmal mehr stoffwechselbedingten Erfordernissen und finden uns
alsbald im "La Pergola" ein (18, quai C. Méric, Tel. 0467948390).
Welch eine Überraschung, die „Pergola“ ist bei moderaten Preisen
wirklich mehr als passabel, passabler, als man es in diesen Breiten
vermuten könnte. Der Kellner, vielleicht ein nebenamtlicher DJ, der
im „Club Tahiti Beach“ am Naturistenstrand auflegt, vielleicht aber
auch ein Student des Maschinenbaus aus Montpellier, ist auffallend
freundlich, beflissen, schäkert mit den Kindern, zieht sämtliche Register, die ein Kellner, dem ein gutes Trinkgeld zusteht, so drauf
haben muß. Wir essen Fischplatte mit allem, was das Meer bietet,
fragen uns auch nicht, was wohl hier von der Küste und dem Golf
von Lyon, und was von der Mangrovenküste Brasiliens und den
Fischgründen vor Wladiwostock und Neufundland stammt, es
schmeckt gut, und wir zahlen für dies und eine Menge von Getränken 40 Euro. Wäre das Wetter besser gewesen, hätten wir auf einer
Ponton-Terrasse auf dem Hérault dinieren können, so essen wir
geschützt in einem jener Aquarien, die jedem Restaurant hier vorgebaut sind, geschützt vor dem Wind und den heute bekleideten Passanten, die vielleicht morgen schon wieder die Kleider fallen lassen.
Wir kehren nach Péret zurück, im Nieselregen, der sich jetzt eingestellt hat, in diesem Sommer, der - so Madame Simone - so "exceptionelle" ist, wie es noch keiner war, und der gleichwohl den Vorteil
hat, daß noch nie in den letzten dreißig Jahren so viele Leute so
wenig nackt waren.
Samstag, 15. Juli
Über Nacht ist es richtig heiß geworden. Ein leichter Wind kommt
direkt aus Afrika und vertreibt die Wolken aus dem Midi. Die Zika-
274
den haben einiges nachzuholen, sie kreischen wie noch nie gehört.
Der Pirol schlägt seit den frühen Morgenstunden an, die Spatzen
schilpen, die Haubenmeise (oder ist es ein Mittelmeersteinschmätzer
mit Windhaube?) trällert ihr Lied, selbst die Ameisen zeigen wieder
verstärkte Aktivitäten (sie werden doch nicht...?). Aber uns Zweibeinern schlägt die plötzlich aufflammende Hitze aufs Gemüt. Von
mir abgesehen, der (wie Hagen Knotterbeck behauptet) bedenkliche
Symptome einer senilitätsbedingten Bettflucht zu erkennen gibt,
kommen die Jarims nicht so richtig in Gang. Gleiches gilt für Dionys
und Messali, von denen nichts zu sehen ist.
Ich nutze die witterungsbedingte Abneigung gegen urlaubsgerechte Betätigung, um mich über Giorgio Agambens Buch herzumachen. Agamben konzentriert sich auf die Römerbriefe und präpariert
sehr schön die paulinische Kritik des Gesetzes heraus. Es geht Agamben um die Erhellung des Widerspruches, der sich bei erster
Lektüre ergibt zwischen dem sozusagen „alttestamentarischen“
Römer 7,12 („So ist also das Gesetz heilig, und das Gebot ist heilig,
gerecht und gut“) und dem „neutestamentarischen“ Römer 10,4
(„Christus ist des Gesetzes Ende; wer an ihn glaubt, der ist gerecht“). Agamben schlägt nun - wenn ich das in der Eile richtig sehe
- eine Lektüre vor, die um den griechischen Ausdruck „kartagein“
kreist, ein häufig in den Episteln verwendetes Wort, was soviel wie
„verfallen“, „in-aktiv werden“ bedeutet. Dieses „kartagein“ - das
Gegenteil von „energein“ (das wiederum den Sprachstamm von
Energie bildet), entbindet den Gläubigen vom Gesetz, aber nicht, um
ihn in die Gesetzeslosigkeit zu treiben, sondern um ihn in der Position der Schwäche empfänglich zu machen für das Evangelium, was ja
nichts anderes als frohe Botschaft heißt. Die Inversion des Gesetzes
und der Gesetzesgläubigkeit - und das ist für Agamben das absolut
Neue an Paulus - setzt die subversive Kraft des Christentums, die
Stärke seiner Schwäche, frei. „Für Paulus“, schreibt Agamben, „er-
275
schöpft sich die messianische Kraft nicht in seinem ‚ergon‘, vielmehr erhält diese sich in der Form der Schwäche.“ Das ist es, durchfährt es mich und ich fühle mich plötzlich gar nicht mehr schwach
und schlaff, neige nun dem „energein“ statt dem „kartagein“ zu :
Man muß die Kohldepps dieser Welt nicht mit dem dicken Knüppel
der Zurechtweisung und des Verbotes schlagen, nicht mit dem
Hammer der Kritik und nicht unter Anrufung des Wohlfahrtsausschusses, wir müssen sie eher aus der Position der Geschehenlassenden destabilisieren, für die Geschichte erledigen, um so die
kommenden Generationen vor ihnen in Schutz nehmen. Wir haben
uns ja zu umstandslos das biologistische Menschenbild des „survival of the fittest“ angeeignet. „Ganz falsch“, werde ich nun deutlicher lauter und springe in meinem Enthusiasmus vom Stuhl auf, „wir
sind stark durch unsere Niederlagen, durch unsere Fähigkeit, die
Strategien des Gegners im buchstäblichen Sinne zu durchqueren.“
„Du durchquerst nichts“, sagt Mme Knotterbeck, die unvermutet
hinter mir auftaucht, „heute ist unser letzter Tag, da bleibst du doch
hoffentlich hier und machst uns was Schönes zu essen.“ In der Tat,
morgen ist Abreisetag; ich durchquere ein letztes Mal das Dorf (das
gesteht mir Hagen zu), verabschiede mich von Madame Simone, die
mich für heute in ihr Haus in der Rue Pierre et Marie Curie bestellt
hat. Das birgt ein gewisses Risiko für sie, einen "jungen" Mann zur
Verabschiedung in der Wittib Haus zu lassen; ich kann mir vorstellen, wie sich ihre Klatschtanten darüber das Maul zerreißen könnten. Deshalb fühle ich mich geehrt, kann es gar nicht fassen, daß
unsere Beziehung, die sich in den letzten Tagen und Wochen aufgebaut hat, auf diese Weise ihre Vollendung erfährt. Die Nummer 10
ist ein schmales Gebäude, im Erdgeschoß: der Salon und die offene
Küche; drei Zimmer insgesamt in den oberen beiden Stockwerken,
die ich aber schicklicherweise nicht zu sehen bekomme. Dafür zeigt
mir Madame Simone alles, was sich im Kühlschrank und der Gefrier-
276
truhe befindet, voller Stolz auf ihre Beute. Der Inhalt stammt nämlich
von richtigen Beutezügen, nichts ist gekauft, alles "mitgebracht",
"organisiert", "getauscht", „geschenkt“: die Forellen "von einem
Copain", das Boeuf aus der Auvergne "von ihrem Sohn", das Wildbret "von einem Freund ihres Mannes, der ihm noch was schuldig
ist", die Tomaten "geschenkt vom Nachbarn", die Bohnen "selbst
geerntet im Garten des anderen Nachbarn, der sich in Urlaub befindet", die Auberginen "eingetauscht gegen Selbstgebackenes". Ich
verkneife mir die Frage, ob es nicht vielleicht was gibt, das auf unredliche Weise in ihren Besitz gelangt sein könnte.
Madame schenkt mir „Croquets du Roussillon“, das sind kleine
Hartekuchen aus Mandeln und gleich ein handgeschriebenes Rezept obendrein, dazu ein Glas selbstgemachte Pfirsichkonfitüre. Sie
preist die milden Gaben ganz unbescheiden in den höchsten Tönen
- wie immer, wenn sie von Eßbarem spricht, unterstreicht sie ihre
Ausführungen mit einem genießerischen Zungenschlag über ihren
Dreitage-Oberlippen-Damenbart. Ich bin ganz gerührt von den kleinen Aufmerksamkeiten, gerührt von der Bescheidenheit, die dieses
stille Anwesen ausstrahlt. So geht es also auch, denke ich mir, man
muß nicht alles haben, und auch die geringsten Kleinigkeiten machen es wert, hernieden achtbar zu wandeln. Armut, Bescheidenheit
bilden keinen Gegensatz zu einem Leben in Menschenwürde, im
Gegenteil, rede ich mir ein, sie bilden sogar die Voraussetzung zu
einem solchen. Schlimm ist allenfalls das Elend, die Verkommenheit
und Selbstaufgabe, aber die sind nicht von den Einkommensverhältnissen abhängig. Wo jene herrschen, ist der Gesellschaft keine
Zukunft beschieden. Es ist die im wahrsten Sinne des Wortes nicht
gesellschaftsfähige Haltlosigkeit, das Verschlampte und Verkommene, das Pöbelhafte und Verrottete, das auf dem Vormarsch sich
befindet und allenfalls von der authentischen Armut gestoppt werden könnte.
277
Der infame Mensch, den Michel Foucault für die Zeit des Ancien
Régime in einer kleinen Studie untersucht hat, kehrt in unsere Zeit
zurück. Er trägt die Züge holländischer und Schweizer Raver, inkorporiert sich in den Kohldepps und offenbart sich in den verwahrlosten Hausfrauen, die bei McDo ihre Familienpflichten vernachlässigen. Aber nirgendwo geben sie jene schwarzen Helden ab, deren
anstößiges und erbärmliches Leben noch gut war für die Partituren
der Märchen, Sagen und Legenden. Sie sind aber auch keine "unwesentlichen Existenzen" mehr, wie Foucault sagte, sie sind im Gegenteil dabei, wesentlich zu werden. Seltsamerweise macht sich die
Verkommenheit deshalb breit, weil sie der Armut entkommt. Und
ergriffen von diesem Gedanke denke ich: Solange es Menschen wie
Madame Simone gibt, die sich in ihren Hier und Jetzt bescheiden
und dabei glücklich sind, und Leute wie mich, denen solche Kaliber
wie die Kohldepps ein Greuel bedeuten, solange besteht noch Hoffnung für die Menschheit. Da erzählt mir Madame Simone, daß sie in
zwei Wochen nach Martinique fliegt, mit einer Freundin, vierzehn
Tage Urlaub in einem Vier-Sterne-Hotel verbringt, und wenn es
ihnen gefällt, geht’s nächstes Jahr nach Tahiti. Au Backe und au
revoir Madame Simone, et bonnes vaccances.
Die Auskunft über ihre Urlaubsvorhaben hat mich natürlich nicht
gerade erheitert. Und dann auch noch, als ich zurück bin, die langen
Gesichter rund um den Tisch. Ist was passiert? Sehe ich richtig? Ja
kein Zweifel, die Ameis en formieren sich wieder. Ich bin tief enttäuscht von mir, der chemischen Industrie und Mark Twain. Aber
sage ich, Cater Jarim, der ich gerade wieder einmal einer Täuschung
ent-kommen, also ent-täuscht bin: Uns kann es doch letztlich egal
sein, was die Ameisen zu tun gedenken, morgen sind wir weg.
278
Weg? Ja, der Urlaub geht jetzt unweigerlich seinem Ende zu. Die
Kinder sind bedrückt, Hagen ist noch knottriger als sonst, Dionys
und Messali wirken einsilbig. Es aktualisiert sich die Frage, die uns Sie erinnern sich? - schon letzten Sonntag begegnet war: Haben wir
die Flemm'? Für Nichtsaarländer muß man dieses Gefühl, das in
Wirklichkeit nur Saarländer kennen, übersetzen. Die Flemm' ist eine
periodische Abkehr der Heiterkeit, die dem Saarländer, wie es Außenstehenden zu Unrecht erscheinen mag, in essentieller Weise zu
eigen ist. Doch es handelt sich nicht um einen bloßen Heiterkeitsverlust - man muß schon genau hinsehen, wenn einer die Flemm’
hat. Um also präzise zu sein: Ich habe als einziger die Flemm‘, die
Kinder allenfalls in einer Dosierung, die ihnen gemäß den Mendelschen Gesetzen zukommt. Alle anderen haben Depressionen oder
sonst was Unappetitliches.
Es trifft sich schlecht, daß ausgerechnet in dieser Woche der
„Nouvel Obs“ eine Definition der "flemme" in einen launigen Artikel
verpackt: "Es ist Sommer“, schreibt der Autor, „Zeit der Siestas, des
Rosés und der schweren Verdauung. Ihre, lieber Leser, Augenlider
wiegen zwei Tonnen, Ihr Geist ist so munter wie eine alte Sandale,
und was mich betrifft, der ich hier vor der Schreibmaschine sitze, ich
fühle mich so lebendig wie eine ölverklebte, mit Tranquilizern behandelte Qualle. Das nennt man die 'flemme', die Krankheit des Augenblicks." Ich bin davon überzeugt, daß an dieser zeitgemäßen
französischen Fassung der Flemm' so gut wie alles falsch ist. Sie
bildet (obwohl Flemm' durchaus ethymologisch von „la flemme"
abstammt) so etwas wie die Negativfolie zu der eigentlichen Flemm'.
Erst, wenn man tief hinabsteigt und dem Ausdruck "la flemme" (der
wörterbuchvereinfachend mit "Faulheit" wiedergegeben wird) an die
Wurzel geht, ihn sozusagen einer Wurzelbehandlung unterzieht,
kommt ein Bedeutungshalo zum Vorschein, der uns zur richtigen
Flemm' führt. „La flemme" nämlich stammt von "flemma" ab, dem
279
italienischen Phlegma. Phlegmatisch aber kann nur der Franzose
sein, der Saarländer ist eher melancholisch, bezieht in einem Akt
überdrehter Selbstreflexion noch einen lustbetonten Umgang aus
seinem Trübsinn, anders gesagt: erwirtschaftet aus dem elegischen
Ennui, der ihn zuweilen oder auch oft befällt, einen Restgewinn an
Lebensintensität. Die Flemm’ ist nichts anderes als ein luxurierender
Weltschmerz, „la flemme“ dagegen Lethargie. Der Franzose sagt:
„Honni soit qui mal y pense“. Der Saarländer dagegen: "Honn ich
heit di Flemm‘“. Damit bekundet er einen an sich ungelegenen Gemütszustand und bezieht aus der Bekundung selbst einen Lustgewinn. Die Flemm' ist transzendental, la flemme ziemlich franzosenhaft
flach, so harmlos, ach was, hinterhältig wie die Syphilis in der Form
des kleinen Franzos'.
Ich bin im Gegensatz zu den anderen Jarims und den beiden
Freunden jedoch weit davon entfernt, mich schicksalsergeben in
den Tagesablauf zu fügen. Und ich habe bereits eine Idee zur Ge staltung des heutigen Tages. Sie ist - zugegeben - nicht aus dem
Bauch heraus entstanden, sondern von der heutigen Ausgabe des
"Midi libre" inspiriert. Dem Blatt zufolge haben gestern überall im
Land viele kleine und große Franzosen der Aufforderung ihrer Regierung Folge geleistet, am Nationalfeiertag ein Riesenpicknick
entlang des "grünen Meridians”, auszurichten. Der grüne Meridian
wiederum ist eine Baumreihe, die entlang des zweieinhalben Längengrades, der durch Paris führt, vom Pas-de-Calais im Norden bis
zu den Ostpyrenäen entstehen soll. Die Idee ist so vollkommen
beknackt, daß ihr nur im zentralistischen Frankreich Aussicht auf
Erfolg beschieden ist: Am "incroyable pique-nique", dem unglaublichen Picknick zur Promotion des grünen Meridians, haben sich
gestern 337 Kommunen beteiligt, und die Einzelheiten der unglaublichen Veranstaltung sind von Mal zu Mal unglaublicher: Da gab es
eine unglaubliche Tafel, unglaubliche Buffets, unglaubliche Degus-
280
tationen, unglaubliche Wettkämpfe und so weiter und sofort. Unglaubliche 600 Kilometer Tischtuch hat der "Midi libre" ausgemacht,
es ist einfach unglaublich.
Das Ungeheuerliche des Ereignisses, dem wir leider nicht beiwohnen konnten (der grüne Längengrad führt nicht durch Cap d'Agde,
aber wie wäre es mal mit einem nudistischen Meridian und einer
unglaublichen Nacktheit mit 337 nackten Bürgermeistern?), liefert
mir, wie gesagt eine Idee, in die ich Messali als Kenner der Materie
einweihe: das unglaubliche Hodenessen, das wir natürlich aus
Gründen der Diskretion Dionys und der Familie Jarim vor Tische
verschweigen müssen. Aus gutem Grund: Vor vielen Jahren hat der
bereits erwähnte Oberhegelforscher in Le Cailar eine von ihm selbst
geschossene Wildente nach einem mittelalterlichen Rezept zubereitet. Er ließ das Tier in vollem Federkleid eine Woche im Keller seines
Hauses hängen, bis es voller Maden war. Dann rupfte er den Kadaver (das geht im Zustand der fortgeschrittenen Verwesung wie von
selbst) und schmorte es mitsamt den Maden und weiteren geheimen
Zutaten acht Stunden lang, bis das Fleisch der Maden und das der
Ente zu einem dicken Jus verkocht waren. Diesen Jus zog er unter
eine Einbrenne, so daß eine dunkle, fein-aromatische Sauce entstand, die er zu „Pommes de terre à la Dauphine“ kredenzte. Es
schmeckte vorzüglich, aber der Oberhegelforscher hätte während
des Essens nicht die Art und Weise der Zubereitung referieren
dürfen; dies war bei nur einer Toilette im Haus ausgesprochen töricht gewesen.
Messali und ich beschließen daher, im Falle des Gelingens unseres Vorhabens strengstes Stillschweigen zu wahren - immerhin geht
es um die seelische Unversehrtheit meiner Familie. Bedenken habe
ich keine, im Gegenteil: Das unglaubliche Menü halte ich für einen
würdigen Abschluß unseres Frankreichaufenthaltes. Messali sieht
281
es genauso. Ich referiere zu meiner eigenen Sicherheit Hakim Bey,
der das in Saturnalien ausartende Essen modellhaft als gelungenes
temporäres Aufbegehren ausgibt, welche einerseits den Essern gut
tut und andererseits Obrigkeiten und sonstige Träger der Macht
nicht zu unangenehmen Gegenmaßnahmen provoziert.
Leider vergeht der gesamte Vormittag über der Suche nach Lammhoden. In Clermont nichts zu bekommen, ebensowenig in Pézenas.
Wir müssen bis nach Bionne, einem Vorort von Montpellier, wo wir
kurz vor der Mittagspause endlich mit einem unglaublichen Überzeugungsakt bei einem muslimischen Metzger die benötigte Menge
an Rohmaterial erstehen können. Die Hoden waren für einen Ve rwandten reserviert gewesen, aber Messali versteht es mit orientalischer List, sich als jemand auszugeben, dessen Eltern im selben
Dorf wie der Metzger geboren wurden (dabei liegen zwischen den
fraglichen Orten mindestens 1500 Kilometer Luftlinie). Das verbindet, das fordert gegenseitige Großzügigkeiten heraus. Der Metzger
rückt die Hoden raus, Messali will dafür bei seinem nächsten Algerienbesuch dessen Eltern einen persönlichen Gruß bestellen. Mehr
noch: Für die Hoden brauchen wir nichts zu zahlen; Messali soll
davon süße Mitbringsel für die Metzgereltern kaufen.
Hoden sind in der deutschen Küche unbekannt. Das hängt nicht
zuletzt damit zusammen, daß den Schlachtereien bis in die jüngste
Zeit der Verkauf untersagt war. Die hessische Schlachtordnung
beispielsweise hatte sogar ausdrücklich jede Weiterveräußerung
(auch die Schenkung) von Hoden verboten. Noch Mitte der 80er
Jahre veranstaltete ein Eat-Art-Künstler am Frankfurter Städel ein
großes Hodenessen und kalkulierte dabei ein publikumswirksames
Verbot ein (was unterblieb und daher der Öffentlichkeitswirkung der
Aktion abträglich war). Eine gutbesuchte Veranstaltung war dagegen die Buchmessenaktion des erwähnten Albert Sellner im Oktober
282
2000 in den Räumen der Hessischen Landesbank. Albert hatte zu
einer Lesung mit österreichischen Autoren geladen. Im Rahmenprogramm trat beziehungsreich ein päpstlicher Kastratensänger auf, zu
den kulinarischen Köstlichkeiten zählten Blunzen (Blutwurst als
Huldigung der zahlreich anwesenden österreichischen Autoren)
und-– laut Einladung - Lammhoden. Leider blieb es - was letztere
betraf - bei der Ankündigung. Ismat Abou-Zaki, der Chef des legendären libanesischen Lokals "L'Emir" zu Frankfurt, sollte sie liefern,
verwechselte dummerweise das Datum und stand montags am Empfang des Hessentowers, die Veranstaltung war aber am Vortag gewesen. So kam es, daß einmal mehr eines der seltenen Hodenessen
in Deutschland scheiterte, diesmal aber nicht wegen mangelnder
Nachfrage, massenhafter Ablehnung oder einer einstweiligen Ve rfügung, sondern aufgrund interkultureller Ve rständigungsprobleme.
Ein Trost: Auch in Ländern, die sich gegenüber dem Verzehr tierischer Weichteile aufgeschlossener zeigen, fehlen Hoden vielfach
auf der Speisekarte oder sind dort, wo sie aufgeführt sind, dennoch
nicht erhältlich. Anläßlich meines bisher einzigen Überseeaufenthaltes besuchte ich 1987 in Buenos Aires mit Hagen Knotterbeck und
unserem Freund Jimmy Lindner (der damals als Fotograf in Argentinien tätig war) das bekannte Lokal "La Chacra" auf der Avenida
Córdoba. Ich bestellte nach der viersprachigen Karte "giradillas",
also Stierhoden. Der bösartig wirkende “mozo” (Kellner) murmelte
auf spanisch - nicht ahnend, daß ihn Jimmy ausgezeichnet verstand:
"Friß‘ doch deine eigenen Eier." Laut aber sagte er auf Englisch:
"Bedaure mein Herr, sind leider ausgegangen. Argentinien verfügt
über keine Hoden mehr. Wird alles exportiert."
Auch in Frankreich sind Hoden von den Küchenplänen gutbürgerlicher Restaurants verschwunden. In deutsch-französischer
Grenznähe macht hier das "L'Abattoir" in Straßburg-Kronenburg
283
(16, Place de l'Abattoir, direkt neben der A4 von Zabern kommend
am Eingang Straßburgs gelegen, Tel. 03 88 26 29 60), eine rühmliche
Ausnahme, wobei man wissen muß, daß es mit dieser Ausnahme
seinem Namen Ehre erweist, denn "abattoir" heißt "Schlachthof".
Auf der Speisekarte finden sich unter der Rubrik "frivolités" (das ist
die Sammelbezeichnung für entsprechende Gerichte: zum Beispiel
"les rognons blancs Spaetzle maison" (Rinderhoden auf Spätzle).
Das "Abattoir" bietet - dies als ergänzende Bemerkung - auch ausgezeichnete Kutteln, Kalbsbriese, Kalbsköpfe, Schweinsfüße, und
eben nach Marktlage Lammhoden („les parties nobles du mouton“).
Mir bleibt unerfindlich, warum Leute, die sich Gourmets nennen,
einen weiten Bogen um gewisse tierische Bestandteile machen.
Sicher, auch ich habe meine Vorlieben und Abneigungen, was Innereien betrifft. Ich mag beispielsweise keine Lüngerl, schätze aber
sehr die Mägen und Herzen, und wenn ich in München bin, dann
natürlich nicht, um die Alte Pinakothek oder das Deutsche Museum
oder auch das Valentinsmuseum aufzusuchen (all das interessiert
mich herzlich wenig), sondern um mir im „Braunauer Hof“ oder in
anderen Traditionsgaststätten Kalbsbrieswurst oder Herzgulasch
einzuverleiben. Es gibt selbstredend auch Zeitgenossen, die aus
therapeutischen Gründen dem zusprechen, was sie ansonsten abstoßend finden. Zu ihnen zählt mein Ensheimer Freund Michel Maurer, mit dem ich zum Abschluß schwerer Trinkgelagen stets bei
“Kohls” eingekehrt bin: ich, weil ich regelmäßig nach Alkoholausschreitungen einen Heißhunger nach “Flauzen” verspürte (das sind
Kutteln als Salat angemacht – ähnlich dem Ochsenmaulsalat), Michel, weil er die Kaldaunen zur innerlichen Körperreinigung benötigte (womit er “Innereien” eine zusätzliche Wortbedeutung verlieh).
Denn kaum waren die Noppen des Pansens mit seinem Ga umensegel
in Kontakt getreten, mußte sich Michel rasch zur Ausscheidung
seines in Bier und Schnaps eingelegten Mageninhalts entfernen, um
284
sodann - an Leib und Seele kuriert - die Zecherei mit einigen gut
mundenden Absackern einem würdigen Ende zuzuführen.
Nachdem ich mit meinem Freund vom ausgedehnten Marktgang
zurück bin, wird die Familie in Begleitung von Dionys auf den Berg
zum Kräutersammeln geschickt. Oberhalb von Notre Dame kann man
auf freier Wildbahn jede Menge an Thymian, Rosmarin und Lorbeerblättern ernten. Unterdessen wasche und blanchiere ich auf die
Schnelle die drei Kilo Hoden, enthäute sie und befreie sie von
Knorpeln, schneide ein Kilo in schmale Streifen, zwei Kilo in Würfeln. Ich muß dabei an das unglaubliche Knödelessen denken, das
Albert Sellner aus Anlaß der ersten Wahlen zum Europäischen Parlament 1984 für ein internationales Publikum zubereitete. Seinerzeit
gab es Knödel als Vor- sowie Hauptspeise und zum Nachtisch, als
Dessert beispielsweise Germknödel mit der üblichen Zucker-MohnLava. Luc Rosenzweig, damals Deutschland-Korrespondent von
"Libération", heute leitender Redakteur bei "Le Monde", brachte
eine Kiste Champagner mit und nötigte uns, zu den Knödelgerichten
Schampus zu trinken, in Wirklichkeit nicht, um uns zu Gefallen zu
sein, sondern um am übernächsten Tag in „Libération“ tatsachengemäß zu berichten, daß die Deutschen ständig Knödel, sogar zur
Vor- und Nachspeise, essen und mittlerweile in ihrer Wohlstandsperversion Champagner statt Bier dazu trinken.
Ich bereite die Hoden, da es sich um ein „unglaubliches Menü“
handelt, auf folgende Arten zu: Um von hinten zu beginnen (zunächst das Rezept für den "flan cateran" (die Crème Caramel nach
Art Cater Jarims); es handelt sich um das Dessert, und das muß bis
zum Abend erkalten:
Ich koche die Hodenstreifen eine Stunde, püriere sie dann und
stelle die Masse zur Seite. Dann karamelisiere ich in einem eisernen
285
Pfännchen fünf Eßlöffel Zucker und verteile die Masse in einer Kuchenform (am besten Gugelhupfform aus Blech). Dann koche ich
einen Liter Milch auf und lasse sie zehn Minuten ruhen. Unterdessen schlage ich in einer Schüssel vier ganze Eier und vier Eigelbe
leicht an, vermische sie mit dem Hodenpüree und etwa hundert
Gramm Zucker und gieße vorsichtig unter Rühren die Milch unter.
Das Ganze kommt in die Kuchenform und wird im Wasserbad bei
180 Grad in der Röhre etwa anderthalb Stunden gestockt, anschließend kalt gestellt und bis zum Verzehr im Kühlschrank gekühlt.
Zum Hauptgang benötige ich zwei Kilo Hoden, die ich salze und
in einem schweren Bratentopf zusammen mit einem Kilo kleingehackte Zwiebeln in ordentlich Butter und Öl anbrate. Nachdem das
Bratgut eine dunkle Farbe angenommen hat, lösche ich es mit einem
halben Liter Rotwein ab, gebe eine Messerspitze Safran, einen halben Kaffeelöffel weißen Pfeffer, zwei Tassen Wasser sowie ein
"bouquet garni" zu (Gewürzkräutersträußchen mit Lauch, Bleichsellerie und landestypisch auch: Schalen von Bitterorangen). Das Ga nze lasse ich anderthalb Stunden bei kleiner Flamme köcheln. In der
letzten Viertelstunde reduziere ich die Flüssigkeit und füge zum
Schluß noch ein „beurre manié“ (eine Mehlbutter: gut drei Eßlöffel
Mehl, die ich einem Becher Crème fraiche untergerührt habe) hinzu,
so daß ein sämige Sauce entsteht. Dazu serviere ich sehr kleine
Kartoffeln in der Schale, die ich vermengt mit grobkörnigem Salz in
einem Topf ohne Wasser bei kleiner Hitze 20 Minuten gare (der
Topf muß bei geschlossenem Deckel immer wieder geschüttelt werden; den Deckel während des Garen nicht abnehmen). Man kann
dieses Gericht auch mit Kichererbsen, Rote Beete, weiße Rübchen
und Gurken zubereiten, aber das mute ich der Familie Jarim und ihren
Freunden nicht zu.
286
Zur Vorspeise paniere ich ein Pfund Hodenstreifen „à l'anglaise“,
das heißt mit Milch und Mehl, Salz und Pfeffer, brate sie scharf an,
gebe Streifen von zwei roten und zwei grünen Paprikaschoten dazu,
dünste das Ganze, bis der Paprika etwas von seiner Festigkeit verloren hat und serviere sie zusammen mit einem Omelette.
Die Familie geht mit Appetit ans Werk - ich behaupte, es handelt
sich bei den Schlieren im Dessert um Gelantine, bei der Vorspeise
um einen besonderen südfranzösischen Pilz (eine Kreuzung zwischen weißen Trüffeln und Milchling, der das ganze Jahr über
wächst) und beim Fleisch um Gulasch von einem korsischen Spanferkel (daher der leichte Nierengeschmack, den ich als WildHautgout ausgebe), verstehe aber nicht, warum Messali - als ich
den Begriff „Ferkel“ gebrauche - grün und gelb im Gesicht wird und
sich rasch entschuldigt (offensichtlich habe ich etwas gesagt, das in
seinen arabischen Ohren unappetitlich klingt). Hagen ist noch etwas
mißtrauisch, und wundert sich über den doch leichten Hammelnierengeschmack des Spanferkels, läßt es aber als Schwein der wilderen Art durchgehen. Dionys gibt ein Starckdeutsch-Gedicht zum
Besten, in dem es von Kalbsschnautzen, käßmilbigem Hirn, Bautzen,
Ferckensschwentzlin, Tribdärm, Hirschenzemmer, Rollpansen, Börsel, Gehenck, Kröß und Utter nur so wimmelt. Ob er wohl etwas
gemerkt hat? Seltsam, daß er sich nicht in seine Eigenzitate aus dem
blasphemischen Gottesbeweis hineinsteigert (oder nimmt er nur
Rücksicht auf die Kinder?) Ich greife vorsichtshalber das starckdeutsche Thema auf und lenke es um auf die Dichtungen des großen Johann Fischart, der in Forbach Ende des 16. Jahrhunderts als
Amtmann wirkte und mit seiner "Affentheurlich Naupengeheurlichen Geschichtsklitterung" das vielleicht bedeutendste deutschsprachige Dokument der vorbarocken Literatur verfaßte.
287
„Klingt wie Fischart“, sage ich, „der hat auf die Fleischdärm, die
Kalpsbraten, Hammelschlegel, ‚Nirpraten mit Kompost auß der Kappesbütten‘, den ‚geplotzen Rettich und den gekotzten Mörrettich‘
ein dithyrambisches Tischgebet verfaßt.“ Hagen sagt: „Muß das
jetzt sein?“ und meint damit nicht das Tischgebet, sondern die Sache mit dem „Mörretisch“. „Es sitzen doch Kinder am Tisch.“ Das
gibt mir die Gelegenheit, auf harmlosere Themen überzuleiten:
Fischart, dessen „Geschichtsklitterung“ eine sehr freie und und
zudem auf das Dreifache ausgedehnte Übersetzung von Rabelais‘
„Gargantua und Pantagruel“ darstellt, läßt zu einem Gelage (was ich
tunlichst verschweige: zu einer Kuttelorgie) Säufer und Fresser aus
dem gesamten süddeutschen Raum aufmarschieren, darunter auch
„Sanct Urbans Jünger umb Ensheim“. Hagen fragt: „Wie ‚Ensheim‘?
Gab’s das damals schon?“ Ich sage: „Natürlich, ich nehme mal zu
unseren Gunsten an, daß er das richtige Ensheim meinte. Gut mö glich, daß er, der gebürtige Straßburger, auf das Entzheim vor den
Toren seiner Stadt abstellte (der Ort ist jedoch erst durch eine
Schlacht hundert Jahre später verbürgt) oder, weil er vor seiner
Forbacher Zeit als Advokat in Speyer tätig war, das Ensheim bei
Alzey. Aber da die heutige Edition der „Geschichtsklitterung“ auf
der um 1590 erschienenen Ausgabe letzter Hand basiert, darf man
getrost unterstellen, daß es sich bei dem genannten Ensheim um
den später saarländischen Ort handelt. Fischart hatte nämlich in
seinen letzten Forbacher Jahren das Werk stark überarbeitet, und er
dürfte dabei das gerade mal zehn Meilen entfernte Ensheim im Sinn
gehabt haben.“ Hagen und Messali wollen mehr zu Fischart wissen,
ich lüge - da ich nicht darauf vorbereitet bin - das Blaue vom Himmel
herunter, Geschichten aus seinem Leben, dann eine derbe Ausschmückung seines tragischen Todes. Die Situation ist gerettet, und
der Hoden-Flan findet allgemeines, wenn auch nicht gerade überschwengliches Lob.
288
Es sei - um Nachfragen zu vermeiden - darauf hingewiesen, daß
die Ensheimer Passage in der „Geschichtsklitterung“ den Tatsachen
entspricht. Sie findet sich in der wunderschönen Ausgabe der von
Hans Magnus Enzensberger herausgegebenen „Anderen Bibliothek“ (Frankfurt am Main 1997) auf Seite 218 unten. Bei Sankt Urbans Jüngern - dies ist meine Interpretation - liegt keine Ve rwechselung mit der seinerzeitigen Ensheimer Petrusbruderschaft vor. Vielmehr handelt es sich um eine Anspielung auf das bekannte Bacchantentum der Ensheimer - Sankt Urban ist nämlich der Weinkönig
unter den Heiligen (ich befinde mich hiermit möglicherweise im Dissens mit Freund Albert, der Urban in seinem Heiligenkalender als
Heiligen gegen die Trunksucht ausweist.)
Bereits stark illuminiert bringe ich das Tischgespräch jetzt zu dem
mich bewegenden Thema (noch habe ich die Theorie des Komplotts
im Hinterkopf). Kann denn der Raserei der Menschen, der Ekstase
ihrer Dummheit, der Entfesselung ihrer Süchte, der Verderbtheit ihrer
Sitten, der galoppierenden Schwindsucht ihrer Beschäftigungen,
dem Delirium ihrer Mißratenheit, den Tollheiten ihrer Phantasmagorien, den Veitstänzen ihrer Ideen, dem Taumel ihrer schäbigen Conditio humana...“
Einwurf Hagens: „Nun laß mal gut sein!“
„...nicht Einhalt geboten werden?“
Dionys verweist auf seinen „Blasphemischen Gottesbeweis“. Ich
sage: „Oh Gott.“ Dionys erwidert: „Laß den bittschön aus dem Spiel.
Nicht in diesem Zusammenhang! Ich meine doch damit nur, daß man
analog zur Gottesbeschimpfung in meinem ‚Blasphemischen Go ttesbeweis‘ die vollkommene Herabsetzung des Menschlichen erreichen soll, um dann, am Umschlagpunkt angekommen, das Rest-
289
menschliche herauszustellen.“ Ich weiß nicht, ob ich ihn da richtig
verstanden habe, er vermag mir auch keine näheren Angaben darüber zu machen, weil er sogleich in eine zwischen Schwach- und
Starckdeutsch angesiedelte Menschheitsbeschimpfung verfällt.
Aber die Idee ist brauchbar. Sie muß in meinem Hirn noch reifen, wie
ein Rotwein im Barriquefaß.
„Ich möchte nicht wissen“, sagt Hagen, „wie es in deinem Hirnfaß
aussieht. Ob dort unter dem Holz überhaupt Eiche zu finden ist?“
Das hätte sie sich verkneifen können, ich rufe mir rachsüchtig in
Erinnerung, wie ich sie mit den Hoden geleimt habe („Hodenleimen was ist denn das schon wieder?“, denkt es in den Rundungen meines Barriquefasses, äh...ich glaube ich habe zuviel getrunken).
Wir lassen uns von den Ameisen, die inzwischen wieder bis auf
Tuchfühlung herangerückt sind, nicht stören, trinken, nunmehr wie
die mißratene Menschheit völlig enthemmt, noch mehr von dem
guten Cabrières, den ich für unsere Gäste heimlich mit der Appellation Cacanac Contrôlée (Name aus juristischen Gründen geändert)
verpanscht habe. Das erscheint mir durchaus als korrekt, weil ich
das Zeugs ja irgendwie loswerden muß. Es ist dunkel geworden, die
Ameisen sind letzten Endes doch zu Bett gegangen, am Horizont
leuchten die „feux d’artifices“ auf, die ursprünglich für den Vo rabend des 14. Juli vorgesehen waren - wir sind besoffen, harmonischer kann ein letzter Urlaubstag nicht ausklingen, dabei hätte nur
die Erwähnung von “Hoden” ausgereicht, um den Abschiedsschmerz mit einem noch größeren Schmerz zu überbieten.
290
Sonntag, 16. Juli
Wir fahren in der Früh, wollen aus dem Languedoc heraus sein,
bevor der Sonntagsausflugsverkehr beginnt. Dionys und Messali
konnten nach dem unglaublichen Abend mit dem unglaublichen
Hodenessen nur mühsam zur Abreise bewegt werden. Die verkaterten Hoden, pardon: ich meine natürlich Köpfe standen der Überwindung der Schwerkraft entgegen. Die beiden wollen demu ngeachtet
doch noch rüber in den Lubéron, irgendwelche Leute aus Darmstadt
heimsuchen, die dort eine Finca oder einen Palazzo oder sonst was
Ferienhausartiges ihr eigen nennen.
Die Fahrt ist gediegen langweilig, strahlender Sonnenschein, wenig Verkehr. Die Kinder schwärmen von zu Hause, wo ihre Plüschtiere, Bücher, Videokassetten und Computerspiele seit drei Wochen
unberührt geblieben sind und sich wieder mit frischen Erlebniswerten aufgeladen haben, Hagen konzentriert sich auf die Autobahn,
ich rekapituliere das, was ich in den letzten Tagen erlebt habe. Immer
noch steht das Projekt einer Komplott-Theorie vor meinen Augen,
ich bin wegen meiner starken gastronomischen und gastrischen
Beanspruchung in den vergangenen Tagen noch nicht zum entscheidenden Punkt vorgestoßen. Bis Arles ist mir zur Bestimmung
des Komplotts nur die Ausarbeitung von Pierre Klossowski (der
übrigens in wenigen Wochen im hohen Alter von 96 Jahren gestorben sein wird) eingefallen. Klossowski hat in seinem 1969 erschienenen Buch “Nietzsche et le cercle vicieux” die Ableitung eines
Komplotts hergestellt, die mir für meine Zwecke dienlich sein könnte. Hagen sagt zwar: “Immer nur Bücher. Totes Wissen. Lies’ nicht
über ein Komplott, mach’ gefälligst selbst eins.” Ich aber weiß, daß
es so einfach nicht geht. Das Komplott will gut überlegt sein, wenn
es sich zur Wirksamkeit entfalten soll.
291
Von der Ferne grüßt der Mont Ventoux. Vor drei Jahren habe ich
ihn, wie gesagt, mit Messali bestiegen. Von Malaucène auf der
Westseite haben wir zunächst einen Bogen geschlagen, um ihn von
der Nordflanke zu bezwingen. Schwierig war es am Fuß des Berges,
wo sich der Einstieg in steilen Geröllawinen verlor. Der bewaldete
Hang auf der mittleren Ebene dagegen war angenehm, Wanderer
sind über Stunden von der Sonne abgeschirmt, bevor es dann durch
Kermeseichen und Krüppelkiefern wieder ins Freie und schließlich
die letzten dreihundert Meter durch schwer zu begehende und steil
sich auftürmende Geröllhalden geht. Wir hatten mit Umwegen knapp
sechs Stunden gebraucht und gerieten - kaum auf dem Gipfelplateau, das auch mit dem Pkw zu erreichen ist, angekommen - mittenmang hinein in eine Auseinandersetzung zwischen Touristen ausnahmslos deutscher Abstammung. Der Streit ging um einen Schäferhund, dem seine Besitzer umsichtigerweise - denn auf dem Gipfel
herrscht an sonnigen, windstillen Tagen, wie dies damals einer war,
eine qualvolle Enge - einen Maulkorb umgehängt hatten, was im
Ergebnis dazu führte, daß sie von einem ihnen fremden, aber ebenfalls deutschen Ehepaar der Tierquälerei bezichtigt wurden. Der
Hund könne mit dem Maulkorb in der dünnen Luft nicht richtig
durchatmen - ein Problem, das mit Blick auf die 1909 Meter, die der
Ventoux zählt, noch nicht einmal die Franzosen in Bezug auf ihre
kleinlungigen Caniches zu erkennen vermögen. Messali und ich
haben uns, solange wir dort in Gesellschaft waren, nur französisch
unterhalten.
Ich stelle das Komplott etwas zurück und schlage Hagen einen
kleinen Umweg über den Ventoux vor. Das Wetter ist schön, die
Luft selten klar, da sieht man vom Montblanc bis zu den Pyrenäen,
ohne - was auch selten ist - den Mistral in Kauf nehmen zu müssen.
Hagen lehnt ab. Sie sagt: “Wenn ich bedenke, wer allein aus unserer
Bekanntschaft schon mit dem Rad dort hochgefahren ist, kann ich
292
mir vorstellen, wie es auf der Gipfelstraße zugeht. Ich habe keine
Lust, die alten Knacker in deinem Alter wiederzubeleben, die sich
unbedingt noch unter Beweis stellen müssen.” Das mit den Radfahrern stimmt, das muß ich zugeben, an solchen Tagen wie heute (es
ist schön und es ist Sonntag) verstopfen sie die Serpentinen. Ständig fallen einem erschöpfte, frühvergreist aussehende Herren in
schrillem Outfit auf die Kühlerhaube. Andere wälzen sich röchelnd
und mit Schaum vor dem Mund im Straßenstaub. Oben auf dem
Gipfel ist es noch schlimmer, da fallen Damen, die mit Mann und
Hund in klimatisierten Limousinen hochgekommen sind, reihenweise
in Ohnmacht, wenn ihre unartigen „p’tit caniches“ am Rande des
Abgrunds der sexuellen Versuchung erliegen und trotz der dünnen
Luft auf die vielfältigen Kopulationsangebote eingehen.
Am Mont Ventoux sind schon viele gescheitert, Tour-de-FranceFahrer, Amateurradler, Wanderer, die den berühmten Sonnenaufgang über der Haute Provence erleben wollten und beim nächtlichen
Aufstieg in der Dunkelheit abgestürzt sind, Hunde und ihre Frauchen, die den Streß auf dem Gipfel nicht ertragen konnten und Blessuren fürs Leben davongetragen haben, Pilger, die im Gedenken an
Francesco Petrarca hierher gekommen waren und sich aus Verzweiflung sogleich in den Abgrund warfen, nachdem sie die Zustände
dort oben erleben mußten.
Nebenbei bemerkt bezweifele ich, daß Petrarca in der geschilderten Echtzeit den Ventoux bezwungen hat. Er will in nur einem Tag
den Gipfel erreicht, wieder ins Tal zurückgefunden und dazu noch
spät in der Nacht seine "Besteigung des Mont Ventoux" aufgezeichnet haben; das erscheint mir umso unwahrscheinlicher, als es
im Jahr 1336 noch keine markierten Routen gab, und Petrarca selbst
zugibt, sich öfters verstiegen, ja weitläufig verirrt zu haben. Aber die
Authentizität der Schilderung ist nicht entscheidend, sage ich mir,
293
entscheidend ist die allegorische Bedeutung des mühevollen Aufstiegs mit seinen Irrungen und Wirrungen, bevor der Icherzähler zu
sich selbst in seiner doppelten Eigenschaft als triumphierender und
in seiner Gottergebenheit demütiger Mensch findet. Auf dem Gipfel
sind Schaulust und Weltgenuß, die sich seiner bemächtigen,
durchwirkt von den Selbstbetrachtungen, die er mit Augustinus'
"Confessiones" anstellt, und da fällt das entscheidende Wort des
Hl. Paulus, das er als Zitat den "Confessiones" entnimmt: "Nicht in
Gelagen und Saufereien, nicht in Beischlaf und Unzucht, nicht in
Streit und Eifersucht wollen wir wandeln; vielmehr zieht den Herrn
Jesus Christus an, kümmert euch nicht zu sehr um euren Körper,
damit ihr nicht von seinen Lüsten geknechtet werdet." (Römer 13,13)
In Luthers Original: “Lasset uns ehrbar wandeln als am Tage, nicht
in Fressen und Saufen, nicht in Kammern und Unzucht, nicht in
Hader und Neid; sondern ziehet an den HERRN Jesus Christus und
wartet des Leibes, doch also, daß er nicht geil werde.”
Herbert Achternbusch war 641 Jahre nach Petrarca hier. Er mußte
zur Entgegennahme des Petrarca-Preises, der soeben von Hubert
Burda gestiftet worden war und inzwischen, glaube ich, abgesetzt
ist, zusammen mit Peter Handke den Berg besteigen. Die kulturschickeriahaften Umstände der Preisverleihung, möglicherweise auch
der bierlose Aufstieg zusammen mit dem zu ihm reichlich inkomp atiblen Handke hatten Achternbusch so in Harnisch gebracht, daß er
an Ort und Stelle das Preisgeld verbrannte. Die Aktion ist nicht ganz
verbürgt, ich habe sie gleichwohl sehr geschätzt, obwohl ich damals
ziemlich sauer auf ihn war. Zu dieser Zeit nämlich vertrank er mit
Sepp Bierbichler eine Wirtschaft in Ambach am Starnberger See, die
Bierbichler als Erbe zugefallen war. Und weil das ständige Trinken
an sich nicht sehr aufregend ist, haben sie nach Groupies Ausschau
gehalten und unter anderen durch den in Frankfurt lebenden Schauspieler Alfred Edel meine damalige Gespielin abzuwerben versucht.
294
Möglicherweise handelte Alfred Ekel, äh ich meine: Alfred Edel
ohne Auftrag in eigener Sache, mit eigenen unlauteren Absichten.
Wie auch immer, ich empfand das als perfiden Angriff auf meine
lebensabschnittspartnerschaftliche In tegrität. Hagen Knotterstolz,
äh -beck, die meine vorehelichen Beziehungen nicht sehr schätzt,
sagt: "Hätten Sie doch bloß..."
Hätten Achternbusch und Petrarca erlebt, was sich heute auf dem
Gipfel des Ventoux unseren Augen darböte, so wäre der eine vom
Glauben abgefallen und hätte sich der andere beim nächsten Oktoberfest im Bierfaß ertränkt. Es ist mir, sage ich Hagen, unbegreiflich,
wie in noch nicht einmal 700 Jahren die Menschheit so auf den
Hund gekommen ist, daß spirituelle Erlebnisse wie die von Petrarca
auch dem Wohlmeinendsten nicht mehr möglich sind, denn wohin
man kommt, immer sind schon welche vor dir da, die statt schauend
und staunend sich in der "contemplatio caeli", in der "Betrachtung
des Himmels" zu ergeben, an ihrer Plastikflasche nuckeln, über
Zahnkränze fachsimpeln, sich um Parkplätze streiten, wegen ihrer
Köter in die Wolle bekommen und den nächtstgelegenen Steinhaufen bebrunzen.
Das auffälligste Geräusch auf dem Gipfel ist jenes, das der Klettverschluß von sich gibt. Klettverschlüsse, die betätigt werden mü ssen, gibt es dort oben vieltausendfach, Klettverschlüsse an den
Windjacken, den Foto- und Fernglastaschen, den Rucksäcken und
Out-door-Hosen, den Radlerschuhen und Fleecefutter-Kappen. Wir
leben im Zeitalter des Klettverschlusses. Wenn ich des Morgens im
Zug zur Arbeit fahre und des Abends von der Arbeit komme, dann
macht es um mich herum raaaatsch, raaaatsch (die MammutKlettverschlüsse an den Laptop-Taschen oder Day-Packs) und
ritsch, ritsch (die kleineren an den Jacken und Puffärmeln). Nur ja
kein Nesteln, Einfädeln und feine Fingerarbeit, nur noch die Grob-
295
motorik des Aufreißens und Zuklappens. Und so geht es weiter, auf
der Autobahn mit Wucht in die Lücke, gewaltige Schubleistungen
beim Anfahren, Entfesselung der Antriebskräfte beim Überholvorgang, Booster-unterstütztes Hörempfinden im fahrenden und stationären Wohnzimmer, breitarschiges Platznehmen mit Streuutensilien
im „cordon sanitaire“ des Körperumfeldes bei gleichzeitiger flagranter Verletzung von Körpergrenzen durch Schmatzen, Dummsprech,
wechseljahrkompensierende Parfüm-Over-kills, explosionsartiges
Bild-Zeitungsblättern oder ausladende Gliedmaße in Folge der Fettsucht. Dazu kommt der Drang, alles mitzumachen, was das Leben so
bietet - ohne Feinheit, ohne ein Sich-Zurücknehmen, einfach Ausgreifung, Ausschweifung, Dummbabbel und Völlerei. Was sonst
habe ich in diesem Urlaub erlebt, mit all den Kohldepps, wildgewordenen Winzern, Mittelstreifenbefahrern, Besichtigungsneurotikern,
koprophagen McGästen, zwangshandelnden Kleiderabwerfern,
anabolikagemästeten Monstern, sodomitischen Franzmännern,
unappetitlichen Freizeitköchen, französischen Maneken Piss’, verblödeten Outdoor-Ravern...
So wie der Klettverschluß Unmittelbarkeit ohne Investition in die
Leibes-Erziehung (nicht: Leibeserziehung!) verspricht, so verkürzt
sich der Lebenssinn auf somatische Stimulanz, und so leben sie
dahin, vor sich und gegen sich hin, affektiert und uninspiriert, uninteressiert, ungeniert, unkontrolliert, führen ein rein vegetatives Leben, das nur der Selbsterhaltung, der Lustausweitung dient und
selbst die Arterhaltung, den Gattungsauftrag, von sich geschoben
und an das Klonlaboratorium delegiert hat. Die Feinmotorik hat sich
zivilisatorisch erledigt. Daraus resultiert ja noch nicht einmal ein
Selektionsvorteil; es führt nur dazu, daß das Ungeschlachte und
Unbeherrschte sich breit macht und unsere Welt in einen Taumel
versetzt, so wie die vielen Dicken, die ja auf der nördlichen Hemi-
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sphäre geballt auftreten, eine kosmische Unwucht auszulösen drohen.
Der in Savoyen lebende englische Schriftsteller John Berger hat
dazu in einem Nachruf auf den Situationisten Guy Debord, der sich
1994 die Kugel gab, sehr treffend bemerkt: Weil das Leiden, die
Niederlagen verbannt sind, weil heute neben der körperlichen Unmittelbarkeit nur noch die Masken, das Spektakuläre, präsent sind,
fehlt der Bezug zur Notwendigkeit. Dieser aber war noch in der mitgeteilten Geschichte, den Fabeln, den Sprichwörtern, den mündlichen Überlieferungen enthalten. Als Lehrstück, so Berger, „war der
Kampf, mit der Notwendigkeit zu leben, ein ewig-fortdauernder,
furchterregender, aber manchmal auch schöner Kampf, der Kampf
mit einer Notwendigkeit, die das Rätsel der Existenz ist, die der
Schöpfung folgte und immerzu den menschlichen Geist inspirierte."
Es gibt, zugegeben, auch eine Dummheit der Notwendigkeit: das
Barbarentum, die Ungebildetheit, die Zurückweisung des Fremden,
das vegetative Revierverhalten - kurz: die Dummheit unserer Generationsvorgänger. Die Dummheit der Notwendigkeit aber wird übertroffen von der Dummheit der Freiheit und der Dummheit in der
Freiheit unserer Zeitgenossen: das Sich-Breitmachen, das vorsätzliche Exkrementieren unverdauter Kultur- und Konsumgüter, die
inhaltslose Eloquenz der Fernsehdebattierer, die Amtsschimmelhaftigkeit von amtlosen Personen, die Verrechtlichung unbedeutenster
Vorgänge, das endlose Schmatzen, Verdauen, Ausscheiden, die
Überwältigung, Überrumpelung, Überbietung... Mme Knotterbeck
sagt: “Aufhören, ich kann’s nicht mehr hören.” Die Kinder sagen
nichts, sie schlafen wieder seit Montélimar. Ich sage: "Wart's nur
ab." Und denke: "Sie hat recht, Zeit für Gegenmaßnahmen." Knotterbecks Einwand hat mich aus meinem nutzlosen Haß-Lamento,
297
neudeutsch: hate speech, gerissen. Ich muß auf die Theorie des
Komplotts zurückkommen.
Also Klossowskis / Nietzsches Konzept funktioniert theoretisch
etwa so (und der Witz ist – um dies vorwegzunehmen, daß das
Komplott in seiner Erfüllung scheitert oder umgekehrt sich durch
sein Scheitern erfüllt): Die Gesellschaft muß sich im Sinne einer
ständigen Optimierung (von Wirtschaft, Kulturleistungen, Moralvorstellungen und im Sozialen selbst) unablässig selbstaffizieren,
sozusagen die permanente Revolution betreiben und zugleich das
Controlling durch Beobachter dieses Veränderungsprozesses in
Permanenz sicherstellen. Die Crux ist für die Gesellschaft nicht das
selbsterregte Gesellschaftsmitglied, dessen Dynamik und (gewünschte) Exzentrik sich gegen die Gesellschaft wendet - da hat
Foucault gezeigt, wie die Biopolitik das Individuum erfolgreich konditioniert. Die Crux besteht wesentlich im Beobachter selbst, der ja
gefordert ist, seine Erkenntnisse zu optimieren und mit immer kruderen Interpretationen zu belasten. Der Beobachter hält diese Zumutung nur aus, wenn sie ihm Vergnügen bereitet und die eigenen
Ergebnisse des Controllings sekundär, beliebig, aussagelos werden.
Und nun sagt Nietzsche etwas ganz Entscheidendes: “Der VerNichtsung durch das Urtheil sekundirt die Ver-Nichtung durch die
Hand.”
Der Beobachter säße also am Mischpult, wo er in einem FeedBack-Verfahren seine nunmehr subversiven, lustvoll aufgeladenen
Beobachtungen in die Gesellschaft zurücksteuerte, am roten Knopf
seiner Dossiers, mit dem er den Gau auslösen könnte? Ein Luhmann
mit seinen Luhmännern, die mit ihren vieltausend Seiten starken
Schriften imstande sind, die Gesellschaft in die Luft zu jagen? Nein,
sagen Klossowski und Nietzsche, damit würde sich der Controller in
der Logik der Gesellschaft selbst befinden, die sich dynamisieren
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muß und gleichgültig gegen sich selbst fortzubestehen hat. Das
Komplott, sagt jetzt Klossowski, “soll dem Einzelfall eine Perspektive eröffnen und der Species als Gattung jeden Ausweg verschließen: alles, was für sie verständlich war, wird dunkel, ungewiß und
beängstigend.” Wer ist nun dieser Einzelfall: Es ist Nietzsche selbst,
als derjenige, der dies alles vorausgesehen hat, und dessen Weissagung sich als “boshafteste Karikatur” des Lukas-Evangeliums
(“Das Reich Gottes ist mitten unter euch...”) verwirklicht hat. Jeder
ist sein eigener Controller, und betreibt die Deregulierung jedweder
Moral, die nicht der Optimierung der Gesellschaft und ihres schließlichen Untergangs dient.
Keine Frage, daß das Komplott von Klossowski / Nietzsche nur
bedingt tauglich ist, man muß es in der Entwendung verändern
(auch das ist ja bereits ein Komplott, diesmal gegen Klossowski /
Nietzsche). Mir schwebt nach dem, was ich von Giorgio Agamben
und Dionys Kallaengoulberck vernommen habe, ein Komplott des
Nichthandelns vor, der äußersten Passivität, der unterlassenen
Hilfeleistung, sozusagen einer universalisierten passiven Sterbehilfe. Ich spreche nicht von einem Programm für die Gattung, wie das
Nietzsche vor Augen hatte, sondern von einer Haltung angesichts
einer auf absoluter Freiwilligkeit fußenden, eines selbst bei den
konditioniertesten Reflexen beruhendem autonomen Wunsches
nach kollektiver Selbstauslöschung. Was ich damit meine, wird
deutlich an dem, was Sepp Bierbichler (dem ich hiermit vergebe)
jüngst in seinem Buch „Verfluchtes Fleisch“ beschrieben hat. Er will
nicht die ihm mißfallenden (das heißt: nahezu alle) Theaterregisseure
umbringen, sondern empfiehlt, daß sie ihren Selbstmord wollen
können möchten.
Bei Vienne jagt mit 190 ein Franzosenbolide an uns vorbei, reißt in
der Kurve vor dem Gefälle zum Rhônetal aus der Spur, purzelt den
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Steilhang hinunter und endet in einem Feuerball. Hagen ist entsetzt,
zittert am ganzen Leib, will anhalten. Ich sage: “Sofort weiter.” Hagen sagt: “Aber, wir müssen doch...” Ich sage: “Wir müssen gar
nichts. Im Gegenteil: Das Komplott beginnt zu wirken, wir sind
gehalten, es durch Nichthandeln zu fördern.” Hagen sagt gar nichts
mehr, sie schreit jetzt: “Hör doch endlich auf damit...” Die Kinder
sind aufgewacht und fragen: “Was schreit ihr denn so, was ist denn
passiert?” Hagen Schlotter- äh Knotterbeck gibt Gas, sie und ich
sagen gleichzeitig: “Ach nichts...” Ich sage: “Sieh’ es doch mal so:
Wenn wir auf der richtigen Seite des Komplotts stehen, haben wir
doch auch Vorteile. Hätten wir angehalten, stünden wir jetzt im
Stau.”
Dummerweise nimmt uns der nächste Stau gefangen. Ein Laster ist
kurz vor Lyon - wie der Verkehrsfunk aufklärt - umgekippt und hat
seine Ladung Wein (aus dem Languedoc vermutlich) auf die Bahn
geleert. Ich zeige natürlich kein Bedauern für den Verlust des Gutes
(aber das hat nichts mit dem Komplott zu tun), sondern befrage
flugs die Karte, ob wir dem Stau wenigstens teilweise entgehen
können. Wir können, müssen aber noch fünf Kilometer im Stop and
go überwinden, bevor wir uns auf der Autobahn Richtung Bourgen-Bresse davonmachen können. Die Strecke von Bourg nach Dole
ist fast leer. Offensichtlich haben die anderen Autofahrer, die es uns
hätten gleichtun können, hier nichts verloren oder wollen unbedingt
Anteil am ausgeflossenen Wein nehmen. Nach einer wirklich angenehmen Fahrt am Rand des Jura vorbei, machen wir auf der Raststätte "Aire du Jura" auf der Höhe von Lons-le-Saunier eine Mittagspause. Die funkelnagelneue Anlage ist eine verunglückte Huldigung
an den Revolutionsarchitekten Claude-Nicolas Ledoux, der vor
zweihundert Jahren hier in der Nähe wirkte, und stellt eine substantielle Ausweitung der Idee animierter Autobahngastlichkeit dar.
Unterfüttert ist die Zelebration von Tradition und Convenience mit
300
jener Kitschprosa, die von der Provence über die nördliche Rhône
geschwappt ist: „Gôuter les couleurs, les saveurs, les odeurs du
territoir.“ Verwiesen wird auf Spezialitäten der Umgebung, die keiner
haben will, weshalb das Angebot nur noch virtuell per Computeranimation stattfindet. Alle Anwesenden, darunter wir, drängen unter
diesen Umständen zu den internationalen Warmhalteplatten mit den
ekeligen Hühnerteilen, der schleimigen „Potage du jour“, den stinkenden Andoullietten, den verschimmelten Merguezwürsten und
den rohölverklebten Pommes.
Vor mir ein flämisches Ehepaar, das sich mit seinen Tabletts, die
es als Distanzwaffen nutzt, auf die rücksichtsloseste Weise an uns
vorbei in der vor Hunger geifernden Schlange vorgekämpft hat. Er,
der Ehemann, strebt weiter nach vorn, gerät mit seinem Tablett in
eine Schieflage, seine Cola kippt, ergießt sich über meine Füße. Er
klotzt dumm, beklagt vor seiner Frau den Verlust. Zu mir aber kein
Wort der Entschuldigung. Ich bücke mich, um den Schaden mit
meinem gebrauchten Papiertaschentuch etwas zu mildern, da sülzt
mir seine Frau die Ketchup-Pommes ans Gewand. Schon will ich aus
der Haut fahren, um Belgien auf seine Bedeutungslosigkeit im Kreis
der Nationen hinzuweisen, da besinne ich mich auf das Gebot der
Toleranz und der Mitmenschlichkeit. Ich versenke also, als Belgien
an der Kasse mit dem Zahlen beschäftigt ist, unbemerkt mein Taschentuch in Mijnheers Suppe und drapiere zwei, drei Glassplitter
in Mevrouws Currysauce. Hinter mir versucht sich derweil ein
schwarzer „p’etit caniche“ (Wie? Diese Rasse gibt es doch in Frankreich gar nicht!) in einer Beißattacke auf Kiki. Zu seinem Leidwesen
hindert ihn ein riesiger Floh-Trichter daran, sein Vorhaben korrekt
auszuführen. Dennoch ist Kiki zu Tode erschrocken. Hagen Knotterbeck kippt der Bestie ungerührt ihren gerade erworbenen heißen
Kaffee in den Trichter. „Le p’tit caniche“ jault. Frauchen schreit
Zeder und Mordio, das ganze auf welschschweizerischem Franzö-
301
sisch, daher also die schwarze Farbe ihres Lieblings. Es entsteht ein
Tumult, wie er meiner Komplott-Theorie würdig ist. Bravo Hagen,
wenngleich ihre Aktion – wie übrigens auch meine Gegenattacke noch nicht ganz konform geht zu der von der Theorie des Komplotts
empfohlenen Ideallinie.
Hinter der Raststätte gibt es ein kleines Museum, das zwar nicht
so heißt, dafür aber „Forum“ oder "espaces" oder "location" oder
sonstwie; ein semantisch und mit allem audiovisuellen Schnickschnack aufgedonnertes Gebilde. Überall auf dem Areal wird der
Geist Ledoux' beschworen, der Genius loci brummt, und das Museum befindet sich in einem Pavillon, der aus kreisrunden Betonscheiben gebildet ist, drumherum Stege, Einfassungen von Wasserbecken, dazu eine begehbare 25 Meter hohe Säule, das Ganze bisher
unrealisierten Plänen Ledoux’ nachempfunden. Wir nutzen das
Angebot, um uns ein wenig die Füße zu vertreten. Ich doziere über
Ledoux, doch von Ledoux ist drinnen nichts zu sehen, dafür umso
mehr aus der Welt des Jura vor hundert Jahren, von heute und von
morgen, Kunst, Kitsch und Krempel - eine Kombination aus Dorfmuseum und Weltausstellung mit dem Informationsgehalt kleiner /
gleich Null. Als wir den "Pavillon des cercles" verlassen, sehen wir
den gewohnten Pinkler, der gerade dabei ist, die Hortensien einer
Säurebehandlung zu unterziehen.
Bei Dole fädeln wir uns wieder in die Burgundautobahn zurück.
Wir stellen hohes Verkehrsaufkommen fest und zählen bis kurz vor
Langres ein brennendes Auto, zwei beschädigte Lastkraftwagen
und eine Wohnwagenruine mit verlorengegangener Zugmaschine,
drei pinkelnde Franzosen, die es aus Prinzip nicht mehr bis zur
nächsten „Aire Toilettes“ geschafft haben, eine Schlägerei auf dem
Standstreifen mit Angehörigen unterschiedlicher Nationalität (wie
aus den Kennzeichen der chaotisch geparkten Fahrzeuge zu ent-
302
nehmen ist), eine Gruppe von Landfahrern, die auf dem Mittelstreifen Picknick machen, und eine ausgesprochen nachlässig wirkende
Polizeikontrolle mit derangiert wirkenden Agenten. Dazu jede Menge Hektiker, Abstandspsychoten, Testpiloten im Tiefflug, Sonambulisten mit offenem Verdeck und Cabriofahrer mit verrutschter
Perücke.
Mir fällt zur Unterstützung meiner Gedanken zur subversiven (das
heißt aber auch richtungslosen) Schwäche eine Ausarbeitung des
spanischen Philosophen Santiago Lopéz Petit ein, von dem leider
nur ein kurzer Aufsatz auf Deutsch zugänglich ist, und zwar in dem
Hamburger Theorieorgan „karoshi – Zeitschrift für den vorzeitigen
Tod in der Arbeitsgesellschaft“. Die These ist an Agamben durchaus anschlußfähig. Sie lautet etwa: Das Subjekt als machtvoller
Treiber der Geschichte, man könnte auch sagen: der Menschheitsentwicklung, des Fortschritts, der Kulturleistungen, ist hinfällig,
unmöglich geworden. Was hier auf den Straßen unterwegs ist, werfe
ich schnell ein, ist die Karikatur des Subjekts, ein Subjekt, das sich
in formalen Verfahren bewegt und mit dem, was ihm unbekömmlich
und unzuträglich ist, schon längst arrangiert hat, ja mit Fleiß und
Geschick an seiner Selbstauslöschung arbeitet. Dem Subjekt, wie es
noch als Phantom durch die wissenschaftlichen Bestandsaufnahmen irrlichtert, setzt Lopéz Petit das „Konzept“ des anonymen Menschen entgegen, eines Menschen, der vieles von dem, was in einem
höheren Sinne (im Sinne geschichtlicher Einsicht) verwerflich ist, in
sich verwirklicht, der sich aber gleichzeitig durch seine Indifferenz
einer systematischen und systemischen Vereinahmung entzieht, das
System vielmehr durchquert, ohne von ihm vollständig als Wahlbürger, Konsumer, Malocher festgelegt werden zu können. Lopéz
Petit: „Jetzt wird offenkundig, daß die Definition der Unmöglichkeit
des unmöglichen Subjekts, soll sie in all ihrer Radikalität formuliert
werden, nur die Form der Herausforderung haben kann. Einer Her-
303
ausforderung, die darin besteht, sich als ein unerträgliches Subjekt
zu konstituieren, das sich selbst nicht erträgt. Dabei geht es nicht
um einen persönlichen Weg zur Entsubjektivierung. Im Gegenteil, in
dem Maße, wie das unmögliche Subjekt im Vollzug seiner eigenen
Unmöglichkeit fortzuschreiten wagt, vereinseitigt es die Situationen,
entleert es die Ordnung und eröffnet eine Durchquerung des Nihilismus, die eine notwendig kollektive Politisierung der Existenz ist."
Das finde ich im großen und ganzen zustimmungsmöglich; womit
ich mich aber irgendwie noch schwer tue, ist der Vorschlag Lopéz
Petits, daß ich mit den Kohldepps und vielen anderen ein Kollektiv
bilde, in dem ich mich als gleichberechtigt unmögliches Subjekt
wiederfinde.
Es ist absurd, wir bewegen uns nicht wie die Autonauten auf der
Kosmos-, sondern wie die Aufgußtierchen, die ProtoplasmaEinzeller auf der Chaosbahn. Vor Langres wieder ein Unfall; die
Autofahrer in Richtung „Autoroute de l’Est“ werden gebeten, die
Ausfahrt Langres-Süd zu nehmen und in Langres-Nord die Autoroute zu regagnieren. Ich muß voller Rührung an die Schilderung
Ludwig Harigs denken, der irgendwo (ich habe vergessen wo) die
Fahrt auf der „Nationale“ durch Langres schildert, wie man damals
in den Fünfzigern den Berg vor der Ortsmitte nehmen mußte, wie die
altersschwachen Automobile der Nachkriegszeit dort vom Schon- in
den Kochgang gerieten. Es hat sich wenig geändert, Langres ist so
verschlafen wie seinerzeit, aber man muß, um dem Schlachtfeld Autobahn rund um die nahe Abzweigung nach Lille und Paris zu entgehen, noch immer durch; nur sind die Autos in zwischen cwgestreamlined, kw-hochgerüstet - was ihnen aber auch nicht viel
nützt, wenn sie in der Langreser Blechkolonne hängen.
Die Komplott-Theorie bedarf zu ihrer weiteren Vervollkommnung
noch dringend einiger Präzisierungen, das heißt, für das Komplott
304
ist noch ein wichtiges Supplement erforderlich. Ich finde es nach
einigem Nachdenken bei dem im Zusammenhang mit dem Körperkult
erwähnten Michel Henry. Dumm nur, daß sich sein Buch, das ich in
Montpellier erworben habe, im Kofferraum befindet. Und Hagen
wird nicht dazu zu bewegen sein, ebenmal anzuhalten, damit ich es
mir vorknöpfen kann. „Wir sind doch nicht auf einer wissenschaftlichen Expedition“, wird sie sagen, oder „Unser Auto ist doch keine
fahrende Bücherei“ oder „Die Öffnungszeiten des Biblioteksbusses
sind vorbei“. Ich muß mir also - bei drohendem Informationsverlust alles ohne literarischen Support in meinem dröhnenden Barique...äh
Schädel zusammenreimen. Wahrheit ist nach Henry ein Sich-Zeigen,
ein ständiges Offenbaren. Wahr ist nicht, daß es heute mäßig warm
und ziemlich bewölkt ist, das natürlich auch, denn es trifft zu. Wahr
ist vor allem die Tatsache, daß es sich zeigt, daß es mäßig warm ist
undsoweiter. Das macht aber die Wahrheit gleichgültig gegenüber
allem, was sich zeigt. Und das ist eine schwere Beeinträchtigung, die
- das sagt nicht Henry, sondern ich - der Ver-Nichtsung Nietzsches
und den Theorien all der Negativisten von Heidegger bis Sartre –
nahekommt. Können Sie noch folgen? Denn es geht weiter. Hagen
mault, daß sie sich konzentrieren muß und ich doch bitteschön nicht
so laut fantasieren möge. Die Trennung im Wahrheitsbegriff, sagt
jetzt Henry, zwischen der Wahrheit selbst und dem, was sie zeigt,
was sie also wahr sein läßt, ist weltlich. Eine dynamisierte Offenbarung, so Henry, überwindet diese Trennung. Der Mensch erweist
sich im Lichte dieser Selbst-Offenbarung des Lebens und seiner
Teilhabe daran als ein Mehr als bloße Ansammlung von Molekülverbindungen, Wasser und Aminosäuren, mehr als eine Kombination von Zellverbindungen und Biologie, und durch seine Liebesfähigkeit entschieden mehr als ein Lebewesen mit Drüsenabsonderungen und Saftausscheidungen; er offenbart sich als ein Wesen,
das nicht nur Wünsche äußert, sich erfreut, Glücksempfindungen
hat, sondern intellektuell in der Lage ist, an dieser Selbst-
305
Offenbarung teilhaftig zu werden. So ist das im Leben und so ist es
mit dem Leben. Und wenn sich diese Wahrheit des Lebens uns
zeigt, dann sind wir auch nicht mehr auf Unterlassungsverfügungen
und Verbote angewiesen, die uns den Weg zeigen, ja, dann sind uns
die Gebote geradezu fremd, sind ganz im paulinischen Sinn außer
Kraft zu setzen, denn dann handeln wir gemäß der Wahrheit, die
sich uns eben gerade in einer exzessiven Weise gezeigt hat. Eine
Klarstellung für Leute, die wie ich schon anderthalb Semester Philosophie an der Volkshochschule studiert haben: Es geht hier selbstredend nicht um die „körperlich“ nackte Wahrheit (wie könnte ich?),
auch nicht um metaphysische Wesensheiten, nicht um die nachmetaphysische Ent-Bergung, sondern schlicht um die entfesselte
Wahrheit, die uns durch den Akt der Entfesselung in ein Schleudertrauma versetzt, das uns unsere lustvolle Schieflage verleidet. Realitätsvermiesung durch Realitätsertüchtigung sozusagen.
Das ist der Code, nach dem ich die ganze Zeit gesucht habe - der
Code des Wahrheitsexzesses. Lassen wir also im Anblick dieser
Wahrheit die Unwahrheiten sich selbst „vernichtsen“, ohne unsererseits dem Vernichtungsvorgang unsere Hand zu bieten. Ich lehne
mich entspannt zurück, um dem weiteren Chaos gefaßt ins Auge zu
sehen.
Es ist Sonntagnachmittag, in einem mäßig warmen mitteleuropäischen Hochsommer. Die Badeseen sind leer, die Museen geschlossen, die Dorffeste ausgesetzt, die Leute wissen nichts mit sich anzufangen. Beten tun sie nicht mehr, die Kirchen sind verschlossen, die
Sportplätze verlassen, die Dorfkneipen verfallen. Bleibt nur noch die
Autobahn oder der Fernseher. Weil aber heute keine Formel 1 übertragen wird, finden die Rennen hier statt, wo wir uns mühevoll und
erschöpft in Richtung Heimat bewegen. Und so liefern sich die Adepten des großen ARSCH, diese „Kaulquappen des Neoliberalis-
306
mus“ (Sepp Bierbichler) einen Kampf mit aller Härte, ohne zu wissen,
worum es geht. Mme Knotterbeck sagt: "Du mußt mal deine Ausdrucksweise überprüfen. Deine Wortwahl ist unter aller... äh..., und
das vor deinen Kindern." Die Kinder fragen: "Was hat der Papa
gesagt?" Ich sage: "Der ARSCH ist ein Akronym, das heißt: Jeder
Buchstabe steht für einen bestimmten Sachverhalt; ARSCH wie
Auto, Reisen, Sex, Computer und Haus. Und das ist, was die Welt
heute für erstrebenswert hält." Die Kinder: „Ach!?“
Hagen fragt: "Und was ist mit Essen, Trinken, Kleidung?" Ich sage: "Paßt nicht in das Akronym hinein. Aber du weißt ja, was gemeint ist." Ich bin jetzt zu erschöpft, um mich mit unbedeutenden
Einzelheiten aufzuhalten. Vielleicht ist es die Wirkung des Komplotts, dessen Konturen mir in diesem Vorspiel der Agonie gleichwohl deutlicher werden. Wir befinden uns jetzt kurz vor Forbach,
und nunmehr hilft mir das Eingedenken Johann Fischarts, jenes
Fischarts, der gesagt hat: „Schaut nur ihre glühroten Schnüffelnasen und ihre Dickbäuche an, da steht die Wahrheit augenfällig eingeschrieben.“
Die Theorie des Komplotts, so wie sie sich mir jetzt darstellt, ist
eine auf dem Gebot äußerster Toleranz und bedinglosen Respekts
und Wohlwollens gegenüber dem Nächsten gegründete Anschauung. Sie beinhaltet Respekt und Wohlwollen auch gegenüber dem,
was er so tut und treibt - soll er doch tun und treiben, wie es ihm
beliebt, er wird am Ende schon sehen, was dabei rauskommt. Die
Theorie des Komplotts ist sozusagen eine entfesselte Maschinerie,
die auf die Selbstdezimierung der Dummheit setzt. Nicht zulässig ist
laut ihren Prämissen eine gestaltende Einflußnahme - darin unterscheidet sich meine christlich inspirierte Theorie des Komplotts von
jener Nietzsches, der bekanntlich das treten wollte, was ohnehin fiel.
Das Komplott meiner Prägung stellt die Fusion dar von Mosche-
307
roschs hermeneutischem, Fischarts satirischem, Giorgio Agambens/Lopéz Petits subjektkritischem und Michel Henrys phänomenologischem Einzelkomplott. Es ist jetzt später Nachmittag, wir sind
müde, ich bin verschwitzt, habe stechenden Durst, fühle mich nicht
in der Lage, die Konfusion, äh ich meine: die genannte Fusion zu
exemplifizieren (das mache ich, es sei hier angedroht, in einer weiteren Rolle meiner Aufzeichnungen). "Bitte nicht", sagt Mme Knotterbeck, "schone die Menschheit und die Generation unserer Kinder
und Kindeskinder." "Was hat denn der Papa", fragen die Kinder,
"muß er auf den Topf?" Ich sage, schon völlig ermattet: "Nein im
Gegenteil, mich dürstet." Wir erreichen die Goldene Bremm. Kaum
zweihundert Meter vor uns fegt ein Motorradfahrer auf die Spurverengung zu, verliert bei gleichbleibend hoher Geschwindigkeit den
Überblick, gerät ins Schleudern und brettert in die ehemalige Zollabfertigung rein, die dort zur Kontrolle von Hooligans und Kofferträgern talibanischer Schläfer noch stehen geblieben ist. Wir nehmen
geistesgegenwärtig die zweite Spur und fahren unbehelligt an der
explodierenden Baracke vorbei.
Mit dem Komplott bewegen wir uns in der heißen Zone zwischen
Aktiv und Passiv. Das Komplott ist nicht Nicht-Handeln. In ihm
kommt das Gebot des "Seinlassens des Seienden“ zum Ausdruck,
aber nicht als abendländische Kontemplatio, nicht als buddhistische
Indifferenz, nicht als taoistische Unwirksamkeit (und was es sonst
noch an exotischen Fernsehweisheiten gibt), sondern als Zustand
aktivster Passivität. Das Komplott vertraut andererseits auch nicht
der strafenden Gerechtigkeit des Himmels und schon gar nicht jener
der irdischen Instanzen (insofern muß ich von meinen eigenen Erwartungen an einen gutdosierten Tugendterror Abstand nehmen).
Ihm eignet gerade als christlich inspiriertes Komplott nichts Politisch-Diesseitiges oder Appelativ-Normatives oder NumerischRegulatives. Das von mir erdachte Komplott hat auch nichts zu
308
schaffen mit Bazon Brocks Theorie der Affirmation oder Christof
Schlingensiefs Konzept der paradoxalen Verdoppelung („Scheitern
als Chance“, „Reinigung durch Selbstbeschmutzung“) oder Manlio
Sgalambros zynischer Philosophie der Katastrophe. Es ist im Gegenteil hyper- , besser noch: metakritisch, es bedeutet die Kultivierung
des Abscheus bei einer Haltung „bewaffneter Neutralität“ (wie Kierkegaard sagte). Das komplottierende Handeln ist zu einer Handlung
geworden, in der Agens und Patiens absolut ununterscheidbar
geworden sind und in der Mittel und Zweck, Absicht und Effekt,
Erwartung und Ergebnis, ja Differenz und Indifferenz unbestimmt
werden; es ist eine Haltung der reinen Denunziation, die über keine
Machtmittel verfügt mit Ausnahme des Wahrheitsexzesses, nämlich
der Bloßstellung und der Selbstbloßstellung. Erst wenn wir diese
Stufe des Komplotts erreicht haben, sind wir zu wahrer Menschlichkeit fähig, in der nur noch zwei komplottierende, äh, ich meine korrespondierende Gebote gelten, das der Demut und das, den Bedürftigen zu helfen.
"Ich kann's nicht glauben, du willst den Bedürftigen helfen, und
nötigst mich, die Unfallopfer zu ignorieren", sagt Hagen. "Ich habe
von Bedürftigen gesprochen, nicht von Behinderten", sage ich und
hebe den Finger; soll mir Hagen jetzt ja nicht mit kleinlichen Einwürfen kommen oder das Komplott zu unterlaufen suchen... Ich selbst
bin jetzt bei der Apokalypse des Johannes angekommen, wo auf
eindrucksvolle Weise geschildert wird, was passiert, wenn das
Komplott mißlingt und die Mächte der Finsternis die Lufthohheit
gewinnen: „Und es tut große Zeichen, so daß es auch Feuer vom
Himmel auf die Erde fallen läßt vor den Augen der Menschen; und
es verführt, die auf Erden wohnen, durch die Zeichen, die zu tun vor
den Augen des Tieres ihm Macht gegeben ist; und sagt denen, die
auf Erden wohnen, daß sie ein Bild machen sollen dem Tier, das die
Wunde vom Schwert hatte und lebendig geworden war.“
309
Die Kinder fragen: „Was issen das für ein Tier, von dem du da redest?“ Ich sage: „ Beelzebubs schwarzer Engel.“ Die Kinder:
„Schwarzer Engel? Beelzebub?“ „Ach irgendso’n Tier, stellt euch
einen von Lord Voldemort ferngesteuerten Riesenbasilisken vor.“
Die Kinder sagen: „Ah, wir verstehen.“
Ich gehe nicht weiter auf die kindliche Vorstellungswelt ein, fahre
in meinem Komplott fort und komme nun zur Großen Verwünschung, die für die richtige Ausstattung der „bewaffneten Neutralität“ unabdingbar ist, bevor ich dem wachsenden Mißvergnügen der
ungeneigten Leserschaft bald ein Ende bereite und das vorliegende
Werk beschließe:
Soll doch der Raver den Hörsturz bekommen und von den Felsen
dieser Welt stürzen, sollen die Kohldepps sich doch in die Umlaufbahn des Mars schießen, sollen doch die Dicken platzen, die Nackten sich den Windtripper einfangen, die Osteoporosegestelle unter
den Anabolikamastsäcken zusammenkrachen, sollen doch die Fernsehköche am Induktionsbräter verglühen oder am Kombidämpfer
verdampfen, sollen doch die Franzosen von ihren „caniches“ gefressen werden und die Deutschen sich von ihren Schäferhunden
beschälen lassen, sollen doch die Eckenpisser zu Salpetersäulen
erstarren, die Anemophoben an den Darmwinden scheitern, sollen
doch die Wagen- und Fahrzeug-Sager unter ihre Autorräder kommen, sollen doch die Freizeit-Sommeliers die Fettleber kriegen und
die Schöner-Kochen-Adepten in der Fettlebe verenden, sollen doch
die hausgemachten Patienten der sensorischen Deprivation langsam
veröden, sollen doch den Gourmets die St-Peter-Gräten und den
Gourmands die Saftschinken-Knochen im Halse stecken bleiben, die
Tout-Sète-Schicksen im neuen „Marty“ eine Salmonellenvergiftung
sich einhandeln, sollen doch den McDoofen die Ballaststoffe aus-
310
gehen, die Kleiderallergiker Sonnenbrand oder Nässeschäden bekommen, die Freiburger, Magdeburger und Chickenburger am Autorouter verzweifeln, sollen doch die Silikonträgerinnen gleich den
Putenfleisch-Putern auf die Brust kippen, die 12-Zylinderjeeps zu
Schrott verbacken, die Wellness-Fanatiker im Sarg ihre ewige Wellness finden, sollen doch die Lüstlinge von neuartigen selbsterregten Lustseuchen befallen werden, sollen doch die Leihmütter bei der
Invitro-Fertilisation den Scheidenkrampf bekommen und die Samenspender eine Penisverkrümmung, sollen doch die Fernreisenden in
der Geiselhaft landen und die Helischifahrer in der Gletscherspalte,
sollen doch die Mittelstreifenpiloten einer Dampfwalze oder einem
Bergepanzer begegnen, soll sich doch Madame Simone auf Martinique in Rum und José Bové auf dem Larzac als Schafskäse einlegen
lassen, sollen doch die Zecher sich platt rechnen und die Weininvestoren an der Bierbaisse verspekulieren, sollen doch die Beziehungsskrupulanten in den Exkrementen ihrer Großraumdackel ersticken, die Sammeltassen- und Webstuhl-Sammler im Sperrmüll versinken, sollen doch die Modephilosophen an der Lallmauer zerschellen, die Weltdeuter im Schwallstau ersticken, sollen doch die
weißen Klone mutieren, bis sie schwarz und die gelben, bis sie rot
werden, sollen doch die Bauern in der Gülle ertrinken, soll doch die
Giftpumpe die sie bedienenden Winzer sodomieren, soll doch das
Gesindel, das hier von Süd nach Nord und von Nord nach Süd und
von Ost nach West und von West nach Ost unterwegs ist, zur Hölle
fahren, soll doch dem Pack, das zu Hause bleibt und schöner wohnt,
das Dach, nein der ganze Himmel auf den Kopf fallen, soll doch die
Pfuinanzpumpe pumpen und die Enthirnungsmaschine enthirnen...Ich wünsche... Nein Cater, das darfst du jetzt nicht sagen, bleib
cool, laß‘ die Welt das Zeitliche segnen und unterstütze sie dabei
nach Kräften mit deinen besten Wünschen und Kenntnissen vom
großen Komplott.
311
Wir übernachten heute nicht in Ensheim, sondern versuchen
Land zu gewinnen, um rechtzeitig daheim zu sein, bevor noch
Schlimmeres passiert. Hagen übergibt mir das Steuer, sie hofft, daß
ich mich dort abreagiere - so wie es alle anderen auch tun.
Auf der Autobahn Kaiserslautern - Fahrbahn Richtung Mainz ist
mit Ausnahme unseres eigenen Klapperkastens kein Auto zu sehen;
offensichtlich tummeln sich die Pfälzer auf den Malediven, oder
treiben Unzucht in Thailand oder versaufen im Colorado oder haben
sich saufend in ihren Eigenheimen verschanzt. Die Trasse, die bei
Alzey unsere Route kreuzt, ist überfüllt, auf ihr wälzt sich die sais onal übliche Kolonne holländischer Wohnwagen auf der Suche nach
einem warmen Stellplatz in die Provence.
Was uns beunruhigt, ist eine schwarze Wolke Nordnordost, die
so gar nicht nach Meteorologie ausschaut, sondern irgendwie
menschengemacht wirkt. Die Wolke bläht sich mit jedem Kilometer
auf. In Höhe von Ensheim (ich meine das in Nordpfalz), dort, wo
man für wenige Sekunden den Blick frei hat auf die Mainebene,
erkennen wir einen riesigen Feuerball, aus dessen Scheitel sich der
Wolkenpilz aufbaut. Das muß Frankfurt sein, mein Gott, was ist dort
passiert? Ein Flugzeugabsturz? Ein Nuklearschlag? Ein Vu lkanausbruch? Die Kernschmelze der Hochpfuinanz? Und wieso, weshalb?
Ein Unfall? Ein Anschlag? Al Qaida? Die unkontrollierbare Folge
meiner Komplotttheorie? Was auch immer, ein Inferno jedenfalls.
Die Kinder schlafen, Hagen ist kreidebleich. Aus mir bricht der
kalte Schweiß heraus. Mich schaudert vor dem Gedanken, ich könnte mit meiner Komplotttheorie der Verursacher des Infernos sein. Ich
sage, um irgendwas zu sagen, da ist wohl nichts zu machen, da
kommen wir nicht durch, da ist doch sicher das Frankfurter Kreuz
gesperrt: „Wir kehren um.“ Noch bevor Hagen ihre Zustimmung
312
geben kann oder mich wegen meiner Theorie maßzuregeln beginnt,
habe ich auch schon kehrtgemacht und jage als Geisterfahrer - heute
kostet's ja nix - zum Kreuz Alzey zurück, lasse die Holländer in die
Provence abziehen, und fahre jetzt wieder als loyaler Verkehrsteilnehmer, das heißt auf der regulären Fahrbahn durch die menschenleere Pfalz - wohin? Hemm natürlich.
Ich bin damals, kurz nachdem ich mit Gabor in Sète war, wegen
Adorno nach Frankfurt gezogen; er hat sich leider wenige Tage vor
meinem Umzug dem weltlichen Treiben und damit auch mir entzogen. Seither stehe ich aber in parapsychischem, um nicht zu sagen
patapsychischem Kontakt mit ihm. Er meldet sich hin und wieder
aus dem Jenseits. „Flaschenpost mit Adressatem“, nennt er das.
Manchmal gibt er mir Empfehlungen, wie zum Beispiel jene, in dem
folgenden Satz das Reflexivpronomen nachzustellen. Es ist auch
schon vorgekommen, daß er im Bewusstsein der Unfreiheit, die er
dort empfindet, wo immer er ist, Luft durch nicht endenwollendes
Rezitieren von noch Ungeschriebenem, ja Ungedachtem sich verschafft. Zumeist aber gibt er mir Seitenzahlen durch, damit ich aus
seinem umfassenden (diesseitig publizierten) Oeuvre ein situationsgerechtes Zitat parat habe. Auch diesmal übermittelt er mir eine
Fundstelle: „’Negative Dialektik’, S. 366 f.“ Ich habe aber keine „Negative Dialektik“ dabei, Hagen hätte mich schon längst mit dem
Wälzer erschlagen, wenn ich den auch noch mitgenommen oder
womöglich auch noch hinterm Volant deponiert hätte. Also funke
ich zurück: „Bin volltransitorisch unterwegs – stop - keine negative
dialektik zur hand – stop - gattin genervt – stop - erbitte asap vollständiges zitat“. Gott sei Dank ist Adorno parapsychisch hellwach.
Umgehend trifft das Zitat ein, das ich hier nur gekürzt wiedergeben
kann:
313
„Was metaphysische Erfahrung sei, wird am ehesten wie Proust
sich vergegenwärtigen, an dem Glück etwa, das Namen von Dörfern
verheißen wie Ensheim, Peppenkum, Seyweiler, Niedergailbach.
Man glaubt, wenn man hingeht, so wäre man in dem Erfüllten, als ob
es wäre. Ist man wirklich dort, so weicht das Versprochene zurück
wie ein Regenbogen. Dennoch ist man nicht enttäuscht; eher fühlt
man, nun wäre man zu nah, und darum sähe man es nicht. Dabei ist
der Unterschied zwischen Landschaften und Gegenden, welche
über die Bilderwelt einer Kindheit entscheiden, vermutlich gar nicht
so groß. Dem Kind ist selbstverständlich, daß, was es an seinem
Lieblingsstädtchen entzückt, nur dort, ganz allein und nirgends
sonst zu finden sei; es irrt, aber sein Irrtum stiftet das Modell der
Erfahrung, eines Begriffs, welcher endlich der der Sache selbst wäre,
nicht das Armselige von den Sachen Abgezogene. Glück, das einzige an metaphysischer Erfahrung, was mehr ist denn ohnmächtiges
Verlangen, gewährt das Innere der Gegenstände als diesen zugleich
Entrücktes.“
Hemm also, nicht heim ins Reich, heim ins Hemm vielmehr. Keinesfalls dorthin, wo nach Ernst Bloch noch niemand war, sondern dort,
wohin niemand je kommen wird. Und so fahren wir dem Ort meiner
Kindheit entgegen, wohl wissend, daß uns in diesem auch nichts
anderes erwartet, als das, was hier überall zu finden ist. Aber vielleicht ist es die Kindlichkeit, die uns immer wieder hemm treibt, wenn
die Welt vom Kopf her stinkt, vielleicht ist es das kindliche Gemüt,
das uns rettet, das kindliche Gemüt, das uns dazu befähigt, wenigstens in eigener Person dem Komplott zu entrinnen. Laßt uns also
Kinder sein! (Hagen faßt sich an die Stirn.) Halten wir es - bevor ich
schließe - mit unserem Peter Wust, der in seinem Abschiedsbrief
1940 schrieb: „Und wenn Sie mich noch fragen sollten, bevor ich
jetzt gehe und endgültig, ob ich nicht einen Zauberschlüssel kenne,
der einem das letzte Tor zur Weisheit des Lebens erschließen könn-
314
te, dann würde ich Ihnen antworten jawohl: Das Gebet, als letzte
Hingabe gefaßt, macht still, macht kindlich, macht objektiv.“
Hagen sagt: „Hier wird nicht gebetet, laß’ die Hände am Steuer
und die Objektivität aus dem Spiel. Sonst macht uns dein Komplott
platt.“
Ich: „Komplatt? Issen das?“
***
315
Index nominum
Abou-Zaki, Ismat, in Frankfurt wirkender libanesischer Koch und
Gastronom
Accursi, Daniel, pataphysischer Wirtschaftswissenschaftler
Achternbusch, Herbert, Maler, Autor, Regisseur, Schauspieler und
Biertrinker
Adenauer, Konrad, deutscher Politiker
Adorno, Theodor Wiesengrund, Frankfurter Sozialphilosoph
Agamben, Giorgio, italienischer Philosoph und Schauspieler
Antonioni, Michelangelo, italienischer Filmregisseur
Apollinaire, Guillaume, französischer Dichter und Pornokrat
Antoine, französischer Protestsänger
Aragon, Louis, französischer Schriftsteller
Atlas, Natascha, britisch-ägyptische Sängerin
Bach, Dirk, deutscher Schauspieler
Badiou, Alain, französischer Philosoph
Balaban, Alexander, balkanischer Musiker
Balibar, Etienne, französischer Philosoph
Barthes, Roland, französischer Semiotiker
Becker, Boris, Deutscher
Becker, Heinz, Saarländer
Benn, Gottfried, deutscher Schriftsteller
Berger, John, englischer Schriftsteller
Bernhard, Thomas, österreichischer Schriftsteller
Bethel, Vincent, englischer Nacktaktivist
Bey, Hakim, US-amerikanischer Phisosoph
Bierbichler, Josef, Schauspieler
Bismarck, Otto v., deutscher Politiker
Biolek, Alfred, deutscher Fernsehkoch
Bizet, Georges, französischer Komponist
Bofill, Ricardo, spanischer Architekt
316
Bourdieu, Pierre, französischer Sozialwissenschaftler
Bové, José, französischer Schafzüchter
Bowles, Paul, US-amerikanischer Schriftsteller
Brahms, Johannes, deutscher Komponist
Brassens, Georges, französischer Sänger
Brétégnier, Colette, französische Hausfrau
Brière, Pierrot, französischer Dorfwächter
Brock, Bazon, deutscher Ästhetikprofessor
Bruel, Patrick, französischer Schauspieler und Sänger
Burda, Hubert, deutscher Zeitungsverleger
Cacciari, Massimo, italienischer Politiker und Philosoph
Camus, Albert, französischer Schriftsteller und Philosoph
Cavanna, François, französischer Satiriker
Chabrol, Claude, französischer Filmregisseur
Char, René, französischer Dichter
Consuelo Vladimir, Tochter
Cortázar, Julio, agentinisch-französischer Schriftsteller
Cousteau, Jacques, französischer Meeresforscher
Daho, Etienne, französischer Sänger
Dalí, Salvador, spanischer Künstler
Debord, Guy, Situationist
De Gaulle, Charles, französischer General und Politiker
Deleuze, Gilles, französischer Philosoph
Derrida, Jacques, französischer Philosoph
Dillard, Annie, US-amerikanische Schriftstellerin und Literaturwissenschaftlerin
Dunlop, Carol, kanadisch-französische Schriftstellerin
Dyba, Johannes, deutscher Erzbischof
Edel, Alfred, Schauspieler und Selbstdarsteller
Enzensberger, Hans Magnus, deutscher Schriftsteller
Faure, Bertrand, französischer Hausmann und Künstler
Ferré, Léo, französischer Sänger
317
Fischart, Johann, Amtmann und deutschsprachiger Schriftsteller
Fries, Jürgen, Ensheimer
Foucault, Michel, französischer Philosoph
Frêche, Georges, französischer Lokalpolitiker
Furet, François, französischer Historiker
Gault, Henri, französischer Gastronomiekritiker
Gerasimchuk, Ivetta, russische Denkerin und Schriftstellerin
Giacometti, Alberto, schweizerisch-französischer Bildhauer
Goethe, Johann Wolfgang v., deutscher Schriftsteller
Gotta, Frank, Lebemann, Journalist und Schriftsteller
Gracián, Balthasar, spanischer Schriftsteller
Grass, Günter, deutscher Schriftsteller
Habermas, Jürgen, deutscher Sozialphilosoph
Hagen Knotterbeck, Ehefrau
Halliday, Johnny, französischer Sänger
Halprin, Daria, US-amerikanis che Schauspielerin
Handke, Peter, österreichischer Schriftsteller
Harig, Ludwig, saarländischer Schriftsteller
Hedren, Tippi, US-amerikanische Filmschauspielerin
Hegel, Georg Wilhelm Friedrich, deutscher Philosoph
Heidegger, Martin, deutscher Philosoph
Heine, Heinrich, deutscher Schriftsteller
Heidemann, Gerd, deutscher Journalist
Hennetmair, Karl Ignaz, österreichischer Immobilienmakler
Henry, Michel, französischer Philosoph und Schriftsteller
Henscheid, Eckhard, Frankfurter Schriftsteller
Hesselbach, Babba, hessischer Fernsehstar
Higgs, Russel, englischer Nacktaktivist
Hitchcock, Alfred, US-amerikanischer Regissseur
Hitler, Adolf, deutsch-österreichischer Vertreter des großen Tieres
Houellebecq, Michel, französischer Schriftsteller
Hutersch Wiss, Ensheimer
318
Jarim, Ella, Tante
Jarim, Josef, Onkel
Jarim, Trudel, Tante
Jarry, Alfred, französischer Schriftsteller
Jesus (von Nazareth), Gottes Sohn
Jesus (von Saarbrücken), saarländischer Kneipier
Jesus (von Sachsenhausen, i.e. Henner Drescher), Frankfurter
Künstler
Jean Paul (i.e. Johann Paul Friedrich Richter), deutscher Schriftsteller
Jerofejew, Wenedikt, russischer Schriftsteller
Jörg, der nackte, von Sachsenhausen
Johnson, Hugh, amerikanischer Weinbuchautor
Jünger, Ernst, deutscher Schriftsteller und Soldat
Kadour, Messali, Jarim-Freund
Kästner, Erich, deutscher Schriftsteller
Kallaengoulberck, Dionys, Jarim-Freund
Kant, Immanuel, deutscher Philosoph
Karajics, Dr Nelle, balkanischer Musiker
Kaschmir, Melem, Berliner Künstler
Kennedy, John F., US-amerikanischer Politiker
Kierkegaard, Sören, dänischer Philosoph
Kiki Estragon, Tochter
Klossowski, Pierre, französischer Schriftsteller und Philosoph
Koeppel, Matthias, Berliner Maler und Schriftsteller
Koeppen, Wolfgang, deutscher Schriftsteller
Kohlhepp, Siegmund, Deutsche
Kohlhepp, Susanne, Deutsche
Kohlhepp, Katharina, deutsche Tochter
Kujau, Konrad, deutscher Fälscher
Kundera, Milan, tschechisch-französischer Schriftsteller
Kusturica, Emir, balkanischer Filmregisseur und Sänger
319
Lacan, Jacques, französischer Psychoanalytiker
Langhoff, Jürgen, Verwandter und Psychiater
Lavilliers, Bernard, französischer Sänger
Ledoux, Claude-Nicolas, französischer Architekt
Lenin, Wladimir Iljitsch, sowjet-russischer Diktator
Le Roy Ladurie, Emmanuel, französischer Historiker
Levi-Strauss, Claude, französischer Ethnologe
Lieblang, Franz-Joseph, Exil-Saarländer
Lindner, Jimmy, wahlspanischer Photograph
Lopéz Petit, Santiago, spanischer Philosoph
Luhmann, Niklas, deutscher Sozialwissenschaftler
Luther, Martin, deutscher Reformator
Maak, Gert, holländischer Publizist
Mandela, Nelson, südafrikanischer Staatsmann
Mann, Thomas, deutscher Schriftsteller
Mao Tse-tung, chinesischer Vertreter des großen Tieres
Marquard, Odo, deutscher Philosoph
Marx, Karl, deutscher Philosoph
Maupassant, Guy de, französischer Schriftsteller
Maurer, Michel, Ensheimer Gastronom
Mendel, Gregor Johann, Mönch und Botaniker
Millau, Christian, französischer Gastronomiekritiker
Miloshevic, Zoki, balkanischer Musiker
Miou-Miou, französische Filmschauspielerin
Mitchell, Eddie, französischer Sänger und Filmschauspieler
Mitterrand, François, französischer Politiker
Molière (i.e. Jean-Baptiste Poquelin), französischer Theatermacher
und -autor
Moscherosch, Johann Michael, süddeutscher Schriftsteller und
Amtmann
Mozart, Wolfgang Amadeus, österreichischer Komponist
Niebergall, Ernst Elias, hessischer Schriftsteller
320
Nietzsche, Friedrich, deutscher Philosoph
Noilly, Joseph, französischer Schnapsbrenner
Noiret, Philippe, französischer Filmschauspieler
Oreillopoulos, Dimitri, bulgarischer Physiologe
Pasolini, Pier Paolo, italienischer Filmregisseur und Autor
Patric, okzitanischer Sänger
Paulus, Hl., Apostel
Petrovic, Nesho, balkanischer Musiker
Petrarca, Francesco, mittelalterlicher Schriftsteller
Peymann, Claus, deutscher Theaterregisseur
Pfaff, Dieter, deutscher Schauspieler
Pinochet, Augusto, chilenischer Diktator
Pohl, Gabor, Ensheimer
Pohl, Liz, Ensheimerin
Popper, Karl, britischer Philosoph
Porte-Jarrytelles, Monsieur, französischer Radfahrer
Rabelais, François, französischer Schriftsteller
Rancière, Jacques, französischer Philosoph
Randur, Simone, Einwohnerin Pérets
Rauschenberg, Robert, US-amerikanischer Maler
Reboul, J.-B., provenzalischer Kochbuchautor
Riesel, René, Bauernführer und Alt-Situationist
Rosenzweig, Luc, französischer Journalist
Rousseau, Jean-Jacques, französischer-schweizerischer Philosoph
Saint-Just, Louis Antoine Léon, französischer Politiker
Sartre, Jean-Paul, französischer Schriftsteller und Philosoph
Schlingensief, Christof, Theaterregisseur, Schauspieler und Selbstdarsteller
Schmitz, Hermann, deutscher Philosoph
Schopenhauer, Arthur, deutscher Philosoph
Schustek, Karl, staatenloser Allergieforscher
Schuhmacher, Michael, deutscher Autofahrer
321
Schwarzinger, Heinz, Übersetzer
Sellner, Albert, Frankfurter Autor, Verleger und Organisator
Serres, Michel, französischer Philosoph
Sgalambro, Manlio, italienischer Philosoph
Sparavalo, Dejan, balkanischer Musiker
Shakespeare, William, englischer Schriftsteller
Siffre, Michel, französischer Höhlenforscher
Sloterdijk, Peter, deutscher Philosoph
Soboul, Albert, französischer Historiker
Spaemann, Robert, deutscher Philosoph
Stalin, Joseph, russisch-georgischer Vertreter des großen Tieres
Stengel, Friedrich Joachim, deutscher Barockarchitekt
Strauß, Franz-Josef, deutscher Politiker
Tanner, Alain, schweizerischer Filmregisseur
Tàpies, Antoni, spanischer Künstler
Tavernier, Bernard, französischer Filmregisseur
Tinguely, Jean, Schweizer Künstler
Trebes, Klaus, Frankfurter Gastronom
Trenet, Charles, französischer Sänger
Twain, Mark, US-amerikanischer Schriftsteller
Ulbrich, Claudia, Frankfurter Agentin
Valentin, Karl, bayerischer Schauspieler
Valéry, Paul, französischer Dichter
Verdi, Guiseppe, italienischer Komponist
Wallauschek, Richard, deutsch-österreichischer Ingenieur
Weibel, Peter, österreichischer Künstler
Weininger, Otto, österreichischer Schriftsteller
Weißer, Hartmut, Sachsenhäuser
Weller, Paul, englischer Musiker
Wilmenrod, Clemens, deutscher Fernsehkoch
Wilson, Edward O., US-amerikanischer Ameisenforscher
Wittgenstein, Ludwig, österreichischer Philosoph
322
Wust, Peter, saarländischer Philosoph
Ziegler, August, Ensheimer
Žižek, Slavoj, slowenischer Psychoanalytiker und Philosoph
Zlunka, Franz, Frankfurter Gastronom
323
Index locorum:
Adissan, Languedoc-Roussillon
Agde, Languedoc-Roussillon
Anian, Languedoc-Roussillon
Aigues Mortes, Languedoc-Roussillon
Algier, Algerien
Coucourde, Rhônetal
Aix-en-Provence, Provence
Allerheiligen, Schwarzwald
Ambach, Bayern
Arles, Provence
Ascot, England
Athen, Griechenland
Avignon, Provence
Bad Brückenau, Franken
Baden-Baden, Baden
Barcelona, Spanien
Basel, Schweiz
Bassin de Thau, Languedoc-Roussillon
Bayreuth, Franken
Beaucaire, Provence
Besançon, Franche-Comté
Bédarieux, Languedoc-Roussillon
Belfort, Franche-Comté
Béziers, Languedoc-Roussillon
Biarritz, Südwestfrankreich
Bionne, Languedoc-Roussillon
Bitburg, Eifel
Bourges-en-Bresse, Bresse
Bouzigues, Languedoc-Roussillon
Bratislawa, Slowakei
324
Brüssel, Belgien
Buenos Aires, Argentinien
Cahors, Quercy/Südwestfrankreich
Cannes, Côte d‘Azur
Cap d’Agde, Languedoc-Roussillon
Cabrières, Languedoc-Roussillon
Campan, Pyrenäen
Carcassonne, Languedoc-Roussillon
Casablanca, Marokko
Castelnaudary, Midi-Pyrénées
Causse-de-la-Selle, Languedoc-Roussillon
Celles, Languedoc-Roussillon
Cirque de Mourèze, Languedoc-Roussillon
Cirque de Navacelles, Larzac
Clermont-Ferrand, Auvergne
Clermont l’Hérault, Languedoc-Roussillon
Combaillaux, Languedoc-Roussillon
Condom, Gascogne
Corbère-les-Cabanes, Pyrenäen
Coursan, Languedoc-Roussillon
Coventry, England
Davis / USA
Denver / USA
Dijon, Burgund
Dole, Franche-Comté
Echternach, Luxemburg
Ensheim / Saar
Ensheim bei Alzey
Entzheim, Elsaß
Eschringen / Saar
Fechingen / Saar
Fénétrange, Lothringen
325
Fontvieille, Provence
Forbach, Lothringen
Frankfurt am Main
Freiburg im Breisgau
Frontignan, Languedoc-Roussillon
Gelnhausen, Hessen
Gignac, Languedoc-Roussillon
Gorges d’Héric, Languedoc-Roussillon
Gorges de l’Hérault, Languedoc-Roussillon
Gorges du Tarn, Causses
Grau d'Agde, Languedoc-Roussillon
Grau-du-Roi, Languedoc-Roussillon
Grenoble, Dauphiné
Grotte de Clamouse, Languedoc-Roussillon
Habkirchen / Saar
Hanau, Hessen
Heidelberg, Kurpfalz
Jorwerd, Holland
Keskastel, Lothringen
Königgrätz, Tschechien
Lac du Salagou, Languedoc-Roussillon
La Grande-Motte, Languedoc-Roussillon
Lamalou-les-Bains, Languedoc-Roussillon
Le Cailar, Camargues
Le Thor, Provence
Les Baux, Provence
Le Vigan, Cevennen
Lézignan-la-Cèbe, Languedoc-Roussillon
Lima, Peru
Lodève, Causses
London, England
Lons-le-Saunier, Jura
326
Lourdes, Pyrenäen
Lunel, Languedoc-Roussillon
Lyon, Département Rhône
Mailand, Italien
Mainz, Rheinland-Pfalz
Malaucène, Provence
Marpingen / Saar
Marseille, Département Bouche-du-Rhône
Marseillan, Languedoc-Roussillon
Marseillan-Plage, Languedoc-Roussillon
Mérifons, Languedoc-Roussillon
Mers el Kebir, Algerien
Merzig / Saar
Mettlach / Saar
Metz, Lothringen
Millau, Larzac
Montagnac, Languedoc-Roussillon
Monte Carlo, Monaco
Montélimar, Provence
Montpellier, Languedoc-Roussillon
Mont Lozère, Cevennen
Mont St Clair, Languedoc-Roussillon
Mont St Loup, Languedoc-Roussillon
Mont Ste Odile, Elsaß
Mont Ventoux, Provence
Moskau, Rußland
Mourèze, Languedoc-Roussillon
Mulhouse, Elsaß
München, Bayern
Narbonne, Languedoc-Roussillon
Nancy, Lothringen
Neapel, Italien
327
Nébian, Languedoc-Roussillon
Neustadt an der Weinstraße, Pfalz
New Orleans, USA
Niedergailbach / Saar
Nîmes, Languedoc-Roussillon
Nizza, Côte d‘Azur
Nowosibirsk, Sibirien
Offenbach, Hessen
Ottenhöfen, Schwarzwald
Palavas-les-Flots, Languedoc-Roussillon
Pamplona, Spanien
Papeete, Tahiti
Paris, Frankreich
Paulhan, Languedoc-Roussillon
Peppenkum / Saar
Péret, Languedoc-Roussillon
Perpignan, Languedoc-Roussillon
Pézenas, Languedoc-Roussillon
Pierrelatte, Provence
Pilsen, Tschechien
Pisa, Italien
Port-Camargue, Carmargue
Poujol-sur-Orb, Languedoc-Roussillon
Reims, Champagne
Rimini, Italien
Rognonas, Provence
Rothenburg ob der Tauber
Roujan, Languedoc-Roussillon
Saarbrücken / Saar
Salasc, Languedoc-Roussillon
Salon-de-Provence
Salzburg, Österreich
328
Sankt Peter Ording, Nordsee
Sarajewo, Bosnien
Sarreguemines, Lothringen
Sarrebourg, Lothringen
Sauternes, Bordelais
Sauteyrargues, Languedoc-Roussillon
Saverne, Elsaß
Sète, Languedoc-Roussillon
Seyweiler / Saar
Shenyang, China
Shijiazhuang, China
Sindelfingen, Württemberg
Sisteron, Haute-Provence
Speyer, Pfalz
St Andéol-de-Clerguemort, Cevennen
St André-de-Sanconis, Languedoc-Roussillon
St Guilhelm-le-Désert, Languedoc-Roussillon
St Jean-de-Fos, Languedoc-Roussillon
St Martin-de-Londres, Languedoc-Roussillon
St Pargoire, Languedoc-Roussillon
St Tropez, Côte d‘Azur
Strasbourg, Elsaß
Tanger, Marroko
Tarascon, Provence
Toul, Lothringen
Toulouse, Midi-Pyrénées
Vaison-la-Romaine, Provence
Vallabrègues, Provence
Vauvert, Camargue
Vendargues, Languedoc-Roussillon
Venedig, Italien
Vézelay, Burgund
329
Vias, Languedoc-Roussillon
Vias-Plage, Languedoc-Roussillon
Villeneuvette, Languedoc-Roussillon
Wanne-Eickel, Ruhrgebiet
Wladiwostock, Sibirien
Züntersbach, Hessen
330
Index receptarum prohibitarum:
Aligot (Käse-Karoffel-Gericht)
Animelles panées à l'anglaise (panierte Hoden)
Artichauts à la barigoule (Artischocken)
Bourride Sètoise (Fischsuppe)
Cassoulet royale (Bohneneintopf)
Daube à la provençale (Rinderschmorbraten)
Flan cateran (Hoden-Flan)
Huhn mit Kichererbsen
Lamm mit Bohnen
Lentilles à la provençale (Linseneintopf)
Rognons blancs en sauce (Hoden in Rotweinsauce)
Soupe au pistou (Gemüsesuppe mit Pesto)
Tajine (Lammfleischeintopf)
331