Julian Barnes über Sterben und Tod
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Julian Barnes über Sterben und Tod
Nr. 5 | 30. Mai 2010 Ayaan Hirsi Ali Ich bin eine Nomadin | Julian Barnes über Sterben und Tod | Henning Mankell Der Feind im Schatten | Joseph Stiglitz Im freien Fall | Sieglinde Geisel Essay über Männer, das gefährdete Geschlecht | Stendhal NeueBiografie|Weitere Rezensionen zu Erika Burkart, Ingeborg Bachmann, Azar Nafisi, Tony Judt undanderen | Charles Lewinsky Zitatenlese MEIN ALTESIST mein neues neue <wm>10CAsNsjY0MDAx1TU0sDQ2NgMA81NPbQ8AAAA=</wm> <wm>10CEXKOQ6AMAwF0RPF-nbiLLhMQhVRAOIEiJr7VyAaipFeMWOYEr5qX_a-GgNBHaN4H02LkqRoWYQQkkGFBYyJIfFl9vbfrja3ATNwgOk-rwcEWwd5XQAAAA==</wm> Bringen Sie uns einen alten Roman, und Sie bekommen einen neuen Ihrer Wahl mit 20% Rabatt. Für 100-prozentige Leselust. In allen Orell Füssli Buchhandlungen in Bern, Frauenfeld, Luzern, Rösslitor St. Gallen, Winterthur und Zürich. Das Angebot gilt vom 31.Mai bis 19. Juni 2010 und nur für belletristische Bücher. www.books.cch Inhalt Afrikanische Vordenkerinnen der Welt Nr. 5 | 30. Mai 2010 Ayaan Hirsi Ali Ich bin eine Nomadin | Julian Barnes über Sterben und Tod | Henning Mankell Der Feind im Schatten | Joseph Stiglitz Im freien Fall | Sieglinde Geisel Essay über Männer, das gefährdete Geschlecht | Stendhal NeueBiografie|Weitere Rezensionen zu Erika Burkart, Ingeborg Bachmann, Azar Nafisi, Tony Judt undanderen | Charles Lewinsky Zitatenlese Ayaan Hirsi Ali (Seite 19). Illustration von André Carrilho Afrika weckt wieder einmal unser Interesse. Nicht allein wegen der Fussball-WM. Lesen Sie dazu die Rezension «Voodoo im Strafraum», die zeigt, welche Rolle Magie im Sport auch bei uns spielt (Seite 18). Vor allem brilliert Afrika derzeit mit intellektuellem Potenzial. Waris Dirie, 45, Somalierin und Uno-Sonderbotschafterin im Kampf gegen die Beschneidung von Mädchen, legt ihr neuestes Buch vor: «Schwarze Frau, weisses Land». Darin erzählt sie von ihrem Leben im Westen und der Sehnsucht nach Afrika. Die Sambierin Dambisa Moyo, 40-jährige Weltbank-Ökonomin und Young Global Leader, hat für diesen Sommer ihr Werk «Der Untergang des Westens» angekündigt. Ihre Botschaft: Die Länder Afrikas müssen ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen, statt sich auf die traditionelle Entwicklungshilfe zu verlassen. Schliesslich legt Ayaan Hirsi Ali, 41, ebenfalls Somalierin und Menschenrechtsaktivistin, dar, warum es höchste Zeit ist, dass sich der Islam, besonders die Musliminnen, aus den Fesseln von Rückständigkeit und Vergangenheit befreien (S. 19). Die Welt hat sich verändert. Schwarze Vordenkerinnen liefern heute wesentliche Impulse zur Globalisierungsdebatte. Falls Sie Lust haben, eine aufmüpfige Afrikanerin kennenzulernen: Ghada Abdelaal, deren witziges Tagebuch «Ich will heiraten» wir im März besprochen haben, liest demnächst in Bern (S. 27). Urs Rauber Belletristik Sachbuch 4 16 Johannes Willms: Stendhal 6 7 8 Julian Barnes: Nichts, was man fürchten müsste Von Andreas Tobler Von Andreas Isenschmid 18 Oliver G. Becker: Voodoo im Strafraum Von Regula Freuler 19 Ayaan Hirsi Ali: Ich bin eine Nomadin Von Stefana Sabin 20 Angela Steidele: Geschichte einer Liebe – Adele Schopenhauer und Sibylle Mertens Von Martin Helg Pedro Lenz: Der Goalie bin ig Von Urs Rauber Roger Reiss: Nicht immer leicht, a Jid zu sein John Glassco: Die verrückten Jahre Von Bruno Steiger Von Kirsten Voigt Gemma Blackshaw, Leslie Topp (Hrsg.): Madness & Modernity 9 Marianne Breslauer: Fotografien Von Geneviève Lüscher Von Manfred Papst 21 Joseph Stiglitz: Im freien Fall Von Pia Horlacher 22 Azar Nafisi: Die schönen Lügen meiner Mutter Von Angelika Overath 23 Inge Huber: Curnonsky oder das Geheimnis des Maurice-Edmond Sailland Von Charlotte Jacquemart Henning Mankell: Der Feind im Schatten Von Klara Obermüller 10 Beate Rothmaier: Fischvogel 11 Alawiyya Sobh: Marjams Geschichten Von Susanne Schanda Von Christina Hubbeling Tony Judt: Das vergessene 20. Jahrhundert FRANCK COURTES / VU / LAIF Kurzkritiken Belletristik 11 Patrick Pécherot: Nebel am Montmartre Von Regula Freuler Erika Burkart: Das späte Erkennen der Zeichen Von Manfred Papst Deutsche Lyrik des späten Mittelalters Von Manfred Papst Ingeborg Bachmann: Kriegstagebuch Von Regula Freuler Essay 12 Die Männer, das gefährdete Geschlecht Sieglinde Geisel über die neuen Bücher von Ute Scheub und Louann Brizendine Kolumne 15 Charles Lewinsky Das Zitat von Karl Kraus Henning Mankell (Bild) schickt in seinem neuesten Buch Kommissar Wallander endgültig in Pension. Kurzkritiken Sachbuch 15 Rudi Palla: Verschwundene Arbeit Von Geneviève Lüscher Lars Schultze-Kossack (Hrsg.): Zur(e)ich brennt Von Urs Rauber Niklas Maak: Der Architekt am Strand Von Gerhard Mack Victor Klemperer: LTI. Notizbuch eines Philologen Von Kathrin Meier-Rust Von Reinhard Meier 24 Hans Peter Treichler: Ein Seidenhändler in New York Von Beatrix Mesmer Isabel Rohner: Spuren ins Jetzt Von Geneviève Lüscher 25 August Forel: Rückblick auf mein Leben Von Willi Wottreng 26 Gerhard Henschel: Menetekel Von Kathrin Meier-Rust Das amerikanische Buch S. M. Plokhy: Yalta. The Price of Peace Von Andreas Mink Agenda 27 Jane Hilton: Dead Eagle Trail Von Regula Freuler Bestseller Mai 2010 Belletristik und Sachbuch Agenda Juni 2010 Veranstaltungshinweise Chefredaktion Felix E. Müller (fem.) Redaktion Urs Rauber (ura.) (Leitung), Regula Freuler (ruf.), Geneviève Lüscher (glü.), Kathrin Meier-Rust (kmr.), Manfred Papst (pap.) Ständige Mitarbeit Urs Altermatt, Urs Bitterli, Andreas Isenschmid, Manfred Koch, Gunhild Kübler, Charles Lewinsky, Beatrix Mesmer, Andreas Mink, Klara Obermüller, Angelika Overath, Stefan Zweifel Produktion Eveline Roth, Hans Peter Hösli (Art-Director), Urs Schilliger (Bildredaktion), Stephanie Iseli (Layout), Bettina Keller, Rita Pescatore, Benno Ziegler (Korrektorat) Adresse NZZ am Sonntag, «Bücher am Sonntag», Postfach, 8021 Zürich. Telefon 044 258 11 11, Fax 044 261 70 70, E-Mail: redaktion.sonntag@nzz.ch 30. Mai 2010 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 3 Belletristik Reflexionen In einem erzählenden Grossessay umkreist der britische Romancier Julian Barnes seine Furcht vor dem Ableben Julian Barnes: Nichts, was man fürchten müsste. Aus dem Englischen von Gertraude Krüger. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2010. 333 Seiten, Fr. 34.50. Von Andreas Isenschmid Dieses Buch handelt vom Tod, nur vom Tod und von nichts als dem Tod – übrigens auf ziemlich witzige Weise. Sein Autor ist für dieses Thema wie kaum ein zweiter prädestiniert (wie würde er dieses Wort – schicksalsbestimmt – auf der ELLEN WARNER Julian Barnes Der 1946 geborene englische Schriftsteller Julian Barnes wurde hierzulande berühmt mit seinem hinreissend geistreichen Buch über Flaubert («Flauberts Papagei», 1987). Witz ist das Kennzeichen all seiner Bücher, ob sie sich der Liebe, der Küche, dem Alter oder seinem Lieblingsland Frankreich widmen. Barnes war mit der Literaturagentin Pat Kavanagh verheiratet, die im Jahr des Erscheinens von Barnes’ Buch über den Tod (2008) an einem Gehirntumor starb. 4 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 30. Mai 2010 Goldwaage grillieren!). Der englische Romancier Julian Barnes ist ein Thanatophober der Sonderklasse. Seit seinem dreizehnten Lebensjahr ist er in extremer und permanenter Weise geschüttelt von Todesangst. «Erst kürzlich war es wieder da, dieses erschreckende Aufschrecken, mit dem ich mitten in der Nacht ins Bewusstsein zurückgestossen wurde; hellwach, allein, mutterseelenallein, drosch ich mit der Faust aufs Kissen ein und schrie ein endlos jammerndes ‹O nein, o nein, O NEIN›, und der Horror des Augenblicks – dieser Minuten – schlug über einer Szene zusammen, die einem unvoreingenommenen Zeugen vielleicht wie eine schockierende Zurschaustellung exhibitionistischen Selbstmitleids vorgekommen wäre.» Nun ist Selbstmitleid just das Letzte, was einem zum Schreibstil von Julian Barnes in den Sinn käme. Dieser Todesfürchtige schreibt über alles, also auch über den Tod, furchtlos und witzig, treffend und scharfsinnig. Er dürfte nicht wabern, weil er ein genauer Konstrukteur ist. Und er hat eine gerne unterschätzte Empathie. Seine Roman-Folge «Darüber reden» und «Liebe usw.» blickte bei allem Pointenpfeffer mit ungewöhnlichem Feingefühl in die Gründe und Abgründe der Liebe. «Ich glaube nicht an Gott, aber ich vermisse ihn», so beginnt Barnes sein Wortgefecht mit dem Tod und zieht uns damit fürs Erste sehr auf seine Seite. Denn er grenzt sich gleich doppelt ab: vom Atheismus, dieser Ausgeburt von Dummheit und Denkfaulheit, und vom Glauben, der durch seine Antworten das Fragen nach dem Tod von vornherein ALEX MAJOLI / MAGNUM Nachdenken über den Tod aushebelt. Was Barnes am Atheismus stört, ist das Dogmatische, das dort, wo es kein Wissen geben kann, eines behauptet. Wer sich nur einmal die gute alte Heideggersche Frage «Warum gibt es eigentlich etwas und nicht vielmehr nichts?» im Kopf zergehen lässt und dann immer noch behauptet, dass es keinen Raum für die Frage nach Gott gibt, dem ist wohl nicht zu helfen. Weder Antwort noch Trost Barnes gesteht seinen Neid auf die Gläubigen und ihre Aussicht auf ein Leben nach dem Tod, und er versucht, diesen Neid in immer neuen Anläufen zu verstehen. Denn das ist die Machart dieses Buches: Es ist nicht ein geradlinig argumentierender Essay, nicht das Buch eines Mannes mit Antworten, Thesen oder Trost. Es ist ein Buch, das es unternimmt, die Fragen, die man an den Tod stellen kann, zu multiplizieren. Und also besteht es aus einer Vielzahl von kleinen, bald kulturhistorisch gelehrten, bald autobiografischen Erzählungen, Anekdoten und Reflexionen, Minima Mortalia sozusagen. Barnes erzählt vor? Und wenn man nicht sterben möchte, wie lange, bitte, möchte man weiterleben? Falls Sie Gott vermissen, ist es der christliche oder welcher? Nicht selten weckt Barnes in uns auch Fragen, die sich gegen ihn richten. Wieso fragt er sich nicht, warum er beim Tod beider Eltern nicht anwesend war? Warum denkt er mit keinem Wort über Sterbehilfe nach? Warum ist ihm der Suizid kein anständiges Nachdenken wert? Und warum verplempert er nur ein paar halbgare Gedanken an die Frage, ob es fürs Sterben eine Rolle spielt, ob man Kinder hat oder nicht? (Barnes hat keine.) Das Jenseits als Ferienlager zum Beispiel berührend, unsentimental, manchmal fast ein bisschen aggressiv vom Leben und vom Sterben seiner Eltern. «Die Leute glauben nur an die Religion, weil sie Angst vor dem Tod haben», befand seine Mutter, die starb, als «zwei Schwestern sie eben auf die andere Seite drehen wollten, und da sei sie einfach ‹verschieden›. Ich stelle mir gern vor – weil es typisch für sie gewesen wäre, und ein Mensch sollte so sterben, wie er gelebt hat – , dass ihr letzter Gedanke ihr selbst galt und etwas in der Art war wie: ‹Na los, bring es hinter dich.› Aber das ist eine sentimentale Vorstellung – was sie sich gewünscht hätte (besser gesagt, was ich mir für sie gewünscht hätte) –, und wenn sie überhaupt etwas dachte, bildete sie sich vielleicht ein, sie sei wieder ein fieberndes Kind und werde von zwei längst verstorbenen Verwandten auf die andere Seite gedreht». So genau, lebensnah und freimütig verlaufen die meisten der Reflexionen von Barnes. Aber er zieht uns nicht nur auf seine Seite, er bringt uns auch ins Fragen. Und für seine Fragen sowie für seine Unterscheidungen wird man dieses Buch immer schätzen. Mit Gewinn liest man parallel zu Barnes wieder den Fragebogen, den Max Frisch im zweiten Tagebuch dem Tod gewidmet hat. «Haben Sie schon Tote geküsst?», fragt Frisch. Barnes küsste seine Mutter, und er berichtet auch von den Totenküssen anderer. «Wieso weinen die Sterbenden nie?», fragt Frisch auch; dem hat Barnes nichts zur Seite zu stellen. «Wem gönnen Sie manchmal Ihren eigenen Tod?» – so raffiniert fragt Barnes eher nicht. Aber eine ordentliche Checkliste fürs eigene Verhältnis zum Tod wird jeder Leser diesem Buch entnehmen. Ob man den Tod oder das Sterben fürchte? Ob man schnell oder langsam, im Schlaf oder bei vollem Bewusstsein sterben möchte? Ob man Tote noch sehen will? Ob man sich im Sterben die Treue halten kann? Ob man sich die Todesangst hirnchirurgisch amputieren lassen würde? Warum man Angst vor dem Nichts nach dem Tod, aber keine Angst vor dem Nichts vor der Geburt hat? Möchte man wirklich im Jenseits ewig leben, und wie stellt man sich das Julian Barnes’ Essay über das Sterben lässt uns Fragen zu unserem eigenen Tod stellen, bleibt aber oft vage. Die grosse Frage ist aber, warum jemand, der über Gott, Tod und Unsterblichkeit nachdenkt, theologisch so unfassbar naiv bleiben kann. Sein Gottesbegriff ist über das Niveau der Kinderbibel nicht hinausgekommen. Er scheint sich die Unsterblichkeit, an die er immerhin nicht glaubt, als eine Art jenseitiges Ferienheim mit Gott als Lagerleiter vorzustellen. Auf dieser Linie, entlang der unsäglichen Frage, ob man seine Lieben im Jenseits wieder finden zu hoffen glaube, bewegen sich seine Unterhaltungen mit katholischen Freunden. Dass es einen Gott geben könnte und wir dennoch nicht unsterblich wären, einen Gott, der etwas anderes als ein gütiger Vater für die Menschen ist, einen Gott also, der sich für das Sterben und Überleben der Menschen nicht mehr interessiert als fürs Verwehen eines Staubkorns, einen Gott, auf den ein Wort wie ‹Er interessiert sich› gar nicht anwendbar ist – das alles fällt Barnes nicht im Traum ein. Vielleicht hängt das damit zusammen, dass Barnes nicht das Sterben fürchtet, sondern ausschliesslich den Tod, das Verschwinden. Da wäre ewiges Leben natürlich eine Abhilfe. Zur theologischen Unbedarftheit kommt eine bei Barnes eher überraschende gedankliche Zahnlosigkeit. Der Tod scheint Barnes einen solchen Bammel einzujagen, dass er, statt ihm gedanklich ein bisschen strenger Paroli zu bieten, oft lieber hasenfüssig ins Witzeln und in überhastete Themenwechsel flieht. So kommt es, dass man nach zwei Dritteln dieses Buch kennt, das dann aber nochmals hundert Seiten weitergeht. Doch auch da hält einen etwas bei Laune. Man freut sich auf den nächsten Auftritt von Jules Renard. Nach Barnes’ Zitaten muss das «Journal» dieses französischen Romanciers und Diaristen (1864–1910) ein Meisterwerk der Weltliteratur sein. Renards Vater erschoss sich, seine Mutter ertrank in einem Brunnen, kein Wunder, dass seine Reflexionen über den Tod die Strenge haben, die man denen von Barnes manchmal wünscht. «Der Tod ist süss; er erlöst uns von der Todesangst», schrieb er etwa. Auch: «Gott glaubt nicht an unseren Gott.» Wer nicht hingeht und die alte Winkler-Ausgabe von Renards Tagebüchern antiquarisch erwirbt (oder besser noch die lieferbare französische in der Pléiade), macht einen Fehler. l 30. Mai 2010 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 5 Belletristik Mundartliteratur Ein Junkie als Antiheld ist nicht gerade eine Identifikationsfigur, aber die Hauptperson im Romandébut des Langenthalers Pedro Lenz Goalie ist die Rolle seines Lebens Edition Spoken Script 4, Verlag Der gesunde Menschenversand, Luzern 2010. 183 Seiten, Fr. 25.–. Von Regula Freuler Wann fing die Geschichte an? Eigentlich schon viel früher. Aber genauso gut könne er bei jenem Abend anfangen, als er, Ernst, von allen «Goalie» genannt, aus der Strafanstalt Witzwil zurückgekehrt sei. «Vilecht isches öppe zähni gsi, vilecht e haub Stung spöter. Spüut ke Roue. Uf au Fäu hets Bise gha wi d Sou. Schummertau. Novämber. Und ig es Härz so schwär wi nen aute, nasse Bodelumpe.» Goalie ist der Held oder wohl eher Antiheld im Roman des Berners Pedro Lenz. Goalie ist ein Junkie. Ein Drögeler im bernischen Schummertal, die verklausuliert-fiktionalisierte Version von Langenthal, wo der Schriftsteller aufgewachsen ist. Er kennt solche Typen aus seiner Jugend, ja, er habe sie in gewissem Sinne sogar bewundert, sagt er im Gespräch – «für ihre Räubergeschichten. Später merkt man natürlich, wie sich diese alle gleichen.» Inspiration für die Figur des Goalie fand der studierte Romanist Lenz im Pícaro- bzw. Schelmen-Roman, einer ganzen Gattung innerhalb der spanischen Literatur. «Im ‹Lazarillo de Tormes›, in ‹La vida del Buscón› von Francisco de Quevedo und in Cervantes’ Novelle ‹Rinconete y Cortadillo›, um nur die bekanntesten zu nennen, gibt es diese Figur des kleinen Gauners. Er fällt auf die Nase, schlägt sich aber mit Schlauheit durch.» Ein Laferi, ein Liiri Ein Junkie aus der Provinz als Hauptfigur eines Romans – eine erstaunliche Wahl. Mit William S. Burroughs’ autobiografischem Roman «Junkie» hat Lenz’ Buch jedoch kaum etwas gemein, weder in sprachlicher noch in erzählerischer Hinsicht. Der Goalie ist ein Verlierer, aber kein himmeltrauriger. Er ist kein Lakoniker, sondern Stehaufmännchen und manchmal ganz schön sentimental. Er ist der, den wir von der Strasse kennen, ein Laferi und ein Liiri, immer eine Ausrede parat, warum er etwas nicht auf die Reihe bekommen hat. In «Witz» sass er wegen einer «Giftgeschichte», die man im Laufe des Buches erfährt. Das Erzählen dieser Geschichte ist eine Spurensuche des Goalies nach dem Grund, weshalb er ins Gefängnis wandern musste – und seine vermeintlichen Freunde nicht. So bekommt das wunderbar einfühlsame, nie aber gefühlige Buch ansatzweise den Spannungsbogen eines Krimis. Und dann gibt es da noch eine Liebesgeschichte: Goalie buhlt um Regula, die Kellnerin im «Maison». Es ist eine, «die chame rüehme», und wenn er könnte, dann würde der Goalie si «jetz grad hei 6 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 30. Mai 2010 Pedro Lenz, 45, vor dem Café Kairo in Bern, wo er oft als Spoken-WordPerformer auftritt. näh und verruume». Doch Regula hat einen anderen, einen brutalen Pflock, doch eben keinen wie den Goalie, der sich selbst als Publikum reicht. Pedro Lenz legt mit «Der Goalie bin ig» sein Romandébut vor, ist jedoch alles andere als ein Débutant. 2008 wurde er als einziger Schweizer an die Klagenfurter Literaturtage eingeladen, und als Zeitungskolumnist, SpokenWord-Performer und im Duo «Hohe Stirnen» mit dem Musiker Patrik Neuhaus bekommt er so viele Anfragen, dass er seine Agenda einem Management übertragen musste. Spoken-WordAuftritte bestreitet Lenz mit Mitgliedern der Gruppe «Bern ist überall», zu der u. a. Guy Krneta, Noëlle Revaz und Beat Sterchi gehören. Es sind berndeutsche Texte, die er vorträgt. Mit grossem Erfolg. Umso mehr wundert er sich über einzelne Klagen, dass einen Mundartroman zu lesen eine Zumutung sei. Anders als Mundartliteraten wie Krneta schreibt Lenz nicht zuerst auf Hochdeutsch und übersetzt es dann ins Schweizerdeutsche, sondern er verfasst seine Texte direkt im oberaargauischen Berndeutsch, das er als Kind auf der Strasse gelernt hat (die Mutter ist Spanierin, der Vater war Ostschweizer). Dann liest er sie laut. «Das ist ein künstlicher Prozess, aber so höre ich, ob etwas zu konstruiert klingt. Ich möchte eine Art Naturalismus schaffen», erklärt Lenz. Mundart diene ihm nicht dazu, Schönheit zu erzeugen. «Mir gefällt’s nicht, wenn’s kitschig wird. Wie zum Beispiel bei einer gewissen Art Mundartpop, der Museumswörtchen wählt, damit’s ein bisschen blumiger klingt.» Die Sprache müsse im Kontext stimmen. «Ein Junkie soll doch nicht klingen wie eine Grossmutter aus dem hinteren Emmental! Da müssen auch Unreinheiten wie englische Ausdrücke drin sein.» Vor allem aber bekomme er auf Mundart besser das Gefühl von Unmittelbarkeit hin als auf Hochdeutsch. Im hochdeutschen Roman, an dem er arbeitet und der nächstes Jahr erscheinen soll, gebe es daher viel weniger direkte Rede. Tristesse der Provinz Lenz stellt fest, dass in Mundart oft eine Welt beschrieben und verherrlicht werde, die es so nicht mehr gebe. Davon kann bei «Der Goalie bin ig» – was es mit dem Namen Goalie auf sich hat, ist eine Schlüsselstelle im Buch – keine Rede sein. Es ist die Tristesse der Provinz, die aus den Seiten heraussaftet. Goalie findet bis zum Schluss nicht heraus, weshalb er den Kopf hinhalten musste. Er sieht eben nur die kleinen Geschichten. Für den grossen Spannungsbogen fehle ihm die Begabung, sagt er. Würde er genauer hinsehen, würde er feststellen, dass er keine wahren Freunde hat. Sogar sein Jugendfreund Ueli half mit, ihn zu «verseckeln». «Eben das wollen Junkies nicht: genau hinschauen», sagt Pedro Lenz. «Stattdessen erfinden sie ihre Realität immer neu.» Und so, wie er den Goalie das im Roman tun lässt, kann man Lenz’ einstige Bewunderung für solche Lafericheiben durchaus nachvollziehen. Die erste Auflage mit 5000 Exemplaren von «Der Goalie bin ig» ist bald verkauft, die zweite wird gedruckt – ein beachtlicher Erfolg für Mundartliteratur. So schwer kann die Lektüre also nicht fallen. l ALESSANDRO DELLA VALLE / KEYSTONE Pedro Lenz: Der Goalie bin ig. PIERRE ABENSUR Erzählungen Der gebürtige Zürcher Roger Reiss erzählt anekdotische Geschichten vom jüdischen Leben in Genf Koschere Karpfen im Genfersee Roger Reiss: Nicht immer leicht, a Jid zu sein. Geschichten aus dem jüdischen Genf. Chronos, Zürich 2010. 171 Seiten, Fr. 28.–. Von Stefana Sabin Schon mit den Römern im 4. Jahrhundert sollen die ersten Juden gekommen sein. Seit dem 13. Jahrhundert gibt es jüdische Gemeinden in der Schweiz. 1866, mit der Teilrevision der Bundesverfassung, erhielten die Juden hierzulande Niederlassungsfreiheit und Bürgerrechte. In der Geschichte des europäischen Judentums spielt Basel als Zentrum des Buchdrucks und später als Stadt des ersten Zionistischen Weltkongresses eine herausragende Rolle, während Bern wegen des angeblichen Ritualmords an dem Knaben Rudolf von Bern und des darauf folgenden Pogroms sowie später als Ort des Prozesses gegen den Herausgeber der antisemitischen Propagandaschrift «Protokolle der Weisen von Zion» bekannt ist. Keine derart dramatischen Geschichten gibt es über Genf, wo die zweitgrösste jüdische Gemeinde der Schweiz ein eher unauffälliges Leben führt. Teilnehmender Beobachter Unauffällig im Sinne eines gelassenen Realismus und einer sprachlichen Einfachheit sind auch die «Geschichten aus dem jüdischen Genf», die Roger Reiss jetzt veröffentlicht hat – und gerade in dieser programmatischen Unauffälligkeit liegt ihr Reiz. Denn Roger Reiss, der in Zürich aufgewachsen ist und seit den 1970er Jahren in Genf lebt, bezeichnet sich selbst als «teilnehmenden Beobachter», als jemanden also, der der jüdischen Gemeinde angehört und an ihrem Leben teilnimmt und zugleich distanziert darüber berichtet. So erzählt er vom Alltag einer jüdischen Mittelschicht, die kulturell assimiliert, sozial integriert und wirtschaftlich etabliert ist. In dieser Welt kann das Einkaufen für das wöchentliche Sabbatessen am Freitagabend zum Abenteuer werden, wenn die koscheren Geschäfte schon geschlossen haben und erst ein moderner Lieferdienst die traditionellen Speisen in letzter Minute doch noch herbeibringt, wie in «Auf der Suche nach der heimischen Küche», oder wenn sich im jüdischen Lebensmittelladen die Ethnien kreuzen und Hinduisten die für das festliche Essen zur Rosch-Ha-ShanaFeier vorgesehenen Karpfen aufkaufen und im See freisetzen, wie in «Die glücklichen Karpfen vom Lac Léman». „Die beiden Herren blicken weiter als Google Earth.“ Nils Minkmar, Frankfurter Allgemeine Zeitung Purimfest in einer orthodoxen jüdischen Gemeinde in Genf. 287 Seiten. Gebunden sFr 37,90 (UVP) <wm>10CAsNsjY0MDAx1TU0sLAwMQIAqYmKkQ8AAAA=</wm> <wm>10CD3LMQ6AIBBE0ROxmVlZAbcUqIgxarz_UTQWFr95yR_DTfC1tu1qhxOIFoicozrNpMCUnrIJoTk6jEVBLDRNk8586T_CWsMJdOAGZa_9AZxOA7ZhAAAA</wm> Amüsante Geschichten Ob es ums Bücherverlegen geht wie in «Verborgene Räume» oder ums Büchersammeln wie in «Das unruhige Leben der Dinge», ob um Baugeschäfte wie in «Yitziks Schubkarren» oder um Bankgeschäfte wie in «Der Tod lauert um die Ecke», um politische Streitgespräche wie in «Im Schatten des Zerwürfnisses» oder ästhetische Auseinandersetzungen wie in «Das Ende der Kunst», um Lubawitscher, aschkenasische oder sephardische Juden – immer haben die Geschichten eine einfache Handlung und eine amüsante Auflösung. Es sind anekdotische Geschichten, die fast alle im Café «Le Moule à Gâteau» im Florissant-Viertel beginnen oder enden oder ganz dort spielen. Überhaupt ist die Stadt, sind die Strassen und Plätze im Florissant, ist aber auch das Seeufer mehr als blosse Kulisse: Die verstreuten Ortsbeschreibungen verleihen den Geschichten Lokalkolorit. Denn Reiss strebt kein Sozialgemälde an, sondern will einen Eindruck von der Normalität vermitteln, die das jüdische Leben in Genf hat. l „Selten ist ein wissenschaftliches Buch so informativ und lehrreich, selten verschlingt man ein Sachbuch und genießt es derartig – federleicht zu lesen.“ Lutz Bunk, Deutschlandradio Kultur Aus dem Französischen von Caroline Vollmann. 319 Seiten mit 9 Karten. Gebunden sFr 37,90 (UVP) C.H.BECK www.chbeck.de 30. Mai 2010 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 7 Belletristik Memoiren In den poetischen Erinnerungen des Kanadiers John Glassco wird das Paris der späten 1920er Jahre zu turbulentem Leben erweckt Sinnesfreuden an der Seine John Glassco: Die verrückten Jahre. Abenteuer eines jungen Mannes in Paris. Aus dem Englischen von Matthias Fienbork. Einleitung von Louis Begley. Hanser, München 2010. 333 Seiten, Fr. 38.90. Von Bruno Steiger «Memoirs of Montparnasse» lautete der Titel der 1970 erschienenen Erstausgabe des Buches, in welchem John Glassco sein Leben im Paris der zwanziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts Revue passieren lässt. Die deutsche Fassung vermeidet das Wort Erinnerungen. Ein Grund dafür lässt sich im Vorwort des Autors finden, worin er zum Ich seiner frühen Jahre auf Distanz geht: «Dieser junge Mann bin ich längst nicht mehr. Ich erkenne ihn kaum noch, nicht einmal auf den Fotos, und in meiner Erinnerung ähnelt er weniger dem, der ich einmal war, als einer Figur, die mir in einem Roman begegnet ist.» Betreffs Wahrheitsgehalt des Erzählten ist somit Vorsicht angesagt. Sie geht im Lauf der Lektüre mehr und mehr in helle Freude über. Unbeschwerter, sinnenfreudiger ist die Lebensgier eines für so ziemlich alles offenen jungen Menschen selten geschildert worden. Partys in Montparnasse Das Buch spielt gegen Ende des Jahrzehnts, kurz vor dem Kollaps der Börsen im Oktober 1929. Anderthalb Jahre zuvor war der damals achtzehnjährige Glassco zusammen mit seinem Freund von Montreal nach Paris aufgebrochen, um dort ein Leben als Dichter zu führen – oder, wie er sich bald einmal ein- Kunst Zwischen Genie und Wahnsinn gesteht, «den Schriftsteller zu spielen». Der günstige Wechselkurs hatte in jenen Jahren viele angloamerikanische Autoren in die französische Metropole gelockt. Angehende Legenden wie Ford Madox Ford und Djuna Barnes gaben sich in den einschlägigen Cafés die Klinke in die Hand, in zugigen Ateliers wird, während Kiki de Montparnasse ihren obligaten Striptease hinlegt, über Mallarmé und Jane Austen diskutiert. Der junge Kanadier ist immer dabei, in den (wenigen) Partypausen darüber nachsinnend, ob das Leben nicht doch der Kunst vorzuziehen sei. Glassco schildert seine Begegnungen mit all den Berühmtheiten der Epoche mit dem nüchternen Blick des Zaungasts. Seine kleine Skizze von Gertrude Stein nimmt sich gleichwohl eher poetisch inspiriert denn respektlos aus. Wie der «Geschützturm eines Panzers» dreht sich ihr «rhombenförmiger» Körper im Raum; als weiteres Beispiel für die vielen Glanzpunkte der Prosa mag Glasscos Feststellung gelten, dass man sich die Dichterin «unmöglich liegend» vorstellen könne. SAMMLUNGEN DER MEDIZINISCHEN UNIVERSITÄT WIEN Variantenreiche Liebe Um 1900 war Wien ein Schmelztiegel und Brennpunkt der Kultur. Sigmund Freud entdeckte die Psychoanalyse, Arthur Schnitzler setzte sie in epochale Literatur um, Mahler komponierte seine Sinfonien, Klimt und Schiele malten Bilder, die uns heute als Chiffren des Säkulums erscheinen. Und es wurde auch die Kunst von sogenannt Geisteskranken entdeckt. Dem komplexen Zusammenhang von «Kunst und Wahn» ging eine Ausstellung nach, die unlängst im Wien-Museum am Karlsplatz zu sehen war und durch ein informatives Begleitbuch präsent bleibt. Unsere Abbildung zeigt eine Karikatur des 8 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 30. Mai 2010 Literaten Peter Altenberg, die der Münchner Sezessionist Gustav Jagerspacher 1904 anfertigte. Sie stellt den Dichter vor einer zerschlagenen Flasche und einem zerbrochenen Glas dar, die Hände an den Kopf gepresst, die Augen aufgerissen. Ein Bild, das an Munchs «Schrei» von 1893 erinnert. Manfred Papst Madness & Modernity. Kunst und Wahn in Wien um 1900. Im Auftrag des Wien-Museums hrsg. von Gemma Blackshaw und Leslie Topp. Christian Brandstätter, Wien 2010. 164 Seiten, 150 Abbildungen, Fr. 56.90. Literarischer Small Talk nimmt in diesem Buch ebenso grossen Raum ein wie die detailreiche Schilderung all der sinnlichen Genüsse, die Paris zu bieten hat. Essen und Trinken, die Liebe in mancherlei Variationen: All das macht den jungen Mann immer wieder «schwindelig vor Freude». So fällt er denn unentwegt von einem «Begeisterungszustand» in den nächsten, und dies selbst dann, als ihn der zunehmende Geldmangel dazu zwingt, sich in einem Bordell für ältere Damen zur Verfügung zu halten. Zwischendurch tippt er für Kollegen Manuskripte ab oder arbeitet als Sekretär für eine mittellose Adlige. All das bringt ihm ebenso wenig Geld ein wie die pornografische Erzählung, die er unter Pseudonym veröffentlicht. In der Schilderung seiner letzten Tage in der Stadt gewinnt Glasscos Bericht endgültig romanhafte Züge. Nach dem Börsencrash sind die Checks des Vaters ausgeblieben, «obdachlos, frierend und hungrig» sucht er sich unter den Bögen des Pont Neuf einen Schlafplatz. Das Aufwachen als waschechter Clochard wird ihm zu einem Augenblick der Ekstase. «An diesem Morgen fühlte ich mich zum ersten Mal aufgenommen im Paris Villons, Nervals und Baudelaires, in einer Existenz, die ohne Paris bedeutungslos wäre.» Wie unspektakulär auch immer das weitere Leben des 1981 in Kanada verstorbenen John Glassco verlief: Mit seiner Hommage an das «pflaumenblaue» Licht des abendlichen Montparnasse hat er uns ein bewegendes und überaus vergnüglich zu lesendes Dokument zum Lebensgefühl der sagenumwobenen «Lost Generation» geschenkt. l Kriminalroman Henning Mankell schickt seinen erfolgreichen Protagonisten in Pension – jedenfalls zwischen Buchdeckeln. Sein letzter Fall ist eine lange Reise in die Nacht Der Abschied von Kommissar Wallander fällt schwer Eheproblemen, Scheidung und pubertierender Tochter, an die der Abschiedsband noch einmal erinnert – die Vergangenheit ist in jeder Hinsicht mächtig präsent in dieser privaten und politischen Recherche nach der verlorenen Zeit –, steht der Sechzigjährige nun an der Schwelle zum Alter. Seine Pensionierung naht, bereits ist er aus der Kleinstadt Ystad weggezogen in ein Haus aufs Land, bereits hat er sich einen Hund zugetan, bereits beängstigen ihn vage Vorstellungen von einem Leben ohne Arbeit und ohne Sinn, und immer wieder bedrängen ihn in einsamen Nächten Todesängste und Einsamkeitsschübe, plagen ihn in leeren Zwangsurlaubstagen eine schlimme Diabetes und ein Gedächtnis, auf das manchmal kaum mehr Verlass ist. Henning Mankell: Der Feind im Schatten. Aus dem Schwedischen von Wolfgang Butt. Zsolnay, Wien 2010. 589 Seiten, Fr. 42.90. Von Pia Horlacher Mit der Zeit konnte er einem ja schon ein bisschen aufdringlich werden: Wallander, wohin der Blick fiel, Wallander in den Bücher-Auslagen, Wallander auf den Bestsellerlisten, Wallander auf allen Fernsehkanälen, Wallander in allen Medien. Der Kommissar aus der schwedischen Provinz, ein Melancholiker, der schwer an der Welt, ihren Verbrechen und sich selbst leidet, ist so präsent in der deutschsprachigen Krimiwelt wie kaum ein anderer Ermittler – ein Phänomen. Seit nunmehr zwanzig Jahren und zehn Bänden stapft der grüblerische Einzelgänger im südschwedischen Schonen durch die Sümpfe der menschlichen Seele. Und die weiten sich in der globalisierten Welt gerne über ganz Europa und die östlichen Nachbarn aus, gelegentlich auch bis nach Afrika, der zweiten Heimat seines mit ihm reich und berühmt gewordenen Schöpfers Henning Mankell. Doch nun ist definitiv Schluss mit Wallander, wenigstens zwischen Buchdeckeln – und es wird einem doch tatsächlich ein bisschen traurig ums Herz. Denn der seines Zauberlehrlings müde gewordene Autor lässt ihn im zehnten Band, nachdem er ihn bereits früher einmal aufgegeben hat («Die Brandmauer») – nein, nicht gerade sterben, und Genaueres wollen wir auch nicht verraten, nur, dass es für dieses Genre ein mutiges und kühnes Ende ist. Und dass der deutsche Titel «Der Feind im Schatten» über das eigentliche Krimithema hinaus – eine historische Spionageverschwörung – auch die Gründe für diesen Abschied andeutet. Hardcore-Fans brauchen deswegen aber nicht gleich in Tränen auszubrechen. Über die Fernsehschirme, wo Wallander seit Jahren einen festen Platz hat, wird sein Geist noch eine Weile lang flimmern: Die ARD hat eine neue, dreizehnteilige Staffel von Fernsehfilmen gestartet, diesmal mit dem wunderbaren Krister Henriksson in der Titelrolle, einem der grossen Bühnenschauspieler Schwedens (bis Mitte Juli). Nach den alten ZDF-Koproduktionen mit dem massigen Rolf Lassgard, nach den aus England eingekauften BBCAdaptionen mit dem internationalen Star Kenneth Branagh (von denen auch noch ein paar auf Halde liegen) müssen NILLE LEA / YELLOW BIRD / DEGETO Historischer Spionagefall Sehnsucht und Schmerz wir uns nun also den omnipräsenten Ermittler in einer Art schauspielerischen Dreifaltigkeit vorstellen: in jüngeren Jahren als den massigen hängebackigen Jagdhund Lassgard und/oder den pausbäckigen Shakespeare-Tragöden Branagh, mit zunehmendem Alter als den zerfurchten Ingmar-BergmanGrübler Henriksson. Zum letzten Wallander, diesem früh gealterten und noch immer knapp an der klinischen Depression vorbeischrammenden Melancholiker, passt Henriksson mit Jahrgang 1946 eindeutig am besten. Denn «Der Feind im Schatten» ist eben nicht nur der unbekannte Spion, der durch einen weit in die Vergangenheit zurückführenden Plot um die schwedische Marine geistert und Wallander das Hirn zermartert. Der eigentliche und tödliche Feind in diesem Abschiedsband ist das Alter, das diesen literarischen Serienhelden, im Gegensatz zu den meisten andern, sozusagen in Echtzeit mit seinem Autor eingeholt hat. Nach all den Midlife-Krisen des jüngeren Kommissars mit Alkohol- und Wallander-Darsteller Krister Henriksson im ARD-Film «Die Cellospielerin» (S/D 2009). «Der Feind im Schatten» ist also weniger ein klassischer sozialkritischer Wallander-Krimi als eine fast schon elegische Studie gebrochener Sehnsucht: nach der verlorenen Jugend, der verlorenen Heimat, dem verlorenen Schweden von einst, der verlorenen Familie – die Sehnsucht danach, wie es hätte sein können, der Schmerz darüber, wie es nicht war. Und dann liegt auch ein beklemmender Hauch von Todessehnsucht und Sterbensangst über diesem letzten Fall, worin einzig seine Tochter Linda und sein neugeborenes Enkelkind kleine Dämme der Lebensbejahung setzen. In ihnen wird Wallander noch eine Weile überleben, vielleicht ja auch literarisch, wo Linda beruflich doch bereits fest in die Fussstapfen ihres legendären Vaters getreten ist. Jedenfalls ist das ein sehr trauriges Buch geworden, und wenn Mankell früher mit dem genretypischen Scheitern des Antihelden manchmal gar stark kokettierte, wirkt es hier dringlicher, weniger posierend. Ohnehin steht Wallander bereits im Schatten von Salander. Doch Stieg Larssons Punk-Heldin aus der «MilleniumsTrilogie» ist auch ein wenig seine Tochter, genauso wie er selbst ein Sohn jenes einst ebenso erfolgreichen Martin Beck aus den heute leider fast vergessenen Sjöwall/Wahllöö-Romanen ist (Martin Beck verbrauchte übrigens gar ein halbes Dutzend Schauspieler in den Filmadaptionen!). Das skandinavische Krimiwunder, an dem noch viele kleinere Heilige mitbasteln, wird weiterstrahlen. Und etwas weiter westlich leuchtet ja auch noch ein schottisches. Trost für alle Trauernden. Auch dort wurde vor kurzem ein Liebling des Krimipublikums in Pension geschickt: Ian Rankins Rebus. Der hat bereits einen vielversprechenden Nachfolger gefunden. l 30. Mai 2010 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 9 Belletristik Roman Die deutsche Autorin Beate Rothmaier erzählt eine Geschichte von Liebe, Pubertät und Tod Junge Mädchenblüte, gepflückt im Schatten der Achtundsechziger Beate Rothmaier: Fischvogel. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2010. 216 Seiten, Fr 31.90. Mika hat viele Namen. Getauft wurde sie gut katholisch auf den Namen Mechthild. Ihre drei älteren Brüder nennen sie auch Mickey oder Mick. Und der kleine Bruder kräht: «Ickiii.» Mit ihm, dem Namenlosen, dem krebskranken jüngsten Kind der Familie, beginnt und endet das Buch. Mika kommt von ihrem Lieblingsplatz, einem selbstgezimmerten Baumhausversteck, zurück an den Abendtisch der Familie, wo «der Kleine» fehlt. Weder die Eltern noch die Brüder wollen mit ihr darüber sprechen, erst nach dem Essen sagt man ihr, dass das Kind zur Überwachung in der Klinik bleiben musste. Und wie beiläufig erfährt sie, dass nun die Familiensommerferien am vertrauten Fjord in Dänemark ausfallen werden. Schnell ist klar: die Brüder, die Buben, dürfen alleine mit dem alten Auto und den Zelten losziehen. Nur Mika, das Mädchen, wird während des Sommers zurückbleiben. Für Mika ist «der Kleine» schuld; er zerstört die einst heile Familienwelt, ihre heitere, freie Geborgenheit. Was sie nicht reflektieren kann und worüber niemand mit ihr spricht, ist die Veränderung, der sie selbst unterworfen ist. Zeitgleich mit der letzten Schwangerschaft der Mutter ist sie in die Pubertät gekommen. «Der Kleine» wirkt nur als Reaktionsbeschleuniger. Mika fühlt sich fremd in einer Familie, in der sie scheinbar keine Rolle mehr spielt, da die Liebe der zunehmend vom Schmerz paralysierten Mutter und die Aufmerksamkeit des nun verstärkt trinkenden alkoholkranken Vaters vom Kleinsten absorbiert werden. Irgendwie liebt Mika ihn ja, und zugleich wünscht sie sich heftig seinen Tod. Ende der Kindheit Am Ende des Romans wird das Kind in «einer weiss ausgekleideten Schachtel» liegen, in einem «Reisekoffer». Und Mika konstatiert kühl: «Er war geschrumpft und sah sehr tot aus.» Über den Sommer seines langsamen Sterbens aber ist auch für Mika etwas zu Ende gegangen. Das lustvolle, unbeschwerte Mädchen, der «Fischvogel», der im nahen Fluss taucht und springt wie eine Forelle oder in seinem Nest im hohen Birnbaum hockt, ist von den stärkeren Wellen und Böen der Geschlechtlichkeit erfasst worden. Mit Ellen, der geliebten «Freundinfeindin», isst Mika in einer entdeckten Waldlichtung wilde Himbeeren um die Wette, aber sie versucht auch die ersten Küsse mit der blonden jungen Frau, und ein andermal streift sie 10 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 30. Mai 2010 ALAMY Von Angelika Overath Sexuelle Befreiung im Zeichen der Studentenrevolte: Freiheit und Missbrauch verschwistern sich in unheilvoller Weise. testend mit den Fingerspitzen die Innenseite der Schenkel ihres älteren Bruders Nick. Mika verwechselt, und das wird ihr zum Schicksal, eine Mutprobe im stillen sommerlichen Fluss mit dem ersten Geschlechtsverkehr. Aber ein Koitus ist kein Kopfsprung. Ungestüm waghalsig und sexuell neugierig lässt sich die 13-Jährige auf eine Liebesnacht im Unterholz ein und wird dabei missbraucht. Earl, der langhaarige Motorradfahrer, ist ein erotischer Erlkönig, der sich das Mädchen beiläufig nimmt. Auch wenn Mika mit einem Stein zurückschlägt und Earl ebenfalls verletzt, bleibt das Mädchen doch körperlich und seelisch geschunden. Auf einmal gibt es die Bodenhaftung der Scham, mit der ein Frauenleben beginnt. «Der Fischvogel war tot. Die Luftund-Wasser-Zeit zu Ende. Mika war nun wie alle anderen.» Während das Mädchen enttäuscht die quälende Empfindung hat, schwerfällig auf der Erde bleiben zu müssen, imaginiert sie den toten Bruder, der sich erhebt: «Ickiii. Sieh mal, ich kann fliegen. Ich bin weg.» Nach seiner Beerdigung baut Mika ihr Baumhaus ab und verbrennt es samt all ihren Habseligkeiten. Rituell gehen ihre Kinderjahre in Flammen auf. Obwohl in dem Buch, das den wechselnden Wettern eines verregneten Sommers folgt, wenig geschieht (die gewalttätige Nacht wird ausgespart, in einer Seite satzzeichenloser lyrischer Prosa vollzieht sich stellvertretend das nicht exakt Benennbare des Missbrauchs), entwickelt das Buch einen ungeheuren, manchmal unheimlichen Sog. Atemlos folgt der Leser der stehend im Sommerkleid ohne Unterhose auf dem Fahrrad davonrasenden Mika, diesem mit und gegen den Flussstrom tauchenden wilden Kind, das dann im Baumhaus gierig aus der gelochten Kondensmilchbüchse trinkt (eine Vorwegnahme der Mechthild, die den männlichen Samen saugen wird). Von archaischer Wucht Beate Rothmaier gelingen – wie bereits in ihrem mehrfach preisgekrönten Début «Caspar» – sinnlich gesättigte Augenblicke von oft archaischer Wucht. In einer Szene wird Mika gezeigt, wie sie scheinbar kalt, einem spontanen Drang folgend, versucht, den kleinen Bruder im Schlaf mit dem Kissen zu ersticken, was nur im letzten Moment durch das Hinzukommen der Mutter verhindert wird. Doch Beate Rothmaier verurteilt nicht. Es wird nicht moralisiert. Was geschieht, erscheint in unerhörter, mutiger Nähe. Auch wenn «Fischvogel» durch seine Thematik mit einem Jugendbuch verwechselt werden könnte, ist es doch der Rückblick einer erfahrenen Frau auf gelebte Zeit und Mentalitätsgeschichte, die verstanden werden will. Das Buch spielt im Sommer 1974, es handelt von einer Pubertät im Schatten der Studentenrevolte und dessen, was damals sexuelle Befreiung hiess. Es öffnet ein Fenster in eine Vergangenheit, in der, aus heutiger Sicht, Freiheit und Missbrauch sich unbemerkt zu einer exotischen Chimäre verschwistern konnten. Das Buch berührt und macht nachdenklich. Die Enkelinnen, so wollen wir glauben, fechten’s besser aus. l Roman Mit der List einer modernen Scheherazade Als in Libanon die Idylle explodierte Kurzkritiken Belletristik Patrick Pécherot: Nebel am Montmartre. Aus dem Französischen von Katja Meintel. Krimi. Nautilus, 2010. 190 Seiten, Fr. 25.50. Erika Burkart: Das späte Erkennen der Zeichen. Gedichte. Weissbooks, Frankfurt a. M. 2010. 96 Seiten, Fr. 29.90. Manche Zeitgenossen kleiden sich gern als Teddys, andere sammeln jedes Fitzelchen zum Thema Sissi. Und Patrick Pécherot ist ganz offensichtlich mit dem Kopf in den zwanziger Jahren zu Hause. Der 57-jährige Journalist und Autor liefert mit «Nebel am Montmartre» eine Hommage an den Krimischriftsteller Léo Malet (1909–1996). Die Hauptfigur, genannt «Pipette», schlägt sich (wie damals Malet) als Poet im Kreise der Surrealisten durch, ist mit André Breton befreundet und wird Privatdetektiv; verklausuliert erfährt man seinen Namen: Nestor Burma – so heisst der Detektiv in 15 Krimis von Malet. Die versteckten Wortspiele und Hinweise, kurzum das historische Kolorit, sind um einiges anregender als die holzschnittartig ablaufende Geschichte um eine Erpressung im Zusammenhang mit (Nach-) Kriegsprofiteuren. Regula Freuler Lange war die grosse Schweizer Lyrikerin Erika Burkart im Verlag von Egon Ammann zu Hause. Der hat jedoch nun keine Zukunft mehr. Das Vermächtnis der Poetin, die am 14. April 2010 im Alter von 88 Jahren verstorben ist, erscheint deshalb im jungen Verlag des alten Literatur-Enthusiasten Rainer Weiss. Ein schöner Band ist es geworden – und ein würdiger Abschied. Noch einmal führt uns Burkart, die wundersame Einsiedlerin an der Seite des Schriftstellers Ernst Halter, in ihre Welt von Naturmagie und Todesnähe. Kein Farn, kein Vogelruf entgeht dieser Betrachterin. Doch in jedem Augenblick ist ihr der eigene Verfall präsent. Die Müdigkeit. Die Vergeblichkeit. Das Zuspätkommen. Einmal schreibt Erika Burkart: «Es gibt eine Zeit, / da man nicht mehr wartet, / im Leibfrost selbst / zum Fremdling entartet.» Ein bewegender Abgesang. Manfred Papst Deutsche Lyrik des späten Mittelalters. Hrsg. B. Wachinger. Deutscher Klassiker Verlag, Berlin 2010. 1070 S., Fr. 31.50. Ingeborg Bachmann: Kriegstagebuch. Mit Briefen v. Jack Hamesh. Hrsg. Hans Höller. Suhrkamp, Berlin 2010. 108 Seiten, Fr. 26.90. Das späte Mittelalter war eine Blütezeit der deutschen Lyrik. Diese baute auf der höfischen Dichtung auf, entwickelte sich aber sowohl thematisch wie auch formal weiter. Wir finden in jener Epoche Lieder von schlichter Frömmigkeit und umständliche Lehrgedichte, obszöne und innige Liebeslieder, Sprachspiele, Fürstenlob und deftige Satiren, Zeugnisse von Angst und Not wie von überschwänglicher Lebenslust. Von Neidhart bis zu Oswald von Wolkenstein spannt sich der Bogen. Burghart Wachingers Edition bringt die – meist nach den Handschriften neu erarbeiteten – Originaltexte mit neuhochdeutscher Übersetzung. Den rund 600 Seiten Primärtext stehen 400 Seiten Kommentar gegenüber. Dieser würdigt die Autoren, ihre Themen und Gattungen, erklärt schwierige Stellen. Die Ausgabe genügt wissenschaftlichen Ansprüchen, bietet aber vor allem reiches Lesevergnügen. Manfred Papst Die letzten Kriegswochen, die Russen schon in Wien, und in Kärnten stellt eine 18-Jährige einen Sessel in den Garten und notiert: «Ich habe mir fest vorgenommen, weiterzulesen, wenn die Bomben kommen.» Dann ist der Krieg zu Ende, der Teenager Ingeborg Bachmann verliebt sich in den jüdisch-britischen Besatzungssoldaten Jack Ha– mesh, der 1938 mit einem Kindertransport aus Wien geflohen war. «Das ist der schönste Sommer meines Lebens», hält sie im Juni 1945 fest. Doch was ist grösser: die Vorfreude aufs Studium oder die Schmetterlinge? Eher Ersteres, schliesst man aus den Briefen von Hamesh, der Ostern 1946 nach Palästina emigriert. Sie nehmen ungleich mehr Platz ein als das Kriegstagebuch Bachmanns und sind bewegende Dokumente eines Entwurzelten, der Eltern und Heimat verliert – und auch seine Freundin, von der er Zeichen der Liebe vermisst. Regula Freuler Alawiyya Sobh: Marjams Geschichten. Aus dem Arabischen von L. Chammaa. Suhrkamp, Berlin 2010. 475 S., Fr. 54.90. EKKO VON SCHWICHOW Von Susanne Schanda Marjam hält ihr Visum in den Händen. Sie hat abgeschlossen mit diesem Leben in Libanon, zerrissen zwischen Lebensgier und Gewalt, Tradition und Aufbruch. Sie will sich nur noch verabschieden von Eltern, Verwandten, Nachbarn und den Freundinnen Ibtisam, Jasmin und Alawiyya. Die Abreise verzögert sich. Denn Alawiyya ist verschwunden und mit ihr die Geschichten, die ihr die Freundinnen über die Jahre hinweg anvertraut hatten, auf dass daraus ein Roman entstünde. Doch der Bürgerkrieg hat alles zerstückelt, die Erinnerungen, die Beziehungen, die Lebensläufe, die Geschichten. So erzählt Marjam, eine Figur auf der Suche nach ihrer Autorin, vor ihrer Abreise, «um den Geruch meiner Erinnerung festzuhalten, damit er nicht verfliegt». Die losen, wie Teile eines alten Flickenteppichs verknüpften Geschichten handeln vom Machismo der Väter und der List der Mütter, von Liebe, Sex, Verrat und Heuchelei. Sie entlarven Feigheit und Gefühllosigkeit, wenn ein Mann nach einer jahrelangen geheim gehaltenen Beziehung seine Geliebte verlässt, weil er unmöglich eine Frau mit einer anderen Konfession heiraten kann, während ein anderer ungläubig kichert, als er entdeckt, dass seine Liebste noch Jungfrau ist. Die 1955 als Tochter einer schiitischen Familie aus dem Südlibanon geborene Alawiyya Sobh wuchs in einem christlichen Viertel Beiruts auf, als die Religionszugehörigkeit noch keine Rolle spielte und sie nicht einmal wusste, ob ihre Mitschüler Christen oder Muslime waren. Der Schock, den die Explosion dieser Idylle im Bürgerkrieg hinterliess, wirkt bis heute nach. Für Alawiyya Sobh, die für Jahre literarisch verstummte, wurde das Schreiben schliesslich zu einer Überlebensstrategie. In ihrem ersten Roman nach dem Bürgerkrieg zeigt sie, wie inmitten von Tod und Verzweiflung das Leben weitergeht. Wo ein Besuch im Schönheitssalon zwischen zwei Bombardements ebenso ein rebellischer Akt ist wie das nächtliche Anstehen um Eiswürfel für den Arrak, während die israelischeArmeedieStadt belagert. Diese banalen menschlichen Bedürfnisse zu erzählen, um den Tod fernzuhalten, ohne ihn zu verleugnen, das ist die Kunst dieser modernen Scheherazade.l 30. Mai 2010 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 11 Essay Der Mann ist nicht mehr der unangefochtene Normalfall, sagen neuere Publikationen. Aber was ist er dann? Der aktuellen Geschlechterdebatte scheinen die Argumente auszugehen, meint Sieglinde Geisel Die Männer, das gefährdete Geschlecht Es ist wie verhext: Man kann Kinder noch so egalitär erziehen – mit vier Jahren spielen die Buben mit Autos und die Mädchen mit Puppen. Obwohl unsere Gene älter sind als Spielzeugautos und Barbie-Puppen, gilt dies als Beweis dafür, dass die Gene stärker seien als die Erziehung. Dabei wird jedoch die soziale Macht des Geschlechts übersehen: Dieses nämlich versieht den Menschen mit seiner elementarsten Zugehörigkeit. Dass es ein Mädchen oder ein Bub ist, weiss ein Kind lange, bevor ihm bewusst wird, ob es zu den Armen oder den Reichen, zu den Schweizern oder den Ausländern gehört. Kinder fürchten nichts mehr, als aus einer Gruppe ausgeschlossen zu werden, deshalb entwickeln sie ein feines Sensorium für alles, was ihre Zugehörigkeiten gefährden könnte. Für einen Buben gibt es nichts Bedrohlicheres als den Verdacht, er wäre kein richtiger Bub – dahinter stehen nicht die Gene, sondern eine soziale Angst, und auch die Tatsache, dass der umgekehrte Verdacht für Mädchen längst nicht so alarmierend ist, spiegelt unsere soziale Wirklichkeit. Schliesslich haben Männer nach wie vor mehr Macht, Geld und damit Status. Zu welchen Teilen das Geschlecht eine biologische Tatsache (engl. «sex») und zu welchen ein soziales Konstrukt («gender») sei – in dieser Frage schwingt das Pendel seit Jahrzehnten hin und her, ohne dass wir einer Antwort bisher nähergekommen sind. Was die Geschlechterdebatten in den letzten Jahren verändert hat, ist etwas anderes: Die Männer haben die Frauen in der Rolle des problematischen (oder des problematisierten) Geschlechts abgelöst. Sowohl in Ute Scheubs «Heldendämmerung» als auch in Louann Brizendines «Das männliche Gehirn» geht es um den Mann, denn er ist nicht mehr der unangefochtene Normalfall. Dass das starke Geschlecht schwächelt, war in letzter Zeit überall zu lesen: Männer verüben mehr Gewalttaten und mehr Selbstmorde, sie leiden häufiger unter Süchten und Krankheiten, und schon in der Schule schneiden die Buben durchschnittlich schlechter ab als die Mädchen. «Was vom Manne übrig blieb», lautet – etwas weiner12 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 30. Mai 2010 lich – der Titel eines Buchs, in dem der Soziologe Walter Hollstein vor zwei Jahren den Niedergang der Männlichkeit verkündete. Buben würden in einem «Frauenkäfig» aufwachsen: Unter Müttern, Kindergärtnerinnen und Lehrerinnen fehlten ihnen männliche Vorbilder. Doch war das je anders? Ist es nicht vielmehr so, dass Väter sich heute mehr um ihre Kinder kümmern? Die vielbeschworene Krise des Mannes hat wohl nicht so sehr mit der Abwe- Die Männer haben die Frauen in der Rolle des problematisierten Geschlechts abgelöst. Das starke Geschlecht schwächelt. senheit von männlichen Bezugspersonen zu tun, sondern mit einem fehlenden Modell: In die Krise geraten ist der Held; ein Wort übrigens, das im Althochdeutschen schlicht Mann bedeutete. Das moderne Leben bietet kaum noch Gelegenheiten für Heldentaten, die Männern vorbehalten wären. «Der starke Herkules wird kaum mehr gebraucht. Er wurde ins Fitnessstudio verbannt und darf dort seine Kraft verausgaben», heisst es in Ute Scheubs «Heldendämmerung». Im Westen bestehe die Kränkung des Mannes im Verlust seiner Rolle als Alleinernährer, im Osten und in den islamischen Ländern wiederum werde seine Stellung als patriarchalisches Familienoberhaupt untergraben. In der gekränkten Männlichkeit sieht Scheub eine Gefahr für den Weltfrieden: «Aufgehetzt von skrupellosen Anführern, sehen solche Männer im Töten den Ausweg aus ihrer Identitätskrise» – dies gelte für die nationalsozialistischen Massenmörder ebenso wie für die Täter von Srebrenica und Rwanda sowie die islamistischen Terroristen. Wie das Konzept einer starren Männlichkeit entsteht, zeigt Scheub etwa am Beispiel von Deutschland, wo es seit dem 18. Jahrhundert eine «künstliche Geschlechterpolarisierung» gebe, die im Nationalsozialismus ihr Extrem erreicht habe. Im Militär stehe die Männlichkeit unter besonderem Druck: Wer zaudert, gilt als «Weichei» und wird gezielt mit dem Vorwurf der Verweiblichung beschämt. In Redewendungen werden Waffen zur Verlängerung des Männerkörpers, bis hin zum Paradox, dass die Atombombe mit ihrer Zerstörungswucht offenbar den männlichen Gebärneid zu stillen vermag: «Babies satisfactorily born», notierte Churchill nach der ersten Testzündung. All dies beweise jedoch nicht, dass Männer für das Kriegshandwerk geboren seien, so Scheub: Das Militär sei nur deshalb eine so brutale Institution, «weil Männer per se weder besonders aggressiv noch besonders kriegerisch sind, sondern ständig aggressiv gemacht werden müssen, um als Krieger zu funktionieren». Ute Scheub hütet sich vor Männerfeindlichkeit: Auch die Männer selbst litten unter den Zwängen, die mit dem Männlichkeitsdiktat einhergehen, und im Übrigen seien sie «nicht ‹böse›, sondern gefährdet». Gene, Hormone, Gehirne In Ute Scheubs Buch finden sich viele kluge Beobachtungen – doch eine gross angelegte Analyse sucht man vergebens. Je länger, je mehr verliert sie die Männer, um die es ihr geht, aus dem Blick und verzettelt sich in einem Rundumschlag, der kein Thema auslässt zwischen Finanzkrise, Afghanistan, Klimawandel und globalem Armutsgefälle. In ihrer Argumentation stützt sie sich vorwiegend auf Zeitungsartikel, die ihre Leser längst kennen – neuen Gedanken begegnet man nur in den wenigen Passagen, wo sie auf eigene Recherchen zurückgreift, so etwa in Interviews, die sie mit Männer-Experten geführt hat. Der Palästinenser Gehad Marzarweh behandelt – als einer von weltweit nur 16 arabischen Psychoanalytikern – in Freiburg Folteropfer aus der islamischen KOBAL COLLECTION Heldendämmerung? Auch wahre Kerle leiden laut Ute Scheub unter den Zwängen des Männlichkeitsdiktats. Sean Connery in «Diamonds are forever» (1971). 30. Mai 2010 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 13 Essay In Brizendines Büchern erfahren wir nichts, was wir nicht schon immer gewusst haben. Nun haben wir es schwarz auf weiss: Männer muss man nehmen, wie sie sind, nämlich unfähig zum Zuhören und zur Einfühlung, ständig konkurrenz- und dominanzbereit – und immer auf der Jagd nach dem nächsten runden Frauenpopo. Auch Brizendine ist keine Männerfeindin: Sie können nichts dafür, die Männer, ihre Gehirnschaltkreise sind schuld. Man kann Brizendine nur als Phänomen ernst nehmen. Ihre Botschaft ist in Zeiten der Geschlechterverwirrung ein Erfolgsrezept – ihr Buch über das weibliche Gehirn war ein Bestseller, und die Männervariante bietet dasselbe in Grün. Sie enthebt uns der mühseligen Aufgabe, den Geschlechtervertrag jeden Tag neu auszuhandeln. Wenn Hierarchien abgeschafft werden, muss man über Dinge diskutieren, die vorher geregelt waren: «Das gibt nur Streit zwischen Eheleuten», sagten vor einem Vierteljahrhundert jene, die dagegen waren, die Gleichberechtigung in der Ehe in die schweizerische Verfassung aufzunehmen. Insgeheim Louann Brizendine und Ute Scheub Eduard Spelterini und das Spektakel der Bilder Margrit und Ernst Baumann Die Welt sehen Die kolorierten Lichtbilder des Ballonpioniers Fotoreportagen 1945–2000 Von den 1950er-Jahren an reisten Margrit und Ernst Baumann als Fotoreporter um den Globus. Die Doppelmonografie präsentiert foto- und pressehistorische Schätze aus ihrem Archiv, einschliesslich des Films über die Panamericana-Fernstrasse und eines Filmporträts der Fotografen auf DVD. <wm>10CAsNsjY0MDAx1TU0MLWwMAcA9-o_vw8AAAA=</wm> Die zur Entstehungszeit zwischen ca. 1900 und 1920 aufwendig kolorierten Bilder des Ballonpioniers Eduard Spelterini erstmals in einem Buch: atemberaubende Fotografien von Alpen, Wüstenlandschaften und den Pyramiden. 14 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 30. Mai 2010 <wm>10CEXKOw6AIBBF0RVB3gDPAafkUxFj1Lj_pWhsLG5yijun0eOr9u3qhwmQ6ATMWY2FPiCpSQleuaiBLyFYhVEjAqP9v6vNncAAbojf23gAsB9fdF8AAAA=</wm> Gebunden, 152 Seiten 87 farbige und 17 sw Abbildungen ISBN 978-3-85881-303-9 sFr. 49.90 | E 37.– Gebunden, 288 Seiten 129 farbige und 283 sw Abbildungen ISBN 978-3-85881-302-2 sFr. 99.– | E 69.– www.scheidegger-spiess.ch Ute Scheub (rechts) ist freie Journalistin. Sie wurde 1955 in Tübingen geboren und studierte in Berlin Politologie, Germanistik und Publizistik. Scheub schreibt zu politischen Themen und engagiert sich in der Frauenfriedensbewegung. Ihr Buch «Heldendämmerung. Die Krise der Männer und warum sie auch für Frauen gefährlich ist» erschien dieses Frühjahr bei Pantheon (400 Seiten, Fr. 27.50). Die 57-jährige Louann Brizendine studierte Neurobiologie und Medizin. Sie arbeitet als Wissenschaftsautorin und Psychotherapeutin und ist Professorin für Neuropsychiatrie an der University of California in San Francisco. Ihr Buch «Das weibliche Gehirn» (2007) war ein Bestseller. Ihr neuestes Werk «Das männliche Gehirn. Warum Männer anders sind als Frauen» ist soeben auf Deutsch bei Hoffmann und Campe erschienen (300 Seiten, Fr. 34.90). Kunst I Fotografie I Architektur schaltkreise» – ein Wort, das in ihrem Buch «Das männliche Gehirn» auf jeder Seite dutzendfach vorkommt. Wie schon im Vorgänger «Das weibliche Gehirn» (2007) ist kaum je von einem Bewusstsein oder einem Ich die Rede. Unsere Gefühle, Gedanken und Handlungen werden von einem maschinenartigen Gehirn ferngesteuert. Männer sind «lösungsorientiert», denn ihr Gehirn gibt sich Ängsten nicht hin: «Wenn es ein Gefühl wahrgenommen hat, zapft es sehr schnell die temporal-parietalen Verknüpfungen an, um die kognitive Gefühlsverarbeitung abzuschliessen. Das männliche Gehirn gleicht einem Schnellzug: Es hält erst dann an, wenn es seinen Bestimmungsort erreicht hat.» Wenn es um Männer geht, greift Brizendine gern zu Verkehrsmittel-Metaphern, beispielsweise bei Matt, einem Patienten aus ihrer Praxis. Mit einem kleinen «Positronenemissionstomografen» fahren wir durch sein Gehirn. Wir wissen bereits, dass «der Penis ein Eigenleben führt», und nun schauen wir Matt unter dem Titel «Der Steuerknüppel in der Heimliche Sehnsucht nach Helden sehnen wir uns immer noch nach Männern, die Helden sind, und wenn wir im Alltag auch nichts mehr mit ihnen anzufangen wissen, dann umso mehr im Kino: Dass der Weltenretter in «Avatar» gelähmt ist, steigert nur seinen Helden-Appeal als Riesen-Android. Dass wir überhaupt über Geschlechterrollen diskutieren, ist eine Errungenschaft der 1960er Jahre, und wir vergessen leicht, dass wir die erste Gesellschaft der Menschheitsgeschichte sind, in der es keinen Konsens mehr darüber gibt, was von Männern und von Frauen erwartet wird. Doch nach fünfzig Jahren Geschlechterdebatten scheinen uns die Argumente auszugehen. Es verhält sich wie mit den einschlägigen Uno-Resolutionen, von denen Ute Scheub in ihrem Buch berichtet: Die Argumente und Absichten sind formuliert, nur umgesetzt werden sie nicht. Mittlerweile stossen wir auch sprachlich an eine Grenze: Ein Begriff wie «Gender Mainstreaming» ist in seiner Künstlichkeit kaum mehr zu überbieten. Er jagt einem Schauder über den Rücken – dabei drückt er etwas ganz Vernünftiges und Unspektakuläres aus: Es geht nur darum, Gesetze darauf hin zu überprüfen, welche Folgen sie für Männer und Frauen haben. Die Sprachnot ist ein Entfremdungssymptom, ebenso die Faszination mit Klischees. Wir flüchten uns in Zugehörigkeiten, die längst nicht so starr sind, wie wir es gern hätten. Denn für die Unterschiede zwischen den Geschlechtern gilt das Gleiche wie für die Unterschiede zwischen Völkern: Zwischen den Individuen einer Gruppe sind die genetischen Unterschiede grösser als zwischen den Gruppen. Wenn wir das begreifen könnten, würden vielleicht auch wieder Bücher über Männer und Frauen geschrieben, die eine Lektüre lohnen. l Scheidegger & Spiess Über die Männlichkeit, die sich angesichts der Widersprüche neu erfinden muss, möchte man in den neuen Publikationen gerne etwas mehr erfahren. Hose» beim Sex zu: «In dem Augenblick, da seine Freundin ihm grünes Licht gibt, ist er bereit, das Gaspedal durchzutreten und das gelobte Land anzusteuern.» Wir sehen, «wie alle Gehirnareale, die für Sex nicht notwendig sind, deaktiviert und dunkel werden. Sein Gehirn sendet an den Körper nur die Nachricht ‹Rein damit!›». Trostloser wurde über Liebe nie geschrieben – was bei Woody Allen in «Was Sie schon immer über Sex wissen wollten, aber nie zu fragen wagten» 1972 noch Parodie war, wird hier schlüpfriger Ernst. UTE SCHEUB / MICHAEL JANG Welt. «Der arabische Mann ist an den hohen Erwartungen seiner Gesellschaft gescheitert», sagt Marzarweh; obwohl das Patriarchat auch in den islamischen Ländern geschwächt sei, «fordern die Väter weiterhin Macht und Respekt und die Söhne weiterhin Schutz, denn sie wollen ihre Väter als Helden sehen». Über Männlichkeit, die sich angesichts solcher Widersprüche neu erfinden muss, hätte man gern mehr erfahren – ebenso über Rwanda, wo nach dem Genozid im Parlament fast 50 Prozent Frauen sitzen (die höchste Quote weltweit), oder über Norwegen, wo das Gesetz seit einiger Zeit in Aufsichtsräten eine Frauenquote von 40 Prozent vorschreibt. Ute Scheub erwähnt diese Entwicklungen zwar, jedoch ohne sie zu vertiefen. Während Ute Scheub das Augenmerk ganz auf die sozialen und politischen Bedingungen von Männlichkeit richtet, sind Männer für die amerikanische Neurobiologin und Psychotherapeutin Louann Brizendine nichts als die Summe ihrer Gene, Hormone und «Gehirn- Kolumne Charles Lewinskys Zitatenlese GAËTAN BALLY / KEYSTONE Wo nehm ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen? Charles Lewinsky, 63, ist Schriftsteller, Radio- und TV-Autor und lebt in Frankreich. Sein letztes Buch «Doppelpass» ist 2009 bei Nagel & Kimche erschienen. Kurzkritiken Sachbuch Rudi Palla: Verschwundene Arbeit. Brandstätter, Wien 2010. 264 Seiten, 335 Abbildungen, Fr. 56.90. Lars Schultze-Kossack (Hrsg.): Zur(e)ich brennt. Europa-Verlag, Zürich 2010. 255 Seiten, Fr. 26.–. Was ein Nagelschmied, was ein Schriftgiesser tut, das können wir uns noch vorstellen. Aber was stellt ein Schopper her, und was macht ein Schinder? Womit verdienten ein Löher oder ein Posamentierer ihr Geld? Der Autor liefert in seinem liebevoll illustrierten Nachschlagewerk ein A bis Z der Handwerke, die im 19. Jahrhundert noch praktiziert wurden und heute fast verschwunden sind. Belehrend und gleichzeitig unterhaltend erfahren wir von hoch spezialisierten Tätigkeiten wie dem Schwammstoffkrämer, der aus Baumpilzen samtweiche und federleichte Westen und Hosen herstellen konnte, indem er die Pilze in Aschelauge legte, trocknete, zuschnitt und zusammennähte. Wer könnte solches heute noch? Leider erfährt die interessierte Leserin nicht, welche Berufe damals auch den Frauen offenstanden. Es dürften – wie die Illustrationen zeigen – mehr sein, als man gemeinhin annimmt. Geneviève Lüscher Vor 30 Jahren – am 30. Mai 1980 – erschütterte der Opernhauskrawall Zürich. Der junge deutsche Verleger Lars SchultzeKossack will mit diesem neuen Jubiläumsbuch den alten Europa-Verlag von Emil Oprecht wiederaufleben lassen. Das zweite Ziel ist lobenswert, das erste misslungen. Der Sammelband stellt ein Konglomerat dar von Dokumenten der damaligen «Bewegig» (Flugblätter, Fotos, Covers), politischen Analysen (darunter ein bemerkenswerter Text von Hugo Bütler von 1981) sowie dem Nachdruck von Reto Hännys Bericht über seine Verhaftung «Zürich, Anfang September» (1981). Manches ist durchaus von historischem Interesse, anderes atmet den Geist jugendseliger Nostalgie oder des Schweiz-Lamentos damaliger Kulturschaffender. Alles scheint sehr, sehr fern, kaum noch aktuell. Zudem ist das Buch teils sprachlich unbeholfen und schlecht lektoriert: ein Fehlstart. Urs Rauber Niklas Maak: Der Architekt am Strand. Edition Akzente, Hanser, München 2010. 240 Seiten, Fr. 31.90. Victor Klemperer: LTI. Notizbuch eines Philologen. Philipp Reclam jun., Stuttgart 2010. 416 Seiten, Fr. 43.50. Le Corbusier war der Architekt der rationalen Moderne, der klare Baukörper bevorzugte und für seine urbanistischen Ideen auch brachiale Eingriffe nicht scheute. Nach 1945 gab er sich ein neues Image, liess sich eher am Strand statt mit Fliege und Anzug fotografieren und suchte Anregungen in der Natur. Die Kapelle in Ronchamp wurde mit ihrem muschelförmig geschwungenen Dach und ihrem mystisch aufgeladenen Innenraum zu einer Ikone des Wandels, auf den viele Zeitgenossen in heftiger Ablehnung reagierten. Seine neuen Anschauungen gewann der Architekt in Auseinandersetzung mit den Gedanken Paul Valérys. Niklas Maak zeichnetnach,wieLeCorbusierdieSchriften «Der Mensch und die Muschel» und «Eupalinos» des Philosophen und Muschelsammlers gelesen und missverstanden hat. Ein ebenso amüsantes wie aufschlussreiches Vergnügen. Gerhard Mack Scharf erkannte er, wie Hitlers Kürzelmanie dazu diente, eine verschworene Gemeinschaft zu suggerieren – und brauchte doch selbst ein Kürzel für sein Projekt: «LTI» für Lingua Tertii Imperii, Sprache des Dritten Reiches, heisst das Buch, an dem Victor Klemperer (1881– 1960), jüdischer Romanist in Dresden, in den Jahren seiner Verfolgung arbeitete. Als eigenwillige Mischung von Zeugenbericht, Tagebuch, Wörtersammlung und philologischer Analyse erzählt «LTI», wie sich Hitlers verlogen-sentimentale Sprache sämtlicher Lebensäusserungen im Dritten Reich bemächtigte, vom «Deutschen Katzenwesen» bis zur «stolzen Trauer» der Gefallenen-Anzeigen. «LTI» wurde zum Kultbuch der Nachkriegsjahre, zunächst in der DDR, dann auch im Westen. Nun liegt eine äusserst sorgfältig gestaltete und kommentierte Neuausgabe dieses Klassikers wieder vor. Kathrin Meier-Rust Karl Kraus Manchmal sind uns die Götter der Literatur gnädig. Sie bestrafen uns nicht, weil wir ein wichtiges Buch nie gelesen haben, sondern belohnen uns noch dafür. Indem sie uns in reifen Jahren ein Vergnügen schenken, das wir als junge Schnösel gar nicht richtig hätten geniessen können. Die Gnade der späten Lektüre, gewissermassen. Mir geht es immer wieder mal so. Denn ich muss gestehen: Ich habe ganze Buchhandlungen voller Bücher nie gelesen. Für einen «Bücher am Sonntag»-Kolumnisten bin ich definitiv nicht belesen genug. (Wobei mir das immer als falsche Verbform erschienen ist. Eigentlich müsste es doch heissen: «Für einen ‹Bücher am Sonntag›-Kolumnisten habe ich mich nicht genügend belesen.») Über meinen Bildungsmangel habe ich mich immer mit der Ausrede hinweggetröstet, dass man bei vielen Büchern die Zeit am besten investiert, indem man sie nicht liest. Als Nichtleser weiss man ja zum Glück nicht, was man verpasst. Peinlich wird es nur, wenn einem irgendwann ganz zufällig ein Buch in die Hand gerät, an dem man desinteressiert vorbeigegangen ist. Und man dann feststellt, welchen Lesegenuss man sich da hat entgehen lassen. Mir ging das gerade so mit einem Roman von … Nein, halt, machen wir doch ein kleines Quiz daraus. Wenn Sie das Buch kennen, dann wird Sie die Wortmächtigkeit und Formulierungsphantasie des folgenden Zitates schon nach dem ersten Halbsatz wissend nicken lassen. Wenn Sie es aber, so wie ich, immer verpasst haben, dann gratuliere ich Ihnen von Herzen. Zu dem Lesespass, den sie noch vor sich haben. Hier also das Zitat. Es geht um die Beschreibung einer Blasmusikprobe: «Im Gang hört man zuerst nur ein Räuspern und Stühleschirken, ein Antuten, Anfurzen und Anprusten, ein Hintergrundgrunzen, Hinaufventilieren und Zugstöhnen, ein Herumdudeln, Nachmuhen und Bassgrochsen, bis sich das Klöpfeln des Dirigentenstocks durchsetzt.» Wiedererkannt? Dann sind Sie jetzt wahrscheinlich schon unterwegs zu Ihrem Bücherregal, um die Bekanntschaft zu erneuern. Und sonst: Kaufen, ausleihen, stehlen! Es gibt eine wunderbar verschrobene Schulmeisterund Friedhofsgeschichte zu entdecken. «Schilten», von Hermann Burger. Zum ersten Mal erschienen 1976. In einem Jahr, in dem ich offensichtlich genügend Zeit hatte, um ein so faszinierendes Buch nicht zu lesen. 30. Mai 2010 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 15 © Escargot Productions / Carey Moor Der neue Roman von Peter Mayle – lustvoll und unverschämt raffiniert . Sachbuch Biografie Er schrieb Weltliteratur und verzehrte sich nach der reinen Liebe. Eine neue Monografie lässt den französischen Schriftsteller Stendhal wieder aufleben «Hättest Du lieber drei Frauen gehabt?» <wm>10CAsNsjY0MDAx0jUwMDA2MQUAuAGWBw8AAAA=</wm> <wm>10CEXLMQ6AIBBFwRNB3gI_iFsiVsYYNd7_KCY2FlPOtrkinz72e5xuUFIAcpGbFBtF5nVStFarIyNhzEZGuQn_Q-hLuGCFB4vHsr64o4iQYAAAAA==</wm> Johannes Willms: Stendhal. Biographie. Hanser, München 2010. 333 Seiten, Fr. 42.90. Von Andreas Tobler Deutsch von Ursula Bischoff Gebunden mit Schutzumschlag 256 Seiten | 31,90 CHF (empf.VK-Preis) Französische Spitzenweine im Wert von drei Millionen Dollar sind in Los Angeles aus einem Weinkeller gestohlen worden. Die Spur führt nach Marseille ... Eine spannende Handlung voller Esprit, Charme und Flair. Nähere Infos und Leseprobe auf www.blessing-verlag.de 16 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 30. Mai 2010 Ihm waren neunundfünfzig Jahre und drei Monate beschieden. Die letzten fünfundzwanzig Jahre seines Lebens schrieb er unter dem Pseudonym, unter dem wir ihn heute kennen: Marie-Henri Beyle, geboren 1783 in Grenoble, gestor- Stendhal (1783–1842) Stendhal, eigentlich Marie-Henri Beyle, schuf mit den Romanen «Rot und Schwarz» (1830) und «Die Kartause von Parma» (1839) zwei Monumente der Weltliteratur. Zu den wichtigsten Ereignissen seines ausserliterarischen Lebens zählen die Teilnahme an Napoleons Italienfeldzug von 1800 und die Jahre in Braunschweig (1806–1808), wo er eine Zeitlang als Kriegskommissar der französischen Besatzungsmacht wirkte. 1812 nahm Stendhal am Russlandfeldzug teil und erlebte den Brand von Moskau als «ein grossartiges Spektakel». Den Rückzug der Grande Armée überlebte er unbeschadet. Nach dem Sturz Napoleons begann Stendhal in Mailand und Paris seine Schriftstellerkarriere voranzutreiben. ben 1842 in Paris nach einem Schlaganfall, unsterblich geworden mit seinen Romanen «Rot und Schwarz» und «Die Kartause von Parma», die er als Stendhal veröffentlichte. Auf seinen Grabstein wollte Stendhal die folgenden Worte setzen lassen: «Arrigo Beyle, Milanese. Visse, scrisse, amò. Quest’anima adorava Cimarosa, Mozart e Shakespeare.» Auf Deutsch: «Arrigo Beyle, Mailänder. Er lebte, schrieb, liebte. Diese Seele verehrte Cimarosa, Mozart und Shakespeare.» Wie es dazu kam, dass der Pariser Salonlöwe sich als Mailänder fühlte, warum der Romancier auf seinem Grabstein mit Shakespeare ausgerechnet einen Dramatiker aus seinem literarischen Pantheon hervorhob, warum er darauf bestand, der Nachwelt die Information zukommen zu lassen, dass er nicht nur gelebt und geschrieben, sondern – last but not least – auch geliebt hatte, erläutert Johannes Willms im grossen Bogen seiner ausgezeichneten Stendhal-Biografie. Mit ihr hat der Kulturkorrespondent der «Süddeutschen Zeitung» in Paris nach Napoleon und Balzac einen weiteren Heroen aus Frankreichs Ruhmeshalle in einem eingängigen Buch porträtiert. Sehnsuchtsstadt Mailand «Mailand umfängt mich mit sehr zarten Erinnerungen. Hier verbrachte ich die süssen Jugendjahre. Hier habe ich am intensivsten geliebt. Hier auch wurde BIANCHETTI / LEEMAGE als Verkleidung aufgesetzt hatte. Mailand war für Stendhal zum verbotenen Paradies und zum Ort seiner ungestillten Sehnsucht geworden. Vergeblich waren in Stendhals Leben aber vor allem seine kraftvollen Liebesmühen. Denn bei allen amourösen und sexuellen Aktivitäten, die er entfalten konnte und die ihm als Erinnerung an seine Zeit in Braunschweig eine – damals unheilbare – Syphilis eintrugen, blieb seine Suche nach der grossen Liebe vergeblich, die seinem Leben ausserhalb der Literatur einen tieferen Sinn zu geben vermochte. Anschaulich schildert Willms, wie Stendahl – obwohl alles andere als ein Beau – in jungen Jahren in Gedanken einem Donjuanismus anhing, sich in die Rolle eines ausgebufften Schwerenöters vom Schlage eines Valmonts aus Choderlos de Laclos’ «Liaisons dangereuses» träumte. Bald wähnte er sich in der Rolle eines Saint-Preux aus der «Nouvelle Héloïse», dann wieder ging er Liebschaften ein, die nur seiner éducation sentimentale dienten, die also von vornherein als Experimente angelegt waren, um ausserhalb der Welt der Bücher praktische Erfahrungen in der Liebe sammeln und sich schon bald wieder die nächste Protagonistin für seinen Lebensroman suchen zu können. Von Balzac geadelt mein Charakter entscheidend geprägt. Jeden Tag wird mir aufs neue bewusst, dass ich ein italienisches Herz habe», heisst es in einem Brief, in dem Stendhal Rückschau auf sein Leben hielt. Eine erste Bekanntschaft mit Italien und seiner späteren Sehnsuchtsstadt Mailand machte Stendhal auf Napoleons Italienfeldzug von 1800, an dem er als ein nicht uniformierter Hilfsarbeiter im Truppenverwaltungsdienst einer Invasionsarmee der Nachhut teilnahm. «Was! Mehr ist es nicht?», soll der damals 17-jährige Stendhal wiederholt während des Feldzugs gefragt haben, den der junge Mann offensichtlich mit der Abenteuer- und Sensationslust eines Schlachtenbummlers erlebte. Den St. Bernhard überquert, hörte er erstmals eine Oper von Domenico Der Lebemann und Romancier Stendhal entfaltete amouröse Aktivitäten und suchte Shakespeare nachzueifern (Porträt 19. Jahrhundert). Cimarosa, und in Mailand konnte er die Scala besuchen, ein erhebendes Erlebnis, das sich in den Jahren nach 1814 regelmässig wiederholen konnte, als sich Stendhal in Mailand niederliess. Doch im Juni 1821, sechs Jahre nach dem Ende der Besatzung durch Napoleon, wurde das Pflaster von Mailand zu heiss für ihn: Die österreichische Obrigkeit verdächtigte ihn, ein gefährlicher Liberaler zu sein, und die Mailänder Gesellschaft wähnte in ihm einen französischen Spitzel. Stendhal sah sich dazu gezwungen, Mailand zu verlassen. Weitere sechs Jahre später sollte er nochmals einen verzweifelten Versuch unternehmen, sich in seiner geliebten Stadt mit dem Dom und der Scala niederzulassen. Vergeblich. Man erkannte ihn trotz der teuren Perücke, die er sich Rückblickend wirken diese zahlreichen, letztlich immer schmerzvollen Liebesbemühungen wie eine Erfahrungsschule, eine Vorbereitung auf die grossen Romane, die Stendhal nach einigen dubiosen und wenig gelungenen Buchpublikationen erst jenseits der vierzig schreiben konnte, nachdem er sich während Jahren mit Dramen abgemüht hatte, weil er von der fixen Idee besessen war, dass es ein Patentrezept für Stücke im Range eines Shakespeare gibt. Noch ein Jahr vor seinem Tod, als «Die Kartause von Parma» bereits von Balzac mit einer hundertseitigen Kritik geadelt worden war, stellte sich Stendhal in seinem Tagebuch die Frage: «Hättest Du lieber drei Frauen gehabt oder diesen Roman geschrieben?» Die Beantwortung dieser Frage war zu diesem Zeitpunkt nur noch ein Gedankenspiel. Die Frage, ob er Schöpfer von Weltliteratur sein oder ein erfülltes Liebesleben haben möchte, war – wie Willms schreibt – «letztinstanzlich» entschieden. Demütig blickt man in diesem Moment auf die Stendhal-Bände im Bücherregal, auf den Roman «Rot und Schwarz» und auf «Die Kartause von Parma», die der HanserVerlag kürzlich in der ausgezeichneten Übersetzung von Elisabeth Edl herausgebracht hat: Was für wundervolle Bücher Stendhal den «happy few», seinen Lesern, geschenkt hat, denen er seine beiden grossen Romane widmete! Und doch trauert man in diesem Moment um den Menschen Henri Beyle, der mit Willms’ Biografie vor unseren Augen auflebt, der Weltliteratur schrieb und sich doch – last but not least – mit ungestilltem Verlangen nach der reinen Liebe verzehrte. l 30. Mai 2010 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 17 Sachbuch Voodoo Vor der Fussball-Weltmeisterschaft in Südafrika stellt sich die Frage, welchen Anteil Hexerei und Rituale am Sieg haben Siebzig Prozent Zauber, dreissig Prozent Training Oliver G. Becker: Voodoo im Strafraum. Fussball und Magie in Afrika. C. H. Beck, München 2010. 198 Seiten, Fr. 17.90. Von Martin Helg ANDREAS MEIER Fussball bleibt mysteriös. Noch nie hat eine Mannschaft ein Turnier am Reissbrett gewonnen, und dennoch grassiert weltweit der Aberglaube, der Ausgang von Spielen lasse sich durch Technik und Taktik in den Griff bekommen. Weltweit? Nicht ganz. In Afrika jedenfalls, wo in den nächsten Wochen die Weltmeisterschaft in Szene geht, gibt es noch ein paar Dinge mehr zwischen Himmel und Erde – Séancen auf Friedhöfen, geköpfte Hähne und vergrabene Fuchskadaver sind Ausdruck des Bemühens, okkulte Mächte in die Strategiepläne einzubeziehen. «Die Spieler sollen nicht zu viel trainieren», hat ein ugandischer Heiler einmal geraten. «Sie sollten 70 Prozent Zauberei benutzen und 30 Prozent Training.» Zum Wesen der Hexerei gehört, dass sie ihre Rezepte geheim hält. Dennoch ist es dem Politologen und Dokumentarfilmer Oliver G. Becker gelungen, den Magiern auf die Finger zu schauen. 18 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 30. Mai 2010 Sogar eine Kamera durfte er mitnehmen, als er für den Dokumentarfilm «Kick the Lion» (2006) drei Monate lang durch Südafrika, Swasiland, Uganda, Tansania und Ghana reiste. Becker sprach mit Spielern, Trainern und Wunderheilern, erlebte «Geschichten von beglückender Lebensfreude» und tauchte in «Lebenswelten, deren Düsternis den Betrachter mit Grauen erfüllt». So sehr liess er sich von seinem Thema verhexen, dass er es jahrelang weiterverfolgte und nun ein Buch nachlegt. Löwenfett am Trikot Wie also wird’s gemacht? Beim südafrikanischen Klub Huntington United etwa erkundigt sich der Trainer vor dem Spiel beim Heiler des Klubs nach der magischen Taktik des Gegners und lässt sich den entsprechenden, je nach Mannschaftsteil variierenden Gegenzauber verschreiben. Dann werden die Trikots in einem Bottich mit Tier- und Pflanzenteilen behandelt. Hufe von Zebras fördern Schusskraft und Ausdauer, Hände von Affen die Sprungkraft. Etwas Löwenfett, am unteren Rand seines Goalie-Trikots angebracht, damit der Torhüter den Ball daran reiben kann, bevor er ihn abschlägt, lässt die Stürmer mit der Stärke von Löwen auftreten. Wegen ihrer Beweglichkeit und hohen Verfügbarkeit beliebt sind zudem schwarze Hähne; aber auch weisse Kühe, lebendig begraben, kommen zum Einsatz. So befremdend solche Bräuche Mitteleuropäern vorkommen mögen: Das Schweizer Sturmtalent, das den Rasen nur mit dem rechten Fuss betritt, der deutsche Trainer, der im Team-BuildingWorkshop über glühende Kohlen geht, sie sind gar nicht so weit von der Voodoo-Praktik entfernt. Hier wie dort dient das Ritual, psychologisch gesprochen, dazu, den Glauben an den Erfolg autosuggestiv zu bekräftigen. Im Fall von Voodoo können die Psycho-Praktiken allerdings schnell in Widerspruch zum Fairplay-Gedanken führen – nämlich dann, wenn sie auf die Schwächung des Gegners zielen. So berichtet ein malischer Magier von einem Medikament, das Fussballer befähigt, sich im gegnerischen Strafraum zu verdoppeln. Der Coach des südafrikanischen Klubs Kaizer Chiefs erzählt, wie er bei Auswärtsspielen wiederholt stinkende Tierteile und blutverschmierte Wände in der Kabine vorfand. Wenn solche Provokationen den Zorn der Massen erregen, wird es gefährlich. Als im Dezember 2008 der Goalie des kongolesischen Klubs Nyuki Systems in den gegnerischen Strafraum stürmte, um einen Fetisch, den er dort vermutete, mit einer flüssigen Substanz zu neutralisieren, kam es zu einer Prügelei mit Massenpanik. 13 Menschen starben. Weltmeister aus Afrika Zuschauer, Doktor, Naturheiler oder einfach Showeinlage? Afrika Cup 2008 in Accra, Ghana. Solche Kollateralschäden sind aber nicht das einzige Risiko der Hexerei. Viel häufiger kommt es vor, dass eine Voodoo-Prozedur nicht zum Ziel führt – zumal der Gegner ja mit ähnlichen Mitteln operiert. Wenn nicht sogar mit besseren: Das behaupten Witch-Doctors, deren Methoden versagt haben, um noch mehr Geld für Hexen-Material zu fordern. Meist stossen sie bei Klub- und Verbandspräsidenten auf offene Ohren. In Tansania sollen Nationalspieler nicht bezahlt worden sein, weil der ganze Etat an die Magier ging. Durch kein Geld der Welt zu beseitigen ist allerdings der Missstand, dass magische Praktiken einem Team den Schlaf rauben können – dies deshalb, weil sie im Dunkeln besser funktionieren als bei Tageslicht. Wer aber die ganze Nacht auf dem Friedhof die Toten anruft, dem fehlt am nächsten Tag die Spritzigkeit. Allen magischen Fertigkeiten zum Trotz ist noch nie ein afrikanisches Team Weltmeister geworden. Zur WM 1974 in Deutschland liess der zairische Staatspräsident Mobutu Sese Seko neun als Betreuer getarnte Witch-Doctors einfliegen, trotzdem verlor Zaire 0:9 gegen Jugoslawien. Aber Achtung: Innerhalb Afrikas soll Voodoo weit besser funktionieren! Obwohl Oliver G. Beckers Einführungswerk dem Anfänger durchaus einen Begriff davon gibt, was Magie im Fussball so ungefähr sein könnte, reicht es als Wegleitung zum Gewinn der Weltmeisterschaft wohl nicht aus. Nichtafrikanische Titelanwärter tun deshalb gut daran, sich direkt am Kap der Guten Hoffnung nach einschlägigen Kontakten zu erkundigen. l Islam Ayaan Hirsi Ali fordert eine bessere Integration und warnt vor Kulturrelativismus Der Schleier, der die Trägerin versklavt Ayaan Hirsi Ali: Ich bin eine Nomadin. Mein Leben für die Freiheit der Frauen. Piper, München 2010. 347 S., Fr. 34.90. Leidenschaftlich und kämpferisch ist das neue Buch von Ayaan Hirsi Ali. Nach dem fulminanten Plädoyer gegen Genitalverstümmelung «Ich klage an» (2006) und ihrer Autobiografie «Mein Leben, meine Freiheit» (2007) richtet sich die 41-jährige Islamkritikerin «mit dem Look eines Pariser Models und der Schärfe einer Anklägerin des Haager Strafgerichts» («Die Zeit») nun an den Westen. Bejubelt und verfolgt, musste die Somalierin nach dem Mord an Theo van Gogh, mit dem sie in den Niederlanden den Film «Submission» realisiert hatte, teilweise in den Untergrund. Heute lebt sie in den USA und ist dank ihren Bestsellern zu einer Ikone der Frauenbewegung geworden. Ihre zentrale Botschaft lautet: Der Westen muss mit den Befürwortern des Heiligen Krieges einen Kampf um die Herzen der muslimischen Immigranten führen. Er muss ihnen Bildung geben, die Frauen schützen und eine andere Spiritualität anbieten. Für Ayaan Hirsi Ali sind die verschiedenen Formen des muslimischen Schleiers nur Stufen der geistigen Versklavung. Er schottet Frauen von den Männern und von der Welt ab. Hirsi Ali schildert ihre Herkunft, Traditionen und Familie: Vater, Mutter, Schwester, Bruder, ihre Cousins und Halbcousinen. Ihr Buch ist eine schmerzhafte Reise zurück zu den Wurzeln, offen und selbstkritisch. Immer noch plagen sie Schuldgefühle gegenüber ihrem Clan, weil sie sich zur Schande ihrer Eltern von der Religion ab- und westlichen Werten zugewendet hat. Es war ihr persönlicher Weg der Befreiung von Rückständigkeit und patriarchalem Verhalten, hin zu Toleranz, individuellem Verantwortungs- und Pflichtgefühl, zu Offenheit und Fortschritt. Es wäre nach Hirsi Ali auch der Weg der islamischen Gesell- JUSTIN JIN / PANOS Von Urs Rauber Musliminnen in Grossbritannien: Ayaan Hirsi Ali plädiert fulminant für die Befreiung der Frauen. schaft, die durch Immobilismus und Unterdrückung der individuellen Freiheiten sonst im Dunkeln der Armut und Vergangenheit versinke. 2006 wurde Hirsi Ali von der niederländischen Immigrations-Ministerin Rita Verdonk die Staatsbürgerschaft entzogen, weil bekannt wurde, dass sie im 15 Jahre zurückliegenden Asylverfahren geschwindelt hatte (sie hatte politische Verfolgung statt die Flucht aus einer Zwangsehe vorgeschützt). Doch der Sturm in Parlament und Öffentlichkeit war derart gross, dass Verdonk den Entscheid zurückziehen musste und darob die Regierung stürzte. Trotzdem entschloss sich Hirsi Ali, in die USA auszuwandern, wo sie seither für einen wirtschaftsnahen Think-Tank arbeitet. Seither reist sie, auch wenn die Angst vor fanatischen Muslimen nicht ganz weg ist, im Land herum, hält Vorträge und warnt vor der Zunahme «verschleierter Schulmädchen» und vor dem Vormarsch des radikalen Islams im Westen. Ihr Buch stellt eine Mischung dar aus biografi- schen Passagen – ihr Nomadenleben, das sie aus Somalia über Kenya, Äthiopien und die Niederlande in die USA führte – und Reflexionen über die grundlegenden Mängel und Schwächen ihrer Religion. Als Lösung skizziert sie drei Hauptforderungen für die Intergration von Muslimen im Westen: Selbstbestimmung der Frauen in der Sexualität, Übernahme von Verantwortung in finanziellen Angelegenheiten, Durchsetzung des Gewaltverzichts in Erziehung und Alltag. An den Islam richtet sie die Forderung, sich in jeder Hinsicht zu öffnen. Seine Aufklärung stehe ihm erst noch bevor. Hirsi Ali kritisiert aber auch den Kulturrelativismus gewisser westlicher Feministinnen – sie nennt stellvertretend Germaine Greer –, die sich bei der Kritik an afrikanischer Genitalverstümmelung seltsam zurückhielten. Dem sehr engagierten Buch Hirsi Alis sind gerade jetzt, da sich der fundamentalistische Islam in westlichen Ländern ausbreitet, möglichst viele Leserinnen und Leser zu wünschen. l neuerscheinungen bei hier + jetzt In der Bergbahn von der Muse geküsst Schafwirtschaft in extremis embrüf, embri Die Heimkehr der Schafe Thomas Schuppisser, Michael T. Ganz 144 S., 100 Abb., gebunden Fr.58.–, € 34.80 «Die kühnste Bahn der Welt» Die Rhätische Bahn in Literatur und Kunst Hg. Hans Peter Häberli 276 S., 58 Abb. und Karten, gebunden Fr.48.–, € 28.80 hier + jetzt, Verlag für Kultur und Geschichte GmbH Postfach, ch-5405 Baden, Tel. +41 56 470 03 00, Fax +41 56 470 03 04 Bestellungen per E-Mail: order@hierundjetzt.ch Die heilende Kraft der Schweizer Natur <wm>10CAsNsjY0MDAx1TU0sDQxMgAAAtF4mA8AAAA=</wm> <wm>10CEXKMQ6AIBBE0ROxmd0wQdwSoSIWajyBsfb-lcTG4jU_v3en4FPqetTNFYgMihxt9EyxRNdskkgH1QyKGRONA_y_Q1nCDjTghMpz3S8QOPbNXQAAAA==</wm> Zauber Berge Die Schweiz als Kraftraum und Sanatorium Hg. Felix Graf und Eberhard Wolff 180 S., 76 Abb., broschiert Fr.38.–, € 23.80 Russische Pionierinnen in der Schweiz Ganz Europa blickt auf uns! Das schweizerische Frauenstudium und seine russischen Pionierinnen Franziska Rogger, Monika Bankowski 292 S., 128 Abb., gebunden Fr.48.–, € 32.80 www.hierundjetzt.ch 30. Mai 2010 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 19 Sachbuch Frauenfreundschaft Die Germanistin Angela Steidele schreibt die Geschichte der leidenschaftlichen Liebe zwischen Adele Schopenhauer und Sibylle Mertens Intime weibliche Bekenntnisse Angela Steidele: Geschichte einer Liebe – Adele Schopenhauer und Sibylle Mertens. Insel, Berlin 2010. 335 Seiten, Fr. 42.90. Von Kirsten Voigt Zu einer Liebesgeschichte gehören leider meist nicht nur zwei. Das ist ein Umstand, der liebesmüde macht. Die Geschichte, die Angela Steidele souverän und sachlich, eng entlang an der Fülle von ihr ausgewerteter historischer Quellen erzählt, war reich an allem, was eine Liebe gross und schmerzlich werden lässt. Denn in die Beziehung von Adele Schopenhauer (1797–1849) und Sibylle Mertens (1797–1857) mischten sich nicht nur ein Ehemann, sechs Kinder, eine Mutter und ein Bruder, sondern auch reichlich attraktive Nebenbuhlerinnen ein – darunter sogar die Schriftstellerinnen Annette von DrosteHülshoff und Anna Jameson. Mit Liebeshändeln und Herzeleid hatte Adele Schopenhauer, die Schwester des Philosophen Arthur Schopenhauer, schon in Weimar prägende Erfahrungen gesammelt, wo ihre Mutter Johanna ihren berühmten Salon unterhielt. Dort war der kleinen Adele Goethe zu einem über die Vielfalt ihrer Talente entzückten Ersatz-Vater geworden, dort erwarb sie ihre literarische und kunstkritische Kompetenz, aber auch ihre Fähigkeit, die Freunde in anmutigen Scherenschnitten zu porträtieren. Mit siebzehn eröffnete sie ihrer Freundin Ottilie von Pogwisch, was in ihr vorging: «Mit jeder Kraft meines Daseyns liebe ich Dich, mit jedem Gefühle, das in mir ist.» Zu mehr als Freundschaft mit Frauen empfand Ottilie allerdings keine Neigung – die richtete sich vielmehr ganz auf August, den Sohn Goethes, den sie 1817 heiratete. Für Adele der bohrendste Kummer ihres Lebens. der Konvention, wovon auch Dokumente zeugen, die Steidele vor dem Einsturz des Kölner Stadt-Archivs exzerpierte und so teilweise rettete. Steideles Verdienst ist es ausserdem, dass sie – anders als mancher Philologe vor ihr – die Äusserungen ihrer Protagonistinnen unverbrämt wörtlich nimmt, intime Bekenntnisse auch als das liest, was sie waren: Ausdruck erotischer Bedürfnisse und sexuellen Begehrens. Die hier dokumentierten Frauenleben wie auch Steideles bewegendes Doppelporträt sind die glänzendste Widerlegung all jener verheerenden Äusserungen von Adeles Bruder Arthur Schopenhauer über Frauen, der ihnen Verstand, die Fähigkeit zur Selbstbestimmung und jeglichen Sinn für Kunst und Wissenschaft absprach. l So lebte man zwischen 1829 und 1834 zusammen, hatte wohl in einer heimlichen Zeremonie, von der ein Gedicht Adeles zeugt, sogar «geheiratet»: «Du aber bleibst nun meine Welt / Im Ring, der uns zusammenhält.» Doch Louis Mertens hintertrieb die Beziehung, und Sibylle zeigte sich anfällig für Avancen anderer Damen. Adele widerlegt Arthur So trennten sich Sibylle und Adele für sieben Jahre – auf der Suche nach Unabhängigkeit. Im Jahr 1842 stirbt Mertens. Dieses Ableben öffnet ihnen den Rückweg in ihre nun vertiefte Beziehung. Beide hatten sich in ihren Briefen, die Angela Steidele sorgsam und ohne Beschönigungen auswertet, selbst erforscht, ihren Gefühlen mehr vertraut als Fotografie Inszenierte Wirklichkeit Infiziert mit der Antike Zur selben Zeit wird im von Steidele farbig beschriebenen Köln Sibylle als Tochter des Bankiers Abraham Schaaffhausen geboren. Er ist ein enger Freund des Kunstsammlers Ferdinand Franz Wallraf. In dessen chaotischem Sammlungskosmos infiziert sich Sibylle mit jener Leidenschaft für die Antike, die sie schliesslich zu einer der bedeutendsten Altertumskundlerinnen ihrer Zeit werden lässt. Im Jahr 1816 wird sie dem geistlosen Bankkaufmann Louis Mertens zur Frau gegeben, mit dem sie nach Ansicht der Droste eine «Höllenehe» führte. Als Adele und Johanna Schopenhauer 1828 den Salon der «Rheingräfin» Mertens-Schaaffhausen besuchen, sind sie fast bankrott. Sibylle verliebt sich stürmisch in Adele, versteht es, Mutter und Tochter zur Übersiedlung an den Rhein zu bewegen und finanziert sie generös. 20 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 30. Mai 2010 Marianne Breslauers Porträt von Annemarie Schwarzenbach ist längst zur Ikone geworden. Das Werk der Fotografin umfasst aber viele weitere Bilder von Frauen – an der Arbeit, in der Freizeit (oben: am Ufer der Havel in Sacrow, Potsdam 1934). Breslauer fotografierte den damals modernen Frauentyp: Mit eng am Kopf liegender Kurzhaarfrisur und meist Zigarette rauchend verkörpern diese Frauen eine der ersten selbstbewussten, berufstätigen Generationen im Berlin der zwanziger und dreissiger Jahre, zu der sich auch Breslauer zählt. Als Fotografin übt sie einen Beruf aus, der damals geradezu als Verkörperung dieser modernen Frau gilt. Sie ist begabt und bildet sich in Paris bei Man Ray weiter. Ihre Bilder verraten eine gute Beobachterin, die gekonnt Licht und Perspektive einzusetzen weiss. 1936 emigriert sie, da sie ihrer jüdischen Wurzeln wegen in Deutschland nicht mehr publizieren darf, nach Amsterdam, wo sie Walter Feilchenfeldt heiratet. Das Paar richtet sich in Zürich eine neue Existenz im Kunsthandel ein. Das fotografische Werk kommt erst nach dem Tod Marianne Breslauers 2001 wieder zum Vorschein. Die Fotostiftung Schweiz hat der Fotografin wenige Wochen nach dem 100. Geburtstag in Winterthur eine Ausstellung ausgerichtet. Geneviève Lüscher Marianne Breslauer: Fotografien. Kathrin Beer, Christina Feilchenfeldt (Hrsg.). Nimbus, Wädenswil 2010. 216 Seiten, Fr. 88.–. Weltwirtschaft Nobelpreisträger Joseph Stiglitz handelt seine alten Thesen an neuen Entwicklungen ab – nicht ganz frei von Moralisierung und Allgemeinplätzen Es war kein Unfall – der Wurm sitzt im System Joseph Stiglitz: Im freien Fall. Vom Versagen der Märkte zur Neuordnung der Weltwirtschaft. Siedler, München 2010. 448 Seiten, Fr. 43.90. Wer sich schon länger mit der Person des Nobelpreisträgers Joseph Stiglitz und seiner Kritik am Weltwirtschaftssystem befasst, findet in dessen jüngstem Buch vielleicht nicht viel Neues. Doch die Lektüre lohnt sich selbst dann, wenn man sich «nur» darin bestätigt fühlt, was man bisher schon mit dem Volkswirtschaftsprofessor an der Columbia University verbunden hat. Der ehemalige Berater von US-Präsident Clinton und Ex-Chefvolkswirt der Weltbank stellt die Verantwortlichen – Aufsichtsbehörden, Gesetzgeber, Notenbanken, Financiers – der grössten Finanzkrise seit der grossen Depression in den dreissiger Jahren sowie deren volkswirtschaftliche Modelle an den Pranger. Eindrücklich und gut verständlich fasst er die Gründe der Krise zusammen und zeigt schematisch auf, wie man das System auf eine gesundere Grundlage stellen könnte. Gewusst, aber ignoriert Grundsätzlich glaubt der Ökonom daran, dass im Zentrum aller erfolgreichen Volkswirtschaften die Märkte stehen. Er ist aber ebenso davon überzeugt, dass sie aus eigener Kraft nicht richtig funktionieren. «Volkswirtschaften brauchen ein Gleichgewicht zwischen der Rolle von Märkten und der Rolle des Staates», predigt Stiglitz seit Jahren. Den Grund für die Ineffizienz der Märkte sieht der Krisen-Veteran in der sogenannten Informations-Asymmetrie: Wenn alle alles gleichzeitig wüssten, könnten Märkte effizient funktionieren. Doch das ist unmöglich; ergo kommt es immer wieder zu Blasen und Verzerrungen. Viele Experten, so auch die Chefs der amerikanischen Notenbanken, hätten dies zwar gewusst, glaubt der Autor – doch hätten sie ihre Erkenntnisse über Jahre ignoriert. Immer wieder landet Stiglitz so bei seiner Grundsatzkritik: Die (gekauften) Politiker und Regulatoren hätten die Märkte viel zu stark dereguliert; die Anreize seien falsch, Gier würde belohnt und Ressourcen würden fehlgeleitet. Das Versagen des Finanzsystems ist für den Nobelpreisträger Sinnbild für ein allgemeines Versagen des Wirtschaftssystems. Nicht ein «Unfall» sei passiert, nein, sondern der Wurm sitze im ganzen System. Nicht verschont mit Kritik wird seine eigene Gilde, die Wirt- MARY ALTAFFER / AP Von Charlotte Jacquemart Betrüger und Treiber der Finanzkrise: Bernard Madoff vor dem Bundesgericht in New York, am 12. März 2009. schaftswissenschafter: Sie hätten mit ihren starren, mathematischen Modellen zum Absturz beigetragen, weil die Konzepte zu falschen politischen Massnahmen geführt hätten. Auch würden heute falsche, wirtschaftliche Kennzahlen gemessen, die für die Wirtschaftssubjekte falsche Anreize schaffen würden. Als Beispiel nennt er das Bruttoinlandprodukt (BIP), das in allen Ländern gemeinhin als «Wohlstandsindikator» erhoben wird. Nicht von ungefähr ist es Stiglitz, der die vom französischen Präsidenten Nicolas Sarkozy eingesetzte Expertenkommission leitet, die neue aussagekräftigere Wohlstandsbarometer erarbeiten soll. Den Beweis dafür zu erbringen, dass die heutige Messung das Wohlbefinden der Bürger verzerrt wiedergibt, fällt dem Ökonomen leicht: Die individuelle Wohlfahrt der Bürger ist in den letzten Jahren in vielen Ländern gesunken, obwohl das BIP gewachsen ist. Das bringt Stiglitz zum Schluss, dass wir heute das «Falsche messen». In den hinteren Kapiteln des Buches, in denen Massnahmen aufgelistet sind, wirkt der Professor dann oft etwas moralisierend. Die Gefahr von Allgemeinplätzen ist offensichtlich, wenn es heisst: «Der Staat muss Regeln aufstellen, die für Vollbeschäftigung, Innovation und ökonomische Stabilität sorgen; Bürger dürfen nicht ausgebeutet und müssen sozial abgesichert werden.» Finanzmärkte und Staat hätten die Men- schen «zwar im Stich gelassen», aber ohne die beiden funktioniere die Wirtschaft nicht. Stiglitz nennt es «neue Marktwirtschaft», nachdem die «alte» versagt habe. Leise Hoffnung auf Besserung Grundsätzlich glaubt der Autor, dass man den «Aufbau einer neuen Marktwirtschaft» schaffen kann. Skeptisch stimmt ihn jedoch, wer für den Neubeginn verantwortlich ist. Für ihn ist unverständlich, dass man die gleichen Leute mit der Reparatur des Systems beauftragt hat, welche den Fast-Kollaps herbeigeführt haben. «Diese Krise war das Resultat von Handlungen, Entscheidungen und Argumenten von Finanzmarktakteuren. Das System, das so jämmerlich versagte, fiel nicht vom Himmel. Es wurde erschaffen.» So fällt es den Lesern vermutlich schwer, Stiglitz’ Fazit «Aufbruch zu einer neuen Gesellschaft» wirklich zu glauben. Nämlich, dass die Krise gleichzeitig eine Chance sei, und die eigentliche Gefahr nur darin bestünde, sie nicht zu ergreifen. Viel eher ist man geneigt, dem Vorwort beizupflichten: Infolge der grossen Depression der dreissiger Jahre habe die Welt eine Wirtschaftsordnung geschaffen, die – nach dem 2. Weltkrieg zumindest – Wachstum und Stabilität gebracht hat. Daraus leitet Stiglitz ab: «Es besteht die leise Hoffnung, dass uns dies ein weiteres Mal gelingen wird.» Hoffnung ja, aber nur leise. l 30. Mai 2010 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 21 Sachbuch Memoiren Die iranische Bestsellerautorin Azar Nafisi schreibt über ihre Kindheit und die schwierige Beziehung zu ihrer Mutter Gefangen im Netz der Familie Azar Nafisi: Die schönen Lügen meiner Mutter. Erinnerungen an meine iranische Familie. Aus dem Amerikanischen von Maja Ueberle-Pfaff. DVA, München 2010. 392 Seiten, Fr. 39.90. Von Klara Obermüller STEVE PYKE / CONTOUR / GETTY Am Anfang von Tolstois «Anna Karenina» steht der Satz: «Alle glücklichen Familien gleichen einander, jede unglückliche ist auf ihre Weise unglücklich.» Er kam mir in den Sinn, als ich Azar Nafisis Erinnerungen an ihre iranische Familie las. So wie die heute in den USA lebende Autorin und Literaturwissenschafterin sie beschreibt, ist die Familie Nafisi eindeutig der Gattung der unglücklichen Familien zuzuordnen, und sie ist es in der Tat auf sehr eigene Weise. Bis 1979 gehörten die Nafisis der wohlhabenden und gebildeten Oberschicht des Landes an. Der Vater ist Bürgermeister von Teheran, die Mutter stammt aus der Kadscharen-Dynastie und sitzt eine Zeitlang im Parlament. Den Kindern stehen jegliche Bildungsmöglichkeiten offen. Und selbst nachdem der Schah das Land verlassen und Khomeini die Macht übernommen hat, scheint der Familie Nafisi nichts wirklich Schlimmes widerfahren zu sein. Gleichwohl ist sie unglücklich. Warum? Mutter-Tochter-Problem Kern des Unglücks ist die Mutter. Sie ist eine schöne und wohl auch kluge Frau, aber mit der Realität, wie sie ist, kommt sie nicht zurecht. Sie hat ihren geliebten ersten Mann früh verloren und lehnt den zweiten ab, weil er nicht wie der erste ist. In den Aufzeichnungen der Tochter erscheint sie als Hysterikerin, die der Familie bei jeder Gelegenheit Szenen macht, ihren Mann drangsaliert und auch die Kinder mit ihrem Zorn nicht verschont. Die Tochter, die früh zwischen die Fronten gerät, vermag ihre Sympathie mit dem als langmütig und charmant geschilderten Vater nicht zu verhehlen. Er hat ihr gezeigt, wie man vor der Realität die Augen verschliesst und sich in Geschichten rettet. Er hat laviert und zu schlichten versucht, bis es auch ihm eines Tages zu bunt wird und er zusammen mit einer Geliebten das Weite sucht. Zurück bleiben eine gekränkte Gattin – und eine Tochter, die sich schuldig fühlt, weil es ihr nicht gelungen ist, ihre Eltern zu versöhnen. Ihr Erinnerungsbuch ist ein später Versuch, ein Unrecht gutzumachen, das sie nicht begangen hat. Wie in ihrem 2005 auf Deutsch erschienenen Bestseller «Lolita lesen in Teheran» vermischt Azar Nafisi in ihrem neuen Buch wiederum persönliche Erinnerungen mit der Schilderung politischer Ereignisse. Nicht um die Darstellung allgemeiner Fakten sei es ihr 22 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 30. Mai 2010 Die gebürtige Iranerin Azar Nafisi, 54, lebt seit 1997 in den USA. In ihrem neuen Buch schreibt sie über familiäre Lebenslügen, wie sie überall auf der Welt vorkommen. gegangen, schreibt die Autorin im Prolog, sondern um das Aufspüren jener «Orte, an denen das private, persönliche Erleben einzelner Menschen einen Augenblick lang Teil historischer Abläufe ist und sie widerspiegelt». An manchen politisch besonders brisanten Momenten – den Unruhen von 1963, der Verhaftung des Vaters oder der Machtübernahme durch die Ayatollahs – gelingt ihr dies durchaus. Doch über weite Strecken dominiert das private Unglück, und die Autorin verliert sich in Familiengeschichten, die uns höchstens deshalb interessieren, weil sie sich vor dem Hintergrund weltgeschichtlich relevanter Geschehnisse zugetragen haben. Sie selbst sind nicht relevant, und auch zum besseren Verständnis der historischen Ereignisse tragen sie wenig bei. Fiktion besser als Realität Nafisi hat sich offenbar vom Erfolg ihres «Lolita»-Buches dazu verleiten lassen, noch einmal im Fundus persönlicher Erinnerungen zu graben. Nur konnte sie sich leider nicht so recht entscheiden, worüber sie denn eigentlich schreiben wollte: über die Auswirkungen der islamischen Revolution auf das Leben einer liberal denkenden Familie oder über eine schwierige Mutter-Tochter-Beziehung, wie sie so oder ähnlich überall auf der Welt vorkommt. Das beklemmende Foto auf dem Umschlag weist auf Letzteres hin, und auch im Buch selbst dominiert dieser Konflikt. Darüber, das spürt man, musste geschrieben werden: Über die Last der Schuld, das drückende Schweigen und die unheimliche Macht der Lügen, die diese Familie wie in einem Netz gefangen hielt. Gemessen daran erscheint die iranische Geschichte manchmal fast wie Beiwerk. In «Lolita lesen in Teheran» hatte Azar Nafisi über das subversive Potenzial literarischer Erfindung und die Kunst als Akt des Ungehorsams gegenüber den herrschenden Verhältnissen geschrieben. Im neuen Buch geht es um Geschichten und Lebenslügen: um «schützende Fiktionen», wie es einmal heisst, die das Dasein erträglich machen sollen. Beide Male, im Positiven wie im Negativen, erweist die Fiktion sich als der Realität überlegen. Die Geschichten, die ihr der Vater erzählte, nennt die Autorin heute ihre «portable Heimat». Sie hat sie mit ins Exil genommen und sie zur Basis ihrer wissenschaftlichen Arbeit gemacht. Von den «schönen Lügen» und der Realitätsverweigerung der Mutter hingegen musste sie sich befreien, um zu sich selbst und zu ihrer eigenen Geschichte zu finden. Eine Erfahrung, die über den Kontext einer iranischen Familie weit hinausweist. l Gastronomie Das Leben des französischen Bonvivants und Werbetexters Maurice-Edmond Sailland Inge Huber: Curnonsky oder das Geheimnis des Maurice-Edmond Sailland. Collection Rolf Heyne, München 2010. 255 Seiten, Fr. 67.90. Von Christina Hubbeling Im Jahr 1952 schrieb die berühmte französische Schriftstellerin und Variétékünstlerin Colette in einem offenen Brief an ihren besten Freund: «Ich hatte, wie man so sagt, etwas früher Erfolg als Du – arm waren wir, das kannst Du mir glauben! –, aber das kam, weil ich das Variététheater ausprobiert habe. Ich konnte dir allerdings nicht raten, nach meinem Vorbild ein Engagement als leicht bekleideter Pantomime anzunehmen … Von weitem hast Du gesehen, wie ich hier und da geheiratet habe, während du die Kochkunst in den Rang einer wahren französischen Kunst erhoben hast.» Wer ist dieser Freund, der Colette bei ihrem ersten Buch geholfen und sich ganz der französischen Küche verschrieben hat? Ziemlich sicher kennt keiner seinen Namen, weder sein Pseudonym Curnonsky noch seinen richtigen: MauriceEdmond Sailland. Dabei war Curnonsky ein VIP, ein Bohémien, Bonvivant und der wohl grösste Gourmet der Belle Epoque. Er kannte tout Paris, und alle kannten ihn oder zumindest eines seiner Pseudonyme, unter denen er als Autor und Texter für verschiedene Zeitungen, Magazine oder Werbeanzeigen tätig war. Maurice-Edmond Sailland (1872–1956), der Spross einer alten Familie aus dem Anjou, liebte das Leben. Er war Stammgast im Moulin Rouge, und in den grossen Theatersälen blieb für ihn stets ein Platz in der ersten Reihe frei. Er besass zwar nie einen Führerschein, half aber mit, die Reifen von Michelin berühmt zu machen. Und unter seinem Pseudonym «Bibendum» schrieb er viele Jahre lang eine Gastrokolumne, aus der schliesslich der «Guide Michelin» resultierte. Curnonsky und sein Alter Ego, Marcel Rouff, grasten in den zwanziger Jahren im RollsRoyce die Provinzen Frankreichs ab, immer auf der Suche nach gastronomischen Trouvaillen; gemeinsam verfassten sie den 28-bändigen Gastronomieführer «La France gastronomique». Wer sich für Historie, Kulinarik und Ausschweifungen interessiert, dürfte äusserst entzückt sein über diese hübsche Biografie über den wohl bekanntesten Unbekannten der Belle Epoque. Das Buch von Inge Huber präsentiert sich zwar wissenschaftlich nicht ganz so streng, dafür aber wird man schon beim ersten Satz in die Welt des Curnonsky hineingerissen. Dazu tragen auch die vielen Illustrationen und Fotos bei, die praktisch auf jeder Buchseite zu finden sind. Als Leser begleitet man den Bonvivant Curnonsky, wie er mit Henri de ToulouseLautrec in der Bar des «Moulin de la Galette» am Montmartre Absinth trinkt. Oft traf er sich auch im Kabarett «Le Chat Noir» mit seinen Künstler-Freunden, Cancan-Tänzerinnen und Sängerinnen, die im Blickpunkt des Presseinteresses standen und über deren Lebenswandel und Sittenlosigkeit sich das Bürgertum FONDS CURNONSKY / KOLLEKTION INGE HUBER Der unbekannte Gourmet von Paris Maurice-Edmond Sailland (Mitte) anlässlich der Gründung der «Chaîne des Rôtisseurs» am 29. August 1950. zu empören pflegte. Man begleitet den Reisejournalisten in die Opiumhöhlen von Indochina, geniesst mit dem Gourmet einen Le Clos Vougeot von 1900 oder setzt sich mit ihm an eine Tafel, um das beste Cassoulet von ganz Frankreich zu essen. Inge Huber zeichnet das Leben eines Hedonisten nach, der in einer Zeit lebte, als ein Ausflug mit dem Auto aufs Land noch ein Abenteuer darstellte, weil es weder geteerte Strassen noch Karten oder flächendeckend Tankstellen gab. Als ein Hotelzimmer mit elektrischem Licht noch einer Sensation gleichkam und man miterleben konnte, wie sich die Welt durch die zahlreichen Erfindungen des 20. Jahrhunderts rasant verwandelte. Maurice-Edmond Sailland lebte in einer Welt, die es heute nicht mehr gibt. Quel dommage! Ein bisschen mehr Genuss und Leidenschaft à la Curnonsky würde keinem schaden, höchstens den Herstellern von Diätmahlzeiten. l Zeitgeschichte Der britische Historiker Tony Judt porträtiert Intellektuelle des 20. Jahrhunderts Von Hannah Arendt bis Tony Blair Tony Judt: Das vergessene 20. Jahrhundert. Die Rückkehr des politischen Intellektuellen. Hanser, München 2010. 475 Seiten, Fr. 47.90. Von Reinhard Meier Der Titel dieser mehrheitlich sehr lesenswerten Essaysammlung des britischen Historikers Tony Judt ist irreführend. Weshalb Judt oder sein Verlag sich darauf versteiften, das 20. Jahrhundert als ein «vergessenes Jahrhundert» zu bezeichnen, bleibt schleierhaft. Die regelmässig inszenierten Gedenkfeiern für den Zweiten Weltkrieg, den Holocaust oder den Fall der Berliner Mauer weisen in eine andere Richtung. Die vorliegende Sammlung beginnt mit einem Porträt des jüdisch-ungarisch-österreichisch-briti- schen Intellektuellen Arthur Koestler. Zum Beweis, dass dieser brillante und kontroverse Autor nicht vergessen ist, sei auf die vor kurzem erschienene monumentale Koestler-Biografie des Amerikaners Michael Scammell verwiesen. Judt, der trotz seiner unheilbaren Krankheit zu den produktivsten Publizisten linksliberaler Grundhaltung im angelsächsischen Raum zählt, setzt sich in seinen Werken mit eigenwilligen Persönlichkeiten wie Albert Camus, dem marxistisch gebliebenen und trotzdem respektierten Historiker Eric Hobsbawm, dem polnischen Marxismuskritiker Leszek Kolakowski oder dem palästinensischen Intellektuellen Edward Said auseinander. Bei aller Sympathie etwa für Hannah Arendt scheut er sich nicht, auch deren Schwachpunkte unverblümt beim Namen zu nennen. Tony Blair wirft Judt «Schein-Authenti zität» vor. Doch dieser «Schein-Authentizität» Essay wurde noch vor Blairs unpopulärer Entscheidung zum Irak-Einmarsch verfasst. Somit fehlt ein entscheidendes Kapitel zur vertieften Beurteilung des Labour-Politikers. Brandaktuell bleibt Judts luzide Analyse Israels – «ein Land, das nicht erwachsen werden will». Der Autor, der aus einer jüdischen Familie stammt und in einem Kibbuz arbeitete, argumentiert, dass Israel den Sieg im Sechstagekrieg wegen der Besatzung palästinensischer Gebiete in eine moralische Niederlage verwandelt habe. Waffen und Mauern könnten Israel auf Dauer so wenig wie die DDR oder Südafrikas Apartheidregime schützen. Israel benötige dringend einen reifen Staatsmann wie de Gaulle, der die französische Herrschaft couragiert und weitblickend beendete. l 30. Mai 2010 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 23 Sachbuch Auswanderung Der Zürcher Textilkaufmann Emil Streuli verbrachte seine Lehrjahre in Amerika Wie die Mode in New York das Geschäft in Horgen beeinflusste Hans Peter Treichler: Ein Seidenhändler in New York. Das Tagebuch des Emil Streuli (1858–1861). NZZ Libro, Zürich 2010. 336 Seiten, Fr. 44.–. Bereits lange bevor die Globalisierung zum vieldeutigen Schlagwort wurde, war weltweite Vernetzung für viele Schweizer und Schweizerinnen gelebter Alltag. Das galt nicht nur für Auswanderer, die in der Heimat kein Auskommen mehr fanden, sondern auch für erfolgreiche Unternehmer, die neue Märkte für ihre Produkte erschlossen. Dass über die Auswanderung aus wirtschaftlicher Not mehr bekannt ist als über die Auslandaufenthalte zur Anknüpfung von Geschäftsbeziehungen, liegt an der unterschiedlichen Quellenlage: Berichte von wohlbestallten Kaufleuten über ihre persönlichen Erfahrungen in der Fremde haben sich nur spärlich erhalten. Es ist denn auch ein Glücksfall, dass der bekannte Kulturhistoriker Hans Peter Treichler das Archiv der Familie Streuli in Horgen hat auswerten können, das Einblick in Lebensstil und gesellschaftliche Normen grossbürgerlicher Seidenfabrikanten der Gründerzeit gewährt. Nach der Familiensaga «Die Löwenbraut» (1999), die den weit verzweigten Verwandtschaftsbeziehungen nachgeht, legt Treichler nun eine Bearbeitung des Tagebuchs vor, das der junge Emil Streuli um 1860 während seiner Lehrjahre als GRAPHISCHE SAMMLUNG Von Beatrix Mesmer Vertreter der väterlichen Firma in New York geführt hat. Er lässt aus den Berichten, die der pflichtbewusste Sohn in regelmässigen Abständen nach Hause schickte, das Bild einer Zeit entstehen, die zugleich fern und nah anmutet. Dass damals ein kaum der Pubertät entwachsener 19-Jähriger nach Amerika ging, war nur möglich, weil der Jüngling in die Familie des New Yorker Kommanditärs aufgenommen wurde. Seine Berichte zeugen denn auch für seine rasche Integration in die bereits recht grosse Auslandschweizerkolonie, zugleich aber auch für seine starke emotionale Rückbindung an Eltern und Brüder. Wenn von tiefer Trauer beim Tod der Mutter und dem ersten Liebeskummer, aber kaum von Heimweh die Rede ist, so wohl wegen der Faszination angesichts der rasch wachsenden Grossstadt und ihrem Angebot an Vergnügungen und modernen Verkehrsmitteln, 23. Strasse zwischen 5. und 6. Avenue in New York um 1870: Ähnlich wie sie der junge Emil Streuli erlebt hat. der immer grösseren und schnelleren Dampfschiffe sowie der ersten, noch gescheiterten Verlegung eines Kabels über den Atlantik. Es sind die Schilderungen dieser atemberaubenden Modernisierung, auf die auch Treichler bei seiner Bearbeitung des Tagebuchs das Hauptgewicht legt, indem er die Beobachtungen Streulis durch sorgfältige Recherchen zur Geschichte und Topografie New Yorks ergänzt. Zudem liefert er auch das nötige Hintergrundwissen zu den Meldungen über den Geschäftsgang im Seidenhandel, der stark von den jeweiligen Modetrends abhing, und den übrigen Investitionen des Horgener Unternehmens in New York. So besassen die Streulis ein Grundstück, das Emil der besseren Rendite wegen gegen zwei Mietshäuser tauschte. Zu einer finanziellen Pleite führte dagegen die Beteiligung am Vertrieb einer neu entwickelten Anlage zur Gasherstellung, die sich als untauglich erwies. Dieses Lehrgeld wusste der Jungunternehmer jedoch als Erfahrung abzubuchen, die ihm zugutekam, als er kurz nach seiner Rückkehr in die Schweiz nach dem Tod des Vaters die Leitung der Firma übernehmen musste. Seine Ausbildung entsprach den Anforderungen der fortschreitenden Industrialisierung: Um die Mitte des 19. Jahrhunderts wurden für Unternehmer die Kenntnis technischer Innovationen ebenso wichtig wie der Aufbau eines internationalen Filialnetzes. l Biografie Hedwig Dohm, frauenbewegte Pionierin, wird aus der Vergessenheit geholt Radikale Denkerin, streitbare Autorin Isabel Rohner: Spuren ins Jetzt. Hedwig Dohm – eine Biografie. Ulrike Helmer, Sulzbach 2010. 155 S., Fr. 33.50. Von Geneviève Lüscher Hedwig Dohm gehört «zu den wichtigsten Autorinnen der Wende zum 20. Jahrhundert», schreibt Isabel Rohner in ihrer Biografie, und doch ist sie fast unbekannt geblieben. Erst die Neue Frauenbewegung der siebziger Jahre hat sie wiederentdeckt. Und Ende der achtziger Jahre entstehen im Zusammenhang mit der Geschichte der Familie Mann mehrere kleine Porträts, denn Katia Mann, die Frau von Thomas Mann, war eine Enkelin von Hedwig Dohm. Aber diese Texte kranken laut Rohner alle daran, dass sie das Leben der Schriftstellerin nur über deren Romane erschliessen, obwohl diese gar nicht autobiografisch seien. 24 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 30. Mai 2010 Die Recherche der Autorin gestaltete sich allerdings schwierig, weil von Dohm kein Nachlass existiert. Dabei war die Berlinerin äusserst produktiv: Märchen, Gedichte, Romane, Theater, Essays, Rezensionen und gesellschaftspolitische Analysen stammen aus ihrer Feder. Im Zentrum stehen die rechtliche Situation der Frau, ihre Bildung und Berufstätigkeit. Vehement stellt sie sich auch gegen die Verherrlichung der Mutterschaft. Mit ihrer Forderung nach politischer, sozialer und ökonomischer Gleichstellung von Mann und Frau war sie ihrer Zeit voraus und wurde prompt heftig angefeindet. Hedwig Jülich wird 1831 als drittes von 18 Kindern in eine grossbürgerliche Welt hineingeboren. Ihre Schulbildung ist gering, worunter sie lebenslang leiden wird. Sie bildet sich autodidaktisch weiter. 1853 heiratet sie den Redaktor Ernst Dohm, von ihren fünf Kindern überleben vier Töchter. Die Dohms führen einen bekannten Berliner Salon, in dem viele Intellektuelle jener Zeit verkehren. Hedwig Dohm schliesst sich dem radikalen Flügel der Frauenbewegung an und publiziert in entsprechenden Zeitungen und Zeitschriften. Ihr Engagement ändert sich nicht bis zu ihrem Tod 1919. Die Biografin hat, zusammen mit ihrer Kollegin Nikola Müller, eine Fülle neuer Materialien zutage gefördert, Gedrucktes, aber auch Handschriftliches und Briefe. Sie ermöglichen erstmals einen Blick ins Privatleben, in den Arbeitsalltag und in die sozialen Netzwerke der streitbaren Publizistin. Zahlreiche Zitate aus ihren Werken zeigen sie als witzige Autorin, die sich gerne über die angebliche männliche Überlegenheit lustig macht. Es gelingt Isabel Rohner, das herkömmliche blasse und bisweilen falsche Bild von Hedwig Dohm zu korrigieren und um neue Facetten zu bereichern. l Autobiografie Die Selbsterforschung August Forels (1848–1931) zeigt die grossen, aber auch die problematischen Seiten des Ameisenforschers und Sozialhygienikers Einen besseren Menschen heranzüchten Das Buch ist, weil Forel eben eine strenge Selbsterforschung vorlegt, lesenswert. Weil der autobiografische Bericht auch aberrante Seiten seines Denkens zeigt, etwa in der Rassenfrage. Da erzählt Forel von Reisen nach Tunis oder Bulgarien, wo er stinkenden Negern und faulen Arabern begegnet – so seine Wahrnehmung. «Welche Rassen sind für die Weiterentwicklung der Menschheit brauchbar, welche nicht?», fragt er sich. «Und wenn die niedrigsten Rassen unbrauchbar sind, wie soll man sie allmählich ausmerzen?» Und eigenartig fasziniert kehrt er doch wiederholt zu den Minderwertigen im Maghreb zurück. Allmählich bildet sich bei ihm die Einsicht, dass eine Besserstellung der Menschheit mit der Höherentwicklung der Rasse verbunden ist: «Die soziale Hygiene erfordert eine totale Umwälzung unserer Anschauungen, um das Übel an der Wurzel zu fassen, vor allem eine rationelle menschliche Zuchtwahl.» August Forel: Rückblick auf mein Leben. Modernisierte Neuausgabe (Erstausgabe 1935). Römerhof, Zürich 2010. 406 Seiten, Fr. 44.–. Von Willi Wottreng «Der Mensch ist an sich nichts als ein Glied in der Kette ungezählter Generationen.» Dies der Anfang eines Buches und die Quintessenz eines Lebens. Als Wissenschafter, der August Forel (1848– 1931) war, versuchte er zu ergründen, welche Gesetze das menschliche Leben bestimmen und wie die Höherentwicklung der Menschheit befördert werden könnte. Sein eigenes Leben war diesem Ziel gewidmet. Nun ist die Autobiografie von August Forel – dem grossen Ameisenforscher und Psychiater – neu aufgelegt worden. Da waren ein protestantischer Vater, tiefernst, eine Mutter von grosser Religiosität, die einen nachhaltigen Einfluss auf ihn ausgeübt habe, und eben der Bub, aufwachsend auf Landgütern, isoliert, schüchtern. «Ich schämte mich furchtbar, meine nackten Füsse vor irgendjemandem sehen zu lassen und dergleichen mehr.» Eine nachdenkliche, manchmal gar trübsinnige Seele. In seiner Einsamkeit spielte August mit Ameisen, erforschte sie richtiggehend: Liess ganze Ameisenheere gegeneinanderkämpfen, bis Tausende tot am Boden lagen, und entdeckte dabei Verhaltensweisen, die Forschern entgangen waren. Er sollte selber zum grossen Ameisenforscher heranwachsen. PHOTOPRESS ARCHIV / KEYSTONE Eindrückliches Selbstporträt Gegen alles Üble Von den Ameisen ging er zur Untersuchung menschlicher Hirne über – und dann war ihm die Welt der Naturwissenschaft zu eng. Es dämmerte ihm, dass er sich der Psychiatrie widmen sollte. Er wollte die Gesellschaft verstehen. Und nahm deshalb einen Ruf an die Zürcher Psychiatrische Klinik Burghölzli an, wo er nach kurzer Zeit leitender Arzt und Direktor wurde. Da bekam er es mit den Problemen der Menschen zu tun. Er bemühte sich, die Übel auszumerzen. Zuerst den Alkoholismus der Wärter (durch Entlassung). Die Prostitution auf dem Anstaltsgelände (mit Faustgewalt seines Assistenten). Die epileptischen Anfälle von Patienten (mittels Hypnose). Und stiess auf immer neue Phänomene: «Ich bekam einen furchtbaren Mörder namens Gottschall, einen vollständigen moralischen Idioten, zur Beobachtung.» Und dann machte er «Bekanntschaft mit August Forel, Psychiater im Zürcher Burghölzli, verfocht die Idee von der Höherentwicklung der Menschheit und der Ausmerzung «niedriger Rassen» (undatierte Aufnahme). einer anderen Art abnormer Menschen, nämlich den Homosexuellen». So weitete sich sein Denken und sein Tun auf die ganze Gesellschaft aus. Wobei «der Jammer, der Streit und das Unglück bei den Menschen» dem düster Gestimmten fast übermächtig schienen. So viel ist zu tun! Er gründet Abstinenzler-Logen. Lanciert erfolgreich eine Kantonalzürcher Volksinitiative zur Abschaffung der Bordelle. Arbeitet mit am Entwurf für ein nationales Irrengesetz. Schlägt gesellschaftliche Lösungen vor für Fragen der Sexualität und Kriminalität – Ideen, die aus heutiger Sicht manchmal als schillernd erscheinen, etwa die: «Heilung von Gemüts- und Geisteskrankheiten durch körperliche Arbeit und Beschäftigung». Laut habe es in ihm geschrieen: «Du musst Apostel der Wahrheit werden.» All dies erzählt er radikal und zugleich streng sich selbst gegenüber. Was das wäre, lässt sich in dieser Biografie nur erahnen. Denn manches, was aus Sicht der Sozialgeschichte im Denken und Handeln Forels wichtig ist, wird doch nur gestreift. Wohl weil er in anderen Schriften ausgiebig darüber berichtet hat. So erzählt er nicht eben viel von seiner Tätigkeit als BurghölzliPsychiater. Der Bericht über die europaweit ersten Kastrationen aus sozialen Gründen findet sich denn im bereits 1905 erschienenen Werk über «Die sexuelle Frage»: «Ich liess auch ein hysterisches vierzehnjähriges Mädchen kastrieren, deren Mutter und Grossmutter Kupplerinnen und Dirnen waren und die sich bereits aus Vergnügen jedem Knaben auf der Strasse hingab.» Forel hatte nach 24 Jahren das Burghölzli verlassen. Gegen Schluss des Lebens und im letzten Teil des Buches wird er müder. 1912 traf ihn ein Hirnschlag. In den hinteren Seiten arbeitet er seine Notizen oft nur noch schematisch chronologisch ab. Doch bleibt die Biografie unmittelbar, eindrücklicher als Fremddarstellungen, weil sie eben ein Quellenwerk ist. Die Neuauflage, die den deutschen Text der Erstausgabe minim glättet, ist darum sehr zu begrüssen. Das Buch schliesst mit dem Testament Forels, worin er sein Bekenntnis zur Religion der Bahai formuliert, er war ihr 1920 begegnet: «Möge diese Religion fortleben und von Erfolg gekrönt sein; dies ist mein heissester Wunsch.» l 30. Mai 2010 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 25 Sachbuch Kulturgeschichte Seit 3000 Jahren sollen Frauen an der Dekadenz der Gesellschaft schuld sein Hang zu Unzucht, Schlemmerei und Luxus Gerhard Henschel: Menetekel. 3000 Jahre Untergang des Abendlandes. Die Andere Bibliothek, Eichborn, Frankfurt 2010. 370 Seiten, Fr. 50.90. Von Kathrin Meier-Rust Den «fatalen Hang zu Unzucht, Schlemmerei und allem sonstigen Luxus» beklagte bereits der römische Historiker Sallust, um «ere, zucht und tugent» wurde im 12. Jahrhundert getrauert, und am Ende des zwanzigsten war es dann die «zunehmende Bordellisierung» des Landes und das «weitgehende Fehlen von echtem Frauentum», das redlichen Denkern zu schaffen machte. Unter dem Titel «Menetekel» hat Gerhard Henschel sie alle gesammelt, die Verfallsklagen, Dekadenztiraden und Untergangsvisionen, von den alten Ägyptern bis zur berserkerhaften Wut eines Rolf Dieter Brinkmann. Immer wieder macht er sich dabei den Spass, die als vorbildlich gepriesene gute alte Zeit aufzusuchen – um prompt einmal mehr die Verdammung dekadenter Zustände zu finden. Mit schönster Regelmässigkeit ist es das Weib, das mit unzüchtigen Reizen und gefärbten Haaren den Niedergang von Sitte, Moral, Anstand und Kultur zu verantworten hat. Der Spanier Ortega y Gasset bildet hier eine Ausnahme. Auch er beklagt zwar unablässig den Verfall von Sittlichkeit und Zucht des «verwöhnten Massenmenschen». Doch immerhin verpasste der Philosoph einen Auftritt vor hohem Publikum, weil er sich mit drei Damen im Bett amüsierte. Anders Oswald Spengler, der neben Bolschewismus, Jazz und Warenhäusern vor allem die «Ibsen-Weiber» für schlimmste Symptome des Niedergangs hielt: Der gehemmte Angstneurotiker hat wohl weder ein Ibsen- noch sonst ein Weib je von nahe gesehen und notierte im Stil- len: «Ich beneide jeden, der lebt.» Während die Kirchenväter die sinnlichen Genüsse, die sie sich selbst verbaten, offensichtlich auch anderen nicht gönnen wollten: Hinter der Weltverachtung ist die Verachtung des eigenen Körpers und seiner Wünsche oft mit Händen zu greifen. Es muss einigermassen trostlos gewesen sein, diese Zeugnisse der Frustration zu sammeln. Kein Wunder steht Henschels Furor dem seiner Unheilspropheten in nichts nach, unermüdlich ergiesst er Hohn und Spott auf immer noch mehr donnernde Dekadenzzitate. Doch so ermüdend die Sammlung über 3000 Jahre ausfällt, so ernüchternd ist sie auch. Wer, wie Schopenhauer, zwar weiss, «dass jeder denkende Mensch seine Zeit für die allererbärmlichste hält», aber trotzdem von dieser Illusion nicht ganz frei ist – der sollte sich durch dieses Buch schleunigst von ihr kurieren lassen. l Zum Abschied hat Wjatscheslaw Molotow seinen britischen und amerikanischen Gesprächspartnern nach der Konferenz von Jalta keine Friedenspalmen, sondern Zweige von Zitronenbäumchen überreicht. Dennoch war die spontane Geste des sowjetischen Aussenministers am 11. Februar 1945 freundlich gemeint und entsprach der positiven Stimmung am Ende des achttägigen Gipfels: Auch wenn Risse in dem Zweckbündnis der «Grossen Drei» gegen die Achsenmächte sichtbar wurden, verliess keiner der Beteiligten die Krim, den Tagungsort, mit leeren Händen. Dies erklärt der in der Ukraine geborene Historiker S. M. Plokhy in seiner grossangelegten Studie Yalta. The Price of Peace (Viking, 451 Seiten): Josef Stalin hatte Franklin D. Roosevelt die Bäumchen zum Auftakt der Konferenz geschenkt, da er wusste, dass der US-Präsident seine Martinis am liebsten mit frischer Zitronenschale genoss. Mit derartigen Details bringt der an der Harvard University lehrende Plokhy dem Leser nicht nur die zwar angespannte, aber keineswegs feindselige Atmosphäre in Jalta nahe. Er legt auch die Dynamik zwischen den Grossen Drei offen. Manipulativ und durch seine Geheimdienste gut über die Pläne der Westmächte informiert, umwarb Stalin Roosevelt und zeigte Winston Churchill die kalte Schulter, war diesem jedoch in seiner Weltsicht verwandter. Der Diktator und der britische Premier hatten sich im Oktober 1944 hinter Roosevelts Rücken in Moskau über eine Aufteilung des Balkans in Interessensphären geeinigt. Daran hielten beide in Jalta fest, ob26 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 30. Mai 2010 AKG Das amerikanische Buch Jalta – Konferenz zwischen Krieg und Frieden Churchill, Roosevelt und Stalin (von links) an der Konferenz von Jalta im Februar 1945. Der Historiker S. M. Plokhy (unten). wohl Churchill damit die Forderung der Westmächte nach einem freien und demokratischen Polen untergrub. Stalin verwies dagegen auf seine Zurückhaltung in Griechenland. Dort gingen die Briten nach dem Abzug der deutschen Armee brutal gegen kommunistische Freiheitskämpfer vor, ohne dass die Sowjets auch nur einen Finger rührten. Plokhy macht Jalta als Konferenz verständlich, die vom noch laufenden Krieg ebenso geprägt wurde, wie von der Gestaltung einer stabilen Nachkriegsordnung. Hier konnten die Militärs die Operationsgebiete ihrer Luftwaffen abstecken – was dann umgehend zur Bombardierung Dresdens führte –, während die Diplomaten um die neuen Grenzen in Europa und Fernost rangen. Dachten Briten und Sowjets in klassischen Einflusssphären, war Roosevelt ebenfalls mit egoisti- schen Zielen nach Jalta gekommen, auch wenn er diese zumindest teilweise in Idealismus hüllte, so Plokhy. Der US-Präsident wollte die Sowjets zum Beitritt in die Vereinten Nationen bewegen und damit in eine von Amerika wirtschaftlich dominierte Nachkriegsordnung einbinden, aber auch für eine baldige Kriegserklärung gegen Japan gewinnen. Roosevelt war in beiden Punkten erfolgreich. Plokhy lässt keinen Zweifel daran, dass Roosevelt hier die Minimierung amerikanischer Verluste im Krieg gegen Japan über die Freiheit Polens stellte – wobei den Westmächten klar war, dass sie Stalin nicht von der Schaffung einer osteuropäischen Einflusssphäre abringen konnten, ohne einen Bruch der «Grand Alliance» zu riskieren. Sehr gründlich recherchiert und auch auf bislang unbekannten sowjetischen Dokumenten basierend, ist Plokhy eine frische und erstaunlich unterhaltsame Zusammenschau gelungen, die zudem mit vielen Mythen über Jalta aufräumt: Roosevelt war acht Wochen vor seinem Tod keineswegs zu krank, um sich durchzusetzen, und die Westalliierten sind Stalin keineswegs naiv auf den Leim gegangen, sondern haben ihre Interessen sehr geschickt und hartnäckig vertreten. Damit weicht Plokhy jedoch nicht wesentlich von den Studien postrevisionistischer USHistoriker der 1980er Jahre zum Kalten Krieg ab. Aber eine revolutionäre Neuinterpretation von Jalta wäre selbst von einem ausgesprochen begabten und fleissigen Historiker wie Plokhy zu viel verlangt. l Von Andreas Mink Agenda Cowboys Mein Pferd ist meine Kirche Agenda Juni 2010 Basel Dienstag, 8. Juni, 19 Uhr Werner van Gent, Antonia Bertschinger: Iran ist anders. Lesung, Fr. 15.–. Literaturhaus, Barfüssergasse 3, Tel. 061 261 29 50. Mittwoch, 9. Juni, 20 Uhr Arne Svingen: Ein Mann der Tat. Buchvernissage, Lesung, Fr. 8.–. Unternehmen Mitte, Gerbergasse 30, Tel. 061 263 36 63. Samstag, 19. Juni, 17 Uhr Poesie pur. Literarischer Stadtrundgang, Fr. 30.–. Treffpunkt: Literaturhaus, Barfüssergasse 3. Info@literaturspur.ch. Bern Mittwoch, 2. Juni, 19.30 Uhr Mittwoch, 2. Juni, 19.30 Uhr Ghada Abdelaal: Ich will heiraten. Lesung und Gespräch. Zentrum 5, Flurstrasse 26 b, Tel. 031 333 26 20. Utah, Nevada, Texas. Einer dieser letzten Vertreter des American Dream habe ihr gesagt: «Ich muss nicht in die Kirche gehen. Mein Pferd ist meine Kirche.» Ob religiös oder nicht: Wer diese Bilder anschaut, spürt die Unendlichkeit. Regula Freuler Jane Hilton: Dead Eagle Trail. Benteli, Bern 2010. 96 Seiten, 80 Farbabbildungen, Fr. 59.–. Sachbuch 1 Zsolnay. 589 Seiten, Fr. 42.90. 2 Diogenes. 272 Seiten, Fr. 32.90. 3 Heyne. 543 Seiten, Fr. 34.90. 4 Scherz. 303 Seiten, Fr. 24.90. 5 Diogenes. 384 Seiten, Fr. 38.90. 6 Bastei Lübbe. 760 Seiten, Fr. 39.90. 7 Allegria. 304 Seiten, Fr. 29.90. 8 Bastei Lübbe. 749 Seiten, Fr. 26.50. 9 Penhaligon. 575 Seiten, Fr. 34.90. 10 Zsolnay. 443 Seiten, Fr. 31.90. 1 Faro. 221 Seiten, Fr. 29.90. 2 Kiepenheuer & Witsch. 259 Seiten, Fr. 26.50. 3 Hoffmann und Campe. 223 Seiten, Fr. 31.90. 4 Orell Füssli. 173 Seiten, Fr. 34.90. 5 Suhrkamp. 212 Seiten, Fr. 29.90. 6 Brockhaus. 1216 Seiten, Fr. 50.50. 7 Rowohlt. 223 Seiten, Fr. 33.90. 8 AT. 207 Seiten, Fr. 39.90. 9 Hanser. 266 Seiten, Fr. 42.80. 10 Rowohlt. 384 Seiten, Fr. 33.80. Nicholas Sparks: Mit dir an meiner Seite. Tommy Jaud: Hummeldumm. Martin Walker: Grand Cru. Dan Brown: Das verlorene Symbol. William P. Young: Die Hütte. Sarah Lark: Das Gold der Maori. Trudi Canavan: Sonea. Daniel Glattauer: Gut gegen Nordwind/Alle sieben Wellen. Horacio Castellano Moya: Der schwarze Palast – Tirana Memoria. Zweisprachige Lesung und Gespräch. Stadtbibliothek, Löwenplatz 10, Tel. 041 417 07 07. Zürich Hommage an Erika Burkart (1922–2010). Fr. 18.– inkl. Apéro. Literaturhaus, Limmatquai 62, Tel. 044 254 50 00. Belletristik Martin Suter: Der Koch. Sonntag, 6. Juni, 19 Uhr Donnerstag, 3. Juni, 20 Uhr Bestseller Mai 2010 Henning Mankell: Der Feind im Schatten. Luzern Mittwoch, 9. Juni, 19.30 Uhr Nik Hartmann: Über Stock und Stein 2. Jürgen Wasim Frembgen: Am Schrein des roten Sufi. Lesung. Museum Rietberg, Gablerstrasse 15, Tel. 044 206 31 31. Michael Mittermeier: Achtung Baby! Mittwoch, 16. Juni, 19 Uhr Roman M. Koidl: Scheisskerle. Paolo Colombani: Fette Irrtümer. Max Frisch: Entwürfe zu einem dritten Tagebuch. Duden. Die deutsche Rechtschreibung, 25. Auflage. Miriam Meckel: Brief an mein Leben. Annemarie Wildeisen: Meine Expressküche. Susan Levermann: Der entspannte Weg zum Reichtum. Eckart von Hirschhausen: Glück kommt selten allein. Erhebung Media Control im Auftrag des SBVV; 18. 5. 2010. Preise laut Angaben von www.buch.ch. Christoph Geiser: Der Angler des Zufalls. Lesung. Hotel Steigenberger, Utoquai 47. Anmeldung: zundh@websites.uzh.ch. Donnerstag, 17. Juni, 20 Uhr Sunil Mann: Fangschuss. Lesung. Orell Füssli Krauthammer, Marktgasse 12. Vorverkauf: orders@books.ch. Sonntag, 20. Juni, 11.15 Uhr Franz Mon: Sprechende Bilder. Mon trägt zu seinen Bildern eigene Gedichte vor. Fr. 19.–. Haus Konstruktiv, Selnaustrasse 25. Infos: Literaturhaus (s. oben). Bücher am Sonntag Nr. 6 erscheint am 27. 6. 2010 Weitere Exemplare der Literaturbeilage «Bücher am Sonntag» können bestellt werden per Fax 044 258 13 60 oder E-Mail sonderbeilagen@nzz.ch. Oder sind – solange Vorrat – beim Kundendienst der NZZ, Falkenstrasse 11, 8001 Zürich, erhältlich. 30. Mai 2010 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 27 GÜNTHER KÜHNEL Früher sassen sie tagein, tagaus im Sattel, heute sitzen sie vor dem Fernseher, umgeben von Insignien ihrer untergehenden Zunft: Colts und Gewehren, Stiefeln und Sporen, Geweihen und Hörnern. Sie sind Viehhändler, Bull Rider oder Waffen- und Sprengstoffexperten. Seit 2006 fotografierte Jane Hilton Cowboys unserer Zeit und die einsamen Weiten von KRISTINA BERGMANN Esther Tusquets liest aus ihren autobiografischen Werken. LibRomania, Länggass-Strasse 12, Tel. 031 305 30 30. <wm>10CAsNsjY0MDAx1TWwtDA2NQQAZ7eB2w8AAAA=</wm> <wm>10CEXKIQ6AMAxA0RNt-e0o2agcQy0IIJyAoLm_IsEgnnu9u0U-ta1H21xgsEDJycStWEyeVSMyOiaqCBPZlJQy_t9Q57DDAicSn-t-AXbe6thbAAAA</wm>
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