Intercura 113, Frühling 2011, Sonderheft PPD
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Intercura 113, Frühling 2011, Sonderheft PPD
2 Stadtärztlicher Dienst INTERCURA Sonderheft Frühling 2011 Gemeindeintegrierte und mobile psychiatrische Angebote 5 Jahre Psychiatrisch-Psychologischer Dienst ( PPD ) im Stadtärztlichen Dienst Impressum Intercura Publikation des Konzept und Redaktion Stadtärztlichen Dienstes David Briner Postfach, 8021 Zürich www.stadt-zuerich.ch /sad Korrekorat Nadja Monem PsychiatrischPsychologischer Dienst Gestaltung Walchestr. 31, 8021 Zürich pooldesign, Zürich 044 412 48 00 ppdinfo @ zuerich.ch Bildnachweis www.stadt-zuerich.ch / ppd Luca Zanier : Porträts S. 4,12, 18 ( beide ), Erscheint 4x jährlich 26, 32, 38, 46, 56 Jahresabonnement Fr. 15.00 Stadtärztlicher Dienst : Einzelnummer Fr. 5.00 S. 4, 26, 46 pooldesign : Umschlag Druck Urs Baumgartner : S. 32 Kromer Print AG SEB : S. 11, 25, 31, 45 5600 Lenzburg SOD : S. 12, 17, 38, 42 Auflage : 3200 zfa : S. 55 Inhalt Vorwort 2 Albert Wettstein Gemeindeintegrierte und mobile psychiatrische Angebote 5 des PPD David Briner «Ich hatte Angst, dass man mich in die Klinik bringt» 13 Julia Würthner Mobile Teams: zentraler Bestandteil der zeitgemässen Gemeinde 19 psychiatrie Paul Richard Guzek Wieder ein Dach über dem Kopf. Ein Fallbericht 27 Jan Holder Wer wird im PPD behandelt? Welche Behandlungsangebote gibt 33 es? Auswertung der Basisdokumentation Gabriela Nietlisbach Ein Nachmittag als Psychologe im Sozialzentrum 39 August Seitz Die bezirksärztlichen Hausbesuche des Stadtärztlichen Dienstes 47 Martina Cesal, Albert Wettstein Gesundheitlichen Ungleichheiten begegnen 51 David Briner Stimmen der Partnerinstitutionen zu «5 Jahre PPD im SAD» 11, 17, 25, 31, 42, 55 2 5 Jahre Psychiatrisch-Psychologischer Dienst (PPD) im Stadtärztlichen Dienst Vorwort von Albert Wettstein Dieses Heft unterscheidet sich in Erscheinung und Inhalt aus besonderem Anlass von den bisherigen Ausgaben. Vor 5 Jahren wurde der PPD1, in den 70er Jahren als Kinder- und Jugendpsychiatrischer Dienst des Sozialdepar tements gegründet, neu dem Stadtärztlichen Dienst (SAD) zugeteilt. Initial hatte dieser Dienst den Auftrag, die ärztliche und psychologische Versorgung der damals noch städtischen Kinder- und Jugendheime sicherzustellen. Mit 1 Der städtische PPD ist nicht zu verwechseln mit dem PPD des kantonalen Justizvollzugs 3 der Zeit übernahm er auch Aufgaben aus der Erwachsenenpsychiatrie und stellte sein Know-how anderen Abteilungen des Sozialdepartements (SD), die psychisch Kranke zu betreuen hatten, zur Verfügung. Mit steigendem Bedarf wuchs auch die Nachfrage nach Angeboten, welche auf die spezifischen Bedürfnisse des SD ausgerichtetet sind. Im Jahr 2005 ergab eine Bedarfsanalyse, dass rund ein Viertel der vom Sozialdepartement unterstützten Personen psychisch beeinträchtigt und oft nicht oder nur ungenügend psychiatrisch betreut ist. Deshalb wurde eine neue Strategie erarbeitet und dem PPD zwei Hauptaufgaben übertragen: erstens die Fallberatung von Mitarbeitenden der Sozialzentren (SZ) und der Sozialen Einrichtungen und Betriebe (SEB) und zweitens der Aufbau geeig neter Angebote (mobile Krisenteams, Einzel- und Gruppentherapien) für Klienten der SZ und SEB, wenn sie nicht bei privaten oder kantonalen Ein richtungen eingebunden werden können. Im Gegenzug werden die von den Krankenkassen nicht gedeckten Leistungen vom Sozialdepartement über nommen. Dieses Konzept hat sich in den letzten Jahren als sehr erfolgreich erwie sen und ist heute aus der Versorgung der KlientInnen des Sozialdepartements nicht mehr wegzudenken. Der amtsärztliche Dienst des SAD seinerseits konnte nur durch diese Entlastung ohne Aufstockung seiner personellen Res sourcen die steigende Nachfrage bewältigen. Nur dank des Umstandes, dass sich die Stadt Zürich einen psychiatrisch-psychologischen und einen amts ärztlichen Dienst leistet, die beide nicht zögern, wenn nötig aufsuchend tätig zu werden und Hausbesuche zu machen, kann einer langfristigen Überlas tung des Personals in den Institutionen des Sozialdepartementes durch psy chisch Kranke begegnet und eine weitere Isolation dieser sonst schlecht versorgten Bevölkerungsgruppe verhindert werden. Wir wünschen der Kooperation zwischen SAD und SD auch in Zukunft viel Erfolg und Ihnen, liebe Leserin, lieber Leser, eine interessante und anre gende Lektüre dieses Sonderheftes. Dr. med. David Briner, Stv. Chefarzt, Leiter Psychiatrisch- Psychologischer Dienst 5 David Briner Gemeindeintegrierte und mobile psychiatrische Angebote des PPD Der Kanton Zürich verfügt dank einer Vielzahl psychiatrischer Praxen und diverser, teilweise spezialisierter ambulanter Dienste über ein gut ausgebautes ambulantes Versorgungsnetz. Trotz dieses breit gefächerten Angebots kön nen nicht alle PatientInnen erreicht und adäquat behandelt werden. Das Sozialdepartement der Stadt Zürich hat in den vergangenen Jahren einen steigenden, von der Regelversorgung aber nur partiell gedeckten Bedarf nach niederschwelligen und mobilen psychiatrischen Leistungen festgestellt. Wel che Entwicklungen haben dazu geführt? Einerseits sind die Fallzahlen in der Sozialhilfe kontinuierlich angestiegen. Gleichzeitig hat – Beobachtungen der SozialarbeiterInnen zufolge – die Zahl psychisch belasteter Sozialhilfeempfänger zugenommen. Die Sozialzentren standen so vor der Aufgabe, mit knapper werdenden Ressourcen mehr Klien ten zu betreuen und soweit als möglich beruflich zu integrieren. Ein Pilot versuch zeigte, dass eine interdisziplinäre Zusammenarbeit von Sozialarbeit und Psychologie/Psychiatrie die Sozialen Dienste entlastet und die Chancen auf eine Reintegration der psychisch beeinträchtigten Klienten erhöht. Andererseits hat in den städtischen Wohneinrichtungen der Anteil psy chisch schwer Kranker zugenommen. Viele dieser Personen sind nicht in der Lage, für sich selber adäquate Hilfe zu finden. Sie werden heutzutage aber auch nicht mehr – ausser in akuten Krisen mit Selbst- und Fremdgefährdung – gegen ihren Willen in ein Behandlungssystem gezwungen. So laufen sie Gefahr zwischen die auf Notfälle spezialisierten Kliniken und die auf Eigenver antwortung basierenden ambulanten Institutionen zu fallen. Im Laufe der letz ten Jahre wurden zudem unter der Devise «ambulant vor stationär» Klinikbet ten abgebaut und die stationären Aufenthaltszeiten verkürzt. Diese Verlagerung der Behandlung in den gemeindenahen Raum ist zwar zu begrüssen, führt 6 jedoch zu einer deutlich höheren Belastung der betreuenden sozialen Einrich tungen ausserhalb der Klinik. Im angelsächsischen und nordeuropäischen Raum hat der Umwandlungsprozess in der Versorgung schon früher einge setzt. Diese Länder verfügen heute über eine Vielzahl gemeindepsychiatri scher und mobiler Angebote. In der Schweiz beansprucht die strukturelle Anpassung der psychiatrischen Versorgung und der Aufbau komplementärer Angebote mehr Zeit. Die Folge davon ist, dass viele PatientInnen ungenügend behandelt sind und die Gemeinden diese auffangen müssen. Viele dieser PatientInnen erhalten Unterstützung bei den sozialen Diensten, in den Wohn einrichtungen oder Notschlafstellen. Sie zeigen aber wenig Bereitschaft, eine psychiatrische Behandlung in Anspruch zu nehmen. Aus diesen Gründen braucht es Angebote, welche die PatientInnen dort erreichen, wo sie sich zumeist aus anderen Gründen hinwenden: In den Sozial zentren, Wohn- und Arbeitseinrichtungen. Weiter bedarf es einer Koordination der psychiatrischen und sozialen Leistungen, um Schnittstellenprobleme zu vermeiden. Versorgungsebenen in der Stadt Zürich Die Abbildung 1 illustriert die Positionierung des PPD innerhalb der städti schen Versorgungslandschaft. Strukturell ist der PPD vergleichbar mit einer psychiatrischen Poliklinik, ein schliesslich Konsiliar- und Liaisondienst. Leistungsempfänger des Konsiliar dienstes sind jedoch nicht Spitalabteilungen, sondern (psycho-)soziale Insti tutionen auf der Gemeindeebene. Im Vordergrund steht die Beratungsfunktion zugunsten der verantwortlichen und meist fallführenden MitarbeiterInnen. Die systemische Betrachtungsweise und die Nähe zum Sozialraum erlauben es, nicht nur den isolierten Fall des «schwierigen Klienten» zu sehen, sondern auch einen Einblick in dessen Lebensumfeld zu erhalten. Zu beachten sind dabei die unterschiedlichen finanziellen und gesetz lichen Rahmenbedingungen der medizinisch-psychiatrischen und der sozialen 7 Abbildung 1| Versorgungsebenen in der Stadt Zürich PUK PPD ambulante Psychiatrie medizinische Primärversorgung Gemeinde psychiatrische Praxen Hausärzte Spitäler Spitex Sozialhilfe, Wohnen, Arbeit, Vormundschaftsbehörde Versorgung. Die getrennte Finanzierung dieser beiden Versorgungssysteme führt zu einer Fragmentierung der Hilfeleistungen. Zentrale Voraussetzungen für eine erfolgreiche Zusammenarbeit und eine Integration der Leistungen sind deshalb ein gutes Schnittstellenmanagement sowie vertiefte Kenntnisse von Auftrag, Möglichkeiten und Grenzen der Kooperationspartner. Kooperationspartner und dezentrale Standorte Hauptauftraggeber des PPD sind die Sozialen Dienste (SOD) mit den fünf regionalen Sozialzentren und die Sozialen Betriebe und Einrichtungen (SEB) mit den Wohn- und Arbeitseinrichtungen. SOD und SEB sind Teil des Sozial departements (SD). Leistungsvereinbarungen bestehen ausserdem mit der Zürcher Fachstelle für Alkoholprobleme (zfa) und dem Tageszentrum des Schweizerischen Roten Kreuzes. Die Abbildung 2 gibt einen Überblick über die Standorte mit fixen PPD-Angeboten. soziale Versorgung teilstationäre Psychiatrie medizinische stationäre Psychiatrie 8 Abbildung 2| Mehrere dezentrale Standorte des PPD Glattal Waidberg Schwamendingen Letzi Limmattal Zürichberg Uto Poliklinik des PPD an der Walchestr. 31 Sozialzentren Soziale Einrichtungen und Betriebe Zürcher Fachstelle für Alkoholprobleme Tageszentrum des Schweizerischen Roten Kreuzes 9 Grundsätze und Ziele Wie soll eine zeitgemässe psychiatrische Versorgung aussehen? Die Literatur und die meisten Psychiatriekonzepte betonen die Ausgestaltung bedürfnis orientierter Angebote, die Gemeindenähe und die Betreuungskontinuität als zentrale Punkte [ 1, 2,3 ]. Ausserdem wird die Vernetzung und gute Abstimmung zwischen den Leistungserbringern in der medizinischen Versorgung in Zukunft noch mehr Bedeutung erhalten. Deshalb setzt sich die Stadt Zürich mit dem Gesundheitsnetz 2025 für eine Integration der verschiedenen Angebote ein. Der PPD und seine Partnerinstitutionen verfolgen daher folgende Grundsätze: 1. Integration der psychiatrischen Leistungen in das soziale Versorgungs system 2. Bedürfnisorientierte Angebote mit den Kernelementen Niederschwellig keit, Empowerment, Behandlungskontinuität und mobile Krisenteams 3. Unterstützung und Beratung der betreuenden Fachpersonen 4. Verhinderung von Behandlungsabbrüchen, Eskalationen und unnötigen Klinikeinweisungen 5. Subsidiarität der Leistungen gegenüber Kanton, psychiatrischen Praxen und anderen Anbietern Das Prinzip der Subsidiarität bedeutet dabei, die Versorgungslücke in der Stadt Zürich zu schliessen und nicht, bestehende kantonale und private Angebote zu ersetzen. Entwicklung der Fallzahlen Die starke Zunahme der Zuweisungen aus dem Sozialdepartement über die letzten fünf Jahre verdeutlicht den grossen Bedarf (vgl. Abb. 3). Es drängt sich die Frage auf, woher all diese PatientInnen kommen. Waren sie vorher bei einer anderen Stelle in Behandlung? Viele PatientInnen berichten im Erstgespräch, dass sie bisher nie oder nur einen kurzen Kontakt mit der Psychiatrie hatten. Das bestätigt die Vermutung, dass mit den neuen PPD-Angeboten eine bisher ungenügend versorgte Personengruppe erreicht wird. 10 Abbildung 3| Anzahl und Herkunft der PatientInnen 1000 800 600 400 200 0 Soziale Dienste Soziale Einrichtungen und Betriebe Zürcher Fachstelle für Alkoholprobleme andere 2005 2006 2007 2008 2009 113 426 497 518 698 2010 758 18 42 63 78 109 125 1 29 52 288 246 318 308 168 127 Verdienste des Sozialdepartements Das Sozialdepartement hat mit der Lancierung mobiler Angebote vor acht Jahren eine Vorreiterrolle übernommen und aus der Not eine Tugend gemacht. Mit der Einbindung der psychiatrischen Angebote in das soziale Umfeld wurde der Grundstein für ein zukunftsfähiges Modell einer integrierten Versorgung gelegt. Die Kooperation ermöglicht eine sorgfältige Abstimmung der psychiat rischen und sozialen Leistungen. Den Verantwortlichen im Sozialdepartement gebührt für dieses Engage ment bei der Etablierung der mobilen und integrierten Angebote des PPD ein spezieller Dank. Literatur 1. Thornicroft G, Tansella M. Components of a modern mental health service: a pragmatic balance of community and hospital care: overview of systematic evidence. The British Journal of Psychiatry. 2004;185( 4 ) :283. 2. Weinmann S, Gaebel W. Versorgungserfordernisse bei schweren psychischen Erkrankungen. Der Nervenarzt. 2005;76 ( 7 ) :809 – 821. 3. Leitfaden zur Psychiatrieplanung. Schweizerische Gesundheitsdirektorenkonferenz. Bern, 2008. «Der mobile PPD ist eine Erfolgsgeschichte. Er ver- Reto Gugg, steht es wie keine andere psychiatrische Institution, Direktor Soziale Einrichtungen mit unseren speziellen Klientinnen und Klienten um- und Betriebe zugehen. Dank der Betreuung, die seine Fachleute vor Ort leisten, können wir die Klientinnen und Klienten in unseren Einrichtungen halten. Der mobile PPD trägt so entscheidend dazu bei, dass wir unseren Auftrag erfüllen können. Wie wichtig das Fachwissen des PPD in unserem Umfeld ist, zeigt die Tatsache, dass ihn inzwischen auch die Sozialen Dienste in bedeutendem Umfang nutzen.» Dr. med. Julia Würthner, Ärztin im Sozialzentrum Dorflinde 13 Julia Würthner «Ich hatte Angst, dass man mich in die Klinik bringt» Wie soll man vorgehen, wenn sich eine paranoide Mutter mit ihren Kindern zu Hause abkapselt und Hilfsangebote aus der «gefährlichen» Umwelt ablehnt? Mit Polizei und Vormundschaftsbehörde einschreiten? Oder warten bis es ihr besser geht? Der vorliegende Fallbericht illustriert eine typische Ausgangs situation und die Schwierigkeiten, eine psychisch kranke Person trotz grossen Ängsten in eine Behandlung einzubinden. Kasuistik Frau C. ist eine alleinerziehende Mutter zweier lebhafter Töchter im Alter von zwei und vier Jahren. Auf den Fall aufmerksam wurden wir durch ihren Sozialarbeiter. Er bat uns um Begleitung auf einem Hausbesuch, nachdem eine Gefährdungs meldung durch die Angehörigen der Patientin eingegangen war. Die Patientin habe im Vorfeld schwere Vorwürfe gegen ihren Vater erhoben und diesen ange zeigt. Als das Verfahren eingestellt worden sei, habe sie sich von ihrer Familie distanziert und dieser mitgeteilt, sie wolle sie nicht mehr sehen. Frau C. habe die Türe nicht mehr geöffnet und sich über einen Monat lang nicht mehr beim Sozial arbeiter gemeldet. Dann habe sie plötzlich ihre Familie gebeten, die Kinder zu sich zu nehmen, sei «aufgetaucht und wieder verschwunden». Ihre Familie beschreibe die Patientin als «geistig abwesend, paranoid, ängstlich und unselb ständig». Sie würden ihr raten, dringend psychiatrische Hilfe in Anspruch zu nehmen, was die Patientin aber verweigere. Besorgt um das Wohl der Kinder baten die Verwandten um die Einleitung vormundschaftlicher Massnahmen. 14 Auch dem Sozialarbeiter gelang keine Kontaktaufnahme. Er wandte sich an den PPD. Schliesslich stand er mit meinem Kollegen und der Tante der Patientin unangemeldet vor der Türe von Frau C. Diese zeigte sich überrascht, war aber mit einem gemeinsamen Gespräch in ihrer Wohnung einverstanden. Die Notwohnung war sauber und ordentlich aufgeräumt. Ihre beiden Töchter waren sehr lebendig und aufgeweckt, malten und spielten während des Gespräches und suchten auch den körperlichen Kontakt zu den Anwesen den. Frau C. stand wiederholt auf, um etwas für die Mädchen zu holen, zeigte sonst aber wenig Körperberührung und Interaktion mit den Kindern. Auf Fra gen antwortete Frau C. kaum oder nur mit leiser Stimme. Im Verlauf des Gesprächs gab sie an, manchmal überfordert zu sein. Ein Folgetermin im PPD wurde vereinbart. Die Patientin erschien mit ihren beiden Kindern und ihrer Tante. Dabei lernte sie mich als ihre weiter behan delnde Ärztin kennen. Es fiel ihr schwer, offen über die Ereignisse der letzten Wochen zu berichten. Zögerlich und leise, teils fast flüsternd, berichtete sie, dass sie den Kontakt zur Tante und zur Schwester vor einigen Wochen abge brochen habe. Dies, nachdem sie durch eine Gerichtsverhandlung gegen ihren Vater und dessen Ehefrau verunsichert gewesen sei. Ohne Kontakt zur Familie habe sie sich daraufhin sehr alleine gefühlt und in der Nacht «schlechte Träume» gehabt. Frau C. verneinte Halluzinationen, sie beschrieb jedoch ein «komisches Gefühl, von ausserhalb beobachtet worden zu sein». Eine genaue Erhebung der Anamnese und eine diagnostische Einordnung waren nicht möglich. Wir stellten die Verdachtsdiagnose einer wahnhaften Störung. In den folgenden Gesprächen zeigt sich Frau C. zu Beginn weiterhin wahnhaft, eine Medikation lehnte die Patientin jedoch ab. Sie liess sich auf die durch uns unterstützte Auflage der Vormundschaftsbehörde ein, ihre bei den Töchter für drei Tage die Woche – mit einer Übernachtung – in eine Kin derkrippe zu geben. Anfangs fiel ihr dies sichtlich schwer, denn ihr Leben hatte sich vor allem um die Kinder gedreht. Diesen gefiel es in der Krippe aber zunehmend besser. Schliesslich war auch Frau C. überzeugt, dass die Kinder vom neuen Umfeld profitieren würden. Für die Kinder wurde im Sinne einer Unterstützung der Mutter eine Erziehungsbeistandschaft eingerichtet. 15 Beide Massnahmen sowie die regelmässigen wöchentlichen Gespräche entlasteten die Patientin deutlich. Es gelang ihr, sich schrittweise zu öffnen und über die belastenden Erlebnisse zu berichten. Die Symptome traten nach zwei Monaten auch ohne Medikation zunehmend in den Hintergrund und verschwanden schliesslich ganz. Die Störung war vermutlich durch den Gerichtsprozess gegen den Vater ausgelöst worden. Ich sehe Frau C. weiterhin alle zwei Wochen. Als nächster Schritt ist die Arbeitsintegration geplant, worauf sich die Patientin zu freuen scheint. Vor allem freut sie sich darauf, wieder in Kontakt mit anderen Menschen zu kom men. Langsam gelingt es ihr, die freie Zeit ohne die Kinder für sich zu nutzen. So möchte sie nun zum Beispiel endlich Gesangsunterricht nehmen, das Singen ist, wie ich erfahren habe, ihre Leidenschaft. Ermöglicht wird der Unterricht durch ein Geschenk der ganzen Familie zu Weihnachten in Form eines Gutscheins. Trotz aller Vorkommnisse spielt die Familie weiterhin eine wichtige Rolle im Leben der Patientin. Ein erster Schritt zu einem wieder weniger verkrampften Umgang miteinander ist getan. Der Patientin geht es heute deutlich besser, die Situation hat sich ent spannt und die beiden Töchter können bei ihrer Mutter bleiben. Schlussfolgerungen Von den verschiedenen Faktoren, welche zum erfolgreichen Verlauf beigetra gen haben, sollen deren drei besonders hervorgehoben werden: Der Haus besuch zu Beginn der Behandlung, die Koordination der Hilfe und der lang same Kontaktaufbau. Ein unangemeldeter Hausbesuch wird von den meisten PatientInnen als Verletzung ihrer Privatsphäre erlebt. Oft stellt er aber die einzige Möglichkeit dar, die krankheitsbedingte, «gewählte» Isolation zu durchbrechen und der kranken Person, wie in diesem Fall, Hilfe anzubieten ( S. 21). Im nächsten Schritt gilt es dann, eine vertrauensvolle therapeutische Beziehung aufzu bauen. Danach kann die Therapie mit regelmässigen Gesprächen in der eige nen Institution durchgeführt werden. 16 Die Vernetzung mit den beteiligten HelferInnen ist zwar aufwändig, ermöglicht aber ein koordiniertes und abgestuftes Vorgehen. Verhindert wer den soll insbesondere ein Zuviel oder Zuwenig an Hilfe. Ausserdem realisiert die betroffene Person, dass die Aussagen der involvierten Fachleute überein stimmen, was sie glaubwürdiger macht. Zu Beginn wurden im Beispiel von Frau C. die Kontakte meinerseits bewusst kurz gehalten um die Patientin nicht zu überfordern. Nach wenigen Terminen erhielt ich dann von der Tante der Patientin die Rückmeldung, dass sich Frau C. gerne längere Gespräche wünsche. Ihre Nichte merke, dass ihr diese gut täten und sie komme gerne zu den Gesprächen. Eine schöne und erfreuliche Rückmeldung! Und ein Zeichen, dass trotz des nicht ganz freiwil ligen Beginns eine vertrauensvolle therapeutische Beziehung entstanden war. Frau C. kommt zwar auch heute noch oft zu spät, was wir beide mittlerweile aber mit Humor nehmen. Rückblickend berichtet die Patientin, dass sie über den Hausbesuch sehr erschrocken gewesen sei. In diesem Moment sei es gut gewesen, ihre Tante zu sehen. Sie habe gemerkt, dass irgendetwas mit ihr nicht stimme. Deshalb habe sie Angst gehabt, man komme sie holen, um sie in eine Klinik zu bringen, wie im Film «Einer flog übers Kuckucksnest». Im Kontakt mit ihren beiden Töchtern habe es wie «eine Schranke» gegeben. Sie sei nicht von Herzen bei ihnen gewesen. Sie habe die ganze Familie «verjagt» und sich zurückgezogen, obwohl ihr das Alleinsein Mühe bereitet habe. Sie habe nicht mehr gewusst, wem sie vertrauen könne. Jetzt gehe es ihr wieder gut, das «komische Gefühl» sei verschwunden. Sie könne wieder von Herzen bei ihren Kindern sein. «Die Fallführenden der SOD sind oft mit KlientInnen Ilse M. Kaufmann, konfrontiert, die psychiatrische Hilfe benötigten, aber Leiterin Kompetenz zentrum, Soziale kaum eine Arztpraxis aufsuchen würden. Daher be- Dienste Zürich grüssten sie die Idee der niederschwelligen psychologischen Hilfe vor Ort sehr. Der Pilot im SZ Hönggerstrasse erleichterte den Aufbau der Kooperation enorm. Ein Erfolgsfaktor ist die Nähe der Psychologen zu den Fallführenden. Grosse Sensibilität ist im Datenaustausch zwischen den Profis bei gleichzeitiger Wahrung des Berufsgeheimnisses gefordert.» med. pract. Paul-Richard Guzek, Oberarzt 19 Paul-Richard Guzek Mobile Teams: zentraler Bestandteil der zeitgemässen Gemeindepsychiatrie Einleitung Der Hausbesuch gehört traditionell zum ärztlichen Handlungsrepertoire. Er ist insbesondere in der Allgemeinmedizin so selbstverständlich, dass er keiner besonderen Erklärung oder gar Rechtfertigung bedarf. Die Bezeichnung Hausärztin oder Hausarzt spiegelt diese Tatsache wider. In der Psychiatrie als einer medizinischen Disziplin hingegen, welche das Spannungsverhältnis von Helfenwollen und -müssen stets zu reflektieren ver sucht, ist dies anders. Bereits im Vorfeld einer Intervention im privaten Umfeld des Patienten sind die psychiatrisch Tätigen aufgefordert, sowohl ihre Vor gehensweise als auch die psychosozialen Auswirkungen ihres Besuches abzuwägen. Hausbesuche wurden in der Psychiatrie bereits zu Anfang des 20. Jahr hunderts angewendet. Später jedoch wurde diese Intervention zunehmend kritisch betrachtet. Dieser Umstand liegt im historischen Ballast des Faches begründet, der bis in die Gegenwart zu seiner gesellschaftlichen Stigmatisie rung beiträgt [1] In der modernen Psychiatrie hingegen erfährt aufsuchende Hilfe seit den sechziger Jahren international eine Renaissance. Verschiedene Modelle wie Assertive Community Treatment, Case Management, Community Mental Health Teams und Hometreatment werden bereits seit längerer Zeit erfolgreich angewendet. Ursprünglich vorwiegend im angloamerikanischen Raum angesiedelt, erreichte der Trend via Skandinavien und die Niederlande allmählich den deutschsprachigen Raum. 20 Die meisten dieser Modelle orientieren sich an folgenden Grundsätzen: 1. Die Bedürfnisse der PatientInnen und nicht die der Institutionen stehen im Mittelpunkt der Therapieplanung und der Festlegung des Settings. 2. Die Behandlung findet so lange wie möglich im Wohnumfeld der Patient Innen statt. 3. Die Bedarfs- und Bedürfnisermittlung ist realitätsnah und ressourcen orientiert. Der individuellen und von jedem Patienten selbst definierten Lebensqualität wird zentrale Bedeutung beigemessen. 4. Nach Lösungen wird trialogisch im Rahmen eines offenen Dialoges gesucht. Mobile Teams Das mobile Team, auch mobile Equipe genannt, kann als zentraler Bestandteil aufsuchender psychiatrischer Hilfe aufgefasst werden. Diese besteht aus interdisziplinären Fachleuten, die die Patienten in ihrem Lebensumfeld situa tions- und bedürfnisangemessen behandeln. Eine Sonderform stellt das sogenannte Hometreatment dar, bei welcher die Interventionsbereitschaft des behandelnden Teams klassischerweise rund um die Uhr an sieben Tagen in der Woche besteht. Die mobile Equipe des PPD Die mobile Equipe des PPD setzt sich je nach Kontext ad hoc aus der Ärztin des PPD, der Sozialarbeiterin, der Bezugsperson des Begleiteten Wohnens oder einer Pflegefachperson der Spitex zusammen. Im Unterschied zu mobi len Equipen anderer Institutionen, besteht sie also aus den im jeweiligen Fall involvierten Fachpersonen des PPD und des Sozialdepartements und wird für jeden Fall neu zusammengestellt. 21 Vor acht Jahren im Rahmen eines gemeinsamen Pilotprojekts mit dem Sozial departement gegründet, kommt sie heute in folgenden Situationen zum Ein satz: – als Krisenintervention nach einer Meldung von dritter Seite (Betreuer, – bei Abbruch einer ambulanten Behandlung und Hinweisen für eine mög – nach Absprache mit dem Patienten zur «systemischen Diagnostik» Angehörige, Polizei) liche bevorstehende Dekompensation Ziel ist es, problematische Entwicklungen durch den Besuch zu Hause früh zeitig zu erkennen und diesen entgegenzuwirken. Notfalleinsätze und FFESituationen sollen soweit als möglich vermieden werden. Insofern ist die mobile Equipe kein Ersatz für den Notfallpsychiater, sondern ein Bindeglied zwischen diesem und der ambulanten Sprechstunde. Die Vorteile der aufsuchenden Hilfe Das klassische psychopathologische Nachdenken über die Bedingungen der psychischen Krankheit fokussiert die Wahrnehmung auf das Individuum und blendet dabei die Kybernetik seines Ökosystems teilweise aus [2]. Bei den aufsuchenden Angeboten wird der Blickwinkel erweitert. Ihre Vorteile sind vielfältig und umfassend: 1. Direkte Informationen über den Zustand, die Grösse und Lage des Wohnraumes 2. Einblick und Kontaktaufnahme mit der sozialen Umgebung, wie z. B. Angehörigen, Nachbarn sowie Erfassung von Ressourcen 3. Aufnahme von Hinweisen für einen Suchtmittelkonsum und Besonder heiten bei der Ernährung und der Körperpflege 4. Realitätsnahe Gestaltung der Behandlungsplanung 5. Prävention von Eskalationen und Klinikeinweisungen 22 6. Verhinderung von Therapieabbrüchen 7. Ermöglichung des Zugangs zum Hilfssystem 8. Abgleichung des persönlichen Eindrucks mit der Schilderung des Patienten1 Die Wohnung kann man – nach der Haut und der Kleidung – als eine Art «dritte Haut» eines Menschen konzeptualisieren. Die Notlage der kranken Person erschliesst sich den TherapeutInnen vor Ort schneller und vollständiger. Die Gefahren und Grenzen der aufsuchenden Hilfe Diesen Vorteilen stehen jedoch auch einige Gefahren und «unerwünschte Wirkungen» gegenüber. Der psychiatrische Hausbesuch kann für die Patien tInnen und ihre Angehörigen bedrängend, beschämend und stigmatisierend sein. Er kann als Beschränkung der Eigenaktivität und der Selbstbestimmung empfunden werden. Deshalb muss er, wie alle medizinischen Massnahmen, einer sorgfältigen Indikationsstellung unterzogen werden. Wenn immer mög lich sollte der Hausbesuch angemeldet werden.2 1 In der Psychose z. B. erfährt die Wohnung eine recht charakteristische Umgestaltung. Sie verliert häufig ihren bergenden und schützenden Charakter. Die psychotische Person fühlt sich an einen Raum ausgeliefert, der keine verlässlichen Grenzen mehr hat. Die eigene Wohnung ist nicht mehr vertraut und wird zur Quelle der Angst. Durch die Wände, aus dem Schlüsselloch, den Steckdosen, den elektrischen und elektronischen Geräten dringen schädigende Strahlen, todbringende Dünste, verfolgungverheissende Geräusche in die Wohnung und verursachen leibhaftig wahrgenommene Veränderungen und Schädigungen. Die Betroffenen fühlen sich durch die Wände hindurch, durch abgedeckte Fenster und verbarrikadierte Türen beobachtet, ausgehorcht und der eigenen Intimzone beraubt. Durch die plötzlich «ringhörig» gewordenen Wände und Fenster hören Sie Gespräche und Kommentare feindlich gesonnener Nachbarn. Die erlebte Entgrenzung der Wohnwelt muss deshalb möglichst rückgängig gemacht werden. Neue Schlösser, Riegel und Sicherungen werden eingebaut, die Türe verbarrikadiert, Fenster abgedichtet und Steckdosen verklebt (frei nach 1). 2 Die Anmeldung eines Hausbesuches drückt Respekt vor der Person des anderen aus und signalisiert gleichzeitig eine Distanzierung von der totalitären Kontrollfunktion der Psychiatrie, welche leider zu ihrem geschichtlichen Ballast gehört[1]! 23 Die Psychiaterin darf die Wohnung (oder das Zimmer im Wohnheim) ohne Einladung oder Erlaubnis nur bei Gefahr im Verzug betreten. Sie macht sich sonst des Tatbestands eines «Hausfriedensbruchs» schuldig. Der psychiatri sche «Haus-Friedens-Bruch» begründet seine Berechtigung durch seinen therapeutisch-fürsorgerischen Auftrag. Der Fürsorgeaspekt sollte jedoch nicht zum Kontroll- oder Disziplinierungsinstrument mutieren.3 Man betritt dabei sensible Zonen von intimer Privatheit, was besonders viel Taktgefühl abverlangt. Auch für die Psychiaterin selbst bedeutet das Verlassen ihrer schutzbie tenden und rollenzuweisenden Institution eine grosse fachliche und soziale Herausforderung. Die Begegnung auf derselben Augenhöhe, ausserhalb des Elfenbeinturmes, bei zugleich nicht zu leugnenden Asymmetrie des Macht verhältnisses muss mühevoll ausbalanciert werden. Eine vielfältige Rollendynamik entfaltet sich unter weniger kontrollierten Bedingungen und verursacht auch bei Professionellen, welche sich auf das «Gastspiel» eingelassen haben, mannigfache Verunsicherung. Die Patientin hat «Heimvorteil». Grenzen werden der aufsuchenden Hilfe auch aus ökonomischen Grün den gesetzt. Das gegenwärtige Tarifsystem honoriert den Aufwand, der bei Hausbesuchen anfällt, ungenügend. Ausserdem sind Risiken wie die Absage des Besuchs vor der Tür des Patienten nicht gedeckt. So besteht die para doxe Situation, dass nicht zuletzt aus ökonomischen Gründen stationäre Kapazitäten abgebaut, gleichzeitig aber komplementäre Angebote ein schliesslich mobiler Hilfen nicht angemessen finanziert werden. Der ökono mische Anreiz für die Schaffung entsprechender Strukturen ist somit gering. 3 (…) und als der bis in die Wohnstube verlängerter Greifarm der kustodialen Psychiatrie, welcher sich nach der unkooperativen Patientin ausstreckt, missverstanden werden [5]. 24 Fazit Nach Befreiung von den Ketten durch Pinel im 19. Jahrhundert und der Deinstitutionalisierungsbewegung im 20. Jahrhundert erobern nun die Konzepte Recovery [6] und Empowerment die psychiatrische Versorgungsplanung. Diese neuen Konzepte erfordern die Schaffung neuer Behandlungsparadig men, welche sich vornehmlich an den Bedürfnissen der Betroffenen und ihrer sozialen Umgebung orientieren und in ihrer Ausrichtung «proaktiv-entgegen kommend» und im Bedarfsfall «nachgehend» sein müssen [7]. Die mobile gemeindepsychiatrische Hilfe mit ihrem zentralen Anliegen, die PatientInnen in ihrer häuslichen Umgebung zu behandeln, bedeutet eine qualitative Verbesserung unseres psychiatrischen Instrumentariums. Der Hausbesuch wird zum unverzichtbaren Instrument des diagnostischen Ver stehens und des therapeutischen Handelns. PatientInnen, welche aufgrund der Schwere ihrer Erkrankung nicht in der Lage sind eine Behandlung selbst einzufordern, werden durch die nieder schwelligen, mobilen Angebote dort aktiv abgeholt, wo sie sich gerade befin den, statt dass man auf sie vergeblich wartet. Literatur 1. H. Stoffels, G. Kruse. Der psychiatrische Hausbesuch. Psychiatrie-Verlag, Bonn 1996 2. K. Dörner. Der Beitrag ökologischen Denkens zum Verständnis psychischen Erkrankungen und psychosozialen Handelns. In A. Thom, E. Wulff (Hrsg.) Psychiatrie im Wandel. Psychiatrie-Verlag 1990, 551-561 3. P. Yellowlees. Psychiatric assessment in community practice. MJA Practice Essentials, Dep. of Psychiatry, Univ. of Queensland Mental Health Centre, AU. 4. L. Ciompi. Zur Entwicklung des sozialpsychiatrischen Denk- und Behandlungsansatzes in der Schweiz. In A. Thom, E. Wulff (Hrsg.) Psychiatrie im Wandel. PsychiatrieVerlag 1990, 551-561 5. T. Bock. Wie muss sich die Psychiatrie auf dem Weg nach draussen verändern? XIII Tagung – Die subjektive Seite der Schizophrenie. Februar 2011, Hamburg. 6. Amering M. Recovery. Das Ende der Unheilbarkeit. Psychiatrie-Verlag, 2007 7. T. Berhe, B. Puschner, R. Kilian, T. Becker. «Home treatment» für psychische Erkrankungen. Nervenarzt 2005. 76: 822-831 «Die Kooperation des Begleiteten Wohnens mit dem Nicolas Ribaut, PPD startete mit dem Pilotprojekt «PPD goes mobile» Leiter Begleitetes Wohnen, Soziale im Jahr 2003 und richtete sich an psychisch kranke Einrichtungen und Bewohnerinnen und Bewohnern, welche nicht von Betriebe sich aus in eine ambulante Behandlung gingen und darum öfters per FFE in die stationäre Psychiatrie eingewiesen werden mussten. Inzwischen ist «PPD goes mobile» zu einer Erfolgsgeschichte geworden und diese mobile Dienstleistung der gemeinsamen Hausbesuche ist aus dem Alltag unserer Wohnbegleitung nicht mehr weg zu denken.» Dr. med. Jan Holder, Oberarzt 27 Jan Holder Wieder ein Dach über dem Kopf Ein Fallbericht In diesem Fallbericht stellen wir eine obdachlose 49-jährige Frau vor, welche aus schwierigen sozialen Verhältnissen stammt, an einer bipolaren Störung leidet und über lange Zeit jegliche Hilfsangebote ablehnte. Erst dank eines koordinierten Vorgehens und nach mehreren Anläufen gelang es, die Patien tin zu einem Eintritt in ein betreutes Wohnen und zu einer psychiatrische Behandlung zu motivieren. Welche Elemente haben dazu beigetragen? Wel che Schritte erwiesen sich als hilfreich? Vorgeschichte In ihrer Kindheit erlebte Frau H. viele traumatische Ereignisse. Vom Vater und anderen Männern wurde sie regelmässig sexuell missbraucht. Ihre alko holkranke Mutter kümmerte sich nicht um sie, so dass sie eine vertrauensvolle Beziehung nie erlebt hatte. Sie floh kurz vor der Matura von Zuhause und begann sich zu prostituieren. In dieser Zeit konsumierte sie zeitweise massiv Kokain. Drei Jahre später wurde sie obdachlos. Eine psychiatrische Konsul tation hatte sie bis zu diesem Zeitpunkt nie in Anspruch genommen. Anmeldung beim PPD Die Anmeldung erfolgte direkt in der Sprechstunde des PPD im Sozialzentrum, nachdem Frau H. durch ihr schillerndes, aufbrausendes und lautes Verhalten aufgefallen war. Im Kontaktverhalten zeigte sie sich jedoch eher kindlich-naiv. Jähe Stimmungswechsel mit aggressiven Durchbrüchen erschwerten den Umgang mit ihr. 28 Fr. H. präsentierte sich als eine jünger wirkende, freundliche, Selbst gespräche führende Frau. Ihr Gedächtnis erschien leicht reduziert, der Gedan kengang sogar bis zur Unkenntlichkeit zerfahren. Frau H. führte Zwiegespräche mit ihren mitgebrachten Stofftieren und schien akustisch und optisch zu hal luzinieren. Die Gesprächsatmosphäre gestaltete sie betont vertraulich, flirtend und humorvoll. Ihre Stimmung war situationsunangemessen euphorisch. Sie machte auf uns einen äusserst angetriebenen und unruhigen Eindruck. Dar über hinaus klagte sie über massive Schlafstörungen. Als ihre Hobbies nannte sie Schwimmen, Turmspringen und Tauchen. Als Diagnosen stellten wir eine bipolare Störung mit gegenwärtig mani scher Episode und psychotischen Symptomen sowie eine Persönlichkeitsak zentuierung nach jahrelangen sexuellen Deprivationsereignissen fest. Verlauf Wir empfahlen der Patientin nach dem Erstgespräch eine Medikation sowie begleitende therapeutische Gespräche, welche sie anfänglich allerdings ablehnte. Einige Monate später kam sie in der Notschlafstelle unter. Das enge Zusammenleben der dortigen BewohnerInnen hielt sie allerdings nicht aus, sie wurde verbal ausfällig und erhielt deshalb Hausverbot. Es folgte ein län gerer Aufenthalt am Flughafen, den sie sich vermutlich durch Prostitution finanzierte. Später war Frau H. wieder obdachlos und es bestand keinerlei Kontakt zu ihr. Erst nach einem Jahr tauchte sie wegen finanziellen Problemen wieder sporadisch bei der Sozialarbeiterin auf. Hier kam es nach einer gewis sen Zeit zu einem erneuten Kontakt mit uns. Eine zufällige Begegnung mit dem PPD-Arzt an der Limmat und ein anschliessendes Gespräch begünstigte den weiteren Beziehungsaufbau. In der Folge konnte sie unsere Empfehlung, in ein vom PPD konsiliarisch betreutes Übergangsheim1 einzutreten, anneh men. Dem Team des Wohnheimes gelang es, zur Patientin – trotz ihrer mas siven Stimmungsschwankungen – eine Beziehung aufzubauen, so dass diese schliesslich einwilligte, stimmungsstabilisierende Medikamente einzunehmen. 1 Ehemals Wohnwerkstatt, heute Bewo-City Feldstr. 29 Das mitunter aggressive sowie destruktive Verhalten bildete sich daraufhin zurück. Eine drohende Inhaftierung (VBZ-Bussen) konnte sie durch eine Beschäftigung in der Küche abwenden. Die Patientin gewann allmählich an neuer Zuversicht und konnte über ihre neuen Kompetenzen stolz sein. Heute nimmt sie aktiver am Leben teil und zeigt sich gegenüber ihrer Umgebung wesentlich vertrauensvoller. Mit schwierigen Situationen kann sie heute konstruktiver umgehen. Ihre Schlafstörungen sind heute weitaus weni ger beeinträchtigend und ihren Stimmungsschwankungen kann sie sogar mitunter humorvoll begegnen. Diskussion Die traumatisierte Frau hat in ihrem Leben die Erfahrung gemacht, dass es besser ist, sich niemandem anzuvertrauen und sich dadurch nicht abhängig zu machen, nicht einmal für ein Dach über dem Kopf. Ihre zentrale Überle bensstrategie war, um jeden Preis die Kontrolle zu bewahren. Dies erklärt, weshalb sie in der Vergangenheit trotz grossem Leidensdruck und Obdach losigkeit sämtliche Hilfsangebote ausschlug. Die finanzielle Not führte sie ins Sozialzentrum. Auch hier fand sie sich erneut in einer für sie unerwünschten Abhängigkeit wieder. Der Sozialarbeiterin gelang es trotz alledem in einer schwierigen Gratwanderung, die Wünsche ihrer Klientin nach Autonomie zu respektieren und dennoch mit sanfter Hartnäckigkeit ein Gespräch beim PPD zu bewirken. Nach dem Erstgespräch schlug die Patientin unsere Empfeh lungen zwar vorerst aus und wollte keine weiteren Termine mehr wahrneh men. Rückblickend wurde jedoch mit grosser Wahrscheinlichkeit bei dieser ersten Begegnung der Grundstein für den folgenden Beziehungsaufbau gelegt. Die Patientin hatte festgestellt, dass sie die Wahl hatte, die ihr ange botene psychiatrische Hilfe anzunehmen, diese ihr jedoch nicht aufgezwun gen wurde. Die folgenden Kontakte mit dem PPD ein Jahr später wurden wieder über das Sozialzentrum initiiert ( S. 9 und 39 ). Als grosser Vorteil erwies sich dabei, dass der gleiche Arzt, welcher sie im Sozialzentrum ken nengelernt hatte, sie anschliessend im Übergangsheim weiterbetreute und mit dem dortigen Team zusammenarbeiten konnte. Hierdurch erlebte die 30 Patientin eine Kontinuität und zugleich eine positive Beziehungserfahrung, welche sie in ihrem bisherigen Leben nie kennengelernt hatte. Zusammenfassend trugen aus unserer Sicht verschiedene Faktoren zu diesem positiven Behandlungsverlauf bei: zunächst der zwar freiwillige, aber durch geduldige Hartnäckigkeit erwirkte Erstkontakt im Sozialzentrum, die Folgekontakte mit dem Arzt, welcher die Hilfsangebote wiederholte, dann die Behandlungskontinuität bei Eintritt in das Übergangsheim und schliesslich die interdisziplinäre Zusammenarbeit mit dem Sozialzentrum und dem Heim. Ohne diese Elemente wäre ein Kontaktaufbau und somit die Einleitung und Durchführung der psychiatrischen Behandlung kaum möglich gewesen. «Wir pflegen eine enge Zusammenarbeit mit dem PPD. Regelmässig kommt die für unsere Einrichtung zuständige Psychiaterin auf Besuch, um Gespräche mit den Klientinnen und Klienten zu führen, die Medikation zu Marianne Spieler überwachen und sich mit dem Personal auszutauschen. Frauenfelder, Leiterin Betreutes Monatlich wird eine Fallbesprechung mit gezielten Prob Wohnen City, lemstellungen durchgeführt. Auch bei psychiatrischen Soziale Einrichtungen Notfällen konsultieren wir den PPD, um sinnvolle Mass- und Betriebe nahmen einzuleiten. Die häufigen Kontakte schaffen Vertrauen: Die Mitarbeitenden schätzen die fachärztliche Hilfestellung, und die KlientInnen akzeptieren die Interventionen. Dank der Zusammenarbeit mit dem PPD müssen wir praktisch keine Ausschlüsse aussprechen, und können die KlientInnen auch in schweren Krisen situationen bei uns behalten. Ich als Einrichtungsleiterin will mir gar nicht vorstellen, wie es wäre, diese Häuser ohne die fachliche Unterstützung des PPD zu führen!» Dr. phil. Gabriela Nietlisbach, Psychologin im Sozial zentrum Albisriederhaus 33 Gabriela Nietlisbach Wer wird im PPD behandelt? Welche Behandlungsangebote gibt es? Auswertung der Basisdokumentation Im PPD werden bei Beginn, im Verlauf und bei Abschluss einer Behandlung patienten- und behandlungsspezifische Daten erfasst. Diese Basisdokumen tation liefert die Kenndaten zu PatientInnen und Behandlungen und dient der internen Qualitätssicherung. Im Folgenden wird ein Auszug der Zahlen des Jahres 2010 vorgestellt. Anzahl und Alter Insgesamt waren im Jahr 2010 1062 PatientInnen in Kontakt mit dem PPD, 40 % Frauen und 60 % Männer. Das Durchschnittsalter dieser Personen lag bei 41.7 Jahre ( Standardabweichung 12.7 Jahre ). Die Angebote richten sich an 18- bis 65-Jährige. Therapie-Setting Zum Behandlungsangebot gehören Abklärungsgespräche, Kurztherapien und langfristige Therapien ( vgl. Abb. 1 ). Bei 371 PatientInnen fanden Abklä rungsgespräche im Rahmen von 1– 3 Stunden statt. Bei ca. einem weiteren Drittel aller PatientInnen fand eine Kurzzeittherapie statt, welche 4 –10 Thera piestunden beinhaltete. Weitere 350 nahmen eine Behandlung mit mehr als 10 Therapiestunden in Anspruch. Die Therapien ab 10 Stunden beinhalten sowohl integrierte psychologisch-psychotherapeutische Behandlungen als auch Psychotherapien im engeren Sinne. 2010 umfasste das Gruppenangebot eine Gruppentherapie gegen Schlaf störungen, eine Gruppe mit frauenspezifischen Themen und eine Gruppe 34 Abbildung 1| Behandlungsangebote 350 Abklärung ^3 h Kurztherapien 4 –10 h Therapien ab 10 h 371 340 Abbildung 2| Einzel- und Gruppentherapien Einzel 1026 Gruppe 29 7 «Training sozialer Kompetenzen». 1026 PatientInnen wurden im Einzelsetting behandelt, 29 PatientInnen nahmen nebst den Einzeltherapiestunden an einer Gruppentherapie teil und 7 Personen kamen ausschliesslich für eine Gruppen teilnahme in den PPD ( vgl. Abbildung 2 ). Hauptdiagnosen Die Aufschlüsselung der Hauptdiagnosen zeigt ( vgl. Abbildung 3 ), dass bei etwa 30 % ( n = 310 ) der 2010 im PPD behandelten PatientInnen eine affektive Störung ( F3 ) vorliegt. An zweiter Stelle mit rund 20 % ( n = 233 ) stehen die neurotischen, Belastungs- und somatoformen Störungen ( F4 ), zu denen auch die Angststörungen gehören. Je etwa 15 % der PatientInnen leiden an einer Störung aus dem schizophrenen Formenkreis ( F2 ; n = 151 ) oder an einer Abhängigkeitserkrankung ( F1 ; n = 139 ). Bei etwa 9 % ( n = 93 ) der Behandelten wurde eine Persönlichkeitsstörung als Hauptdiagnose codiert. Die Diagnosen der PatientInnen, bei welchen ein Hausbesuch durch geführt wurde, wurden separat ausgewertet. Hier liegen die Störungen aus dem schizophrenen Formenkreis mit rund 35 % ( F2 ; n = 41 ) an erster Stelle. 35 % Abbildung 3| Hauptdiagnosen nach ICD-10 35 Patienten im PPD (n=1062) Hausbesuche (n=113) 30 25 20 15 10 5 0 F0 F1 F2 F3 F4 F5 F6 F7 F8 F9 keine An zweiter Stelle folgen mit knapp 20 % ( n = 20 ) die affektiven Störungen ( F3 ). Bei je etwa 15 % ( n = 17 ) der Behandelten wurde eine Abhängigkeitserkrankung oder eine Störung aus der F4-Kategorie codiert. Die Persönlichkeitsstörungen wurden bei Hausbesuchen mit rund 10 % etwa gleich häufig codiert wie bei den PatientInnen, die im Ambulatorium an der Walche behandelt wurden. Globales Funktionsniveau ( GAF ) Mittels der standardisierten GAF-Skala werden bei Behandlungsbeginn und -abschluss sowohl die Schwere psychischer Symptome als auch soziale und berufliche Funktionsbereiche beurteilt. Je höher der GAF-Wert auf der Skala von 0 –100, desto höher ist das globale Funktionsniveau eines Men schen. Bei den meisten PatientInnen im PPD liegen Beeinträchtigungen im sozialen oder beruflichen Bereich vor. Zudem leidet eine beträchtliche Anzahl unter schweren psychischen Symptomen, was dazu führt, dass bei mehr als der Hälfte aller PatientInnen der GAF-Wert bei Behandlungsbeginn unter 50 liegt. Bei etwa 12 % der PatientInnen liegt der GAF-Wert zwischen 21– 30, bei 27 % zwischen 31– 40 und bei 22 % zwischen 41– 50 ( vgl. Abbildung 4 ). 36 % Abbildung 4| Globales Funktionsniveau (GAF), n=431 25 Behandlungsbeginn Behandlungsabschluss 20 15 10 5 0 1–10 11– 20 21– 30 31– 40 41– 50 51– 60 61– 70 71– 80 81– 90 91– 100 Erwartungsgemäss liegen die GAF-Werte bei Behandlungsabschluss höher ( 51.4 ) als bei Behandlungsbeginn ( 48.2 ). Der Vergleich der GAF-Mittelwerte vor und nach einer Behandlung weist eine mittlere Effektstärke von 0.4 auf. Berufliche Integration Bezüglich der beruflichen Integration zeigt eine Auswertung der 431 Patien tInnen mit Behandlungsabschluss im 2010 eine zwar kleine, aber in der Ten denz erfreuliche Entwicklung ( vgl. Abbildung 5 ). 35 Personen ( 8 % ) gelang ein Aufstieg aus der untersten Kategorie «Sozialhilfe und keine Beschäftigung» in eine höhere Kategorie. Bei 20 ( 5 % ) zeigte sich eine Veränderung in Richtung verschiedener Formen einer Arbeits tätigkeit. 14 Personen gelang während der Behandlung im PPD ein Aufstieg in die oberste Kategorie «Eigener Verdienst». Verglichen mit dem Grossteil der Personen, welche Sozialhilfeempfänger bleiben, ist dies zwar nur ein kleiner Anteil. Die Daten zeigen jedoch, dass positive Veränderungen möglich sind. GAF-Werte 37 Abbildung 5| Verlauf berufliche Integration (n=431) Andere Behandlungsbeginn Behandlungsabschluss Eigener Verdienst SH= Sozialhilfe IV = Invalidenversicherung IV und berufliche Massnahmen IV und einfache Tätigkeit IV und keine Beschäftigung SH und Teillohn SH und einfache Tätigkeit SH und keine Beschäftigung 0 10 20 30 40 50 % Mobile Tätigkeiten 2010 wurden 113 PatientInnen in 189 Einsätzen zu Hause besucht. Dabei handelte es sich um 137 mobile Kriseninterventionen und 52 geplante Haus besuche ( vgl. Grafik ). Im Rahmen der mobilen Kriseninterventionen mussten insgesamt 25 Fürsorgerische Freiheitsentziehungen ( FFE ), bei den geplanten Hausbesuchen hingegen keine verfügt werden. Abbildung 6| Mobile Tätigkeiten 52 137 Krisenintervention ausserhalb PPD geplante Hausbesuche lic. phil. August Seitz, Psychologe im Sozialzentrum Hönggerstrasse 39 August Seitz Ein Nachmittag als Psychologe im Sozialzentrum Hönggerstrasse Im Folgenden möchte ich einen kleinen Einblick in die vielseitige Thematik dieser Sprechstunden geben. Es handelt sich um das «Protokoll» eines Nach mittags. Die erste Fallvignette handelt von einer primär therapeutischen Stunde, die zweite von der institutionellen Zusammenarbeit mit den Sozialen Diensten, die dritte von einem Erstgespräch mit einer Klientin, die erst einmal für eine psychologische Abklärung und Behandlung gewonnen werden muss. Die letzte Stunde handelt von zwei Patienten: Beim ersten sind die Integra tionsmassnahmen auf gutem Wege, beim zweiten ist eine Arbeitsintegration nicht möglich. Hier steht die Erhaltung der Wohnfähigkeit im Vordergrund. Um 13.00 Uhr hole ich den ersten Patienten am Haupteingang des Sozial zentrums ab. Ausnahmsweise führen wir unser Therapiegespräch heute im Sozialzentrum durch. Gemeinsam fahren wir im Lift hoch und ich bemerke, dass Herr C.1 leicht nervös ist und schwitzt. Herr C. meidet soziale Kontakte. Menschliche Begegnungen lösen bei ihm Stress aus, machen ihm Angst, lassen ihn schwitzen. Manchmal gerät er sogar in Panik. Im November, gerade als die Temperaturen fielen, wurden ihm Strom und Heizung abgestellt. Er hatte längere Zeit die Rechnungen nicht bezahlt, weil er zu oft nicht zum Briefkasten ging, die Begegnung am Postschalter scheute und das Betrei bungsamt ohnehin fürchtet. Herr C. berichtet nun, wie er kurz vor Weihnach ten, als die Wohnungstemperatur schon deutlich unter zehn Grad gefallen war, seine Angst vor Begegnungen überwand und Holz für den alten Ofen kaufte. Da er nun aber kein Geld mehr hatte, um Essen einzukaufen, musste er sich nochmals überwinden und suchte den Sozialarbeiter auf, um 1 Initialen des Patienten geändert. 40 die Auslagen fürs Holz zurückerstattet zu bekommen. Er hoffte, dass der Sozialarbeiter ihm gleich einen Check ausstellen würde. Als der Sozialarbeiter die Rechnung entgegennahm, bemerkte dieser, dass er das Geld bei nächs ter Gelegenheit auf das Bankkonto überweisen würde. Herr C. sagte jedoch nicht, dass er gleich einen Check möchte. Am Ende musste Herr C. bis Anfang Januar ohne Geld auskommen und von dem Wenigen leben, was er noch zu Hause hatte. Herr C. ist sehr verärgert. Er schimpft, der Sozialarbei ter hätte doch merken müssen, dass er sofort Geld brauche! Dass er es nicht gemerkt habe, sei unprofessionell. Warum er denn selbst nicht gesagt habe, dass er sofort Geld brauche? frage ich. Er sei ja nicht neu bei der Sozialhilfe und wisse doch, dass Geldüberweisungen länger dauern können. Trotz seiner Ängste und Hemmungen würde ich das von ihm erwarten. Herr C. entgegnet daraufhin aufgebracht, dass das genau das sei, was die Sozialarbeiter gerne hätten, bitten und betteln. Aber das würde er keinesfalls machen, er werde nicht bitten und betteln, auf dem Boden kriechen und sich selbst erniedrigen ! Ich sehe, wie Herr C. von Emotionen, inneren Bildern und Erinnerungen auf gewühlt ist. Die Erregung ist deutlich, aber nicht übermässig. «Können Sie denn nicht um etwas fragen oder bitten, ohne sich dabei zu erniedrigen oder sich als Bettler zu fühlen?» frage ich in nachforschendem und zugleich ver ständnisvoll-konfrontierendem Ton, wohl wissend, wie schwer Bitten sein kann und gerade für denjenigen, welcher sich in einer abhängigen Position befindet. Herr C. reagiert betroffen. Er atmet tief durch, ist nachdenklich. Ja, das sei schwer, das habe er sein Leben lang nicht können. Um etwas fragen, um etwas zu bitten habe er stets als Erniedrigung erfahren! Sein Ärger auf den Sozialarbeiter ist verflogen! Er sieht nun selbst ein, wie negative Erfahrun gen und Emotionen sein Verhalten bestimmt haben. Gemeinsam analysieren wir dieses offensichtlich tief verankerte Verhaltensschema, dessen emotionale Wurzeln (autoritär ablehnender Erziehungsstil der Eltern) und dessen kurzsowie längerfristigen Folgen (kurzfristig: Konflikt- und Angstvermeidung; län gerfristig: Aggressionsstau und sozialer Rückzug, um unkontrollierte Aggres sionsentladung zu vermeiden). Der Patient entwickelt nun selbst eine Idee davon, wie er nächstes Mal seinen Wunsch sachlich und guten Mutes 41 formulieren könnte. Wird ihm dies gelingen? Die Chancen stehen gut, denn sein Sozialarbeiter sei eigentlich ganz o.k. und habe ihm schon bei der Rege lung der Prämienrückstände bei der Krankenkasse geholfen und sei daran, mit dem EWZ zu verhandeln. Er kann seinen Sozialarbeiter jetzt (wieder) in einer realistischeren Weise sehen. 14.00 Uhr: Fallbesprechung mit einer Sozialarbeiterin. Es geht um eine Klien tin mit geringen Deutschkenntnissen. Sie leidet seit Jahren an Rücken- und Beinschmerzen, welche von den Ärzten somatisch nicht erklärt werden kön nen. Ein Rentenantrag bei der IV wurde abgelehnt, die Klientin sei für leichte Arbeiten voll arbeitsfähig und kein Versicherungsfall. Die Sozialarbeiterin hält die Klientin jedoch aus psychischen Gründen für 100 % arbeitsunfähig. Soll die Sozialarbeiterin den Entscheid der IV über den Rechtsdienst überprüfen lassen? Ist das Gutachten, das uns aktuell nicht vorliegt, wohl in allen Punkten korrekt? Wie soll die Sozialarbeiterin bezüglich Arbeitsintegra tion weiterfahren, so dass es dem tatsächlichen Gesundheitszustand der Klientin gerecht wird? Um diese Fragen der Sozialarbeiterin zu klären, planen wir gemeinsam folgendes Vorgehen: Mit der Klientin sollen psychiatrische Abklärungsgespräche im PPD vereinbart werden unter Beizug einer Dolmet scherin. Weiter sollen die IV-Akten einbestellt, studiert und der Rechtsdienst eingeschaltet werden – falls der psychiatrische Teil lückenhaft oder in ent scheidenden Punkten von unserer diagnostischen Beurteilung abweichen würde. In diesem Falle könnte der PPD bei der Begründung eines Rekurses mit relevanten Argumenten helfen. Es ist aber gut möglich, dass auch wir, nach unseren Abklärungen in versicherungsrechtlicher Hinsicht, zu demsel ben Schluss kommen wie die IV. Weiterhin soll das Abklärungsgespräch dazu dienen, die Klientin für allfällig indizierte psychotherapeutische Massnahmen zu gewinnen und – wenn möglich – für erste Arbeitsintegrationsmassnah men, wie z.B einen gemeinnützigen Einsatz, zu motivieren und sie dabei zu begleiten. Dazu werden wir die zuständige Sozialarbeiterin, welche gemein nützige Einsätze organisiert, einbeziehen und mit ihr ein möglichst genaues Arbeitsprofil erarbeiten, das auf die Klientin zugeschnitten ist. Darüber hinaus Patrizia Ingold, Sozialarbeiterin, Sozialzentrum Albisriederhaus «Die Zusammenarbeit mit unserer ‹Hauspsychologin› Gabriela Nietlisbach erlebe ich als überaus bereichernd. In schwierigen Situationen kann ich sie hinzuziehen, sie ist gut erreichbar und die Zusammenarbeit ist äusserst unkompliziert. Ich schätze insbesondere ihre humorvolle Art und ihr Engagement, welche in dieser oftmals schwierigen Arbeit unentbehrlich sind. Die Hilfe von Gabriela und dem PPD ist stets kompetent und professionell. Für mich ist diese Unterstützung aus meiner Arbeit nicht mehr wegzudenken !» 43 ist es wichtig, dass wir die Unterstützung der langjährigen Hausärztin, einer Landsmännin der Klientin, gewinnen, die ihr Vertrauen geniesst. Mit Einver ständnis der Klientin wird der PPD den Kontakt zu dieser Hausärztin aufnehmen. 15.00 Uhr: Angemeldet ist die 22-jährige Frau F., die ich heute zum ersten Mal sehen werde. Frau F. hat, laut Anmeldung der Beiständin, verschiedene Integrationsmassnahmen wiederholt abgebrochen. Frau F. sei in verschiede nen Heimen platziert gewesen und zur Zeit obdachlos. Sie käme immer wie der einmal bei Bekannten für ein oder zwei Nächte unter, sei aber so andau ernd mit der Suche nach einer Unterkunft beschäftigt. Die Beiständin möchte wissen, wie es um den psychischen Gesundheitszustand von Frau F. steht. Frau F. erscheint diesmal (nach drei versäumten Terminen) pünktlich. Sie verhält sich abweisend, trotzig, und gibt sich wortkarg, macht aber einen intelligenten Eindruck. Sie beschreibt Migräneprobleme, häufiges Fieber, wofür der Arzt keine somatische Ursache finde. Auch habe sie Einschlafstö rungen und Gedankenkreisen bezüglich Zukunft. An den Unterarmen hat sie Narben von Schnitten, die sie sich selber zugefügt habe. Sie hat eine Lehre abgebrochen und würde gerne eine Ausbildung in einem speziellen Bereich des Detailhandel machen. Als sie bemerkt, dass ich dafür ein offenes Ohr habe, ihr dies intellektuell zutraue und Überlegungen anstelle, wie man dies trotz zu erwartender Schwierigkeiten in die Wege leiten könnte, wird Frau F. lebendig. Nun ist sie am Gespräch interessiert und möchte einen neuen Ter min haben, um das Thema weiter zu verfolgen. Leider müsse sie nächste Woche erst einmal in Haft, um VBZ-Bussen abzusitzen. Sie wolle sich nach der Haft bei mir wieder melden. 44 16.00 Uhr: Herr E. ist noch nicht da. Eine Sozialarbeiterin kommt spontan vorbei, erkundigt sich, wie es ihrem 23-jährigen Klienten, Herr U., gehe. Sie hatte Herrn U. vor einigen Monaten angemeldet, da die Betreuer der Arbeits integration sehr unterschiedliche Rückmeldungen bezüglich der kognitiven Leistungsfähigkeit von Herrn U. gaben. Die testpsychologische Abklärung brachte Aufschluss (Teilleistungsprobleme), so dass berufliche Massnahmen bei der IV beantragt wurden. Nun ist der junge Mann seit einem Monat in einer Berufsabklärung der IV und arbeitet in einer Autowerkstatt. Davon habe er immer geträumt und er nehme es in Kauf, dass er täglich um 05.30 aufstehen müsse, weil der Arbeitsweg lang sei. Darüber sind alle erstaunt! Herr E. ist immer noch nicht da. Er wird heute vermutlich nicht mehr kommen. Das ist bei ihm nicht ganz ungewöhnlich; er ist medikamentenab hängig und erscheint des öfteren in schläfrigem Zustand. Stationäre Entzugs versuche sind mehrmals gescheitert. Danach nahm er noch mehr Medika mente ein, da seine Schmerzen, die durch ein Schleudertrauma ausgelöst wurden, unerträglich waren. Ich erneuere für ihn eine Spitex-Verordnung, da er auf Haushalthilfe angewiesen ist. Insgesamt hat sich bisher gezeigt, dass der Klient mit Unterstützung der Sozialarbeiterin, der Spitex und dem PPD in der Lage ist, seine Wohnfähigkeit zu erhalten. Eine teurere betreute Wohnform war daher bislang nicht nötig. «Der PPD bietet hohe fachliche Standards und einen Donald Ganci, sehr niederschwelligen Zugang. Die Wertung erlaube Einrichtungsleiter Jugendberatung ich mir aufgrund der positiven Rückmeldungen ver- Streetwork, Soziale mittelter KlientInnen. Meine Mitarbeitenden gelangen Einrichtungen mit unterschiedlichen Anliegen an das Angebot des und Betriebe PPD – sei es für Teamweiterbildungen, kurzfristig einzuleitende Triagen, Kriseninterventionen, enge Zusammenarbeit bei gemeinsamen Fällen oder einfach nur ein Telefonat für eine Handlungsempfehlung – wir bekommen immer umgehend und zuverlässig die notwendige Unterstützung.» PD Dr. med. Albert Wettstein, Chefarzt Stadtärztlicher Dienst 47 Martina Cesal und Albert Wettstein Die bezirksärztlichen Hausbesuche des Stadtärztlichen Dienstes Eine retrospektive Auswertung der Jahre 2005 bis 20091 Von Martina Cesal1 In den Jahren 2005 bis 2009 unternahm der Stadtärztliche Dienst (SAD) 624 bezirks- oder amtsärztliche Hausbesuche bei 568 verschiedenen Perso nen. Ausgeführt wurden die Besuche hauptsächlich durch den Chefarzt Albert Wettstein und bei seiner Abwesenheit durch die Psychiater und Stadtärzte Christoph Held und Ulrich Erlinger. Meldungen Mindestens zweimal pro Woche erhält der Stadtärztliche Dienst einen Anruf von verunsicherten Nachbarn, besorgten Angehörigen, von der Polizei oder auch der Vormundschaftsbehörde. Sie bitten in der Regel um Hilfe für eine Person, die ihrer Ansicht nach in Not ist, sich aber selber keine Hilfe holen kann oder eine Unterstützung ablehnt. Es ist Aufgabe des Stadtarztes, sich gegebenenfalls an Ort und Stelle genauer über das Problem zu informieren und abzuklären, inwiefern Handlungsbedarf besteht. 1 Gekürzte Version einer Masterarbeit im Rahmen des Medizinstudiums an der Universität Zürich 48 Tabelle 1 zeigt die Meldeinstanz und den Meldegrund in Abhängigkeit der Altersgruppe. Alter Anzahl < 65-jährig 224 > 65-jährig 344 Meldeinstanz in % in % Vormundschaftsbehörde 24 21 Angehörige 11 12 5 12 Soziale Einrichtung 13 11 Vermieter Arzt 13 10 Polizei 7 9 Spitex 3 7 Beistand 7 4 Übrige 17 14 Auslöser in % in % ungenügende Betreuung 11 23 Verwahrlosung 12 23 Verwirrtheit 0 10 22 6 Betagtenmisshandlung 2 5 Wohnungsausweisung 8 5 11 4 Aggressionen 4 4 Alkoholismus 3 2 Suizidalität 4 2 23 16 Verhaltensstörungen Wahnvorstellungen Übrige Kommentar : Die Betagtenmisshandlung als Auslöser kommt auch bei den unter 65-jährigen vor. In diesem Fall sind sie Täter. Die über 65-jährigen sind die Opfer. 49 Tabelle 2 zeigt die Diagnoseverteilung und die durchgeführten Interventionen. Alter Anzahl Diagnose (ICD-10) < 65-jährig 224 > 65-jährig 344 in % in % 6 60 F1 Abhängigkeitserkrankung 19 5 F2 Schizophrenie 40 9 F3 Affektive Störung 12 5 F0 organisch, Demenz F4 neurotisch, Zwang 3 4 F6 Persönlichkeitsstörung 4 1 F7 Intelligenzminderung 4 1 Keine 12 15 Intervention in % in % Beistandschaft 13 28 Spitexeinsätze 7 19 27 12 FFE 2 10 Keine Heimeinweisung 12 9 Ambulante Behandlung 13 5 Informelle Betreuung 1 4 Spitaleinweisung 3 3 Beratung 3 2 Betreuung Sozialdienst 5 1 14 7 Übrige 50 Diagnosen und Interventionen Bei den unter 65-jährigen wurden am häufigsten eine Diagnose aus dem schizophrenen Formenkreis gestellt, gefolgt von Abhängigkeitserkrankungen ( vgl. Tab. 2 ). Bei knapp einem Drittel der unter 65-jährigen musste eine Für sorgerische Freiheitsentziehung (FFE) ausgesprochen werden Ein grosser Teil der über 65-jährigen erhielt eine Beistandschaft aufgrund einer Demenz. Bei jeder fünften Person musste die Spitex eingeschaltet wer den, um die Pflege zu Hause sicherzustellen. Diskussion Dieser Überblick illustriert, mit welchen Problemen der Stadtärztliche Dienst konfrontiert wird. Die betagte demenzkranke Frau, die in ihrer Wohnung nach und nach verwahrlost, ist ebenso auf einen Besuch des Stadtarztes angewie sen wie der seine Nachbarn störende Alkoholiker und die psychotische Mut ter mit ihrem kleinen Kind. Viele dieser Patienten lehnen fremde Hilfe ab, können aber nicht einfach ihrem Schicksal überlassen werden. Der Stadtarzt kümmert sich nebenamtlich um solche Personen, obschon deren Behandlung eigentlich im Aufgabenbereich der kantonalen Psychiatrie läge. In einem fortgeschrittenen Krankheitsstadium sind viele Patienten nicht mehr in der Lage, medizinische Hilfe in Anspruch zu nehmen. Einigen bleibt auch wegen unbezahlter Rechnungen oder wegen ihres unangepassten Ver haltens der Zugang zum Gesundheitswesen verwehrt. In solchen Fällen wäre es wichtig, dass die vorbehandelnde Stelle den Kon takt aufrecht erhält, und zwar auch dann, wenn eine gefährdete Person meint, ohne fremde Hilfe auskommen zu können. So könnten viele Notfallsituationen und eine Entwicklung bis hin zum «point oft no return» verhindert werden. Wenn der Stadtarzt gerufen wird, ist der Zustand einer Person oft schon so prekär, dass freiheitseinschränkende Massnahmen nicht mehr zu verhindern sind. In weniger gravierenden Fällen kann der bezirksärztliche Dienst soziale oder pflegerische Stellen einschalten und so die Grundbedürfnisse der Patienten sicherstellen. Die steigende Patientenzahl des SAD und des PPD zeigt deutlich, wie gross der Bedarf nach aufsuchender ärztlicher Hilfe im kommunalen Umfeld ist. 51 David Briner Gesundheitlichen Ungleichheiten begegnen In der Literatur finden sich viele Belege für den Zusammenhang zwischen Armut und erhöhter körperlicher und psychischer Morbidität [1,2]. Eine 2007 durchgeführte standardisierte Erhebung der psychischen Belastung bei den neuangemeldeten Sozialhilfeempfängern in der Stadt Zürich zeigte gegen über der Normalbevölkerung deutlich erhöhte Werte in den Bereichen Depres sivität, Ängstlichkeit, Somatisierung und paranoides Denken. Insgesamt waren 20 % der neuen KlientInnen psychisch schwer belastet [3]. Diese Ergebnisse überraschen nicht. Es ist heute weitgehend unbestrit ten, dass die Gesundheit entlang des sozio-ökonomischen Gradienten stra tifiziert ist. Die Fülle empirischer Arbeiten zu den sozialen Determinanten von Gesundheit lässt sich auf einen erstaunlich einfachen Nenner bringen: je höher der sozio-ökonomische Status eines Menschen, desto besser seine Gesundheit und desto höher seine Lebenserwartung [4,5]. Von einigen weni gen Ausnahmen wie Asthma oder Erkrankungen des allergischen Formen kreises abgesehen, sind Menschen umso kränker, je niedriger ihr Einkommen, je geringer ihre Bildung und je schlechter ihr beruflicher Status ist. Dieser Zusammenhang zeigt sich nicht nur bei den unteren Schichten, sondern bis in die höchsten Stufen der sozio-ökonomischen Leiter. AkademikerInnen leben länger als FachhochschulabsolventInnen, diese haben wiederum eine höhere Lebenserwartung als Personen mit einer abgeschlossenen Berufs lehre und noch kürzer leben ungelernte Hilfskräfte. Wie lassen sich diese Ungleichheiten im Gesundheitszustand erklären? In der Literatur gibt es zusammengefasst drei Erklärungsansätze: 52 1. Selektionshypothese nach dem Prinzip «survival of the fittest»: Gesunde haben mehr Chancen für einen sozialen Aufstieg, Kranke hingegen mehr Risiken für einen sozialen Abstieg. Vereinfacht: Krankheit macht arm. 2. Erklärung durch Verhalten: Gesundheitsabträgliche Verhaltensweisen oder Lebensstile sind sozial ungleich verteilt. 3. Erklärung durch strukturelle resp. materielle Faktoren: Ungleiche Vertei lung verschiedener umweltbezogener und psychosozialer Belastungen und Ressourcen. Vereinfacht: Armut macht krank. In der heutigen Debatte besteht Einigkeit, dass kein einzelnes Modell die sozialen Determinanten der Gesundheit hinreichend zu erklären vermag. Die Mechanismen der Selektionshypothese sind zwar im Grundsatz unbestritten, fallen quantitativ aber viel zu wenig ins Gewicht. Es wird daher davon aus gegangen, dass sowohl Verhalten als auch Verhältnisse Gesundheit bedingen, und zwar in einem komplexen gegenseitigen Wechselspiel. Kindheit, sozialer Status und Gesundheit Verschiedene Autoren [ 6,7,8 ] weisen darauf hin, dass ein gesundes und lan ges Leben das Ergebnis eines lebenslangen Entwicklungsprozesses sei. Die ser resultiert aus der Interaktion von biologischen, psychologischen und sozia len Einflüssen in verschiedenen Stadien des Lebens. Ergebnisse aus der Lebenslaufforschung zeigen, dass • der soziale Status bei Geburt und in der Kindheit mit Gesundheitsbeein trächtigungen im späteren Leben und früherer Sterblichkeit assoziiert ist und • der soziale Status die Wahrscheinlichkeit von multiplen Risiken zu unter schiedlichen Zeitpunkten von der Geburt bis ins hohe Alter determiniert. 53 Reduzierung gesundheitlicher Ungleichheiten Wie kann diesen Einflussfaktoren und Prozessen begegnet werden, um gesundheitliche Ungleichheiten zu reduzieren? Soziale Ungleichheiten können zwar nicht vermieden werden, die gesundheitlichen Folgen dieser Ungleich heiten sollten jedoch gezielter angegangen werden. Die Commission on Social Determinants of Health der WHO [ 4 ] betont die Notwendigkeit der Verbesserung der täglichen Lebensbedingungen bei Armut und weist auf die Bedeutung von Bildung und Einkommen als Grundlage für Gesundheit hin (vgl. Abbildung 1). Abbildung 1| In Richtung eines umfassenderen Modells Economic and political context Social position Governance Education Policy (Macroeconomic, Social, Health) Occupation Material circumstances Social cohesion Income Psychosocial factors Cultural and social norms and values Gender Behaviour Ethnicity/Race Biological factors Health-Care system Distribution of health and well-being 54 In der Gesundheitspolitik geht es immer noch in erster Linie um die Finanzie rung und Bereitstellung medizinischer Versorgungsleistungen. Es ist unbe stritten, dass die kurative Medizin einen hohen Beitrag für die Lebensqualität und eine verlängerte Lebenserwartung leistet. Vernachlässigt werden jedoch die Prävention und die vorgelagerten Determinanten der Krankheiten [ 9 ]. Eine nachhaltige Gesundheitspolitik sollte deshalb bildungs-, arbeits- und sozial politische Massnahmen einbeziehen. Der deutsche Arzt Rudolf Virchow brachte dies schon im Jahr 1848 auf den Punkt: «Die Medicin ist eine sociale Wissenschaft, und die Politik ist nichts weiter als Medicin im Großen.» Literatur 1. Mangalore R. Income-related inequality in mental health in Britain. Psychol Med. 2007; 37(7):1037– 45 2. Hong, J. et al. Income-related inequalities in the prevalence of depression and suicidal behaviour. World Psychiatry, 2011 Feb;10(1):40 – 4. 3. Briner, D., Guzek, P. Integrierte psychiatrische und soziale Versorgung. Abstract DGPPN-Kongress Berlin, 2009 4. Commission on Social Determinants of Health. CSDH final report: closing the gap in a generation: health equity through action on the social determinants of health. Geneva: World Health Organization, 2008. 5. Buyx A. Wie gleich kann Gesundheit sein? Gesundheitswesen 2010;72:48 – 52. 6. Wadsworth M. Health inequalities in the life course perspective. Social Science & Medicine. 1997; 44:859 – 869 7. Graham H. Building an interdisciplinary science of health inequalities: the example of life course research. Social Science & Medicine. 2002; 55:2005 – 2016 8. Lampert T., Richter M. Kinder und Jugendliche: Ungleiche Lebensbedingungen, ungleiche Gesundheitschancen. Gesundheitswesen 2006; 68(2):94 –100. 9. Richter M., Hurrelmann K. (eds.). Gesundheitliche Ungleichheit. Grundlagen, Probleme, Perspektiven. VS-Verlag, 2009 «Die Kooperation zwischen dem PPD und der Zürcher Barbara Willimann, Fachstelle für Alkoholprobleme ZFA ermöglicht uns Geschäftsführerin, Zürcher Fachstelle seit April 2009 ambulante psychiatrische und sucht- für Alkoholprobleme medizinische Dienstleistungen im Haus der ZFA an- (ZFA) zubieten. Unsere KlientInnen profitieren dadurch von einer niederschwelligen und nahtlos aufeinander abgestimmten medizinischen Versorgung sowie einer umfassenden psychosozialen Behandlung. Auch der interdisziplinäre Austausch stellt für alle Beteiligten eine fachliche Bereicherung dar.» obere Reihe vlnr : Elisa Choi, Psychologin; August Seitz, Psychologe; Julia Würthner, Ärztin; Amay Villazan, Fachärztin, Gabriela Nietlisbach, Psychologin; Fenissa Schlatter, Psychologin; Nadja Monem, Ärztin, Silvana Keller, Administration untere Reihe vlnr : Barbara Ganz, Psychologin; Angelo Barrile, Arzt; Britta Platz, Sekretariat; Paul Guzek, Oberarzt; Karel Kukal, Arzt; Jan Holder, Oberarzt; David Briner, Leiter