So unbeschreiblich weiblich

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KULTUR
So unbeschreiblich weiblich
Von Julia Marx. Aktualisiert am 22.12.2010
Was einst erotische Unterhaltung für den einfachen Mann war, ist als New Burlesque
zur weiblichen Subkultur geworden.
Strahlende Individualistinnen spielen mit ihrem Publikum: Eine Burlesque-Tänzerin
bestreitet das Finale des letztjährigen New Burlesque Festivals in New York.
Artikel zum Thema
Die Schweizer Sex-Bombe
Syra Marty auf DVD
Ausgezogen, um sich auszuziehen
Sie wurde in Amerika gefeiert und in Japan, sie
tanzte in Acapulco, Wien und Paris, um 1950
Die blonde Frau lächelt kokett über die Schulter, ehe sie den
riesigen Ballon in ihren Händen aufreisst und ruckartig den
Kopf hineinsteckt. Man erwartet einen Knall, doch der Ballon
hält. Wie ein gigantischer Kopf sitzt er auf dem Körper der
Frau, die sich zu den Klängen von «Moon River» wiegt. Sie
lässt das halbtransparente Glitzerkleid an sich herabgleiten,
schlüpft noch weiter in die Gummihülle, tanzt nun als
langbeiniger Ball über die Bühne. Schliesslich verschwindet
sie ganz in der perlmuttfarben schimmernden Blase, der Song
erhielt sie in den europäischen Medien den
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Titel «dieans
schönste
Frau
der Welt»:
Marty,
gelangt
Ende,
Julie
AtlasSyra
Muz
streckt sich und – peng – steht mit triumphal erhobenen Armen im
geboren
1921
als
Josefina
Magdalena
Marty,
als
Stringtanga zwischen den Ballonfetzen.
eins von acht Kindern eines armen
Innerschweizer Wirts. Syra Marty, die immer
nur tanzen wollte, begann als erste Stripperin
der Schweiz in Zürich, in der Langstrasse und
im Niederdorf; ab 1948 kam Amerika. Privat
war sie nicht an Sex interessiert. Dass ihr
Manager und späterer Mann, der Artist Billy
Frick, schwul war, bedeutete für sie eine grosse
Erleichterung, auch, weil sie nie Kinder wollte.
«Mein Körper ist zu schön, um Kinder zu
bekommen», sagte sie gern.
Die zwischen sinnlich und grotesk changierende Darbietung
ist in «Tournée» zu sehen, Mathieu Amalrics Roadmovie über
eine Burlesque-Truppe, verkörpert von Dirty Martini und
anderen Stars der Szene. Ob im Arthouse-Kino, im
Hollywood-Musical oder jüngst auch live im Plaza, Zürichs
neustem Club: New Burlesque, im angelsächsischen Raum
schon seit der Jahrtausendwende prominent, erhebt in
diesem Winter auch hierzulande unübersehbar sein
strassfunkelndes Haupt.
Ihre prominenten Verehrer genoss sie
trotzdem, etwa Gregory Peck, der extra zu
Revival in den 90ern
einem ihrer Auftritte im Terrasse nach Zürich
reiste. Eine wahre Medienhysterie entfachte sie
1963, als sie im Club von Jack Ruby tanzte, dem
Mann, der den Kennedy-Mörder Lee Harvey
Oswald erschoss. «Ich tanzte für den Mörder»,
titelte damals eine deutsche Zeitung. Heute lebt
sie verarmt und einigermassen verrückt, aber
glücklich in einem Häuschen in Florida. «Man
kann sagen: Ich hab den Grössenwahn», sagt
sie im unterhaltsamen Dokumentarfilm von
Roger Bürgler. Grund dazu hat die bald
80-Jährige Legende genug. (sme)
Syra Marty – Dächli Leni Goes to Hollywood
Bemerkenswert daran: War der Burlesque-Tanz einst das
erotische Vergnügen des einfachen Mannes, ist sein Revival
nun eine genuin weibliche Subkultur. Freilich war Burlesque
in den Anfängen ein Genre, in dem Frauen buchstäblich die
Hosen anhatten. Lydia Thompson brachte es 1868 mit ihren
«British Blondes» in die USA. Die britischen Blondinen
trugen für die damalige Zeit gewagte Kostüme, spielten in
ihren Theater- und Opernparodien auch Männerrollen,
führten satirische Reden und spotteten über die Reichen und
Mächtigen. Im Lauf der Jahrzehnte verlor Burlesque den
satirischen Witz – und die Tänzerinnen immer mehr von
ihrer Bekleidung.
(CH 2010). 86 Minuten. Regie: Roger Bürgler.
Ca. 28 Fr.
Letzte Hoffnung eines Nachtklubs: Christina
Aguilera in «Burlesque». (Bild: PD)
«Tournée» und «Burlesque»
Ein Phänomen, zwei Filme
Beim zweiten Burlesque-Boom in der Depressionsära um
1930 hatte das Genre seine klassische Form gefunden als
lasziver Striptease, bei dem alle Hüllen fallen durften, bis auf
einen String und den Hütchen über den Brustwarzen, den
sogenannten Pasties. Nach den 50ern wars dann vorbei; in
Zeiten der sexuellen Revolution und der modernen
Sexindustrie stellten Pasties mit rotierbaren Quasten eine
hoffnungslos verstaubte Erotik dar.
Heute sind die Tänzerinnen ihr eigenes Produkt
Erst in den 90ern machten ganz unterschiedliche Frauen
Burlesque zur glamouröseren, übergeschnappten Schwester
von Comedy, Zirkus und Performance-Kunst: tätowierte
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In seinem in Cannes mit
demPin-up-Fans,
Regiepreis
Rockabilly-Chicks
und
Fetischistinnen und Swing-Enthusiastinnen, Cirque-Nouveauausgezeichneten
Roadmovie
«Tournée»
spielt
Artistinnen und Künstlerinnen wie auch Stripperinnen, die des Table Dance überdrüssig waren.
Mathieu Amalric («Quantum of Solace») den
Entsprechend vielfältig sind Formen und Effekte. Da ist Dita
Impresario einer US-Burlesque-Truppe, die
Von Teese, die berühmteste Burlesque-Queen unserer Tage,
durch die französische Provinz tingelt. Der
die, göttinnengleich, über und über mit Strass bedeckt ihre
einstige TV-Produzent hält die Frauen und den
eleganten Vorführungen zelebriert; ihre Martiniglas-Nummer
einen Mann mit der Aussicht auf einen Auftritt
hat längst Ikonenstatus. Da sind Dragkings wie Ernie von
in Paris bei der Stange – die Bühne muss er
Schmaltz, der mit seiner schmerbäuchigen Jamesaber erst noch finden. Dass seine alten
Showbiz-Kontakte ihn wie die Pest hassen, ist
Bond-Parodie spielend Quentin Crisps Behauptung widerlegt,
dabei nicht gerade hilfreich. Die
als Männer verkleidete Frauen könnten nie so lachhaft wirken
semidokumentarischen Szenen vom
wie als Frauen verkleidete Männer. Und es gibt Zirkusartistik
nomadischen Leben der Show-Menschen
und Erschreckendes mit Messern, Nadeln und (nicht nur
lassen John Cassavetes’ «The Killing of a
künstlichem) Blut.
Chinese Bookie» als Vorbild erkennen. Die
Dramaturgie bleibt dabei so fragmentarisch wie
unser Verständnis der irrlichternden
Hauptfigur, doch die formidablen Frauen
sorgen für manch grosse Momente auf und
hinter kleinen Bühnen.
Anders als bei ihren Vorläuferinnen wie der Schweizerin Syra
Marty sind die bunten Künstlernamen und Kunstfiguren der
heutigen Burlesque-Tänzerinnen ihr eigenes Produkt. «Das
ist unsere Show», erinnern die Frauen in «Tournée» ständig
ihren Impresario, wenn der sich einmischen will.
«Burlesque» dagegen trimmt «Showgirls» auf
unbedenklich für das Publikum von «High
School Musical». Christina Aguilera mimt ein
Jede Frau kann sich sexy fühlen
Landei, das mit seinem Tanz und Gesang zur
letzten Hoffnung eines maroden Nachtklubs
avanciert. Cher singt als Besitzerin des
Schuppens eine Ballade, Stanley Tucci spielt
nochmals die Stanley-Tucci-Rolle aus «The
Devil Wears Prada», und die Show-Nummern
sind Hochglanz-Musical-Bombast – aber wenn
die Figuren nicht auf der Bühne stehen, hört
man das Rascheln von vergilbtem
Drehbuchpapier.(jum)
Im ausverkauften Zürcher Plaza ist das weibliche Publikum
leicht in der Überzahl und deutlich lauter, wenn auf der
Bühne ein Korsett oder Federumhang abgestreift wird. «Es ist
verführerisch, aber nicht schmuddelig», sagt eine Zuschauerin
und schwärmt vom glamourösen Look früherer Zeiten.
Tatsächlich scheinen sich die Burlesque-Tänzerinnen gesagt
zu haben: Warum den ganzen Spass den Dragqueens
überlassen? Hier erobern sie sich die Attribute verflossener
Weiblichkeit zurück.
«Tournée» läuft ab 23. Dezember in Zürich im
Kino Riffraff, Interview mit Mathieu Amalric
morgen im «züritipp». «Burlesque» kommt am
6. Januar in die Kinos.
Links
Syra Marty
Stichworte
Tanz
Wie sehr dies einem Bedürfnis entspricht, zeigt sich daran,
dass es mittlerweile Burlesque-Kurse gibt. Uli Nieding
unterrichtet in ihrem Zürcher Tanzstudio Frauen im Alter
zwischen 20 und 60. «Burlesque», sagt sie, «ist eine
Möglichkeit, die weibliche Seite wiederzuentdecken, die Lust,
sich schön zu machen, seinen Körper anders
wahrzunehmen.» Die Deutsche, die auch in Musicals auftritt,
findet das dort vorherrschende Stereotyp von superschlanken
Frauen manchmal extrem bedrückend: «Und das ist das
Schöne an Burlesque, dass sich jede Frau sexy fühlen und in
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ihrem Körper wohlfühlen kann, unabhängig von Grösse und Gewicht.»
Rollenklischees ironisieren
Die ausladenden Figuren von Tänzerinnen wie Dirty Martini haben bewirkt, dass jung-feministische
Magazine wie «Bust» oder «Bitch» New Burlesque als emanzipatorische Errungenschaft feiern. Dabei
werde nicht nur der allgegenwärtigen Ver-Pornoisierung eine positive Sinnlichkeit entgegengestellt;
die übersteigerte Weiblichkeit des New Burlesque ironisiere in seiner humoristischen Spielart auch
allerlei Rollenklischees. Das ist auch im Plaza zu beobachten, wenn Anna Fur Laxis im zweigeteilten
Kostüm auftritt: von der einen Seite gesehen braves Mädchen in Pink, von der anderen Vamp im
Leopardenmuster.
Ankunft im Mainstream
Vor Jahren noch waren Burlesque-Darstellerinnen überzeugt, ihr Metier sei zu anrüchig, um wirklich
im Mainstream aufzugehen: Denn dazu, so der Tenor, müsste man den Sex rausnehmen. Mit dem
Hollywood-Musical «Burlesque» scheint nun aber genau das einzutreten: Christina Aguilera und Co.
zeigen in ihren Hochglanz-Massenchoreografien weder Pasties noch String. Miriam Nussbaumer, die
ebenfalls Burlesque-Workshops durchführt, sieht den Film zwar als Chance, ein breiteres Publikum zu
erreichen, doch die Tanznummern erinnern sie eher an Popvideos: «Alle tanzen gleich, sehen gleich
aus, es wird nicht mit dem Publikum gespielt. Burlesque lebt von Individualität.»
Ein böses Zeichen: Bereits werden Burlesque-Fitness-Videos angeboten. Dirty Martini zeigt sich
unbeeindruckt: «Burlesque als Mainstream? Das glaube ich erst, wenn sie Pasties bei H & M
verkaufen.» (Tages-Anzeiger)
Erstellt: 22.12.2010, 07:58 Uhr
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