Artikel lesen hier klicken
Transcription
Artikel lesen hier klicken
Keine tricky-electronic-miracle-gimmicks: Selten ist der Alteisen-Charme so überwältigend wie bei diesem Sowjet-Stück. Durchatmen und genießen 26 BIKERS NEWS Januar Das hier ist noch echtes Eisen. Es verkörpert darüber hinaus eine Menge sozialistischer Tugenden J ens lebt zwar im Westen unserer Republik, ist aber nach wie vor bekennender Ossi. Für ihn zählen die Tugenden, die auch im Osten erforderlich waren: Starke Nerven, Ausdauer, Erfindungsgeist und Freunde. „Der heutigen Szene“, so meint er, „geht’s doch nur noch darum, sich mit den Namen berühmter Customizer zu schmücken. Aus deren Regal lässt man sich sein ganz persönliches Bike einfach zusammenstellen.“ Jens war noch kurz vor der Maueröffnung im Jahr 1989 die Flucht über die Prager Botschaft gelungen. Zuvor hatte er sein Motorrad in Dresden eingemottet und durch Kaufverträge mit Bekannten sein zurückgelassenes Eigentum gegen die Enteignung durch die Stasi geschützt. Im Westen hatte er mit eisernem Sparen schnell seinen Traum von der eigenen Harley verwirklicht: Eine Shovelhead Wide-Glide, nach seinen Vorstellungen umgebaut und bis nach Schottland und Irland gefahren. Eine M 72 namens „Molotov“ Aber die Leute rund um den Harley-Kult gingen Jens auf den Sack. Er dachte viel an sein altes Motorrad, das er beim MC Red Sun Rider in Dresden gefahren hatte. Und er dachte an den willensstarken Protagonisten des Buches „Wie der Stahl gehärtet wurde“. Jens wollte sich mal wieder durchbeißen und das eingemottete Motorrad in Dresden wieder zum Leben erwecken. Es war eine russische 1/’10 BIKERS NEWS 27 Nikolai Alexejewitsch Ostrowski: „Wie der Stahl gehärtet wurde“ Foto: Fenz Nikolai Ostrowskis Buch „Wie der Stahl gehärtet wurde“ war Pflichtlektüre in allen DDR-Schulen. Es erzählt von der Oktoberrevolution 1917 und vom nachfolgenden Bürgerkrieg in Russland. Der Hauptdarsteller des Buches ist Pawel Kortschagin, ein Mann mit nie schwindender Hoffnung, Disziplin und Ausdauer. Mit vierzehn Jahren wird er Revolutionär und ein Jahr später Mitglied der Roten Armee. Schwere, mehrfache Verwundungen bringen ihn jung außer Gefecht. Mit seinem eisernem Willen kompensiert er seine körperliche Hilflosigkeit. So wird für Pawka die Arbeit im Kommunistischen Jugendverband „Komosomol“ zur neuen Front: „Das Kostbarste, was der Mensch besitzt, ist das Leben. Es wird ihm nur einmal gegeben, und leben soll er so, dass nicht sinnlos vertane Jahre ihn schmerzen ...“ Das ist natürlich Propaganda-Literatur. Die stalinistischen Säuberungen werden in diesem Buch nicht mehr geschildert, denn dann verbrachten fast alle Revolutionäre der ersten Stunde sinnlos vertane Jahre in sibirischen Lagern. Geschmackssache: Die Lochblechverstrebung des hinteren Fenders. Das Dioden-Rücklicht ist irritierend modern Kopie der seitengesteuerten BMW R 71. Sie wurde von der Irbiter Motorradfabrik unter der Bezeichnung M 72 gebaut. In der Szene nannte man sie „Molotov“. Seine Maschine konnte sogar eine gut dokumentierte Geschichte aufweisen. Sie war von 1954 bis 1965 in der russischen Armee gelaufen, danach ein Jahr als Gespann bei der DDR-Polizei, und von 1966 bis 1987 war das Gespann der Lastesel eines Dachdeckerbetriebs. Dort hatte es „Bubi“, ein Member des Charon Limbach/Oberfrohna, abgestaubt. Doch Bubi musste vor Jens die DDR verlassen. So war 1988 Jens Schlecht zum Besitzer geworden. Noch im Osten hatte Jens das seltene Stück über Beziehungen nach Westdeutschland und Umwege über die Tschechei mit WisecoKolben, Zylinderkopfdichtungen mit Kupfereinfassung und mit neuem Lack aufgerüstet. In der DDR war dafür kaum ein Ersatzteil aufzutreiben. Die PneumatikKlemmverbinder funktionieren auch in der Spritleitung 28 BIKERS NEWS Januar Ersatzteile in Eigenfertigung Und irgendwann nach dem Mauerfall lagen auf der Veterama diese derben Reifen herum. Die würden ja hervorragend zur M 72 passen! Die russische Qualität erschien Jens nun unbrauchbar. Denn im Westen waren Materialbeschaffung und Zugang zu den Werkzeugmaschinen einfacher geworden. Ersatzteile stellte der Maschinenbauer selbst her. Die Räder kamen als erstes dran. Die maroden Kegelrollenlager aus der Hinterradnabe tauschte Jens gegen geschlossene Rollenlager. Genau eingepasste Zwischenhülsen sorgen jetzt für den satten Sitz der modernen Lager. Eine 16 Zoll Harley-Felge passte über die Hinterradnabe. Muss an dieser Stelle erwähnt werden, dass nicht nur die Russen, sondern auch Harley-Davidson mit der XA-Flat Twin einen Auch ein Flathead: Die Seitenventil-Motoren der alten deutschen und russischen Boxer 1/’10 BIKERS NEWS 29 Dell’Orto-Vergaser ersetzen die russischen Kopien. Die dürfen nun durch offene K&N-Filter schnorcheln Zwei Seilzüge gespart: Der Choke wird nun direkt am Vergaser betätigt Nachbau der BMW R 71 im Programm hatte? Und dass die Chinesen einen Nachbau des Nachbaus noch heute fertigen? Derzeit wären Ersatzteile gut zu kriegen. Aber zu Beginn seiner Arbeiten war Jens vollständig aufs Selbermachen eingeschossen. Für das Vorderrad hatte er schon zu OstZeiten eine Bremsnabe des MZ Zweitaktboxers BK eingebaut. Der Radspanner Peter Böhm punzte und bohrte ihm einen passenden Felgenring, fertigte geeignete Speichen und verstärkte sogar die Stellen der Doppelsimplex-Trommel, an denen der hohe Magnesiumanteil im Alu Altersschwäche erzeugt hatte. Leistungssteigerung im BMW-Gehäuse Nächste Zielsetzung war Leistungssteigerung, aber die verkraftet ein russisches Gehäuse kaum. Ein fast identisches BMW R 71-Gehäuse samt Kurbelwelle kam als Ersatz ins Spiel. Der Radspanner Peter Böhm punzte und bohrte eine passende Felge für die Doppelsimplex-Bremstrommel 30 BIKERS NEWS Januar Die Strömung der flachen Zylinderkopfdeckel wurde optimiert. „Gussklumpen“ nennt Jens die SV-Zylinder, in denen Ein- und Auslasskanal integriert sind. Die Auslassventile am Seitenventilmotor brennen gerne fest. Deshalb hatte Jens den Grauguss ausgebohrt, neu gefertigte Ventilführungen eingepresst, BleifreiVentilsitze gedreht, die Zylinder ausgespindelt und die Ringe eingepresst … und dann noch passend gemachte LKW-Ventile eingebaut. Die russischen Vergaser hatten leistungsfähigeren Dell’Ortos mit CNC-gefertigten Ansaugstutzen zu weichen. Die Kaltstarteinrichtungen baute Jens von Seilzug auf Direkt- betätigung um. Ungewöhnlich sind auch die Benzinleitungsanschlüsse: Die abgeänderten Klemmverbinder aus Aluminium kommen normalerweise in Pneumatik-Anlagen zum Einsatz. Die schwache 6 Volt Lichtmaschine ersetzt eine 12 Volt Lima vom Trabi. Statt über Keilriemen muss sie über die Steuerräder angetrieben werden, und für die dickere Trabant-Lichtmaschine war das Gehäuse auszuspindeln. Als Antriebselement ist nun ein originales Zahnrad auf den Zapfen der neuen Lima angepasst. Urzeitlich mutete die Getriebe-Schaltwippe an. Hier baute Jens auf moderne Schaltkinematik Den Starrrahmen der ersten Boxer folgte eine Geradwegfederung. Die Schwinge kam später Die maroden Kegelrollenlager aus der Hinterradnabe tauschte Jens gegen geschlossene Rollenlager. Genau eingepasste Zwischenhülsen sorgen jetzt für den satten Sitz der modernen Lager. 1/’10 BIKERS NEWS 31 mit japanischen Innereien um. Der Alu-Anguss für den Luftfilter auf dem Getriebe wurde abgeflext. Die Vergaser schnorcheln nun durch K&N-Filter. Die Kupplung arbeitet jetzt mit erleichterter Masse und verstärkten Federn. Wer nach dem Ausrückmechanismus sucht, findet ihn unten mit neu entwickelter Mechanik. Dank für Solidarität Jens wird erst mit der Aufzählung bewusst, wie viel Arbeit er in sein Projekt gesteckt hat. Seinen Stahl hat er mit eiserner Disziplin gehärtet, aber auch mit Solidarität. Auch das war ja so ein Schlagwort des real existierenden Sozialismus. Und so erlauben wir es Jens noch ausnahmsweise, einen persönlichen Gruß zu entrichten: „Mein Dank gilt allen, denen ich auf die Nerven gegangen bin, besonders Pawel Beeg, meinem alten Freund.“ « Text: Horst Heiler Fotos: Rost / Heiler Eine Bewerbung für unsere Bikeshows kann sich lohnen: Die StudioFotos entstanden auf unserer Bikeshow am Rande der „Faszination Motorrad“ Die 19. Faszination Motorrad findet vom 22. bis 24. Januar 2010 in der Messe Karlsruhe statt. www.faszinationmotorrad.de Technische Daten SpEciALS CHASSiS pOwERtRAin Molotov M 72 32 Hersteller ............ Irbiter Motorradfabrik Baujahr.................. 1954 Besitzer ................. Jens Schlecht Motor .................... Basis BMW R 71 Hubraum ............. 750 ccm Zylinder................ SV, modifiziert Kolben................... Schmiedekolben von KS Zylinderköpfe ... R 71, strömungsoptimiert Kurbelwelle ........ R 71, feingewuchtet, neu gelagert Nockenwelle ..... optimiert Ventile ................... LKW Ventile, bleifrei, seitengesteuert Gehäuse............... modifiziert für Trabant.................................. Lichtmaschine Zündung .............. Spezialanfertigung Laubersheimer Ölsystem ............. optimiert Vergaser ............... Dell’Orto Luftfilter ............... K&N Auspuff ................. Jens Schlecht Eigenbau aus .................................. Edelstahl, geschwärzt Getriebe .............. modifiziert Primärtrieb......... über Kupplung / Schwungmasse Kupplung ............. erleichtert / Zweischeibenkupplung Sekundärtrieb... Kardan mit Soloübersetzung Gabel ..................... Harley-Davidson Gabelbrücken ... Jens Schlecht, Aluminium Tauchrohre ......... H-D, modifiziert Standrohre ......... H-D, gekürzt Lenker ................... Jens Schlecht Eigenbau, .................................. Durchmesser 27, Züge innenliegend Federbeine ......... Geradwegfederung Rad vorn .............. Spezialanfertigung Peter Böhm Rad hinten .......... Harley-Davidson 3x16“ Bremse vorn...... MZ BK 350, Doppelsimplex Bremse hinten .. Original Molotov Halbnabe Lack ........................ Toplac Dresden, .................................. Schwarzmatt Strukturlack Tank ........................ Honda Bol d’Or, modifiziert Elektrik .................. Eigenbau, Regler von Data Kleiber Lampe ................... Traktor Rücklicht .............. Detlev Loius Armaturen.......... Außenzughebel Sitz .......................... Eigenbau aus Aluminiumblech Lederarbeiten ... Lederwerkstatt Jochen Vonier, .................................. Neckargemünd Fußrasten ............ Eigenbau Verkleidung ........ Eigenbau, aus Lochblech .................................. und Rundstahl Schutzbleche ..... Eigenbau, Kotflügelfragmente vorne .................................. von Harley-Davidson BIKERS NEWS Januar Die Elektrik rüstete Jens auf 12 Volt um. Damit die größere Trabant-Lichtmaschine passt, musste der Antrieb geändert und die Gehäuse-Bohrung ausgedreht werden Der Mann schraubt und fährt noch selbst: Jens Schlecht, bekennender Ossi und genialer Schrauber 1/’10 BIKERS NEWS 33