Inhaltsübersicht - Friedrich-Naumann
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Inhaltsübersicht - Friedrich-Naumann
Inhaltsübersicht 5 Inhaltsübersicht Vorwort der Herausgeberin ......................................................... 7 Vorwort Guido Westerwelle Liberale Außenpolitik für eine vernetzte Welt .............................. 11 Michael von Prollius Grundsätze liberaler Außenpolitik im 21. Jahrhundert ................ 19 Hartmut Kliemt Liberale Ideal- und Realpolitik in der Außenpolitik des 21. Jahrhunderts ....................................................................................... 47 Johannes Varwick Globalisierung, internationale Organisationen und Multilateralismus in einer komplexen Welt – liberale Antworten? ................. 61 Karl-Heinz Paqué Transatlantischer Freihandel: Ein Weg zur Stärkung des Liberalismus ........................................................................................... 89 Hans-Jürgen Beerfeltz Von der Patenschaft zur Partnerschaft – Moderne Entwicklungspolitik als Zukunftsinvestition ..................................................... 103 Kerstin Brauckhoff/Hermann Otto Solms Deutschland in der Europäischen Union – Die Europäische Union in der Welt ................................................................................... 117 Harald Leibrecht Neue Perspektiven für die transatlantische Zusammenarbeit ....... 139 6 Inhaltsübersicht Robert von Rimscha Freiheit im Sozialismus. Deutsche Außen-, Entwicklungs- und Menschenrechtspolitik in Laos: Ein Spagat zwischen Anknüpfungspunkten und Abgründen ...................................................... 159 Siegfried Herzog Liberale Außenpolitik gegenüber Schwellenländern: Chancen und Risiken ......................................................................................... 185 Christian Wolff Arabischer Frühling: Die neuen Akteure des politischen Islam und die außenpolitischen Prämissen des Westens ......................... 203 Über die Autoren .......................................................................... 231 Vorwort der Herrausgeberin 7 Vorwort der Herausgeberin Liberale Außenpolitik hat viele Facetten. Das wird in dem vorliegenden Sammelband deutlich. Diese Facetten werden durch unterschiedlichste Hintergründe und Denkansätze bestimmt. Und sie werden dadurch bestimmt, ob über liberale Außenpolitik in der Theorie oder in der Praxis geschrieben wird. Ziel des Sammelbandes ist es, diese Vielfältigkeit aufzuzeigen, darzustellen, durch welche Umstände sich praktische Politik von theoretischen Überlegungen unterscheidet und schließlich die Herausforderungen aufzuzeigen, vor denen liberale Außenpolitik im 21. Jahrhundert steht. Der Sammelband soll Denkanstöße geben, wie liberale Außenpolitik in der Zukunft gestaltet werden kann. Dabei kann der Leser sich aus verschiedensten Themenbereichen und Herangehensweisen bedienen. Und er soll sich aus diesen Facetten die Freiheit nehmen, für sich selbst seine Lösungen auf die Herausforderungen der Gegenwart zu finden. Dr. Guido Westerwelle, Bundesminister des Auswärtigen, hebt in seinem Vorwort die traditionellen Werte der liberalen Außenpolitik hervor: Die Freiheit des Einzelnen, die demokratische Teilhabe am Gemeinwesen, der Schutz von Minderheiten durch den Rechtsstaat und die Solidarität zwischen Schwächeren und Stärkeren waren und sind die Grundlagen liberaler Außenpolitik. Dies gilt auch für die Herausforderungen der Zukunft. Sie sind nicht diskutabel und sie sind das Bindeglied liberaler außenpolitischer Ideen und Handlungen. Dies gilt für die Zukunft der EU genauso wie für unser Handeln außerhalb der EU. Denn nur dort, wo Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechte und Demokratie gewährleistet sind, können Stabilität, wirtschaftliche Entwicklung und Frieden gesichert werden. Das Vorwort des Ministers ist daher auch eine Art Geleitwort für den Sammelband. Es stellt dar, auf welchen Grundlagen liberale Außenpolitik basiert. Und es zeigt zugleich ihre Grenzen – seien diese durch unterschiedliche Denkansätze 8 Kerstin Brauckhoff in der Theorie bestimmt oder durch die Notwendigkeit von Kompromissen in der praktischen liberalen Alltagspolitik. Die Grundsätze liberaler Außenpolitik aus einem theoretischen Ansatz heraus beleuchtet Dr. Michael von Prollius. Er formuliert die Prinzipien liberaler Außenpolitik und wendet diese dann auf ihre Praxis an. Dabei zeigt er auf, inwieweit ordnungspolitische Prinzipien in der Vergangenheit im Fokus standen. Und er zeigt auf, wann und warum die Umsetzung dieser Prinzipien problematisch war. Ähnliches gilt für Professor Hartmut Kliemt, der freilich zu deutlich anderen Ergebnissen kommt. Er beleuchtet unterschiedliche Vorstellungen liberaler Außenpolitik und zeigt deren Grenzen auf, denn in der realen Politik sind die reinen Ideen des Ordoliberalismus kaum umsetzbar. Auch Kliemt betont die grundlegenden Werte des Liberalismus. Und zeigt zugleich, wie unterschiedlich innerhalb des Liberalismus der Begriff „liberal“ definiert und ausformuliert werden kann. Welche Antworten die Liberalen auf die Strukturveränderungen liefern können, die sich durch die Globalisierung und den Multilateralismus ergeben, untersucht Professor Johannes Varwick. Aus einer Beobachterperspektive beleuchtet er, welche Bedeutung internationale Organisationen und multilaterale Arrangements in Zukunft haben werden und formuliert konkrete Handlungsempfehlungen für die liberale Außenpolitik. Von hoher Aktualität ist der Aufsatz von Professor Karl-Heinz Paqué. Dieser diskutiert die Zukunft der Welthandelsordnung. Und er zeigt auf, dass mit der Schaffung einer transatlantischen Freihandelszone die Welthandelsordnung in eine stabile und wachstumsorientierte Zukunft geführt werden kann. Dabei gelingt es Paqué, den Freihandel auch gegen Argumente von Gegnern des Freihandels zu verteidigen und aufzuzeigen, warum der Abschluss eines transatlantischen Freihandelsabkommens zudem von höchster Bedeutung auch für künftige Handelsfragen ist. Hans-Jürgen Beerfeltz, Staatssekretär im Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, bilanziert in seinem Aufsatz zunächst die Entwicklungshilfe der Vergangenheit, um daran anschließend darzustellen, worin sich liberale Entwicklungspolitik von der Politik der Vergangenheit unterscheidet und wie mithilfe liberaler Entwicklungspolitik die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts besser zu bewältigen sind. Auch er betont dabei die Prinzipien des Libera- Vorwort der Herrausgeberin 9 lismus und wie wichtig es für Entwicklungspolitik ist, den Menschen in den Entwicklungsländern die Chancen zu bieten, in Freiheit und Eigenverantwortung ihr Leben zu gestalten. Dies soll nicht durch bloße Umverteilung gelingen, sondern aufgrund nachhaltiger Verbesserungen der Lebensverhältnisse, die letztlich von den Menschen selbst erwirkt werden. Einem weiteren regionalen Schwerpunkt widmen sich die Herausgeberin sowie Dr. Hermann Otto Solms. Sie zeigen, welche Lösungen liberale Politik für die Zukunft der Europäischen Union bereithält. Grundlage ihres Aufsatzes ist dabei ein aktuelles Positionspapier der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit, das unter Leitung von Hermann Otto Solms von einer Arbeitsgruppe im Auftrag des Kuratoriums der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit erarbeitet wurde. Neben Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und Marktwirtschaft ist dabei die Wahrung der Subsidiarität von zentraler Bedeutung für die Zukunft der europäischen Integration. Schließlich beleuchtet Harald Leibrecht, Koordinator für die transatlantische Zusammenarbeit, in seinem Beitrag die neuen Perspektiven für die transatlantische Zusammenarbeit. Über die Verhandlungen zum Abschluss eines transatlantischen Freihandelsabkommens hinaus stellt er dar, wie sich die transatlantischen Beziehungen in der Zukunft gestalten sollten. Und wie Liberale diese wichtige Partnerschaft unterstützen können. Ein sehr konkretes Beispiel der Chancen und Grenzen praktischer liberaler Außenpolitik findet sich im Aufsatz von Robert von Rimscha, Botschafter der Bundesrepublik Deutschland in Laos. Robert von Rimscha berichtet dabei eindrucksvoll von seiner täglichen Arbeit. Und er stellt dar, dass ein pragmatisches Vorgehen in der politischen Praxis oft besser zum Ziel führt als unbeirrtes Festhalten an politischen Positionen. Dabei muss aber immer abgewogen werden, wo die Grenzen des Pragmatismus liegen – und wo ein Überschreiten dieser Grenzen nicht mehr zu verantworten wäre. Siegfried Herzog wiederum diskutiert die liberale Außenpolitik gegenüber Schwellenländern. Auch in diesem Beitrag wird deutlich, dass liberale Prinzipien zwar das Eine sind, dass aber insbesondere im Umgang mit den Schwellenländern diese Prinzipien nicht um jeden Preis und immer vollumfänglich umgesetzt werden können. So gilt es auch hier, den Spagat zu bewältigen zwischen einer Politik, die liberale 10 Kerstin Brauckhoff Wertvorstellungen auch in den Schwellenländern zur Grundlage des gesellschaftlichen und politischen Handelns machen will und zwischen der Anerkennung von historischen und gesellschaftlichen Besonderheiten, die für Liberale bisweilen nur mit erheblichen Bauchschmerzen zu tolerieren sind. Abschließend erläutert Christian Wolff, welche Auswirkungen der Arabische Frühling für die liberale Außenpolitik hat. Wolff skizziert die Entwicklung hin zum Arabischen Frühling und durch welche sozialen, religiösen und politischen Prozesse dieser bestimmt ist. Er macht darüber hinaus konkrete Vorschläge, wie Liberale dem Phänomen begegnen sollten und wie sie sich in ihrer Außenpolitik darauf einstellen können. Die Aufzählung der Aufsätze zeigt, wie breit gefächert die Aspekte der liberalen Außenpolitik sind. Gleichwohl soll und kann dieser Sammelband keinem Anspruch auf Vollständigkeit gerecht werden. Er kann ebenso keine verbindlichen Antworten liefern. Vielmehr soll er einen Anstoß zur Diskussion über solche Themen liefern, zu denen es keine einfachen Lösungen gibt. Dazu bedurfte es einer konstruktiven Diskussion und Mitarbeit der Autoren, bei denen sich die Herausgeberin sehr herzlich bedankt. Die Autoren des Sammelbandes lieferten zahlreiche inhaltliche Ideen und wichtige Vorschläge. Und sie lieferten ausnahmslos pünktlich und zuverlässig und haben damit letztlich wesentlich zum Zustandekommen des Sammelbandes beigetragen. Und das, obwohl der Zeitraum für die Fertigstellung der Beiträge sehr knapp bemessen war. Das ist keine Selbstverständlichkeit. Dass dies dennoch so unkompliziert geklappt hat, zeigt vielleicht auch, wie spannend und interessant das Thema ist. Und wie notwendig es allen Beteiligten erscheint, die Antworten der liberalen Außenpolitik auf die unterschiedlichen globalen und regionalen internationalen Herausforderungen zusammenzufassen. Die Herausgeberin trägt dabei die Verantwortung für die Auswahl der Themen und der Autoren – und hofft dennoch, möglichst allen Gemütern gerecht geworden zu sein. Dank gilt natürlich auch den vielen zuverlässigen und fleißigen Geistern im Hintergrund. Diese alle lückenlos aufzuzählen, scheint unmöglich. Der Dank sei daher eher zentraler Art – und deswegen nicht weniger herzlich. Kerstin Brauckhoff Berlin, im Juni 2013 Liberale Außenpolitik für eine vernetzte Welt 11 Vorwort des Bundesministers des Auswärtigen Guido Westerwelle MdB Liberale Außenpolitik für eine vernetzte Welt Drei Millionen E-Mails pro Sekunde, eine Milliarde FacebookNutzer, fünf Milliarden Mobiltelefone weltweit: Neue Kommunikationstechnologien haben einen weltweiten Austausch in ungekannter Geschwindigkeit und Breite ermöglicht. Was noch vor 20 Jahren unvorstellbar war, ist in unserer immer dichter vernetzten Welt Alltag geworden. Das ist zuallererst eine gewaltige Bereicherung. Sie eröffnet jedem Einzelnen nie dagewesene Chancen, sich kulturell, wirtschaftlich und politisch zu entfalten. Sie macht unsere Gesellschaften weltoffener, vielfältiger und bunter. Und sie stärkt denjenigen den Rücken, die in autoritären Regimen für Freiheit eintreten. Zugleich stellt sie uns aber auch vor ganz neue außenpolitische Gestaltungsaufgaben, von der Bewältigung globaler Verwerfungen auf den Finanzmärkten bis hin zur Wahrung von Freiheit und Sicherheit im Cyberraum. Diese epochalen Herausforderungen werden wir besser meistern, wenn wir uns vergewissern, wofür liberale Außenpolitik heute steht. Ihre Grundlagen sind die Werte der großen europäischen Revolutionen von 1789 bis 1989: die Freiheit des Einzelnen, die demokratische Teilhabe aller am Gemeinwesen, der Schutz von Minderheiten durch den Rechtsstaat und die Solidarität zwischen Stärkeren und Schwächeren. Liberale Außenpolitik tritt in der Welt für die universelle Geltung der Menschenrechte und für eine friedliche Ordnung auf der Grundlage des Rechts ein. Sie setzt auf die Kraft des freien Handels und auf Chancengerechtigkeit in einer sozialen Marktwirtschaft. Sie ist auf Stabilität und Nachhaltigkeit angelegt, in der Haushaltspolitik genauso wie beim Klimaschutz und in der Abrüstungspolitik. In einer vernetzten Welt gibt uns das liberale Leitbild einer weltoffenen, leistungsbereiten und toleranten Gesellschaft unverzichtbare Orientierung. Es hilft uns, die großen außenpolitischen Fragen unserer 12 Guido Westerwelle Zeit zu beantworten. Das gilt heute in Europa genauso wie auf globaler Ebene. I. Gerade wir Europäer spüren heute, dass unsere Gesellschaften, Wirtschaften und Demokratien dichter vernetzt sind denn je. Entscheidungen, die heute in einem Mitgliedstaat fallen, können morgen handfeste Folgen für die Nachbarn haben. Europa ist zur Schicksalsgemeinschaft zusammengewachsen. Das ist die eigentliche Urerfahrung der Schuldenkrise. Das europäische Projekt ist eine Erfolgsgeschichte. Seit Schuman und Monnet haben Bürger und Staaten Schritt für Schritt ihre Souveränität zum gegenseitigen Nutzen gebündelt. Diese bahnbrechende Idee hat uns Jahrzehnte des Friedens, der Freiheit und des Wohlstands gebracht. Sie hat aus Erzfeinden Brüder werden lassen. Sie hat linke und rechte Diktaturen überwunden. Sie hat einen gespaltenen Kontinent geheilt und die deutsche Einheit Wirklichkeit werden lassen. Für uns Deutsche ist Europa die Lehre aus dem dunkelsten Kapitel unserer Geschichte und zugleich unsere Zukunft in der globalisierten Welt. In diesem Europa sind wir zu unserem Glück vereint. In Zukunft wird es in Europa darum gehen, unsere immer engere europäische Verflechtung so zu gestalten, dass wir ihre Chancen maximieren und ihre Gefahren minimieren. Dabei geht es nicht um ein schlichtes „mehr Europa“ in eingefahrenen Bahnen. Es geht auch nicht um einen Rückzug in die vermeintliche Idylle des Nationalen. Die wahre Gestaltungsaufgabe unserer Zeit ist weitaus anspruchsvoller: Wir müssen ein besseres Europa bauen, das Kraft aus seiner Vernetzung schöpft. Diese Einsicht ist es, die uns veranlasst, Schritt für Schritt eine Politische Union in Europa zu schaffen. Sie wird unsere Währungsunion vollenden; sie wird Europa als globalen Akteur stärken; und sie wird schließlich volle demokratische Teilhabe an künftigen politischen Weichenstellungen in Europa bewahren. Die Verwirklichung der Politischen Union wird nicht in einem einzigen großen Sprung gelingen. Aber ein klares strategisches Ziel erleichtert es, unsere Schritte in die richtige Richtung zu lenken. Liberale Außenpolitik für eine vernetzte Welt 13 Das Europa der Wettbewerbsfähigkeit müssen wir jetzt verwirklichen. Die europäische Wirtschaft braucht neuen Schwung. Nur so werden wir die Krise dauerhaft hinter uns lassen. Nur so werden wir uns im globalen Wettbewerb behaupten. Wir werden nicht hinnehmen, dass in Teilen Europas jeder zweite Jugendliche ohne Arbeitsplatz bleibt. Und wir werden nicht zulassen, dass Teile unseres Kontinents wirtschaftlich den Anschluss verlieren. Das ist Ausdruck europäischer Solidarität. Es ist aber auch in unserem wohlverstandenen Eigeninteresse. Im vernetzten Europa wird es uns nicht dauerhaft gutgehen, wenn es unseren Nachbarn auf Dauer schlechtgeht. Deshalb ist es jetzt unerlässlich, dass die europäischen Mitgliedstaaten den Kurs der Konsolidierung und der Strukturreformen halten. Das wird Anstrengungen und Härten mit sich bringen, die uns nicht kaltlassen. Aber es wird vor allem den Weg für eine nachhaltige Gesundung frei machen und denjenigen, die heute ohne Arbeit sind, neue Chancen eröffnen. Ein Rückfall in eine gescheiterte Schuldenpolitik dagegen hätte verhängnisvolle Folgen. Wachstum auf Pump würde Arbeitslosigkeit und wirtschaftlichen Stillstand in Teilen unseres Kontinents auf Jahre zementieren. Deshalb ist es so wichtig, jetzt die mutigen Anstrengungen fortzusetzen. Auf diesem schweren Weg darf und wird sie Europa nicht alleinlassen. Deshalb haben wir auch auf europäischer Ebene die Weichen auf Arbeit und Wachstum gestellt. Durch neue Chancen für Unternehmertum und Innovation. Durch einen europäischen Haushalt, der in Zukunft investiert, statt Überkommenes zu subventionieren. Durch die rasche Vollendung unseres Binnenmarkts. Durch den Abbau unnötiger Bürokratie in Europa. Und indem wir so schnell wie möglich Verhandlungen über ein umfassendes transatlantisches Wirtschaftsabkommen zu einem guten Abschluss bringen. Bis diese weitreichenden Maßnahmen ihre volle Wirkung auf Europas Arbeitsmärkten entfalten, werden wir entschlossen gegen die schlimmsten Härten der Krise angehen, durch einen europäischen Arbeits- und Wachstumspakt und durch gezielte Investitionen, die junge Menschen in Europa in Lohn und Brot bringen. Unsere Politik des Wachstums durch Reformen, der Konsolidierung und der Solidarität wird Europa befähigen, die Krise dauerhaft hinter sich zu lassen. Irland, Portugal, Griechenland und Spanien haben auf diesem Weg erste wichtige Fortschritte gemacht. Sie haben 14 Guido Westerwelle Defizite spürbar verringert und Wettbewerbsfähigkeit zurückgewonnen. Dieser erste Silberstreif am Horizont kann uns nur bestärken, den eingeschlagenen Weg gemeinsam weiterzugehen. In einem zweiten Schritt müssen wir unsere Währung langfristig krisenfest machen. Wo nationale Fehlentwicklungen ganz Europa aus dem Gleichgewicht bringen können, sollten wir in Zukunft neue Formen der Zusammenarbeit entwickeln. Vor allem wird es darauf ankommen, unsere Fiskal-, Finanz- und Wirtschaftspolitiken künftig enger zu verzahnen. Dabei geht es nicht um zentralistische Planwirtschaft. Europa braucht vielmehr einen politischen Rahmen, der seiner fortschreitenden ökonomischen Vernetzung gerecht wird. Diese Pionierarbeit ist unerlässlich für den wirtschaftlichen Erfolg des Euro. Sie ist auch eine demokratische Notwendigkeit. Europas Bürger müssen Einfluss auf die Entscheidungen nehmen können, deren Auswirkungen sie ja direkt betreffen. In der vernetzten europäischen res publica müssen sie dort Mitsprache haben, wo ihre Angelegenheiten verhandelt werden. Deshalb müssen wir Demokratie in Europa künftig so organisieren, dass sie unseren immer engeren Verflechtungen gerecht wird. Dabei wird es uns helfen, neu über den Begriff der Subsidiarität nachzudenken. Im vernetzten Europa sollten politische Entscheidungen so nah bei den Menschen fallen wie möglich. Die Krise erinnert uns aber auch daran, dass wir allen Bürgern Teilhabe einräumen müssen, die diese Entscheidungen betreffen. „Mehr Europa“ darf nicht „weniger Demokratie“ heißen. Die Verantwortung für eine engere Zusammenarbeit in der Finanz- und Wirtschaftspolitik sollten wir deshalb nie allein der Brüsseler Bürokratie aufbürden. Der demokratische Disput auf nationaler und europäischer Ebene gehört ins Zentrum politischer Willensbildung. Deshalb sollten wir die Parlamente Europas noch stärker in die Verantwortung nehmen, etwa im Rahmen künftiger wirtschaftspolitischer Vertragspartnerschaften. Das gilt für nationale Parlamente wie für das Europäische Parlament. So nutzen wir die schöpferische Kraft von Kritik und Widerspruch für ein besseres Europa. So verhindern wir, dass die europäische Idee selbst Gegenstand von Protest und Ablehnung wird. Schritt für Schritt verwirklichen wir so die Vision von einer Politischen Union, die den Anforderungen unserer immer engeren europäischen Vernetzung auch künftig gewachsen ist. Liberale Außenpolitik für eine vernetzte Welt 15 II. Über diese Gestaltungsaufgaben im Inneren Europas dürfen wir nicht die großen Herausforderungen ausblenden, vor denen wir heute global stehen. Wenn wir über unseren europäischen Horizont hinausblicken, dann sehen wir eine Welt im Umbruch. Die Kräfteverhältnisse auf der Welt verschieben sich in atemberaubendem Tempo. Die alte Weltordnung wankt, eine neue ist bisher noch nicht ausreichend erkennbar. Noch vor 30 Jahren hat Deutschland zehnmal so viele Güter ausgeführt wie China. Heute ist dieses China zur größten Handelsnation der Welt aufgestiegen. Allein Indien wird bald dreimal so viele Einwohner haben wie die gesamte Europäische Union. Der Aufstieg des einen bedeutet dabei nicht den Abstieg eines anderen. Außenpolitik ist kein Nullsummenspiel. Der Aufstieg neuer Kraftzentren verändert die Weltpolitik fundamental. Wirtschaftliche Erfolgsgeschichten begründen politische Gestaltungsmacht. Deutschland unterstützt diese Entwicklungen. Mehr Mitsprache bedeutet auch mehr Verantwortung. Die Einbindung neuer Spieler liegt im gegenseitigen Interesse. Wir wollen weiter beherzt ein Netz strategischer Partnerschaften mit den globalen Spielern der Zukunft weben. Es geht uns dabei nicht nur um gute Regierungskontakte, sondern um den partnerschaftlichen Austausch der Gesellschaften. Wir bauen Vertrauen auf und schaffen tragfähige Netzwerke. Die Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik ist zentraler Bestandteil unserer werteorientierten Außenpolitik. Bewährte Partnerschaften zu pflegen und neue Partnerschaften mit den neuen Kraftzentren dieser Welt zu begründen, ist das erklärte Ziel deutscher Außenpolitik. Wer Globalisierung gestalten will, braucht starke Partner. In unserer Weltgesellschaft werden immer mehr Fragen zu Themen einer neuen Weltinnenpolitik. Es gibt kaum einen deutschen Politikbereich, von der inneren Sicherheit bis hin zur Bildungspolitik, der nicht durch die Globalisierung beeinflusst ist. Internationale Themen wirken in die nationale Politik, nationale Entscheidungen haben umgekehrt Einfluss darauf, ob wir unsere globalen Ziele erreichen, beispielsweise in der Energie- oder Klimapolitik. Wir brauchen neue Impulse für den Freihandel, protektionistische Tendenzen betrachten wir mit großer Sorge. Es ist gut, dass wir rasch die Verhandlungen über ein umfassendes transatlantisches Wirtschafts- 16 Guido Westerwelle abkommen aufnehmen. Diese Verhandlungen werden uns große Anstrengungen abverlangen. Aber der enorme wirtschaftliche und politische Nutzen eines solchen Abkommens wird für beide Seiten aller Mühen wert sein. Dieses strategische Projekt kann uns helfen, die Krise gemeinsam zu bewältigen. Zugleich wird es die Regeln prägen, nach denen die Welt künftig Geschäfte macht und Ordnungspolitik gestaltet. So kann es zu einem wichtigen Pfeiler einer künftigen Weltordnung werden. Deutschland setzt sich für eine regelgeleitete, stabilisierende Weltordnung ein. Multilateralismus ist der Weg, Frieden und Wohlstand sind das Ziel. Wir brauchen ein gemeinsames Gerüst von Regeln, gerade dann, wenn neue Themen aufkommen und immer mehr Spieler auf dem Platz sind. Deutschland steht für eine Stärkung des Völkerrechts. Eine Welt der gemeinsamen Normen und der partnerschaftlichen Zusammenarbeit ist die beste Voraussetzung für Frieden und Sicherheit, für Entwicklung und für Wohlstand. Als Forum für die Welt, als Katalysator der politischen Bewusstseinsbildung, als Verhandlungsort für die internationale Regelsetzung, aber auch als Akteur in akuten Krisen sind die Vereinten Nationen nicht wegzudenken. Die Vereinten Nationen sind für uns das Herzstück einer globalen Ordnung, die auf Kooperation setzt. Die Globalisierung ist auch eine Globalisierung der Werte. Der Irrglaube, dass es Regionen oder Kulturen gäbe, wo Menschen keine Demokratie ersehnen, wurde durch die Entwicklungen in Nordafrika und in der arabischen Welt eindrucksvoll widerlegt. Die Globalisierung ist ein sozialer Vernetzungsprozess, der uns alle jeden Tag mehr zu Mitgliedern einer Weltgesellschaft macht. Die Globalisierung begünstigt Informationsfreiheit und Teilhabe. Sie erschwert Zensur, Abschottung und Unterdrückung. Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechte und Demokratie sind Voraussetzungen für Stabilität, wirtschaftliche Entwicklung und Frieden. Die universelle Gültigkeit der Menschenrechte steht für uns außer Frage. Wir sprechen von diesen fundamentalen Prinzipien nicht, um anderen unser Lebensmodell aufzudrängen. Das könnten wir auch gar nicht. Wir können aber als gutes Beispiel vorangehen und Unterstützung anbieten. Das tun wir mit Selbstbewusstsein und in dem Bewusstsein der großen Überzeugungskraft, die unsere Werte haben. Liberale Außenpolitik für eine vernetzte Welt 17 Deutsche Außenpolitik ist Friedenspolitik. Deshalb freut es mich, dass Abrüstung und Nichtverbreitung endlich wieder als Zukunftsthemen der internationalen Politik erkannt werden. Wir müssen alles dafür tun, dass Massenvernichtungswaffen nicht zum Fluch der Globalisierung werden, und Deutschland steht zu einer Kultur der militärischen Zurückhaltung. Zurückhaltung heißt nicht, dass wir weniger beitragen wollen oder werden als andere. Zurückhaltung heißt vielmehr, dass wir das militärische Instrument auch vor dem Hintergrund unserer Geschichte stets besonders sorgfältig prüfen, bevor wir es zum Einsatz bringen. Das drückt sich zum Beispiel aus in der besonderen Konstellation der Bundeswehr als Parlamentsarmee. III. Die großen europäischen und globalen Herausforderungen erfordern, dass wir in der Außenpolitik neue Wege gehen. Die Zeiten, in denen sich Diplomatie auf Absprachen zwischen Ministern und Botschaftern beschränken konnte, sind vorüber. In unserer vernetzten Welt nimmt die Zahl der Spieler rasant zu, die den Anspruch und die Fähigkeit haben, internationale Beziehungen mitzuprägen. Das bestimmt heute Regierungshandeln weltweit. So gibt es innerhalb der deutschen Bundesregierung heute kein Ressort mehr, das sich nicht mit Fragen von internationaler Tragweite auseinandersetzen muss. Aber auch die grenzüberschreitende Vernetzung unserer Unternehmen und Zivilgesellschaften wächst rasant. Die politischen Stiftungen leisten hier Hervorragendes. Deutschland wird von vielen um die Arbeit der politischen Stiftungen beneidet. Die deutschen politischen Stiftungen sind ein Juwel in den internationalen Beziehungen. Deutschland genießt in der Welt hohes Ansehen und großes Vertrauen. Wir sind ein international verlässlicher und geschätzter Partner. Das Ansehen unseres Landes basiert auf der Stärke unserer Wirtschaft, auf unserer internationalen Solidarität und der deutschen Politik, die das nationale Interesse weitsichtig formuliert und auf internationale Einbindung setzt. Die deutsche Außenpolitik zeichnet sich aus durch Verlässlichkeit und Kontinuität. Den Auftrag deutscher Außenpolitik haben uns die 18 Guido Westerwelle Mütter und Väter des Grundgesetzes ins Stammbuch geschrieben, nämlich in einem vereinten Europa dem Frieden in der Welt zu dienen. Diesem Kurs ist liberale Außenpolitik verpflichtet und wird es immer sein. Grundsätze liberaler Außenpolitik im 21. Jahrhundert 19 Michael von Prollius Grundsätze liberaler Außenpolitik im 21. Jahrhundert1 „Es wird (…) noch immer nicht beachtet, daß ewiger Frieden nur durch restlose und allgemeine Durchführung des liberalen Programms erreicht werden kann, und daß der Weltkrieg nichts anderes war als die natürliche und notwendige Folge der antiliberalen Politik der letzten Jahrzehnte.“2 „Kein Staat soll sich in die Verfassung und Regierung eines anderen Staats gewalttätig einmischen.“3 Über die Wirtschaft hinaus ist die Außenpolitik ein klassisches Betätigungsfeld für Interventionisten. Die Geschichte der Außenpolitik ist vor allem eine Geschichte der Einmischung in die Angelegenheiten anderer Völker, ob politisch oder militärisch, vielfach geleitet von ökonomischen Interessen. Regelmäßig geschieht dies heute im Namen des Friedens. Das Verhältnis von Staaten, im Grunde genommen ihrer Regierungen, wird politisch wie wissenschaftlich wesentlich unter Macht- und Konfliktgesichtspunkten betrachtet. Das Denken in Gleichgewichten, Stabilität und als überlegen angesehenen westlichen Standards – allen voran wohlfahrtsstaatliche Demokratie und ein dementsprechend erforderlicher Staatsaufbau – spielt eine zentrale Rolle. Antagonismen resultieren regelmäßig aus ideologisierten Kollektivismen, wie das Aufputschen der Völker vor dem Ersten Weltkrieg besonders eindringlich zeigt. -------------------------------------------- 1 Der Aufsatz ist aus einem Vortrag mit anschließender Diskussion im Rahmen des „Liberalen Privatseminars in der Tradition von Ludwig von Mises und Friedrich August von Hayek“ hervorgegangen. Wertvolle Hinweise verdanke ich Isabell Heuber, Norbert F. Tofall und Erich Weede. 2 Mises, Ludwig von: Liberalismus; Sankt Augustin, 2000, S. 98. 3 Kant, Immanuel: Zum ewigen Frieden; Bern/München/Wien, o. J., S. 13. 20 Michael von Prollius Bereits die Beseitigung der durch Interventionismus begründeten Probleme im Zuge einer Strategie des ungehinderten weltweiten Austauschs, der Nicht-Einmischung und der Stärkung internationalen Rechts würde helfen, wesentliche Herausforderungen aktueller Außenund Sicherheitspolitik zu bewältigen. Nach dem vermeintlichen „Ende der Geschichte“ wird in Deutschland die Bundeswehr in eine Interventionsarmee umstrukturiert. Im Zusammenhang mit dem sogenannten „Krieg gegen den Terror“ hat der amerikanische Gouverneur und Präsidentschaftskandidat Ron Paul eine weitreichende Erkenntnis auf die Kurzformel gebracht: „They are here, because we are there.“4 Derweilen wird in Afghanistan ein „endloser Krieg“5 geführt. Auf Deutschland übertragen könnte es statt „Deutschland wird am Hindukusch verteidigt“ angesichts terroristischer Bedrohungen heißen: „Der Hindukusch wird in Deutschland verteidigt“. Indes bleibt festzuhalten: Es gibt praktisch keinen Krieg gegen Staaten, sondern nur gegen Menschen, die darunter leiden. Zugleich vollziehen die Menschen im islamischen Krisenbogen eine Freiheitsrevolution, die als „Arabischer Frühling“ in die Geschichte eingeht – eine Revolution, die letztlich auf Freiheit, Recht und Selbstbestimmung im islamischen Selbstverständnis vor dem Hintergrund abendländisch-universaler Prinzipien abzielt. Grund genug, um auf die Prinzipien liberaler Außenpolitik, die Praxis liberaler Außenpolitik und die Herausforderungen liberaler Außenpolitik im 21. Jahrhundert zu blicken.6 Dafür werden im Folgenden ordnungspolitische Prinzipien entwickelt, die als Maßstab für die praktische Ausgestaltung einer liberal fundierten Außenpolitik Orientierung bieten sollen. Eine dezidierte Einordnung und Abgrenzung innerhalb der Theoriediskussionen der Internationalen Beziehungen ist hingegen nicht beabsichtigt. Zunächst werden klassisch-liberale Grundlagen nach Kant skizziert und daran anschließend sieben liberale Prinzipien für die Außenpolitik postuliert. Im Abschnitt „Praxis der Außenpolitik“ wird anhand der Beispiele Irak-Krieg, Iran-Sanktions-------------------------------------------- 4 Paul, Ron: A Foreign Policy of Freedom. Peace, Commerce And Honest Freedom; Lake Jackson 2007. 5 Greiner, Bernd: Afghanistan – der endlose Krieg?, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 10/2011. 6 Der hier verfolgte Ansatz orientiert sich an klassisch-liberalen Prinzipien und Werten. Eine Positionierung innerhalb der liberalen Schule der Internationalen Beziehungen ist nicht beabsichtigt. Grundsätze liberaler Außenpolitik im 21. Jahrhundert 21 regime, state-/nationbuilding und Entwicklungshilfe aufgezeigt, dass einerseits Interessenverfolgung nicht stringent erfolgt und andererseits liberale Prinzipien weitgehend vernachlässigt werden. Im letzten Teil werden auf der Grundlage klassisch-liberaler Prinzipien Lösungsansätze für eine prinzipienbasierte, handlungsorientierte Außenpolitik formuliert. I. Prinzipien liberaler Außenpolitik Das Staatenrecht (Völkerrecht) herrscht nach Immanuel Kant, „wo ein Staat als eine moralische Person gegen einen anderen im Zustande der natürlichen Freiheit, folglich auch dem des beständigen Krieges betrachtet, teils das Recht zum Krieg teils das im Kriege teils das, einander zu nötigen, aus diesem Kriegszustande herauszugehen, mithin eine den beharrlichen Frieden gründende Verfassung, d. i. das Recht nach dem Kriege zur Aufgabe macht“, wobei „im Völkerrecht nicht bloß ein Verhältnis eines Staats gegen den anderen im ganzen, sondern auch einzelner Personen des einen gegen einzelne des anderen, im gleichen gegen den ganzen andren Staat selbst in Betrachtung kommt“.7 Was bedeutet das für die Prinzipien liberaler Außenpolitik? Nach Kant genießt das Staaten-/Völkerrecht Priorität. Dieses Recht muss gesetzt werden, denn das Staatensystem lässt sich im Naturzustand durch einen anarchischen Zustand charakterisieren. Es gibt noch keine Herrschaft des Rechts. Es besteht eine latente Kriegsgefahr, da dem Recht des Stärkeren erst die Stärke des Rechts entgegengesetzt werden muss, damit der Stärkere gewaltlos in die Schranken gewiesen werden kann. Die Herrschaft des Rechts muss also an die Stelle des Naturzustands treten. Praktisch trifft allerdings der auf Thomas Hobbes zurückgehende Bezug Kants, nämlich der einer Anarchie als Feindschaft aller Staaten und eines Krieges aller gegen alle, nicht zu. Es lassen sich keine permanenten Kriegsvorbereitungen beobachten. Menschen haben kein natürliches Interesse, Krieg zu führen, sondern leben lieber unbeeinflusst in Frieden. Bezeichnenderweise hat Hermann Göring diesen Sachverhalt auf den Punkt gebracht, als er feststellte: Alles was man tun müsse, sei zu behaupten, das eigene Land werde angegriffen und denjenigen, die -------------------------------------------7 Kant, Immanuel: Die Metaphysik der Sitten; Stuttgart 1990, S. 206. 22 Michael von Prollius für Frieden eintreten, mangele es an Patriotismus und sie gefährdeten das Land.8 Besser als die Hobbes’sche eignet sich die Locke’sche Anarchie für eine Charakterisierung der internationalen Beziehungen: Rivalität prägt die Welt, Ausbrüche von Gewalt bedrohen die Sicherheit, aber nicht permanent. Aufgabe des Staates ist der Schutz von Eigentum – Selbsteigentum (Leib und Leben) und Privateigentum. Nach Kant9 haben Staaten grundsätzlich ein Recht zum Krieg, darüber hinaus gibt es ein Recht im Krieg und das Recht nach dem Krieg. Ziel ist stets der Frieden durch Austritt aus dem Krieg. Das Recht zum Krieg beinhaltet die Notwendigkeit, vor dem Kriegführen die Zustimmung der Staatsbürger (mittels ihrer Repräsentanten) einzuholen. Der Staat hat das Recht, die Staatsbürger für Kriegsdienste heranzuziehen, da er von ihnen für diesen Zweck geschaffen wurde. Das Recht zum Krieg besteht – nur im Naturzustand – bei Lädierung durch Gewalt, Bedrohung, dazu zählt auch Kriegsrüstung, woraus wiederum das Recht auf einen Präventivkrieg folgt, oder bei einem Machtungleichgewicht, weil es ein Recht auf Gleichgewicht der Staaten gibt. Verboten sind hingegen Strafkriege, Ausrottungs- und Unterjochungskriege, Plünderungen, Erstattung von Kriegskosten und heimtückische kriegerische Mittel. Staaten agieren als moralische Personen; damit sind sie gleichsam individualisiert und müssen den Ansprüchen an das Handeln von Individuen nach dem kategorischen Imperativ genügen: „Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.“ Das Kollektiv hat keine Voroder Überrechte im Verhältnis zum Individuum. Aufgabe der Regierungen ist es, einerseits aus dem Kriegs- in den Friedenszustand einzutreten, andererseits eine Verfassung zu schaffen, die einen anhaltenden Frieden erzeugt. Ein Völkerbund soll Angriffe auf Mitgliedstaaten abwehren. Er beruht auf einer föderalen Verfassung mit Austrittsrecht. Die Herrschaft des Rechts, zumal weltweit etabliert, ermöglicht Frieden und bringt Staaten aus dem Naturzustand heraus. -------------------------------------------- 8 Zitiert nach Paul, Ron: A Foreign Policy of Freedom. Peace, Commerce And Honest Freedom, S. 363. 9 Vgl. Kant, Immanuel: Die Metaphysik der Sitten; Stuttgart 1990, 206-16 (2. Abschnitt. Das Völkerrecht. §§ 53-61). Grundsätze liberaler Außenpolitik im 21. Jahrhundert 23 Welche Prinzipien lassen sich für eine liberale Außenpolitik von Kant ausgehend entwickeln? 1. Für die Außenpolitik gelten die gleichen Grundsätze wie für die Innenpolitik – liberale Prinzipien einer freien Gesellschaft sind universell gültig. Die Aufgabe und Existenzberechtigung des Staates besteht im Schutz von Leib, Leben und Eigentum der Bürger, die ihn zu diesem Zweck geschaffen und beauftragt haben. Die Herrschaft des Rechts bindet gerade auch den Staat. Menschen können am besten selbstständig für ihre Geschicke sorgen. Das Handeln der Staatsvertreter muss transparent und jederzeit überprüfbar sowie offenlegbar sein. Nicht-Einmischung: Auch in der Außenpolitik haben unbeabsichtigte Konsequenzen staatlichen Handelns – Interventionsspirale, Sperrhakeneffekt und die Verdrängung freier, friedlicher Initiativen – ihre volle Berechtigung. Nicht-Handeln als Handeln und Nicht-Einmischung in die Angelegenheiten anderer Völker sind daher die vornehmsten Aufgaben eines jeden Staates. Im Vordergrund steht die freie, ungehinderte Kooperation der Menschen, die unter der Bedingung der Freiheit ihr Leben besser führen und verantworten können als von Regierungen geführt und gelenkt. Der Liberalismus selbst „dient der Erhaltung des gegenwärtig erreichten Standes und dem weiteren Ausbau der wechselseitigen Kooperation der Menschen“.10 Recht und Humanismus sind in diesem Sinne die Leitmotive außenpolitischen Handelns. Die Goldene Regel der Außenpolitik lautet: Greife niemals ein anderes Land an! Die Menschen eines jeden Landes haben das Recht auf Selbstbestimmung. 2. Darüber hinaus ist jedoch zu diskutieren, ob Interventionen in innere Angelegenheiten eines Staates und damit die Verletzung von dessen Souveränität gerechtfertigt sind, wenn einer Einmischung höherrangige Rechtsprinzipien (Menschenrechte) zugrunde liegen.11 Erforderlich ist hierfür eine klare, konsequente Regelbindung. -------------------------------------------10 Mises, Ludwig von: Liberalismus, S. 93. Staaten haben ein Recht auf innere Souveränität. Zu ihrer Wahrung haben sich andere Staaten verpflichtet. Zugleich haben Menschen ein Recht auf ein von staatlicher Gewalt unversehrtes Leben (universal gültige Menschenrechte). Diese beiden Rechte können in Konflikt geraten, etwa durch unterschiedliche Formen von Gewaltherrschaft. Liberale Institutionalisten wie Robert O. Keohane und Joseph S. Nye argumentieren, 11 24 Michael von Prollius Nicht-Einmischung darf aber nicht mit Isolationismus12 verwechselt werden und bedeutet auch nicht, dass es überhaupt keine Eingriffe gibt oder ein absolutes Verbot des Kriegführens, vielmehr deckt das Völkerrecht in eng begrenzten (Not-)Fällen zu Recht Interventionismus. Schließlich ist das Recht mit der Befugnis zu zwingen verbunden. 3. Krieg als letztes Mittel, um Frieden wiederherzustellen: Liberale Außenpolitik ist nicht pazifistisch. Abschreckung, Aggression, aber auch Präventivkriege sind zwar keine geeigneten Mittel, Wehrhaftigkeit hingegen schon. Gewalt darf mit Gewalt beantwortet werden.13 Kriegsrecht ist ein (prekäres) Notrecht, um die bedrohte eigene Existenz zu verteidigen und zu sichern. Krieg ist insofern das letzte Mittel, nachdem die Politik alle übrigen Mittel ausgeschöpft hat; Krieg ist aber gerade nicht die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln. Krieg lässt sich weder allein politisch noch moralisch und auch nicht ökonomisch legitimieren, sondern allenfalls durch die deutliche Begrenzung oder/und Verringerung von Gewalt.14 Denn das Ziel des Kriegs muss der Frieden sein. Allerdings ist Kriegführen auch mit dem propagierten Ziel, den Frieden wieder herzustellen, durch weitreichende Beschränkungen und Herausforderungen limitiert, nämlich: 1. Die Zustimmung der Staatsbürger, 2. die Begrenzung staatlicher Macht, 3. die Beseitigung des Interesses am Kriegführen. -------------------------------------------- dass die innere Souveränität eines Staates eingeschränkt werden kann, wenn ein höher bewertetes Rechtsgut eingeschränkt wird und durch die Intervention gewahrt oder wieder hergestellt werden soll. Hinzu kommt, dass etwa im Fall einer Revolution der Staat keine Legitimitätsquelle für seine Souveränität mehr besitzt – das Volk stellt das auf die staatlichen Institutionen übertragene Repräsentationsmonopol gerade infrage. 12 Barry R. Posen plädiert mit seiner Forderung, sich von der Hegemonialstrategie der USA ab- und einem Schutz enger nationaler Sicherheitsinteressen zuzuwenden, ebenfalls ausdrücklich nicht für Isolationismus, sondern für die Bewältigung der seiner Ansicht nach großen sicherheitspolitischen Herausforderungen: Erhaltung der globalen Machtbalance, Kampf gegen Terroristen und Eindämmen nuklearer Proliferation, Posen, Barry R.: Pull Back. The Case for a Less Activist Foreign Policy; in: Foreign Affairs JanuaryFebruary/2013. Leider fehlt eine sozioökonomische Komponente praktisch vollständig. 13 Artikel 51 der UN-Charta anerkennt beispielsweise das „Recht zur Selbstverteidigung im Falle eines bewaffneten Angriffs“. Nach dem Völkergewohnheitsrecht ist sogar ein Angriff gestattet, der einen Gegenangriff vorwegnimmt, wenn „eine unmittelbare, überwältigende Notwendigkeit zur Selbstverteidigung besteht, die keine Wahl der Mittel und keine Zeit mehr zu weiterer Überlegung lässt“ („Caroline-Formel“). Legale Präventivkriege unterliegen damit sehr restriktiven Regeln. 14 Siehe hierzu Münkler, Herfried: Die neuen Kriege; Reinbek bei Hamburg 2002. Grundsätze liberaler Außenpolitik im 21. Jahrhundert 25 Frei nach Lord Acton gilt: Macht korrumpiert, absolute Macht korrumpiert absolut. Folglich ist eine strenge Limitierung staatlicher Handlungsbefugnisse unter Berücksichtigung der Zustimmung der Bevölkerung gerade in so grundsätzlichen Fragen wie Krieg und Frieden erforderlich. Das gilt umso mehr in Anlehnung an Kant: „Wer einmal die Gewalt in Händen hält, wird sich vom Volk nicht Gesetze vorschreiben lassen und auch gegenüber anderen Staaten sich nicht vom Recht beschränken lassen bei seiner Interessenverfolgung.“15 Allerdings bietet das Mehrheitsprinzip keine verlässliche Sicherung für den Frieden und keine hinlängliche Sperre gegen Propaganda und Ideologisierung durch Kriegstreiber insbesondere der Staatsführungen. Um den Frieden zu erhalten, gilt es daher das Interesse am Kriegführen zu beseitigen. Entscheidende Voraussetzung bildet eine Ordnung der Freiheit für eine offene Gesellschaft, die Lebensverhältnisse ermöglicht, die dem Interesse am Kriegführen abträglich sind.16 Zudem besteht eine wichtige Aufgabe darin, das Bild vom Krieg zu ändern. Krieg sollte konsequent gebrandmarkt und entlarvt werden.17 Krieg hat nichts Heroisches. Krieg bringt Verarmung, Tod und Verstümmelung mit sich. Das gilt umso mehr, als Krieg und ausufernde Staatstätigkeit Brüder sind, oder mit Friedrich Schiller: Der Krieg ernährt den Krieg. Kapitalismus, verstanden als freie Marktwirtschaft, ist der beste Friedensgarant: Offene Märkte, Vertragsfreiheit, Privateigentum, Freihandel – weder Schutzzölle noch nicht-tarifäre Handelshemmnisse – und Rechtssicherheit ermöglichen den Tausch über politische Grenzen hinweg und damit die Kooperation unterschiedlicher Menschen und Völker. Die internationale Arbeitsteilung ist ein 4. -------------------------------------------15 Kant, Immanuel: Ewiger Frieden, S. 60f. Vgl. Mises, Ludwig von: Liberalismus, S. 98f.: „Damit der Frieden nicht gestört werde, muss man das Interesse am Kriegführen beseitigen. Man muss eine Ordnung aufrichten, die Völkern und Volksteilen Lebensverhältnisse schafft, mit denen sie soweit zufrieden sind, dass sie nicht zum Verzweiflungsmittel des Krieges greifen. Der Liberale geht nicht darauf aus, den Krieg durch Sittensprüche und Predigten abzuschaffen. Er sucht in der Gesellschaft Bedingungen zu schaffen, die die Kriegsursachen beseitigen.“ 17 Robert Higgs warnt zu Recht davor, dass Kriegsgründe grundsätzlich auf schwachen Behauptungen und vielfach auf Propaganda beruhen. Zudem würden die Kriegsfolgen auf schlechten Spekulationen über das beruhen, was geschehen würde, wenn man nicht handele. Siehe Higgs, Robert: War is horrible, but … ; in: The Independent Review 2/2012, S. 314f. 16 26 5. 6. Michael von Prollius schlagendes Anti-Kriegsargument, auch mit Blick auf die verheerenden Langzeitfolgen des Ersten Weltkrieges für die bereits globalisierte Welt. Von Frédéric Bastiat stammt die bekannte Weisheit, sobald Güter Grenzen nicht mehr überqueren dürfen, werden es Soldaten tun. Sobald hingegen „Kapital und Arbeit auch ins Ausland wandern können, … schwindet die Berechtigung, eine Unterscheidung zwischen den Wirkungen des Freihandels im Binnenverkehr und im Außenverkehr zu machen.“18 Es versteht sich von selbst, dass alle freiwillig geschlossenen Verträge respektiert werden müssen. Frieden und Freihandel19, unbeschränkte Selbstbestimmung und Kooperation stehen im Mittelpunkt einer liberalen Außenpolitik. Schließlich zielen die Austauschbeziehungen zwischen Menschen auf eine Verbesserung der Situation beider Seiten. Eine Rahmenordnungspolitik zur Stärkung liberaler Institutionen weltweit gehört ebenfalls zu den liberalen außenpolitischen Prinzipien, also das friedliche, aber nachdrückliche Eintreten für eine freie Gesellschaft. Praktisch bedeutet das heute eine Politik in Richtung der Römischen Verträge mit einer Grundrechtscharta und Freihandel sowie Freizügigkeit für Arbeit und Kapital. Die Devise muss lauten: „Menschenrechte sind unverletzlich und Freihandel ohne Ausnahme!“, und sie muss alle Staaten der Erde einbeziehen. Praktisch bedeutet das, für die Einhaltung unveräußerlicher Rechte einzutreten, Verstöße anzuprangern und Freihandel nicht von Reziprozität, also nicht von den Zugeständnissen anderer Staaten, ebenfalls Freihandel zuzulassen, abhängig zu machen. Deren Zollbarrieren und nicht-tarifäre Handelshemmnisse schaden zuallererst der Bevölkerung des Staates, der den Freihandel einschränkt. Die Gewährung eines uneingeschränkten Rechts auf Sezession und damit selbstbestimmte Staatsbildung ist ein konsequent liberaler -------------------------------------------- 18 Mises, Ludwig von: Liberalismus, S. 118, vgl. systematisch auch Boudreaux, Don: Globalization; Westport 2008. 19 Bei vollkommener Freiheit des Güter- und Dienstleistungsverkehrs, von Arbeit und Kapital, würden die Standortbedingungen über die günstigste Produktion entscheiden. Privatbahnen könnten dann beispielsweise problemlos mehrere Länder durchfahren, was bei nationalen Bahnen Probleme hervorruft. Ähnlich verhält es sich mit Häfen, Flughäfen und Fernstraßen, die in der Hand privater Betreiber keinen Anlass für politische Reibereien bieten. Grundsätze liberaler Außenpolitik im 21. Jahrhundert 27 Grundsatz, der im Selbstbestimmungsrecht der Völker verankert wurde. Aus grundsätzlichen Erwägungen und der Notwendigkeit, das herrschende Staatensystem (in seinen Grenzen) friedlich anpassen zu können, ist diesem Selbstbestimmungsrecht ohne Wenn und Aber zur Geltung zu verhelfen. Die Möglichkeit, die Staatsgrenze friedlich zu verlegen, wenn die Bewohner eines Gebietes das wünschen, beseitigt eine wichtige Konfliktursache, wie Ludwig von Mises aus eigener Anschauung wusste; viele Kriege des 19. und 20. Jahrhunderts wären vermieden worden.20 Große Bedeutung kommt hierbei Plebisziten zu. Die Bewohner eines Gebietes sollen abstimmen, zu welchem (neuen) Staatsgebiet sie gehören wollen. Minderheiten müssen um ihre Lebensbedingungen fürchten, wenn die Regierung eines Staates in der Hand von Angehörigen einer anderen Ethnie, Nation oder Religion ist und keine Möglichkeit zum politischen Ausweichen besteht. Aktuelle Beispiele aus dem Mittleren Osten wie Bahrain, Syrien und Irak, um nur drei zu nennen, sprechen in den Medien regelmäßig für sich. Insgesamt gilt, dass Staatsgrenzen ihre Bedeutung im Zuge liberaler Außenpolitik (weiter) verlieren sollten. Die EU ist in dieser Hinsicht in gewisser Hinsicht ein positives Beispiel, problematisch ist aber ihre zentralistische Verfasstheit.21 Ein Weltstaat ist eine alte Forderung des Liberalismus, allerdings nicht als zentralistischer Staat, sondern als Verbindung aller Völker unter allgemeinen Rechtsgesetzen. Deshalb ist das Völkerrecht dem Staatsrecht übergeordnet. Dementsprechend gehören über Staaten stehende Gerichte und Behörden, die den Frieden zwischen Staaten sicherstellen sollen, zu den liberalen Prinzipien, wenn die mit ihnen besetzten Personen sich dem Schutz und der Mehrung der Freiheit verschrieben haben. -------------------------------------------- 20 Heute ist das in Europa beispielsweise mit Blick auf die Basken, die Konflikte in Belgien, aber auch auf dem Balkan und Bestrebungen der Schotten ein auch aktuell bedeutsames Recht. Am Rande Europas wird beispielsweise den Kurden dieses Recht verwehrt. 21 So verfolgen die EU-Zentristen andere Ziele als ein freiheitliches Europa im liberalen Sinn. Sie verlagern die nationalen, umfassenden Kompetenzen lediglich auf die supra-nationale Ebene, um so einen einheitlichen, mächtigen, geschlossenen Raum zu bilden. Eine direkte Folge ist die sich abzeichnende Absicht, die Entwicklung der Welt gestalten zu wollen, auch mit Auslandseinsätzen von Streitkräften, um dem perzipierten Machtpotenzial zur Geltung zu verhelfen. 28 7. Michael von Prollius Frieden kann weltweit letztlich nur durch Beschränkung der Staatstätigkeit auf die absoluten Kernaufgaben gesichert werden. Sobald die Bedeutung des Staates für jeden einzelnen gering ist und die Staatsführung nur geringfügige, stark beschränkte Möglichkeiten besitzt, Herrschaft über die Bürger auszuüben, werden Kriege und kriegsähnliche Auslandseinsätze eine unattraktive und beschwerliche Angelegenheit.22 II. Praxis außenpolitischen Handelns Der Irak-Krieg und das iranische Sanktionsregime, die nachfolgend eingehender thematisiert werden, stehen für eine interessengeleitete Praxis außenpolitischen Handelns im Namen der Freiheit. Problematisch ist dabei indes, dass liberale Interessen nicht dominierten und auch die konkrete Politik nicht liberalen Prinzipien genügte. In grundsätzlicher Form gilt das auch für zwei langjährige außenpolitische Praktiken – state-/nationbuilding und Entwicklungshilfe –, die ebenfalls nachfolgend kurz untersucht werden. 1. Irak-Krieg Der Irakkrieg erscheint als ein Paradebeispiel für die folgenschwere Differenz zwischen Absicht und Resultaten von Regierungshandeln in außen- und sicherheitspolitischen Belangen. Kennzeichnend waren Gruppendenken und die kumulative Radikalisierung eines politischen Entwicklungsprozesses, der von bemerkenswert schlichten, emotionsgeladenen Motiven einer kleinen, abgeschlossenen Gruppe von Regierungsmitgliedern angetrieben wurde, darunter Präsident George W. Bush, Verteidigungsminister Donald Rumsfeld, Sicherheitsberaterin Condoleezza Rice und Vizepräsident Richard Cheney. Der Krieg lag noch nicht einmal im nationalen amerikanischen Interesse, wie 33 führende Repräsentanten der neorealistischen Schule der Internationalen Politik bereits am 26. September 2002 in der New York Times -------------------------------------------- 22 Die Privatisierung von Streitkräften ist keine geeignete Alternative. Frieden ist keine Frage mangelnder Effizienz, sondern machtpolitischer und ökonomischer Anreize. Aus (sesshaften) Privatarmeen würden aller Voraussicht und historischer Erfahrung nach Staaten entstehen. Grundsätze liberaler Außenpolitik im 21. Jahrhundert 29 darlegten und in der Zeitschrift Foreign Policy Anfang 2003 umfassender begründeten.23 Eine Untersuchung der Kriegsgründe ermöglicht eine Aufteilung in Rahmenbedingungen und Ziele. Zu den Rahmenbedingungen gehören eine dünne, einseitig selektierte und instrumentalisierte Informationsbasis, zudem die Fehlkalkulationen der politischen Führung der USA wie des Irak, ferner das Versagen der Medien als Kontrollinstanz und schließlich eine zur Selbsttäuschung führende US-Propaganda. Als zentralen Kriegsgrund im Sinne eines Ziels führt Stephan Bierling in seiner „Geschichte des Irakkriegs“ den Wunsch Bushs und seiner Berater an, „durch eine Demonstration der eigenen Macht ein Exempel zu statuieren und nach den Anschlägen vom 11. September das Risikokalkül aller potentiellen Feinde der USA zu verändern“.24 Hingegen sei der Irakkrieg weder durch die Neokonservativen verursacht noch maßgeblich für Israel, Öl oder Militärbasen geführt worden. Die Kriegsbilanz fällt verheerend aus: Mehr als 100.000 tote Zivilisten, ein traumatisiertes, instabiles Land, ca. 2 Billionen US-Dollar Kosten, zudem die Schwächung der amerikanischen Stellung in der Welt, ein an den Zielen gemessen kontraproduktiver Eingriff in die Region und das Schüren von Antiamerikanismus. Immerhin wurde ein Diktator gestürzt und beseitigt, die US-Staatsführung erwies sich als (doch noch) lernfähig – George W. Bush warf in letzter Minute das Ruder herum –, und das Horrorszenario eines weithin destabilisierten Mittleren Ostens blieb aus. Gleichwohl ist der Irakkrieg nicht „der Schlüssel zur Lösung der Konflikte im Mittleren Osten und zur Demokratisierung der arabischen Welt“.25 Die außenpolitische Zurückhaltung Deutschlands war hier angemessen. Ein Verzicht auf den Krieg hätte darüber hinaus für Hunderttausende unbeabsichtigte oder billigend in Kauf genommene Konsequenzen vermieden. Das gilt umso mehr, als sich mit Blick auf den -------------------------------------------- 23 Der Anzeigentext in der New York Times „War With Iraq Is Not in America's Interest“ ist unter http://www.bear-left.com/archive/2002/0924oped.html abrufbar. Der Aufsatz stammt von: Mearsheimer, John/Walt, Stephen: An Unnecessary War; in: Foreign Policy January-February/ 2003, S. 50-59. 24 Bierling, Stephan: Geschichte des Irakkriegs. Der Sturz Saddams und Amerikas Albtraum im Mittleren Osten; München 2010, S. 100. 25 Ebd., S. 223. Angemerkt sei, dass George Bush Senior weiser als sein Sohn gehandelt hat, indem er den Aggressor aus Kuwait vertrieb, militärisch besiegte, aber den Irak nicht eroberte und besetzte. 30 Michael von Prollius irakischen Diktator und sein Regime die Frage stellt, ob der Arabische Frühling nicht ebenfalls zu massenhaften Protesten und Forderungen nach einem Rücktritt Saddams in Bagdad, Arbil, Kirkuk, Basra und anderen Städten geführt hätte. Das Beispiel zeigt außerdem, dass es unter Berücksichtigung liberaler Prinzipien gerechtfertigt ist, das ethnisch-konfessionell heterogene irakische Volk selbst für sein Schicksal verantwortlich zu machen. Freihandel statt Sanktionen, ggf. auch Monitoring, Kontrolle und Direkthilfen hätten diese Bemühungen unterstützt. 2. Iran-Sanktionsregime Am Beispiel Iran lässt sich die Frage diskutieren, ob militärische Gewalt und wirtschaftspolitischer Zwang geeignete Mittel sind, um selbstgesteckte politische Ziele zu erreichen. Die Islamische Republik Iran ist bekannt für ihr Hegemonialstreben am Persischen Golf und das Streben nach einer Nuklearwaffenoption. Eine Betrachtung aus Sicht Irans führt zur Wahrnehmung eines Sicherheitsdilemmas: Iran ist eingekreist von US-Streitkräften. Mit Israel, Pakistan, Russland und China befinden sich vier Nuklearwaffenstaaten in der Nachbarschaft. Iran liegt in Reichweite US-amerikanischer Nuklearwaffen. Der Nahost-Konflikt und der ethnisch-religiöse Konflikt zwischen den die Region zahlenmäßig dominierenden Sunniten und der schiitischen Minderheit kommen hinzu. Jeder Versuch, die Sicherheitslage zu Irans Gunsten zu verbessern, wird als Bedrohung der anderen Staaten wahrgenommen. Zugleich gilt die Fähigkeit zur nuklearen Abschreckung als besonders effektive Sicherheitsgarantie, die konventioneller Abschreckung überlegen ist.26 Insbesondere der Westen will Iran zu einem Kurswechsel zwingen. Das jahrzehntelange US-Sanktionsprogramm wurde sukzessive intensiviert und international erheblich erweitert. Nicht nur ökonomische Vernunft, sondern auch maßgebliche politikwissenschaftliche Schu-------------------------------------------- 26 Siehe Thränert, Oliver: Der Iran und die Verbreitung von ABC-Waffen; SWP: Berlin August 2003 (http://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/studien/S2003 _30_trt.pdf, abgerufen am 22.04.2012) und Reissner, Johannes: Irans Selbstverständnis als Regionalmacht. Machtstreben im Namen antikolonialer Modernität; SWP: Berlin Oktober 2008 (http://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/studien/2008_ S29_rsn_ks.pdf, abgerufen am 22.04.2012). Grundsätze liberaler Außenpolitik im 21. Jahrhundert 31 len27 kommen zu dem Ergebnis, dass weder Sanktionen noch der Einsatz militärischer Gewalt die Grundproblematik zu lösen vermögen. Tatsächlich haben sich Sanktionen an den gesetzten Zielen gemessen bisher regelmäßig als ungeeignet, teilweise auch als kontraproduktiv erwiesen.28 Aus neorealistischer Perspektive kann Iran keine außenpolitische Balancierung vornehmen, weil es trotz russischer und chinesischer Sympathien weitgehend isoliert ist. Der Aufbau einer nuklearen Abschreckungskapazität ist eine naheliegende Alternative. Die drei regionalen Nuklearmächte sind nicht Mitglied des Atomwaffensperrvertrags. Die Vertragsbedingungen machen einen Beitritt für eine NichtAtommacht unattraktiv (Institutionalisten). Auch die Sicht der SozialKonstruktivisten kommt zu dem Ergebnis, dass der Einsatz militärischer Gewalt das Sicherheitsdilemma nur verschärfen würde. Um den Anreiz zu beseitigen, müssten andere Maßnahmen ergriffen werden – einschließlich glaubwürdiger Sicherheitsgarantien. Stattdessen wurde ein immer engmaschigeres Sanktionsregime geknüpft. Die Folgen sind Abschottung des Landes, innenpolitische Verhärtung, Festhalten an den Nuklearambitionen und Fortbestehen des Hegemonialstrebens. Mit einer offenen, aber für Proliferationsgüter kontrollierten Handelsund Kulturpolitik wäre das absehbar nicht passiert. Sanktionen und Blockaden gehören zu den Mitteln, die im Krieg eingesetzt werden. Genauso wie militärische Drohungen schaden sie dem Handel und -------------------------------------------- 27 Dazu gehören die auf Machtpolitik ausgerichteten Realisten, die sogenannten Liberalen oder Institutionalisten, welche ökonomische und politische Verflechtungen sowie Kooperation als kriegs-/konfliktmildernd interpretieren, und schließlich die Konstruktivisten, die die Wirkung von Ideen, die Bedeutung gesellschaftlicher Diskussionen sowie die Rolle von Erwartungen und Verhaltensnormen betonen. Exemplarisch sei zudem Stephen M. Walt genannt, der einen reformierten Realismus unter Berücksichtigung der Macht ökonomischer Kräfte und den Wandel von Interessen und Identitäten im Zeitablauf vertritt, und Alexander Wendt, der der Auffassung ist, dass internationale Institutionen staatliche Interessen und Identitäten verändern können. Kooperation helfe, zumal Akteure Entscheidungen regelgeleitet treffen, wobei intersubjektiv geteilte, wertegestützte Erwartungen an ein angemessenes Verhalten ausschlaggebend seien. 28 „Die Erfahrungen mit Sanktionen deuten darauf hin, dass diese in aller Regel nicht besonders erfolgreich sind.“ Hefeker, Carsten/Menk, Karl-Wolfgang: Wie wirkungsvoll sind Sanktionen? Das Beispiel Südafrika; HWWA-Report, Hamburg 2002 (http:// www.econstor.eu/bitstream/10419/32934/1/356982777.pdf, zuletzt aufgerufen am 20.04.2012). Grundsätzlich: Hufbauer Garry C./Schott, Jeffrey J./Elliott, Kimberly A. (Hg.): Economic Sanctions Reconsidered: History and Current Policy; Washington 2008. Demnach haben drei Viertel aller untersuchten Sanktionen das explizite Ziel verfehlt und bei den Übrigen wurden lediglich Teilerfolge erzielt. 32 Michael von Prollius friedlichen Austausch zwischen Menschen. Zudem provozieren und verstärken sie eine Bunkermentalität. Angestrebte Verhaltensänderungen bewirken sie indes nur selten. Kontraproduktive Symbolpolitik ist die Folge. Das Beispiel zeigt, dass unter Berücksichtigung liberaler Prinzipien eine Stärkung der Handlungsspielräume iranischer Bürger durch Freihandel statt Sanktionen, durch internationale Verhandlungen mit weniger Vorbedingungen bei Anerkennung einer zeitweise liberaleren iranischen Außenpolitik sowie der Anwendung gleicher Rechtsmaßstäbe für alle Staaten in der Region die Entstehung neuer Probleme vermieden und die Selbstbestimmung der Völker unterstützt hätte. 3. Statebuilding, nationbuilding Seit den 1990er Jahren wächst die Tendenz in der Politik, Bedrohungen und Risiken für internationales Handeln stärker zu gewichten und zu berücksichtigen. Zerfallende und zerfallene Staaten wurden als Quelle überspringender Probleme identifiziert, internationales Eingreifen immer stärker als notwendig angesehen. Truppen vor Ort erwiesen sich jedoch regelmäßig nicht in der Lage, die Konflikte zu lösen. Statebuilding wurde daher als Instrument auserkoren, um Konflikte zu managen, einzugrenzen und zu regeln. Vorbild ist der funktionsfähige westliche Staat – die Verankerung staatlicher Institutionen nach westlichem Vorbild misslang indes regelmäßig. Berit Bliesemann de Guevara und Florian P. Kühn sind in „Illusion Statebuilding“ der Frage nachgegangen, warum der westliche Staat so schwer zu exportieren ist. Sie liefern folgende Antworten: Statebuilding als Aufbau gesellschaftlich eingebetteter Herrschaftsstrukturen ist eine Illusion. Ergebnis sind Potemkin'sche Fassaden, nicht stabile Institutionen. Es besteht eine formale Ähnlichkeit bei strukturellen Unterschieden, weil Sozialbeziehungen in den Ländern anderen Mustern und Logiken folgen. Der Staat durchdringt die Gesellschaft nicht und kann politische Ziele nicht umsetzen – zugleich nutzt die Gesellschaft staatliche Funktionen kaum: „Persönliche Bindungen und informelle Arrangements, häufig verstärkt durch ökonomische Abhängigkeiten, prägen die Beziehungen zwischen Staat und Gesellschaft und gelten als Grundsätze liberaler Außenpolitik im 21. Jahrhundert 33 vielversprechender als formelle Verfahren.“29 Internationales Statebuilding stößt an „strukturelle Grenzen, die es nicht überwinden kann, egal wie ausgefeilt die Reformprojekte sind.“30 Es sei eine Selbsttäuschung des Westens, das Ziel der Friedensschaffung durch Militäreinsatz, Institutionenaufbau, Marktliberalisierung und Demokratisierung von außen umzusetzen. Die westliche Statebuilding-Politik sei letztlich selbstbezogen. Dies komme mit Blick auf die sozialen Auswirkungen auf die Bevölkerung einer „organisierten Verantwortungslosigkeit“31 gleich. Der Staat sei nicht per se die Lösung, das Fehlen von Staatlichkeit kein grundsätzlicher Mangel, Ausdruck von Instabilität und Sicherheitsproblemen. Zugleich kann der Staat Teil des Problems sein, etwa wenn sich einzelne Gruppen seiner bemächtigen. Zudem ist der Staat ein historisch gewachsenes Phänomen – im Westen von innen heraus vollzogen, außereuropäisch häufig durch das internationale Staatensystem vorgegeben. Die westliche etatistische Brille kann daher den Blick auf die tatsächlichen Probleme verstellen. Eine herausragende Bedeutung besitzen lokal vorhandene Ordnungen, die nicht staatlicher Natur sein müssen. Interventionen laufen Gefahr, die Verbindung politischer Rechenschaft zwischen Bevölkerung und Herrschern auf die internationale Ebene zu verlagern. Ein derartiger Interventionismus widerspricht „den Grundwerten liberaler, westlicher Stabilität, nämlich politischer Selbstbestimmung, Souveränität und demokratischer Willensbildung.“32 Ihr Plädoyer lautet: Im Umgang mit Krisen ist es notwendig, realistisch und bescheiden zu handeln und „letztlich die Selbsttäuschung umfassender Gestaltungsfähigkeit im State building zu beenden.“33 -------------------------------------------- 29 Bliesemann de Guevara, Berit/Kühn, Florian P.: Illusion Statebuilding. Warum sich der westliche Staat so schwer exportieren lässt; Hamburg 2010, S. 12; ähnlich Stewart, Rory /Knaus, Gerald: Can Intervention Work?; New York/London 2011, die gestützt auf Untersuchungen zu Afghanistan und Bosnien argumentieren, dass der Schlüssel zum Erfolg nicht bei demjenigen liegt, der interveniert, sondern bei der lokalen Bevölkerung. 30 Ebd., S. 15. Coyne, Christopher J.: After War. The Political Economy of Exporting Democracy; Stanford 2008 weist zudem auf folgende Konstellation hin: Wiederaufbau wird durch externe und interne Faktoren beschränkt, dort am stärksten, wo politischer, sozialer und ökonomischer Wandel besonders drängend ist. Klassische Wiederaufbaumaßnahmen funktionieren dort am schlechtesten, wo sie am stärksten benötigt werden. 31 Ebd., S. 15, S. 179. 32 Ebd. 33 Ebd., S. 181. 34 Michael von Prollius Der Staat besitze nicht nur eine internationale, sondern vor allem eine gesellschaftliche Funktion, und dieser Teil des Staates lasse sich nicht exportieren. Interventionen müssten angesichts der Lücke zum Idealbild tendenziell ewig andauern. Tatsächlich könnten Interventionen aus strukturellen Gründen nicht enden. Das gelte umso mehr, als das Statebuilding-Konzept davon ausgeht, der Staat produziere gleichsam automatisch Sicherheit und Wohlfahrt. Das sei nicht der Fall. Um diesem Ziel nahezukommen, gelte es vom westlichen Staatsverständnis abzuweichen und Regionalisierung statt Zentralisierung sowie genossenschaftliche, staatliche und privatwirtschaftliche Ordnungsmodelle im Einzelfall abzuwägen. Adressat wäre dann nicht der Staat oder die Nation als solches, sondern ein dezentrales Vorgehen, bei dem beispielsweise die Stämme zu Adressaten werden. Diesem bemerkenswert liberalen Plädoyer lässt sich noch hinzufügen: Zivilgesellschaften können nicht konstruiert werden, sie müssen wachsen. Da allein individuelle Freiheit Zivilisation bewahren und fortentwickeln kann, sollten alle Ziele, Mittel und Instrumente der Außenpolitik auf ihren Erhalt gerichtet sein – nicht mehr und nicht weniger. Die Adressaten sind indes auf lokaler Ebene zu finden und liegen damit häufig außerhalb der Reichweite anderer Regierungen. 4. Entwicklungshilfe Theoretiker und Praktiker zweifeln daran, dass die praktizierte Entwicklungshilfepolitik die selbstgesteckten Ziele erreichen kann. Mahnende Stimmen kritisieren ferner ihre kontraproduktiven Wirkungen. Die wesentlichen Argumente sind dabei: a) Die Entwicklungshilfe erreicht die Ärmsten nicht, weil machtpolitische Realitäten ausgeblendet und falsche Instrumente eingesetzt werden. Paul Collier, langjähriger Feldstudienanalyst der ärmsten Länder der Welt, kommt zu dem Ergebnis, die Politik habe in Bezug auf „The Bottom Billion“34 versagt. Autokraten halten Menschen weiter in der Stagnation gefangen. Die Probleme konzentrierten sich in den ärmsten Ländern. Dort gebe es einen Kampf zwischen Reformern und Machteliten, den Collier allerdings für erfolgreich beeinflussbar -------------------------------------------- 34 Collier, Paul: The Bottom Billion. Why the Poorest Countries Are Failing and What Can Be Done About it; New York 2008, nachfolgend siehe Part 4 „The Instruments“, S. 99-156. Grundsätze liberaler Außenpolitik im 21. Jahrhundert 35 hält. Er nennt vier Instrumentenkategorien: Hilfe (Geld), Handel, Militärinterventionen und schließlich Normen und Verfassungen. Geld sei bisher jedoch zu viel und zu schnell geflossen, es versickere regelmäßig in korrupten Kanälen. Ferner helfe Handel beispielsweise Afghanistan nicht weiter, das derzeit nur Opium für den Export zu bieten habe. Mehr robust herbeigeführte Sicherheit in Kombination mit einer Herrschaft des Rechts würde hingegen eine verbesserte Hilfe ermöglichen, und zwar dort, wo sie besonders notwendig sei.35 Dagegen würde den „Bottom Billion“ durch Protektionismus und Sanktionen gegen die Regime nur Schaden zugefügt. b) Die Entwicklungshilfe schafft Abhängigkeit, aber keine Selbstständigkeit. Übersteigt die Entwicklungshilfe acht Prozent des Bruttosozialprodukts, so wirkt sie kontraproduktiv.36 Mussie Habte urteilt: „Die Bilanz von fünf Jahrzehnten Entwicklungspolitik für Afrika könnte verheerender kaum sein“.37 Es seien keine ökonomischen und politischen Entwicklungen in Gang gesetzt worden, trotz Milliardenzuwendungen. Afrika sei zu einem „Kontinent von 'Bettlern'“ degeneriert, die Macht von Despoten wurde konsolidiert. Er gelangt zu der Schlussfolgerung: „(…) zentral für die Lösung der Probleme ist und bleibt das Engagement der afrikanischen Staaten selbst.“ Afrikaner wie Habte stehen mit dieser Ansicht auf dem Schwarzen Kontinent nicht allein. Der kenianische Wirtschaftsexperte James Shikwari sprach schon vor Jahren von „Fehlentwicklungshilfe“, und die sambische Ökonomin mit internationaler Arbeitserfahrung Dambisa Moyo fordert in „Dead Aid“ sogar ein Ende der Entwicklungshilfe und stattdessen Freihandel sowie ein Engagement auf internationalen Kapitalmärkten; zugleich begrüßt sie die umfassenden chinesischen Direktinvestitionen in die Infrastruktur als Vorbild.38 -------------------------------------------- 35 Paul Collier vertieft diese Problematik in: Wars, Guns, and Votes. Democracy in Dangerous Places; New York 2009 mit Blick auf politische Gewalt, indem er einen sehr begrenzten Einsatz internationaler Streitkräfte fordert, um Sicherheit zu schaffen und Regierungen zu verantwortungsvollem Handeln zu verpflichten. 36 Vgl. Easterly, William: Wir retten die Welt zu Tode. Für ein professionelleres Management im Kampf gegen die Armut; Frankfurt am Main 2008. 37 Habte, Mussie: Afrika neu denken; in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 1/2011, S. 67-73. 38 Moyo, Dambisa: Dead Aid. Why aid is not working and how there is another way for Africa; London 2010. Ausgerechnet von China könne sich die westliche Außenpolitik Anregungen für eine Strategie abgucken, ohne die gravierenden (illiberalen) Defizite zu übersehen: die systematische und umfassende Sicherung von Rohstoffen, insbesonde- 36 Michael von Prollius c) Die Qualität der Regierungsführung ist entscheidender als Entwicklungshilfe, Wirtschaftsreformen in einem umfassenden Sinn besitzen gegenüber Demokratisierung Priorität. Nicht Demokratie schafft Wohlstand, sondern Marktwirtschaft. Erforderlich ist ein funktionsfähiger Ordnungsrahmen mit gesicherten Eigentumsrechten, Gewerbefreiheit, offenen Märkten, stabiler Währung und guter Regierungsführung auch im Sinne solider Staatshaushalte. Um Armut zu überwinden, kann eine „beschäftigungsorientierte Entwicklungspolitik“ auf der Grundlage der konstituierenden Prinzipien der Sozialen Marktwirtschaft geeignet sein. Eine vergleichsweise etatistische, aber erfolgsbewährte Strategie hat Hans-Gert Braun in Anlehnung an Singapur entwickelt.39 Fazit: Nichts zu tun kann besser sein, als in gut gemeinter Absicht zu schaden. Die Erfolgsfaktoren, um der Armut zu entkommen, unterscheiden sich nicht wesentlich von denen des Westens beim Übergang von massenhafter ländlicher Armut zur industrialisierten Welt im 19. Jahrhundert: Der Schlüssel ist eine institutionelle Revolution. Die Empirie unterstützt diese Sicht weltweit, ob Economic Freedom Index, Easy of Doing Business Index oder World Competitiveness Report, Wohlstand entsteht dort, wo Freiheit herrscht und sich private Initiative entfalten kann. -------------------------------------------- re Erdöl, in Verbindung mit Wohlstand und Entwicklung treibenden Direktinvestitionen in die afrikanische Infrastruktur, die inzwischen diversifiziert wurde u. a. in die Bereiche Tourismus, Telekommunikation und Textilien, aber auch kulturellen Austausch, Gesundheit und Ausbildung umfasst. Davon profitiert auch Afrika, während der chinesische Einfluss in Wirtschaft, Politik und Gesellschaft Afrikas einzigartig ist. Ob die Infrastruktur tatsächlich der Bevölkerung zugutekommt, hängt vom Einzelfall ab. 39 Vgl. Braun, Hans-Gert: Armut überwinden durch Soziale Marktwirtschaft und Mittlere Technologie. Ein Strategieentwurf für Entwicklungsländer; Berlin 2010. Zunächst sollen alle wirtschaftspolitischen Maßnahmen der Vollbeschäftigung untergeordnet werden. Es müsse ein dauerhafter, nachhaltiger und die Gesamtwirtschaft erfassender Entwicklungsprozess ins Leben gerufen werden, der ohne Hilfe von außen auskomme. Dazu soll der Staat eine wirtschaftliche Infrastruktur schaffen und systematisch ausreichend Einnahmen erzielen. Nicht Spitzen-, sondern Mittlere Technologie sei der Erfolgsschlüssel, also die Technik, die in Deutschland vor rund 50 Jahren „state of the art“ war. Weniger Kapitalintensität sei zumeist gefordert, die im Land eingesetzte Technologie müsse der Faktorausstattung angepasst werden. Der Aufbau eines entsprechenden Finanzsektors, bei dem ausländische Direktinvestitionen eine unterstützende Rolle zugemessen bekommen, weil der Selbsthilfe auch hier ein Primat zukomme, sei ebenfalls von großer, zumeist unterschätzter Bedeutung. Erst in einer zweiten Phase gehe es um Produktivitätssteigerungen und Wachstumsorientierung. Grundsätze liberaler Außenpolitik im 21. Jahrhundert 37 III. Perspektive und Lösungsansätze Die vielfach illiberale außenpolitische Praxis bedeutet nicht nur, dass liberale Prinzipien nicht (hinreichend) verfolgt werden, sondern auch, dass in Europa auf EU-Ebene und in Deutschland Ziele noch immer nicht klar definiert werden. Folglich ist es nur schwer möglich, Mittel und Wege adäquat zu planen. Eine Diskrepanz zwischen Gewünschtem und Machbarem ist die Folge. Mitleid ist keine hilfreiche politische Kategorie, der Unterschied zwischen handeln wollen und handeln können respektive selbst handeln ist immens. Das derzeitig gängige Moralisieren ist ungeeignet und sollte durch regelgebundenes Handeln ersetzt werden. Es entsteht eine Strategielücke, die nicht zuletzt einer mangelnden Gewohnheit, in strategischen Interessen zu denken, geschuldet ist.40 Zur Strategielücke kann sich leicht eine Kommunikationslücke gesellen. So ist Deutschland seit Jahrzehnten „Zahlmeister der EU“41 und neuerdings alternativloser Euroretter, wird aber auch als Spalter Europas mit Beherrschungsabsichten angefeindet. Anstelle einer Strategie des „Muddling-through“ (Charles E. Lindblohm) bietet es sich an, konsequent auf liberale Ziele, Prinzipien und Praktiken zu vertrauen. Das bedeutet, das Prinzip Zwang konsequent durch das Prinzip Vertrag zu ersetzen. Freiwilliger Austausch ist die Grundlage von Frieden. Das bedeutet ferner Selbstbeschränkung. Es hilft das Eingeständnis, dass manches, vielleicht vieles die eigenen Kräfte übersteigt. Menschen müssen selbst für ihr Recht eintreten. Zugleich werden viele bisher selbst geschaffene Probleme gar nicht erst entstehen. Schließlich bringt eine konsequent liberale Außenpolitik die Einsicht mit sich: Gewalt wird sich niemals vollständig überwinden lassen. Der ewige Friede ist nicht erreichbar. Wir können die Welt nicht retten. Bescheidenheit ist daher eine Devise, Wehrhaftigkeit mit Worten und Taten zur Errichtung und zum Schutz einer Ordnung der Freiheit und des Friedens eine weitere Lehre. -------------------------------------------- 40 Timo Noetzel hat in seinem gestochen scharfen Aufsatz „Germany's small war in Afghanistan: Military learning amid politico-strategic Inertia“ (in: Contemporary Security Policy 3/2010, S. 486-508) das gravierende Missverhältnis zwischen dem – nicht existenten – politisch-strategischen Denken in Berlin und den operativen Maßnahmen am Beispiel Afghanistan-Einsatz aufgezeigt. 41 Willeke, Franz-Ulrich: Deutschland, Zahlmeister der EU. Abrechnung mit einer ungerechten Lastenverteilung; München 2011. 38 Michael von Prollius Unter dieser Voraussetzung gilt es, die einleitend dargestellten Prinzipien einer liberalen Außenpolitik in Lösungsansätze zu übersetzen. Die große, dahinterstehende Frage lautet letztlich: Wie können Konflikte vermieden und wie kann Frieden geschaffen bzw. erhalten werden?42 Ludwig von Mises brachte das Programm des Liberalismus wie folgt auf den Punkt: „Das Ziel der inneren Politik des Liberalismus ist auch das seiner auswärtigen Politik: Frieden. So wie im Innern der Staaten so strebt der Liberalismus auch im Verkehr zwischen den Staaten friedliches Zusammenwirken an. Der Ausgangspunkt des liberalen Denkens ist die Erkenntnis des Wertes und der Wichtigkeit menschlicher Kooperation, und alles, was der Liberalismus plant und ins Werk setzen will, dient der Erhaltung des gegenwärtig erreichten Standes und dem weiteren Ausbau der wechselseitigen Kooperation der Menschen. Als letztes Ideal schwebt dabei immer der Gedanken einer vollständigen Kooperation der ganzen Menschheit vor, die sich friedlich und ohne Reibungen abwickelt. Das Denken des Liberalen hat immer das Ganze der Menschheit im Auge und nicht nur Teile, es haftet nicht an engen Gruppen, es endet nicht an den Grenzen des Dorfes, der Landschaft, des Staates und des Erdteils. Es ist ein kosmopolitisches, ein ökumenisches Denken, ein Denken, das alle Menschen und die ganze Erde umspannt. Der Liberalismus ist in diesem Sinne Humanismus, der Liberale Weltbürger, Kosmopolit.“43 1. Den Austausch der Menschen fördern, denn Kapitalismus ist für Frieden bedeutender als Demokratie. Erich Weede hat die große Bedeutung des kapitalistischen Friedens herausgearbeitet. Das Ergebnis seiner quantitativen, qualitativen und historischen Gesamtschau, die er unter den Titel „The capitalist peace“44 gestellt hat, lautet: Für den Frieden ist Kapitalismus (als umfas-------------------------------------------42 Der hier aufgezeigte liberale Ansatz passt zu den in den Internationalen Beziehungen zunehmend erforschten grundlegenden Änderungen des Staatensystems: dem Aufstieg von Netzwerken aus überwiegend nicht-staatlichen Akteuren, der wachsenden Multipolarität und der globalisierten Wirtschaft. 43 Mises, Ludwig von: Liberalismus, S. 93. 44 Weede, Erich: The Capitalist Peace; in: Coyne, Christopher J./Mathers, Rachel L. (Hg.): The handbook on the political economy of war; Cheltenham 2011, S. 269-280; umfangreicher zudem Ders.: Balance of Power, Globalization and the Capitalist Peace; 2. Aufl, Berlin 2007. Bestätigung findet Weedes Untersuchung zuletzt unter anderem Grundsätze liberaler Außenpolitik im 21. Jahrhundert 39 sende Idee) bedeutender als Demokratie. Das liege zum einen daran, dass Demokratie ohne die Wohlfahrt, die der Kapitalismus erbringe, nicht bestehen könne. Insofern sei ein demokratischer Friede praktisch die Folge von Kapitalismus. Zum anderen verleite die demokratische Friedenstheorie zu der Annahme, Frieden könne durch Krieg erreicht werden – im Namen der Demokratie. Darüber hinaus habe die Installation einer Demokratie in einer autokratischen Region destabilisierende Wirkung, die Aussicht auf Frieden werde reduziert. Kapitalismus mit seinen friedensfördernden Effekten von Freihandel und wirtschaftlicher Zusammenarbeit besitze noch einen weiteren Vorteil, er lasse sich leichter exportieren als Demokratie, gerade auch nicht-demokratische Staatsführungen könnten sich dafür erwärmen. Christopher J. Coyne hat in seiner systematischen, abwägenden Untersuchung des Demokratieexports „After War“45 drei praktikable Wege aufgezeigt: Ein Gewalteinsatz in Verbindung mit einer erforderlichen langfristigen Kolonialisierung, die zur Befriedung und Gewährleistung der öffentlichen Sicherheit geeignet ist, hilft nur wenig beim Aufbau des Rechtsstaats und von selbstständigen Institutionen („Samariter-Dilemma“), führt aber regelmäßig zu perversen politischen Maßnahmen (Public Choice-Probleme). Begrenzte Militäreinsätze zur Aufrechterhaltung von Frieden und Stabilität (Peacekeeping) scheitern daran, dass westliche liberale demokratische Institutionen nicht oktroyiert werden können, das Neutralitätsgebot der Interventionskräfte nicht funktioniert und es zu einem „Mission creep“ kommt (Interventionsspirale), bis es sich nicht mehr um einen begrenzten PeacekeepingEinsatz handelt. Non-Interventionismus in Verbindung mit Freihandel sei hingegen das effektivste Mittel, um liberale Demokratien zu exportieren. Das bedeute den Verzicht auf Militäreinsätze, die nur zur Verteidigung des eigenen Landes geeignet sind, und die Beseitigung aller Handelsbarrieren – auch unilateral. Schätzungen zu Beginn des Jahrhunderts zufolge würde der weltweite Freihandel 500 Millionen Menschen aus der Ar-------------------------------------------- durch: Hegre, Havard/Oneal, John R./Russett, Bruce: Trade does promote peace: New simultaneous estimates of the reciprocal effects of trade and conflict; in: Journal of Peace Research, 47/2010, S. 763-774. 45 Coyne; Christopher J.: After War. The Political Economy of Exporting Democracy; Stanford 2008, siehe nachfolgend insbesondere S. 173-194. 40 Michael von Prollius mut befreien und gleichzeitig 200 Mrd. US-Dollar jährlich für die Entwicklungsländer bringen.46 Eine derartige non-interventionistische, aber ganz und gar nicht isolationistische Strategie birgt weitere Vorteile: Internationaler Frieden, guter Wille und gegenseitiges Verständnis werden gefördert, genauso wie kulturelle Vielfalt und Annäherung, Toleranz und internationales Recht – und zwar „bottom up“. Der Westen würde ein Zeichen des Friedens setzen, in Abkehr von seiner bisher überwiegend interventionistischen Politik.47 Im Fall von Handelsprotektionismus und restriktiver Immigrationspolitik wirkt diese ironischerweise sogar isolationistisch. Letztlich handelt es sich um den Einsatz von „soft power“ (Joseph Nye), der an Werten und Institutionen ansetzt und in langer Frist große Wirksamkeit besitzt. 2. Die Völker müssen sich in allererster Linie selbst helfen, denn Selbsthilfe ist (im Erfolgsfall) besonders wirksam und dauerhaft. Eine konsequente Strategie der Gewaltlosigkeit ist dabei vielversprechend. Der tragfähigste Weg zur Überwindung von Diktaturen und autoritären Regimen ist immer noch ihre Überwindung von innen. Hier setzt Gene Sharp an, der einen Leitfaden für den Sturz von Diktaturen entwickelt hat.48 Sharp befürwortet konsequent und kompromisslos eine umfassende Strategie der Gewaltfreiheit, die er über die taktische Ebene bis zu den Methoden herunterbricht. Die Bevölkerung müsse eine Entschlossenheit zum Widerstand entwickeln, um sich selbst zu befreien, so lautet das Credo seiner durch Realismus geprägten jahrelangen Forschungsquintessenz. Es komme darauf an, die Idee der Nichtzusammenarbeit zu begreifen: „Wenn genügend Untergebene trotz repressiver Maßnahmen ihre Kooperation lange genug verweigern, wird das Unterdrückungssystem geschwächt werden und am -------------------------------------------46 Ebd., S. 182. Die USA sind statistisch betrachtet das aggressivste Land der Erde nach dem Zweiten Weltkrieg, urteilt Ivan Eland und weist darauf hin, dass eines der konstituierenden Prinzipien bei der Staatsgründung Anti-Militarismus war. Eland, Ivan: High Costs May Not Be the Worst Aspect of the Attack on Libya, Commentary; The Independent Institute: Oakland, March 30, 2011. 48 Sharp, Gene: Von der Diktatur zur Demokratie. Ein Leitfaden für die Befreiung; engl. Originalausgabe 1993, 2. Aufl. München 2008. 47 Grundsätze liberaler Außenpolitik im 21. Jahrhundert 41 Ende zusammenbrechen.“49 Gene Sharp zeigt, wie mächtig gewaltloser Widerstand sein kann, der die Quellen politischer Macht in allen Bereichen der Gesellschaft untergräbt. Die drei großen Mittelkategorien lauten: Protest, Nichtzusammenarbeit und Intervention. Eine strategische Planung bildet einen wichtigen Erfolgsfaktor, Mittel müssen ausgewählt und gezielt eingesetzt werden, Kampagnen müssen entworfen und abgestimmt werden, die Idee der Nichtzusammenarbeit bedarf systematischer Verbreitung; auf Repressionen gilt es flexibel und standhaft zu reagieren. Außerdem ist es mit dem Niederringen der diktatorischen Regimes nicht getan. Der Übergang zur Demokratie ist eine heikle Phase, der Entwurf einer Verfassung eine Herausforderung. Gene Sharp plädiert für einen dezentralen Aufbau des Staates und eine Allgemeinverständlichkeit des Verfassungstextes. Erfolgsgarantien gibt es indes keine, Opfer regelmäßig viele. Dieser Lösungsansatz ist vollständig kompatibel mit dem ersten hier skizzierten, also der Förderung des Austauschs zwischen Menschen. Handeln bleibt dabei nicht auf den Bereich des Staates beschränkt, sondern kann sich auf private Initiative stützen, darunter Privat-Diplomatie etwa in Form von Konferenzen, Kolloquien und intensiven Kontakten, an denen auch staatliche Funktionsträger ohne offiziellen Auftrag teilhaben können. Hinzu kommen Kampagnen, die bei guter Organisation und Kommunikation durchaus erfolgreich Druck etwa über die Möglichkeiten des Web 2.0 ausüben können.50 Das schließt neben Handel und Kapitalexport auch vielseitige Formen einer Informationspolitik im In- und Ausland ein. Selbstverständlich gehören Unterstützung und Export (nicht Aufzwingen) von Marktwirtschaft auf der Grundlage eines vorbildlichen und damit nachahmenswerten Modells einer freien Gesellschaft dazu. -------------------------------------------- 49 Sharp, Gene: Von der Diktatur zur Demokratie: Ein Leitfasden für die Befreiung; a.a.O., S. 73. 50 Beispiele finden sich in allen Teilen der Welt, darunter auch Südamerika, wie weltweite Proteste gegen marxistische FARC-Rebellen in 160 Städten, über Facebook organisiert, im Februar 2008 zeigen. Vgl. Bohnen, Johannes/Kallmorgen, Jan-Friedrich: Wie Web 2.0 die Politik verändert; in: Internationale Politik Juli-August 2009, S. 18-25, hier S. 20. 42 Michael von Prollius 3. Liberale Wehrhaftigkeit praktizieren, die abschreckend und aufklärend dem eigenen Schutz dient. Freihandel hilft nicht unmittelbar gegen „Bösewichte“. Bedrohungen entstehen heute kaum mehr durch Staaten, sondern gehen von Kleingruppen aus, durchaus auch in Failing States.51 Was innenpolitisch richtig ist, trifft auch außenpolitisch zu: Der Schutz von Leib, Leben und Eigentum erfordert Wehrhaftigkeit. Hier ist Sicherheitspolitik gefragt. Westliche Sicherheitsbehörden weisen beträchtliche Defizite auf, können aber auch nennenswerte Erfolge vorweisen: Die Operationsbedingungen von Gegnern einer freiheitlich-rechtsstaatlichen Ordnung haben sich seit 9/11 durch internationalen Verfolgungsdruck, aber auch eine aktive Politik insbesondere der USA (gezielte Tötungen vor allem mittels Drohnen, die rechtlich zumindest fragwürdig sind) erheblich verschlechtert. Fahndungserfolge wurden erzielt, Attentate vereitelt. Hier erfüllt der Staat seine hoheitlichen Aufgaben, er überschreitet aber auch das Recht der Freiheit. Zugleich bleibt die bürokratische Verfahrensweise strukturell bedingt ineffizient und teilweise auch ineffektiv.52 Welche liberalen Handlungsmöglichkeiten bestehen, um außenpolitisch unterstützend zu wirken? Zunächst Interventionen zum Schutz individueller Freiheit: Damit wird der eingangs skizzierte Verlust staatlicher Souveränität als Reaktion auf erhebliche Verstöße gegen die Souveränität des Individuums in den Mittelpunkt gerückt. Freiheit und Recht zu bringen, ist eine zum Scheitern verurteilte Strategie, das können die Völker nur selbst erringen, aber Nothilfe, um Freiheit und Recht für die eigene Gemeinschaft zu sichern, ist als Selbstschutz legitim. Die Regelbindung kann sich an der strengen Limitierung von Präventivkriegen durch das Völkerrecht orientieren. Interventionen, um andere Menschen angesichts einer versagenden oder sich gegen sie wendenden Staatsgewalt zu schützen, ist hingegen nicht die Pflicht eines anderen Staates. Dessen Legitimität besteht im Schutz der eige-------------------------------------------- 51 Das kann sich ändern und wird mit Blick auf Gruppen wie radikale Islamisten in Mali bzw. der Sahelzone sowie im Nahen und Mittleren Osten teils aufmerksam, teils mit Argwohn beobachtet. Auch hier ist Abschottung die kontraproduktive Politik, genauso wie es die frühere Unterstützung der Diktatoren und eine ungeeignete Entwicklungshilfe war. 52 Siehe grundsätzlich Mises, Ludwig von: Die Bürokratie; Sankt Augustin 2004 (englische Erstauflage 1944). Grundsätze liberaler Außenpolitik im 21. Jahrhundert 43 nen Bürger, während es nicht seine Aufgabe ist, Leib und Leben seiner Bürger zum Schutz von Menschen in anderen Staaten einzusetzen. Bei jeder Intervention53 ist folglich vorab ein enger Kriterienkatalog als Maßstab anzulegen. Dazu gehören – der festgestellte Souveränitätsverlust einer Staatsführung, die massenhaft Menschenrechte missachtet hat, – woraus sich eine Option (aber keine Pflicht) für ein Eingreifen zum Schutz der Bevölkerung oder von Bevölkerungsgruppen ergibt (O2P = „Option to Protect“ anstelle der gebräuchlichen Formel R2P = „Responsibility to Protect“). – Eine sorgfältige Folgenabschätzung einschließlich der Opportunitätskosten spielt eine entscheidende Rolle. Es ist offenkundig kontraproduktiv, wenn Anspruch und Wirklichkeit auseinanderklaffen; ein Eingreifen ist verfehlt, wenn die Kosten höher als der Nutzen sind. – In engem Zusammenhang damit muss im Falle eines Eingreifens die Verhältnismäßigkeit gewahrt werden, und der Schutz Unbeteiligter darf nicht nur ein politisches Lippenbekenntnis bleiben. – Schließlich muss der Endzustand besser sein als die Lage, die zum Eingreifen geführt hat. Die Wiederherstellung des Friedens und der Herrschaft des Rechts gehören an erster Stelle dazu. Die Interventionsart wird situativ zu bestimmen sein, denkbar sind Waffenlieferungen, der Eingriff mit Luftkriegsmitteln bis hin zu Bodentruppen oder die Einrichtung von Sicherheits- und Flugverbotszonen. Stets gilt indes: Die eingreifende Partei wird bei nahezu allen eingesetzten Mitteln Teil des Konflikts und vielfach zum Kombattanten. Nur sehr selten lassen sich die Kosten und Folgen von Interventionseinsätzen in klassisch-liberaler Perspektive rechtfertigen, weil sie tatsächlich dem Schutz der eigenen, sich anvertrauenden Menschen dienen und nicht (selbstkonstruierte) Fallen in unwegsamen Bergen oder Wüsten sind. Ernüchternde Erfahrungen von Militäreinsätzen reichen von Afghanistan und Algerien über Britisch-Malaya, Kenia und Irak bis Portugiesisch-Afrika, Somalia und Vietnam. Statt Präven-------------------------------------------- 53 Der Interventionsbegriff wird hier eng gefasst als direkter, unmittelbarer Eingriff in die inneren und äußeren Angelegenheiten eines Staates insbesondere mit militärischen, polizeilichen und verwaltungsmäßigen Mitteln. 44 Michael von Prollius tivkriegen besitzen die Mobilisierung von internationalem Beistand und das Schmieden von Allianzen zur Sicherung von Recht und Freiheit Vorrang. Das gilt auch für nicht-staatliche Akteure, etwa bei der Sicherung von Handelswegen.54 Primat einer präventiven friedenssichernden Außenpolitik bleibt, den ungeheuren Wohlstandsfortschritten, die durch das Fortschreiten der Kooperation von Menschen über nationale Grenzen hinweg – also Globalisierung – verursacht wurden, Raum zu geben und keine Hindernisse in den Weg zu legen. Tausch und Spezialisierung sind der Schlüssel für steigenden Massenwohlstand. Zugleich macht die Globalisierung nationale Grenzen vergessen.55 Die Globalisierung kann Grenzen überwinden, national wie regional. Menschen, mit denen man handelt, ist man nicht feindlich gesonnen. Perspektive als Blick zurück und Blick nach vorn Voraussetzung für Freiheit und Recht ist nicht Demokratie, sondern rechtschaffendes Regierungshandeln, Bindung ausnahmslos aller an Regeln, die die Freiheit des Einzelnen schützen. Demokratie ist nicht Freiheit und auch nicht per se liberal. Demokratie ist ein Verfahren für Entscheidungen – per Mehrheitsabstimmung. Das Verfahren besitzt keinen höheren Wert an sich, sondern hat sich vielfach als zweckmäßig erwiesen. Allerdings darf die Tyrannei einer Minderheit nicht durch die Tyrannei einer Mehrheit abgelöst werden. Liberalismus ist die Begrenzung der Herrschaft des Staates zur Sicherung der Freiheit des Einzelnen auch gegen andere Individuen. Im Zentrum stehen die Grenzen der Wirksamkeit des Staates, damit die Bürger ihre Kräfte zu einem größtmöglichen Ganzen entfalten können. Menschen dürfen und sollen in Freiheit unter dem Recht selbst für sich entscheiden. Diejenigen, die sich nicht an die Regeln einer freien Gesellschaft halten, müssen dazu gezwungen werden. Der Schutz von Leib, Leben und Eigentum ist die Aufgabe des Staates, auf die sich die Staatsbe-------------------------------------------- 54 Schutz bietet in erster Linie eine Bewaffnung der Handelsschiffe, die nicht verwehrt werden darf. Zusätzlich ist die international koordinierte Durchsetzung der Freiheit der Meere gerechtfertigt. 55 Wer sich abschottet, sei es mit Subventionen für „Infant industries“ oder nationalistischem „Kauft einheimische Produkte!“, schädigt hingegen die eigene Bevölkerung. Grundsätze liberaler Außenpolitik im 21. Jahrhundert 45 diensteten konzentrieren und somit beschränken sollten. Dann kann sich Prosperität ungehindert entfalten. Freiheit und Recht zu schützen und zu stärken, das ist die Aufgabe aller Menschen. Da im Liberalismus die höchsten Werte Freiheit und Recht sind, sollten sie auch die leitenden Werte und Interessen einer liberalen Außenpolitik sein. In kürzester Form bedeutet liberale Außenpolitik also: individuelle Freiheit schützen. Liberale Ideal- und Realpolitik in der Außenpolitik des 21. Jahrhunderts 47 Hartmut Kliemt Liberale Ideal- und Realpolitik in der Außenpolitik des 21. Jahrhunderts 1. Einleitung Die erste große Welle der Globalisierung seit etwa der Mitte des 19. Jahrhunderts war nicht nur eine Zeit des Kolonialismus, sondern durchaus auch eine Periode im weiteren Sinne liberaler Welthandelspolitik. Die Erfolge dieser Politik gaben dem Liberalismus auch als politischem Überzeugungssystem zusätzlichen Auftrieb. Die nachfolgende Zivilisationskatastrophe des Ersten Weltkrieges und die Zwischenkriegszeit mit Aufschwung und nachfolgender Großer Depression waren heroische, liberalem Denken in Innen- und Außenpolitik wenig günstige Zeiten. Der Zweite Weltkrieg und die kollektiven Anstrengungen, die er erforderte, bildeten erst recht keinen guten Nährboden für liberale Überzeugungen. Überraschenderweise überlebten liberales Gedankengut und liberale Institutionen diese Stürme. Mit dem Ende des real vegetierenden Sozialismus sowjetischer Prägung nahm die Ausweitung der weltweiten Arbeitsteilung wieder Fahrt auf. Eine vielfach auf Verrechtlichung abzielende, vor allem westliche Außenpolitik begünstigte – ungeachtet entgegengerichteter Bestrebungen vieler Interessengruppen – nicht nur das Wachstum des Welthandels, sondern auch die Entstehung formeller und informeller, privater ebenso wie zwischenstaatlicher (inter-)nationaler Rechts-Institutionen. Die Verrechtlichung jurisdiktionsübergreifender internationaler Konfliktbehandlung ebenso wie die Tatsache, dass aufstrebende antiliberale Kräfte wie das heutige China besonders von der Globalisierung und Verrechtlichung der Handelsbeziehungen profitieren, geben Anlass zu der Hoffnung, dass sich die Geschichte nicht wiederholt. Die heroischen Zeiten des mittleren 20. werden uns im 21. Jahrhundert nach der gegenwärtigen Atempause zunehmender Globalisierung wohl nicht einholen. Dennoch wäre es ein Irrtum, Außenpolitik im 21. Jahrhundert durch eine Art Weltinnenpolitik unter internationalem 48 Hartmut Kliemt Recht ersetzen zu wollen. Wir können der Realisierung des liberalen Kernideals der Verrechtlichung von Beziehungen nicht dadurch Vorschub leisten, dass wir bereits heute nach Maßstäben einer möglichen künftigen Weltinnenpolitik handeln. Ein solcher Mangel an Realitätssinn würde liberale Ideale eher gefährden als unterstützen. Die Bedingungen von David Humes „Naturrecht“, nämlich „of the stability of possession, of its transference by consent, and of the performance of promises“1, können zwar Grundlage zwischenstaatlicher „rule of law“ sein. Anarchische rechtliche Ordnung ohne eine zentrale ordnungsstiftende Macht ist möglich.2 Sie bleibt aber qualitativ verschieden von einer Ordnung mit zentralisierter Durchsetzung des „Naturrechts“.3 Den qualitativen Unterschieden zwischen einer anarcho-liberalen und einer ordo-liberalen Vorstellung von liberaler Außenpolitik will ich im Weiteren nachgehen. Innenpolitisch scheint mir viel für ordoliberale (mit zentraler Durchsetzung), außenpolitisch aber alles für anarcho-liberale Organisationsformen (ohne zentrale Durchsetzung) zu sprechen. In einem ersten Schritt expliziere ich knapp, was ich unter „liberaler Rechtspolitik“ generell verstehen möchte. In den nächsten Schritten geht es mir darum, das Konzept einer anarchischen Rechtsordnung einzuführen (3.) und eine liberale Variante am konkreten Beispiel des mittelalterlichen Island zu illustrieren (4.). Grenzen und Leistungsfähigkeit internationalen Rechts als einer Form anarchischer Ordnung lassen sich vor dem Hintergrund des Vorangehenden abschätzen (5.). Die Frage einer einzelfallorientierten gegenüber einer an -------------------------------------------1 Hume, David: A Treatise of Human Nature; Oxford 1978, Kap. 6. In der idealen Theorie kann man sich dabei auf das sogenannte Folk-Theorem der Spieltheorie berufen (vgl. Aumann, Robert J.: Survey of Repeated Games; in: Ders. et al. (Hg.): Essays in Game Theory and Mathematical Economics; Mannheim 1981, S. 11–42 und als frühe Anwendungen Taylor, Michael: Anarchy and Cooperation; London/New York 1976; Ders.: Community, Anarchy and Liberty; Cambridge 1982; Ders.: The Possibility of Cooperation; Cambridge 1987; Schotter, Andrew: The Economic Theory of Social Institutions; Cambridge 1981; Kliemt, Hartmut: Antagonistische Kooperation; Freiburg/München 1986), in der realen Geschichte etwa auf das Beispiel Islands (vgl. Radice, Betty/Baldick, Robert (Hg.): Njal’s Saga; Baltimore, Maryland 1960 und Solvason, Birgir T. R.: Ordered Anarchy, State and Rent-Seeking: The Icelandic Commonwealth 930-1264; Washington D.C. 1990) und mit Bezug auf sogenannte „primitive Gesellschaften“ auf Diamond, Jared M.: The World Until Yesterday: What Can We Learn from Traditional Societies?; New York 2012. 3 Die Existenz eines qualitativen Unterschieds wird von den sogenannten Ordoliberalen anerkannt und von den Anarcho-Liberalen bestritten. 2 Liberale Ideal- und Realpolitik in der Außenpolitik des 21. Jahrhunderts 49 feste Regeln oder Doktrinen gebundenen Außenpolitik behandle ich (6.), bevor ich zum kurzen Schluss gelange (7.). 2. Liberale Rechtspolitik Der Begriff „liberal“ lässt viele Deutungen zu. Er ist nicht nur ein Begriff politischer Theorie, sondern auch Teil einer politischen Praxis, die von Meinungen und vom Kampf um „Begriffsherrschaft“ in der Meinungsbildung geprägt wird. In Amerika haben von Anhängern des weltverbessernden paternalistischen Sozialdemokratismus auf der Linken bis hin zu Vertretern des prinzipienfesten Anarcho-Kapitalismus auf der Rechten nahezu alle Gruppen versucht, die Deutungshoheit über „liberal“ zu erringen. In Europa hat der Begriff „liberal“ sich etwas mehr von seiner traditionellen inhaltlichen Bestimmtheit erhalten können. Doch auch hier umfasst das Spektrum des politischen Liberalismus ziemlich heterogene Positionen, denen keine einzelne Begriffsexplikation gerecht werden kann. Der Anspruch auf eine verbindliche Begriffsdeutung scheidet aus. Ohne Verbindlichkeitsanspruch zu erheben, werde ich daher im Weiteren jene Positionen als „(politisch) liberal“ bezeichnen, deren primäres Ideal die institutionell-rechtliche Realisierung einer „Fahrordnung für den Verkehr unter Menschen“ ist. Diese Ordnung bestimmt in einer fundamentalen Entscheidung, welche Belange als private und welche als öffentliche Angelegenheiten betrachtet werden sollen.4 Von einer liberalen Ordnung werden alle mündigen Akteure nach der Maxime „volenti non fit iniuria“ dazu autorisiert, ihre eigenen Ziele mit ihren eigenen Mitteln zu verfolgen, solange sie dadurch nicht die gleichen Rechte anderer verletzen. Der klassische (ordnungs-)politi-------------------------------------------- 4 Kukathas identifiziert diese Entscheidung richtigerweise als grundlegend für eine community. Bei ihm ist es allerdings eher eine Überzeugung als eine rechtliche Festlegung (Kukathas, Chandran: Liberalism, Communitarianism and Political Community; in: Social Philosophy and Policy, 1/1996, S. 80–104). Hannah Arendt hat in ihren Elementen und Ursprüngen totalitärer Herrschaft bezeichnenderweise herausgearbeitet, dass totalitäre Strolche wie Heinrich Himmler stolz darauf waren, dass zur Hochzeit des sogenannten Dritten Reiches niemand mehr privat war (Arendt, Hannah: Ursprünge und Elemente totalitärer Herrschaft; München 2003).Das sollte uns angesichts des immer lauter werdenden Rufes nach „mehr Verantwortung“, nach „Gemeinwohlorientierung“, etc. sehr nachdenklich stimmen. Politisierung ist gefährlich, selbst dann, wenn sie nicht von Strolchen betrieben wird. 50 Hartmut Kliemt sche Liberalismus verlangt zudem, dass der politische Akt, in dem definiert wird, was als Sphäre öffentlicher Anliegen und was als Sphäre privater Zielverfolgung zu begreifen ist, bestimmten Bedingungen unterliegt: Die liberale Grenzziehung der vom Recht als privat respektierten, entpolitisierten und der öffentlichen Sphäre erfolgt unter der Maßgabe der Bestimmtheit des Rechts und mit dem Ziel, möglichst viele Belange privater (pluraler) Zielverfolgung zu überantworten, während der Staat nur subsidiär für alle verbindliche „Gemeinschaftsziele“ verfolgen darf. Die vorangehend skizzierte ordo-liberale Konzeption ist Ausdruck interpersonalen Respekts vor pluralen Werten und damit eines Kernanliegens des Liberalismus.5 Diesem Anliegen korrespondiert im zwischenstaatlichen Bereich eine Tendenz zur außenpolitischen NichtEinmischung. Als Orientierung der Außenpolitik taugt ein ordoliberaler Ansatz allerdings wenig. In der Außenpolitik bietet auch im 21. Jahrhundert ein anarcho-liberaler Ansatz die bessere Orientierung. 3. Verrechtlichte Anarchie Ebenso wie die staatsfreie Interaktion zwischen Individuen muss zwischenstaatliche Anarchie keineswegs mit Chaos, heißem Krieg und fortwährenden Kampfhandlungen einhergehen. Unter kleinen Beteiligtenzahlen bzw. – in größeren Netzwerken – bei festen Nachbarschaftsbeziehungen liegt die Entstehung spontaner Ordnung, die den zwischenmenschlichen bzw. zwischenstaatlichen Umgang ohne Zentralgewalt regelt, durchaus im Rahmen des natürlichen menschlichen Verhaltensrepertoires – wie insbesondere Jäger-Sammler-Gruppen, die während des größten Teils der Menschheitsgeschichte vorherrschten, zeigen.6 -------------------------------------------- 5 Die gleichen Rechte werden durch die Präsenz wechselseitiger Externalitäten nicht verletzt. Wenn ich eine Würstchenbude als lokaler Monopolist in meiner Straße betreibe, dann ist die Gründung einer Pizzeria in meiner Nähe womöglich negativ für mein Geschäft. Doch ungeachtet dieser „Externalität“ gibt es in einer liberalen Ordnung keine legitime Einrede und auch keine Entschädigungsansprüche für meine Gewinnminderung, die ich geltend machen könnte. J. St. Mills „no harm principle“ ist insoweit nicht besonders hilfreich. 6 Vgl. auch jüngst wieder Diamond, Jared M.: The World Until Yesterday: What Can We Learn from Traditional Societies?; New York 2012. Liberale Ideal- und Realpolitik in der Außenpolitik des 21. Jahrhunderts 51 Wie insbesondere auch die Geschichte der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts belegt, kann man Einsichten der Analyse anarchischer inter-individueller Rechtsordnungen auf das anarchische Zusammenleben souveräner Staaten übertragen. Die internationale Anarchie kann ebenso wie die inter-individuelle weitgehend friedlich und in einem bestimmten Sinne rechtlich sein. Viele Streitfragen zwischen Staaten werden mittlerweile nach Maßstäben internationalen Rechts beurteilt und häufig auch bereinigt. Die Verrechtlichung zwischenstaatlicher Beziehungen hebt deren politischen Charakter jedoch nicht auf. So wie die rechtlichen Beziehungen in so genannten primitiven anarchischen Gesellschaften (oder im nicht-primitiven anarchischen mittelalterlichen Island, s. u.) durch das Fehlen eines Staates nicht entpolitisiert waren, so bleiben auch die internationalen Beziehungen primär politisch und nur sekundär – wenn überhaupt – rechtlich. Natürlich kann man die Sphäre des Politischen so definieren, dass Staatlichkeit und die Existenz einer zentralen Normerlass- und Normänderungsregel zum notwendigen Charakteristikum der Existenz von „Politik“ werden.7 Es gibt dann trivialerweise keine internationale und natürlich auch keine Außenpolitik.8 Diese Sicht des Politischen wird aber generell Rechtsordnungen ohne gewalt-monopolistische Rechtsdurchsetzung nicht gerecht. Denn in sogenannten primitiven Gesellschaften führt gerade das Fehlen der Zentralgewalt zur Eliminierung des „Privaten“ und zur „Politisierung“ der Gesellschaft.9 Die Menschen sind in diesen Gesellschaften fortwährend damit beschäftigt, intern und extern Allianzen zu bilden. Für die wenigen Beispiele entwickelter rechtlicher Anarchien, von denen wir Kenntnis haben, scheint Ähnliches zu gelten. Da man hiervon vieles über die Grundlagen einer die Verrechtlichung anstrebenden liberalen Außenpolitik lernen kann, lohnt es sich, einen etwas näheren Blick auf Island zu werfen (und -------------------------------------------- 7 Die Bezüge zu Hart sind offensichtlich (Hart, Herbert L. A.: The Concept of Law; Oxford 1961). 8 Die Tatsache, dass Entitäten, die selbst von zentralen Normänderungsregeln bestimmt werden, beteiligt sind, ergibt keineswegs die Übertragbarkeit des Politikkonzeptes auf deren Beziehungen. 9 Es ist ein Irrtum vieler Anhänger des Anarcho-Liberalismus, dass sie aus der Staatsfreiheit der Anarchie auf deren unpolitischen Charakter schließen. Posner mit seiner „theory of primitive society“ hätte ihnen als Warnung dienen können; vgl. Posner, R. A.: The Economics of Justice; Cambridge, MA. 1981. 52 Hartmut Kliemt damit auf das Lieblingsbeispiel von Anarcho-Liberalen wie David Friedman)10. 4. Anarchische Binnenpolitik: das Beispiel Islands Die isländische Rechtsordnung, wie sie uns etwa in Njáls Saga (1960) geschildert wird, war auch ohne schriftliche Kodifizierung und schriftliche Fixierung von Präzedenzentscheidungen vor allem prozedural ziemlich komplex. In den auf das Jahr 870 nach der ersten Besiedlung folgenden ca. 200 Jahren wurde das Recht durch mündliche Überlieferung – und dafür extra benannte Personen – gezielt wach gehalten. Man versuchte, das positive Recht auch ohne die Möglichkeit der schriftlichen Form zu fixieren. Die isländische Rechtsordnung erinnert uns stärker an das heutige sogenannte internationale Recht als an das heutige innerstaatliche Privatrecht. Das moderne „Privatrecht“ ist immer öffentlich und zentral durchgesetztes Recht. Es ergibt sich aus der politischen Entscheidung, bestimmte Bereiche des Lebens unter Prinzipien der Rechtlichkeit zu entpolitisieren. Die nicht-staatlichen Vertragsparteien dürfen, wenn die Entpolitisierung durch zentrale (politische) Rechtsdurchsetzung funktioniert, darauf vertrauen, dass die von ihnen eingegangenen vertraglichen Bindungen weitgehend neutral durchgesetzt werden. Dieses Vertrauen konnte es in Island einfach deshalb nicht geben, weil es keine zentrale Durchsetzungsmacht gab. Trotzdem hatte man es mit einer in vielen Hinsichten zwar weitgehend liberalen und doch entlang vieler Dimensionen durch und durch politisierten Ordnung zu tun. Das Fehlen zentraler staatlicher Durchsetzung des Rechts führte im mittelalterlichen Island zwar nicht dazu, dass das formale Recht keine Rolle spielte. Das formale Recht spielte durchaus eine Rolle dafür, wer am Ende bestimmte Ansprüche durchsetzen konnte. Wie leicht es fiel, Unterstützer zu finden, um Ansprüche zu realisieren, hing davon ab, was das Recht besagte. Das Fehlen eines Gewaltmonopols, dessen Rechtsdeutung man einfordern und nach Gewinn eines „Rechtstitels“ auch auf sich allein gestellt durchsetzen -------------------------------------------- 10 Vgl. zum Folgenden Friedman, David: Private Creation and Enforcement of Law: A Historical Case; in: The Journal of Legal Studies, 2/1979, S. 399–415 und Solvason, Birgir T. R.: Ordered Anarchy, State and Rent-Seeking: The Icelandic Commonwealth 930-1264; Washington D.C. 1990. Liberale Ideal- und Realpolitik in der Außenpolitik des 21. Jahrhunderts 53 konnte, führte aber dazu, dass in der rechtlichen Anarchie am Ende doch die Macht, die man – u. a. unter Berufung auf das Recht – selbst mobilisieren konnte, den Ausschlag gab. Das, was wir heute als „Networking“ bezeichnen, kennzeichnete das Leben im mittelalterlichen Island durchweg. Die künstliche Entpolitisierung durch eine staatliche Rechtspolitik, die eine gut funktionierende freiheitliche Rechtsordnung kennzeichnet, war vor der Gründung des isländischen Staates noch nicht vollzogen. Daher taten alle Rechtssubjekte gut daran, für den Streitfall und die dann ggf. notwendige Rechtsdurchsetzung präpariert zu sein. Wer sich in Island einfach darauf verlassen hätte, dann, wenn er Recht hatte, auch Recht zu bekommen, wäre nicht in der Lage gewesen, sich in Streitfällen durchzusetzen. Selbst rechtstreu zu sein und etwa durch eigene Rechtstreue die anderen Akteure auf die eigene Seite ziehen zu wollen, war keinesfalls eine erfolgversprechende Strategie. Wir sollten diese Einsichten aus dem Bereich privat-rechtlicher Anarchie im Rahmen liberaler Außenpolitik beherzigen. Mehr als eine anarchische Rechtsordnung dürfen wir als Teil der internationalen Politik nicht erhoffen. Diese Rechtsordnung kann, wie im mittelalterlichen Island und in der internationalen Politik auch heute, eine Rolle dabei spielen, wie leicht man die Unterstützung anderer Akteure findet. Dies entbindet aber gerade nicht von der Notwendigkeit, sich unter anderem auch durch Macht-, Bündnis- und Militärpolitik um eine Verbesserung der Durchsetzbarkeit eigener rechtlicher Ansprüche zu bemühen.11 5. Keine Weltinnenpolitik Auch im 21. Jahrhundert bleibt liberale Außen- vornehmlich Macht-, Bündnis- und nicht ordo-liberale Rechtspolitik. Es geht um die Suche nach strategischen Gleichgewichten zwischen unabhängigen (souveränen) Entscheidungsträgern, die – soweit überhaupt – nur unvollkommene (Selbst-)Bindungsfähigkeit besitzen. Das sogenannte internationale „Recht“ verdient diesen Namen nur in dem gleichen -------------------------------------------- 11 Das ist der Grund, warum ich persönlich zum Ordo-Liberalismus Buchanans neige, obwohl ich die vertragstheoretischen Überzeugungen meines verstorbenen Freundes niemals geteilt habe. 54 Hartmut Kliemt (sekundären) Sinne, wie die Ordnung in sogenannten primitiven Gesellschaften es tut. Jede Verfolgung liberaler Ideale inter-personellen und inter-nationalen Respektes in der Außenpolitik muss sich der – nach ordo-liberalen Maßstäben geurteilt – „Minderrechtlichkeit“ der außenpolitischen Beziehungen bewusst bleiben. Verbindliche Verträge, die zentral durchgesetzt werden können, gibt es nicht, die Masten des Odysseus sind noch nicht in den rechtlichen Himmel gewachsen, und alle segeln weiter unter der Piratenflagge des nationalen Interesses (so wie es von den in den unabhängigen Einheiten Herrschenden jeweils definiert wird). Prinzipienfeste Bekenntnisse zu liberalen Idealen der Verrechtlichung bringen diese Ideale einer Realisierung in politisierten Situationen nicht näher. Allein der politische Aufbau hinreichender eigener Fähigkeiten der Sanktionierung abweichenden Verhaltens kann Absprachen stabilisieren und insoweit auch bei dezentraler Durchsetzung verbindlich werden lassen. Eine an liberalen Idealen orientierte Außenpolitik wird damit zur klassischen Macht- und Bündnispolitik. Sie ist Mittel der Durchsetzung anarcho-liberaler Rechtsprinzipien. Diese technologische Sicht der Außenpolitik führt zu scheinbaren Inkohärenzen, welche die Gegner des Liberalismus von jeher zu nutzen suchen, um die Glaubwürdigkeit derjenigen, die liberale Ideale realpolitisch verfolgten, zu diskreditieren. Auch die Liberalen selbst tun sich schwer, denn wer sich dem rechtlichen Respekt für plurale Werte und der Toleranz innenpolitisch verpflichtet fühlt, kann in der Außenpolitik die nötige Intoleranz gegenüber der Intoleranz nicht leicht aufbringen. 6. Außenpolitik als Technologie Die Gründerväter der modernen politischen Theorie, Niccolò Macchiavelli und Thomas Hobbes, haben den12 technologischen Charakter von Realpolitik verstanden. Sie waren keineswegs Liberale in unserem Sinne. Aber auch als Liberale tun wir gut daran, die klassischen Einsichten in Verfolgung unserer Ideale zu beherzigen. In einer Welt knapper Ressourcen wird die Macht, die Ressourcen zu kontrol-------------------------------------------12 Im Sinne von Albert, Hans: Traktat über rationale Praxis; Tübingen 1978. Liberale Ideal- und Realpolitik in der Außenpolitik des 21. Jahrhunderts 55 lieren, immer eine notwendige Voraussetzung jeder Verfolgung weitergehender Ideale bleiben. Auch die Verfolgung des Ideals, Machtausübung und die Mittelwahl selbst rechtlich zu beschränken, steht unter dieser Bedingung. Das kann im Extrem erfordern, die eigenen Ideale zu suspendieren, indem man realpolitische Mittel wählt, deren Gebrauch man eigentlich ablehnt, sogar auf Dauer eliminieren will. Im realpolitischen Tagesgeschäft geraten die liberalen Ideale damit wie alle politischen Ideale in Gefahr, bis zur Unkenntlichkeit entstellt oder zum bloßen Bekenntnis zu werden.13 6.1 Kluge Einzelentscheidungen Der Teufel steckt im Detail. In der Außenpolitik ist das nicht anders als in allen anderen Bereichen unseres (politischen) Lebens. Im Wust vieler kleiner Entscheidungen unter Anforderungen, die in verschiedenste Richtungen zu weisen scheinen, einem Kompass zu folgen, ist die wahre Kunst des Möglichen. Die Linie zwischen der Bereitschaft, Kompromisse einzugehen, und prinzipienloser Anpassung an die Umstände des Augenblicks ist in der Praxis schwer zu ziehen. Ein Politiker wie Talleyrand etwa erscheint den einen als hemmungsloser Opportunist, den anderen als Patriot, der es fertigbrachte, in den wechselnden Zeitläuften scheinbar allen Herren, aber am Ende doch nur seinen eigenen patriotischen Idealen zu dienen. Dürfen wir als Liberale etwa zu Ländern, die an der Folter festhalten, normale außenpolitische Beziehungen unterhalten? Falls wir dies im nationalen Interesse unter Missachtung grundlegender moralischer Normen interpersonalen Respekts vollziehen, dürfen wir dies, ohne die Praktiken wenigstens anzuprangern? Müssen wir von unseren diplomatischen Vertretern verlangen, dass sie wenigstens hinter den diplomatisch verschlossenen Türen auf eine Verbesserung der Situation hinwirken? Sind Bekenntnisse zu verletzten Normen kompensatorisch erforderlich, wenn wir nichts tun können, um eine Einhaltung der von uns befürworteten Normen zu sichern? Wie würden wir in einer Situation argumentieren, in der wir etwa die Folterung eigener Staatsbürger in einem anderen Land nur verhindern könnten, indem wir Staatsbürger dieses Landes zu Geiseln nähmen und ggf. auch foltern würden? -------------------------------------------- 13 Kompromisse können die schönsten Ideale bis hin zum totalitären „Lying for the Truth“ kompromittieren. 56 Hartmut Kliemt Noch aufschlussreicher ist möglicherweise die Behandlung von Fällen, die weniger klar erscheinen. Unser Verhältnis zu Ländern, die an Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit und zugleich an der Todesstrafe festhalten, ist für jene ein Prüfstein, die die Verhängung von Körperstrafen insgesamt ablehnen. In einem Fall wie dem der USA kommt die zusätzliche Komplikation hinzu, dass dieser in vielem vorbildlich liberale bundesstaatliche Rechtsstaat eine unterschiedliche Regelung des Strafrechts seiner Bundesstaaten zulässt. Was bedeutet für uns die Tatsache, dass wir diplomatische Beziehungen letztlich nur mit den USA als ganzer rechtlicher Einheit unterhalten, nicht aber mit den Teilstaaten? Wie würden wir mit einem Bundesstaat umgehen, der seinen Teilstaaten beispielsweise die Folter oder andere fundamentale Eingriffe in die Sphäre der Individuen, die in diesen Territorien leben, zugestehen würde? Wenn die Rechte von Individuen wichtiger als kollektive Interessen, wenn individuelle gegenüber kollektiven Gesichtspunkten als vorrangig anzusehen sind, stellt sich zwangsläufig die Frage, warum wir Individuen anderer Staaten für nicht ebenso schutzwürdig wie die Bürger unserer eigenen Staaten halten. Die Tatsache, dass wir Bürger anderer Staaten, die sich auf dem Territorium unseres Rechtsstaates befinden, im Wesentlichen nach den gleichen Rechtsprinzipien behandeln wie die Bürger unseres Rechtsstaates, weist in diese Richtung. Aber frei nach Musils Maxime, dass zwar alle Bürger gleich sind, achten wir darauf, dass eben nicht alle Bürger sind, und lassen nicht jeden auf unser Territorium einreisen. Zwar operiert unser Verfassungsgericht manchmal mit der Formel vom „Weltrechtsprinzip“, wonach beispielsweise deutsche Bürger, die im Ausland Handlungen begehen, die dort nicht, bei uns aber sehr wohl unter Strafe stehen, auch bei uns verfolgt werden. Trotzdem lassen wir nicht jedermann den Schutz unserer Rechtsordnung angedeihen, egal wo er sich befindet. Wir unterhalten durchaus freundliche diplomatische Beziehungen nicht nur zu rechtsstaatlichen und demokratischen Systemen, sondern auch zu Staaten, die von Schurken geführt werden. Solange die betreffenden Staaten sich als korporierte Akteure in ihrer Außenpolitik nicht wie Schurken verhalten, reden wir überhaupt nicht von Schurkenstaaten. Erst wenn ein Staat als ganzer sich nach außen „schurkig“ verhält, tun wir dies. Als anti-kollektivistische Liberale gehen wir dann aber nicht soweit, alle Bürger von Schurkenstaaten für Schurken zu halten Liberale Ideal- und Realpolitik in der Außenpolitik des 21. Jahrhunderts 57 oder sie auch nur für das Verhalten der Staaten, in denen sie leben, verantwortlich zu machen. Die vormalige DDR war kein Schurkenstaat im landläufigen Sinne, doch hinderte das die Oberschurken Erich Honecker und Erich Mielke nicht daran, viele Schurkereien im Namen der eigenen Bürger anzuzetteln. Auch ein Staat, der anders als die vormalige DDR seine eigenen Bürger unter Beachtung all dessen, was wir für grundlegende liberale Rechtsstaatsprinzipien halten, behandelt, unseren Staat und unsere Bürger jedoch in ihren Rechten nicht respektiert, ist eine Denkmöglichkeit. De facto scheint diese Denkmöglichkeit zwar unter liberalen Rechtsstaaten nicht realisiert zu sein. Dennoch wirft ein solcher hypothetischer Fall Fragen auf, die Schwierigkeiten einer am Grundwert des Respekts für Individuen und deren Autonomie orientierten (Außen-)Politik deutlich machen. Ob die These nun zutrifft, dass liberale Rechtsstaaten miteinander keine Kriege führen werden bzw. keine Fälle von Kriegen dokumentiert sind, bei denen ausschließlich liberale Rechtsstaaten beteiligt waren, kann an dieser Stelle offen bleiben. Auch wenn diese These selbst nicht ausnahmslos zutreffen sollte, scheint es doch zweifellos zuzutreffen, dass liberale Rechtsstaaten im Umgang mit anderen liberalen Rechtsstaaten besondere Verhaltensweisen zeigen. Es handelt sich zwar um äußerlich souveräne Akteure, jedoch unterliegt der Gebrauch der Souveränität in diesen Fällen richtigerweise inneren Restriktionen. Ob diese Restriktionen auch im Umgang mit Nicht-Rechtsstaaten eingehalten werden müssen oder sollten, ist aber zweifelhaft. Wenn es so etwas geben sollte wie eine strukturelle Tendenz zum friedlichen Umgang mit anderen liberalen Rechtsstaaten, dann haben liberale Rechtsstaaten ein natürliches Interesse daran, dass andere Staaten ebenfalls die innere Struktur des liberalen Rechtsstaates aufweisen. Wie Staaten ihre Bürger im Inneren behandeln, spielt für uns Bürger liberaler Rechtsstaaten dann eine Rolle, die auch Interventionen rechtfertigen kann. Damit sind wir einem fundamentalen Problem ausgesetzt: Einerseits erklären wir, was wir als „Menschenrechte“ bezeichnen und den Schutz dieser Menschenrechte zu einem übergeordneten Ziel, andererseits behandeln wir dieses Ziel im Umgang mit Staaten, die Menschenrechte ihrer eigenen Bürger verletzen, als nachrangig. Sofern unsere außenpolitischen Interessen das erfordern, drücken wir gern nicht nur 58 Hartmut Kliemt ein Auge zu, wenn wir in einem ansonsten uns freundlich gesinnten Staatswesen Einschränkungen der Bürgerrechte beobachten. Soweit wir mit unserer Zurückhaltung unsere eigenen langfristigen Interessen an der Sicherung unserer eigenen Rechtsstaatlichkeit potenziell gefährden, wäre eine proaktive und interventionistische Politik womöglich besser. Vielleicht wären ja etwas mehr Prinzipienfestigkeit im Umgang mit anderen Staaten und ein entschlossenes Drängen auf deren innere Rechtsstaatlichkeit („technologisch“) geeignet, ein internationales Milieu zu schaffen, welches die Welt insgesamt rechtsstaatlicher bzw. rechtsstaatsfreundlicher werden lässt. 6.2 Kluge Entscheidungsregeln Von anderen Bereichen menschlicher Praxis wissen wir, dass wir Ziele besser erreichen, wenn wir die Praxis an feste Regeln und Prinzipien binden und damit gerade nicht jeden Einzelfall nach Einzelurteilen entscheiden14 (Tetlock, 2006). In der medizinischen und psychologischen Diagnostik ist es etwa bekannt, dass ein Vorgehen, das bestimmte halbwegs objektivierbare Indikatoren benutzt, um daran schematisch bestimmte Handlungsfolgen zu knüpfen, die von den Interventionen erhofften Ergebnisse zuverlässiger erbringt, als es Experten mit ihren ganzheitlichen, den Einzelfall würdigenden Urteilen könnten.15 Das gilt sogar dann, wenn das standardisierte Vorgehen zunächst aus Vorschlägen von Experten entwickelt wurde.16 So gesehen könnte man hoffen, dass auch die Außenpolitik „bessere“ Ergebnisse erbringen würde, wenn sie sich an Standards binden und nicht von Fall zu Fall vorgehen würde. Im Falle der EisenhowerDoktrin oder der Hallstein-Doktrin, die Staaten im Kalten Krieg zu einem bestimmten Verhalten motivieren wollten, ging es darum, Anreize für andere Länder zu bestimmten Verhaltensweisen zu schaffen. Man legte dazu eigene zukünftige Reaktionen durch Vorankündigung fest. Solche Festlegungen unterliegen zwar allen Problemen der Selbst-------------------------------------------- 14 Vgl. kritisch zu Expertenurteilen in der Politik Tetlock, Philip E.: Expert Political Judgment: How Good Is It? How Can We Know?; neue Aufl., Princeton 2006. 15 Vgl. Meehl, Paul E.: Clinical Versus Statistical Prediciton: A Theoretical Analysis and a Review of the Evidence; neue Aufl., Lanham, Maryland 1996. 16 Vgl. Kliemt, Hartmut: Constitutional commitments; in: Herder Dorneich, Philip et al. (Hg.): Jahrbuch für Neuere Politische Ökonomie; Tübingen 1993, S. 145–173 und Kahneman, Daniel: Thinking Fast and Slow; Baltimore, Maryland 2012. Liberale Ideal- und Realpolitik in der Außenpolitik des 21. Jahrhunderts 59 bindung, der Glaubwürdigkeit von Versprechen bzw. Drohungen.17 Doch können sich liberale Staaten mit ihrer kritischen Öffentlichkeit und ihren rechtsförmigen Strukturen in der Regel leichter selbst binden als etwa autoritäre Systeme dies könnten (wenn überhaupt). Diese Bindungsfähigkeit beruht wesentlich darauf, dass im Inneren Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit und der sogenannten „rule of law“ durchgesetzt werden können. Prozedurale Normen der rechtsförmigen Überprüfung von Entscheidungen und die Möglichkeit, Regierungen aus dem Amt zu wählen, wirken beide daraufhin, die Volatilität der Entscheidungen an sich souveräner – also äußerlich ungebundener – (außen-)politischer Akteure zu beschränken. Sie werden von ihren eigenen Gerichten an den von ihnen erlassenen Rechtsnormen und von den eigenen Bürgern an den von ihnen gemachten Ankündigungen gemessen. Ihre Fähigkeit, opportunistisch zu handeln, ist damit eingeschränkter als in Systemen ohne (liberale) Rechtsstaatlichkeit. Das ist ein Vorteil, den liberale Außenpolitik bewusster nutzen sollte. Selbstbindungsfähigkeit kann durchaus einen Aspekt der Machtentfaltung bilden. Der außenpolitische strategische Gebrauch solcher Mittel ist noch unterentwickelt. Es ist eine der Aufgaben der liberalen Außenpolitik des 21. Jahrhunderts, mit den Erfordernissen der Machtpolitik kompatible strategische „Commitments“ zur Förderung liberaler Ziele einzugehen. Wir machen von dieser Technologie bislang zu wenig Gebrauch. 7. Zu guter Letzt: Weniger Politik wäre mehr Eine der innerstaatlichen Wirkung zentraler und neutraler Rechtsdurchsetzung entsprechende relative Entpolitisierung der Rechtsbeziehungen ist mit Bezug auf die Außenpolitik nicht in Sicht. Zwar gibt es Bereiche, in denen beispielsweise in Europa aus früherer Außenpolitik aufgrund der zentralen Durchsetzung dezentral wirksamer Normen europäische Innenpolitik geworden ist. Ein bestimmter Bereich wurde etwa durch die Straßburger Gerichtsbarkeit dem Zugriff im engeren Sinne politischer Instanzen zugunsten rechtlicher, insbesondere gericht-------------------------------------------- 17 Ausführlicher nachlesbar in Kliemt, Hartmut: Constitutional commitments; a. a. O., S. 145–173 und technisch elaborierter in Güth, Werner/Kliemt, Hartmut: The Rationality of Rational Fools; in: Peter, Fabienne/Schmid, Hans Bernhard (Hg.): Rationality and Commitment; Oxford 2007, S. 124–149. 60 Hartmut Kliemt licher, Institutionen entzogen. Das Ergebnis ist fragil, weil die entsprechenden Interessengruppen tatkräftig mit dem „rent-seeking“ begonnen haben. Sie zielen unter dem Deckmantel von Harmonisierung und internationaler Gerechtigkeit auf zentrale Regulierungen als besonders effiziente Maßnahmen zur zentralen Durchsetzung von Partikularinteressen. Hier steht die liberale Außenpolitik vor ihren größten Herausforderungen und der Frage, inwieweit die Zeit reif dafür ist, ordoliberale und nicht nur anarcho-liberale Ziele mit Bezug auf Europa zu verfolgen. Die Amerikaner können uns auch hier als Beispiel und Warnung dienen. Ihnen gegenüber haben wir zumindest zwei Vorteile: Zum einen enthalten die europäischen Verträge explizite Austrittsklauseln, zum anderen ist die kulturelle und sprachliche Vielfalt in Europa ein Schutz vor zu viel Harmonisierung. Ein echter Föderalismus, der eine Politik zwischen Außen- und Innenpolitik, zwischen Anarchound Ordoliberalismus ermöglicht, wäre ganz im Sinne der ursprünglichen amerikanischen Verfassungsväter (der zweiten amerikanischen Verfassung) und auch ein Ideal für Europa. Das Schicksal des amerikanischen Föderalismus ist aber hinsichtlich der Realisierung liberaler Ideale interjurisdiktioneller Konkurrenz gewiss nicht nur ermutigend. Globalisierung, internationale Organisationen und Multilateralismus 61 Johannes Varwick Globalisierung, internationale Organisationen und Multilateralismus in einer komplexen Welt – liberale Antworten? 1. Vorbemerkung Die Außen- und Sicherheitspolitik der Bundesrepublik Deutschland war lange von beachtlicher Kontinuität geprägt. Seit einigen Jahren hat sie sich jedoch zunehmend von einigen etablierten Bezugspunkten gelöst und bewegt sich im Spannungsfeld zwischen Kontinuität und Wandel inzwischen recht deutlich in Richtung Wandel. Beispiele dafür sind etwa die deutsche Haltung in der Libyen-Frage (erstmals stimmte Deutschland im März 2011 anders ab als alle anderen im VNSicherheitsrat vertretenen NATO- und EU-Partner) sowie die sich immer deutlicher abzeichnende Führungsrolle in der Europäischen Union. Die Welt, in der sich deutsche Außen- und Sicherheitspolitik bewegen muss, wird sich in den kommenden Jahrzehnten aller Wahrscheinlichkeit nach ebenso rasant verändern, wie dies in den vergangenen Jahrzehnten der Fall war. Es wird dabei wie stets in der Geschichte Überraschungen geben, das Unvorhergesehene und das Unvorhersehbare werden die Politik mindestens ebenso stark prägen wie das heute zu Erwartende. Es ist zunächst darauf hinweisen, dass man sich dieser wie auch anderen Fragestellungen aus mindestens drei Perspektiven nähern kann – die jeweils eine eigene Rationalität besitzen. Man könnte – erstens mit einer Entscheiderperspektive, also einer politischen Logik, – – zweitens mit einer Beamtenperspektive, also einer bürokratischen Logik aus Sicht des Apparates und drittens mit einer Beobachterperspektive, also einer externen analytischen Logik an diese Frage herantreten. 62 Johannes Varwick Dieser Beitrag argumentiert dezidiert aus der dritten Perspektive – was nicht heißt, dass kein Verständnis für die anderen beiden Perspektiven bestehen oder ihnen gar eine innere Logik abgesprochen würde. Diese sind im besten Fall ebenfalls rational, aber eben zweckrational. Anders formuliert: Es geht in diesem Beitrag nicht um (partei)politische Positionen bzw. Positionierung1 oder die von vielfältigen Zwängen geprägte Sichtweise der Administration, sondern um den Versuch, aus wissenschaftlicher Sicht einige strategische Grundfragen des Themenbereichs Globalisierung, internationale Organisationen und Multilateralismus in einer komplexen Welt zu behandeln. Ich beschränke mich dabei auf die Frage, welche Bedeutung internationale Organisationen und multilaterale Arrangements in der Welt der kommenden Jahre haben werden, und was dies für die zentrale Organisation des globalen Multilateralismus – die Vereinten Nationen (VN) – bedeuten könnte. Daraus abgeleitet werden vier zentrale Themengebiete dieser Fragestellung identifiziert, denen sich deutsche Außenpolitik zuwenden sollte, und Elemente einer denkbaren liberalen Agenda formuliert. 2. Globalisierung und internationale Organisationen: ein konzeptioneller Problemaufriss Hintergrundfolie für die Bedeutung internationaler Organisationen und multilateraler Politik ist zunächst der seit längerer Zeit anhaltende Prozess der Globalisierung.2 Dieser kann allgemein als ein Prozess zunehmender Verbindungen zwischen Gesellschaften und Problembereichen dergestalt definiert werden, dass Ereignisse in einem Teil der Welt in zunehmendem Maße Gesellschaften und Problembereiche in anderen Teilen der Welt berühren. Bei diesen Verbindungen ist erstens eine quantitative Zunahme, zweitens eine qualitative Intensivierung und drittens eine räumliche Ausdehnung empirisch feststellbar. Dabei erodiert zunehmend jene Kongruenz von Staatsgebiet, Staatsvolk und Staatsmacht, von Territorialität und Souveränität, die den Nationalstaat kennzeichnet. Neben Staaten und internationalen Organisationen -------------------------------------------- 1 Dieser Beitrag nimmt insofern auch keinen Bezug auf die Programmdebatte der FDP im engeren Sinne und ist auch dezidiert nicht als solcher zu verstehen. 2 Vgl. Varwick, Johannes: Globalisierung, in: Woyke, Wichard (Hg.): Handwörterbuch internationale Politik; 12. Aufl., Opladen 2011, S. 176-186. Globalisierung, internationale Organisationen und Multilateralismus 63 treten mit transnationalen Konzernen und einer transnational vernetzten Zivilgesellschaft neue Akteure auf die Bühne der Weltpolitik. Die Ausprägung der genannten Globalisierungsdimensionen kann (liberale) Außenpolitik nicht unberührt lassen und hat dementsprechend auch programmatische Konzepte hervorgebracht.3 Zentraler Befund bei der Globalisierung der Politik ist die feststellbare Erosion nationalstaatlicher Souveränität. Die Einheit von Entscheidungsmacht und Entscheidungswirkung, die der umfassenden Dispositionsgewalt des Staates über gesellschaftliche Verhältnisse zugrunde lag, gehört in vielen Bereichen der Vergangenheit an. Handlungsrelevante Räume sind heute somit in erster Linie funktional und nicht mehr territorial bestimmbar. Bestandteil dieses Prozesses ist: – sowohl erstens die steigende Bedeutung internationalisierter politischer Kooperationsformen, die im Einzelfall supranationale Entscheidungsmechanismen entwickeln können; – als auch zweitens die zunehmende Sektoralisierung der internationalen Politik in grenzüberschreitenden Problemfeldern wie Sicherheitspolitik, Umweltpolitik, Finanzpolitik u. a. m., bei denen deutlich wird, dass der Nationalstaat als alleiniger Handlungsrahmen ausgedient hat. Das internationale System besteht zu Beginn des 21. Jahrhunderts aus weniger als 200 Staaten, von denen – mit steigender Tendenz – etwas mehr als 46 Prozent als ‚frei‘ zu bezeichnen sind.4 Dazu kommen nach Zählweise der ‚Union of International Associations‘ (UIA) rund 26.000 internationale Verträge, 5.200 Regierungsorganisationen, über 15.000 Nichtregierungsorganisationen und etwa 40.000 transnationale Konzerne. Diese Zahlen relativieren sich etwas, wenn man nach der klassischen Definition zählt: So kommt die UIA auf 246 völkerrechtsfähige International Governmental Organisations (IGOs) und -------------------------------------------- 3 Siehe etwa das unter Federführung des Auswärtigen Amts entstandene Konzept der Bundesregierung „Globalisierung gestalten – Partnerschaften ausbauen – Verantwortung teilen“ vom Februar 2012 (http://www.auswaertiges-amt.de/cae/servlet/contentblob/ 608384/publicationFile/169956/Gestaltungsmaechtekonzept.pdf). 4 Nach der – sicherlich angreifbaren – Zählweise von Freedom House sind 2013 90 Staaten frei, 58 teilweise frei und 77 nicht frei; Freedom House: Freedom in the World 2013; Washington 2013. 64 Johannes Varwick auf 7.306 International Non-Governmental Organisations (INGOs) mit weltweiter oder regionaler Mitgliedschaft.5 Die Verdichtung globaler Verflechtungen in den Bereichen Wirtschaft, Kultur, Ökologie, aber auch Technologie, Kommunikation, Verkehr, Migration u.a.m. hat mithin zu abnehmender Steuerungsfähigkeit des einzelnen Staates geführt. Eine breite Palette von Problemen ist nur noch auf dem Weg internationaler Zusammenarbeit zu regeln. Dabei zwingt die Globalisierung nationalstaatliche Politik nicht zuletzt in einen Wettbewerb um ‚globalisierungstaugliche‘ Wirtschafts-, Sozial- und Gesellschaftssysteme. Gerade dieser Wettbewerb – bei dem es, wie bei jedem Wettbewerb, Gewinner und Verlierer geben wird – macht einen Großteil der Befürchtungen aus, die mit dem Begriff Globalisierung verbunden werden. Unter globalisierten Rahmenbedingungen ist eine abnehmende Fähigkeit und Bereitschaft von Staaten zu konstatieren, durch Umverteilung von Ressourcen Wohlfahrt zu stiften. So verstanden, deckt Globalisierung auch ‚Konstruktionsmängel‘ von nationalen politischen und sozialen Systemen auf, die bei weniger offenen Märkten nicht derart zutage getreten wären. In Folge der globalen Finanzkrise seit 2008/2009 zeigte sich zudem, dass die in der Gruppe der 8 (G-8) organisierten wichtigsten westlichen Industrienationen gezwungen wurden, bedeutende Schwellenländer in eine „Gruppe der 20“ (G-20) einzubinden und auf Gipfeltreffen die Grundrisse einer neuen internationalen Finanz- und Wirtschaftsarchitektur zu erarbeiten. Auch wenn dieser Prozess noch nicht abgeschlossen ist, wird das Gewicht der neuen Akteure im „G-20-Club“ zunehmen und die internationale Politik verändern.6 Einen erheblichen Teil des gegenwärtigen Weltordnungsdiskurses macht die Frage aus, ob über zwischenstaatliche Politik hinaus verbindliche Regelungen geschaffen werden können und müssen, die die in zahlreichen Politikfeldern erodierende nationale Souveränität im globalen Interesse relativieren und gleichzeitig die Fähigkeit zur Steuerung grenzüberschreitender Probleme zurückgewinnen. In einer kleiner -------------------------------------------- 5 Vgl. statt vieler: Tietje, Christian/Brouder, Alan (Hg.): Handbook of transnational Economic Governance Regimes; Leiden/Boston 2009 und Schieder, Siegfried: Internationale Organisationen; in: Schmidt, Manfred G. u. a. (Hg.): Studienbuch Politikwissenschaft, Wiesbaden 2013, S. 439-464. 6 Siehe dazu etwa Rode, Reinhard: Der schleichende Niedergang des Westens. Multilateralismus als Gegenmittel; Münster 2010 und Grätz, Jonas: The De-Westernisation of Globalisation; in: Thränert, Oliver (Hg.): Strategic Trends 2013; Zürich 2013, S. 15-36. Globalisierung, internationale Organisationen und Multilateralismus 65 werdenden Welt existiert ein Bedarf an Leistungen, die traditionell durch den Staat erbracht worden sind und heute nicht mehr durch diesen übernommen werden können. Wie dieser Bedarf gedeckt werden könnte, wird in der Politikwissenschaft in ihren sehr unterschiedlichen ‚Schulen‘ kontrovers diskutiert.7 Vertreter der realistischen Schule sehen insofern keinen Handlungsbedarf, als dass Globalisierung zwar das ökonomische, soziale und kulturelle Leben erheblich verändern mag, der Nationalstaat aber zentrale Instanz in der internationalen Politik bleibt. Vertreter der liberalen Schule bewerten diesen Befund anders. Für sie bedeutet Globalisierung eine fundamentale Transformation weltpolitischer Prozesse, die realistische Vorstellungen zunehmend obsolet erscheinen lässt. Internationale Beziehungen stellen sich für sie als Spinnwebmodell dar, in welchem der Staat als ein (wichtiger) Akteur unter vielen verstanden wird, der aber nicht mehr in der Lage ist, das Geschehen auf seinem Territorium isoliert zu bestimmen. Da aber gleichwohl hoher Regelungsbedarf für grenzüberschreitende Probleme gesehen wird, sucht man nach alternativen Steuerungsmodellen in der globalisierten Welt. Ein Versuch zur Bewältigung der globalen Herausforderungen wird unter dem Schlagwort ‚Global Governance‘ diskutiert, welche insbesondere durch die Arbeit der von Willy Brandt angeregten ‚Kommission für Weltordnungspolitik‘ (Commission on Global Governance) bekannt wurde. Diese unabhängige Kommission griff in ihrem 1995 vorgelegten Abschlussbericht die bereits zuvor in der Wissenschaft geführte Debatte auf und versuchte, den Begriff inhaltlich zu füllen. Die Kommission definiert Global Governance als „die Gesamtheit der zahlreichen Wege, auf denen Individuen sowie öffentliche und private Institutionen ihre gemeinsamen Angelegenheiten regeln“.8 Der Begriff umfasst sowohl formale Institutionen und mit Durchsetzungsmacht versehene Herrschaftssysteme als auch informelle Regelungen. Grunderkenntnis ist dabei, dass sich bei -------------------------------------------- 7 Die liberale Schule ist eine Strömung innerhalb der IB-Theorien, die nicht notwendigerweise mit Liberalismus im parteipolitischen Sinne übereinstimmt. Sie betont die Auswirkungen interner Verhältnisse eines Staates für sein außenpolitisches Verhalten, berücksichtigt auch gesellschaftliche Akteure und setzt im Verhältnis zur realistischen Schule stärker auf eine „Evolution“ der internationalen Beziehungen durch Kooperation. Als Liberaler im parteipolitischen Sinne kann man insofern Anhänger unterschiedlicher Theorieschulen sein; siehe Punkt 6. 8 Kommission für Weltordnungspolitik: Nachbarn in einer Welt; Bonn 1995, S. 4. 66 Johannes Varwick Globalisierung der Probleme auch ‚die‘ Politik globalisieren muss, was sich jedoch nicht nur auf die klassische Zusammenarbeit zwischen den Staaten bezieht, sondern auch auf die Entwicklung eines neuen Politikmodells jenseits eines simplen Mehr an Multilateralismus und intensiviertem globalen Denken zielt, bei dem staatliche und nichtstaatliche Akteure auf verschiedenen Ebenen neuartig zusammenarbeiten. Das Konzept hat seitdem zahlreiche Wissenschaftler zu Definitionsversuchen und einer inhaltlichen Ausarbeitung angeregt,9 deren erste Gemeinsamkeit ist, dass sie sich bewusst von den weltföderalistischen Vorstellungen einer Art Weltregierung abgrenzen. Somit meint ‚Global Governance‘, verstanden im Sinne der deutschen Übersetzung als ‚Weltordnungspolitik‘: – erstens die Neudefinition staatlicher Souveränität, mit der die Basisprinzipien des Souveränitätskonzeptes (Unverletzbarkeit der Grenzen, Verbot der Einmischung in ‚innere‘ Angelegenheiten, alleinige Verfügungsgewalt des Staates über gesellschaftliche Verhältnisse) infrage gestellt werden; – zweitens die Verdichtung und Verrechtlichung der internationalen Beziehungen durch internationale Organisationen und Regime, die als institutionalisierte Formen des norm- und regelgeleiteten Verhaltens bei der politischen Bearbeitung von Konflikten in unterschiedlichen Sachbereichen verstanden werden und die auf gemeinsamen Prinzipien, Normen, Regeln und Entscheidungsverfahren aufbauen sowie – drittens die Fokussierung auf die Erweiterung des Kreises der Akteure über die Staaten und klassischen internationalen Organisationen hinaus und die Entwicklung eines neuen Politikstils. Im Mittelpunkt globaler Strategiekonzepte stehen das System der Vereinten Nationen, andere internationale Organisationen wie etwa die Welthandelsorganisation (WTO), internationale Regime wie etwa das zur Nichtverbreitung von Atomwaffen oder das Klimaschutzregime, regionale Zusammenschlüsse wie etwa die Europäische Union, die als Kerne und Katalysatoren einer solchen Entwicklung wirken -------------------------------------------- 9 Statt vieler: Baylis, John/Smith, Steve/Owens, Patricia (Hg.): The Globalization of World Politics; 5. Aufl., Oxford 2011; Rittberger, Volker/Kruck, Andreas/Romund, Anne: Grundzüge der Weltpolitik. Theorie und Empirie des Weltregierens; Wiesbaden 2010 und Neyer, Jürgen: Globale Demokratie; Baden-Baden 2013. Globalisierung, internationale Organisationen und Multilateralismus 67 könnten, aber auch verschiedene globale Netzwerke. Die tragenden Akteure solcher globalen Netzwerke sind internationale Nichtregierungsorganisationen (INGOs) der sogenannten internationalen Zivilgesellschaft. Die Einsicht in die Unzulänglichkeit rein zwischenstaatlicher Kooperationsprozesse wie auch die oft bescheidenen Politikergebnisse klassischer internationaler Organisationen sollen dabei den Grundstein für das Entstehen neuer Kooperationsformen zwischen öffentlichen und privaten Akteuren auf dem Weg zu einer ‚global public policy‘ bilden. Zunehmend rückt dabei auch die Kooperation mit Unternehmen der Privatwirtschaft (den so genannten ‚Business International Nongovernmental Organizations‘, BINGOs) in das Blickfeld. Ob jedoch eine grundlegende Machttransformation (power shift) von der Staatenwelt zu einer transnational vernetzten Zivilgesellschaft feststellbar ist, muss mit einigen Fragezeichen versehen werden. Zumindest muss hier erneut nach Politikfeldern, aber zusätzlich auch nach Weltregionen, differenziert werden. Denn auch die globalisierte Welt lässt sich nicht über einen Kamm scheren. Globalisierung bedeutet die sich beschleunigende erdumspannende Vernetzung von Akteuren und Aktionsfeldern. Dabei sind insbesondere die Problembereiche, die sich nicht (mehr) national bearbeiten lassen, ein zuverlässiger Indikator für den bereits erreichten Stand der Globalisierung. Somit besteht die zentrale Herausforderung für die internationale Politik darin, nach grenzüberschreitenden Substituten für die abnehmende Steuerungsfähigkeit auf der nationalstaatlichen Ebene zu suchen. Wie unter diesen Voraussetzungen demokratisches und effektives Regieren jenseits des Nationalstaates möglich sein kann, gehört zu den offenen Fragen der Politikwissenschaft. Das Einfordern ‚intelligenter‘ Mechanismen für diesen Problembereich bedeutet nichts anderes, als dass diese noch nicht gefunden sind. Kommen wir nun in einem dritten Schritt zu der Frage, wie sich in einer globalisierten Welt multilaterale Politik verändert hat, bevor Elemente einer liberalen außenpolitischen Agenda skizziert werden. 3. Multilateralismus im Wandel Nach einer formal-deskriptiven Definition bezeichnet Multilateralismus die Praxis der Koordination nationaler Politiken von drei oder mehr Staaten durch Ad-hoc-Vereinbarungen oder Institutionen. Damit 68 Johannes Varwick ließe sich aber nahezu jede Form zwischenstaatlicher Zusammenarbeit jenseits von Uni- und Bilateralismus als multilateral bezeichnen. Auf der anderen Seite stehen normativ gehaltvolle Konzepte, die Multilateralismus als Politikstil verstehen, bei dem die zwischenstaatlichen Beziehungen auf der Basis bestimmter allgemein akzeptierter Verhaltensregeln und Prinzipien ablaufen. Kennzeichnend ist in dieser Perspektive eine, wie Robert Keohane10 es klassisch genannt hat, Kultur der Reziprozität, der gegenseitigen Verlässlichkeit und des prinzipiellen Verzichts auf unabgestimmtes Verhalten. In der Wissenschaft zeichnet sich eine Dichotomie zwischen zwei Formen des Multilateralismus ab: der sogenannten ‚klassischen’ und der ‚neuen’ Form. Der klassische Multilateralismus ist der institutionalisierte, formalisierte Multilateralismus, symbolisiert insbesondere im VN-System, und der neue Multilateralismus ist der selektive Multilateralismus eines Zusammenschlusses Gleichgesinnter zur Lösung bestimmter Probleme. Während das klassische Verständnis größtenteils dem hergebrachten deutschen Verständnis entspricht, zeichnet sich der ‚neue Multilateralismus’ durch eine lockerere Form von Adhoc-Koalitionen und eine größere Betonung der Output-Legitimität aus. Wer nun der Auffassung ist, diesem instrumentellen Verständnis von Multilateralismus stünde ein einheitliches europäisches Verständnis gegenüber, dem muss entgegnet werden, dass auch in Europa unterschiedliche Varianten des Denkens über Multilateralismus anzutreffen sind:11 – So ist erstens eine ‚deutsche Denkschule’ auszumachen, für die Multilateralismus an sich als ein Gewinn gilt. Verhandlungen und eine Strategie des langen Atems werden als die entscheidenden Parameter gesehen, um eine ordnungspolitische Alternative zur Macht- und Gewaltpolitik darzustellen. -------------------------------------------- 10 Keohane, Robert O.: Reciprocity in International Relations; in: International Organization 1/ 1986, S. 1-27. Siehe als gute Zusammenfassungen zur neueren, in der Wissenschaft breit geführten Multilateralismusdebatte: Cox, Robert (Hg.): The New Realism: Perspectives on Multilateralism and World Order; London 2007, sowie Koops, Joachim: The European Union as an Integrative Power? Assessing the EU's 'Effective Multilateralism' towards NATO and the United Nations; Brussels 2011. 11 Siehe dazu ausführlicher Varwick, Johannes: Völkerrecht und internationale Politik – ein ambivalentes Verhältnis; in: Breit, Gotthard (Hg.): Recht und Politik. Eine Einführung; Schwalbach 2005, S. 109-133. Globalisierung, internationale Organisationen und Multilateralismus 69 Zweitens ist eine ‚französische Denkschule’ anzutreffen, die Multilateralismus primär als Instrument einer politischen Multipolarität sieht. – Drittens kann von einer ‚britischen Denkschule’ gesprochen werden, die einen Kompromiss zwischen den beiden erstgenannten darstellt und eher pragmatisch orientiert ist. Das Hauptanliegen dieser Denkschule ist es, internationale Probleme effektiv und wenn möglich durch multilaterale Kooperation zu lösen. Aus diesen Schulen abgeleitet gilt, dass es in der Wissenschaft, aber auch in der Politik der Staaten sehr unterschiedliche Betrachtungsweisen hinsichtlich der Bedeutung internationaler Abkommen und völkerrechtlicher Regeln gibt. Die beiden Extrempositionen lassen sich wie folgt zuspitzen: – Eine ‚legalistische Schule’ sieht in völkerrechtlichen Arrangements ein extrem hohes Gut, dem politische Erwägungen unterzuordnen sind. Wenn Staaten Verpflichtungen eingegangen sind, dann müssen sie sich auch an diese halten, weil andernfalls eine Grundvoraussetzung internationaler Kooperation beschädigt wird. Es wird akzeptiert, dass durch völkerrechtliche Arrangements die staatliche Souveränität insofern beschnitten wird, als dass diese staatliches Verhalten determinieren. – Eine ‚politikorientierte Schule’ stellt völkerrechtliche Arrangements stärker in einen politischen Kontext und betont, dass es letztlich politischen Entscheidungen der Regierungen vorbehalten bleiben soll und muss, ob sich diese an überstaatliche Regelungen halten oder nicht. Völkerrechtliche Regelungen sind ein Abwägungsfaktor unter vielen anderen und dürften demnach nicht den Anspruch erheben, maßgeblich handlungsleitend zu sein. Es ist inzwischen Allgemeingut, dass sich die machtpolitischen Gewichte in dieser Welt massiv verschoben haben. Jenseits etablierter multilateraler Formate haben sich in den vergangenen Jahren neue Formate entwickelt bzw. an Bedeutung gewonnen. Der Begriff ‚Club Governance‘ beschreibt das Phänomen solcher informeller Kooperations- und Abstimmungsmechanismen. Im Gegensatz zu den institutionalisierten Formen internationaler Kooperation ist eine derartige Zusammenarbeit geprägt durch einen schwachen Institutionalisierungs– 70 Johannes Varwick grad. Solche Clubs sind also keine klassischen internationalen Organisationen oder Regime, sondern informelle oder/und schwach institutionalisierte Zusammenkünfte von Staatenvertretern in einem beschränkten Teilnehmerkreis. In den vergangenen Jahren ist eine Art ‚Proliferation von Clubs‘ auszumachen. Die G-20 ist dabei nur ein besonders prominentes Beispiel. Club-Formate, die bestimmte Interessen oder auch Werte verfolgen und auf die Bearbeitung konkreter Probleme zielen, sind also eine Form des selektiven Multilateralismus. Denkbar sind verschiedene Ad-hoc-Formate und informelle Netzwerke. Der Grad der Institutionalisierung wird bewusst niedrig gehalten, um die Informalität und Flexibilität dieser Formate zu gewährleisten. Will man den Versuch unternehmen, die Leistungsfähigkeit, die Grenzen und Chancen der Club-Governance im Vergleich zum klassischen Multilateralismus auszuloten, dann lassen sich mit Ulrich Schneckener12 die Parameter Legitimität, Effektivität, Kohärenz und Ressourcenmobilisierung unterscheiden. – Legitimität: Wer ist an Entscheidungen beteiligt und wer hat Zugang zum Club? – Effektivität: Sind die Gremien in der Lage, ihre Ziele zu erreichen und zu ‚liefern‘? – Kohärenz: Sind die Beschlüsse einigermaßen widerspruchsfrei und aufeinander abgestimmt? – Ressourcenmobilisierung: Können finanzielle und politische Ressourcen zur Umsetzung der gefassten Beschlüsse mobilisiert werden? Daraus lässt sich ein ‚magisches Viereck multilateraler Politik‘ konstruieren, mit dessen vier Ecken Legitimität, Effektivität, Kohärenz und Ressourcenmobilisierung die Relevanz solcher Foren zu einem großen Teil determiniert wird. Es lässt sich argumentieren, dass mit Formen des selektiven Multilateralismus unter Umständen effektiv agiert werden kann, die Legitimität aber nicht besonders hoch ist. Gleichwohl kommt es dabei auf die Frage an, ob man – um es in der Terminologie von Fritz Scharpf13 auszudrücken – eher auf die sogenannte output-Legitimität oder eher auf input-Legitimität zielt. Die informellen Elemente sind dabei für die Lösung aktueller Krisen und Konflikte zuständig. Die formellen Elemente konzentrieren sich auf die -------------------------------------------12 13 Schneckener, Ulrich: Globales Regieren durch Clubs; Berlin 2009. Scharpf, Fritz W.: Regieren in Europa; Frankfurt a. M./New York 1999. Globalisierung, internationale Organisationen und Multilateralismus 71 Implementierung und vor allem die Legitimation der Ergebnisse der informellen Gruppen. So ein „Multilateralism light“14 erinnert aber an das Konzert der europäischen Mächte im 19. Jahrhundert: keine formalen Regeln oder Verträge, keine permanenten Strukturen, Entscheidungen fallen immer auf Konsensbasis und sind selektiv und exklusiv. Die gegenwärtigen Entwicklungen in den Bereichen Multilateralismus und Global Governance sind eng miteinander verbunden. Die Evolution der G-20 markiert in doppelter Hinsicht einen Einschnitt in der Entwicklung von Global Governance: Sie ist: – erstens auffälliges Zeichen der Anerkennung der zunehmenden Interdependenz in der globalen Politik wie auch der Bedeutung der „emerging markets and powers“; und – zweitens repräsentiert sie einen Schwenk von einem wertebasierten zu einem interessensbasierten Multilateralismus, oder – technisch gesprochen – den Sieg von relativen Gewinnen und Machtpolitik über absolute Gewinnen und klassischen Multilateralismus. Aber die „Clubgovernance“ trägt wenig zu einer Synthese bei: denn deren Wesen ist von Einschränkung und Selektion geprägt, wohingegen die wichtigsten Topoi von Global Governance Entgrenzung und Verbindung sind. Und mehr noch: Im Zentrum der Clubs stehen die klassischen Akteure des Realismus (Regierungen!), im Gegensatz zur Grundannahme von Global Governance, eben ein breiteres Akteursensemble einzubeziehen. Allenfalls ließe sich Clubgovernance als neuer „Staats-Akteur-Kern“ in dieser Architektur verorten. Unabhängig davon: Es ist vor allem der Druck dieses paradigmatischen Wandels im Verständnis von Multilateralismus, mit dem sich internationale Organisationen gegenwärtig konfrontiert sehen und der – so wird im Folgenden argumentiert – auch die deutsche Außenpolitik herausfordert. 4. Konsequenzen: Deutschland und die Vereinten Nationen Die Vereinten Nationen bilden nach offizieller deutscher Einschätzung ein unverzichtbares Kernstück innerhalb der multilateralen Ori-------------------------------------------- 14 Penttilä, Risto E.: Multilateralism light: The rise of informal international governance; London 2009. 72 Johannes Varwick entierung des Landes. Dieser Ansatz wird in Deutschland sowohl von einem breiten parteipolitischen Konsens als auch durch intensive zivilgesellschaftliche Unterstützung getragen. Die Stärkung des Multilateralismus im VN-Rahmen ist dabei traditionell zentrales deutsches Interesse. Diese Einschätzung gilt für alle Bundesregierungen der Nachkriegszeit. Es gibt wohl kaum ein globales Problem, bei dessen Bearbeitung den VN nicht eine Schlüsselrolle zugeschrieben würde. Das Themenspektrum reicht von der Friedenssicherung über das Engagement für weltweite nachhaltige Entwicklung und den Kampf gegen Armut, die Stärkung der Menschenrechte, die Steuerung der globalen Umweltprobleme bis hin zum Kampf gegen den internationalen Terrorismus mitsamt seiner vielschichtigen Ursachen. Deutsche VN-Politik zeichnet sich durch ein Engagement in der ganzen Breite der VN-Themen aus und ist dementsprechend vielfältig.15 Neben den medien- und öffentlichkeitswirksamen Bereichen gibt es eine breite Palette an Themen, bei denen sich Deutschland finanziell und konzeptionell engagiert. Im Folgenden wird dies an zwei Bereichen exemplarisch beleuchtet: der VN-Friedenssicherung und Schutz der Menschenrechte sowie dem Thema VN-Reform. 4.1 VN-Friedenssicherung und Menschenrechtsschutz Am obersten Ziel der VN-Charta, die Welt ‚von der Geißel des Krieges zu befreien‘, wirkt Deutschland aktiv mit. An VN-Friedensmissionen beteiligte sich die Bundesrepublik seit ihrem Beitritt im Jahr 1973 zunächst durch die Bereitstellung von Gerät und Transportkapazitäten. Deutschland gehört zwar traditionell zu den VN-freundlichsten Staaten und sieht sich mithin als einen der aktivsten Anwälte eines effektiven VN-Multilateralismus. Im Bereich der VN-Friedenssicherung ist Deutschland aber ein vergleichsweise junger Akteur, da angesichts der weltpolitischen Lage und innenpolitischer Restriktionen die Beteiligung an internationalen Friedenssicherungseinsätzen erst seit Anfang der 1990er Jahre in nennenswertem Ausmaß möglich wurde. -------------------------------------------- 15 Siehe etwa Auswärtiges Amt: Bericht der Bundesregierung zur Zusammenarbeit zwischen der Bundesrepublik Deutschland und den Vereinten Nationen und einzelnen, global agierenden, internationalen Organisationen und Institutionen im Rahmen des VN-Systems in den Jahren 2010 und 2011; Berlin 2012 (https://www.auswaertigesamt.de/cae/servlet/contentblob/632766/publicationFile/174826/VNBericht1011.pdf). Globalisierung, internationale Organisationen und Multilateralismus 73 Wegbereitend war hierfür das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Zulässigkeit von Auslandseinsätzen der Bundeswehr 1994. Ein genauerer Blick auf die deutsche Beteiligung an jüngsten VNFriedensmissionen ergibt jedoch ein widersprüchliches Bild. In den vergangenen Jahren hat sich Deutschland trotz seiner VN-freundlichen Rhetorik weniger an VN-geführten, sondern vor allem an VN-mandatierten Einsätzen beteiligt. Während bei den Missionen des ersten Typs – den bekannten ‚Blauhelm-Einsätzen‘ – die VN den Einsatz leiten, handeln die Staaten oder Regionalorganisationen im Falle des zweiten Typs als ‚Subunternehmer‘ des VN-Sicherheitsrates und können die Details des Einsatzes weitgehend selbst regeln. Den derzeit (Frühjahr 2013) rund 7.000 deutschen Soldatinnen und Soldaten in VNmandatierten Einsätzen (insbesondere im Kosovo und in Afghanistan) stehen rund 200 in VN-geführten Einsätzen gegenüber – das entspricht etwa zwei Prozent der eingesetzten Truppen. Deutschland steht als drittgrößter Beitragszahler der VN damit bei der Beteiligung an VNFriedensmissionen lediglich an 52. Stelle der 193 VN-Staaten, weit hinter Staaten wie Bangladesch, Jordanien, Uruguay oder Senegal. Auf der anderen Seite sind die erhebliche finanzielle Unterstützung für die VN-Friedenssicherung von rund sieben Prozent Kosten für VN-Friedensmissionen sowie die umfangreiche begleitende Projektförderung im Rahmen ziviler Krisenprävention hervorzuheben.16 Der Bereich Menschenrechte und Verrechtlichung der internationalen Beziehungen hat traditionell einen sehr hohen Stellenwert in der deutschen VN-Politik. Deutschland ist Vertragspartei nahezu aller einschlägigen Menschenrechtskonventionen und -protokolle und war z. B. einer der führenden Initiatoren des Internationalen Strafgerichtshofes und bei der Verrechtlichung bestimmter Politikbereiche. Deutschland gehört – nicht zuletzt aufgrund seiner historischen Erfahrungen – zu den Ländern, denen oftmals der Konsens aller Beteiligten wichtiger und erstrebenswerter erscheint, als das rücksichtslose Durchboxen einzelstaatlicher Positionen. Deutschland verhält sich mithin im VN-Kontext standardmäßig ‚aufgeklärt multilateral‘. Auch bei norma-------------------------------------------16 Zu einer kritischen Bilanz siehe Griep, Ekkehard/Nachtwei, Winfried 2011: Für eine politische Aufwertung der VN-Friedenssicherung in Deutschland – Ungenutzte Chancen im VN-Peacekeeping nutzen; DGVN Policy Paper 1/2011 und Varwick, Johannes/Stock, Christian: Keine Partner zweiter Klasse: Die Truppenstellerstaaten der Vereinten Nationen verdienen Deutschlands Unterstützung; DGVN Policy Paper 1/2012. 74 Johannes Varwick tiven Weiterentwicklungen, wie der Debatte um die Schutzverantwortung bei schwersten Menschenrechtsverletzungen (‚responsibility to protect‘, R2P), wirkt Deutschland intensiv mit – auch wenn die deutsche Enthaltung im Sicherheitsrat bei der Entscheidung für die militärische Umsetzung der Schutzverantwortung im Fall Libyen im Jahr 2011 für viel Kritik gesorgt hat.17 Die Ermöglichung von nachhaltiger Entwicklung und Armutsbekämpfung gehört zu den Schwerpunktaufgaben der Vereinten Nationen und eine Vielzahl ihrer Programme und Institutionen ist diesen Aufgaben im engeren und weiteren Sinn gewidmet. Deutschland hat sich insbesondere bei der Förderung nachhaltiger Entwicklung, Armutsbekämpfung und im Bereich des globalen Umweltschutzes als maßgeblicher Akteur etabliert. Es betrachtet die nachhaltige Bewahrung der Schöpfung als Voraussetzung einer dauerhaften und friedlichen Weltordnung und zeigt sich dementsprechend bei den internationalen Umwelt- und Entwicklungskonferenzen der vergangenen Jahre besonders aktiv. 4.2 Reform der Vereinten Nationen Trotz aller Wertschätzung für die Vereinten Nationen wird auch von der deutschen Politik darauf hingewiesen, dass es für eine wichtige Rolle der VN in der internationalen Politik einer ständigen Anpassung der VN und in manchen Bereichen auch eines grundsätzlichen Umdenkens, insbesondere der mächtigen Mitgliedstaaten bedürfe. Nach dem großen Reform-Schwung infolge des VN-Gipfels von 2005, als mit der Kommission für Friedenskonsolidierung und dem Menschenrechtsrat (in beiden Gremien wirkt Deutschland aktiv mit) zwei wichtige Institutionen neu geschaffen bzw. von Grund auf umgestaltet wurden, befinden sich die Vereinten Nationen nun in einem Modus beständiger aber kleinerer Anpassungen. Zwar gab es durchaus weitere ehrgeizige Veränderungen, an denen Deutschland aktiv mitgewirkt hat. Mit dem Thema Reform des Sicherheitsrates, in den das vereinigte Deutschland bisher dreimal (1995/96, 2003/04 und 2011/12) als nichtständiges Mitglied gewählt wurde, ist allerdings die wohl schwierigste Reform auf die lange Bank geschoben worden. Deutschland strebt seit Anfang -------------------------------------------- 17 Varwick, Johannes: Ist Deutschland außenpolitisch isoliert? in: Gesellschaft, Wirtschaft, Politik 3/2011, S. 275-279; siehe auch Punkt 6 des vorliegenden Beitrags. Globalisierung, internationale Organisationen und Multilateralismus 75 der 1990er Jahre im Rahmen einer umfassenden Neuzusammensetzung des Rates einen ständigen Sitz an. Die Suche nach einer gangbaren Sicherheitsratsreform wird neben hohen institutionellen Erfordernissen der Charta (alle ständigen Mitglieder im Rat müssen ebenso zustimmen wie eine Zweidrittelmehrheit in der Generalversammlung) auch durch eine dreifache inhaltliche Anforderung erschwert: – erstens soll die Repräsentativität verbessert werden (was nur durch eine Erhöhung der Mitgliederzahl und/oder eine Veränderung des geographischen Proporzes der Sicherheitsratsmitglieder möglich ist); – zweitens soll die Legitimität erhöht werden (Schaffung eines möglichst ‚demokratischen‘ Entscheidungsfindungsmechanismus innerhalb des Rates); – und drittens soll die Effizienz erhöht werden (Verbesserung der Entscheidungsfindung und der Chance auf Befolgung der Beschlüsse). Neben dem Beharren der ständigen Mitglieder auf ihrem Status besteht vor allem die kaum auflösbare Spannung zwischen dem ersten und dem dritten Aspekt. Was die Reformunfähigkeit des Sicherheitsrates für die VN bedeutet, ist schwer abzusehen. Es ist jedoch zu befürchten, dass ein unveränderter Sicherheitsrat an Autorität verliert. Es ist aus heutiger Sicht offen, in welche Richtung sich die VN im sicherheitspolitischen Bereich tatsächlich entwickeln werden. Einerseits lässt sich argumentieren, dass in den vergangenen Jahren in der internationalen Politik ein Milieu entstanden ist, in dem zentrale Bestimmungen und Normen der Charta Referenzpunkte geworden sind. Sie werden zwar nicht immer eingehalten, der Rechtfertigungsdruck im Falle der Regelverletzung hat aber enorm zugenommen. Selbst große Mächte können sich diesem, durch die internationale Öffentlichkeit verstärkten, Druck kaum entziehen. Andererseits gilt es, sich von unrealistischen Erwartungen an die VN zu verabschieden. So ist das Spannungsverhältnis zwischen den Zielen und Grundsätzen der VNCharta auf der einen und der politischen Realität auf der anderen Seite offenkundig. Wesentliche Grundsätze der Charta basieren mithin auf Regeln, die in der Praxis internationaler Politik immer aufs Neue relativiert, verändert oder schlichtweg systematisch missachtet werden. Der souveränen Gleichheit aller Staaten steht ein ausgeprägtes Machtgefälle, der Pflicht zur friedlichen Streitbeilegung eine allgegenwärtige 76 Johannes Varwick Gewalt im internationalen System gegenüber und trotz des allgemeinen Gewaltverbots nehmen sich Staaten immer wieder das Recht auf unilaterale Gewaltanwendung. Zudem bewirkt die Globalisierung grundlegender Problembereiche eine Erosion staatlicher Souveränität. Dies betrifft auch die zunehmende Notwendigkeit, (zunächst) innerstaatliche Konflikte auf internationaler Ebene genau zu beobachten und in diese ggf. einzugreifen, was aber gemäß der Charta und dem festgeschriebenen Verbot der Einmischung in die inneren Angelegenheiten der Staaten untersagt ist. In Artikel 2, Absatz 7 der VN-Charta heißt es wörtlich: „Aus dieser Charta kann eine Befugnis der VN zum Eingreifen in Angelegenheiten, die ihrem Wesen nach zur inneren Zuständigkeit eines Staates gehören […] nicht abgeleitet werden […].“ Was allerdings eine innere Angelegenheit ist, dürfte in den kommenden Jahren sicher kontrovers diskutiert werden. Bilanzierend ist festzustellen, dass multilaterale Zusammenarbeit im Rahmen der VN oft mühsam, ineffektiv und zeitraubend ist. Einerseits ist bei bestimmten Problemkonstellationen (etwa in den meisten Fragen der Weltumweltpolitik) unstrittig, dass nur ein multilateraler Ansatz Erfolg versprechend sein kann. Die VN verfügen mit ihrem breiten Ansatz über ein vielfältiges Instrumentarium. Andererseits sind andere Problemkonstellationen offensichtlich nach den Prinzipien des VN-Multilateralismus nicht immer effektiv zu bearbeiten. Hier gilt es, jenseits von ‚wishful thinking‘ eine nüchterne Bestandsaufnahme vorzunehmen und die VN nicht zu überfordern oder gar von ihnen Leistungen zu verlangen, die sie nicht erbringen können. Multilateralismus ist zudem kein Wert an sich, sondern nur dann sinnvoll, wenn damit Beiträge zur Problemlösung geleistet werden. Dies gilt insbesondere für den Bereich der internationalen Sicherheit, wo mitunter schnelles und effizientes Handeln unerlässlich ist. 5. Konsequenzen für die deutsche Außenpolitik Es sollen nun abschließend vier zentrale Themengebiete identifiziert werden, denen sich deutsche Außenpolitik im Zusammenhang mit den angesprochenen Bereichen Globalisierung, Multilateralismus und internationale Organisationen in besonderer Weise zuwenden Globalisierung, internationale Organisationen und Multilateralismus 77 sollte.18 Anschließend wird der Versuch unternommen, in diesen Bereichen schlagwortartig eine moderne liberale außenpolitische Agenda zu entwickeln. 5.1 Die Weiterentwicklung des Sicherheitsbegriffs Der Sicherheitsbegriff hat in den vergangenen Jahren einen dreifachen Wandel durchlaufen. Er hat sich weitgehend gelöst von den klassischen nationalstaatlichen Parametern (Territorium und uneingeschränkte Souveränität), wurde erweitert um nahezu alle Politikfelder jenseits des eigentlich Militärischen – die so genannte „securitization“19 – und hat das klassische negative Abwehr- um ein positives Sicherheitsverständnis erweitert. Mit fortschreitender Globalisierung und Interdependenz ist davon auszugehen, dass als Nebeneffekt die Spielräume für staatliches Querulantentum weiter verengt werden. Denn in Situationen geteilter Verwundbarkeit schwindet der Anreiz, den eigenen Vorteil im Nachteil des anderen zu suchen – und damit die Gefahr gegenseitiger Bedrohung, da diese sich in einer interdependenten Welt gewiss früher oder später gegen den eigenen Staat richtet. Die Folge wäre eine Reduzierung des sicherheitspolitischen ‚Bearbeitungslevels’ von militärischem auf eher polizeiliches Niveau im weiteren Sinne. Zugleich werden weiter wachsende Interdependenzen jedoch den Grad an Verwundbarkeit noch erhöhen. Dies gilt insbesondere gegenüber malevolenten Akteuren, die keine Verantwortung gegenüber einer eigenen politischen Öffentlichkeit haben, also insbesondere nichtstaatlichen Akteuren wie bspw. Terroristen. Als Konsequenz daraus wird eine Mehrzahl der Politikfelder auch weiterhin unter Sicherheitsaspekten betrachtet werden. Allerdings sollte schon aus Effizienzgründen künftig mögliches Potenzial für de-securitization regelmäßig überdacht werden. Trotz der skizzierten Entwicklungen wird es weiterhin erheblichen Bedarf an staatlicher Bereitstellung von Sicherheit nach außen geben. Der Schutz und die Unterstützung von staatlichen und nichtstaatlichen Akteuren, die für die Verwirklichung deutscher Interessen (auch im -------------------------------------------18 Dazu ausführlicher Varwick, Johannes/Stock, Christian: Herausforderungen der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik bis 2030: Eine Analyse aus Sicht der Zukunftsforschung; in: Zeitschrift für Außen- und Sicherheitspolitik 3/2012, S. 391-401. 19 Buzan, Barry/Wæver, Ole/de Wilde, Jaap: Security: A Framework for Analysis; Boulder 1998. 78 Johannes Varwick EU- und VN-Rahmen) tätig sind, werden noch an Bedeutung gewinnen. Die Ausübung des Gewaltmonopols wird sich vorwiegend in einem Schnittmengenbereich zwischen polizeilichen, nachrichtendienstlichen und militärischen Aktivitäten bewegen. Das Verwischen der Grenzen birgt vielfältige Risiken: für die Koordinierung, aber ebenso für die Legitimierung und Kontrolle der Sicherheitspolitik. Das Problembewusstsein hierfür ist schon vorhanden; es bleibt jedoch abzuwarten, wie erfolgreich die ressortgemeinsame Umsetzung sein wird. 5.2 Veränderungen im Verständnis multilateraler Politik und Machtverschiebungen im internationalen System Die künftige Bedeutung multilateraler Arrangements über die europäische Ebene hinaus ist heute kaum abschätzbar. Wahrscheinlich dürfte eine ‚Gleichzeitigkeit der Ungleichzeitigkeit‘ das Bild prägen, bei der höchst unterschiedliche Trends, Prozesse und Konfliktformationen zu beobachten sind. Neben einer ersten Zone, die sich durch offene Grenzen, eine hohe Interaktionsdichte und einen stabilen Frieden auszeichnet, ist eine von Machtpolitik und kurzfristigen nationalen Interessen dominierte zweite Zone auszumachen, in der vornehmlich in Kategorien militärischer Stärke und geopolitischer Einflusszonen gedacht wird. Eine dritte Zone ist gekennzeichnet durch Machthohlräume und den Verlust politischer Steuerungsfähigkeit. Diesen Zonen sind zwar geographische Räume zuzuordnen – so beschränkt sich z. B. die dritte Zone im Wesentlichen auf Teile Afrikas –, allerdings überlappen die Räume sich, und die daraus resultierenden Probleme sind nicht auf eine Zone zu begrenzen. Anders formuliert: Das Zeitalter frühmoderner Staaten, das 20. und das 21. Jahrhundert werden vermutlich gleichzeitig stattfinden. Es ist einerseits denkbar, dass sich die VN als Kern einer Global Governance-Architektur herausbilden und der geregelte Multilateralismus effektiv Probleme löst. Andererseits ist es ebenso denkbar, dass Multilateralismus verclubt und unterschiedliche Club-Formate (wie die G-20) sowie andere themenspezifische Politiknetzwerke an Bedeutung gewinnen. Dies würde für die deutsche Außenpolitik bedeuten, pragmatischer und weniger prinzipiell mit multilateralen Formaten arbeiten zu müssen. Das klassische Leitprinzip deutscher Außenpolitik, der effektive Multilateralismus, funktioniert dann, wenn sich die Beteiligten zunächst kooperativ gegenübertreten und zudem mit den Ergebnis- Globalisierung, internationale Organisationen und Multilateralismus 79 sen der Kooperation zufrieden sind. Diese Situation ist allerdings nur selten gegeben; für die Lösung internationaler Konflikte jenseits geschützter Räume wie der EU gilt, dass Multilateralismus oftmals nur in Kombination mit klassischen Machtfaktoren effektiv ist.20 Zudem gilt es, das Machtspektrum der künftigen Staatenwelt zu berücksichtigen. Während heute vor allem die Gefahr mangelnder Staatlichkeit als Herausforderung für Deutschland betrachtet wird, wird in Zukunft mit einer noch größeren Heterogenität zu rechnen sein, da das Spektrum der Staaten im Gegensatz zu heute künftig um einige global bedeutende Großmächte erweitert sein wird. 5.3 Steigende Bedeutung nicht-staatlicher Akteure Transnational agierende nichtstaatliche Akteure aus der Wirtschafts- und Gesellschaftswelt werden relativ zu den Staaten größeres Gewicht erhalten. Im Zusammenspiel mit einer internetgestützten globalen Öffentlichkeit ist es selbst in sensiblen Politikbereichen denkbar, dass nichtstaatliche Akteure noch stärker Agenda-Setter und -Vorantreiber sein werden. Über die heute schon erkennbaren organisierten Formen hinaus ist absehbar, dass dezentral durchgeführte Aktivitäten mit gemeinsamen politischen Zielen auf der internationalen Ebene zunehmen. Der Treiber dahinter ist wiederum die steigende Internetnutzung. Dies bringt eine neue Qualität mit sich, deren Anfänge sich bereits jetzt an globalen internetgestützten Kampagnen ablesen lassen: die Individualisierung der internationalen Politik. Neben einer solchen Individualisierung ist mit einer weiteren Ausdehnung des Einflusses der Wirtschaftswelt zu rechnen, da die Durchsetzung des politischen Primats trotz der Bemühungen nach der Finanzkrise unwahrscheinlich erscheint. Dieser Einfluss wird weiterhin in asymmetrischen Situationen zwischen transnationalen Konzernen und schwachen Staaten direkt, ansonsten als treibende Kraft hinter den nationalen Außenpolitiken ausgeübt werden. Für die deutsche Außenpolitik ist dies zunächst mit Einschränkungen der Steuerbarkeit internationaler Politik verbunden. Dies ist ein neutraler Befund, der auf der einen Seite aufgrund von Lastenteilung letztlich zu mehr Effizienz führen oder auch, wie etwa in der Umweltpolitik, einen Legitimi-------------------------------------------- 20 So auch Sandschneider, Eberhard: Deutsche Außenpolitik: Eine Gestaltungsmacht in der Kontinuitätsfalle; in: Aus Politik und Zeitgeschichte 10/2012, S. 3-9. 80 Johannes Varwick tätszuwachs zur Folge haben kann. Im Unterschied zu ähnlichen Prozessen auf der nationalstaatlichen Ebene können transnationale Vernetzungen zudem eine wichtige klassische Sicherheitsbedrohung, das Unwissen über den anderen, reduzieren helfen. Auf der anderen Seite ist es fragwürdig, ob asymmetrischen, von nicht-staatlichen Akteuren ausgehenden, Sicherheitsbedrohungen besser begegnet werden kann als heute. Aus dieser Perspektive bedeutet der Verlust von Steuerungsfähigkeit einen Zuwachs an Unsicherheit. Die Frage, welche Akteure mit welcher Legitimität die internationale Politik gestalten, wird in der Zukunft aufgrund der Angleichung der Gestaltungsfähigkeiten von noch größerer Bedeutung sein. Die Legitimität der nicht-staatlichen Akteure muss geklärt werden, um deren Anspruch, die klassisch-demokratisch legitimierte Außenpolitik mit zu gestalten, überprüfen zu können. Interessenvertreter mit klarer Hintergrundstruktur – ob Wirtschaftslobbyist oder NGO – könnten dabei durch Transparenz durchaus mehr Legitimität in Anspruch nehmen als eine anonyme Internet-Kampagne – oder auch ein intransparenter Zirkel von Einzelpersonen. 5.4 Ressourcenmanagement und Kommunikationssicherheit als Interdependenzmanagement Die hohe deutsche Außenhandelsquote ist Ausdruck der Abhängigkeit der deutschen Wirtschaft von der Einbindung in internationale Märkte. Die Globalisierung ist ohne den freien und sicheren Austausch von Menschen, Ideen, Gütern, Informationen und Kapital kaum vorstellbar. Die internationalen Verbindungswege verlaufen zum Großteil durch vier globale öffentliche Räume oder ‚Global Commons‘ – die hohe See, der Luft-, Welt- und Informationsraum.21 Deutschland, das z. B. über eine der weltweit größten Handelsflotten verfügt, ist auf den ungehinderten Zugang zur hohen See angewiesen. Aus dieser Abhängigkeit leitet sich ein ‚natürlicher‘ Gestaltungsanspruch für die Aufrechterhaltung der liberalen Ordnung in diesen vier Räumen ab, weil Wohlstand und Sicherheit auf dieser Ordnung basieren. -------------------------------------------- 21 Hinweise dazu bei Wai Fung Lam: Governing the commons, in: Bevir, Mark (Hg.): The SAGE Handbook of Governance; London 2011, S. 501-517 und Denmark, Abraham M.: Managing the global commons; in: The Washington Quarterly 3/2010, S. 165182. Globalisierung, internationale Organisationen und Multilateralismus 81 Natürliche Ressourcen gewinnen global insbesondere aufgrund des anhaltenden Trends demographischen Wachstums weiter an Bedeutung. Als sicherheitsrelevante, sich verknappende Ressourcen lassen sich vor allem Trinkwasser, Nahrung und Mineralien identifizieren. Die Auswirkungen auf andere Teile der Welt müssen berücksichtigt werden, da sie sich in den politischen Prioritäten der betroffenen Staaten niederschlagen werden. Deutsche Außenpolitik sollte auf diese Bedürfnisse Rücksicht nehmen und dazu beitragen, Lösungen auch für die Knappheitsprobleme anderer Staaten bei existenziell wichtigen Ressourcen zu finden. Dies dient nicht zuletzt der eigenen Sicherheit, da das generelle Bedrohungsempfinden anderer Staaten gemindert und die Wahrnehmung eines Verständnisses gemeinsamer globaler Verantwortung gefördert wird. Mit Sicherheit wird die Kommunikationsinfrastruktur – sowohl Hard- als auch Software – eine hohe Relevanz in der zukünftigen Außen- und Sicherheitspolitik Deutschlands einnehmen. Dies gilt aufgrund der Bedeutung von Kommunikation sowohl als Instrument der Exekutive (in Administration, Diplomatie und Militär) als auch als Grundlage für nicht-staatliches, nach außen gerichtetes Wirken (sowohl für ökonomische als auch organisierte und individuelle politische Aktivitäten). Die besondere Qualität der Bedrohung der Kommunikationswege besteht in ihrem disruptiven Charakter und wird verstärkt durch die fast schon epidemische Anfälligkeit hochgradig vernetzter Gesellschaften und die möglicherweise schwer zu klärende Herkunft der Bedrohung. Gerade der letzte Aspekt macht die Entwicklung passender Reaktionsstrategien so schwierig. 6. Bilanz: Deutschland, Multilateralismus und die Vereinten Nationen – eine liberale Agenda Das deutsche Interesse lässt sich vereinfacht wie folgt formulieren: Deutschland ist in besonderem Maße auf eine offene, kooperative internationale Ordnung angewiesen, in der sowohl freier Zugang zu Ressourcen sichergestellt als auch Handelswege offen sind und keine Zonen der Anarchie geduldet werden können. Damit verbunden liegt es im deutschen Interesse, dass eine strategische Konfrontation des Westens mit den aufsteigenden Mächten China und Indien (und möglicherweise Russland, Brasilien, Südafrika und Indonesien) verhindert 82 Johannes Varwick wird. All dies – und ebenfalls die sicherheitspolitischen Implikationen einer solchen internationalen Ordnung – kann besser gelingen, wenn Deutschland seine Einflussmöglichkeiten europäisch bündelt, transatlantisch einbindet und mit den neuen weltpolitischen Zentren vernetzt. Zentral für all dies ist aber vor allem, dass der politische Kompass richtig justiert ist.22 Für die Handlungsmöglichkeiten deutscher Außen- und Sicherheitspolitik bleibt es darüber hinaus zentral, dass deren Entfaltungsund Wirkungsmöglichkeiten durch die europäische Ebene – die in diesem Beitrag nicht das Thema war, die aber Schlüssel für vieles ist – verstärkt (bzw. im Grunde genommen erst ermöglicht) werden. Es ist gleichwohl nicht zu erwarten, dass die EU künftig über eine wirksame gemeinsame Außenpolitik verfügt. Vielmehr ist damit zu rechnen, dass die EU in der heutigen Form keinen Bestand hat und sich stattdessen (neben der unwahrscheinlichen, aber gleichwohl denkbaren Perspektive des konfliktträchtigen Zerfalls) ein deutlich höher integrierter Kern innerhalb der EU bildet, um den sich dann verschiedene Integrationskreise gruppieren: eine EU, die eher einer „European Onion“ statt einer wirklichen „European Union“ gleicht.23 Die Chancen, dass ein solches Kerneuropa sein ökonomisches Gewicht in politische Gestaltungsmacht umsetzt, sind deutlich höher, als dies in einer mit sich selbst beschäftigten EU-XXL, die dann eher einer etwas aufgewerteten OSZE gleichen würde, möglich wäre. Mit einer solchen Konstruktion könnte zudem die Marginalisierung Europas gegenüber den weltpolitischen Polen USA, China und Indien verhindert sowie die Befähigung gewonnen werden, durch Einflussnahme bei der Lösung globaler Probleme eigene Interessen vertreten zu können. -------------------------------------------- 22 Insofern muss die Fundamentalkritik an der deutschen Außenpolitik des Altkanzlers Helmut Kohl durchaus beunruhigen. „Wenn man keinen Kompass hat, wenn man also nicht weiß, wo man steht und wo man hin will, und daraus abgeleitet dann entsprechend auch keinen Führungs- und Gestaltungswillen, dann hängt man auch nicht an dem, was wir unter Kontinuitäten deutscher Außenpolitik verstehen, ganz einfach weil man keinen Sinn dafür hat“, siehe das Interview mit Kohl in: Internationale Politik 5/2011, S. 10-17, hier S. 11. 23 Siehe Varwick, Johannes: Krise und Zukunft der Europäischen Integration: von der „European Union“ zur „European Onion“?; in Varwick, Johannes (Hg.): Die Europäische Union. Krise, Neuorientierung, Zukunftsperspektiven; Schwalbach 2011, S. 12-38. Globalisierung, internationale Organisationen und Multilateralismus 83 Vor dem Hintergrund des Schutzes gemeinsamer Werte und Interessen könnte dann auch eine globale NATO an Reiz gewinnen,24 einerseits, um die Partnerschaft mit den USA zu erhalten, und andererseits, um einen Gegenpol zu den asiatischen Großmächten zu bilden. Dies muss nicht in eine konfliktive Situation münden, ganz im Gegenteil: Hegemoniale Großmächte bzw. (von ihnen dominierte) Regionalorganisationen in Asien könnten dort die gleiche Funktion wahrnehmen wie NATO und EU in Europa; auch die auf absehbare Zeit notwendige externe Unterstützung für die Friedenssicherung in Afrika könnte somit mittelfristig auf westliche und östliche Schultern verteilt werden. Von einer abnehmenden Bindewirkung der etablierten Bezugspunkte deutscher Außen- und Sicherheitspolitik wäre Deutschland fundamental betroffen, und daher liegt es im vitalen deutschen Interesse, diese Organisationen funktionsfähig zu halten. All dies verlangt von der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik die Bereitschaft zur politischen (Mit-)Führung und insbesondere zur materiellen Unterfütterung der politischen Absichten. Auf den ersten Blick mag es leichtfallen, die diskutierten außenpolitischen Themen in eine liberale Agenda der internationalen Beziehungen einzuordnen – für die politische Praxis ist dies jedoch sehr viel komplexer und widersprüchlicher, als es erscheinen mag. Ohne an dieser Stelle in eine Theoriedebatte25 einsteigen zu wollen, können – vereinfachend dargestellt – mehrere Elemente für eine liberale außenpolitische Denkschule als kennzeichnend gelten:26 – Zwischenstaatlicher Frieden und internationale Stabilität müssen nicht notwendigerweise auf einer Politik der Machtbalance beruhen; -------------------------------------------- 24 Siehe dazu Varwick, Johannes: Die NATO. Vom Verteidigungsbündnis zur Weltpolizei?; München 2008. 25 Siehe als Einstieg Schieder, Siegfried/Spindler, Manuela (Hg.): Theorien der Internationalen Beziehungen; 3. Aufl., Opladen 2010. 26 Angelehnt an Moravcsik, Andrew: Taking Preferences Seriously: A Liberal Theory of International Relations; in: International Organizations 4/1997, S. 513-553 und Krause, Joachim: Liberaler Imperialismus und imperialer Liberalismus als Erklärungsansätze amerikanischer Außenpolitik; in: Zeitschrift für Außen- und Sicherheitspolitik 1/2008, S. 68-95, hier S. 72f. 84 Johannes Varwick Frieden und Stabilität haben besondere innergesellschaftliche Voraussetzungen, und Demokratien sind untereinander friedfertiger, als andere politische Systeme; – die außenpolitische Präferenzbildung gesellschaftlicher Akteure ist auf ihre Nutzenmaximierung angelegt; – der Staat überträgt die durchsetzungsfähigen gesellschaftlichen Interessen in außenpolitische Präferenzen, und die Konfiguration der interdependenten Staatspräferenzen bestimmt staatliches Verhalten; – Interdependenz und gegenseitige Verwundbarkeit sind Schlüsselvoraussetzungen für Kooperation; – das individuelle Wohl der Menschen steht im Mittelpunkt, weniger abstrakte Kategorien wie Staatsräson oder nationales Interesse; – die Gewährung von wirtschaftlicher und politischer Freiheit setzt eine positive Dynamik in Gang, die aus sich heraus friedensstiftend ist. Eine gewisse ‚analytische Brache‘ ist jedoch die Frage, wie die Voraussetzungen für eine liberale Ordnung geschaffen werden können, wenn Unfreiheit und Unfrieden regieren. Hinsichtlich der angemessenen Wege zur Friedenssicherung und Wahrung von internationaler Stabilität sind seit jeher zwei Herangehensweisen feststellbar, die sich als Dissens zwischen den children of light und den children of darkness umschreiben lassen. Aus der europäischen Aufklärung stammt eine Vorstellung, die auf das Gute, die Vernunft und die Lernfähigkeit des Menschen setzt. Demokratisierung sei aufgrund des nachweisbaren Zusammenhangs zwischen der inneren Verfassung eines Staates und seinem Außenverhalten zudem der beste Weg zur Konfliktvermeidung. Der Gegenentwurf sieht die Welt hingegen durch das Schlechte beherrscht und anarchisch strukturiert. Nur eigene Stärke und das Prinzip der Selbsthilfe könnten Konflikte verhindern; nicht das erhabene Ziel ‚Frieden‘, sondern das bescheidenere Ziel ‚Sicherheit‘ sollte angestrebt werden. Einer multilateralen Welt, in der Verhandlungen, Überzeugung, Konsenssuche und diplomatische Lösungen dominieren, steht eine unilaterale Welt gegenüber, in der auf internationale Regelungen letztendlich kein Verlass ist und in der im Extremfall Zwang vor Überzeugung geht. – Globalisierung, internationale Organisationen und Multilateralismus 85 Mit Blick auf die Rolle Deutschlands in den VN wird es zukünftig Situationen geben (können), in denen sich Deutschland vor die Wahl gestellt sieht, welche Art von Multilateralismus es bevorzugen soll. Zudem ist es offenkundig, dass mitunter krasse Fehlentscheidungen – wie die Libyen-Enthaltung27 – vorkommen, die gewissermaßen als VNpolitische wild card nicht vorhersehbar sind, aber massive Probleme verursachen. Stefan Bierling hat das in der Süddeutschen Zeitung in einem Kommentar mit dem Titel ‚Am liebsten Schweiz‘ deutlich formuliert: „Wer nicht weiß, was er will und welche Mittel er für seine Ziele einzusetzen bereit ist, wird in der internationalen Politik schnell vom Subjekt zum Objekt. Man kann nicht einen ständigen Sitz im UNSicherheitsrat anstreben, aber sich enthalten, wenn über den Schutz libyscher Zivilisten abgestimmt wird.“28 In der weltweiten Wirtschafts- und Finanzkrise der Jahre 2008 und folgende hatte Deutschland frühzeitig auf den Reformbedarf der internationalen Wirtschafts- und Finanzordnung hingewiesen – ohne dabei durchschlagende Erfolge zu erzielen. Sowohl die Große Koalition als auch die Nachfolgeregierung hatte sich für eine Stärkung der VN in diesem Bereich eingesetzt und dabei pragmatisch sowohl eine Aufwertung von verschiedenen multilateralen ‚Clubformaten‘ wie der G-20 unterstützt als auch stets auf die wichtige Funktion der Inklusivität der VN hingewiesen. Für die operative deutsche Politik resultiert daraus ein hoher Bedarf nach strategischen Richtungsentscheidungen, die mit diesen Fragen einhergehen. Zu klären ist etwa: – Sollen die Funktionen der G-20 auch jenseits von ‚Economic Governance‘ ausgeweitet werden und welches institutionelles Design ist dafür erforderlich? -------------------------------------------- 27 In der Libyen-Debatte 2011 konnte man gewiss mit jeweils guten Gründen zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen. Ob aber der von der deutschen Politik (und hier insbesondere vom Außenminister) betonte gründliche Abwägungsprozess tatsächlich stattgefunden hat, alle Folgen des Handelns richtig eingeschätzt wurden und zudem der politische Kompass richtig justiert war, lässt sich mit guten Argumenten bezweifeln. Denn gab es wirklich eine zwingende Begründung, sich gegen die traditionelle Grundrichtung deutscher Außenpolitik zu stellen und die USA, Frankreich und Großbritannien gleichzeitig zu verprellen? Anders formuliert: Die Betonung der Zivilmachttraditionen der Bonner Republik brach sich in der Libyen-Entscheidung mit der Einbindung in traditionelle Bündnisstrukturen und der multilateralen Ausrichtung deutscher Außenpolitik. 28 Bierling, Stephan: Am liebsten Schweiz; in: Süddeutsche Zeitung vom 25.06.2012, S. 2. 86 Johannes Varwick Was bedeutet das für ‚the making of Außenpolitik‘? ‚G-Isierung‘ geht mittelfristig mit einer Zentralisierung des außenpolitischen Entscheidungsprozesses einher (Dominanz des Kanzleramts) und dürfte die Debatte um Strukturveränderungen (u. a. nationaler Sicherheitsrat etc.) beschleunigen. – Wäre G-20 gar auf längere Sicht eine pragmatische Alternative zum reformunfähigen Sicherheitsrat und weiteren Politikfeldern? – Wie kann der ‚G-isierungsprozess‘ kompatibel zu den VNProzessen gehalten werden und wie kann vermieden werden, dass dadurch eine neue Spaltung entsteht? Insgesamt wäre es vermutlich nicht unklug, wenn die Richtungsentscheidungen in diesem Fall eher durch eine gewisse strategische Nicht-Festlegung gekennzeichnet sind – und das geschieht ja auch. Von einer Mittelmacht wie Deutschland wird zu Recht erwartet, dass sie eigene Vorstellungen hinsichtlich aktueller und struktureller Problembereiche der internationalen Politik entwickelt und diese versucht durchzusetzen. Deutschland gehört zu den wichtigsten VNMitgliedern und hat darüber hinaus eine Verantwortung für und auch ein Interesse an einer stabilen und offenen internationalen Ordnung. Insofern ist Deutschland tatsächlich vom Konsumenten zu einem wichtigen (Mit-)Produzenten internationaler Ordnung geworden. Wenn es stimmt, dass außenpolitische Entscheidungen durch den Zweiklang, was außenpolitisch machbar und was innenpolitisch mehrheitsfähig ist, bestimmt werden, dann haben sich beide Parameter in diesem Zweiklang massiv verändert: Außenpolitisch ist die Lage nochmals komplexer geworden, und innenpolitisch haben wir es mit einem unterentwickelten Verständnis für eine Rolle als aktiver Multilateralist zu tun. Insbesondere mit Blick auf die Forderung nach einem ständigen Sitz im VN-Sicherheitsrat sollte damit mithin eine ernsthafte Selbstprüfung einhergehen, ob die strategische Identität Deutschlands, der weltpolitische Gestaltungswille Deutschlands und die in der Gesellschaft vorherrschenden Einstellungen und Meinungen mit einem offensiven Werben um einen deutschen Sitz in Übereinstimmung zu bringen sind. Zudem könnte Deutschland in zahlreichen VN-relevanten Politikfeldern durchaus mehr tun und dem rhetorischen Bekenntnis zur Stärkung des VN-Multilateralismus praktische Taten folgen lassen. So – Globalisierung, internationale Organisationen und Multilateralismus 87 scheint es, um nur ein Beispiel zu nennen, durchaus verantwortbar, deutsches Personal in substanzieller Größenordnung in VN-geführten Missionen einzusetzen und sich nicht derart deutlich wie in den vergangenen Jahren auf die VN-mandatierten Missionen zu beschränken. Nicht zuletzt wäre es ratsam, wenn sich liberale Außenpolitik nicht nur prioritär dort engagiert, wo es um klassische liberale Themen geht, die mit wenigen Risiken verbunden sind. Zugespitzt formuliert: Es fällt auf, dass liberale Außenpolitik immer gerne da vorne dabei ist, wo es um ‚das Schöne und Gute‘ geht, und sich wenig(er) dort besonders engagiert wo es um unangenehme und vielleicht auch risikoreiche Beiträge geht. Es ist eben einfacher, sich dafür einzusetzen, in allgemeiner Form für globale Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte einzutreten als sich an einer innenpolitisch unpopulären R2P-Intervention in Libyen zu beteiligen. Die ‚Kultur der Zurückhaltung‘ (für die zudem die Partner Deutschlands immer weniger Verständnis aufbringen) und die ‚Kultur der Verantwortung‘ sind in der deutschen Außenpolitik in den vergangenen Jahren nicht immer richtig austariert worden. Der von Hans-Dietrich Genscher in einer bestimmten historischen Konstellation völlig zu Recht beschworene Gegensatz von Verantwortungspolitik und Machtpolitik ist insofern nicht mehr das Kernproblem für deutsche Außenpolitik. Insbesondere beim Thema Menschenrechtspolitik, so etwa Gerhard Baum, gebe es kein Gebot der NichtEinmischung. „Niemand wird leichtfertig für militärische Abenteuer eintreten. Doch die Politik der militärischen Zurückhaltung […] ist in bestimmten Situationen nicht durchzuhalten“.29 Die Globalisierung erzwingt eine konsequente Neuorientierung der Politik auf weltpolitische Zusammenhänge. Deutschland kann es sich nicht leisten, Außen- und Sicherheitspolitik vorwiegend als Pflichtübung oder gar als Verlängerung innen- und wahlpolitischer Kalküle zu betreiben. Auch eine Konzentration auf die eigene Region und die Stabilisierung des europäischen Umfelds wird, so wichtig sie ist, den Anforderungen einer globalen Perspektive nicht gerecht. Liberale Außenpolitik sollte den Gedanken der Mitverantwortung für eine offene internationale Ordnung in der gesamten Breite ausbuchstabieren. Es war immer die Stärke liberaler Außenpolitik, nicht in die eine oder andere Extremposition zu verfallen, und sich zudem nicht allzu -------------------------------------------29 Baum, Gerhard: Von wegen Moralecke; in: Die Zeit (12) 2013, S. 10. 88 Johannes Varwick sehr von öffentlichen Stimmungen leiten zu lassen. Zentrales liberales außenpolitisches Paradigma könnte in diesem Sinne der Begriff ‚Handlungsfähigkeit‘ sein.30 Daraus resultieren durchaus unbequeme Fragen, weil – die in diesem Beitrag angerissenen Punkte zu Ende gedacht – einige erfolgversprechende Antworten durchaus jenseits etablierter Pfade liberaler Außenpolitik gegangen werden müssten. -------------------------------------------- 30 In diesem Sinne auch Heumann, Hans-Dieter: Handlungsfähigkeit. Ein strategisches Gebot angesichts globaler Herausforderungen; in: Internationale Politik 3/2013, S. 110-113. Transatlantischer Freihandel 89 Karl-Heinz Paqué Transatlantischer Freihandel: Ein Weg zur Stärkung des globalen Liberalismus Es gibt zwei Typen von Krisen: akute und schleichende. Die akuten Krisen werden allerorten bemerkt und heftig diskutiert. Sie dominieren die Schlagzeilen und sorgen für enorme politische Aufregung. Finanz- und Schuldenkrisen sind klassische Beispiele dafür, denn sie haben bei der Schnelligkeit moderner Kapitalmärkte eine zerstörerische Kraft, vor der sich alle fürchten. Schleichende Krisen sind ganz anders. Sie werden meistens erst registriert, wenn ihre Folgen offen zutage liegen – oft erst Jahrzehnte nach Einsetzen der Krise und selbst dann nur in sehr indirekter Form, die sich kausal nicht mehr eindeutig auf irgendwelche konkreten Ursprünge zurückführen lässt. In diesem Beitrag behaupte ich, dass unsere Welthandelsordnung in einer solchen schleichenden Krise steckt. Und ich mache einen politischen Vorschlag, wie diese Krise zu bekämpfen sein könnte. Im ersten Teil des Beitrags liefere ich die Diagnose. Sie lautet: Multilaterale Verhandlungen zur Senkung von Handelsbarrieren haben ihre Grenzen erreicht, und zwar gerade wegen (und nicht trotz) der Globalisierung. Im zweiten Teil liefere ich einen Ansatz zur Therapie: die Schaffung einer transatlantischen Freihandelszone. Wohlbemerkt: einen Ansatz und keine Patentlösung. Im Vorhinein spreche ich eine Warnung aus: Diagnose und Therapie sind hochspekulativ. Dies liegt in der Natur der Sache: Wer über die Wirkungen von Handel und Handelsordnungen spricht, der muss lange Zeiträume – eben die Geschichte des Wirtschaftswachstums und der Integration – ins Visier nehmen. Damit wird die Darstellung sehr schnell zum groben Holzschnitt, von dem ich allerdings hoffe, dass er Wesentliches abbildet. Ob dies so ist, mag der Leser selbst beurteilen. 90 1 Karl-Heinz Paqué Diagnose: Krise des Multilateralismus Eine Erfolgsgeschichte – das ist zweifellos der Weg in Richtung Freihandel und Integration, den die Weltwirtschaft seit Ende des Zweiten Weltkriegs beschritten hat. Allein schon die Zahlen sind beeindruckend: Das Volumen des Welthandels hat sich zwischen 1950 und 2011 um den Faktor 35 erhöht. Bei industriell verarbeiteten Produkten – in Abgrenzung zum Agrar- und zum Rohstoffhandel – war ein Anstieg auf das 82fache Niveau zu verzeichnen, was im Durchschnitt einer jährlichen Steigerungsrate von 7,5 Prozent entspricht.1 Dieser Trend der Expansion hielt bis in die allerjüngste Zeit an, mit gelegentlichen konjunkturellen Einbrüchen wie zuletzt (und besonders scharf) im Jahr 2009; aber regelmäßig kehrte die Weltwirtschaft sehr schnell zum gewohnt schnellen Tempo der Handelsintegration zurück. Die Gründe für diese Entwicklung sind dreifach. Der erste Grund liegt auf der Hand: Es gab im Trend ein kräftiges globales Wirtschaftswachstum, in den 1950er und 1960er Jahren vor allem getrieben durch den Wiederaufstieg der transatlantischen Wirtschaft mit dem westlichen Europa (und allemal Deutschland) als Wachstumspol, seit den 1980er Jahren durch die Öffnung und das Wachstum großer Entwicklungs- und Schwellenländer wie China, Indien, Indonesien, Brasilien u. a. sowie der mittel- und osteuropäischen Staaten nach dem Fall des Eisernen Vorhangs und dem Ende der staatlichen Planwirtschaft mit Autarkie. Daneben gab es – der zweite Grund – eine massive Abnahme der Transaktions- und Kommunikationskosten, bedingt seit den 1980er Jahren durch technologische Neuerungen, die den weiträumigen und sicheren Transport von Gütern in Containern über die ozeanischen Seewege sowie den schnellen Austausch von Nachrichten über leistungsfähige Informationsnetze ermöglichten. Und schließlich – der dritte Grund und unser eigentliches Thema – gab es einen Trend zum Abbau von Handelshemmnissen, bedingt durch ein weltpolitisches Klima, das – bei allen Rückschlägen im Einzelnen – doch auf lange Sicht der Liberalisierung des Welthandels zugutekam. Jedenfalls stehen in dieser Hinsicht die letzten sechs Jahrzehnte in einem gewaltigen (positiven) Kontrast zu den vorangegangenen fast drei Jahrzehnten mit ihren zwei Weltkriegen und einer Zwischenkriegszeit, die durch -------------------------------------------- 1 Alle Daten zur Entwicklung des internationalen Handels in diesem Beitrag stammen aus dem Statistikteil der Website der Welthandelsorganisation (www.wto.org). Transatlantischer Freihandel 91 Protektionismus und Desintegration (und nicht Integration!) der Weltwirtschaft gekennzeichnet war. Bevor man also heute von Krise spricht, was wir im Folgenden tun werden, muss man gewissermaßen historisch durchatmen und das Erreichte würdigen. Denn nach 1945 gelang es, nicht nur am Geist der relativ liberalen Welthandelsordnung vor 1914 anzuknüpfen, sondern noch weit über diese hinauszugehen. Ein wesentliches Verdienst daran hatte die multilaterale Welthandelsordnung im Rahmen des Allgemeinen Zoll- und Handelsabkommens (kurz: GATT, „General Agreement on Tariffs and Trade“) und ab 1994 die Welthandelsorganisation (kurz: WTO, „World Trade Organization“), die das Vertragswerk des GATT übernahm. Heute gehören 159 Staaten der WTO an. Es sind damit bereits mehr als 90 Prozent des globalen Handelsvolumens durch die eminent wichtigen GATT-Prinzipien der Nicht-Diskriminierung erfasst. Auch die formalisierten Mechanismen der Streitschlichtung, die es seit Etablierung der WTO 1994 gibt, haben sich in der Praxis bewährt, ebenso wie das allgemeine politische Bekenntnis zum Freihandel als Grundorientierung der Mitgliedstaaten. Tatsächlich liest sich die historische Abfolge der sogenannten Zollsenkungsrunden, die seit den späten 1940er Jahren stattfanden, zunächst wie eine gigantische Erfolgswelle. Acht Runden wurden abgeschlossen: die ersten zwei jeweils in einem Jahr (1947 und 1949) und die drei folgenden in jeweils zwei Jahren (1950/51, 1955/56 und 1960/61); dann folgten die sogenannte Kennedy-Runde (1964-67), die Tokio-Runde (1973-79) und die Uruguay-Runde (1986-1994), jeweils mit substantiellen Ergebnissen der Senkung von Handelsbarrieren und 1994 dann auch mit einem großen institutionellen Schritt nach vorne: der Gründung der WTO. Allerdings machte schon damals die stetig zunehmende Dauer der Runden Sorge. Offenbar wurde es immer schwieriger, auf multilateraler Ebene im riesigen Kreis der verhandelnden Staaten überhaupt noch einen Fortschritt zu erzielen. Mit der Doha-Runde, die 2001 begann und bis heute nicht abgeschlossen ist, wurde das Problem dann ganz offensichtlich. Sie hat bereits mit zwölf Jahren eine Rekorddauer erreicht, aber von einer Einigung ist man – trotz aller sporadischen Bemühungen der Politik auf höchster Ebene – noch immer sehr weit entfernt. Offenbar gibt es tiefsitzende strukturelle Gründe, warum kein Fortschritt zustande 92 Karl-Heinz Paqué kommt. Es sind aus meiner Sicht im Wesentlichen drei Gründe, die der laufenden Doha-Runde ein Schneckentempo auferlegen. Der erste Grund liegt im Erfolg der früheren Runden: Das globale Zollniveau ist – wie immer man es misst – längst im historischen Vergleich relativ niedrig. Dies gilt allemal für die Länder der OECD, also grob gesprochen den „Club der Reichen“ in der Weltwirtschaft. Es gilt aber in zunehmendem Maße auch für die großen schnell wachsenden Entwicklungs- und Schwellenländer, die im Zuge ihrer Öffnung wesentliche Schritte in Richtung Zollsenkung unilateral, also freiwillig vollzogen. Was an Handelshemmnissen noch verbleibt, das liegt inzwischen vor allem auf administrativer und regulativer Ebene. Diese allerdings zum Gegenstand von Verhandlungen zu machen, ist überaus schwierig, denn es geht dann oftmals um tiefe Eingriffe in Bereiche der Praxis von Politik und Verwaltung, die als klassische Domäne nationaler Souveränität betrachtet werden. Jede Nation oder Handelszone hat dabei ihr „Steckenpferd“: Deutschland und die EU ihre gesundheitlichen und ökologischen Normen, Japan seine überaus restriktiven Regulierungen des Einzel- und Großhandels im eigenen Land, China seine laxe Handhabung intellektueller Eigentumsrechte, die Vereinigten Staaten die Vergabepraxis militärischer Aufträge etc. etc. Hier ist Fortschritt, was Verhandlungstechnik und Interessen betrifft, sehr viel schwieriger als bei der schlichten linearen Senkung der Zolltarife, die zu früheren Zeiten im Vordergrund stand. Der zweite Grund liegt im Strukturwandel derjenigen Volkswirtschaften, die den Hauptteil der Dynamik des globalen Wirtschaftswachstums und der Zunahme des Welthandels in den letzten beiden Jahrzehnten beigetragen haben (und wohl auch in der Zukunft beitragen werden). Die großen wachsenden Entwicklungs- und Schwellenländer, allen voran China und Brasilien, aber zunehmend auch Indien, werden selbst immer mehr zu Industrienationen, deren wirtschaftliche Schwerpunkte nicht mehr in jenem Sektor liegen, der weltweit über das höchste Maß an Protektion gebietet: die Landwirtschaft. Insofern verlieren sie selbst – ähnlich wie früher die „alten“ Industrieländer bereits gegen Ende des 19. Jahrhunderts – das vitale Interesse an Zollsenkungen auf Agrarprodukte. Global betrachtet macht der Handel mit Agrarprodukten im Übrigen nur mehr rund 10 Prozent des gesamten Welthandels aus. Die eigentliche Dynamik der Weltwirtschaft findet also trotz Agrarprotektionismus statt. Dies ist übrigens ein Zu- Transatlantischer Freihandel 93 stand, der dem des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts ähnelt, als eine Reihe von damals jungen Industrienationen (darunter das Deutschland von Bismarck und Wilhelm II.) zwar hohe Agrarzölle erhob, diese aber der zügigen Integration der Länder in die Weltwirtschaft nicht wesentlich entgegenstanden, denn die eigentliche Dynamik kam damals (und kommt heute) aus dem industriellen Wachstum von Ländern, die nachziehen und aufholen. Der dritte Grund ist ein politischer Stimmungswandel, der seit den späten 1990er Jahren in den westlichen Industrienationen – und allemal in Deutschland – Platz greift. Was globale Belange betrifft, rücken immer stärker Fragen der Ökologie und des Klimawandels in den Vordergrund, gepaart mit Sorgen über die Verlagerung von Produktionsstätten in Entwicklungs- und Schwellenländer, die durch die laxeren Umweltschutzvorschriften in diesen Ländern begünstigt sein können. Ähnliches gilt für sozialstaatliche Regelungen, die den Einsatz von Arbeit verteuern. Weit verbreitet ist deshalb die Befürchtung, es käme durch den internationalen Handel und die globale industrielle Verflechtung zu „Ökodumping“ bzw. „Sozialdumping“, was beides wichtigen Zielen der Menschheit zuwiderliefe. Es ist deshalb ein mächtiger Widerstand gegen die weitere Globalisierung entstanden, der sich vor allem über supranational tätige nicht-staatliche Organisationen wie Greenpeace oder Attac den Weg bahnt. Wie stark deren direkter politischer Einfluss tatsächlich ausfällt, ist schwer zu sagen, kann aber auch dahinstehen. Denn entscheidend ist wahrscheinlich ohnehin ihre indirekte Wirkung: Sie verändern das gesellschaftliche Klima, und zwar eindeutig weg von der Priorität, den Freihandel weiter zu forcieren. Entsprechend vorsichtig werden alle politischen Kräfte, sich den Freihandel offensiv als programmatisches Ziel auf die Fahnen zu schreiben. Dies gilt ganz offensichtlich für sozialistisch, sozialdemokratisch oder grün-ökologisch orientierte Parteien, aber auch zunehmend für Vertreter einer bürgerlich-liberalen Orientierung. Es ist wichtig sich klarzumachen, dass alle drei genannten Gründe für das Stocken des Fortschritts zum Freihandel langfristig-struktureller Art sind. Sie werden nicht so schnell verschwinden, weil die gesellschaftlichen Grundkonstellationen, die sie bedingen, sehr stabil sind. Sie werden sich eher noch verstärken, und zwar mit dem weiteren Wachstum und Strukturwandel der Entwicklungs- und Schwellenländer hin zu Industrienationen und dem Wandel der Industrienatio- 94 Karl-Heinz Paqué nen selbst zu einer – tatsächlich oder vermeintlich – post-materiellen Werthaltung und Mentalität, die ökologische und soziale Bedenken besonders ernst nimmt oder zumindest behauptet, dies zu tun. Salopp formuliert: Die Großwetterlage für die globale Liberalisierung des Handels wird eher schlechter als besser. Es ist deshalb völlig offen, wie überhaupt die Doha-Runde zu einem erfolgreichen Ende geführt werden könnte. Eine solche Stagnation ist sicherlich keine Katastrophe für den Liberalismus. Denn zu viel ist an Freihandel erreicht worden, als dass selbst die skeptischen Kräfte bereitstehen könnten, die Erfolgsgeschichte des Welthandels und der WTO mit brachialer politischer Gewalt zurückzudrehen. Jedenfalls ist ein Rückfall, wie er mit dem Ersten Weltkrieg, der Zwischenkriegszeit und dem Zweiten Weltkrieg stattfand, heute wohl doch sehr unwahrscheinlich. Ihn zu beschwören wäre düstere Schwarzmalerei. Gleichwohl spreche ich von (schleichender) Krise. Der Grund ist zunächst eher polit-psychologisch als ökonomisch: Eine Welt, in der das freie Austauschen von Waren und Dienstleistungen über nationale Grenzen hinweg den Stellenwert eines zentralen gesellschaftlichen und globalen Ziels verliert, läuft Gefahr, sich generell von einer konstruktiv-kooperativen Haltung zu entfernen, und zwar sowohl innen- als auch außenpolitisch. Das wilhelminische Kaiserreich liefert ein anschauliches, wenn auch sicherlich extremes Beispiel dafür: Die Ideale der bürgerlichen Selbstverantwortung und der Völkerverständigung, wie sie in der Revolution von 1848 ihren Höhepunkt fanden, verblassten im Kaiserreich, gewissermaßen pari passu mit dem Ideal des Freihandels. Und mit ihnen verblasste die Vorstellung, dass globales Wachstum und weltweite Integration ein „Positivsummenspiel“ sind, von dem letztlich alle profitieren. Stattdessen begannen aggressive imperialistische Träume an Gewicht zu gewinnen: die Vorstellung, man müsse einen „Platz an der Sonne“ erobern, und das ginge nur auf Kosten anderer (damals vor allem: Großbritanniens). Die Gefahren sehen heute natürlich anders aus als damals. Ich sehe die Hauptgefahr in der Gewichtsverlagerung in der Weltwirtschaft und in den sie tragenden internationalen Organisationen, namentlich der WTO. Tatsächlich wachsen mit Ländern wie China, Indien, Brasilien und Indonesien heute potenzielle wirtschaftliche Riesen in die weltwirtschaftliche Arbeitsteilung, die keineswegs – wie die Länder Europas und Nordamerikas – aus einer gefestigten liberalen Tradition der Transatlantischer Freihandel 95 Gesellschaftspolitik kommen. Die Lage ist insofern ganz anders als im 19. Jahrhundert: Damals war der lange bewunderte Pionier des Freihandels und der Industrialisierung Großbritannien – eine Nation also, die schnell als Mutterland des Liberalismus galt und seither immer geblieben ist. Ihm folgten damals Nationen wie Frankreich und das junge Deutsche Reich, genau weil der Freihandel als ein so attraktives und erfolgreiches Konzept erschien, dass man ihn – jedenfalls zunächst – als Ordnungsrahmen übernahm. Erst als sich auch damals die Gewichte zu verlagern begannen, gewann auch das etatistische Denken an Raum, etwa ab den späteren 1870er Jahren. Heute ist die Gewichtsverlagerung überall statistisch ablesbar, und sie geht hin zu Ländern, die eine lange Tradition des Protektionismus haben und seit ihrer Öffnung eine eher neomerkantilistische Politik betreiben. Klassisches Beispiel dafür ist das noch immer formal kommunistische China. Ganz offensichtlich geht es dort der Politik nicht darum, Idealen der Freiheit zu folgen, sondern die Weltmärkte erfolgreich mit eigenen Produkten zu beliefern und damit die grundlegende Industrialisierung und schließlich Modernisierung des Landes zu betreiben. Ein „ideologisches Bekenntnis“ zu den Prinzipien eines freien Handels mit fairen Wettbewerbsbedingungen und dem Schutz des privaten Eigentums bis hin zu den „intellectual property rights“ wird man in der politischen Grundphilosophie des Landes kaum finden. Und sollte ein solches Bekenntnis doch ausgesprochen werden, so ist auf lange Sicht ein gewisses Misstrauen berechtigt, wie tief die Bindung an freiheitliche Prinzipien wirklich geht. Ähnliches lässt sich für die große Mehrzahl der Entwicklungs- und Schwellenländer festellen, die in den nächsten Jahren die Dynamik der Weltwirtschaft beherrschen werden. Die historischen Gründe sind im Einzelfall ganz unterschiedlich – in Brasilien zum Beispiel die Reste einer stark populistischen Tradition, wie sie in Lateinamerika üblich ist, in Indien ein lokales Klientel- und Kastendenken, das trotz stabil funktionierender Demokratie noch lange nicht verschwunden ist. Kurzum: Im Club der großen Nationen der Weltwirtschaft werden immer mehr Länder Mitglied sein, denen es noch auf absehbare Zeit an einem soliden Fundament des freiheitlichen Denkens fehlt. Die Marktwirtschaft und der „Kapitalismus“ sind dort sehr junge Pflanzen, deren Wurzeln noch nicht sehr tief in das Wertesystem der Bevölkerung und der politischen Eliten hineinreichen. Von dort ist jedenfalls 96 Karl-Heinz Paqué keine Wiederbelebung jenes kraftvollen Impulses liberalen Denkens zu erwarten, wie er sich im Zuge der Integration Europas und Nordamerikas in die Weltwirtschaft bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts entwickelte. So positiv also die globale Wirtschaftsdynamik für sich genommen sein mag – als Weg in den Wohlstand in vielen vormals bitterarmen Regionen der Welt –, so wenig lässt sich von ihr eine Festigung der Welthandelsordnung erwarten. 2 Therapie: Transatlantisches Freihandelsabkommen Soweit die Diagnose des globalen Status quo. Was hat nun ein transatlantisches Freihandelsabkommen damit zu tun? Die Antwort lautet: sehr viel. Die Gründe sind dabei wirtschaftlich und politisch, allerdings mit einem klaren Übergewicht des Politischen. Beginnen wir gleichwohl mit der ökonomischen Seite. Zunächst gilt es festzuhalten: Selbst heute noch entfallen auf Europa plus Nordamerika – oder genauer: die Europäische Union (plus assoziierte Nicht-EU-Mitgliedstaaten) und die NAFTA („North Atlantic Free Trade Association“ mit den Vereinigten Staaten, Kanada, Mexiko) etwa 50 Prozent des Welthandels. Und dies nach immerhin fast drei Jahrzehnten des kräftigen Wirtschaftswachstums einiger riesiger Entwicklungs- und Schwellenländer, verbunden mit deren höchst dynamischer Integration in die Weltwirtschaft. Es besteht natürlich kein Zweifel, dass der Handelsanteil Europas und Nordamerikas in den kommenden Dekaden im Trend weit unter die 50-Prozent-Marke sinken wird. Gleichwohl wird er substanziell bleiben – zumal dann, wenn es der Eurozone schließlich doch gelingt, aus der derzeitigen Schuldenkrise herauszukommen und irgendwann wieder auf einen einigermaßen stabilen Wachstumspfad zurückzufinden. Hinzu wird kommen, dass sich spätestens in zwei bis drei Jahrzehnten das Wachstums- und Aufholtempo von Ländern wie China und Brasilien und vielleicht auch Indien deutlich verlangsamen wird – wie stets in Volkswirtschaften, die sich im Lebensstandard den Spitzenniveaus der Welt nähern. Irgendwann werden die Handelsgewichte einem neuen einigermaßen stabilen Zustand zustreben, von dem heute noch niemand weiß, wo genau er liegt. Gleichwohl ist es absolut plausibel zu unterstellen, dass selbst in diesem neuen Handelsgleichgewicht Nordamerika und Europa weiterhin auch quantitativ bedeutende Akteure sein werden. Transatlantischer Freihandel 97 Hinzu kommt die qualitative Dimension, die für Europa und Nordamerika noch zunehmend an Gewicht gewinnen wird. Sieht man von Japan, Australien und Neuseeland ab, so wird in keiner Region der Welt der Druck in Richtung der Entwicklung zu wissens- und innovationsintensiver Produktion größer sein als in Europa und Nordamerika. Der Grund liegt auf der Hand: In der neuen globalen Arbeitsteilung, in der immer mehr bevölkerungsreiche Entwicklungs- und Schwellenländer den Bereich industrieller Massenherstellung bis hin in die Bereiche höherer Technologien beherrschen, müssen die global führenden Nationen – wollen sie an der Spitze bleiben – ihre Produktpalette in Richtung der qualitativ höchstwertigen Waren und Dienstleistungen weiterentwickeln. Der weltwirtschaftliche Strukturwandel bleibt also weiterhin, was er heute schon ist: eine Art Wettrennen der Innovations- und Imitationskraft. Ergebnis wird sein, dass Europa und Nordamerika immer mehr zum Ort des qualitativen Wachstums werden. Dies gilt gerade auch dann, wenn – wie derzeit in den USA – ein Trend zur Re-Industrialisierung einsetzt, der bestimmte Produktionslinien, die früher ins Ausland verlagert wurden, wieder in die USA zurückholt. Denn dies werden wahrscheinlich genau jene Produktionslinien sein, die aufgrund der Nähe staatlicher und privater Forschung und Entwicklung florieren und damit auch zur Innovationskraft des Landes beitragen. Ähnliches gilt für allfällige Bemühungen in den Krisenländern der Eurozone, durch Stärkung einer exportfähigen Industrie nach Platzen der Immobilienblasen zu einem nachhaltigen Wachstum zurückzukehren. Kurzum: Quantitativ und qualitativ bleiben Europa und Nordamerika – trotz eines Verlusts an relativer Bedeutung, was die Anteile am Welthandel betrifft – überaus wichtige „global player“. Hinzu kommt ihre Funktion als das, was man wirtschaftliche Pioniere nennen könnte: Gerade wegen der hohen Wissens- und Innovationsintensität ihrer Produkt- und Exportpalette werden sie in vielen neuen Produktbereichen die ersten sein, die auf völlig neuartige Fragen der internationalen Handelsordnung stoßen. So ist zum Beispiel die schon traditionelle Führungsrolle der USA im Kampf für den Schutz intellektueller Eigentumsrechte nur zu verstehen mit Blick auf die besondere Interessenlage weltweit agierender amerikanischer Produzenten vor allem in der Softwarebranche. Niemand kann genau voraussehen, welche neuen Produktionszweige eine innovationskräftige Wissensgesellschaft 98 Karl-Heinz Paqué hervorbringt, aber dass es welche geben wird, ist hochwahrscheinlich. Insofern wird die wirtschaftliche und handelspolitische Pionierrolle Europas und Nordamerikas erhalten bleiben, vielleicht sogar noch akzentuiert. Ein Freihandelsabkommen zwischen den USA und der Europäischen Union betrifft also durchaus zwei Industrieregionen der Welt, die auf Dauer von großer ökonomischer Bedeutung sind. Höchst spekulativ ist allerdings die Frage, wie stark die Wachstumsimpulse für Nordamerika und Europa ausfallen, wenn es tatsächlich zu einem solchen Abkommen kommt. Hier ist Vorsicht geboten, denn es handelt sich um einen letzten – wenn auch wichtigen – Schritt hin zur Integration zweier Großregionen, die bereits heute relativ stark miteinander über den Handel verwoben sind. Substanzielle Handelshemmnisse gibt es vor allem im Agrarbereich, wo die USA und die Europäische Union über Jahrzehnte zwei unterschiedliche Varianten des Protektionismus verfolgt haben und wo derzeit, was den Einsatz neuer Technologien betrifft, die Wege weit auseinander laufen. Dies gilt vor allem für den Einsatz von Hormonen in der Fleischproduktion und die Grüne Gentechnik, die in den USA zur Standardtechnologie der Agrarwirtschaft gehört, in Europa aber mit großer Skepsis betrachtet wird. Tatsächlich spricht die Geschichte der Europäischen Integration eher dafür, die Wachstumsimpulse des Freihandels bestenfalls als moderat und sehr langfristig einzustufen. Man erinnert sich an viele höchst optimistische Prognosen, die Ende der 1980er Jahre mit Blick auf die Vollendung des Europäischen Binnenmarktes gemacht wurden und allesamt nicht eintrafen. Der Grund liegt auf der Hand: Auch Europa war Ende der 1980er Jahre schon hochintegriert, und der letzte große Schritt der Liberalisierung brachte deshalb weit weniger an Wachstumsdynamik als analoge Schritte bis in die 1970er Jahre, die zur Öffnung vormals strikt geschlossener Märkte führten. Aus diesen Gründen liegen letztlich doch die wichtigsten Argumente für eine transatlantische Freihandelszone auf der politischen Ebene. Dies gilt insbesondere, wenn man die Zukunft der Welthandelsordnung in den Blick nimmt: Nicht das eher marginale zusätzliche Wachstum zweier industrieller Großregionen zählt, sondern die politischen Chancen, die sich daraus ergeben. Sie bestehen im Wesentlichen aus drei Aspekten: Transatlantischer Freihandel – – – 99 Eine transatlantische Freihandelszone signalisiert weltweit, dass der Freihandel ein zentrales politisches Ziel bleibt. Dies ist überaus wichtig in einer Zeit, in der andere globale Probleme wie der Kampf gegen den Klimawandel den Freihandel auf der politischen Agenda der industrialisierten Welt verdrängt zu haben scheinen. Das Signal hat sehr langfristige Bedeutung: Es macht klar, dass mit der Etablierung einer funktionierenden WTO, die mit fast 160 Mitgliedstaaten mehr als 90 Prozent des Welthandels abdeckt, der Kampf für den freien Austausch von Waren und Dienstleistungen keineswegs beendet ist. Sie liefert damit eine politische Botschaft von überragender Bedeutung: Die liberalen Pioniere der Industrialisierung setzen einen hohen Standard mit Vorbildcharakter für die übrige Welt. Eine transatlantische Freihandelszone ist eine Art Labor für die Lösung künftiger Handelsfragen, die sich im multilateralen Rahmen der WTO derzeit nicht vernünftig angehen lassen. Im Dialog zwischen zwei großen (und schon hochintegrierten) Wirtschaftsräumen sind sie dagegen möglicherweise lösbar und liefern, wenn sie tatsächlich gelöst werden, eine Art Blaupause für multilaterale Verhandlungen in der ferneren Zukunft. Fragen der Grünen Gentechnik (mit der EU als Bremser) oder militärischer Aufträge (mit den USA als Bremser) sind Beispiele dafür. Die überschaubare Zahl von Konfliktfeldern und Interessen sowie der bereits erreichte hohe Grad der Integration mögen dabei helfen, eine Einigung durch Bündelung und Kombination von Themen in bilateralen Verhandlungen zu erzielen. Eine transatlantische Freihandelszone liefert eine positive „strategische“ Vision eines gemeinsamen Weges zweier Großregionen, die einem gemeinsamen Wertesystem der Freiheit verbunden sind. An solchen visionären Initiativen hat es in den letzten Jahren zwischen den USA und Europa gemangelt: Die amerikanische Politik setzte eindeutig den Schwerpunkt auf die Entwicklungen der Beziehungen zu anderen Regionen der Welt, vor allem dem ostasiatischen Pazifikraum. Und Europa versank in der Folge der Finanz- und Schuldenkrise in einer innereuropäischen Diskussion, die sich weit von Fragen der Rolle Europas als Träger von Werten der Freiheit entfernte. 100 Karl-Heinz Paqué Das Projekt einer Freihandelszone stünde als Initiative im Rang nicht weit hinter der militärischen Zusammenarbeit in der NATO. Den großen Chancen einer politischen Initiative stehen Risiken gegenüber. Es ist realistisch anzunehmen, dass Verhandlungen über eine transatlantische Freihandelszone sich über Jahre hinziehen werden. Denn selbst die überschaubare Zahl von Konfliktfeldern liefert weite Bereiche für harte Auseinandersetzungen, wie die lange Geschichte des Protektionismus in der Flugzeugindustrie gezeigt hat. Gleichwohl zeigt gerade auch die Erfahrung mit der industriepolitisch schwierigen „Causa Airbus/Boeing“, dass Kompromisse letztlich ein Gebot der politischen Klugheit sind und erreicht werden können, wenn ein hinreichend starker Wille zur Einigung da ist. Vielleicht bietet die zweite Amtszeit des amerikanischen Präsidenten Barack Obama eine einmalige historische Chance, diesen Willen in den USA zu mobilisieren. Obama wird sich – da sind sich alle Beobachter einig – in dieser Amtszeit verstärkt den europäischen Partnern Amerikas zuwenden, nachdem er in seiner ersten Amtszeit das Schwergewicht eindeutig auf den pazifischen Raum gelegt hatte (und ohnehin innenpolitische Projekte seine Agenda beherrschten). Hinzu kommt, dass im Zusammenspiel der Institutionen der amerikanischen Demokratie der Präsident – in Abgrenzung zum Kongress – traditionell die Rolle des Freihandelsbefürworters einnimmt. Es liegt nahe, dass in einer zweiten Amtszeit ohne die Möglichkeit der Wiederwahl diese Rolle wieder stärker in den Blick rückt. Auch in Europa stehen die Zeichen nicht schlecht – trotz, vielleicht sogar wegen der Schuldenkrise. Immerhin brauchen vor allem die Krisenländer der Eurozone einen Integrations- und Wachstumsschub, der ihnen erlaubt, von der übermäßigen Binnenmarktorientierung des letzten Jahrzehnts wegzukommen und eine leistungs- und exportfähige Industrie aufzubauen. Eine verstärkte Öffnung des nordamerikanischen Marktes für preiswerte Industrieprodukte könnte gerade nach einer Verbesserung der Lohnstückkosten durch die derzeit laufende Deflationspolitik höchst erwünscht sein. In dieser Hinsicht drängen sich sogar Parallelen zum Marshall-Plan in den 1950er Jahren auf: Wie damals geht es heute um die Re-Integration von Teilen Europas in die Weltwirtschaft, und da spielt der transatlantische Handel eine wichtige Rolle. Transatlantischer Freihandel 101 Fazit: Die Chancen überwiegen die Risiken bei Weitem. Klar ist allerdings, dass ein Projekt dieser Art, ist es einmal auf dem Verhandlungsweg, nicht scheitern darf. Denn sonst kehren sich die positiven Signale und Botschaften genau in ihr Gegenteil um. Dies verlangt auf beiden Seiten des Atlantiks große Führungskraft und harte Prioritätensetzung. Die Erfahrung lehrt nämlich, dass gerade die detailüberladenen Verhandlungen zu internationalen Handelsfragen ohne politische Impulse von höchster Ebene eine Tendenz haben, im Sande steckenzubleiben. Ein Startsignal kommt also nur infrage, wenn auch die nötige Einsatzbereitschaft vorhanden ist, die Verhandlungen in überschaubarem Zeitraum zum erfolgreichen Ende zu führen. Dies muss die Politik in Brüssel und Washington sehr bald entscheiden. Moderne Entwicklungspolitik als Zukunftsinvestition 103 Hans-Jürgen Beerfeltz Von der Patenschaft zur Partnerschaft – Moderne Entwicklungspolitik als Zukunftsinvestition 50 Jahre Entwicklungshilfe haben es nicht vermocht, das Wohlstandsgefälle zwischen den wirtschaftlich entwickelten Industrieländern und den ärmsten Staaten der Welt erheblich zu verringern. Jedes Jahr sterben acht Millionen Menschen an Hunger. Armut, Migration, Klimawandel, staatliche Fragilität und instabile Märkte berauben viele Millionen Menschen ihrer Zukunftsperspektiven. Ein „Weiter so“ der Entwicklungspolitik konnte es so nicht geben. Die deutsche Entwicklungspolitik hat daher unter liberaler Führung die Weichen neu gestellt. Die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts sind Fragen globaler Entwicklung. Entwicklungspolitik wird in der Zukunft nicht danach bewertet werden, wie altruistisch sie ist oder mit wie viel Geld sie die ärmeren Teile der Welt fördert, sondern danach, wie wirksam sie ist und ob sie Veränderungen erreichen kann. Wir haben das Ziel, die Menschen in Entwicklungs- und Schwellenländern dabei zu unterstützen, ihre Lebensbedingungen zu verbessern. Wir wollen nicht unsere Hilfe oder uns selbst unersetzlich machen – eine erfolgreiche Entwicklungszusammenarbeit bedeutet für uns ganz im Gegenteil, unsere Arbeit langfristig überflüssig zu machen. Wir möchten, dass die Menschen in den Entwicklungsländern die Chance haben, in Freiheit und Eigenverantwortung ihr Leben zu gestalten. Wir möchten, dass die Regierungen in den Kooperationsländern aus eigener Kraft Rahmenbedingungen für den Wohlstand ihrer Bürger schaffen können und dabei verantwortlich mit der ihnen von den Bürgern geliehenen Macht umgehen. Und wir möchten, dass diese Länder starke Wirtschaftspartner werden, die ihren Platz im Welthandel finden und an der globalen Entwicklung teilhaben. Kurz: Wir wollen nicht die Entwicklungshilfe fördern – und damit bestehende Verhält- 104 Hans-Jürgen Beerfeltz nisse festigen –, sondern die Entwicklungspotenziale. Unsere Politik steht für partnerschaftliche Kooperation auf Augenhöhe, sie behandelt Partner als Mündige und macht sie selbstständig. Sie eröffnet damit Menschen die Chance, ein Leben in Freiheit und Eigenverantwortung zu führen. Eigenverantwortung und Chancengerechtigkeit sind die Schlüsselbegriffe, um nachhaltige Verbesserungen der Lebensverhältnisse zu erreichen. Das wird uns nicht von einem Tag auf den anderen gelingen, und wir werden das auch nicht alleine bewerkstelligen können. Aber wir haben bedeutende Schritte hin zu einer Neuausrichtung der deutschen Entwicklungspolitik getan und sowohl strukturelle als auch konzeptionelle Reformen vollzogen. Wertegeleitete Interessenpolitik Entwicklungspolitik ist für uns keine karitative Hilfe – sie ist eine Zukunftsinvestition im Interesse aller. Mangelnde Lebenschancen anderswo werden auch unseren Wohlstand hierzulande bedrohen – zum Beispiel durch Ressourcenknappheit, durch unfreiwillige Migration oder durch terroristische Bedrohungen. Die klassische Entwicklungshilfe hat leider nicht die erhoffte nachhaltige Verbesserung der Lebenschancen bewirkt. Eine Entwicklungspolitik, die sich als werteund interessengeleitete Zukunftsinvestition versteht, hat ein größeres Potenzial, nachhaltige Veränderungen in Gang zu setzen. Werte und Interessen sind für uns grundsätzlich keine Gegensätze. Unsere Werte konkretisieren sich in den Menschenrechten: Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Unser Engagement und unsere ganze Anstrengung sind darauf ausgerichtet, Menschen die Freiheit von Furcht und Not zu ermöglichen und ihnen Chancen zu schaffen, ihre Lebensumstände zu verbessern und eigene Ziele und Rechte zu verwirklichen. Wir wollen uns daran messen lassen, ob wir mit unserem Handeln diesen Idealen von Freiheit und Rechtsstaatlichkeit genügend Rechnung tragen. Wir haben daher die Menschenrechte zum Leitprinzip der deutschen Entwicklungspolitik gemacht. Im Rahmen eines verbindlichen Konzeptes „Menschenrechte in der deutschen Entwicklungspolitik“ haben wir im BMZ eine Art „Menschenrechts-TÜV“ eingeführt. Damit prüfen wir alle bilateralen staatlichen Neuvorhaben auf ihre Moderne Entwicklungspolitik als Zukunftsinvestition 105 menschenrechtlichen Wirkungen und Risiken. Menschenrechte sind für uns nicht ein Thema unter vielen anderen, sondern als Querschnittsthema das Thema, das bei jedem Projekt mitgedacht wird und bei jedem Regierungsgespräch auf der Tagesordnung steht. Wir haben damit die Wahrung der Menschenrechte zum zentralen Kriterium für unsere Zusammenarbeit gemacht und ein Stück weit die „Versäulung“ der Entwicklungsarbeit beendet. Ein zweites ist mir wichtig: Deutschland hat legitime Interessen. Sie stehen nicht in einem Gegensatz zu unseren Werten, das Gegenteil ist richtig: Wir haben Interesse an einem Leben in Freiheit und Frieden und daran, unseren Wohlstand zu erhalten. Folgen von Fehlentwicklungen machen nicht an Grenzen halt. Es ist daher in unserem eigenen Interesse, in der Welt für Rechtsstaatlichkeit einzutreten, offene Gesellschaften zu unterstützen, zu unternehmerischem Handeln zu ermutigen. Unsere Entwicklungspolitik gilt daher besseren globalen Rahmenbedingungen im ökonomischen und ökologischen, im politischen und sozialen Sinn, um so auch die Armut zu beseitigen. Wenn wir dazu beitragen können, dass Globalisierung kein Schicksal ist, sondern Lebenschancen für alle birgt, dann entspricht das nicht nur unseren Werten, sondern auch unseren Interessen. Dabei gehen wir auch neue Wege. Wir nutzen das Engagement der Wirtschaft entwicklungspolitisch stärker, um Beschäftigung zu schaffen und Armut zu reduzieren. Wenn mit Hilfe der Privatwirtschaft bessere Entwicklungserfolge erreicht werden, dann gewinnen alle Beteiligten: die Menschen in den Kooperationsländern und die Menschen in Deutschland. Nachhaltige Entwicklung kann es nur mit einem funktionierenden Privatsektor geben. Die Betonung einer stärkeren Rolle von Handel und Privatwirtschaft ist dabei einer der wichtigen Aspekte einer verantwortungsvollen Entwicklungspolitik. Wirtschaft, Entwicklungspolitik und Zivilgesellschaft sind bei uns enge Partner, keine Gegensätze. Entscheidend dabei sind Rechtsstaatlichkeit, offene Gesellschaften sowie unternehmerisches Handeln im Rahmen einer fairen Marktordnung. Unsere Werte sind nicht das Gegenteil von Interessen, unsere Werte sind unsere wichtigsten Interessen. Wirtschaftliche Interessen haben dabei nicht Vorrang vor entwicklungspolitischen Zielen, sondern dienen ihnen. Wenn es zu Zielkonflikten kommt, wenn Menschenrechte bedroht sind, dann werden wir nie wirtschaftlichen Interessen den 106 Hans-Jürgen Beerfeltz Vorrang geben. Menschenrechte sind niemals Verhandlungsmasse. Und Menschenrechte sind für uns auch niemals Interpretationssache. Denn es gibt einen Kernbestand an Menschenrechten, die unbestreitbar universal gelten und nicht lediglich eine westliche Erfindung sind. Niemand will gefoltert und niemand will von einer Geheimpolizei verschleppt werden; alle Menschen wollen sich frei äußern können; alle Menschen sind hungrig auf Bildung, und alle Menschen möchten an wirtschaftlicher, sozialer und politischer Entwicklung teilhaben. Unsere liberale Entwicklungspolitik setzt sich daher ohne Vorbehalte für die Menschenrechte ein. Und kein Land kann sich mit Verweis auf „ownership“ die menschenrechtliche Einmischung verbieten. Partnerschaft auf Augenhöhe Die Eigeninteressen in der Entwicklungszusammenarbeit anzuerkennen und zu benennen, bedeutet, ehrlich mit sich und seinen Partnern zu sein. Es bedeutet, die ärmeren Länder ernst zu nehmen – als wirtschaftliche und politische Partner heute und in Zukunft. Eigeninteresse zu benennen, ist Voraussetzung dafür, dass wir unseren Partnerländern auf Augenhöhe begegnen. Barmherzigkeit kann viel Gutes bewirken, doch uns geht es um strukturelle Veränderungen. Almosen erniedrigen Menschen, statt sie zu befähigen, ihr Leben selbstbestimmt zu leben. Uns kann es daher nicht um gönnerhafte Hilfe gehen, denn das macht die einen zu edlen Spendern und die anderen zu Bettlern. Uns geht es um eine respektvolle Partnerschaft, weil wir die Menschen und ihre Würde in den Vordergrund stellen. Wir sehen die Menschen in den Entwicklungsländern nicht als Hilfsempfänger, vielmehr sind sie die Schlüsselakteure ihrer eigenen Entwicklung. Deshalb setzen wir uns ein für partnerschaftliche Zusammenarbeit und nicht für paternalistische Bevormundung: Partnerschaft statt Patenschaft! Das muss in einer Welt prinzipiell gleichberechtigter Menschen unser Imperativ sein. Umsetzung von Wirksamkeitsprinzipien Entwicklungspolitik wird in der Bevölkerung zwar als wichtig erachtet, dennoch steht sie unter einem starken Rechtfertigungsdruck. Die Bürger erwarten zu Recht, dass die Mittel für Entwicklung effi- Moderne Entwicklungspolitik als Zukunftsinvestition 107 zient und zielgerichtet eingesetzt werden. Viel hilft eben nicht unbedingt viel! Wir müssen uns von der Vorstellung verabschieden, dass Entwicklungspolitik alles leisten könnte, wenn ihr nur genügend Mittel zur Verfügung stünden. Ohne finanzielle Mittel kann Entwicklungspolitik nicht agieren, aber es kommt nicht nur auf die Summe an, sondern auf die Wirksamkeit des investierten Geldes. Wir können mit – immer begrenzten! – Steuermitteln mehr Wirkung erzielen, wenn wir Strukturen effizient gestalten, durch Evaluierungen Fehlinvestitionen in der Zukunft vermeiden und aus Fehlern systematisch lernen, uns in Abstimmung mit anderen auf bestimmte Aufgaben konzentrieren und uns auch international besser koordinieren. Die Stärkung der Wirksamkeit der Zusammenarbeit ist einer der erklärten Arbeitsschwerpunkte des BMZ. Denn der Erfolg unserer Arbeit misst sich an den erzielten Wirkungen. Mit der Fusion der technischen Durchführungsorganisationen (GTZ, InWEnt, DED) zur GIZ wurde die größte Strukturreform durchgeführt, die die deutsche Entwicklungspolitik je erlebt hat. Die Zusammenarbeit ist dadurch schlagkräftiger und wirksamer geworden; Doppelstrukturen wurden abgebaut. Unnötiger Koordinierungsaufwand entfällt, vorher zersplitterte Instrumente werden aus einer Hand, zugeschnitten auf die Kooperationsländer, angeboten und können deutlich mehr Synergien und Wirkung entfalten. Das BMZ konnte gestärkt werden, die politische Steuerung der Durchführungsorganisationen wurde deutlich verbessert. Das war ein Kraftakt, aber wir haben diesen Umbau, den die OECD aufgrund der Koordinierungs- und Effizienzverluste in der alten institutionellen Struktur seit langem angemahnt hatte, gut bewältigt. Wir haben nun eine innovative Organisation und kein Nebeneinander von Institutionen. Darüber hinaus werden durch das neu gegründete Deutsche Evaluierungsinstitut der Entwicklungszusammenarbeit (DEval) entwicklungspolitische Maßnahmen erstmals unabhängig und systematisch auf ihre Wirksamkeit, Wirtschaftlichkeit und Nachhaltigkeit evaluiert. Die Ergebnisse der Evaluierungen helfen uns, unsere Arbeit immer wieder an unserem Anspruch zu messen: Haben wir etwas bewirkt? Haben wir die Freiheit und die Lebenschancen der Menschen verbessert? Haben wir nachhaltiges Wachstum gefördert? Wir werden sicherlich nicht immer gelobt werden, aber wir werden uns immer bemühen, noch bessere Ergebnisse zu erzielen. Diese transparente Überprüfung erhöht 108 Hans-Jürgen Beerfeltz die Akzeptanz und Legitimität für das, was wir entwicklungspolitisch tun. Als weiteren Wirksamkeitsschritt haben wir die Liste der Kooperationsländer nochmals gestrafft. Wir konzentrieren unsere Arbeit auf jetzt 50 Kooperationsländer statt noch 58 wie zu Beginn der Legislaturperiode. Die Konzentration unserer Aktivitäten auf eine begrenzte Zahl von Kooperationsländern und Betätigungsfeldern macht diese wirksamer, sichtbarer und signifikanter. Und als erstes haben wir uns entwicklungspolitisch von China getrennt. Mit diesen Strukturreformen der deutschen Entwicklungszusammenarbeit konnte das gesamte Politikfeld entscheidend gestärkt werden. Dieses „Weniger ist Mehr“ entspricht den Beschlüssen der europäischen und internationalen Arbeitsteilung, die Deutschland entscheidend unterstützt und vorangetrieben hat. Denn der internationale „Aid Effectiveness“-Prozess, der in Paris 2005 seinen Anfang nahm und in Busan 2011 entscheidend ausgebaut werden konnte, formuliert Wirksamkeitsprinzipien, für die sich diese Bundesregierung mit Nachdruck eingesetzt hat: eine bessere Arbeitsteilung unter den Gebern, größere Wirksamkeit und Effizienz und eine stärkere Einbeziehung der Privatwirtschaft. Alle Wirksamkeitsdebatten bleiben aber am Ende nutzlos, wenn entwicklungsförderliche Rahmenbedingungen fehlen und keine Kohärenz mit anderen Politikfeldern gelingt. Um in der Bundesregierung die Entwicklungspolitik besser als Querschnittsthema zu etablieren, hat die Bundesregierung einen Ressortkreis zur Koordinierung der ODA (Official Development Assistance) ins Leben gerufen – unter Leitung des BMZ! Politikkohärenz ist gerade dann wichtig, wenn es um die Abstimmung zwischen Außen-, Sicherheits- und Entwicklungspolitik geht, wie in Afghanistan und anderen fragilen Staaten. Hier zeigt sich, dass Entwicklungspolitik ein Schlüsselbereich für den Zukunftsaufbau in vielen Staaten ist. Das gilt gleichermaßen für Konflikte zwischen Agrarpolitik und Entwicklung einheimischer Märkte in unseren Partnerländern oder mit der Wirtschaftspolitik beim Thema Rüstungsexporte. Moderne Entwicklungspolitik als Zukunftsinvestition 109 Stärkung der Zivilgesellschaft Trotz aller Wirksamkeitsstrategien kann der Staat alleine die Herausforderungen von Entwicklung nicht bewältigen. Eine gelungene Entwicklung erfordert daher die Mobilisierung aller gesellschaftlichen Kräfte. Ohne Zivilgesellschaft und Wirtschaft geht es nicht – weder bei uns noch in den Partnerländern. Es ist deshalb ein zentrales Anliegen unserer liberalen Entwicklungspolitik, diese Kräfte zu mobilisieren und zu stärken! Freiheit und Eigenverantwortung sind zentrale Bestimmungselemente unserer Entwicklungspolitik, und die lassen sich nicht staatlich verordnen, sondern müssen gesamtgesellschaftlich über Grenzen hinweg entwickelt werden. Das neue BMZ fördert die Auslandsarbeit der Kirchen, der politischen Stiftungen und der Nichtregierungsorganisationen mit erheblichen zusätzlichen Mitteln. Diese Träger leisten wichtige Beiträge in der Entwicklungszusammenarbeit – sowohl in den Entwicklungsländern als auch in der entwicklungspolitischen Bildungs- und Informationsarbeit in Deutschland. Zur Stärkung dieser Arbeit haben wir die finanzielle Förderung der zivilgesellschaftlichen Programme von 602 Millionen Euro (2009) auf 725 Millionen Euro 2012 deutlich erhöht. Mit dem vom BMZ aufgelegten „Demokratiefonds“ konnten politische Stiftungen zum Beispiel ihre seit vielen Jahren bestehenden Kontakte in den arabischen Ländern nutzen und mit gezielten Projekten den „Arabischen Frühling“ unterstützen. Deutschland war damit das erste EULand, das die zivilgesellschaftlichen Kräfte in diesen Ländern stärkte. Die Kirchen können über ihre weltweiten Partnerstrukturen selbst unter den schwierigen Rahmenbedingungen eines Konfliktlandes wie der Demokratischen Republik Kongo arbeiten. So fördert der Evangelische Entwicklungsdienst in der Provinz Südkivu ein Projekt, das Menschenrechtsaktivisten stärkt, und ein Landwirtschaftsprojekt von Misereor im Süden des Landes hat die Ernährungssicherung gebessert. Ohne diese zivilgesellschaftlichen Partner könnte Entwicklungspolitik kaum vor Ort funktionieren. Daneben unterstützen wir auch zivilgesellschaftliche Akteure, die ihr Engagement in die Entwicklungspolitik einbringen wollen. Der entwicklungspolitische Freiwilligendienst weltwärts hat bislang rund 16.500 jungen Menschen im Alter von 18 bis 28 Jahren ermöglicht, sich in Entwicklungsländern zu engagieren und internationale Lernerfahrungen zu sammeln. Bessere Multiplikatoren für die Zukunft kön- 110 Hans-Jürgen Beerfeltz nen wir uns gar nicht wünschen! Ferner arbeiten wir enger mit den Ländern und Kommunen zusammen – als wichtigen Scharnieren zwischen Regierung und Zivilgesellschaft. Seit 2012 ist es für Bürgerinnen und Bürger sowie zivilgesellschaftliche Organisationen und Kommunen sehr viel leichter, sich entwicklungspolitisch zu engagieren. Wir haben in Engagement Global, dem Service für Entwicklungsinitiativen, die Instrumente der entwicklungspolitischen Zusammenarbeit mit der Zivilgesellschaft und den Kommunen gebündelt. Damit gibt es erstmalig in Deutschland eine zentrale Anlaufstelle für die Vielfalt des entwicklungspolitischen Engagements sowie der Informations- und Bildungsarbeit: eine Telefonnummer, eine Adresse und eine Website. Engagement Global informiert zu aktuellen Projekten und Initiativen in Deutschland und weltweit, berät Einzelne und Gruppen zu entwicklungspolitischen Vorhaben und fördert diese finanziell. Das stärkt das Engagement der Zivilgesellschaft – sowohl in den Partnerländern der deutschen Entwicklungszusammenarbeit als auch in Deutschland. Ob Vereine und Nichtregierungsorganisationen, Unternehmen und Kommunen, Lehrer und Schüler oder einfach nur interessierte Bürgerinnen und Bürger: Wir möchten jeden zum Mitmachen bewegen, der sich für Entwicklungspolitik interessiert! Das BMZ hat in den vergangenen Jahren den – oft auch kritischen – Dialog mit der deutschen Zivilgesellschaft intensiviert. Dabei verfolgen wir zwei Kernanliegen: erstens möglichst viele Bürgerinnen und Bürger dafür zu gewinnen, sich entwicklungspolitisch zu engagieren, und zweitens Zivilgesellschaft, Staat und Wirtschaft miteinander ins Gespräch zu bringen – denn um wirksam sein zu können, muss Entwicklungspolitik in der Gesellschaft verankert sein. Einbindung der Wirtschaft Besonders die professionelle Expertise der Wirtschaft ist ein wichtiger Pfeiler unseres Ansatzes. Wirtschaft und Entwicklungspolitik sind für uns wichtige Partner, keine Gegensätze wie bei früheren Regierungen. Wir haben die Privatwirtschaft in unsere Arbeit eingebunden, denn durch ihre Innovationskraft, Expertise und durch ihr Kapital leistet sie einen bedeutenden Beitrag zur Entwicklung in unseren Kooperationsländern. Moderne Entwicklungspolitik als Zukunftsinvestition 111 Wirtschaftliche Zusammenarbeit braucht günstige Rahmenbedingungen und eine leistungsfähige Privatwirtschaft. Beides ist im Fokus unserer Entwicklungszusammenarbeit. Wir tragen vor Ort durch Politikberatung dazu bei, dass sich die wirtschafts- und handelspolitischen Rahmenbedingungen und das Investitionsklima verbessern. Rechtssicherheit und Korruptionsbekämpfung sind für uns dabei von zentraler Bedeutung. Außerdem haben wir die wirtschaftspolitische Unterstützung unserer Kooperationsländer noch stärker als bisher auf ökologisch nachhaltiges und beschäftigungswirksames Wachstum fokussiert. Das große Potenzial der Wirtschaft muss und kann noch besser für die Entwicklungspolitik erschlossen werden. Deutsche Firmen haben beispielsweise in Bereichen wie Klimaschutz, Wasser, Gesundheit oder erneuerbare Energien intelligente zukunftsweisende Lösungen anzubieten, die auch für Entwicklungs- und Schwellenländer hochattraktiv sind. Und in den Entwicklungs- und Schwellenländern entstehen die Märkte der Zukunft. Lokale Wertschöpfungsketten schaffen Arbeitsplätze und Steuereinnahmen in den Kooperationsländern. Die Produktivität lokaler Unternehmen, Investitionen und verantwortungsvolles Engagement sind entscheidende Voraussetzungen für Wirtschaftswachstum in Entwicklungsländern. So schaffen wir „Win-Win“-Situationen: Auf ihrem Weg hin zu nachhaltiger Wirtschaftsentwicklung und zum Einsatz unserer weltweit führenden Technologien wollen wir Entwicklungs- und Schwellenländer unterstützen. Es geht nicht um Almosen, sondern um Entwicklung durch wirtschaftliche Zusammenarbeit. Entwicklungs- und Schwellenländer sind für uns die Märkte und Wirtschaftspartner von morgen. Das BMZ trägt dazu bei, dass deutsches Know-how sich an Herausforderungen in Kooperationsländern am Markt bewähren kann und unsere führenden Technologien angewandt und für neue Märkte fortentwickelt werden. Durch gute Regierungsführung, Korruptionsabbau, Bildung und Beratung in verschiedenen Sektoren wie z. B. der Energie- und Wasserversorgung schafft das BMZ die nötigen guten Rahmenbedingungen für die Wirtschaft. All das ist mehr als Außenpolitik. Je mehr Länder von der Globalisierung profitieren, desto mehr können starke Exportnationen wie wir profitieren. Um die Kooperation mit der Wirtschaft effektiver zu gestalten, haben wir zahlreiche Neuerungen eingeführt. Mitte 2010 haben wir im 112 Hans-Jürgen Beerfeltz BMZ eine Servicestelle für die Wirtschaft eingerichtet. Sie ist der zentrale Ansprechpartner für Unternehmer, die mit entwicklungspolitisch sinnvollen Geschäftsideen aktiv werden wollen. Wir haben zwei neue Instrumente geschaffen: Wir fördern Machbarkeitsstudien kleinerer Investitionen, und wir reduzieren Transaktionskosten bei der Vergabe kleinvolumiger Kredite. So fördern wir gezielt mittelständische Unternehmen, die direkt in Entwicklungsländer investieren wollen. Wir entsenden Verbindungsreferenten, sogenannte „EZ-Scouts“, in deutsche Wirtschaftsverbände und an deutsche Außenhandelskammern in Entwicklungs- und Schwellenländern. Sie sollen Unternehmen individuell zu Investitionsvorhaben in unseren Partnerländern beraten. Sie unterstützen vor Ort die Verzahnung von Entwicklungszusammenarbeit und Außenwirtschaft. Darüber hinaus gibt es ein ManagerTraining-Programm für Führungskräfte aus ausgewählten Entwicklungsländern. Sie werden Erfahrungen in deutschen Unternehmen sammeln. Im Gegenzug werden sie deutschen Unternehmen Kontakte in Entwicklungsländern ermöglichen. Denn wer sich kennt, kommt besser ins Geschäft! Last but not least wollen wir das bewährte Programm develoPPP.de für Entwicklungspartnerschaften mit der Wirtschaft weiter ausbauen. Dabei werden wir besonders den Mittelstand berücksichtigen. Es geht uns darum, entwicklungspolitische Ziele mit außenwirtschaftlichen Interessen so miteinander in Einklang zu bringen, dass beide Seiten, Partnerländer und Unternehmen, den größtmöglichen Nutzen erzielen. Im Mittelpunkt stehen dabei immer die Menschen in den Entwicklungsländern. Globalisierung gestalten Armut, Klimawandel, fragile Staatlichkeit sind nur einige der immensen Herausforderungen, vor denen wir stehen – und auf die wir als Bundesregierung allein keine Antworten geben können. Ihre Bewältigung erfordert eine verstärkte und wirksamere Zusammenarbeit auf internationaler Ebene. Das bedeutet, dass wir uns mit anderen Gebern besser abstimmen, aber auch, dass wir unsere Kooperationsländer stärker in die Verantwortung nehmen. So haben wir die Zusammenarbeit mit den Schwellenländern neu ausgerichtet. Wir möchten, dass wir die langjährig gewachsenen Bezie- Moderne Entwicklungspolitik als Zukunftsinvestition 113 hungen mit einer kleinen Gruppe von Schwellenländern, die weiter Unterstützung zur Bewältigung ihrer großen Entwicklungsprobleme erhalten, aber zunehmend selbst globale Verantwortung als Partner nachhaltiger Entwicklung in ärmeren Ländern übernehmen, zu einer Weiterentwicklung der Beziehungen nutzen. Mit den Ländern Brasilien, Indien, Indonesien, Mexiko und Südafrika gehen wir eine „Globale Entwicklungspartnerschaft“ ein und fokussieren auf drei Bereiche: Schutz von Klima und Umwelt, Förderung nachhaltiger Wirtschaftsentwicklung und Mitgestaltung globaler Entwicklungsagenden. Mit Ländern, die wir aus der klassischen Entwicklungszusammenarbeit „graduieren“ können, suchen wir neue Formen der Zusammenarbeit. So erhält zum Beispiel die Türkei keine neuen Zusagen mehr, Programme dort laufen aus. Wir haben auch unser entwicklungspolitisches Engagement in fragilen Staaten im Sinne einer Friedensinvestition ausgebaut. Entwicklungs- und Sicherheitspolitik sind dabei zwei Seiten einer Medaille: Es kann keine Entwicklung ohne Sicherheit, aber auch keine dauerhafte Sicherheit ohne Entwicklung geben. Da die Ursachen der Fragilität nicht allein mit entwicklungspolitischen Mitteln bekämpft werden können, haben wir die Zusammenarbeit mit den Ressorts verstärkt und mit den ressortübergreifenden Leitlinien zum Umgang mit fragilen Staaten ein Prozedere für den Krisenfall festgelegt. Afrika ist für uns ein Chancenkontinent, dessen Dynamik wir fördern wollen. Wir glauben, dass die Zukunft Afrikas vor allem in der zunehmenden politischen und wirtschaftlichen Integration liegt. Wir wollen, dass Afrika sein enormes Potenzial entfaltet – denn nur ausreichend große Märkte sind wettbewerbsfähig und können Investoren anziehen, und nur eine stabile und friedliche Region kann im Welthandel bestehen. Wir unterstützen daher den von der Afrikanischen Union beschlossenen Aufbau einer afrikanischen Friedens- und Sicherheitsarchitektur. Deutschland hat bilateral seine Hausaufgaben gemacht und die Entwicklungspolitik vom Kopf auf die Füße gestellt. Diese Positionen bringen wir auch in die europäische und multilaterale Kooperation ein. So haben wir in der Europäischen Union im Rahmen der Erstellung des sogenannten Grünbuchs „Budgethilfe“ maßgeblich darauf hingewirkt, dass die allgemeine Budgethilfe, die in Europa ja zu knapp 25 Prozent aus deutschem Steuergeld finanziert wird, von Europa nicht 114 Hans-Jürgen Beerfeltz kritik- und kriterienlos vergeben wird. Früher konnte es passieren, dass Länder, die von Deutschland keinen Cent mehr für ihr Budget bekommen hätten, weil sie regelmäßig Oppositionspolitiker oder Journalisten verhafteten, gleichzeitig von der Europäischen Union durch allgemeine Budgethilfe, finanziert durch unsere Steuergelder, unterstützt wurden. Das ist nun ausgeschlossen, weil die Europäische Union Menschenrechtsstandards und Kriterien der guten Regierungsführung als Grundlage für Budgethilfe vorsieht. Auch bei der multilateralen Zusammenarbeit wirken wir aktiv daran mit, mehr Wirkung in der internationalen Entwicklungspolitik zu erzielen. Das BMZ unterstützt Reformansätze, in denen die Entwicklungsorganisationen der Vereinten Nationen auf Länderebene ihre Zusammenarbeit strategischer, kohärenter und effizienter gestalten und Doppelstrukturen abbauen. Zum 4. High Level Forum zu Wirksamkeit in Busan konnten wir u. a. internationale Organisationen und die Europäische Kommission für eine Initiative zur Reduzierung von Fragmentierung gewinnen. Und wir müssen auch ehrlicher Rechenschaft ablegen über das, was wir tun. Das BMZ möchte auch die Verbesserung des Berichtssystems über die ODA erreichen. Bislang wird uns ein nach erfolgreichem Programmabschluss verzinst zurückgezahlter Entwicklungskredit negativ angerechnet – wenn der Kredit aber platzt, dann steigt die ODA-Quote! Das kann nicht ernsthaft unser Maßstab sein. Im Rahmen von „ODA and Beyond“ sind wir Vorreiter in der Diskussion über die Modernisierung der Erfassung von Geberleistungen. Wirksamkeitsprinzipien, wie wir sie in Deutschland umgesetzt haben, müssen auch für die internationalen Entwicklungszusammenarbeitsstrukturen gelten. Dafür muss noch viel Abstimmungs- und Überzeugungsarbeit geleistet werden, denn internationale Reformprozesse sind langwierig und schwerfällig. Wir werden uns aber weiterhin in die internationale Debatte aktiv einbringen, die Reformschritte intensiv mitgestalten und uns immer wieder als innovativer Agenda-Setter positionieren. Entwicklungspolitik als sichtbare Zukunftsinvestition Entwicklungspolitik – wenn sie wirksam und nachhaltig ist – kann die Welt verändern. Sie kann Armut bekämpfen, Umwelt und Res- Moderne Entwicklungspolitik als Zukunftsinvestition 115 sourcen schützen und letztlich Frieden sichern. Gut gemachte Entwicklungspolitik ist globale Zukunftspolitik, an Werten und Interessen ausgerichtet. Sie ist genauso entscheidend für die Zukunft der Entwicklungsländer wie für unsere eigene. Und es kommt darauf an, wie sie gemacht wird: Wenn Entwicklungspolitik als Zukunftsinvestition wahrgenommen wird, kann sie für Deutschland und für die Welt sichtbar gute Entwicklungen bewirken. Wenn Freiheit, Lebenschancen und Eigenverantwortung ihre Leitprinzipien bleiben, dann werden in Zukunft viel mehr Menschen auf der Welt ihr Leben endlich selbst gestalten können. Das ist das Ziel einer liberalen Entwicklungspolitik, und dafür tritt sie sowohl im Inland als auch im Ausland mit Nachdruck ein. Finanziell ist die deutsche Entwicklungspolitik bereits jetzt ein Schwergewicht. Deutschland ist drittgrößter Geber in der bilateralen Entwicklungskooperation weltweit, und das trotz inzwischen sinkender Bundeshaushalte. Der BMZ-Haushalt ist außerdem der zweitgrößte Investitionsetat des Bundeshaushalts. Je nachdem, in welchem Sektor ein Euro investiert wird, fließen – und zwar ohne Lieferaufbindung, im fairen Wettbewerb – bis zu vier Euro in die deutsche Wirtschaft zurück. Entwicklungspolitik darf aber kein Nischendasein führen, sondern muss in der Gesellschaft sichtbar sein. Ein Politikfeld, das in vielen Ländern der Welt die Stimme Deutschlands repräsentiert, muss auch im Inland entsprechend wahrgenommen werden. Nur eine Entwicklungspolitik, die in der Mitte der Gesellschaft verankert ist, findet das Wohlwollen von Bürgern, die dafür ihr Engagement, ihre Stimme, ihre Spende und ihre Steuergelder geben. Erfolgreiche Entwicklungspolitik ist aber nur möglich, wenn Politik, Wirtschaft und Gesellschaft an einem Strang ziehen. Wir haben in dieser Legislaturperiode bereits vieles erreicht: unsere Werte definiert und gestärkt, Strukturreformen durchgeführt, Angebote an die Zivilgesellschaft gemacht und die Wirtschaft eingebunden. Es bleibt noch viel zu tun, aber wir bleiben dran, denn wir wollen mehr Freiheit in der Welt verankern. Wir sehen unsere Arbeit als globale Zukunftspolitik – das ist der Anspruch unserer liberalen Entwicklungspolitik. Deutschland in der EU – Die EU in der Welt 117 Kerstin Brauckhoff/Hermann Otto Solms Deutschland in der Europäischen Union – Die Europäische Union in der Welt1 Freiheit, Demokratie, Rechtsstaat, Marktwirtschaft und Wettbewerb: Diese Ziele waren seit Beginn der europäischen Einigung die Basis der Interessen aller Mitgliedstaaten. Mit der Verwirklichung demokratischer und rechtsstaatlicher Ordnungen wurde die Grundlage für Wohlstand geschaffen, denn soziale Marktwirtschaft kann nur dort Wohlstand generieren, wo Recht und Ordnung die Voraussetzungen für ein freies und faires Miteinander der Bürger darstellen. Der Erfolg dieses Modells ist einzigartig und zog im Laufe der Jahre immer mehr Staaten an, die Mitglied der Erfolgsgemeinschaft Europäische Union (EU) werden wollten. Die Garantie demokratischer Rechte und die wirtschaftliche Freiheit im europäischen Binnenmarkt schufen ein Leben der Bürger der EU in Freiheit, Wohlstand und Sicherheit. Mittlerweile sind nicht nur Frieden und Sicherheit selbstverständlich geworden. Ebenso selbstverständlich ist es, dass die Bürger der EU die Freiheiten des Binnenmarktes nutzen, um ihr eigenes Fortkommen zu mehren. Dies gilt umso mehr, als Europas Besonderheit seine Vielfalt auf engem Raum ist. Europa ist reich an Geschichte, Sprachen, Kunst und Kultur. Die verschiedenen kulturellen und historischen Facetten europäischer Identität werden zusammengehalten durch gemeinsame kulturelle und rechtliche Traditionen und Wertvorstellungen, die Europa im Verlauf seiner Geschichte geprägt haben. Hierzu zählt insbesondere die -------------------------------------------1 Der vorliegende Aufsatz basiert auf dem Papier „Für ein Europa der Freiheit und der Bürger!“ der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit. Dieses Papier wurde von einer Experten-Kommission unter Vorsitz von Hermann Otto Solms und unter Beteiligung von Kerstin Brauckhoff erarbeitet und im März 2013 vom Kuratorium der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit als europapolitisches Positionspapier der Stiftung für die Freiheit beschlossen. Die Autoren haben das Papier für diesen Aufsatz an einigen Stellen überarbeitet und um eigene Gedanken ergänzt, ohne jedoch den grundlegenden inhaltlichen Charakter des Papiers zu verändern. 118 Kerstin Brauckhoff/Hermann Otto Solms mittelalterliche Ausdifferenzierung von geistlicher und weltlicher Macht, von fürstlicher und ständischer Gewalt, die zur Grundlage des westlichen Verständnisses von Freiheit, Individualismus und Pluralismus wurde. Die europäische Identität steht nicht in Konkurrenz zu nationalen, regionalen oder lokalen Identitäten seiner Bürger. Sie kann und soll diese Identitäten nicht ersetzen, sondern ergänzen. Die Freiheit, die wir durch die EU erlangt haben, ist jedoch in mehrfacher Hinsicht bedroht: Denn liberale Werte und ordnungspolitische Prinzipien bilden nicht mehr selbstverständlich die Basis des gemeinsamen Handelns aller Mitgliedstaaten. Stattdessen ist ein Trend zu immer mehr Zentralisierung, Protektionismus und marktverzerrenden staatlichen Eingriffen zu erkennen. Die Mitgliedstaaten bzw. die europäischen Institutionen geben inzwischen nicht nur einen Rahmen vor, der die Ordnung der Politik und der Märkte regelt. Sie schaffen vielmehr eine zunehmende Anzahl von Einzelregelungen, mit denen sie den Mitgliedstaaten und ihren Bürgern ein zu enges Regelungskorsett zumuten. Bei vielen dieser Vorgaben ist fraglich, ob sie überhaupt auf supranationaler, das heißt auf europäischer, Ebene notwendig und angebracht sind. Darüber hinaus sind sie nicht für alle Mitgliedstaaten gleichermaßen erforderlich und zur Anwendung geeignet. Auf diese Weise werden die Mitgliedstaaten zu Regelungen gezwungen, die erhebliche Auswirkungen auf ihre politische und wirtschaftliche Entwicklung haben. Die Konsequenzen müssen die Bürger tragen: Sie werden durch wachsende Regelungsdichte in ihren Freiheiten beschränkt und fühlen sich durch zunehmende Bürokratie und staatliche Eingriffe in ihrem täglichen persönlichen und beruflichen Leben behindert. Schließlich wenden sie sich von der EU und ihren Entscheidungen ab. Immer öfter sind kritische Stimmen zur europäischen Integration zu hören.2 Ziel des Papiers „Für ein Europa der Freiheit und der Bürger!“ der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit und dieses Aufsatzes ist es daher, die Bereiche zu analysieren, in denen die Freiheit der Bürger Europas bedroht ist. Dies gilt für die persönliche Freiheit wie auch für andere Dimensionen der Freiheit, die notwendig sind, um auch in Zukunft Wohlstand und Wachstum zu generieren. Im Anschluss an die Analyse der für die Sicherung der Freiheit bedeutenden politischen, -------------------------------------------2 Vgl. Knelangen, Wilhelm: Euroskepsis? Die EU und der Vertrauensverlust der Bürgerinnen und Bürger; in: Aus Politik und Zeitgeschichte 4/2012, S. 23-40. Deutschland in der EU – Die EU in der Welt 119 institutionellen und wirtschaftlichen Herausforderungen werden Handlungsempfehlungen gegeben. Diese sind als Anstöße zur Diskussion gedacht und sollen ähnliche Diskussionspapiere um Ideen zu einer freiheitlichen Entwicklung der EU ergänzen.3 Sie sind zu verstehen als Beitrag zur deutschen Debatte um die Rolle Deutschlands als Mitgliedstaat der EU, zur künftigen politischen und wirtschaftlichen Integration sowie zur Rolle Europas in der Welt. Die politische Entwicklung der EU Insbesondere in Deutschland wird immer wieder nach dem Ziel der europäischen Integration – nach der finalité – gefragt. Es fällt auf, dass diese Debatte in vielen anderen Mitgliedstaaten kaum geführt wird, diese vielmehr die Weiterentwicklung der EU unter pragmatischen Gesichtspunkten betrachten und eine Festlegung über die Ziele und das „Ende“ des europäischen Integrationsprozesses vermeiden. Dies wäre auch in Deutschland wünschenswert, weil eine solche Haltung dazu beitragen kann, die Polarisierung der Debatte in EuropaBefürworter und Europa-Gegner zu beenden. Die europäische Integration ist ein hohes Gut, aber sie ist kein Selbstzweck. Und es wäre verfehlt, den Prozess der europäischen Integration als linearen Prozess aufzufassen, der einen wohl definierten Abschluss – in welcher Form auch immer – haben muss. Vielmehr war und ist die europäische Integration stets ein offener Prozess. Das Besondere an diesem Prozess war stets, dass die Bürger den Prozess mitgetragen oder – wenn er den Bürgern zu weit ging oder zu schnell war – abgelehnt haben. Die europäische Einigung fand mit den Bürgern statt, nicht gegen sie. Und das muss auch in Zukunft Leitbild der Entwicklung der EU bleiben. Die Diskussion zur Zukunft der EU ist in Deutschland unter anderem dadurch geprägt, dass bei Integrationsschritten immer wieder Klagen vor dem Bundesverfassungsgericht gegen diese Integrationsschritte geführt wurden. Dabei hat das Bundesverfassungsgericht wiederholt den besonderen Charakter der EU deutlich gemacht, als es die -------------------------------------------- 3 Z. B. Auswärtiges Amt: Abschlussbericht der Gruppe zur Zukunft Europas der Außenminister Belgiens, Dänemarks, Deutschlands, Frankreichs, Italiens, Luxemburgs, der Niederlande, Österreichs, Polens, Portugals und Spaniens; Berlin 17.09.2012 (http:// www.auswaertiges-amt.de/cae/servlet/contentblob/626324/publicationFile/171784/120918Abschlussbericht-Zukunftsgruppe-Deutsch.pdf, abgerufen am 22.04.13). 120 Kerstin Brauckhoff/Hermann Otto Solms EU als „Staatenverbund“ charakterisiert hat. Nach der Definition des Bundesverfassungsgerichtes erfasst dieser Staatenverbund „eine enge, auf Dauer angelegte Verbindung souverän bleibender Staaten, die auf vertraglicher Grundlage öffentliche Gewalt ausübt, deren Grundordnung jedoch allein der Verfügung der Mitgliedstaaten unterliegt und in der die Völker – das heißt die staatsangehörigen Bürger – der Mitgliedstaaten die Subjekte demokratischer Legitimation bleiben“4. Dieses Urteil beinhaltet einige wesentliche Aspekte, die einer besonderen Erwähnung bedürfen: So betont das Bundesverfassungsgericht die Souveränität der Mitgliedstaaten. Die Errichtung eines souveränen europäischen Bundesstaates – die immer wieder in der akademischen und politischen Diskussion gefordert wird – ist demnach mit der geltenden Verfassung nicht vereinbart. Dazu verweist das Bundesverfassungsgericht auf die Ewigkeitsgarantie, wie sie im Grundgesetz der Bundesrepublik formuliert ist. Diese lautet: „Eine Änderung dieses Grundgesetzes, durch welche die Gliederung des Bundes in Länder, die grundsätzliche Mitwirkung der Länder bei der Gesetzgebung oder die in den Artikeln 1 und 20 niedergelegten Grundsätze berührt werden, ist unzulässig.“5 Soll das bestehende Grundgesetz durch eine neue Verfassung ersetzt werden, so kann das nur im Rahmen eines Volksentscheides geschehen: „Dieses Grundgesetz, das nach Vollendung der Einheit und Freiheit Deutschlands für das gesamte deutsche Volk gilt, verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist.“6 Dies bedeutet: Wer über den vom Bundesverfassungsgericht definierten Staatenverbund hinausgehen will und weitergehende Elemente der Staatlichkeit auf die europäische Ebene verlagern möchte, der müsste zuvor das Grundgesetz durch eine andere Verfassung ersetzen, die durch einen Volksentscheid zu beschließen wäre. Das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit und die Souveränität des Staatsvolkes blieben nur auf diese Weise gewahrt – zwei zentrale Bestandteile liberaler und demokratischer Ordnung. Letztlich sollte auch in Deutschland die Debatte, welche Gestalt Europa in Zukunft haben sollte, offen und ohne spezielle Vorfestlegungen geführt werden. Wie und ob sich der Staatenverbund Europa -------------------------------------------4 BVerfG, 2 BvE 2/08 vom 30.06.2009, Absatz 1. Art. 79 Abs. 3 GG. 6 Art. 146 GG. 5 Deutschland in der EU – Die EU in der Welt 121 ändern wird, hängt entscheidend von den Bürgern Europas selbst ab. Die Festschreibung einer „finalité“, eines Endes des Weges, würde dem europäischen Integrationsprozess gerade das nehmen, was seine Besonderheit ausmacht: seinen evolutionären Charakter, seine Gestaltungskraft, seine Kompetenz, auf Herausforderungen der regionalen und globalen internationalen Ordnung zu reagieren. Grundlegend für die Zukunft der europäischen Einigung ist vielmehr das Fundament der gemeinsamen Werte, die den Prozess von Anfang an bestimmt haben und die wesentlich zum Erfolg der politischen und wirtschaftlichen Integration beigetragen haben. Differenzierte Integration Die Europäische Union setzt sich heute aus 27 Mitgliedstaaten zusammen, nach dem Beitritt Kroatiens im Sommer 2013 wird die Anzahl der Mitgliedstaaten auf 28 steigen. Zur EU gehören sehr kleine Staaten wie Malta oder Zypern und große, bevölkerungsreiche Mitgliedstaaten wie Deutschland, Polen oder Frankreich. Jeder Mitgliedstaat bringt einen Teil seiner Kultur und seiner Identität in die EU mit ein. Und jeder Mitgliedstaat zeichnet sich durch Besonderheiten aus. Es liegt nahe, dass es für einen so heterogenen Staatenverbund keine für alle passende Universallösung politischer und wirtschaftlicher Probleme geben kann. Dies wäre auch nicht zielführend, vielmehr sollte jeder Mitgliedstaat die Möglichkeit behalten, flexibel und individuell auf die jeweiligen Entwicklungen im eigenen Land reagieren zu können. Macht zum Beispiel die Bekämpfung einer Wirtschaftskrise kurzfristige Reformen notwendig, wäre es nur hinderlich, zunächst die – für den Staat individuell passende – Strategie zur Lösung der Krise mit allen anderen Mitgliedstaaten der EU abstimmen und koordinieren zu müssen. Dies kostet Zeit und führt letztlich zur Verschleppung der akut notwendigen Maßnahmen. Auch eine supranationale Lösung ist nicht hilfreich, denn eine „one-size-fits-all“-Lösung, die für alle der bald 28 Mitgliedstaaten geeignet und passend wäre, ist aufgrund der Verschiedenheit der regionalen und nationalen Wirtschaftsstrukturen kaum vorstellbar.7 -------------------------------------------- 7 Vgl. dazu auch: Heinemann, Friedrich: Die Theorie der optimalen Währungsräume und die politische Reformfähigkeit – ein vernachlässigtes Kriterium; Mannheim 1998. 122 Kerstin Brauckhoff/Hermann Otto Solms Wichtig ist daher, die europäische Integration nach Tiefe und Geschwindigkeit zu differenzieren. Ein „Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten“ kann wesentlich dazu beitragen, die akuten politischen, wirtschaftlichen oder sozialen Herausforderungen zu bewältigen. Staaten, die an der Weiterentwicklung der EU nicht oder nur langsamer teilnehmen wollen, sollen dabei die anderen nicht aufhalten. Dort, wo ein gemeinsames Vorgehen nicht möglich oder nicht (mehr) erforderlich ist, erlaubt ein „Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten“ politischen Fortschritt, zeitliche Flexibilität und Rücksichtnahme auf besondere nationale Gegebenheiten. Wird die Zukunft der EU so verstanden, bliebe auch künftig innerhalb der EU Raum für Großbritannien oder andere integrationsskeptische Länder, ohne die integrationsfreudigen Mitgliedstaaten gleichzeitig auszubremsen. Mit dem Instrument der verstärkten Zusammenarbeit hat die EU eine vertragliche Grundlage geschaffen, welche die für eine differenzierte Integration notwendige institutionelle und zeitliche Flexibilität liefert. Die Notwendigkeit, flexibel auf politische Herausforderungen zu reagieren, zeigt sich insbesondere auch am Beispiel der Währungsunion. Wenn sich nach Gründung der Währungsunion zwischenzeitlich herausstellt, dass ein Land politisch und ökonomisch dem Druck einer Hartwährung nicht gewachsen und sichtlich überfordert ist, seine Wettbewerbsfähigkeit und Schuldentragfähigkeit innerhalb der Währungsunion zu gewährleisten oder herzustellen, gefährdet es den Fortbestsand der Währungsunion als Ganzes. Deshalb ist es notwendig, die Möglichkeit eines geordneten Resolvenzverfahrens zu schaffen, mit dem es den Mitgliedstaaten möglich wird, innerhalb des Euro ihre Überschuldung beherrschbar abzubauen. Darüber hinaus sollte es für Euro-Staaten eine Möglichkeit geben, sich ganz oder für eine Übergangszeit aus der gemeinsamen Währung zurückzuziehen. Sobald diese Staaten dann wieder eine solide finanzielle und strukturelle Basis für ihre Mitgliedschaft im Euro geschaffen haben, müssen sie ihr Rückkehrrecht wahrnehmen können, das jedoch an klare Konditionen gebunden sein muss. Indem eine Möglichkeit zum – temporären – Austritt aus der Gemeinschaftswährung geschaffen wird, kann ein Staat, der innerhalb der Hartwährung nicht wettbewerbsfähig ist, seine preisliche Wettbewerbsfähigkeit leichter wiederherstellen. Denn außerhalb der Währungsunion kann er seine Währung abwerten und so seine Chancen auf Sanierung vergrößern. Diese Lösung wäre keineswegs ein Deutschland in der EU – Die EU in der Welt 123 historisch einmaliger Vorgang. Zudem wäre dies ein Weg, der für die europäische Integration verträglicher wäre. Denn nur dann, wenn die Mitgliedstaaten einer Währungsunion wirtschaftlich auf eigenen Beinen stehen können und sie mit ihrer wirtschaftlichen Leistungskraft im Wettbewerb mit den anderen Mitgliedstaaten bestehen können, bleibt die Währungsunion in ihrer Gesamtheit wettbewerbsfähig und anziehend für neue Mitglieder.8 Viele Integrationsschritte sind auch dann möglich, wenn sie zunächst nur von einem Teil der Mitgliedstaaten vollzogen werden. Daneben gibt es aber einige Kernaufgaben der EU, die verschiedene Geschwindigkeiten nicht zulassen. Diese Aufgaben können nur dann für alle Mitgliedstaaten gleichermaßen effizient und effektiv gestaltet werden, wenn sie in die ausschließliche Zuständigkeit der supranationalen Ebene fallen. Die klassischen Kernaufgaben, in denen eine solche ausschließliche Zuständigkeit für die EU bereits umgesetzt ist, sind die Zollunion, die Handelspolitik und Wettbewerbsregeln für den Binnenmarkt.9 In diesen Bereichen muss die Gemeinschaft über die entsprechenden Handlungsmöglichkeiten verfügen, denn in einer globalisierten Weltordnung kann Europa seine Interessen nur wahren, wenn es in entscheidenden Politikbereichen mit einer Stimme spricht und handelt. Neben diesen Kernbereichen ist es auch in einigen anderen Politikbereichen erforderlich, dass die europäische Integration möglichst weit voranschreitet. Ein „Mehr an Europa“ ist insbesondere notwendig bei der Bewältigung der Migrations- und Asylprobleme, der Bekämpfung der internationalen Kriminalität oder der grenzüberschreitenden Umweltverschmutzung. Eine engere Zusammenarbeit ist darüber hinaus vorstellbar bei der Sicherung von Energie- und Rohstoffquellen, beim Ausbau einer europäischen Energieinfrastruktur und bei den europäischen Energieaußenbeziehungen. Eine gemeinsame Gestaltung der Politik kann auf diesen Feldern erheblich dazu beitragen, Risiken und Gefährdungen zu vermeiden. Es ist daher im Interesse aller Mitgliedstaaten, dass die Handlungsfähigkeit der EU mit den genannten Her-------------------------------------------- 8 Vgl. dazu: Born, Benjamin/Buchen, Teresa/Carstensen, Kai et al.: Austritt Griechenlands aus der Europäischen Währungsunion: historische Erfahrungen, makroökonomische Konsequenzen und organisatorische Umsetzung; München 2012. 9 Art. 3 AEUV. 124 Kerstin Brauckhoff/Hermann Otto Solms ausforderungen Schritt hält und sie den neuen Aufgaben kompetent und effizient begegnen kann. Ähnliches gilt für den Bereich der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP). Zwar fordern die europäischen Institutionen und die Mitgliedstaaten immer wieder ein gemeinsames Vorgehen in der Außen- und Sicherheitspolitik und verlangen, dass „Europa an einem Strang zieht“10. In der Realität ist jedoch festzustellen, dass dieses einheitliche Vorgehen in der Außen- und Sicherheitspolitik viel zu oft an nationalen Interessen und Besonderheiten der Mitgliedstaaten scheitert.11 Zwar gehört die Außenpolitik in der Theorie des Liberalismus zu den klassischen Staatsaufgaben,12 doch hätte eine weitgehende Integration auf die europäische Ebene weitreichende Konsequenzen: So läge am Ende des Integrationsprozesses die außen- und sicherheitspolitische Souveränität der EU in Form einer ausschließlichen Zuständigkeit auf der supranationalen Ebene. Wollte die EU dann ihrer Verantwortung gerecht werden, wären alle Mitgliedstaaten gezwungen, einen angemessenen Beitrag zu leisten. Dieser Beitrag wäre nicht nur finanzieller Art, es müssten auch entsprechende materielle Ressourcen zur Verfügung gestellt werden. Bis hin zur Übernahme von personeller Verantwortung in Krisen- und Kriegsfällen. In letzter Konsequenz wäre es erforderlich, dass der Deutsche Bundestag sein Vorbehaltsrecht über die Entsendung deutscher Soldaten bei internationalen Truppeneinsätzen aufgibt, denn eine Verlagerung der ausschließlichen Zuständigkeit an die EU würde bedeuten, dass die Mitgliedstaaten nur noch im Rahmen der europäischen Institutionen über die GASP mitbestimmen können. Ein Festhalten am derzeit noch nahezu ausschließlich praktizierten Einstimmigkeitsprinzip bei Ratsentscheidungen wäre dann ebenso nicht mehr praktikabel. Ein parlamentarisches Vorbehaltsrecht müsste dann in der Konsequenz dem Europäischen Parlament übertragen werden. Zu diesen Schritten besteht gegenwärtig weder in Deutschland noch in anderen Mitgliedstaaten eine Bereitschaft. Um dennoch zumindest in den Bereichen der GASP, in -------------------------------------------- 10 Bundeskanzlerin Angela Merkel am Randes des Europäischen Rates im März 2013: http://www.angela-merkel.de/page/103_883.htm. 11 Vgl. dazu z. B. Bendiek, Annegret: Handlungsfähigkeit durch politische Führung in der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik; in: Dies./Lippert, Barbara/Schwarzer, Daniela (Hg.): Entwicklungsperspektiven der EU. Herausforderungen für die deutsche Europapolitik; Berlin 2011, S. 60 – 69. 12 Siehe hierzu auch den Aufsatz von Michael von Prollius in diesem Band. Deutschland in der EU – Die EU in der Welt 125 denen auch eine Kompromisslösung bzw. eine Mehrheitsentscheidung grundsätzlich möglich ist, die Integration voranzutreiben, sollten daher zunächst verstärkt die Instrumente der Mehrheitsentscheidungen beziehungsweise das Konzept der „konstruktiven Enthaltung“13 genutzt werden.14 Andere Politikbereiche der EU bedürfen einer Neustrukturierung. So sollten die Ausgaben für die Strukturpolitik auf ihre Wirksamkeit überprüft und grundsätzlich degressiv gestaltet werden. Es sollte auch regelmäßig untersucht werden, inwieweit die Zuständigkeit der EU überhaupt notwendig und zielführend ist und welche Mittel aus dem Budget der EU mittel- und langfristig für die Strukturfonds zur Verfügung stehen sollten. Eine direkte, unmittelbare Mittelverwendung über die jeweils kleinstmögliche Gebietskörperschaft könnte für die Ziele der Strukturförderung möglicherweise effizienter und wirksamer sein. Die Ziele der europäischen Agrarpolitik waren bei deren Gründung im Jahr 1957 die Sicherung angemessener Lebensstandards für Landwirte, die Stabilisierung der Märkte und die Versorgungssicherheit der Bevölkerung. Diese Ziele sind angesichts liberalisierter Weltmärkte heute nicht mehr in Gefahr. Der europäische Binnenmarkt und die Weltmärkte stellen eine ausreichende Versorgung sicher. Es ist daher dringend erforderlich, die Gemeinsame Agrarpolitik stärker an den ordnungspolitischen Grundsätzen der Marktwirtschaft zu orientieren. Dem Subsidiaritätsgedanken entsprechend sollten die Mitgliedstaaten oder Regionen wieder stärker die Eckpunkte der Agrarpolitik festlegen, welche die Versorgung der Bevölkerung mit hochwertigen Nahrungsmitteln sicherstellt, unsere Kulturlandschaft erhält und gleichzeitig den Landwirten und ihren Familien eine auskömmliche und selbstbestimmte Existenzgrundlage bietet. Selbstverständlich bleibt es Aufgabe der Gemeinschaft, auch im Agrarbereich gemeinsame Wettbewerbsregeln und Qualitätsstandards vorzugeben. Darüber hinaus gilt es, bei der weiteren europäischen Integration die Heterogenität der EU und die daraus hervorgegangenen Strukturen zu berücksichtigen. Gemeinsames Handeln ist in den Kernbereichen der EU sinnvoll und notwendig, „aber wer glaubt, man könne in der -------------------------------------------13 Art. 31 EUV. Zur Ausweitung der GASP im Rahmen des Vertrages von Lissabon vgl. Lieb, Julia/Maurer, Andreas (Hg.): Der Vertrag von Lissabon. Kurzkommentar; 3. Aufl., Berlin 2009. 14 126 Kerstin Brauckhoff/Hermann Otto Solms EU die Einzelheiten der Sozialpolitik, der Lohnpolitik, der Forschungspolitik, der Technologiepolitik oder gar die Steuerung der nationalen und regionalen Konjunkturen vergemeinschaften, der hat weder das nationale Beharren noch die Produktivität dieses Beharrens begriffen.“15 Diese Produktivität aber ist notwendig für den Fortschritt und das Wachstum innerhalb der EU. Von zentraler Bedeutung für die künftige Entwicklung gemeinsamer Politik ist daher, in erster Linie das Subsidiaritätsprinzip zu achten und Kompetenzen klar und konsequent zuzuordnen. Subsidiarität als Leitbild der Integration Freiheit und Eigenverantwortung gehören untrennbar zusammen. Wenn nicht der Einzelne selbst die Verantwortung für eine Entscheidung übernehmen kann und eine Aufgabe an eine staatliche Ebene delegiert werden muss, dann sollte dies jeweils die Ebene sein, die möglichst nah an den unmittelbar betroffenen Bürgern ist. Das erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass die Interessen möglichst aller Beteiligten ausreichend berücksichtigt werden und so ein tragfähiger Kompromiss zustande kommt. Die politische Verantwortung kann auf der gleichen Ebene klar zugeordnet werden, wenn sich die handelnden politischen Akteure in demokratischen Wahlen dem Wählervotum stellen müssen. Darüber hinaus sind Systeme, in denen Entscheidungsbefugnisse dezentral verteilt sind, effizienter und innovativer als zentralistische Systeme. Dies gilt umso mehr, wenn zwischen den Beteiligten ein fairer Wettbewerb herrscht. Immer dann, wenn eine Entscheidung an eine politische Ebene delegiert werden soll, muss grundsätzlich geklärt werden, welche Ebene die bestmögliche für diese Entscheidung ist. In einem Gesellschaftssystem ist es sinnvoll, die Frage nach der jeweils zuständigen politischen Ebene im Rahmen der Verfassung oder im Rahmen eines Vertrages zu regeln. Dabei ist auch zu klären, unter welchen Voraussetzungen die Delegation auf die nächsthöhere Ebene oder gar auf die supranationale Ebene erfolgen darf und ob bzw. unter welchen Umständen diese Delegation revidiert werden kann, wenn sich herausstellt, dass sie auf der höheren Ebene nicht nutzbringend ist. -------------------------------------------- 15 Dohnanyi, Klaus von: Europas Krise kann Europas Chance sein; Die Welt, 01.02.2013. Deutschland in der EU – Die EU in der Welt 127 In der EU gilt das Subsidiaritätsprinzip als Grundlage für die Klärung der Zuständigkeit einer politischen Ebene. Im Vertrag über die Europäische Union (EUV) heißt es: „Nach dem Subsidiaritätsprinzip wird die Union in den Bereichen, die nicht in ihre ausschließliche Zuständigkeit fallen, nur tätig, sofern und soweit die Ziele der in Betracht gezogenen Maßnahmen von den Mitgliedstaaten weder auf zentraler noch auf regionaler oder lokaler Ebene ausreichend verwirklicht werden können, sondern vielmehr wegen ihres Umfangs oder ihrer Wirkungen auf Unionsebene besser zu verwirklichen sind.“16 Dies bedeutet: Wo ein Problem auftaucht, liegt die Verantwortung zunächst bei der kleinsten Einheit, und nur das, was diese nicht leisten kann, wird auf der nächsthöheren Ebene geregelt. Dabei gilt: „klein vor groß“, „privat vor Staat“ und „dezentral vor zentral“. Die Entscheidung über die Delegation an die supranationale Ebene ist ebenfalls vertraglich geregelt, und zwar im Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV).17 Dort sind zunächst ausschließliche Zuständigkeiten der EU definiert. Darüber hinaus wird ein Bereich geteilter Zuständigkeiten aufgezählt, in dem sowohl die EU als auch die Mitgliedstaaten zuständig sein können. Insbesondere bei den geteilten Zuständigkeiten muss dem Subsidiaritätsprinzip ein höherer Rang als bisher zukommen. Denn Subsidiarität ist eine entscheidende Voraussetzung für Bürgernähe, Transparenz und Wettbewerb. Nur wenn den Kommunen, Regionen und Mitgliedstaaten so viel Verantwortung wie möglich belassen wird, ist gewährleistet, dass die EU ein flexibles und demokratisches System bleibt. Bevor eine staatliche Kollektivinstanz eingreift, wird bislang nicht ausreichend geprüft, ob nicht zunächst der Bürger selbst oder lokale, kommunale oder regionale Gebietskörperschaften entscheiden können. Kann ein Problem auf regionaler oder einzelstaatlicher Ebene gelöst werden, gibt es keine Begründung für eine Delegation auf die supranationale Ebene. In der Vergangenheit kam es immer wieder zur Verlagerung von Zuständigkeiten auf die EU, die bei konsequenter Anwendung des Subsidiaritätsprinzips dort nicht zu begründen sind.18 Dieser Tendenz -------------------------------------------16 Art. 5, Abs. 3 EUV. Art. 3 u. Art. 4 AEUV. 18 Ein Beispiel ist der Vorschlag der Europäischen Kommission zur Einführung einer europaweiten Frauenquote. Die Zuständigkeit Brüssels wurde von der Bundesregierung 17 128 Kerstin Brauckhoff/Hermann Otto Solms zur Zentralisierung und Aneignung von Zuständigkeiten muss mehr entgegengesetzt werden. Dazu ist es unter anderem erforderlich, über das im Vertrag von Lissabon neu eingeführte Instrument der Subsidiaritätsrüge19 hinaus die vorbeugende Subsidiaritätskontrolle durch die nationalen Parlamente zu stärken und weiterzuentwickeln. Dies gilt umso mehr, als sich das Instrument der Subsidiaritätsrüge noch kaum bewähren konnte und eher als „stumpfe Klinge“20 denn als „scharfes Schwert“21 bewertet wird. Die nationalen Parlamente müssen demnach zunächst intern jeweils verlässliche interne organisatorische Strukturen aufbauen, die es ihnen ermöglichen, angesichts der Fülle der EUDokumente ihre Kontrollaufgaben zur Einhaltung der Subsidiarität22 effektiver als bisher wahrzunehmen.23 Die Kontrolle muss so ausgebaut werden, dass die Parlamente mit der notwendigen Kompetenz und Autorität zur Prüfung der Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips ausgestattet werden.24 Neben einer engen Vernetzung der Parlamente untereinander ist auch eine Zusammenarbeit mit dem Europäischen Parlament für eine schlagkräftige Subsidiaritätskontrolle unerlässlich. Hierzu sollten bestehende interparlamentarische Gremien, wie zum Beispiel die Konferenz der Europaausschüsse (COSAC), aktiviert werden. Darüber hinaus ist es erforderlich, einen zweiten Senat des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) einzurichten, der in Zweifels- und Streitfällen angerufen werden kann und auf der Grundlage des Subsidiaritätsprinzips letztlich formal und juristisch bindend entscheidet, ob die EU tatsächlich eine Kompetenz ausüben darf. -------------------------------------------- u. a. mit dem Verweis auf die Verletzung des Subsidiaritätsprinzips abgelehnt. Vgl. z. B. Tagesspiegel, 14.11.2012 (http://www.tagesspiegel.de/politik/vollzug-des-prestigeprojekts-bundesregierung-lehnt-eu-frauenquote-fuer-aufsichtsraete-ab/7386684.html). 19 Vertrag von Lissabon, Protokoll (Nr. 2), Art. 6. 20 Koch, Jessica/Kullas, Matthias: Subsidiarität nach Lissabon – Scharfes Schwert oder stumpfe Klinge?; cep-Studie, Freiburg 2010, S. 21. 21 Ebd. 22 Art. 12 b) EUV. 23 Vgl. Vollrath, Sven: Herausforderungen bei der Umsetzung der neuen Rechte nach dem Vertrag von Lissabon durch den Deutschen Bundestag und die Begleitgesetzgebung; in: Abels, G./Eppler, A. (Hg.): Auf dem Weg zum Mehrebenenparlamentarismus?; Baden-Baden 2011. 24 Einen Überblick über die Rechte der einzelnen Parlamente bietet Callies, Christian: Die neue Europäische Union nach dem Vertrag von Lissabon; Tübingen 2010. Deutschland in der EU – Die EU in der Welt 129 Die institutionelle Entwicklung nach dem Vertrag von Lissabon Die EU ist eine Gemeinschaft demokratischer Staaten, und das politische System der EU selbst ist ebenfalls ein demokratisches System. Dieses System ist keinem der klassischen demokratischen Systeme eindeutig zuzuordnen, sondern ein ganz eigenes System, das sich im Laufe des europäischen Integrationsprozesses kontinuierlich weiterentwickelt hat. Dies gilt insbesondere auch für die Zusammensetzung und Arbeitsweise der Institutionen der EU. Auch wenn die EU ein eigenes System darstellt, das mit den klassischen demokratischen Systemen nicht vergleichbar ist, muss das System gleichwohl den Mindestanforderungen an ein demokratisches System genügen. Dazu gehören vor allem eine verbindliche und transparente Entscheidungsfindungsprozedur, die Gewaltenteilung oder die Möglichkeit, durch verbindliche Verfahren die politischen Entscheidungsträger zu bestimmen und gegebenenfalls auszuwechseln. Genau hier sind jedoch derzeit deutliche Defizite festzustellen. So folgt die Stimmengewichtung im Europäischen Parlament dem Prinzip der „degressiven Proportionalität“. Nach diesem Prinzip ist die Anzahl der Abgeordneten eines EU-Mitgliedstaats nicht direkt proportional zu seiner Bevölkerungsgröße. Kleine Länder sind auf diese Weise im Verhältnis überrepräsentiert. Dies führt zu einer ungleichen Stimmgewichtung der Abgeordneten des Europäischen Parlamentes, so dass diese jeweils unterschiedlich viele Bürger vertreten. Die Stimme, mit der ein Bürger eines großen Mitgliedstaates einen Abgeordneten wählt, ist daher nicht gleich gegenüber der Stimme eines anderen Bürgers aus einem kleinen Mitgliedstaat. Dies ist eine Einschränkung des Demokratieprinzips. Diese Benachteiligung könnte durch ein einheitliches Wahlrecht mit der Gewährleistung von Sockelmandaten zum Schutz kleinerer Staaten gemildert werden. Die Europäische Kommission ist als eines der sieben politischen Organe der EU mit einer überdurchschnittlichen Machtfülle ausgestattet. Sie hat exekutive, legislative und judikative Funktionen gleichermaßen. Als einziges Organ der EU hat sie das Recht, Gesetzesinitiativen vorzulegen. Zwar hat das Europäische Parlament mittlerweile das Recht, die Europäische Kommission zur Vorlage einer Gesetzgebungsinitiative aufzufordern. Kommt die Kommission dieser Aufforderung 130 Kerstin Brauckhoff/Hermann Otto Solms nicht nach, muss sie dies begründen.25 Diese Regelung wäre aber für ein zukünftiges Europäisches Parlament, das auf der Basis eines reformierten Wahlrechts zusammentritt und eine direkte demokratische Legitimation hat, nicht mehr angemessen. Stattdessen sollte auch das Europäische Parlament dann mit einem Initiativrecht ausgestattet werden. Im Vertrag von Lissabon wurde die Verkleinerung der Europäischen Kommission auf eine Anzahl, die zwei Dritteln der Zahl der Mitglieder der EU entspricht, ab dem Herbst des Jahres 2014 beschlossen. Zwar ist der Europäische Rat im Dezember 2008 infolge des irischen Referendums übereingekommen, „dass – sofern der Vertrag von Lissabon in Kraft tritt – im Einklang mit den erforderlichen rechtlichen Verfahren ein Beschluss gefasst wird, wonach weiterhin ein Staatsangehöriger jedes Mitgliedstaats der Kommission angehören wird“26. Gleichwohl ist die Verkleinerung der Kommission sinnvoll und notwendig, um langfristig eine effektive Arbeit der Kommission zu gewährleisten. Daher sollte an dem ursprünglichen Beschluss der Verkleinerung, wie sie im Vertrag von Lissabon beschlossen wurde,27 festgehalten werden. Nur so kann die Kommission als Ganzes schlagkräftig und handlungsfähig agieren und eine weitere Aufsplitterung und Anreicherung von Zuständigkeitsbereichen der einzelnen Kommissare verhindert werden. Angesichts der künftigen Erweiterung der EU wird auch die vordem beschlossene Verkleinerung der Kommission nicht ausreichen, so dass zukünftig weitere Schritte der Verkleinerung werden folgen müssen. Eine Direktwahl des Kommissionspräsidenten brächte ihm zwar die höchste Legitimation von allen europäischen Organen, ohne ihn jedoch zugleich mit den entsprechenden Kompetenzen auszustatten. Zwangsläufig müsste er die in ihn gesetzten Erwartungen enttäuschen. Stattdessen sollte an der aktuellen Regelung, nach der der Europäische Rat dem Europäischen Parlament einen Kandidaten für das Amt des Präsidenten der Kommission vorschlägt, der dann vom Europäischen -------------------------------------------- 25 Beschluss des Europäischen Parlaments vom 20. Oktober 2010 zur Revision der Rahmenvereinbarung über die Beziehungen zwischen dem Europäischen Parlament und der Europäischen Kommission (2010/2118(ACI)). 26 Rat der Europäischen Union: Tagung des Europäischen Rates vom 11./12. Dezember 2008 in Brüssel. Schlussfolgerungen des Vorsitzes.; Brüssel 13.02.2009, S. 2. 27 Art. 17 EUV. Deutschland in der EU – Die EU in der Welt 131 Parlament mit der Mehrheit seiner Mitglieder gewählt wird, festgehalten werden. Der Europäische Rat setzt sich zusammen aus den Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten der Europäischen Union. Als Vorsitzender wird jeweils für eine Amtszeit von zweieinhalb Jahren der Präsident des Europäischen Rates gewählt. Der Rat der Europäischen Union (auch: Ministerrat) wiederum ist das Organ, in dem die Fachminister der Mitgliedstaaten vertreten sind. Derzeit gibt es zehn verschiedene, den jeweiligen Politikbereichen entsprechende Ratsformationen. Der Vorsitz wechselt halbjährlich zwischen den Mitgliedstaaten. Diese Regelung behindert eine kontinuierliche und strategische Arbeit der EU. Daher sollte die Dauer der rotierenden Ministerratsvorsitze von einem halben Jahr auf ein Jahr verlängert werden. Reform der Finanzierung Die Finanzierung der EU ist ein anhaltender Streitpunkt zwischen den Mitgliedstaaten der Union. Dabei geht es zum einen um die sogenannten Eigenmittel und die Höhe der Beiträge der einzelnen Mitgliedstaaten, zum anderen um die Höhe und die Struktur der Ausgaben. Im System der EU-Eigenmittel stammen die größten Anteile aus den sogenannten BNE-Eigenmitteln28. Dabei handelt es sich um Beiträge der Mitgliedstaaten, die als prozentualer Anteil ihres Bruttonationaleinkommens berechnet werden und damit die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der Mitgliedstaaten widerspiegeln. Sie machen gut 75 Prozent der Gesamteinnahmen der EU aus und sind daher neben den traditionellen Eigenmitteln (Zölle und Agrarabschöpfungen) und den Mehrwertsteuer-Eigenmitteln die wichtigste Finanzierungsquelle der EU. Eine Abweichung vom Prinzip der Leistungsfähigkeit bei der Berechnung der BNE-Anteile ergab sich mit der Einführung des sogenannten Briten-Rabatts, nach dem seit 1984 zunächst Großbritannien ein Rabatt auf die Beitragszahlungen gewährt wurde. Begründet wurde dieser Rabatt mit der Argumentation, dass nicht genügend Mittel der EU im Verhältnis zum Beitrag in den Mitgliedstaat zurückfließen („just-retour-Debatte“). Weitere Debatten für andere Mitgliedstaaten folgten, so dass heute ein unübersichtliches System von Rabatten und -------------------------------------------28 Bruttonationaleinkommen (BNE)-Eigenmittel. 132 Kerstin Brauckhoff/Hermann Otto Solms Beitragsberechnungen entstanden ist. Der Europäische Rat hat als Reaktion auf diese Unübersichtlichkeit und wiederkehrenden Schwierigkeiten im Dezember 2005 eine Reform des Haushaltes der Union gefordert. Diese Reform bleibt auch nach der Einigung über den Mehrjährigen Finanzrahmen 2014 bis 2020 mehr als notwendig, um das System der Einnahmen und die Ausgaben nachhaltig und gerecht zu gestalten.29 Im Rahmen der Debatte um die Reform der Finanzierung wird immer wieder auch eine Steuer als Eigenmittelquelle der EU gefordert. Solange es allerdings das ausschließliche Recht der souveränen Staaten ist, Steuern zu erheben, bleibt es ausgeschlossen, dieses Recht auf die EU zu übertragen.30 Das gilt unabhängig davon, ob eine solche Steuer von den Mitgliedstaaten erhoben und lediglich an die EU weitergegeben würde oder ob die EU ein eigenes Steuererhebungsrecht bekäme. Auch am Verschuldungsverbot der EU muss festgehalten werden. Ebenso muss weiterhin an der Begrenzung der Ausgabenhöhe der EU im Rahmen der Eigenmittelobergrenze festgehalten werden. Unabhängig von der Haushaltspolitik der EU werden immer wieder Vorschläge zur Harmonisierung der Steuerpolitik innerhalb der EU gemacht. Eine gemeinsame europäische Steuerpolitik ist den Zielen der EU jedoch nicht förderlich. Steuerwettbewerb zwischen den Mitgliedstaaten der EU führt nicht, wie oft behauptet, zu einem Unterbietungswettbewerb, sondern trägt maßgeblich zur Wettbewerbsfähigkeit der einzelnen Mitgliedstaaten bei. Nur wenn die Mitgliedstaaten weiterhin durch Anpassungen der Steuersätze die Möglichkeit haben, auf wirtschaftliche Entwicklungen kurzfristig und flexibel zu reagieren, werden die gesamteuropäischen Ziele erreicht werden können.31 Aufgrund der Heterogenität der Volkswirtschaften der Mitgliedstaaten ist bei den direkten Steuern (Einkommen, Gewinn) ein einheitlicher Steuersatz abzulehnen. Ein Steuerwettbewerb ist hier sinnvoll und notwendig. Anderes gilt für die europaweiten spezifischen Verbrauchssteuern, die unmittelbar in die Preise eingehen. In diesem Feld ist eine vollständige Harmonisierung sinnvoll und dringend geboten, um Fehlentwick-------------------------------------------29 Einen Überblick über die Debatte findet sich in: Feld, Lars/Necker, Sarah: Fiskalföderalismus in der Europäischen Union: Herausforderungen für die Reform der Finanzierung der EU; European Liberal Forum: Brüssel o. J. 30 Vgl. dazu BVerfG, 2BvR 987/10 vom 07.09.2011, Absatz 2. 31 Vgl. Brauckhoff, Kerstin: Steuerwettbewerb in der Europäischen Union; European Liberal Forum: Brüssel o. J. Deutschland in der EU – Die EU in der Welt 133 lungen (Tanktourismus, Zigarettenschmuggel) und Wettbewerbsverzerrungen zu vermeiden. Die Zukunft des Euro Mit der Einführung der Europäischen Währungsunion als Stabilitätsunion war das Ziel verbunden, das wirtschaftliche Zusammenwachsen Europas und das Zusammengehörigkeitsgefühl der Europäer zu fördern. Die Stabilitätsarchitektur der Währungsunion sollte auf der Verpflichtung der Mitgliedstaaten zur eigenverantwortlichen Haushaltsdisziplin und auf der Unabhängigkeit der Europäischen Zentralbank (EZB) gründen. Inzwischen hat sich der Euro als eine Währung von globaler Bedeutung etabliert. Allerdings leidet seine Glaubwürdigkeit aufgrund der Schuldenpolitik seiner Mitgliedstaaten und ihrer divergierenden Wettbewerbsfähigkeit. Durch die Einführung des Euro sanken vor allem in den Staaten an der Peripherie der Eurozone die Zinsen. Diese Entlastung verleitete zu verstärkter staatlicher und privater Aufnahme von Schulden. Die günstigen Zinsen führten in Verbindung mit großzügiger Kreditgewährung und mangelhafter Aufsicht über Finanzsektoren in einigen Ländern zur Bildung von Preisblasen – vor allem im Immobiliensektor – und zur Überhitzung der Konjunktur in den betreffenden Staaten. Das „billige Geld“ erlaubte es Regierungen, dringend notwendige Strukturreformen zu vertagen. Überhitzte Konjunktur auf Pump, zu stark angestiegene Preise, nachlassende Wettbewerbsfähigkeit, wachsende Staatsverschuldung und instabile und teilweise völlig überdimensionierte Finanzsektoren bildeten ein gefährliches Krisengemisch. Als die kreditgetriebenen Blasen platzten und in einigen Staaten die Staatsverschuldung ausuferte, zogen die Anleger ihr Geld aus Furcht vor Verlusten ab. Seither bilden sich gewaltige Finanzierungslücken. Die Eurokrise hat einen entscheidenden Mangel der Europäischen Währungsunion offengelegt: Es gab keinen wirksamen Mechanismus, die Mitgliedstaaten daran zu hindern, sich im Übermaß zu verschulden. Bestehende Aufsichtsmöglichkeiten der EU wurden nicht konsequent genutzt. Ordnungspolitische Sicherungselemente, wie der Stabilitäts- und Wachstumspakt, wurden nicht eingehalten. Insbesondere der Verstoß Deutschlands und Frankreichs 2003 gegen die Stabilitätskriterien und die daraufhin erfolgte Änderung der Kriterien 2005 hat ent- 134 Kerstin Brauckhoff/Hermann Otto Solms scheidend zur Schwächung des Paktes beigetragen. Die unterschiedliche Leistungskraft der einzelnen Volkswirtschaften wurde dadurch verschleiert und dringend notwendige, strukturelle Anpassungsmaßnahmen unterlassen. Die Währungsunion kann jedoch nur als Stabilitätsunion dauerhaft bestehen.32 Die marktwirtschaftlichen Grundprinzipien der Stabilitätsgemeinschaft – insbesondere das Verbot einer gegenseitigen Budgethilfe der Euro-Staaten (No-Bail-Out-Gebot) – müssen wieder vollständig etabliert werden. Ebenso wie im Privatrecht gehören auch für Staaten Entscheidung und Haftung untrennbar zusammen. Jede Vermischung von Verantwortung durch gemeinschaftliche Haftung – egal in welcher Spielart – muss ausgeschlossen werden. Jeder einzelne Mitgliedstaat muss jeweils für sich genommen die Stabilitätserfordernisse erfüllen. Unterschiedliche Zinssätze sind der Preis für die unterschiedliche Bonität der verschiedenen Staatsanleihen und sind in ihrer Signalwirkung für die jeweilige Haushaltspolitik unverzichtbar. Eine weitere Verschuldung der Mitgliedstaaten kann nur dann effektiv begrenzt werden, wenn die Schuldner selbst ein Interesse daran haben, die Zinsen für ihre Anleihen auf dem Kapitalmarkt durch angemessene und wirksame Reformmaßnahmen zu senken. Eine Vergemeinschaftung von Schulden in der Eurokrise verleitet dazu, sich zulasten anderer der eigenen Verantwortung zu entziehen (moral hazard). Eurobonds, ein gemeinsamer Schuldentilgungsfonds oder andere Varianten gemeinschaftlicher Haftung verstoßen gegen das Prinzip der nationalen Finanzhoheit, gefährden das Budgetrecht der nationalen Parlamente und verletzen damit Grundprinzipien der Demokratie. Sie widersprechen zudem dem Subsidiaritätsprinzip und lösen die akuten Probleme nicht, sondern verschärfen diese im Gegenteil noch. Finanzielle Hilfen an die Euro-Staaten müssen zeitlich und der Höhe nach begrenzt und mit Konditionen verbunden sein. Übergangsweise kann einzelnen Mitgliedstaaten mit Hilfe der Europäischen Finanzstabilisierungsfazilität (EFSF) und der im Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) vorgesehenen Maßnahmen geholfen werden. Doch können diese Instrumente sowie die Maßnahmen der Europäi-------------------------------------------- 32 Vgl. dazu Fahrholz, Christian/Freytag, Andreas/Ohler, Christoph: Ein Rahmen für die Europäische Wirtschafts- und Währungsunion – 6 Grundsätze für Stabilität; Berlin 2012. Deutschland in der EU – Die EU in der Welt 135 schen Zentralbank (EZB) nur kurzfristig zur Marktberuhigung beitragen. Mittel- und langfristig ist es Aufgabe der Krisenstaaten, die erforderlichen Strukturreformen umzusetzen. Dies gilt umso mehr, als die vertraglich fixierte Verantwortung der EZB für die Geldwertstabilität auch in Zukunft ihr vorrangiges Ziel bleiben muss. Ihre Unabhängigkeit und das Verbot der Staatsfinanzierung müssen eingehalten werden und weiter bestehen. Mit dem Fiskalpakt wurden notwendige Schritte der finanzpolitischen Integration nachgeholt, die die Ausgabendisziplin verbessern sollen. Vor allem die verbindliche Einführung von Schuldenbremsen für die Euro-Staaten sowie von automatischen Sanktionsmechanismen gegen Defizitsünder sind wichtige Instrumente zur Kontrolle der öffentlichen Haushalte. Grundsätzlich sollten Sanktionen so ausgestaltet werden, dass sie eine verfehlte Haushaltspolitik automatisch korrigieren, zum Beispiel durch eine für diesen Fall vorgesehene Erhöhung der Umsatzsteuer.33 So werden die Bürger veranlasst, die unsolide Finanzpolitik ihrer jeweiligen Parlamente und Regierungen in die Wahlentscheidung einzubeziehen.34 Aus Sicht der realen Wirtschaft kommt es als Folge der Ineffizienz deregulierter Finanzmärkte in der Regel zu einem Marktversagen. Deshalb muss das Pendel zurückschwingen. Es bedarf nicht unbedingt mehr, aber zumindest einer besseren Regulierung der Akteure und ihrer Verhaltensweisen, damit Finanzmärkte effizient funktionieren. Die gefährlich enge Bindung ganzer Bankensektoren an die Staatshaushalte von Mitgliedstaaten und umgekehrt muss getrennt werden, um Ansteckungseffekte zwischen den Banken und Staaten zu verhindern und um die Gefahr einzudämmen, dass in Schieflage geratene Banken mit Steuergeldern gerettet werden müssen, weil sonst das ganze System kollabieren würde. Daher ist es sinnvoll, dass die EU zusätzlich zu den bereits ergriffenen kurzfristigen Maßnahmen eine effiziente Bankenaufsicht bekommt, die mit den nationalen Aufsichtsbehörden -------------------------------------------- 33 Dieser Vorschlag geht zurück auf den Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung: Nach dem EU-Gipfel: Zeit für langfristige Lösungen nutzen; Sondergutachten gemäß § 6 Absatz 2 Satz 1 des Gesetzes über die Bildung eines Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung; Wiesbaden 2012, S. 15. 34 Einen Überblick über die Ziele und Möglichkeiten künftiger Koordinierung geben Feld, Lars P./Haucap, Justus/Möschel, Wernhard u. a.: Wie viel Koordinierung braucht Europa?; Berlin 2013. 136 Kerstin Brauckhoff/Hermann Otto Solms eng zusammenarbeiten und zugleich die Möglichkeit haben muss, jeden einzelnen Überprüfungsfall an sich zu ziehen. Die geldpolitische Unabhängigkeit der EZB muss in vollem Umfang gewahrt, das Statut der EZB unangetastet bleiben. Insbesondere dürfen geld- und aufsichtspolitische Kompetenzen nicht vermischt und nicht von den gleichen Entscheidungsträgern wahrgenommen werden. Gleichzeitig muss sichergestellt werden, dass die Eigenkapitalausstattung der Banken erhöht wird, um die Risikobereitschaft der Banken zu bremsen (z. B. Basel III). Die Staaten müssen in einem ersten Schritt dazu verpflichtet werden, jeweils eigene Sicherungssysteme für Bankeinlagen einzurichten, die von den Banken finanziert werden. Wenn diese eingerichtet und hinreichend finanziert sind, kann anschließend darüber nachgedacht werden, diese nationalen Sicherungssysteme zu einem europaweiten Netz zu verknüpfen. In gleicher Weise muss die Möglichkeit einer geregelten Restrukturierung einzelner Banken in allen Euroländern geschaffen werden. Banken, die sich verspekuliert haben, müssen möglichst geordnet aus dem Markt ausscheiden können. Dafür ist dringend ein europäischer Rechtsrahmen für die geordnete Insolvenz von Finanzinstituten erforderlich. Wenn der Finanzsektor mit solchen Maßnahmen insgesamt robuster wird, sinkt die Gefahr der Ansteckung, so dass geordnete Banken- und Staateninsolvenzen möglich werden und das Bail-Out-Verbot seinen Zweck erfüllen und konsequent angewendet werden kann.35 Ziel aller Reformbemühungen müssen Wettbewerbsfähigkeit und Vollbeschäftigung sein. Diese entstehen nur dort, wo eine gut ausgebildete Bevölkerung arbeitet, wo Arbeitsmärkte und andere Märkte offen und nicht überreguliert sind, wo fairer Wettbewerb herrscht, wo Investoren sich auf eine leistungsfähige und schlanke Verwaltung und Justiz verlassen können, wo die Löhne nicht schneller als der Produktivitätsfortschritt wachsen, wo die Staatsausgaben und die Verschuldung in einem tragfähigen Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt (BIP) stehen. Nur so kann ein Standort für Investoren dauerhaft Attraktivität ausstrahlen. Die Verantwortung und Zuständigkeit, wettbewerbsfähige Voraussetzungen zu schaffen, liegt nach wie vor bei den Mit-------------------------------------------- 35 Zur Zukunft der Wirtschafts- und Währungsunion vgl. auch: Dieter, Heribert: Maastricht 2.0. Bei der Weiterentwicklung der Währungsunion hat Europa Alternativen zum Zentralisierungsfetisch; SWP-Aktuell, Berlin 2012; Horn, Karen: Wirtschaftsverfassung statt Wirtschaftsregierung; FAZ 21.06.12. Deutschland in der EU – Die EU in der Welt 137 gliedstaaten und kann auch nur dort effektiv geleistet werden. Während der EU die Vorgabe und Kontrolle der Ziele obliegt, ist die konkrete wirtschafts- und finanzpolitische Umsetzung Angelegenheit der Mitgliedstaaten und ihrer jeweiligen untergliederten Ebenen bis hin zu den Kommunen. Die EU kann die Mitgliedstaaten bei den notwendigen Strukturreformen durch den ihr bereits gegebenen ordnungspolitischen Rahmen unterstützen, und sie kann Anreize zu selbstbestimmten, verantwortungsbewussten Reformen geben: Mit makroökonomischer Überwachung kann sie auf Fehlentwicklungen in der Haushaltsund Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten hinweisen und die Staaten und ihre Parlamente zu Korrekturen drängen. Sie kann durch eine Vollendung des Binnenmarktes dazu beitragen, dass mehr Wettbewerb in bislang geschützte Bereiche einzieht. Und sie kann durch den Abschluss liberaler Handelsabkommen die Handelshemmnisse im Welthandel reduzieren und so Wachstumskräfte freisetzen. Ausblick Die europäische Integration ist kein Projekt der Vergangenheit, sie ist vielmehr ein Projekt der Zukunft. In der Vergangenheit hat sie wesentlich zur Sicherung von Frieden, Freiheit und Wohlstand beigetragen. Heute scheinen die Gefahr durch Kriege und die unmittelbare Bedrohung der Freiheit gebannt. Gleichwohl bleiben die Sicherung von Freiheit, Frieden und Wohlstand auch im 21. Jahrhundert die Ziele der EU. Parallel dazu liegt der „Mehrwert“ der EU aber vor allem für die jüngeren Generationen in der Nutzung der Chancen, die ihnen im Rahmen der europäischen Einigung erwachsen: Für Schüler, Auszubildende oder Studenten sind Auslandsaufenthalte zur Selbstverständlichkeit geworden, Arbeitnehmer und Arbeitgeber nutzen die Möglichkeiten, die der Binnenmarkt ihnen bietet, ganz zu schweigen von grenzenlosen Reisemöglichkeiten und der damit verbundenen kulturellen Bereicherung. Um diese Ziele und Chancen zu bewahren und fortzuentwickeln, braucht es eine kontinuierliche Überprüfung des Spannungsverhältnisses zwischen Kompetenzübertragung und Subsidiaritätswahrung. Europa kann stark und attraktiv bleiben, wenn es seinen liberalen Wurzeln treu bleibt, wenn es die Demokratie und das Recht 138 Kerstin Brauckhoff/Hermann Otto Solms auf allen Ebenen achtet, die Grund- und Menschenrechte schützt, eine den Regeln der Marktwirtschaft entsprechende Ordnungspolitik verfolgt, wenn es nach außen geschlossen auftritt und zugleich nach innen seine Vielfalt pflegt und nutzt. Neue Perspektiven für die transatlantische Zusammenarbeit 139 Harald Leibrecht Neue Perspektiven für die transatlantische Zusammenarbeit Pfeiler der deutschen Außenpolitik – eine Partnerschaft im Wandel Die transatlantischen Beziehungen sind neben der europäischen Integration der wichtigste Pfeiler der deutschen Außenpolitik. Dieser seit mehr als einem halben Jahrhundert gültige Leitsatz hat nichts von seiner Aktualität verloren. Und dennoch ist die transatlantische Zusammenarbeit heute mit der Partnerschaft der vergangenen Jahrzehnte kaum vergleichbar. Die Beziehungen befinden sich in einem grundlegenden Wandel. Meinungsunterschiede, wie vor einigen Jahren die über den IrakKrieg, können auch gewachsene Beziehungen auf eine Probe stellen; gleichzeitig zeigen sie, dass die transatlantische Brücke auf einem sehr soliden Fundament steht. Dieses Fundament kann zwar mitunter knirschen oder schwanken, aber es ist und bleibt fest verankert. Inzwischen haben sich sowohl die offiziellen politischen Beziehungen als auch die gegenseitige Wahrnehmung in der Bevölkerung wieder deutlich gebessert.1 Und dennoch gilt: Die transatlantische Partnerschaft läuft heute nicht mehr auf Autopilot. Sie verlangt Einsatz, Steuerung und klare Zukunftsperspektiven. Nach Ende des Zweiten Weltkriegs war die transatlantische Freundschaft lange Zeit eine Selbstverständlichkeit. Die USA unterstützten Deutschland in seiner Demokratisierung und durch den Marshall-Plan unmittelbar beim Wiederaufbau. Für Westdeutschland waren die USA eine unerlässliche Schutzmacht. Kaum jemand erinnert sich nicht an die bewegenden Worte der Solidarität von Präsident Kennedy vor genau 50 Jahren: „Ich bin ein Berliner“. Seit der politischen Wende im Jahr 1990 fehlt das bindende Element einer gemein-------------------------------------------1 Quelle: www.transatlantictrends.org. 140 Harald Leibrecht samen Bedrohung. Beide Seiten wandten sich neuen Schwerpunkten zu: Deutschland zunächst der Wiedervereinigung und der europäischen Integration; die USA unter anderem dem Nahen Osten, nach den Ereignissen des 11. Septembers dem Kampf gegen Terrorismus, zuletzt vermehrt auch der Pazifikregion und Ostasien. Der folgende Text widmet sich dieser transatlantischen Partnerschaft im Wandel. Im Fokus steht dabei neben der engen Abstimmung in sicherheitspolitischen Fragen auch die weitere Intensivierung des wirtschaftlichen Austauschs. Insbesondere werden konkrete Zukunftsfelder für die deutsch-amerikanische Zusammenarbeit, z. B. Berufsbildung oder Energie, besprochen. Ferner werden gesellschaftliche und politische Veränderungen unserer transatlantischen Partner beleuchtet, die für das Verhältnis von besonderer Relevanz sind. Im Zentrum der deutschen und europäischen Außenpolitik gegenüber den USA könnte in nächster Zeit ein klassisch liberales Projekt einen zentralen Platz einnehmen: die Verhandlung eines umfassenden transatlantischen Investitions- und Handelsabkommens. Partner in Verantwortung in einer globalisierten Welt Die transatlantischen Beziehungen bleiben Grundlage deutscher und europäischer Sicherheit und stehen für die feste Einbindung des geeinten Deutschlands in das westliche Bündnis. Das ist für viele Menschen auf beiden Seiten des Atlantiks heute selbstverständlich. Die Beziehungen Deutschlands zu den Vereinigten Staaten und zu Kanada sind exzellent und weitgehend problemfrei. Selten gab es einen Augenblick in der jüngeren Geschichte, an dem wir so viel Konsens in sicherheitspolitischen Fragen hatten wie im Moment: Das gilt für die Frage, wie sich der Konflikt um das Atomprogramm des Irans friedlich lösen lässt; es gilt für den Nahostkonflikt insgesamt, und es gilt für die derzeit dringendste Herausforderung, die Beendigung der schrecklichen Gewalt gegen die Menschen in Syrien. Seit Jahrzehnten garantiert die NATO unsere gemeinsame Sicherheit in der transatlantischen Gemeinschaft. Das Nordatlantische Bündnis ist und bleibt das feste Fundament deutscher Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Mit dem beim NATO-Gipfel in Lissabon im November 2010 verabschiedeten neuen Strategischen Konzept hat das Neue Perspektiven für die transatlantische Zusammenarbeit 141 Bündnis eindrucksvoll Handlungsfähigkeit in einem sich wandelnden Umfeld demonstriert. Wir haben einen gemeinsamen Fahrplan für den Abzug unserer Soldaten aus Afghanistan beschlossen und uns auf die Finanzierung des Aufbaus der afghanischen Streitkräfte nach 2014 verständigt. Deutschland hat bereits im Frühjahr 2013 ein konkretes Angebot für die Beteiligung an der Post-ISAF-Mission vorgelegt. In Afghanistan, am Horn von Afrika und im Kosovo sind bzw. waren deutsche, amerikanische und teilweise auch kanadische Soldaten gemeinsam im Einsatz, um für Frieden und Sicherheit zu sorgen. Und wir sind uns über das grundsätzliche Ziel einig, langfristig eine atomwaffenfreie Welt zu schaffen. Partner mit Verantwortung in Zeiten der Finanzkrisen Im Laufe der letzten 24 Monate ist bei zahlreichen Gipfeltreffen deutlich geworden, dass auch die in der Presse manchmal hoch geschriebenen Unterschiede zwischen dem europäischen und dem amerikanischen Ansatz zur Lösung der Staatsschuldenkrise im Euroraum keine unüberbrückbaren Gegensätze sind. Die USA erwarten von den Europäern zu Recht, dass sie die Staatsschuldenkrise in den Griff bekommen. Die wichtigsten Weichen sind dafür gestellt. Dies wird von unseren transatlantischen Partnern gewürdigt. Wir in Europa wiederum erwarten, dass die USA ihr eigenes Haushaltsdefizit in den Griff bekommen. Haushaltskonsolidierung und Wachstum gehören zusammen; sie ergänzen sich. Ohne fiskalische Konsolidierung wird es mittel- und langfristig kein Wachstum geben. Und ohne Wachstum werden wir die Haushalte nicht konsolidieren können. Auch ordnungspolitisch liegen die USA und Europa also letztlich nicht weit auseinander. Dennoch blicken beide Seiten diesbezüglich immer noch mit Sorge über den Atlantik, sei es zuletzt wegen der Situation in Zypern auf der einen oder wegen des Haushaltsdefizits auf der anderen Seite. Schließlich leben wir als transatlantische Partner in dem wirtschaftlich am engsten vernetzten Raum. Dies bietet hervorragende Zukunftsperspektiven, aber eben auch einige Gefahren. Letztendlich dominiert jedoch das gegenseitige Vertrauen in die Fähigkeiten der Partner, ihre Probleme in den Griff zu bekommen. 142 Harald Leibrecht Strategien gegen einen möglichen Bedeutungsverlust der Partnerschaft Welche Weichenstellungen und Voraussetzungen sind nun entscheidend, wenn wir uns den Zukunftsperspektiven zuwenden? Die transatlantischen Beziehungen sind eine Erfolgsgeschichte, auf die wir mit Recht stolz sind. Zur Selbstzufriedenheit aber besteht kein Anlass. Gerade Deutschland läuft Gefahr, in den Augen der Amerikaner und Kanadier zukünftig an Bedeutung zu verlieren. Die Gründe hierfür sind ebenso vielfältig wie die Wege, einer solchen Entwicklung gegenzusteuern. Während des Kalten Krieges war Deutschland tagtäglich in den Nachrichten; Zehntausende von US-Soldaten und Vertretern der kanadischen Streitkräfte waren mit ihren Familien in Deutschland stationiert. Sie brachten den „American way of life“ zu uns, und sie trugen „ihr“ Deutschland mit zurück in die amerikanischen und kanadischen Haushalte. Sie waren die besten Botschafter, die man sich vorstellen konnte. Inzwischen sind Amerika und Europa globaler geworden. Immer mehr US-Amerikaner definieren ihre Familie über lateinamerikanische, asiatische und afrikanische Vorfahren. Dies gilt auch für Entscheidungsträger in Politik und Wirtschaft. Gleichzeitig interessieren sich eben auch Schüler und Studierende in den USA und in Deutschland vermehrt auch für andere Weltregionen, zum Beispiel China oder Lateinamerika. Insgesamt gilt es also, einem Bedeutungsverlust Deutschlands in Nordamerika gegenzusteuern. „Mehr Deutsch, please“!2 Ein zentrales Element zur Generierung von Verständnis und Interesse für ein Land ist seine Sprache. Die USA sind jedoch ein Land von „Fremdsprachensprechern“, kein Land von „Fremdsprachenlernern“. Dennoch behauptet sich das Schulfach Deutsch noch immer mit knapp 400.000 Schülern. Langfristig ist das aber nicht genug, zumal die asiatischen Sprachen an Boden gewinnen. Um die Rolle der deutschen Sprache zu stärken und das amerikanische Bewusstsein für die Rolle Deutschlands zu erhöhen, hat das -------------------------------------------2 Leibrecht, Harald: Die Welt vom 4.6.2012. Neue Perspektiven für die transatlantische Zusammenarbeit 143 Auswärtige Amt die USA seit 2012 zu einem strategischen Schwerpunktland für Deutsch als Fremdsprache gemacht. Damit sollen langfristig neue Impulse zum Erlernen der deutschen Sprache gesetzt werden. Schon jetzt gehören 91 Schulen in den USA zum Netzwerk „Schulen – Partner der Zukunft“ des Auswärtigen Amts (fünf deutsche Auslandsschulen, 77 Schulen, die das Sprachdiplom der Kultusministerkonferenz anbieten, und neun vom Goethe-Institut betreute Schulen). Darüber hinaus bieten über 1.200 US-amerikanische Schulen vertieften Unterricht im Fach Deutsch an, und jedes Jahr kommen mehrere Hundert Lehrer, etwa 1.500 Studierende und über 10.000 Schüler nach Deutschland, um Sprache, Land und Kultur kennenzulernen. Ziel ist ein Paradigmenwechsel: Unser Engagement zur Förderung von Deutsch als Fremdsprache in den USA soll sich künftig primär darauf richten, die Angebote zum Erlernen der deutschen Sprache quantitativ und qualitativ auszubauen und die Attraktivität Deutschlands und der deutschen Sprache zu erhöhen. Unsere Angebote werden noch stärker an den Interessen unserer US-amerikanischen Partner ausgerichtet. Die Zahl der Deutschlerner an den US-Schulen muss stabilisiert und möglichst dauerhaft erhöht werden. Dieses Ziel werden wir nur erreichen, wenn es uns gelingt, unsere Partner in den USA in die Entwicklung einzubinden. Konkret bedeutet dies, dass die bereits bestehenden Aktivitäten gebündelt werden. Es werden vermehrt Berater für den Deutschunterricht eingesetzt, die ein einheitliches Aufgabenprofil erhalten und bei den Bildungsbehörden der Bundesstaaten angebunden sind. Diese Berater werden unterstützt durch ein Netz von US-amerikanischen „Mentor Teachers“, sodass nach Möglichkeit jeder Deutschlehrer und jede Schule, die Deutschunterricht anbietet oder anbieten möchte, einen Ansprechpartner in der Nähe und ein Angebot an Informationsmaterialien, Beratung und Fortbildungsmaßnahmen findet. Gleichzeitig wird angestrebt, unsere Außendarstellung zu verbessern, indem die Rolle, die Deutschland aktuell in verschiedenen Bereichen spielt, hervorgehoben wird (Deutsch und Fußball, Deutsch und Technik, Deutsch und Wirtschaft, deutsche Popmusik etc.). Das Interesse an Deutschland muss in den USA erhalten bleiben; dafür setzen wir uns durch diese und vergleichbare ganz konkrete Maßnahmen aktiv ein. Wichtig ist dabei, jeweils auch die aktuellen 144 Harald Leibrecht politischen und gesellschaftlichen Veränderungen auf der anderen Atlantikseite im Auge zu behalten. Ein Partner im Wandel: Die USA nach der Wiederwahl Barack Obamas Barack Obamas Wahl zum ersten schwarzen Präsidenten der Vereinigten Staaten 2008 machte ihn früh zu einer historischen Figur. Mit seiner Wiederwahl ist nun klar, dass Obama keine Übergangsfigur ist, sondern Gesellschaft und Politik in den USA nachhaltiger prägen könnte, als viele bisher glaubten. Im Zusammenhang mit der Wiederwahl Obamas sind zwei Faktoren von besonderer Bedeutung für das transatlantische Verhältnis: Zum einen sind dies die demografischen Veränderungen in den USA, die ganz entscheidend zu Obamas Wahlsieg beigetragen haben, zum anderen das Gefühl vieler Amerikaner, in einer „Nachkriegszeit“ zu leben, in der es zunächst einmal vor allem um Investitionen in Bildung und Infrastruktur in den USA und um die wirtschaftliche Belebung in Amerika gehen muss – und weniger um amerikanisches Engagement im Ausland. „Changing Face of America“ Obama verdankt seinen Wahlsieg einer Koalition aus weiblichen, jungen, städtischen, oft unverheirateten Wählern, vor allem aber der Unterstützung von Afroamerikanern, Hispanics und asiatischstämmigen Amerikanern. Afroamerikaner votierten mit 93 % für Obama. Bei den Latinos und Asiaten waren es 71 % bzw. 73 %. Obama profitierte zudem entscheidend davon, dass der Anteil der von Angehörigen der Minderheiten abgegebenen Stimmen gegenüber 2008 noch einmal anstieg: Im wichtigen „Swing State“ Ohio beispielsweise betrug der Anteil der afroamerikanischen Stimmen 2012 13 % – nach 11 % im Jahr 2008.3 Diese demografische Entwicklung wird anhalten: Spätestens 2050 wird die weiße Bevölkerung nur noch 47 % der Gesamtbevölkerung ausmachen (2012 bei 63 %), sie wird zur größten Minderheit. Der -------------------------------------------3 Quelle: www.realclearpolitics.com. Neue Perspektiven für die transatlantische Zusammenarbeit 145 Anteil der hispanisch-stämmigen Bevölkerung wird von heute 17 % auf 31 % im Jahr 2060 steigen; asiatisch-stämmige Amerikaner machen 2060 8 % der Bevölkerung aus, heute nur 5 %. Der Anteil der schwarzen Bevölkerung wächst moderat von 13 auf 15 %. Ebenso wird der Anteil an Personen mit zwei oder mehr Ethnizitäten zunehmen.4 Die USA wandeln sich also rasch. Dieser Wandel hat Folgen für das US-amerikanische Parteiensystem: Die Republikaner werden sich stärker als bisher für die immer wichtigeren Minderheiten öffnen müssen; ansonsten geraten sie in eine strukturelle Minderheitenposition. Am veränderten Umgang der Republikaner mit dem Thema Einwanderung lässt sich eine solche Öffnung schon jetzt ablesen. Der demografische Wandel Amerikas hat aber auch Folgen für Deutschland und Europa. Vor einiger Zeit wurde vermehrt Kritik laut, Europas Politiker und Diplomaten kommunizierten fast ausschließlich mit dem „alten, weißen Amerika“5. Das mag ein wenig übertrieben sein; in der Tendenz aber stimmt es. Die politischen Vertreter der Minderheiten wurden bisher sicher vernachlässigt. Wir müssen uns jetzt ganz gezielt auch für diese Gruppe in den USA öffnen. Dies gilt sowohl für die politische Ebene als auch für den zivilgesellschaftlichen Austausch. Gerade Universitäten, Stiftungen und den transatlantischen Organisationen kommt hier eine tragende Rolle zu. Diese Öffnung ist umso wichtiger, als auf beiden Seiten des Atlantiks auch ein Generationswechsel stattfindet. Wer heute in Washington auf dem Capitol Hill oder mit der US-Regierung Gespräche führt, der stellt fest, dass die Erinnerung an Aufenthalte in Deutschland, zum Beispiel als Mitglied der U.S. Army, als Student oder Schüler, für viele amerikanische Entscheidungsträger kaum noch eine Rolle spielt. Viele Vertreter der Nachkriegsgeneration, die die transatlantischen Beziehungen lange geprüft haben, ziehen sich langsam in den Ruhestand zurück: auf amerikanischer Seite Senatoren wie Joe Lieberman, Richard Lugar, Sam Nunn oder etwa der frühere US-Außenminister Henry Kissinger, auf deutscher Seite Hans-Dietrich Genscher, Richard -------------------------------------------- 4 Quelle: U.S. Census Bureau, unter: http://www.census.gov/newsroom/releases/img/ racehispanic_graph.jpg. 5 So u. a. Werz, Michael: Das Pazifische Jahrhundert, Süddeutsche Zeitung vom 10.12.2012. 146 Harald Leibrecht von Weizsäcker und natürlich Helmut Schmidt. Eine vergleichbare Entwicklung lässt sich auch in Bezug auf Kanada feststellen. Präsident Obama hat in seinem außenpolitischen Team für die zweite Amtszeit mit John Kerry und Chuck Hagel zwei überzeugte Transatlantiker an zentraler Stelle postiert. Dies wird die Zusammenarbeit mit den USA in den kommenden Jahren sicher erleichtern, man kennt sich – und die Chemie stimmt. Dennoch sollten wir uns von den bekannten Gesichtern nicht täuschen lassen: Vielen jungen, neuen Entscheidungsträgern auf beiden Seiten des Atlantiks fehlt die emotionale Bindung an den jeweils anderen Kontinent, welche die großen Transatlantiker des 20. Jahrhunderts mitbrachten. „NATO is no longer in the genes“6 hat der frühere amerikanische Verteidigungsminister Bob Gates in seiner Abschiedsrede vor der NATO im Juni 2011 gesagt, und dies beschreibt diese Veränderung in den transatlantischen Beziehungen ziemlich treffend. Die transatlantischen Beziehungen werden durch diese Entwicklungen insgesamt weniger emotional. Die Bindung, die durch Krieg, Versöhnung und später durch den Ost-West-Konflikt und die Vollendung der deutschen Einheit entstand, lässt sich nicht einfach ersetzen. Das wäre auch unsinnig. Wenn der amerikanische Präsident heute eine Rede in Berlin hielte, hätte die zwangsläufig einen anderen – sachlicheren – Ton als die Rede Ronalds Reagans am Brandenburger Tor 1987 – oder die John F. Kennedys 1963, zwei Jahre nach dem Mauerbau, mitten im Kalten Krieg. Europas Antwort auf „America’s Pacific Century“7 Die demografischen Veränderungen im Inneren korrespondieren außenpolitisch mit der strategischen Neuorientierung der USA nach Asien. Die USA haben seit dem Herbst 2011 ein „rebalancing“ Richtung Asien/Pazifik begonnen, den sogenannten „pivot to Asia“. Damit reagieren sie auf die immer weiter steigende wirtschaftliche Bedeutung der asiatischen Schwellenländer und den Aufstieg Chinas. Präsident Obama ist kurz nach seiner Wiederwahl schon im November 2012 erneut nach Asien gereist, nach Myanmar, Kambodscha und Thailand. -------------------------------------------6 http://www.defense.gov/speeches/speech.aspx?speechid=1581. http://www.foreignpolicy.com/articles/2011/10/11/americas_pacific_century?page =full. 7 Neue Perspektiven für die transatlantische Zusammenarbeit 147 Außenminister Kerry bereiste Asien im April 2013. Es besteht also kein Zweifel, dass die Öffnung nach Asien auch in Obamas zweiter Amtszeit weiter verfolgt wird. Diese Intensivierung des amerikanischen Interesses am asiatischpazifischen Raum steht jedoch nicht im Widerspruch zu guten und engen transatlantischen Beziehungen. Ganz im Gegenteil. Auch Europa hat sein Engagement in der Region Asien/Pazifik immer weiter intensiviert. Das deutsche Außenhandelsvolumen ist in den vergangenen Jahren deutlich gestiegen. Aber nirgendwo sind die Zuwächse so groß wie im Handel mit dem asiatisch-pazifischen Raum. Lange Zeit waren die USA Deutschlands größter Handelspartner außerhalb der Europäischen Union. Im Jahr 2011 hat erstmals China diese Position übernommen. Das relativiert nicht die Bedeutung der transatlantischen Wirtschaftsbeziehungen. Aber es dokumentiert, dass gerade die deutsche Wirtschaft sich im Hinblick auf ihre Außenhandelspartner diversifiziert hat. Und die Länder Asiens nehmen dabei einen immer prominenteren Platz ein. Als Handelsstaat hat Deutschland ein elementares Interesse an Frieden und Sicherheit im asiatisch-pazifischen Raum, an der friedlichen und von Regeln geleiteten Beilegung von Konflikten, an der Freiheit der Schifffahrtswege und an der Stärkung multilateraler regionaler Organisationen. Deutschlands Interessen im asiatisch-pazifischen Raum sind also weitgehend identisch mit denen der Vereinigten Staaten von Amerika. Amerikas Präsenz in der Region eröffnet den Ländern die Chance, ihren Wohlstand weiter zu steigern, die regionalen Sicherheitsstrukturen zu stärken und Konflikte friedlich beizulegen. In der öffentlichen Wahrnehmung nehmen die transatlantischen Beziehungen derweil einen höheren Stellenwert ein als die zu den Ländern Asiens. Ausweislich der Umfrage der „Transatlantic Trends“ 2012 sind sowohl Amerikaner als auch EU-Europäer der Auffassung, dass die Beziehungen zu den USA bzw. Europa wichtiger sind als die zu den Ländern Asiens.8 -------------------------------------------- 8 Umfrage durchgeführt vom German Marshall Fund: www.transatlantictrends.com: 61% der Europäer und 55 % der Amerikaner vertreten diese Auffassung. 148 Harald Leibrecht „Nation building at home“ – steigende Erwartungen an die europäischen Partner? Präsident Obama sagte in seiner Rede zur Amtseinführung am 21. Januar 2013: „A decade of war is now ending. An economic recovery has begun.“9 Amerika befindet sich also in einer selbsterklärten Nachkriegsphase. Dieser Satz Obamas entspricht dem derzeitigen Lebensgefühl vieler Amerikaner. Viele Menschen in den USA sind kriegsmüde. Viele sind von den Ergebnissen der Kriege seit 9/11 nicht überzeugt. Und verständlicherweise wünschen sie, dass sich ihre Politiker wieder stärker dem eigenen Land zuwenden, dass Investitionen in die Infrastruktur Amerikas getätigt werden, dass Brücken nicht nur im Irak oder in Afghanistan gebaut und erneuert werden, sondern vor allem in den USA selbst. Präsident Obamas Regierung steht zu Hause vor vielen großen Herausforderungen – „Nation building at home“10 gewissermaßen: Die Infrastruktur muss erneuert, Bildungssystem und Einwanderungsgesetzgebung reformiert, die Wirtschaft belebt, Arbeitsplätze geschaffen und die Sozialversicherungssysteme zukunftsfähig gemacht werden. Seit zwei Jahren steht die hohe Staatsverschuldung im Zentrum der innenpolitischen Debatte. Sie muss zurückgeführt werden, was weitere Konjunkturprogramme ausschließt. Unmöglich ist all dies nicht – zumal die neu entdeckten Vorkommen an Gas und Öl günstige Energiepreise mit sich bringen, die die Reindustrialisierung der USA erleichtern und das Wachstum fördern werden. Deutschland und die EU müssen damit rechnen, dass sich die USA angesichts dieser Aufgabenfülle in den kommenden Jahren stärker auf die „Baustellen“ im eigenen Lande konzentrieren werden als in der jüngsten Vergangenheit. Schon jetzt haben die USA beschlossen, ihre Militärausgaben in den kommenden zehn Jahren um 458 Mrd. USD zurückzufahren. Sie möchten ihren militärischen „footprint“ in der Welt verringern und verstärkt sicherheitspolitische Verantwortung teilen oder gar abgeben.11 Im Libyenkrieg und in Mali griffen und greifen sie nur unterstützend ein und überlassen die Initiative und die -------------------------------------------- 9 http://www.whitehouse.gov/the-press-office/2013/01/21/inaugural-addresspresident-barack-obama. 10 http://www.whitehouse.gov/state-of-the-union-2012. 11 http://articles.washingtonpost.com/2012-01-05/national/35439746_1_defensebudget-military-force-pentagon. Neue Perspektiven für die transatlantische Zusammenarbeit 149 Hauptverantwortung anderen Ländern, vor allem Frankreich und Großbritannien. Dieser Trend dürfte sich unter den Ministern Kerry und Hagel fortsetzen. Beide stehen als Veteranen des Vietnamkriegs groß angelegten militärischen Einsätzen eher skeptisch gegenüber und werden mit einem immer geringer werdenden Budget zu kämpfen haben. Die europäischen Partner müssen auf diese Veränderungen reagieren. Vertreter der US-Administration haben im Verlauf der vergangenen zwei Jahre immer wieder deutlich gemacht, dass die USA von Europa erwarten, international mehr Verantwortung zu übernehmen, um die Lasten der internationalen Politik gerechter zu verteilen. Der amerikanische Wunsch nach mehr „burden-sharing“ dürfte sich in Präsident Obamas zweiter Amtszeit noch verstärken. Dieser Wunsch ist verständlich, und Deutschland macht unter anderem durch sein Engagement in Afghanistan, durch die Stationierung der Patriot-Raketen in der Türkei sowie den langjährigen Einsatz im Kosovo deutlich, dass es um seine Verantwortung weiß und diese Verantwortung auch wahrnimmt. Wo früher Emotionen im transatlantischen Verhältnis dominierten, spielen heute Kosten-Nutzen-Kalkulationen eine immer wichtigere Rolle. Wir sollten uns ganz grundsätzlich darüber im Klaren sein: Europas Bedeutung für Amerika wird in Zukunft auch davon abhängen, ob Europa bereit und in der Lage ist, seinen Beitrag zur Lösung regionaler Konflikte und Bewältigung der globalen Herausforderungen zu leisten. Nur dann bleiben wir auch ein für die USA relevanter und wichtiger Partner. Zum Wandel in den transatlantischen Beziehungen im 21. Jahrhundert gehört also auch, dass viele Amerikaner Europa heute aus einem utilitaristischen Blickwinkel betrachten. Im amerikanischen Wunsch nach mehr Lastenteilung liegt im Übrigen eine Chance für Europa. Die USA haben in der Vergangenheit die Entwicklung einer Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik mitunter skeptisch begleitet. Sie schienen Europas Bemühungen um eine gemeinsame Verteidigungspolitik als Konkurrenz zur Atlantischen Allianz wahrzunehmen. Das hat sich geändert. Heute fordern die USA ein politisch und auch militärisch handlungsfähiges Europa. Der besondere Mehrwert der EU-Missionen liegt dabei in dem umfassenden Ansatz, der zivile und militärische Komponenten kombiniert, ein Modell, von dem auch die USA profitieren können. Wir sollten 150 Harald Leibrecht dies als Chance begreifen und unsere Sicherheits- und Verteidigungspolitik in Europa noch stärker zusammenführen. Der Vertrag von Lissabon hat die rechtlichen und institutionellen Grundlagen dafür geschaffen. Vorschläge zur Umsetzung liegen auf dem Tisch. Europa muss zukünftig noch stärker als bisher zum „Partner in Verantwortung“ werden. Die EU muss bereit sein, insbesondere in der direkten Nachbarschaft sicherheitspolitisch mehr Verantwortung zu übernehmen. Gleichzeitig müssen wir die europäischen und die atlantischen Sicherheits- und Verteidigungsstrukturen enger verzahnen, so dass NATO-Aktionen und das europäische Engagement im Rahmen der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik aufeinander abgestimmt sind und sich sinnvoll ergänzen. Wir sind hier am Anfang. Dass derzeit 40 US-Amerikaner in zivilen Missionen der EU mitarbeiten, ist ein gutes Zeichen dafür, dass wir auf dem richtigen Weg sind. Neue Perspektiven der Zusammenarbeit jenseits der Sicherheitspolitik Auch jenseits der Sicherheits- und Verteidigungspolitik wollen wir noch enger mit Nordamerika kooperieren. Wir sollten uns fragen: Wo können wir Wissen austauschen und gemeinsame Erfahrungen sammeln? Wie können wir den Verlust der emotionalen Beziehung zwischen den Staaten auffangen? Wo kann die Kooperation im wirtschaftlichen und im zivilgesellschaftlichen Bereich noch enger werden? Im Folgenden möchte ich drei ganz konkrete Perspektiven aufzeigen, die wir derzeit besonders aktiv verfolgen: „Skills Initiative“: Duale Berufsbildung made in USA? Bilateral hat das Auswärtige Amt im letzten Jahr seine Zusammenarbeit mit Nordamerika in einem Bereich deutlich verstärkt, der lange unterschätzt wurde: Berufsbildung und Fachkräfteaustausch. In seiner Rede zur Lage der Nation am 12. Februar 2013 sprach sich Präsident Barack Obama für eine Reform des amerikanischen Schulsystems aus. In den High Schools solle verstärkt auch berufsvorbereitendes Wissen vermittelt werden. Dies solle besser auf den Berufseinstieg vorbereiten. Deutschland hob er dabei als Vorbild heraus: Neue Perspektiven für die transatlantische Zusammenarbeit 151 „Countries like Germany focus on graduating their high school students with the equivalent of a technical degree from one of our community colleges, so those German kids, they're ready for a job when they graduate high school. They've been trained for the jobs that are there.”12 Bereits ein Jahr zuvor verwies er ebenfalls in seiner State of the Union-Ansprache auf Partnerschaften zwischen deutschen Unternehmen in den USA und dortigen Bildungseinrichtungen mit dem Ziel, Verbesserungen in der Fachkräfteausbildung zu erreichen: „Model partnerships between businesses like Siemens and community colleges in places like Charlotte, and Orlando, and Louisville are up and running.“13 Deutschland wird in den USA als Partner gesehen, der bei der dringend notwendigen Re-Industrialisierung helfen kann, weil deutsche Firmen, die in den USA investieren, ihre Arbeitskräfte vor Ort finden und schulen. Ich konnte diese Synergien zwischen Wirtschaftsund Bildungswelt beispielsweise an der engen Zusammenarbeit zwischen BMW und der Clemson University in Greenville, South Carolina beobachten. Die Deutsche Botschaft in Washington, die Generalkonsulate, das Büro des Delegierten der Deutschen Wirtschaft (RGIT) und die Deutsch-Amerikanischen Handelskammern in den USA unterstützen diese Zusammenarbeit mit der sogenannten „Skills Initiative“14. Im ersten Schritt werden Firmen und Bildungseinrichtungen mit den Verantwortlichen auf Bundesstaatenebene zusammengebracht. Natürlich kann das deutsche System nicht 1:1 auf die USA übertragen werden. Die genauen Modalitäten müssen auf die Anforderungen der Unternehmen und das Bildungssystem der USA abgestimmt sein. Dazu bedarf es engster Abstimmung auf regionaler Ebene. Sowohl bei den Unternehmen als auch auf Seite der Regierungen von Bundesstaaten und Bildungseinrichtungen trifft die Initiative auf größtes Interesse. Regionale „Skills Initiative“-Veranstaltungen konnten bislang u. a. in den Carolinas, Ohio und Maryland durchgeführt werden. Weitere Gespräche und Planungen laufen u. a. mit Massachusetts, Wisconsin und Pennsylvania. -------------------------------------------12 www.whitehouse.gov/state-of-the-union-2013. www.whitehouse.gov/state-of-the-union-2012. 14 Weitere Informationen unter: www.germany.info/skillsinitiative. 13 152 Harald Leibrecht Unterstützt wird diese Initiative durch zahlreiche Besucherreisen und Workshops zum Thema berufliche Bildung und duales System. Im Frühsommer 2013 hält sich beispielsweise eine Gruppe von Politikern und Wirtschaftsvertretern aus Minnesota in meinem Wahlkreis in Baden-Württemberg auf und besucht dort große und mittelständische Unternehmen, um sich einen eigenen Eindruck von unseren Erfahrungen zum Thema berufliche Bildung zu machen. Für Deutschland bedeutet diese Initiative die Chance, eigenes Wissen weiterzuvermitteln und sich als Partner in den USA präsent zu halten. Gleichzeitig gelingt es deutschen Unternehmen mit diesem Modell der spezialisierten Ausbildung, sich an ihren Standorten in den USA mit qualifizierten Arbeitskräften zu versorgen. Die „Skills Initiative“ zeigt beispielhaft, dass es der deutschen Außenpolitik gelungen ist, innerhalb kürzester Zeit und in idealer Weise eine deutliche Priorität der Obama-Administration aufzugreifen und so die deutsch-amerikanischen Beziehungen auf eine für beide Seiten äußerst gewinnbringende Art und Weise voranzubringen. Transatlantische Klimabrücke: Zusammenarbeit bei neuen Energietechnologien Ein zweites Thema, das in den vergangenen Jahren in der bilateralen Zusammenarbeit sehr an Bedeutung gewonnen hat, ist die Energiepolitik. Zunächst einmal mag das verwundern. Auf Bundesebene gibt es ja gerade beim Thema Klima und Energie durchaus unterschiedliche Entwicklungen und Auffassungen zwischen Deutschland und den USA und auch zwischen Deutschland und Kanada. Während Deutschland den Atomausstieg beschlossen hat und immer mehr auf regenerative Energien baut, setzen die USA und Kanada auch weiterhin hauptsächlich auf fossile Energieträger sowie Atomkraft. Dazu tragen insbesondere die höheren Fördermengen an Erdöl – in Kanada überwiegend als Rohöl aus Ölsänden – und Erdgas im eigenen Land bei. Die Förderung von Schiefergas hat in den USA von 2005 bis 2010 um 45 % zugenommen. Diese Entwicklungen machen Energie wieder günstiger und ermöglichen damit eine Reindustrialisierung, und sie verringern die Abhängigkeit der USA von Öl- und Gasimporten aus anderen Ländern. Auch wenn die USA so schnell nicht vollkommen unabhängig von diesen Importen sein werden, so ist davon auszugehen, dass sie Neue Perspektiven für die transatlantische Zusammenarbeit 153 trotzdem immer weniger auf Importe aus Krisenregionen angewiesen sein werden und schon bald zu einem Energieexporteur werden könnten – mit weitreichenden Folgen auch für die US-Außenpolitik. Gleichzeitig gibt es in den USA viel Interesse an den deutschen Erfahrungen mit erneuerbaren Energien. Präsident Obama hat sich in seiner jüngsten Antrittsrede dafür ausgesprochen, dass die USA den Wandel zu erneuerbaren Energien mit anführen. Mit dieser Auffassung trifft er allerdings bei großen Teilen des Kongresses auf Widerstände. Um diesem grundsätzlich vorhandenen Interesse entgegenzukommen und die in einigen Bundesstaaten sehr aktive Entwicklung hin zu regenerativen Energiequellen zu unterstützen, hat die Bundesregierung seit 2008 eine „Transatlantische Klimabrücke“ über den Atlantik geschlagen. Damit werden auf der Ebene der US-Bundesstaaten und der kanadischen Provinzen nachhaltige Energieprojekte gefördert und deutsches Expertenwissen vermittelt. Dadurch haben sich bereits viele enge Beziehungen zwischen einzelnen Unternehmen sowie zwischen deutschen Städten, Regionen und Bundesländern und amerikanischen Bundesstaaten und Provinzen entwickelt. Transatlantischer Marktplatz: Chancen und Risiken Liberale Außenpolitik ist Freihandelspolitik. Ein weltumfassendes Freihandelssystem scheint derzeit nicht realisierbar, auch wenn es grundsätzlich unser vorrangiges Ziel bleibt. Umso wichtiger ist es, das Thema regional weiter zu verfolgen. Was liegt da näher, als die beiden größten Wirtschaftsräume der Welt zu einem einzigen großen Wirtschaftsraum zusammenzuschließen. Dafür scheinen die Chancen nun besser zu stehen als jemals zuvor. Präsident Obama und die europäischen Staats- und Regierungschefs haben sich im Frühjahr 2013 für eine umfassende und ambitionierte transatlantische Handels- und Investitionspartnerschaft ausgesprochen. Deutschland ist dabei eine treibende Kraft und sollte dies auch bleiben. Wir sollten alles daran setzen, die Chance zu nutzen, Handel und Investitionen über den Atlantik hinweg noch enger zu verflechten. Dies könnte sogar der Doha-Runde einen neuen Anschub geben. Welche Vorteile bringt dieses Projekt für die beiden Partner und warum sind die Voraussetzungen für seinen Erfolg diesmal besser als bei früheren Anläufen? 154 Harald Leibrecht Europa und Amerika suchen gleichermaßen nach Wachstumsimpulsen, die die Wirtschaften beleben und neue Arbeitsplätze schaffen. Jeder Partner hat großes Interesse am Zustandekommen eines Abkommens. Gemeinsam erwirtschaften Europäer und Amerikaner fast die Hälfte des Weltsozialprodukts. Der amerikanisch-europäische Warenaustausch erreichte 2011 einen Wert von über 500 Milliarden Euro. Mehr als die Hälfte aller amerikanischen Auslandsinvestitionen geht nach Europa, auch heute noch. Umgekehrt betragen die europäischen Investitionen in den USA das Achtfache unserer Investitionen in China und Indien zusammen. Gleichzeitig geht es bei diesem Abkommen auch um Normen, Standards und Regulierungsfragen. Mit ihnen entscheiden sich die Marktchancen vieler guter Erfindungen und Produkte. Gemeinsam haben Europa und die USA das Know-how und das Gewicht, um weltweit akzeptierte Maßstäbe zu setzen. Wir wollen, dass die Normen und Standards von morgen von uns und bei uns gesetzt werden, von der Elektromobilität bis zum Schutz geistigen Eigentums. Auch die hohen Sozial- und Umweltstandards in Europa und den USA könnten Maßstab werden für künftige Abkommen mit dem Rest der Welt. Das Abkommen kann auch die Position der beiden Partner gegenüber Asien stärken. Eine Studie des Centre for Economic Policy Research (CEPR) im Auftrag der EU-Kommission kommt zum Ergebnis, dass ein umfassendes und ehrgeiziges Abkommen zusätzliche Wachstumseffekte von jährlich bis zu 119 Mrd. € in der EU und bis zu 95 Mrd. € in den USA generieren könnte, hauptsächlich zurückzuführen auf Regulierungsabbau und Liberalisierung der Dienstleistungen. Ein ifo-Gutachten im Auftrag des Bundesministeriums für Wirtschaft kommt zu ähnlichen Ergebnissen. Alleine in Deutschland wird mit einem Zuwachs von bis zu 110.000 Arbeitsplätzen gerechnet.15 Ein transatlantisches Abkommen hätte jedoch nicht nur wirtschaftliches Potenzial. Es wäre ein starkes politisches Signal für die gemeinsame Gestaltungskraft von Europa und Amerika. Es würde Maßstäbe setzen für eine offene Wirtschaftsordnung, wie wir sie weltweit erhalten und ausbauen wollen. Es würde auch unserer engen Sicherheitspartnerschaft in der NATO und unserer Zusammenarbeit in -------------------------------------------- 15 „Dimensionen und Auswirkungen eines Freihandelsabkommens zwischen der EU und den USA“, Studie des ifo-Instituts München. Neue Perspektiven für die transatlantische Zusammenarbeit 155 vielen wichtigen außenpolitischen Fragen zusätzlichen Schub geben. Es wäre ein Bekenntnis zur transatlantischen Zusammenarbeit, das dieser eine neue Qualität geben würde. Ein Schritt weg von einer reinen sicherheits- und ordnungspolitischen Interessengemeinschaft hin zu einer offenen Wirtschaftsgemeinschaft mit Interesse an gegenseitigen Investitionen und gemeinsamem Handel. Es wäre von amerikanischer Seite ein Signal an Europa, dass die stärkere Gewichtung Asiens in der Außenpolitik auch in der praktischen Politik keine Abkehr von Europa bedeutet. Ganz in dem Sinne, wie es Vizepräsident Joe Biden bei der Münchner Sicherheitskonferenz im Januar 2013 betont hat: „Simply put, President Obama and I continue to believe that, Europe is the cornerstone of our engagement with the rest of the world and is the catalyst for our global cooperation. It's that basic. Nothing has changed.”16 Uns allen ist in den Jahren seit Ausbruch der Finanzkrise 2008 bewusst geworden, wie rasant der Aufstieg Chinas, Indiens, Brasiliens und anderer Länder die Welt verändert hat. Wenn es uns gelingt, über den Atlantik hinweg unsere wirtschaftlichen und kreativen Kräfte zu bündeln, dann können wir der jetzt nach und nach entstehenden multipolaren Welt einen Stempel aufdrücken, der unsere Interessen wahrt und fest in unseren gemeinsamen Werten verankert ist. Amerika und Europa waren wegen der Finanzkrise in den vergangenen Jahren sehr auf sich selbst konzentriert. Die Verhandlungen zu einem umfassenden Abkommen bieten die Chance, aus dieser Introvertiertheit auszubrechen und uns auf unsere enormen Stärken beiderseits des Atlantiks zu besinnen. Unsere Gesellschaften bringen die klügsten Köpfe hervor, sie produzieren die kreativsten Ideen, sie bieten die besten Chancen für die volle Entfaltung des Potenzials eines jeden Einzelnen. Ein umfassendes transatlantisches Abkommen wäre ein überzeugendes Signal für die Selbstbehauptung Europas und Amerikas in der Globalisierung und für unsere Entschlossenheit, die Zukunft nach unseren eigenen Werten zu gestalten. Innerhalb der EU gibt es viel Unterstützung für diese „Transatlantic Trade and Investment Partnership“. Gleichzeitig gibt es natürlich auch zahlreiche Bedenken und Unklarheiten, auf die wir uns einstellen sollten und zu denen wir das Gespräch innerhalb und außerhalb der -------------------------------------------- 16 http://www.whitehouse.gov/the-press-office/2013/02/02/remarks-vice-presidentjoe-biden-munich-security-conference-hotel-bayeri. 156 Harald Leibrecht EU suchen müssen. Schwierig könnten die Verhandlungen bei den Themen audiovisuelle Medien, Verbraucherschutz, Agrarsubventionen und Lebensmittelsicherheit werden. In den USA ist in weiten Teilen der Bevölkerung und der politischen Klasse das Bewusstsein gestiegen, dass die US-Wirtschaft sich stärker in den Weltmarkt integrieren muss. Neben zahlreichen Politikern auf beiden Seiten des Atlantiks unterstützen auch die Wirtschaftsvertreter – anders als bei früheren Anläufen – das transatlantische Abkommen ausdrücklich. Einer Umfrage von Forsa im Auftrag des Handelsblatts zufolge äußerten 86 % von über 700 befragten Topmanagern ihre Zustimmung zu und Unterstützung für das geplante Abkommen. Bemerkenswert ist, dass nicht nur die großen Unternehmen, die direkte Handelsbeziehungen mit den USA pflegen, sich für das Abkommen ausgesprochen haben, sondern auch die meisten mittelständischen Betriebe, die einen trickle-down-Effekt erwarten. In den USA hat sich der Unternehmensverband US-Chamber of Commerce schon früh hinter das Vorhaben gestellt, und auch die traditionell eher freihandelskritischen Gewerkschaften verhalten sich konstruktiv. Sehr viel weiter sind die Dinge bei einem anderen liberalen Projekt bereits gediehen: Ein Wirtschafts- und Handelsabkommen zwischen der EU und Kanada (CETA – Comprehensive Economic and Trade Agreement) soll demnächst nach schwierigen Verhandlungen abgeschlossen werden. Auch hier streben beide Seiten ein ambitioniertes Abkommen an, das neben dem weitgehenden Abbau von Zöllen den gegenseitigen Marktzugang für Waren und Dienstleistungen deutlich verbessern soll. Fazit: Solides Fundament für neue Brückenschläge Die transatlantische Partnerschaft befindet sich im Wandel. Sie steht vor großen Herausforderungen, und zugleich erwartet sie zahlreiche spannende Perspektiven. Entscheidend wird auch in Zukunft das Fundament dieser Partnerschaft sein: Europa und Amerika teilen gemeinsame Werte. Das ist keine leere Phrase. Die Würde des Menschen steht für uns im Mittelpunkt unseres politischen Handelns. Das ist für alle politischen Entscheidungsträger auf beiden Seiten des Atlantiks unstrittig, auch über Parteigrenzen Neue Perspektiven für die transatlantische Zusammenarbeit 157 hinweg. Und diese Selbstverständlichkeit über das gemeinsame Wertefundament macht uns die Verständigung über das politisch und wirtschaftlich Notwendige leichter. Das schließt Differenzen über taktische Fragen nicht aus. Aber der Kurs ist derselbe, weil wir uns an einem gemeinsamen Kompass orientieren. Ich glaube, dass es Amerikanern und Europäern gerade in einer immer stärker globalisierten Welt – und bei aller berechtigten Begeisterung über die wirtschaftlichen Chancen in Asien und Lateinamerika – guttut, sich auf dieses gemeinsame Wertefundament zu besinnen. Wir sind „like-minded“, wie unsere amerikanischen und kanadischen Freunde sagen, und wir sollten das nicht gering schätzen. Wenn unsere Werte in der Welt des 21. Jahrhunderts weiter Beachtung finden sollen, wenn unsere Vorstellungen vom demokratischen Regieren, von der gleichberechtigen Rolle der Frau, vom freiheitlichen Wirtschaften in sozialer Verantwortung weiter Gültigkeit haben sollen, dann müssen Europäer und Amerikaner gemeinsam für sie werben. Das hat nichts mit Werteimperialismus zu tun. Wir wollen niemandem vorschreiben, wie er zu leben hat. Aber wir haben allen Grund, für unsere gemeinsamen Werte einzustehen. Gerade weil wir in einer globalisierten, pluralistischen Welt leben, ist das Besinnen auf die eigenen Werte so wichtig. Nur wer um das eigene Wertefundament weiß, kann mit Unterschieden gelassen umgehen. Und ich bin mir sicher: Wenn Amerikaner und Europäer unsere gemeinsamen Werte überzeugend vertreten, dann können wir auch andere für diese Werte begeistern. Freiheit im Sozialismus 159 Robert von Rimscha Freiheit im Sozialismus Deutsche Außen-, Entwicklungs- und Menschenrechtspolitik in Laos: Ein Spagat zwischen Anknüpfungspunkten und Abgründen1 Der Praxistest für jede liberale Außenpolitik findet vor Ort statt. Auf den nachfolgenden Seiten geht es um einen solchen Praxistest. Der Autor bittet vorab um Verständnis dafür, dass eine solche Schilderung, die auch eine Schilderung von der Kollision liberaler Haltungen mit völlig anderen Systemgegebenheiten ist, nicht ohne Bezüge zum eigenen Handeln auskommen kann. Aber das Handeln der deutschen Botschaft, das hier auch beschrieben wird, ist durchaus übertragbar. Dieser Praxistest ist ein Fallbeispiel für Möglichkeiten und Grenzen einer an liberalen Grundsätzen orientierten Politik in einem schwierigen Umfeld und mit einem staatlichen Partner, der sich als Organ der „Revolutionären Volkspartei“ versteht. Wie also geht das: Liberal sein im Kommunismus? Man stelle sich ein Land vor, das ungefähr so groß ist wie die alte Bundesrepublik West. Dieses Land hat aber nur die Bevölkerung von Berlin, Hamburg und München – knapp sieben Millionen Bürger. Das Sozialprodukt liegt bei inzwischen gut 1.500 Dollar pro Kopf und Jahr, nachdem Hunderttausende aus der Armut entkommen konnten. Mit dem Auto dauert es noch immer 30 Stunden, um von der Nordgrenze mit China an die Südgrenze mit Kambodscha zu fahren, da die Straßen schlecht und weite Teile des Landes bergig sind. Dieses Land heißt Laos. Es steht nie im Zentrum der internationalen Öffentlichkeit. Bekannt ist Laos nur als lange abgeschotteter, sich allmählich öffnender, romantisch-exotischer Sehnsuchtsort für Reisende. Die prächtig erhaltene Altstadt von Luang Prabang ist der bedeutsamste Magnet für Touristen. In deutschen Zeitungen findet sich Laos -------------------------------------------- 1 Dieser Beitrag gibt die persönlichen Wertungen des Autors wieder und ist nicht als offizielle Äußerung des Auswärtigen Amts zu verstehen. 160 Robert von Rimscha denn auch fast nur im Reise-Teil. Welches Image dem Land anhaftet, lässt sich an den Titelzeilen dieser Artikel ablesen: „Erwachendes Land am Mekong/In Laos ist das Leben ein langer, zumeist ruhiger Fluss“2, „Stillgestanden! In Laos ist das Leben ein langer, ruhiger Fluss. Nicht nur für die Einheimischen“3, „Laos erwacht aus der Zeitlosigkeit“4, „Nostalgie am Mekong“5, „Das vergessene Land/Langsam lüftet sich der Bambusvorhang in Fernost – zum Vorschein kommt Laos, unberührt und ursprünglich, mit dem größten Dschungel und den schönsten Tempeln Asiens“6, „Wo die Sonne hinter dem Buddha versinkt/Laos ist arm an Touristen und reich an asiatischer Ruhe und Gastfreundschaft“7, „Noch lächelt Buddha/Das verschlafene Laos ist auf den Ansturm des Massentourismus nicht vorbereitet“8, „Ein weißer Fleck mit vielen Farben/Laos: Unberührtes Reiseziel auf der Landkarte Südostasiens“9 oder „Laos pflegt den Charme der Langsamkeit/Auf der Flucht vor dem Fortschritt zählt jeder Monat/Südostasiens vergessenes Kind trödelt einer Zukunft entgegen, für die sich das Land ohnehin lieber Zeit lassen sollte.“10 Diese Reise-Lyrik und Trägheits-Metaphorik blendet eine Dimension konsequent aus. Laos zählt zur letzten Handvoll kommunistischer Staaten. Rote Hammer-und-Sichel-Fahnen prangen nicht nur an öffentlichen Gebäuden, sondern auch an vielen Privathäusern. Wer bei der Zentralbank Referatsleiter werden möchte, muss zunächst zur halbjährigen Marxismus-Schulung. In der Provinzhauptstadt Sam Neua wird die Bevölkerung um 5:30 Uhr früh von Lautsprechern geweckt, aus denen erbauliche Parolen und Selbstverpflichtungen zur Planübererfüllung dröhnen. Wenn Staatspräsident Choummaly Sayasone zum Nationalfeiertag am 2. Dezember eine Rede vor dem diplomatischen Corps hält, benutzt er wieder und wieder die Formel „Partei und Staat“. Der Präsident ist zugleich Nummer Eins im Politbüro der „Revolutionären Volkspartei“, der KP. Und er ist hoher Offizier. Par-------------------------------------------2 Die Welt, 04.06.2004, S. R1. Süddeutsche Zeitung Magazin, 22.08.2001, S. 5-7. 4 Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11.04.1996, S. R1. 5 Die Zeit, 16.02.1996, S. 54. 6 Welt am Sonntag, 21.03.2004, S. 79. 7 Süddeutsche Zeitung, 05.03.1996, S. I. 8 Die Zeit, 04.011991, S. 37. 9 Rheinischer Merkur, 19.05.1989, S. 25. 10 Süddeutsche Zeitung, 02.03.1999, S. V2/1. 3 Freiheit im Sozialismus 161 tei, Staat, Armee, Regierung – personell und strukturell bilden sie ein kaum abgrenzbares Ganzes. Einzig die Nationalversammlung, das Parlament, hat sich die vergangenen Jahre über von einer Abnick- zu einer Kontroll-Instanz entwickelt. Kandidaten für Parlamentssitze müssen zwar von der Partei oder einer ihrer Massenorganisationen aufgestellt werden, doch erstens kommen gerade über die Jugendliga der KP immer wieder Nichtmitglieder wie der Vorsitzende des Jungunternehmerverbandes auf den Stimmzettel, und zweitens nehmen sich die Wähler die Freiheit, auch verdienten Genossen kein Mandat zu geben. Beides resultiert in einer zunehmenden Anbindung der Parlamentarier an ihren Wahlkreis, dem gegenüber sie sich als rechenschaftspflichtig sehen. In der gültigen Menschenrechts-Landesstrategie der Europäischen Union (EU) ist denn auch die institutionelle Stärkung der Unabhängigkeit und der Aufsichtsfunktion der Nationalversammlung als eines von drei Haupt-Zielen fixiert. Deutschland ist hier am wirksamsten aktiv durch die Entsendung zweier „Integrierter Experten“11 unter dem Dach des „Centrum für internationale Migration und Entwicklung“ (CIM), die für die beiden wichtigsten Parlaments-Ausschüsse arbeiten und unter anderem 2012 am Aufbau des „Parliamentary Learning Center“, einer Mischung aus Wissenschaftlichem Dienst und praktischer Fortbildungsanstalt für Abgeordnete, maßgeblich beteiligt waren. Die beiden anderen Kernanliegen der EU-Strategie sind die Unterstützung der Zivilgesellschaft und mehr Rechtsstaatlichkeit. Wie erheblich die tatsächlichen Defizite in Laos sind, wird in diversen internationalen Rankings deutlich. Beispiel Pressefreiheit: Laos liegt in der aktuellen Rangliste der Pressefreiheit von „Reporter ohne Grenzen“ auf Rang 168 von 179 Staaten. Einen Grund hierfür hat die Schweizer Journalistin Deborah Rast aus der Redaktion des „Blick“ als Hospitantin bei der „Vientiane Times“ tagtäglich erlebt. Laotische Journalisten sind Staatsbedienstete und zur Parteitreue verpflichtet. Rast schildert die Folgen: „Nie würden die Journalisten etwa negativ über den umstrittenen Sayaburi-Staudamm berichten. (…) Im Notfall werden kritische Zitate von Anwohnern einfach komplett umgeschrie-------------------------------------------- 11 Sie unterstehen dem örtlichen Arbeitgeber im Partnerland und sind in die dortigen Strukturen voll integriert. Deutschland zahlt die Gehaltsdifferenz zwischen ortsüblichem und deutschem Lohn. 162 Robert von Rimscha ben. Aus ‚Ich hasse den Damm, ich wurde von meinem Land vertrieben‘ wird ‚Ich liebe den Damm, dadurch bekomme ich Strom.‘“12 Beispiel Korruption: Beim von „Transparency International“ erstellten Korruptionswahrnehmungsindex 2012 liegt Laos auf Platz 160 von 174 überprüften Ländern. Gemessen wird hier, als wie bestechlich der öffentliche Sektor wahrgenommen wird. Die „Vientiane Times“ vom 30. März 2012 machte mit der Nachricht auf, Staats- und Parteichef Choummaly Sayasone habe ein entschiedeneres und härteres Vorgehen gegen die Korruption verlangt. Er begründete dies auch damit, Laos liege wegen Vetternwirtschaft und Bestechlichkeit „unter dem Mikroskop“ des Auslands und internationaler Organisationen. „Corruption cited as main reason for poverty“, meldete die gleiche Zeitung in einer unzweideutigen Schlagzeile ein halbes Jahr später.13 Wiedergegeben wurde in dem Text, was Cheuang Sombounkhanh in einer Rede gesagt hatte, der Vorsitzende des Rates für Propaganda und Ausbildung im Zentralkomitee der regierenden Kommunisten. Mithin ist Korruption ein Thema, dessen endemische Natur von Spitzenvertretern des Landes nicht geleugnet wird. Daraus zu schließen, diese führenden Vertreter seien selbst immun, wäre indes falsch. Beispiel wirtschaftliche Freiheit: Im Index „Ease of Doing Business“ der Weltbank und der „International Finance Corporation“ von 2013 liegt Laos von 185 Staaten auf Rang 163. Beim Einzelmerkmal „Schutz von Investoren“ rangiert Laos gar auf Platsz 184 und ist damit Vorletzter, beim Einzelmerkmal „Umgang mit Insolvenz“ ist Laos Letzter. Im Klartext bedeutet dies: Alles eingesetzte Kapital ist in diesem Falle verloren. Beispiel Vereinigungsfreiheit: Generalleutnant Duangchai Phichit, der Verteidigungsminister des Landes, sprach Anfang 2013 aus Anlass des 64. Jahrestages der Gründung der Armee. Laut Pressemitteilung „erinnerte er die Soldaten an die Ideologie und die verdeckten Aktivitäten von Staatsfeinden und sagte, diese führten destabilisierende Handlungen in umfassender Art und Weise aus und konzentrierten sich dabei auf die Strategie des friedlichen Wandels.“14 Eine Führung, die „Staatsfeindschaft“ mit „friedlichem Wandel“ gleichsetzt, ist eine misstrauische. Lokale Nichtregierungsorganisationen, „Non Profit As-------------------------------------------12 Rast, Deborah: Schreiben für die Partei, in: BLICK Online, 06.02.2013. 27.10.2012, S. 3. 14 Vgl. Vientiane Times, 19.01.2013. 13 Freiheit im Sozialismus 163 sociations“ (NPAs) genannt, werden zögerlich registriert und strikt kontrolliert. Oppositionsgruppen in einem politischen Sinne gibt es nicht. Jene wenigen Laoten, die an Demonstrationen beteiligt waren, sitzen als Dissidenten in Haft. Beispiel Rechtsstaatlichkeit und Unabhängigkeit der Justiz: „Vetternwirtschaft und Bestechlichkeit werden täglich schlimmer“, hat Oudet Souvannavong, Vize-Präsident der Laotischen Nationalen Industrie- und Handelskammer, einer US-Zeitung gesagt. „Gerichte gehen an den Höchstbietenden.“15 Und damit natürlich auch ihre Urteile. Beispiel Verteilungsgerechtigkeit: Obwohl der Anteil der Armen offiziellen Angaben zufolge von zunächst 39 Prozent in den 1990er Jahren auf zuerst 27 Prozent 2010 und dann auf 17 Prozent Anfang 201316 gesenkt werden konnte, ist der wichtigste Indikator für die breite Partizipation der Bevölkerung am raschen Wirtschaftswachstum in eine negative Richtung gegangen: Der Gini-Koeffizient wuchs von 30,4 in den 1990er Jahren auf 36,7 im Jahr 2008. So rangiert Laos denn auch beim „Human Development Index“ der Vereinten Nationen (VN) auf Platz 138 von 187 untersuchten Staaten.17 Politisch und strukturell ist Laos folglich ziemlich genau das Gegenteil dessen, was ein liberales Koordinatensystem ausmachen würde. Es ist nur folgerichtig, dass beim „Freiheitsbarometer Asien 2010“, einer Meta-Studie der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit, Laos auf dem vorletzten Rang landete – mit 4.92 von 100 möglichen Punkten.18 Der laotische Kommunismus kam 1975 nicht nach militärischen Triumphen oder nach einer erfolgreichen Mobilisierung breiter Bevölkerungsschichten an die Macht, sondern eher by default, in einem Machtvakuum quasi, wie Vatthana Pholsena korrekt beschreibt19. Auf -------------------------------------------- 15 Otto, Ben: Foreign Money Pours Into Laos/Neighboring Countries Jostle For Work In Hydropower And Resources; Western Companies Also Step In, in: Wall Street Journal, 29.01.2013. 16 Vgl. Vientiane Times, 04.04.2013, S. 1. Die Armut in Laos wird staatlicherseits nicht nach Individuen, sondern nach betroffenen Familienhaushalten gemessen. 17 Vgl. UNDP: Human Development Report 2011; New York 2011, und, trotz erheblicher Fortschritte, unverändert vom Rang her in den Berichten 2012 und 2013. 18 Letztplatziert war Nordkorea mit 0.00 Punkten. Vor Laos lagen Myanmar/Burma (vor den Reformen) mit 14.89 Punkten und Brunei mit 16.22 Zählern. Als freiestes Land in Asien wurde Japan ermittelt. 19 Vgl. Pholsena, Vatthana: Post-war Laos. The Politics of Culture, History and Identity, Singapur 2006, S. 3. 164 Robert von Rimscha dem Nebenschauplatz des Haupt-Indochinakrieges wurde der Kampf durch Aussitzen gewonnen, nicht durch Angriff. Für Waffen, Struktur und Ideologie sorgten die vietnamesischen Brüder. Für antikolonialistische, antikapitalistische und antiimperialistische Haltungen in der Bevölkerung taten Franzosen und Amerikaner ausreichend viel. Seitdem regiert im Kern ein kleiner Kreis von Siegern, die intern keinen Dissens zulassen, nach außen jedoch – auch gegenüber der eigenen Bevölkerung – auf ideologisches Sendungsbewusstsein weitgehend verzichten. So sind heute nur drei Prozent der Erwachsenen Mitglieder der streng leninistisch, hierarchisch allein auf die Spitze ausgerichteten Partei. Die sich rapide vermehrenden KP-Flaggen überall in Laos sind kein Indiz orthodox-ideologischer Restauration, sondern vielmehr der Versuch, das gegenwärtige Regierungssystem als integralen und konstitutiven Bestandteil der laotischen Nationalgeschichte zu präsentieren. Seinen Kern und Ausgangspunkt hat dieser post-sozialistische Leninismus im Gründungsmythos der Kriegsjahre, und heute ist die Unabhängigkeits-Dividende zur wichtigsten Legitimierung der Ein-ParteienHerrschaft geworden. Für die Gegenwart gibt es ein zweites MetaNarrativ, das ähnliche integrierende und Kontinuität schaffende Funktion hat: Partei und Staat sind dem alles überwölbenden Ziel der Modernisierung verpflichtet. Modernisierung bedeutet eben auch, dass es per Definition keinen Widerspruch zwischen sozialistischem Aufbruch und marktwirtschaftlicher Realität geben kann, und damit auch keinen Widerspruch zwischen Öffnung und Beharren auf dem Machtmonopol der KP. Als drittes ideologisches Element kommt die zunehmende SelbstVerortung im asiatischen Kontext hinzu, wobei auch hier die Auswahl der Vorbilder eine selektive – und illiberale – ist. Die Tradition Asiens steht aus Sicht der laotischen Kommunisten für den starken Vater Staat, der Land und Menschen führt und dabei jene Richtung kennt und vorgibt, in die sich alle zu bewegen haben. Korrektive werden nicht für nötig erachtet. Der so entstandene Amalgam-Patriotismus, der eigentliche Kitt der Gesellschaft, hat mit Buddhismus und erheblichem Stolz auf das beeindruckende Wirtschaftswachstum von konstant knapp acht Pro- Freiheit im Sozialismus 165 zent20 oder, breiter gedeutet, mit Stolz auf die Aufbauleistung seit dem Krieg mindestens so viel zu tun wie mit Sozialismus im engeren Sinne. Was vor ihnen war, das umarmen die Kommunisten, sei es Buddhismus, royalistisches Erbe oder die reiche Alltagskultur aus Musik, Festen, Kunsthandwerk. Wenn es ein Fanal für diesen dominanten Diskurs des Patriotismus gibt, so mag man es darin sehen, dass blutjunge Heavy-Metal-Musiker in den Live-Clubs der Hauptstadt Vientiane stolz T-Shirts mit der Nationalfahne tragen. Und die Fahnen sind nicht etwa distanzierend verfremdet. Beobachter haben die paradoxe Situation des laotischen Kommunismus auf die Formel gebracht, hier werde Perestroika ohne Glasnost praktiziert. Individualismus statt Armut Wie kann man in solchen Verhältnissen liberale Außen- und Menschenrechtspolitik gestalten? Wie kann Deutschland die Zivilgesellschaft stärken, wenn deren Vertreter eingeschüchtert werden? Wie können die Interessen der deutschen Wirtschaft vertreten werden, wenn es tagtägliche Praxis ist, dass mindestens zehn Prozent des Investitionsvolumens in den Taschen der Genehmigenden landen, und wenn es einen nennenswerten Schutz von Privateigentum nicht gibt? Wie kann man für Freiheit werben, wo es Freiräume kaum gibt? Man kann dies alles – allerdings sehr beschränkt, oft eher durch indirektes Tun denn durch ostentatives Auftreten, und stets nur in einer Politik der kleinen Schritte quer durch die Ebene der Mühen. Deutschland ist in Laos zweitgrößter Geber von ODA (Official Development Assistance) nach Japan. Ein vorrangiges Interesse deutscher Politik in Laos ist daher der zielführende Einsatz dieser Mittel für die Entwicklungszusammenarbeit. Es lohnt sich, die hier gültigen Mechanismen näher zu betrachten – wegen des Volumens und aufgrund der Tatsache, dass Entwicklungszusammenarbeit nur unter Einbeziehung staatlicher Partner möglich ist, auch wenn der primäre Nutznießer die breite Bevölkerung sein soll. -------------------------------------------- 20 7,3 % (2005), 7,4 % (2006), 7,5 % (2007), 7,5 % (2008), 6,5 % (2009), 7,7 % (2010), 8,0 % (2011), 7,9 % (ADB-Schätzung) bis 8,2 % (Weltbank-Schätzung) (2012) 166 Robert von Rimscha Laos ist in einer weiteren Hinsicht ein Beispielland. Als zweiter Partner-Staat weltweit21 wurde Laos 2012 zum Pilot-Land der neuen gemeinsamen Außenstruktur deutscher Politik. Die Steuerung der Umsetzungsorganisationen wie „Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit“ (GIZ), „Kreditanstalt für Wiederaufbau“ (KfW) oder „Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe“ (BGR) wurde in die Botschaft verlagert. Statt der Schwerpunktkoordinatoren von der GIZ gibt es jetzt Schwerpunktteams unter Leitung eines Botschaftsangehörigen. Mit dieser und etlichen weiteren organisatorischen Umstellungen soll erreicht werden, dass jene, die implementieren sollen, tatsächlich auch das implementieren, was politisch von Deutschland gewollt wird. Als kommunistisches Land verfährt Laos strikt entlang des jeweils gültigen Fünfjahresplans. NSEDP heißt er in Laos: „National SocioEconomic Development Plan“. Wenn ein westliches Land die latenten Verdachtsmomente, insgeheim gehe es ihm um Systemwechsel und regime change, und ein solches Grundmisstrauen ist in der laotischen Führung breit vorhanden, erfolgreich aushebeln möchte, dann ist es ratsam, die eigenen Aktivitäten als entlang der Vorgaben des NSEDP ausgerichtet darzustellen und sie auch tatsächlich im Kontext der einheimischen Ziele zu begreifen. Die laotische Führung hat zwei Visionen: Bis 2015 sollen die „Millennium Development Goals“ (MDGs) erreicht werden; bis 2020 möchte das Land den Status eines „Least Developed Country“ (LDC) überwunden haben. Der NSEDP ist die Blaupause für jene Maßnahmen, die diesen beiden Zielen dienen. So hat sich die laotische Regierung beispielsweise vorgenommen, innerhalb des aktuellen Fünfjahresplans eine Million Landtitel zu vergeben. Für das offizielle Vientiane ist dies ein erheblicher Beitrag zur Armutsbekämpfung in ländlichen Regionen, also zur MDG-Erreichung. Denn es ist offenkundig, dass Agrarland besser genutzt wird, wenn jene, die es bearbeiten, rechtliche Sicherheit hinsichtlich ihres Grund und Bodens haben. Dass die Vergabe von Landtiteln bedeutsam ist im Kontext der Stärkung der Produktivität in der Landwirtschaft und damit einen wichtigen Beitrag zur Armutsbekämpfung leistet, steht außer Frage. -------------------------------------------- 21 Der erste war Mali, mit allen durch die späteren kriegerischen Auseinandersetzungen dort verbundenen Einschränkungen in den Möglichkeiten tatsächlicher Entwicklungszusammenarbeit. Freiheit im Sozialismus 167 Aus deutscher Sicht und unter liberalen Anzeichen ist die Vergabe von Landtiteln natürlich gleichzeitig noch viel mehr. Landtitel stärken das Individuum. Sie sind ein Schritt hin zu mehr Respekt vor Privateigentum und ein Beitrag zur Stärkung der Rechtsstaatlichkeit. Landtitel sind die bestmögliche Versicherung gegen willkürliche Enteignungen und land grabbing, sei es durch Investoren aus China oder Vietnam oder sei es durch die eigene Regierung bei Infrastrukturmaßnahmen. In der Nord-Provinz Luang Namtha führt die GIZ ein Pilotprojekt durch, das genau diese Vergabe von Landtiteln implementiert – von der Vermessung und der Erstellung von Land-Katastern über das Schlichten von Grundstücks-Streitigkeiten bis hin zur schlussendlichen Aushändigung der dokumentierten Landtitel an die Eigentümer. Entwicklungsminister Dirk Niebel hat sich im Februar 2012 einen eigenen Eindruck von dieser Arbeit machen können. Dieses Beispiel ist paradigmatisch. Liberale Vorstellungen von Eigentum und Individualrechten können hier durchgesetzt werden, weil sie zu Recht auch als Instrumente zur Erreichung der offiziellen Ziele der laotischen Regierung gelten. Die Schnittmengen zwischen Entwicklungszusammenarbeit und Menschenrechtspolitik sind nicht auf dieses Beispiel begrenzt. Taktisch und strategisch gilt stets, dass leichter umzusetzen ist, was als einem einheimischen Politikziel dienend wahrgenommen wird. So gilt die Faustformel, im Namen der Armutsbekämpfung auf Individualrechte und verbesserte Wirtschaftsstrukturen zu setzen, ebenso für den Bereich der Mikrofinanzen. Hier ist in Laos neben den staatlichen Durchführern GIZ und KfW vor allem der Deutsche Genossenschafts- und Raiffeisenverband aktiv. Ebenfalls einen Beitrag sowohl für die Armutsbekämpfung als auch für die Entfaltung individueller wirtschaftlicher Freiheit leisten die insgesamt 1.286 Kilometer an Landstraßen, deren Bau oder Ausbau Deutschland bis Januar 2013 über die KfW unterstützt hat. Es existiert eine ganze Reihe von sozialen Problemen, die in Laos lange totgeschwiegen wurden, inzwischen aber offen thematisiert werden. Die weitverbreitete Drogensucht unter Jüngeren ist eines dieser Themenfelder. Hunderttausende in Laos schlucken ATS, „amphetamine type steroids“, hier auch „Yaba“ genannt. Partei und Staat sehen in den chemischen Drogen, von denen immer wieder Millionen Pillen bei Einzelrazzien gefunden werden, ein wichtiges Entwicklungshemmnis. Jugendliche und junge Erwachsene, die drogensüchtig sind, aber nicht 168 Robert von Rimscha als Dealer in Erscheinung getreten sind, landen nicht in Haft, sondern in Entzugs- und Verwahranstalten wie Somsanga, einer Einrichtung knapp außerhalb von Vientiane. Die Organisation Human Rights Watch hat Mitte 2011 einen äußerst kritischen Bericht über die Zustände in Somsanga veröffentlicht. Körperliche und sexuelle Gewalt, Übergriffe und Willkür wurden den Anstaltsbediensteten vorgeworfen. Liberale Menschenrechtspolitik besteht darin, angesichts solcher im Raum stehender Vorwürfe auf Offenheit und Transparenz zu drängen. Man ermutigt die laotischen Stellen, Somsanga nicht zu verstecken, sondern Zugang zu gewähren, Missstände nicht zu kaschieren, Freiwillige beispielsweise aus dem „Weltwärts“-Programm dort arbeiten zu lassen. Jeder Blick hinter die Mauern solcher Einrichtungen ist ein klein bisschen mehr Sicherheit, dass es weniger grobe Verstöße gegen die Rechte der Insassen und Patienten gibt. Im konkreten Fall hat dies funktioniert. Ich selbst konnte etliche Male nach Somsanga kommen, und sowohl Fernsehteams des ZDF als auch der ARD erhielten Zutritt, führten Gespräche und produzierten Dokumentationen. Eine ähnliche Konstellation und ähnliche Argumentationsmuster wurden von westlichen Staaten benutzt, um am 5. Februar 2013 nach vielen Jahren vergeblicher Bitten endlich Zugang zum Gefängnis Zamke – ebenfalls knapp außerhalb von Vientiane gelegen – zu erhalten. In Zamke sitzen keine Ausländer, sondern nur Laoten ein, und zwar ausschließlich Gefangene, die zu Haftstrafen von mindestens fünf Jahren verurteilt wurden. In der Politik braucht man Verbündete. Liberale Vorstellungen sind leichter einzuspeisen, wenn man nicht der einzige ist, der für sie wirbt. Naheliegend ist der enge Schulterschluss mit der EU-Delegation vor Ort und mit den anderen EU-Mitgliedsstaaten. Die Abstimmung ist eng und äußerst vertrauensvoll. Der nächstgrößere Kreis ist der der „likeminded countries“. Die USA, Australien und Japan zählen zu dieser Gruppe. Auch hier setzen alle Akteure auf enge Koordination und Kooperation. Und es gibt eine wichtige gesellschaftliche Gruppe innerhalb der Laoten, die ein natürlicher Ansprechpartner ist. Zigtausende Laoten sind, oft nach Jahrzehnten, aus dem Exil in den USA, in Frankreich oder auch in Deutschland zurückgekehrt in ihre alte Heimat. Die Motivation hierfür ist uneinheitlich. Meist spielen familiäre Bindungen und ökonomische Perspektiven in dem Land, das mit seinem Wachstum zu den Top Ten der Welt gehört, eine große Rolle. Freiheit im Sozialismus 169 Doch egal, warum jemand nach langer Zeit zurück nach Laos kommt: Wer Jahre in Berlin, in Lyon oder in Wisconsin verbracht hat, wird für Freiheit und Pluralismus ein offeneres Ohr haben als jene große Mehrheit der Laoten, die ein anderes Gesellschaftssystem nie selbst erlebt haben. Schwierig wird es in Laos immer dann, wenn Partei und Staat ihr Machtmonopol berührt sehen. Feste zivilgesellschaftliche Strukturen sind etwas, das in Laos rasch im Verdacht der konspirativen Opposition steht. Deutschland, Europa und die „Likeminded“ versuchen seit Jahren, die Rolle von Nichtregierungsorganisationen, der NPAs und der internationalen NGOs, in den wichtigsten Gremien der Abstimmungs-Architektur zwischen Laos und den Gebern zu stärken, im „Round-Table“-Prozess und bei den Sektorarbeitsgruppen („Sector Working Groups“, SWGs). Erste Erfolge gibt es: NPAs und NGOs sind beim „Round Table“ jetzt dabei. Deutschland hat seit 2012 den Ko-Vorsitz zweier SWGs inne, jener zu „Natürlichen Ressourcen und Umwelt“ und jener zu „Handel und Privatsektorentwicklung“. Diese beiden Schwerpunkte sind kongruent mit den beiden Kernbereichen der bilateralen Entwicklungszusammenarbeit. Anfang 2013 konnte nach mühsamen Verhandlungen und auf deutsches Drängen mit „Care“ erstmals eine NGO als Ko-Vorsitzende einer Unter-Arbeitsgruppe installiert werden. Doch wahrhaftige zivilgesellschaftliche und privatwirtschaftliche Partizipation in dieser Architektur sicherzustellen ist nach wie vor schwierig. Ein Grund besteht darin, dass die laotische Führung weiter dazu neigt, diese Gremien als pledging events zu verstehen, also als Gelegenheit, Wunschzettel vorzulegen und Hilfszusagen zu bekommen. Die Entwicklungspartner dagegen verstehen „Round Table“ und SWGs als Foren für den politisch-strategischen Dialog über Entwicklungsfragen. Nur rund 170.000 Laoten arbeiten in der Privatwirtschaft. 1,4 Millionen sind formal Selbstständige, meist Bauern. 1,1 Millionen arbeiten unentgeltlich im Familienbetrieb mit, meistens in der Landwirtschaft. Fast 300.000 Laoten sind Staatsbedienstete, beim Militär oder bei Unternehmen, die Staat oder Militär gehören. Praktisch bedeutet dies: Berufliche Bildung ist auch in Laos ein Schwerpunkt deutscher Zusammenarbeit. Elf Berufsschulen im ganzen Land werden von der Bundesrepublik unterstützt. Indes gibt es kein Duales System. Betriebe bilden nicht aus. Privatwirtschaftliche Strukturen, die das staat- 170 Robert von Rimscha liche Bildungsangebot ergänzen könnten, sind noch kaum vorhanden. Umso mehr drängen deutsche Stellen darauf, dass die Berufsschulen ihre zentral vorgegebenen Kurrikula an den Erfordernissen des Marktes orientieren und nicht an den Bedürfnissen künftiger Arbeitgeber vorbei ausbilden. Ein Hebel für die Durchsetzung liberaler Vorstellungen besteht in den Selbstverpflichtungen, die Laos eingegangen ist. 2012 erfolgte der WTO-Beitritt und die Ratifizierung dreier Konventionen der Vereinten Nationen, darunter als wichtigster jener gegen Folter. Allerdings wäre es nicht realistisch, angesichts der äußerst begrenzten Kapazität der laotischen Verwaltung eine faktische Umsetzung all dessen zu erwarten, was einmal unterschrieben wurde. Zur Stärkung der Kapazitäten in einem für Deutschland besonders wichtigen Bereich, der Wald- und Forstwirtschaft, ist Anfang 2012 eine Studie über die Governance in diesem Sektor durchgeführt worden. Deutschland gibt viel Geld für den Erhalt von Wald und Biodiversität. So ist es bemerkenswert, dass Laos einen Blick in die eigenen Strukturen für diese Studie gestattet hat. Diese positive Entwicklung hat sich fortgesetzt, als Laos am 9./10. Mai 2012 bei den bilateralen Regierungsverhandlungen22 einem „Meilensteinprozess“ zustimmte, der faktisch einer Konditionierung von Zusammenarbeit nahekommt: Bevor bestimmte Maßnahmen zum Kapazitätsaufbau beginnen können, hat die laotische Regierung Zuständigkeiten innerhalb neu geschaffener Ministerien zu klären. Die Umsetzung dieses Prozesses war und ist zwar mühsam, bedeutsam ist indes der Grundsatz: Wenn man Zusammenarbeit auf Augenhöhe will, sollte es ein Geben und Nehmen geben. Deutschland gibt Beratung, Expertise und Geld – Laos gibt Informationen und klare Ansprechpartner. Der Grundgedanke des „mehr für mehr“ ist hier umgesetzt worden. Dass damit schon das Ende von Raubbau an der Natur und insbesondere von illegaler Abholzung erreicht wäre, behauptet indes niemand. Dennoch ist es von großer Bedeutung, dass Deutschland und die EU massiv den FLEGT-Prozess (Aktionsplan „Forest Law Enforcement, Governance and Trade“) unterstützen. FLEGT ist für die -------------------------------------------- 22 Verhandelt wurde damals eine Zweijahreszusage des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung von 62 Millionen Euro, was einer Verdoppelung der vorherigen Zweijahreszusage gleichkam. Freiheit im Sozialismus 171 Forstwirtschaft nichts grundlegend anderes als EITI („Extractive Industries Transparency Initiative“) für den Bergbau: ein Schritt zur multilateralen Verrechtlichung, zur Transparenz, zur Angleichung an internationale Normen. Anders gesagt: ein liberaler Schritt hin zur Einbettung in unser Wertesystem. Ob es um Forstwirtschaft, um Bergbau oder um die absehbar zentrale Rolle der Wasserkraft geht: Liberale Politik heißt, das Recht auf Entwicklung ausdrücklich anzuerkennen. Ziel muss die Hilfestellung beim Austarieren von Nutzung und Schonung natürlicher Ressourcen sein, nicht das Überstülpen verabsolutierter Verhinderungsphantasien. Wer als Fortschritts-Blockierer auftritt, katapultiert sich selbst ins Aus – auch wenn es dafür Beifall in den deutschen Medien und von Nichtregierungsorganisationen gäbe. Liberalismus durch Umarmung Außen-, Entwicklungs- und Menschenrechtspolitik ist nicht beschränkt auf den Umgang mit Gremien, Instrumenten und internationalen Vereinbarungen. Politik hat auch mit Personen zu tun. In Laos leben fast 3.500 Bürger, die in Deutschland ausgebildet wurden – in der DDR. Für die meisten liegt ihr Aufenthalt in Leipzig oder Dresden Jahrzehnte zurück, und fließend Deutsch spricht kaum mehr einer dieser Ex-Studenten. Aber eine Affinität ist geblieben. Die überwiegende Mehrzahl dieser ehemaligen Ost-Studenten sind heute keine DDRSystem-Nostalgiker, sondern Deutschland-Romantiker. Sie haben die große weite Welt erstmals und oft letztmalig in Karl-Marx-Stadt oder Halle erlebt. Und etliche dürften den Umzug von Laos in die DDR ungefähr so erlebt haben wie ein DDR-Bürger die Umsiedelung in den Westen: als Schritt in ein reicheres, entwickelteres Land, in dem soziale Zusammenschlüsse nicht die maßgebliche Rolle spielen wie in der alten Heimat. Dass ich für den einen oder anderen Laoten dennoch „das falsche Deutschland“ vertrete, den marktwirtschaftlichen Sieger in der Konfrontation des Kalten Krieges, ist nicht von der Hand zu weisen. Entsprechend bedeutsam war es für mich persönlich, vor allem während der ersten Monate als Botschafter jeden auftrumpfend anti-kommunistischen Ton zu vermeiden und stattdessen jene gesamtdeutsche Identität zu betonen (die ich ganz persönlich aufgrund meines familiä- 172 Robert von Rimscha ren Hintergrunds habe), aus der sich der Vertretungsanspruch ableitet, den der deutsche Botschafter in Laos heute hat: für die gesamte deutsche Nation, und für alle Teile deutscher Geschichte. Konkret wurde dies, als ich wenige Tage nach Übergabe meiner Beglaubigungsschreiben die Rede zum Tag der Deutschen Einheit zu halten hatte. Wie zelebriert man den deutschen Mauerfall im asiatischen Rest-Bezirk des realexistierenden Sozialismus? Wie preist man das Ende der SED-Diktatur in einem Einparteienstaat? Wie feiert man das Ende des Kommunismus im Kommunismus? Wie preist man einen friedlichen Volksaufstand, ohne das Gastland und seine ungewählten Volksvertreter zu beleidigen? Ein Selbstzitat sei mir hier erlaubt. Ich entschied mich für einen doppelten Kunstgriff. Ich verwestlichte Laos und veröstlichte mich selbst. Zunächst nahm ich die laotische Regierung beim Wort und vereinnahmte sie – „Demokratie“ steht im laotischen Staatswappen neben „Frieden, Unabhängigkeit, Einheit und Wohlstand“. „Sozialismus“ steht dort wohlweislich seit vielen Jahren nicht mehr. Zur mentalen Abrüstung zeichnete ich dann das Bild meiner eigenen Familie als einer zwischen Ost und West zerrissenen, die also durch die Einheit erst wieder zu sich finden konnte. Ich berichtete, dass mein Großvater Professor für osteuropäische Geschichte in Erlangen gewesen war, während gleichzeitig seine Cousine osteuropäische Geschichte an der Humboldt-Universität lehrte. Ich erzählte, dass mein Onkel westdeutscher Botschafter in Costa Rica gewesen war, während mein Onkel dritten Grades als ostdeutscher Botschafter in Peru arbeitete. So wollte ich den kriegsgewinnlerischen Besser-Wessi dämpfen, ohne die historische Großtat des Mauerfalls – wohlgemerkt: eine ostdeutsche Großtat – zu schmälern. Natürlich wies ich auf die bedeutsame Rolle Gorbatschows hin. Zum Ende kam eine Passage, in der ich betonte, dass die Berliner Mauer nicht einfach „fiel“, sondern von Osten her eingedrückt wurde, von mutigen Deutschen in einer friedlichen Revolution. „Diese Ostdeutschen stehen für jene fünf Werte Demokratie, Frieden, Unabhängigkeit, Einheit und Wohlstand. Sie leben die Tradition von Bach, Beethoven, Wagner, Goethe, Schiller, Mann, Brecht, Grass, Hegel, Kant, Kepler, Leibniz, Gauß, Euler, Röntgen, Koch, Bosch, Siemens, Daimler, Planck, Einstein, Heisenberg und vielen vielen anderen. Es ist diese deutsche Kultur – in der Musik und in der Literatur, in den Wis- Freiheit im Sozialismus 173 senschaften und in der Technik, in der Philosophie, der Mathematik, der Medizin und den Ingenieurswissenschaften –, die tausende Laoten ganz persönlich kennenlernen konnten, als sie in Deutschland studierten. Dieses kostbare Erbe ist das wertvolle Fundament, auf dem wir alle heute aufbauen können, wenn wir unsere Beziehungen weiter stärken und ausbauen. Ich möchte daher an dieser Stelle ein ganz herzliches Willkommen all jenen Bürgern von Laos zurufen, die Alumni und Alumnae deutscher Universitäten sind. Sie sind einer der Hauptpfeiler, auf denen die Brücke unserer Freundschaft ruht.” So kann man den Mauerfall im Kommunismus besingen: umarmend. Liberal sein heißt, Gegensätze integrieren zu können. Das bunte Deutschland zeigen Oben ist beschrieben worden, wie Menschenrechtspolitik und Entwicklungszusammenarbeit als sich gegenseitig verstärkend verstanden werden können. Dies nutzt beiden – sie stehen als force multipliers Schulter an Schulter nebeneinander. Zugleich konterkariert dies die immer wieder sichtbaren Versuche des Partners, „guter ODA“ die „schlimme Menschenrechtspolitik“ gegenüber zu stellen. Synergien zwischen ODA und Menschenrechtspolitik müssen auch deshalb genutzt werden, weil Deutschland – und die EU – nur so oberhalb der eigenen Gewichtsklasse wahrgenommen werden. Bei den Direktinvestitionen (Foreign Direct Investment, FDI) gibt es in Laos drei große Spieler, Vietnam, China und Thailand, und dann kommt lange Zeit nichts. Von den Europäern hat nur Frankreich aufgrund seiner nachwirkenden Kolonialgeschichte ein nennenswertes FDI-Volumen. Die Wirtschaftsgroßmacht Deutschland ist in Laos eine, der ein legendärer Ruf ihrer Industrieprodukte vorauseilt, doch dies ist mehr Zukunftserwartung denn Gegenwart. Aber auch hier gibt es einen Ansatzpunkt. Laos hat ein überragendes Interesse an Diversifikation und will keineswegs nur von Vietnam, China und Thailand abhängig sein. Deutsche Spitzenvertreter bekommen von jedem laotischen Minister gesagt, wie gern man mehr deutsches Wirtschaftsengagement sähe. Bei diesem Interesse ansetzend kann man wieder und wieder betonen, wie sehr die freie Investitionsentscheidung deutscher Unternehmen von passenden Rahmenbedingungen abhängt, wie sehr 174 Robert von Rimscha sich Firmen aus der Bundesrepublik an Rechtsunsicherheit, mangelndem Schutz von Privateigentum und staatlicher Willkür stören. Ob es um Land-Titel geht, um Klein- und Kleinstkredite für Gewerbetreibende, um Marktzugang durch Straßenbau oder um die Investitionen etablierterer Unternehmen: Umsetzbar ist die Synergie zwischen Menschenrechts- und Entwicklungszielen dann am besten, wenn sie sich ankoppelt an die selbstgesteckten Vorgaben der laotischen Führung. Um diesen eher abstrakten Feststellungen mehr Leben einzuhauchen, sollen, zunächst auf den Feldern Kultur und Medien, ein paar konkrete Handlungsmöglichkeiten geschildert werden – und jener Fall, der am drastischsten die Grenzen der Einflussnahme deutlich gemacht hat. Gesellschaftlich höchst wirksam ist die Kulturarbeit im weitesten Sinne. Dabei ist der Kultur-Sektor einer, der beispielhaft für die sehr begrenzten Kapazitäten im Lande stehen kann. Es gibt in ganz Laos kein einziges Kunstmuseum mit Dauerausstellung. Es existiert nur eine einzige Galerie, die anbietet, was wir für üblich halten: Beratung und Unterstützung des Künstlers, Werbung, Verkauf. Es gibt im ganzen Land keinen Kuratoren und keinen Choreographen. In der Popmusik gibt es ganze zehn Personen, die komponieren. Klassische Komponisten gibt es nicht. Es gibt fünf Musikproduzenten und zwei ausgebildete Tontechniker im Lande. Es gibt weder eine Film-Akademie noch eine professionelle Ausbildung für eine andere Sparte der Kino-Industrie. Kein einziger laotischer Schauspieler hat eine Ausbildung genossen. Einen professionellen Drehbuchautor gibt es nicht. Die rund zehn Filmregisseure des Landes sind allesamt Amateure, Dilettanten oder Autodidakten – meist eine Mischung davon. Drei bis sechs laotische Filme werden pro Jahr produziert. In den beiden einzigen Kinos, eines in Vientiane, eines in Savannakhet, spielen die einfach gemachten LaoFilme deutlich mehr Geld ein als die Thai-Produkte, die dort ansonsten dominieren – Nachfrage nach Kino aus dem eigenen Land gibt es also. Kaum Nachfrage gibt es nach Büchern. Seit Staatsgründung 1975 sind (bis 2012) gerade 3.000 Bücher auf Laotisch erschienen. Zwar werden rund hundert Magazine verlegt, aber nur ein einziges Verlagshaus gilt als profitabel. Ökonomisch ist Fotografieren, Schreiben, Drucken oder Freiheit im Sozialismus 175 Design nur dort eine Lebensgrundlage, wo große Firmen die Kunden sind.23 Kunst und Kultur sind Früchte der individuellen Kreativität – und Freiräume für individuelle Kreativität sind die Fruchtblase, in der liberale Emanzipation gedeiht. Dass Kunst und Kultur zugleich Hefe im Teig einer Gesellschaft sind und mentale sowie intellektuelle Nischen schaffen, in denen das zarte Pflänzchen Freiheit gedeiht, ist gerade für ein Land wie Laos bedeutsam. Ob es um vom Auswärtigen Amt finanzierten Kulturerhalt im meistbesuchten Tempel von Vientiane oder in buddhistischen Provinz-Bibliotheken geht, wo tausende PalmblattHandschriften konserviert wurden, diese kulturelle Zusammenarbeit ist etwas, was hoch geschätzt wird. Der laotische Außenminister und Vize-Premier Dr. Thongloun Sisoulith sprach 2012 sowohl gegenüber Minister Dr. Guido Westerwelle als auch gegenüber Minister Dirk Niebel den tiefempfundenen Dank aus, den Laos für diese deutsche Arbeit verspüre. Kulturarbeit ist zugleich Werbung für Deutschland und für das Erlernen der deutschen Sprache (gelehrt wird sie lediglich an der Nationalen Universität in einem Vorort von Vientiane). Wenn die Botschaft einmal eine Bluesrock-Band auftreten lässt, dann einen AkkordeonSpieler mit Schlagern und Volksliedern im Repertoire hat, dann ein Klassik-Konzert aus Anlass des 200. Geburtstages von Richard Wagner veranstaltet und schließlich einen DJ-Abend mit club music organisiert, dann sind dies nicht Wohlfühlveranstaltungen für Entwicklungshelfer und Expatriierte, sondern Abende, an denen Hunderte Laoten etwas vom kulturellen und gesellschaftlichen Pluralismus in Deutschland erfahren – und zwar sinnlich, nicht theoretisch. Dies ist ein Kern liberalen Selbstverständnisses: Deutschland zeigt praktisch, wie bunt es ist. Am authentischsten kann dies ein Laote natürlich dann erleben, wenn er selbst nach Deutschland reist. Das kräftige Wirtschaftswachstum macht es möglich, dass sich immer mehr Mitglieder der Mittelschicht diesen Traum verwirklichen können. Allein von 2011 auf 2012 stieg die Zahl der Visa, die die Botschaft ausgestellt hat, um 53 Prozent an. Die Reisefreiheit, ein Ausdruck des ur-liberalen Rechts auf Selbstbestimmung des eigenen Lebens, ist in Laos nicht eingeschränkt. -------------------------------------------- 23 Alle Zahlen stammen aus: Huard, Emilie und Panyaphone, Chanmaly: Baseline Study of the Lao Cultural Industries, UNESCO, Bangkok 2012. 176 Robert von Rimscha Die liberale und pluralistische Gesellschaft hat als eine ihrer Grundvoraussetzungen die Meinungs- und Pressefreiheit. Dass die Medien in Laos staatlich zensiert und gelenkt werden, ist oben bereits beschrieben worden. Bemerkenswert ist indes, dass es eine MetaDebatte über die Rolle der Medien in Laos gibt. Manchmal wechseln sich in den Zeitungen fast im Tagestakt Artikel ab, in denen von der Mahnung eines Funktionärs berichtet wird, die Medien sollten nicht vergessen, dass sie ein Organ der Propaganda der Partei seien. Und tags darauf analysiert ein Chefredakteur das geringe Interesse, auf das die Medien im Lande stoßen, ruft dazu auf, in der Berichterstattung näher auf die Bedürfnisse der Bevölkerung einzugehen und weniger Gremien-Wiedergabe zu betreiben, und dieser Essay gipfelt dann im Aufruf, laotische Journalisten sollten sich nicht länger einer Selbstzensur unterziehen und keine Schere im Kopf haben. So berichtete die englischsprachige „Vientiane Times“ über eine Rede des Verlegers der laotischsprachigen „Vientiane Mai“, Thongleuan Phimmasanh, vor dem Jahrestreffen des Landesministeriums für Information, Kultur und Tourismus der Provinz Vientiane. „Manche Regierungsvertreter werden unvernünftigerweise zornig und bedrohen unsere Reporter, wenn diese ihre Arbeit kritisieren“, wird er zitiert. Weiter führte der Verleger aus, etliche Staatsbedienstete bestünden darauf, dass Journalisten ihr Tun im besten Licht darstellten und gefällige Artikel publizierten, in denen alle ihre Aktivitäten, wie unbedeutsam sie auch sein mochten, in der Zeitung erschienen.24 Der Verleger vergisst indes den versöhnlichen Hinweis nicht, die von ihm kritisierten Beamten verstünden nicht, was ZK und Politbüro der KP festgelegt hätten, nämlich dass die Medien ein „watchdog to help prevent anti-social conduct“ seien. So interessant solche Ansätze einer kritischen Selbstreflexion sind, zur umfangreichen Informationsbeschaffung im westlichen Sinne taugen die Zeitungen und vor allem das Fernsehen nicht. So beginnt eine an liberalen Leitlinien orientierte Arbeit in Laos mit dem schlichten Umstand, dass man Informationen nur bekommt, wenn man sie sich selbst beschafft, und eben ganz wesentlich aus nicht-staatlichen Quellen. Dies wiederum hat zur Voraussetzung, dass man Menschen kennt, die einem ihr Vertrauen schenken, und dass man viel Zeit in den in-------------------------------------------24 Vientiane Times, 22.02.2013, S. 2. Freiheit im Sozialismus 177 formellen Gedankenaustausch mit möglichst vielen verschiedenen Bevölkerungsgruppen investiert. Als Produkt deutscher Außenpolitik wird in Laos erhebliche Energie in die Journalisten-Weiterbildung gesteckt. Die Akademie der Deutschen Welle ist hier an der wichtigsten staatlichen Universität ebenso aktiv wie die Botschaft bei Schulungen mit dem Laotischen Journalistenverband und weiteren Partnern. Im Ergebnis kann man davon ausgehen, dass die meisten laotischen Journalisten die Beschränkungen, unter denen sie zu arbeiten haben, durchaus kritisch reflektieren. Dass Anregungen nur begrenzt umsetzbar sind, gilt nicht nur für Journalisten in Laos. Auch bei Fort- und Weiterbildungen in anderen Berufen – eine politische Stiftung aus der Bundesrepublik kümmert sich beispielsweise um Staatsanwälte und versucht, denen rechtsstaatliche Verfahrensweisen nahezubringen – muss ins Kalkül einbezogen werden, dass nur ein Bruchteil des Vermittelten in der Praxis angewendet wird. Die begründete Hoffnung ist indes, dass die Auseinandersetzung mit anderen Medien- oder Rechtskulturen haften bleibt, und sei es zunächst auch nur im Kopf. Einzuberechnen ist allerdings auch, dass bei allen capacity building-Maßnahmen jene ebenfalls vertreten sind, denen es in erster Linie um das Abgreifen eines per-diem-Satzes zur Aufwandsentschädigung geht. Und nicht von der Hand zu weisen ist der Umstand, dass es vor allem im politischen Diskurs über Kapazitäten die Gefahr von window dressing gibt: Wo der politische Wille beispielsweise zum Kampf gegen die Korruption fehlt, helfen weder die schönsten Deklarationen noch die besten Schulungen. Wie in vielen Entwicklungsländern ist auch die Regierungs- und Verwaltungslandschaft in Laos zerklüftet und von Gräben durchzogen, gezeichnet vom disconnect zwischen Absichtsbekundungen und Realitäten.25 Heikel ist jeder formalisierte Umgang mit Partnern aus Zivilgesellschaft und Bürgergesellschaft. Gemeinsame Ko-Vorsitze in SWGs mögen eine institutionelle Aufwertung und ein Signal der Wertschätzung sein, sie schützen unabhängig Denkende aber nicht vor staatlichen Repressalien. Das Grundmisstrauen gegen alles, was nicht von der -------------------------------------------- 25 Die EU hat vom Thinktank ADE eine umfassende Studie zu diesem „gap between discourse and practise“ (S. 6) in dessen Political Economy Analysis vom Februar 2013 vorlegen lassen. 178 Robert von Rimscha Partei und ihren Massenorganisationen selbst gelenkt wird, sitzt tief im Staate Laos. Ein wichtiges Instrument in der Menschenrechtspolitik ist der zweijährliche EU-Laos-Menschenrechtsdialog. Zuletzt fand er im Februar 2011 und im Februar 2013 statt. Inhaltliche Positionen mögen erheblich voneinander abweichen, aber das Diskussionsklima ist immerhin offen. Die laotische Seite geht auf jedes Thema ein und beschränkt sich nicht auf das Verlesen vorgefertigter Sprechzettel. Im Rahmen des Menschenrechtsdialogs werden auch Einzelschicksale von inhaftierten Dissidenten thematisiert. Im Sommer 2012 veranstaltete die US-Botschaft auf ihrem Gelände erstmals einen Nachmittag, der unter der Überschrift „Proud To Be Us“ firmierte. Der Slogan und die grafische Gestaltung in Regenbogenfarben ließen keinen Zweifel daran zu, um was es hier ging. Der stellvertretende Gesundheitsminister, der eine Rede hielt, widmete sich ausschließlich dem Thema der sexuell übertragbaren Krankheiten und der Aids-Bekämpfung. Worte wie „Homosexualität“, „Schwule“ oder „Lesben“ fielen in seinem Beitrag nicht. Internationale Medien vermeldeten das Ereignis als „Ersten Christopher Street Day“ in Laos, was die Regierung sehr gestört haben soll. So schmal sind die Grate, auf denen man zu wandeln hat. Die Vertretung deutscher Wirtschaftsinteressen steht in Laos nicht im Vordergrund der Außenpolitik. Sind indes zwei Unternehmen aus der Bundesrepublik an der Ausschreibung für neue Personalausweise interessiert oder spielen etliche große Namen der deutschen Wirtschaft beim Boom im Bereich Hydropower eine Rolle, so ist die Türöffnerfunktion der Auslandsvertretung eine liberale Selbstverständlichkeit. 2012 haben Bosch und MAN Vertretungen in Vientiane eröffnet, Mercedes-Benz ist bereits vertreten, BMW und Audi sitzen in den Startlöchern. Diese Repräsentanzen sind ein erstes Ausstrecken von Fühlern. Hierbei kommt der deutschen Wirtschaft eine weltweite Einmaligkeit zugute. Nur in Laos gibt es keine deutsch-laotische oder auch französisch-laotische Kammer, sondern allein eine europäische („European Chamber of Commerce and Industry in Lao PDR“, ECCIL). Es ist damit gelungen, eine gemeinsame Interessensvertretung der Privatwirtschaft zu installieren – ohne Konkurrenz zu binationalen Einrichtungen. Unter den Aspekten der Arbeitsteiligkeit und der Europäisie- Freiheit im Sozialismus 179 rung deutscher Außenwirtschaftspolitik ist dies nicht nur eine Besonderheit der Konstruktion, sondern eine enorme praktische Arbeitserleichterung. Die eine Telefonnummer, unter der Europa zu erreichen sein soll – hier gibt es sie. Als Produktionsort für deutsche Unternehmen spielt Laos nur in den Bereichen Textilwirtschaft und Solarenergie eine Rolle. Bei milliardenschweren Bahn-Projekten sind die Verträge meist so gestrickt, dass der letztlich finanzierende Partner, sei es China, sei es Malaysia, den Alleinauftrag für den Bau bekommt. Laos zeigt seit Jahren ganz erhebliche wirtschaftliche Dynamik, eine gewisse gesellschaftliche Öffnung, aber kaum politische Flexibilität. Für alle drei Bereiche gibt es angepasste Angebote deutscher Außenpolitik. Für das wirtschaftliche Vorankommen ist indes weniger der deutsche Privatsektor der gegenwärtige Partner denn die Entwicklungszusammenarbeit. Das eine kann und soll in das andere münden. Wenn heute, auch aufgrund der alten DDR-Bindungen, viele aus der Spitze des Minen-Ministeriums sich an der Bergakademie Freiberg vorführen lassen, wie man Rohstoffe umweltschonend gewinnt, so kann dies ein Schritt hin zu einer formalen „Rohstoffpartnerschaft“ werden, wie sie Deutschland zum beiderseitigen Nutzen mit einigen Entwicklungs- und Schwellenländern bereits unterhält. Deutschland lebt davon, vernetzt zu sein wie kaum ein anderes Land. Eine Wirtschaft wie die unsere, die auf Wissen fußt und von Exporten lebt, kann nicht anders vorgehen. Deshalb war es richtig, dass Deutschland 28 Jahre lang als einziger EU-Mitgliedsstaat neben Frankreich mit einer Botschaft in Laos präsent war. Andere folgen. Seit April 2013 gibt es auch wieder eine britische Botschaft in Vientiane. Die Präsenz in der Fläche zahlt sich aus. Denn ein weiterer Anknüpfungspunkt für deutsche Politik bietet die Kooperation im multilateralen Bereich. Wenn es um VN-Gremien oder um Personal für internationale Organisationen geht, arbeiten Laos und Deutschland gut und eng zusammen. 2012 beispielsweise wurde die neue VNInstitution IPBES („Intergovernmental Platform on Biodiversity and Ecosystem Services“, auf Deutsch manchmal kurz „Weltbiodiversitätsrat“) an Bonn vergeben. Ein Land, das sich für den Standort am Rhein aussprach, war Laos. Im Vorfeld solcher Vergaben finden unzählige Gespräche statt, und wichtige Anliegen deutscher Außenpolitik wie der 180 Robert von Rimscha Gedanke der Nachhaltigkeit sind längst so sehr Marken-Kern des deutschen Außenauftritts, dass das Werben für Bonn keine SisyphusArbeit war. Auch im Menschenrechtsrat der VN sitzt Deutschland, weil wir in der Generalversammlung hinein gewählt wurden – auch von Laos. Ein letztes, bilaterales Feld der Zusammenarbeit, das von laotischer Seite ganz besonders geschätzt wird, ist der Einsatz gegen während des Krieges nicht explodierte Streumunition („Unexploded Ordnance“, UXO). 80 bis 100 Millionen Einzel-Sprengsätze, in Laos werden sie bombies genannt, verseuchen nicht nur den Boden und töten bis heute Menschen, sie verdammen vor allem ganze Distrikte zur Armut: Keiner kann effizient sein Agrarland nutzen, wenn jede weitere Vergrößerung des Reis-Feldes den Tod bedeuten könnte.26 Seit Mitte der 90er Jahre, seit dem Beginn der planmäßigen UXO-Räumung, hat Deutschland rund 16 Millionen Dollar in diesen Sektor investiert. Es geht dabei weniger um die Beseitigung von Relikten aus der Vergangenheit als um das Schaffen von Entwicklungsmöglichkeiten für heute und morgen. Weniger UXO im Boden heißt mehr wirtschaftliche Nutzbarkeit des Landes – ein urliberales Anliegen. Der Fall Sombath Somphone Wertegeleitet und interessensorientiert – so versteht sich deutsche Außen- und Entwicklungspolitik, und so verstehen sich gerade liberale Außenpolitik und liberale Entwicklungszusammenarbeit. Im bisherigen Text ist geschildert worden, wo Möglichkeiten und Anknüpfungspunkte auch in einem völlig anders gearteten Gesellschaftssystem bestehen. Es wäre unehrlich, nicht auch über Grenzen zu berichten. Dabei wird es kaum überraschen, dass der Blick in den Abgrund dort stattfindet, wo es um Menschenrechte geht, wo es also nicht um das Austarieren vielleicht divergierender Interessen geht, sondern um das feste Fundament universeller Freiheits- und Persönlichkeitsrechte, die aus liberaler Sicht weder mit kulturellen Begründungen relativiert noch staatlich ausgehebelt werden dürfen. Am frühen Abend des 15. Dezember 2012 verschwand mitten in Vientiane der bedeutendste Vertreter der laotischen Zivilgesellschaft, -------------------------------------------- 26 Mit rund einer Tonne Bomben pro Kopf der Bevölkerung, abgeworfen zwischen 1963 und 1973, ist Laos das pro Kopf meistbombardierte Land der Welt. Freiheit im Sozialismus 181 Sombath Somphone. Der damals 60-Jährige war nach einem langen Aufenthalt in den USA in seine alte Heimat zurückgekehrt und hatte unter anderem PADETC („Participatory Development Training Center“) aufgebaut, eine Institution, die der dörflichen Bevölkerung bei der effizienteren Landwirtschaft half. Im Oktober 2012 war er einer der Hauptorganisatoren des von Deutschland finanziell massiv unterstützten „Asia-Europe Peoples´ Forum“ (AEPF), einer Vor-Veranstaltung zum Gipfel des ASEM („Asia-Europe Meeting“). Sombath ist ein stets freundlicher Herr, der jahrzehntelang eng mit der Regierung in Entwicklungs-, Bildungs- und Landwirtschaftsfragen zusammengearbeitet hat. Er verschwand, so die offizielle Lesart, unmittelbar nach einer Routine-Verkehrskontrolle. Eine Überwachungskamera der Polizei hat das Geschehen festgehalten. Millionen haben weltweit eine HandyKopie dieses Videos gesehen, denn der Fall Sombath wurde rasch zum meistberichteten und meistbeachteten Einzelereignis der jüngeren laotischen Geschichte. Cathy Ashton, Desmond Tutu und Hillary Clinton äußerten sich besorgt. Am 7. Februar 2013 nahm das Europäische Parlament eine Entschließung an, die an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig ließ. Die offiziellen Ermittlungen und Untersuchungen des laotischen Sicherheitsministeriums ließen von Anfang an so viel zu wünschen übrig, dass es etlichen Beobachtern schwer fiel, sie überhaupt ernst zu nehmen. Hier also stieß deutsches und liberales Handeln an eine Grenze. Was tut man, wenn die laotische Seite sagt, nach wochenlangen Ermittlungen habe man keinen Zeugen und keine Informationen gefunden, fest stehe nur eins, nämlich dass die Regierung selbst in das Verschwinden nicht verwickelt sei? Was tut man, wenn der Chefermittler im persönlichen Gespräch und dann auch öffentlich sagt, das OriginalVideo der Polizei sei genauso grobkörnig wie die bekannte HandyKopie, und deshalb sei es nicht gelungen, auch nur eine einzige Person oder ein einziges Nummernschild zu identifizieren? Was tut man, wenn in den veröffentlichten Verlautbarungen der Regierung immer wieder behauptet wird, es könne sich möglicherweise um einen familiären Konflikt oder eine geschäftliche Auseinandersetzung handeln, wenn die Ermittler aber zugleich einräumen, sie hätten nicht ein einziges Indiz für solche öffentlichen Mutmaßungen gefunden? Was tut man, wenn beim Menschenrechtsdialog zwischen der EU und Laos am 182 Robert von Rimscha 4. Februar 2013 auf jede der zig Detailfragen zu Sombaths Schicksal wieder und wieder die stereotype Antwort erfolgt: „Wir verweisen auf den veröffentlichten vorläufigen Polizeibericht, dieser enthält die Antworten auf alle Ihre Fragen.“ Was tut man, wenn sich gar nichts tut, wenn diplomatisch unzweideutige Eil-Anfragen drei Wochen lang ohne jede Reaktion bleiben? Hier ist eine Grundsatzfrage einer Außen- und Menschenrechtspolitik aus liberaler Perspektive berührt. Außenpolitik ist nie monothematisch, und ihre vielen Aktionsfelder stehen nie unter dem Primat einer einzelnen Vorstellung. Logischerweise führt ein schwieriger Menschenrechtsfall nicht dazu, dass ein deutscher Botschafter die Zelte abbricht und empört das Land verlässt. So klar, wie dieser Grundsatz ist, so schwierig ist die Gratwanderung in der Praxis und im Detail. Eberhard Sandschneider, der Leiter des Forschungsinstituts der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik, hat gerade postuliert: „Wenn Werte und Interessen im Konflikt zueinander stehen, kann es für eine pragmatische Außenpolitik notwendig und durchaus auch sinnvoll sein, zeitlich begrenzt seine Interessen in den Vordergrund zu stellen. (…) Glaubwürdige und effektive Außenpolitik gründet sich auf das Machbare und nicht auf Rechthaberei. (…) Wer gibt uns das Recht, aktiv in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten einzugreifen?“27 Dass Rechthaberei ein schlechter Ratgeber ist, steht außer Frage. Aber: Das Völkerrecht wandelt sich und wächst. Begriffe wie „Nichteinmischung“, „innere Angelegenheiten“ und „diplomatische Zurückhaltung“ bedeuten im 21. Jahrhundert etwas anderes als im 19.. Und wo ist die Grenze zur Leisetreterei, wenn, wie im Fall Sombath, viele asiatische Leitartikler und Parlamentarier Laos den Bruch von Normen vorwerfen, die heute das Zusammenleben in Asien und ASEAN bestimmen sollten? Wenn der Fall Sombath also von Asiaten zum Anlass genommen wird, ganz in unserem Sinne bei der vertieften Integration innerhalb der ASEAN-Gemeinschaft auch eine WerteDimension einzufordern? Kurz gesagt: Wenn Sombath zum Fanal der Verletzung universeller Rechte wird – und nicht zum Verteidigungsraum der Kultur-Relativisten? Was also tut man? Für mich persönlich gilt in heiklen Menschenrechtsfragen und in nicht-demokratischen Ländern eine relativ schlich-------------------------------------------- 27 Sandschneider, Eberhard: Raus aus der Moralecke! Die deutsche Außenpolitik sollte der Welt nicht ihre Werte diktieren, in: Die Zeit, 28.02.2013, S. 13. Freiheit im Sozialismus 183 te Devise. Ich verhalte mich so, dass ich nicht nur den Inhabern der Macht unter die Augen treten kann, sondern ebenso aufrecht den Betroffenen und all jenen, die gegenwärtig nicht an den Schalthebeln sitzen. Man fragt nach, wieder und wieder. Man hakt nach und erinnert. Man zieht bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit laotische Minister zur Seite und macht ihnen deutlich, wie schwer dieser Fall wiege, dass er sich nicht aussitzen lasse. Man hält engen Kontakt zur Familie Sombaths. Man berücksichtigt deren Rat und Empfehlung bei allen Aktivitäten. Man spricht mit anderen, die ein ähnliches Schicksal für sich selbst befürchten. Man berichtet. Man dringt auf weitere Treffen. Man denkt über alle möglichen Konsequenzen nach. Man stimmt sich aufs Engste mit den europäischen Kollegen und gleichdenkenden Partnern ab. Man nutzt drei Ebenen: das Öffentliche, sei es bei Reden oder in Presseerklärungen, das offizielle Diplomatische, sei es bei Demarchen oder in VN-Gremien, und das Diskrete. Man schreibt Briefe und beantwortet jene vielen, die einen erreichen. Man identifiziert politische Hebel und spielt über Bande: Wessen Anruf bei wem könnte nutzen? Man bemüht sich, der verstörten und verunsicherten deutschen Gemeinde, von der ein Gutteil mit Sombath zusammengearbeitet hat, die Lage zu erklären, ohne abzuwiegeln und ohne zu dramatisieren. Man ist Ansprechpartner. Man ist präsent. Man kümmert sich. Deutschland und der Liberalismus können stolz darauf sein, dass die erste Reaktion überhaupt aus einem Mitgliedsstaat der Europäischen Union aus Berlin kam. Noch vor Weihnachten 2012 drückte der Menschenrechtsbeauftragte der Bundesregierung, Markus Löning, seine tiefe Sorge über Sombaths Verschwinden aus und forderte die laotische Regierung auf, alles in ihrer Macht stehende zu tun, um den Fall aufzuklären. Sombath Somphone ist bis heute verschollen, bis zum Redaktionsschluss für diesen Band. Am 15. Mai 2013 waren es fünf Monate. Unser Einfluss, die Mächtigen in Laos zu etwas zu bewegen, ist eben begrenzt. Und so gehört zu liberaler Außenpolitik in der Praxis auch die demütige Einsicht, dass wir die Welt nicht einfach so gestalten können, wie wir sie gern hätten. Aber für unsere Sicht und Haltung werben, das können wir – immer und überall. Liberale Außenpolitik gegenüber Schwellenländern: Chancen und Risiken 185 Siegfried Herzog Liberale Außenpolitik gegenüber Schwellenländern: Chancen und Risiken Was ist liberale Außenpolitik? Liberale Außenpolitik will die Freiheit in der Welt stärken und ausweiten. Freiheit verwirklicht sich im nationalen Rahmen in der offenen Gesellschaft, basierend auf den Regelkreisen einer freien Marktwirtschaft, Rechtsstaatlichkeit auf der Basis der allgemeinen Menschenrechte sowie partizipativer Demokratie. Auf internationaler Ebene geht es also darum, auf eine möglichst offene Weltgesellschaft hinzuarbeiten, die auf einer verbindlichen internationalen Rechtsordnung beruht. Das ist eine Arbeit für viele Generationen, aber einige institutionelle Bausteine einer solchen offenen Weltgesellschaft sind bereits erreicht: Der freie Welthandel hat in der Welthandelsorganisation WTO (World Trade Organization) einen soliden Rahmen erhalten, eine internationale Rechtsordnung ist im Entstehen, fußend auf der allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. Der Internationale Strafgerichtshof und die internationale Seerechtskonvention sind jüngere Ergebnisse, auch die Verankerung von Menschenrechtsinstrumenten in regionalen Organisationen wie der südostasiatischen Staatengruppe ASEAN. Dazu kommen Systeme kollektiver Sicherheit, die über den Charakter traditioneller Bündnisse zwischen Staaten hinausgewachsen sind. Die Förderung und Sicherung von Demokratie steckt dagegen noch in den institutionellen Kinderschuhen. Europa hat mit dem Demokratiegebot als Voraussetzung für eine Mitgliedschaft in der Europäischen Union sowie mit dem Europarat eine Vorreiterrolle gespielt. Die Begründung für eine internationale Verankerung von Demokratie ist im Vergleich zu Menschenrechten, Völkerrecht und Wirtschaftsfreiheit etwas schwieriger. Ein wichtiges Argument ist ein empirisches, dass Demokratien friedfertiger seien und in der Geschichte selten bis nie gegen andere Demokratien Krieg geführt hätten. Auch seien sie in 186 Siegfried Herzog ihrem Handeln transparenter und berechenbarer, was die internationale Stabilität erhöhe. Diese Anliegen werden überwiegend von den meisten entwickelten Industriestaaten geteilt und gefördert. Liberale Außenpolitik misst daher den Beziehungen zu den Staaten dieser Wertegemeinschaft besondere Bedeutung bei. Dazu zählen neben den Mitgliedern von EU und NATO auch Australien, Neuseeland und Japan, man kann auch Staaten wie Südkorea und Taiwan hinzurechnen. Liberale Außenpolitik sollte dabei als Weiterentwicklung der klassischen Außenpolitik gesehen werden. Deren Grundanliegen bleiben bestehen: die Bewahrung von Sicherheit und Wohlstand durch stabile und gute Beziehungen zu allen Nachbarn in Europa, durch stetige Weiterentwicklung der Beziehungen zu den Nachbarn der EU, insbesondere gewichtigen Ländern wie Russland und der Türkei. Die Sicherung der wirtschaftlichen Interessen Deutschlands ist am nachhaltigsten durch eine allgemeine Freihandelspolitik zu erreichen. Die von den USA maßgeblich gestaltete internationale Ordnung nach dem Zweiten Weltkrieg hat viele dieser Anliegen bereits zumindest in Ansätzen enthalten. Seit dem Ende des Kalten Krieges haben sich neue Chancen für eine Weiterentwicklung einer solchen offenen Weltordnung ergeben. Die aktuelle intensive Phase der Globalisierung ist teilweise durch diese institutionellen Rahmenbedingungen befördert worden. Dazu kommen aber die individuellen Entscheidungen der Nationalstaaten, ihre Wirtschaftspolitik stärker an Marktwirtschaft und Welthandel auszurichten, und es kommen technologische Veränderungen hinzu wie die Senkung der Transportkosten durch Flugverkehr und Containerschiffahrt oder die Senkung der Kommunikationskosten durch Revolutionen in der Telekommunikation und der Informationstechnologie. Der Aufstieg der Schwellenländer Die Globalisierung hat für eine ganze Reihe von Ländern tiefgreifende und in der Summe sehr positive wirtschaftliche Veränderungen mit sich gebracht. Sie haben historisch einzigartige Wachstumsphasen hinter sich, ihre Wirtschaft hat sich dabei rapide gewandelt, was auch dramatische gesellschaftliche Veränderungen mit sich gebracht hat, etwa eine rapide Verstädterung. Millionen von Menschen sind im Liberale Außenpolitik gegenüber Schwellenländern: Chancen und Risiken 187 Zuge dieses Prozesses der Armut entkommen, mehr als je zuvor in der Weltgeschichte. Eine ganze Reihe von Ländern ist auf dem Weg, zu den klassischen Industrieländern wirtschaftlich aufzuschließen. Gleichzeitig sind viele soziale Indikatoren noch auf dem Niveau von Entwicklungsländern. Länder mit diesen Merkmalen werden als Schwellenländer bezeichnet, und je nach Definition gibt es etwa 40 davon. Dazu gehören die sogenannten BRICS-Staaten – Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika –, aber auch Länder wie die Türkei, Malaysia, Indonesien, Thailand und Mexiko. Die ursprünglichen Tigerstaaten Südkorea, Singapur, Hong Kong und Taiwan, für die der Begriff einst erfunden wurde, gehören bereits zu den entwickelten Industrieländern. Es ist natürlich keineswegs gesagt, dass alle Schwellenländer tatsächlich zu den Industrieländern aufschließen. Bisher haben nur Südkorea und Taiwan es geschafft, 50 Jahre lang mit mehr als 5% pro Jahr zu wachsen. Viele Schwellenländer haben strukturelle Schwächen, die den Wachstumsprozess anhalten oder verlangsamen können. Russland und Brasilien sind sehr stark von Rohstoffexporten abhängig, die Industrie dagegen ist nicht besonders konkurrenzfähig. Ähnliches gilt für Südafrika. Indien und Brasilien leisten sich einen teuren Wohlfahrtsstaat, während die grundlegende Infrastruktur noch nicht gebaut oder marode ist. Chinas Wachstum gründete zu einem sehr hohen Maß auf öffentlichen Investitionen, und das kann nicht in diesem Umfang weitergehen. Sein Finanzsektor ist unterentwickelt und weiterhin von der Politik dominiert, seine Bevölkerung beginnt zu altern. All das deutet auf eine Phase langsameren Wachstums hin. Dazu kommt noch das Risiko politischer Umwälzungen, da das politische System weiterhin auf Repression aufgebaut ist. Man tut angesichts der Schwellenländereuphorie gut daran, alte euphorische Prognosen nachzulesen. In den 20er Jahren war Argentinien eines der zehn reichsten Länder der Welt. Brasilien gilt seit vielen Jahrzehnten als Land der Zukunft, und Japans prognostizierte Dominanz ist nie Wirklichkeit geworden, im Gegenteil: Das Land stagniert in besorgniserregender Weise. Angesichts der oben angedeuteten gravierenden strukturellen Unterschiede zwischen den Schwellenländern sollte man sich hüten, sie zu sehr über einen Kamm zu scheren und die Wachstumsphase der letzten 20 Jahre einfach in die Zukunft zu projizieren. Es gibt keinen Wachstumsautomatismus, die nationalen wirtschaftspolitischen Hausaufgaben müssen 188 Siegfried Herzog weiterhin erledigt werden, und nicht jedes der aktuellen Schwellenländer wird das bewältigen. Es ist auch gut möglich, dass der Wachstumsprozess in Zukunft etwas langsamer verläuft, weil Chinas Wachstum eher bei 7 als bei 10 % liegen dürfte und weil Indiens Wachstum noch zu unstetig ist.1 Die Gewichte in der Welt verschieben sich Dieser Einwand bedeutet allerdings nicht, dass man das Thema Schwellenländer vorschnell ad acta legen sollte. Solange die Globalisierung nicht dramatisch eingeschränkt werden sollte, ist es sehr wahrscheinlich, dass der Wachstumsprozess in der Welt weitergeht und die Schwellenländer insgesamt weiter aufschließen werden. Großbritannien benötigte 150 Jahre, um im Gefolge der industriellen Revolution sein Pro-Kopf-Einkommen zu verdoppeln. Die USA benötigten dafür 50 Jahre, Indien dagegen nur 16 und China ganze 12, und das bei ungleich größeren Bevölkerungen. Darin liegt in der Tat eine fundamentale Veränderung der Dynamik. Damit geht ein Zuwachs von Macht und Einfluß einher, und zwar auf wirtschaftlichem, politischem und kulturellem Gebiet. Die Gewichte der Welt verschieben sich dementsprechend nach Osten und Süden, denn dieser Prozess vollzieht sich am stärksten in Asien. Die Ergebnisse sind bereits sichtbar: China ist zur Werkbank der Welt geworden, Indien und die Philippinen sind führend bei IT-gestützten Dienstleistungen. Korea ist eine Macht im Schiffbau und in der Unterhaltungselektronik. Auf kulturellem Gebiet sieht man einen wachsenden Einfluß des indischen Films, koreanischer Popmusik, Seifenopern und Mode. Besonders spürbar wird es natürlich in der internationalen Politik: In den WTO-Verhandlungen geht nichts mehr ohne Länder wie China, Indien oder auch Brasilien. In der internationalen Klimapolitik gilt dasselbe, sehr zur Irritation der westlichen Industrieländer. Der Klimagipfel in Kopenhagen 2009 hat dies in ziemlich schroffer Weise deutlich gemacht. Militärisch bleiben die USA weiterhin dominant, aber diese Dominanz hat zunehmend Grenzen. Der Ausbau und die Modernisierung der chinesischen Streitkräfte, insbesondere der Marine, verschiebt das -------------------------------------------1 Vgl. Sharma, Ruchir: Breakout Nations; New York 2012. Liberale Außenpolitik gegenüber Schwellenländern: Chancen und Risiken 189 Gleichgewicht in Asien. China hat in den letzten Jahren mehrfach seine Muskeln spielen lassen, sei es gegenüber Taiwan durch Stationierung neuer Mittelstreckenraketen, sei es gegenüber den Philippinen und Vietnam in den umstrittenen See- und Inselgebieten im Südchinesischen Meer, sei es kürzlich gegenüber Japan. Indien beobachtet mit Sorge die chinesischen Investitionen in pakistanische und srilankische Häfen. Indien selbst baut seine Streitkräfte ebenfalls aus, einschließlich der atomaren Komponente, und hat die Beziehungen zu den USA vertieft, einschließlich engerer Zusammenarbeit der Streitkräfte. Viele ASEAN-Länder arbeiten ebenfalls wieder enger mit den USA zusammen, auch auf militärischem Gebiet. In Asien liegen auch die größten Risiken für den Weltfrieden: der Konflikt auf der koreanischen Halbinsel, der chinesische Anspruch auf Taiwan, Chinas Grenzkonflikte mit Japan, Vietnam, Malaysia und den Philippinen sowie mit Indien, dazu noch der indisch-pakistanische Konflikt. Alle diese Konflikte können zu einem zwischenstaatlichen Krieg führen, der weiter eskaliert. Das ist so in keiner anderen Weltregion der Fall, selbst der Nahostkonflikt birgt weniger unmittelbares Risiko für einen konventionellen Krieg. Wie kann der Wandel interpretiert und gestaltet werden? Die Herausforderung für die nächsten Jahrzehnte wird also sein, wie man diese tiefgreifenden Veränderungen und die verschiedenen Konflikte bewältigt. Nun hat sich die Welt ständig verändert, und stets ist irgendein Wandel zu bewältigen, aber die aktuelle Entwicklung stellt in mancher Hinsicht dennoch eine epochale Veränderung dar: Die globale Dominanz Europas und der von Europa gegründeten Staaten (USA, Kanada, Australien…), die über 250 Jahre lang angedauert hat, scheint sich ihrem Ende zuzuneigen. Eine derartige Veränderung will erst einmal gestaltet werden. Die Grundfrage ist, ob die Zukunft mehr internationale Kooperation bringen wird, um die Welt friedlicher und wohlhabender zu machen, oder ob neue Konfliktlinien entstehen, die Frieden und Wohlstand in der Welt weiter fundamental bedrohen. Zwei theoretische Ansätze haben dabei in der Diskussion eine besonders einflussreiche Rolle gespielt. Francis Fukuyama sah mit dem Ende des Kalten Krieges ein Ende ideologischer Gegensätze gekommen. Das erfolgreiche Gesell- 190 Siegfried Herzog schaftsmodell der rechtsstaatlich verfassten Demokratie mit marktwirtschaftlicher Wirtschaftsordnung würde sich auf der ganzen Welt durchsetzen.2 Dem setzte Samuel Huntington seine These vom Kampf der Kulturen gegenüber. Er teilte die Welt in kulturelle Sphären auf, die weiterhin in mehr oder weniger starkem Konflikt miteinander liegen würden.3 Ergänzend zu Huntington gibt es düstere Prognosen über zunehmende Verteilungskämpfe um knappe Ressourcen, sei es Öl oder Wasser, die für zunehmende Anarchie sorgen würden.4 Diese Überlegungen sind keineswegs nur theoretische Übungen. Die internationale Politik wird maßgeblich davon beeinflusst, ob die wichtigen Akteure den Rest der Welt in erster Linie als eine Quelle von Bedrohungen ansehen oder als potentielle Partner, mit denen ein Interessenausgleich oder gar eine Kooperation zum gegenseitigen Nutzen möglich ist. Diese Debatte ist unter außenpolitischen Eliten in der Welt in vollem Gange. Keine der beiden Thesen ist von der tatsächlichen Entwicklung bisher voll bestätigt worden. Der islamistische Jihad wird als Beleg für Huntingtons These interpretiert, ebenso das Fortbestehen des autoritären Systems in China, das manche schon als neues Modell betrachten. Demgegenüber hat der Arabische Frühling Belege für Fukuyamas Thesen geliefert, dass nämlich universale demokratische Ideen weiterhin wirkmächtig sind. Die globale Finanzkrise hat bisher nicht zu einem nennenswerten Anstieg des Protektionismus geführt, d. h., die Idee des offenen Weltmarkts findet weiterhin breite globale Zustimmung. Liberale Außenpolitik bedeutet in dieser Situation, sich gegen die pessimistischen Visionen einer unheilbar konfliktiven Welt zu stellen. Das liberale Ziel einer offenen Weltgesellschaft hat weiterhin eine realistische Chance. Die Weltgeschichte zeigt zwar, dass die Menschheit seit ihrer Frühzeit eine ziemlich ausgeprägte Neigung zur Gewalt hat, sie zeigt aber auch, dass es Gesellschaften gelungen ist, diese Neigung zur Gewalt sukzessive einzuhegen. Durch die industrielle Revolution hat sich die Menschheit aus der ökonomischen Zwangsjacke der Agrargesellschaft gelöst, die moderne Wissenschaft ermöglicht ein tiefgreifenderes Verständnis der Welt als je zuvor, und die moderne -------------------------------------------2 Vgl. Fukuyama, Francis: The End of History and the Last Man; New York 1992. Vgl. Huntington, Samuel Phillips: The Clash of Civilizations and the Remaking of World Order; New York 1998 4 Vgl. Kaplan, Robert: The Coming Anarchy; New York 2001. 3 Liberale Außenpolitik gegenüber Schwellenländern: Chancen und Risiken 191 Kommunikationstechnologie überwindet die Barrieren von Zeit und Raum. Während die Pessimisten auf die kaum wandelbare Natur des Menschen abheben, die in der Tat einigen Anlass zum Pessimismus gibt, können die Optimisten darauf verweisen, dass die menschliche Erfindungsgabe und das menschliche Organisationstalent mit dieser besser umgehen können als zuvor und dass das Ziel einer offenen Weltgesellschaft nicht nur wünschenswert, sondern möglich ist. So gibt es interessante Ansätze, empirisch zu belegen, dass die Häufigkeit von Gewaltanwendung über die Jahrhunderte signifikant abgenommen hat.5 Die Schwellenländer und die offene Weltgesellschaft: Nullsummenspiel, Konkurrenz oder Nutzen für alle? Diese offene Weltgesellschaft, das Ziel der optimistischen liberalen Weltsicht, wird aber nicht von alleine entstehen, sondern muss in mühevoller Kleinarbeit entwickelt werden, und sie muss insbesondere den Schwellenländern Raum zur echten Mitgestaltung bieten. Das bringt Herausforderungen für alle Beteiligten. Es darf nicht darum gehen, die Schwellenländer als Juniorpartner in ein bestehendes internationales System zu integrieren, sondern das internationale System mit den Schwellenländern konzeptionell weiterzuentwickeln. An einer derartigen Vision besteht von Seiten vieler Schwellenländer durchaus Interesse.6 Die Kernfrage ist, welche Veränderungen Konfliktstoff bergen und wie dies bewältigt werden kann. Die wirtschaftlichen und kulturellen Veränderungen im Gefolge des Aufstiegs der Schwellenländer sind dabei relativ leicht zu bewältigen. Mehr kulturelle Vielfalt bereichert. Es wird zwar immer Menschen geben, die sich vor Veränderung und größerer Vielfalt fürchten und stets in Angst leben, dass ihre traditionelle Kultur verloren geht. Allerdings hat sich keine Kultur in Isolation entwickelt, und die dynamischsten Zentren der Kulturen sind zumeist Handelsstädte gewesen, die Einflüsse von vielen Seiten aufgenommen -------------------------------------------5 Pinker, Steven: The Better Angels of Our Nature: Why Violence Has Declined; London 2011. 6 So etwa der indische Finanzminister P. Chidambaram in einer Rede: „The Rise of the East: Implications for the Global Economy” am 16.4.2013 an der Harvard Universität, dokumentiert in: http://www.domain-b.com/economy/worldeconomy/20130417_ p_chidambaram.html. 192 Siegfried Herzog und verarbeitet haben. Die o. g. Beispiele aus der modernen Populärkultur zeigen auch, dass es sich keineswegs um eine Einbahnstraße handelt. Viele Leute, die den Verlust traditioneller kultureller Normen und Praktiken beklagen und eine armselige Einheitskultur fürchten, vergessen, wie sehr sich diese im Zeitablauf verändert haben, und sie unterschätzen, wie viel Vielfalt und Kreativität der globale Austausch freisetzt. Gleiches gilt für die Wissenschaft: Auch diese hat sich noch nie isoliert entwickelt, und die größten Fortschritte sind dann erzielt worden, wenn Forscher in intensivem Austausch mit anderen Forschern ohne geographische Begrenzungen gestanden haben. Marktwirtschaftliche Entwicklung ist ebenfalls kein Nullsummenspiel, auch wenn es immer wieder Anpassungsschwierigkeiten gibt. Unter Ökonomen ist weitgehend Konsens, dass offene Märkte und freier Austausch erstrebenswert sind, da sie Wohlstand schaffen und Innovation beflügeln. Was Deutschland im Schiffsbau an Korea „verloren“ haben mag, ist durch die wachsende Nachfrage aus Korea nach deutschen Maschinen und Oberklasse-Autos kompensiert worden. Umgekehrt hat es Korea nicht geschadet, dass seine Textilindustrie nach Bangladesch abgewandert ist, wodurch sich das einstige Sorgenkind der Entwicklungspolitik zu einem Land mit wirtschaftlicher Eigendynamik gemausert hat: die Textilindustrie generiert fast 20 Milliarden US-Dollar an Exporten, in über 5000 Unternehmen sind vier Millionen Arbeitsplätze entstanden, vor allem für Frauen, und das hat in einem grundsätzlich konservativen islamischen Land eine deutliche Verbesserung der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Rolle der Frauen bewirkt. Das wird angesichts der Berichterstattung über einzelne skandalöse Verfehlungen bei Bau- und Feuersicherheit oft vergessen. Einzelne Branchen und Regionen leiden überall auf der Welt unter diesem Wandel, insgesamt macht er aber alle reicher, wenn man sich der Herausforderung stellt. Die Integration aufstrebender Volkswirtschaften in die Weltwirtschaft ist daher gerade für Liberale nicht das Problem, sondern die Neigung vieler Menschen und damit auch vieler Politiker, in Nullsummenspielen zu denken und die Notwendigkeit des Wandels und der Reformen zu ignorieren. Das ist gerade in reichen Gesellschaften eine häufige und gefährliche Versuchung. Hier müssen Liberale noch stärker dagegen halten. Der zunehmend offene Weltmarkt hat den Wohlstand in der Welt eindeutig vermehrt und den Liberale Außenpolitik gegenüber Schwellenländern: Chancen und Risiken 193 Schwellenländern ihren rasanten Aufstieg ermöglicht – wie der offene Weltmarkt des 19. Jahrhunderts dies für Deutschland und Japan getan hat. Wenn man ihn durch neo-merkantilistische Politik aushöhlt und die Nationalstaaten wieder anfangen, einen staatlichen Wettlauf zur jeweiligen nationalen Rohstoffsicherung zu betreiben, wirkt das destabilisierend und konfliktschürend. Das sollte eigentlich eine Lehre aus dem Ersten Weltkrieg sein. Die Gefahr für den offenen Weltmarkt ist durchaus real, denn die WTO-Verhandlungen stecken in der Sackgasse, und an deren Stelle tritt ein Wust von bilateralen Freihandelsabkommen, die den Welthandel wieder re-politisieren und verschiedenen Lobbygruppen mehr Einfluss geben. Auf dem Feld der internationalen Politik ist die Herausforderung deutlich größer. Neue aufstrebende Mächte bringen das mühsam austarierte Gleichgewicht durcheinander. Als Außenseiter haben sie relativ wenig Anhänglichkeit an das existierende internationale Beziehungssystem, wenn sie ihm nicht sogar aktiv misstrauen. Ein Zuwachs an Macht und Einfluss geht in der Politik auch tatsächlich meist auf Kosten von anderen – hier gibt es in der Tat partiell Nullsummenspiele. Eine Zunahme der Zahl der Akteure bedingt auch eine Zunahme der potentiellen Reibungs- und Konfliktpunkte und stellt daher größere Anforderungen an Kommunikation und Beziehungsmanagement. Das alles vollzieht sich vor dem Hintergrund, dass die Außenpolitik gerade in Demokratien den Wählern nicht besonders wichtig ist und daher die politische Macht fast vollständig von innenpolitischen Faktoren abhängt. Die Versuchung, Außenpolitik daher vorwiegend unter dem Gesichtspunkt der innenpolitischen Dynamik zu sehen, wächst dabei. Dieser Trend wird dadurch verstärkt, dass die klassischen Informationsmedien von den Unterhaltungsmedien zurückgedrängt werden und die Berichterstattung über internationale Beziehungen es dabei am schwersten hat, Aufmerksamkeit zu finden. Eine vorwiegend innenpolitisch determinierte Außenpolitik hat es aber schwer, Interessen anderer Akteure angemessen zu berücksichtigen. Notwendige Kompromisse, die Kosten und Risiken beinhalten, werden damit politisch schwer durchsetzbar und kosten politisches Kapital. Politische Belohnung gibt es dagegen kaum, denn selbst wenn diese Politik außenpolitisch erfolgreich ist, nehmen die Wähler davon nur wenig Notiz. Eine aggressive, nicht-kooperative Außenpolitik dagegen mobilisiert nationale Emotio- 194 Siegfried Herzog nen und kann von innenpolitischen Problemen ablenken. Das gilt insbesondere, aber nicht ausschließlich, für autoritäre Regime. Hier liegt der Grund dafür, dass es keinen echten Konsens über die angestrebte neue Weltordnung gibt und dass die liberale Vision einer offenen Weltgesellschaft mit traditionellen Vorstellungen von Großmachtpolitik und mit den pessimistischen bis apokalyptischen Visionen à la Huntington und Kaplan konkurriert. Das gilt für Schwellenländer wie für Industrieländer. Glaubwürdigkeitsprobleme der liberalen Vision Die Vision der offenen Weltgesellschaft wird in vielen Schwellenländern als eine westliche Vision wahrgenommen, die ein gewisses Glaubwürdigkeitsproblem hat. Da eine ganze Reihe der oben erwähnten existierenden Bausteine nach dem Zweiten Weltkrieg maßgeblich auf die Initiative der USA zurückgehen, stellt sich aus Sicht der Schwellenländer die Frage, ob es sich dabei nicht um eine schön verpackte Strategie handelt, die Dominanz der USA und Europas festzuschreiben. Das westliche Bekenntnis zu offenem Wettbewerb stößt nämlich allzu oft an Grenzen, wenn andere Länder anfangen, erfolgreich zu konkurrieren. Die USA und etliche europäische Länder, insbesondere Frankreich, befällt regelmäßig Panik ob der neuen Konkurrenz aus Asien. In den 80er Jahren war Japan das Objekt der Furcht, gegenwärtig ist es China, und regelmäßig werden Rufe nach mehr Protektionismus laut. Die WTO-Verhandlungen sind auch deshalb festgefahren, weil der westliche Agrarprotektionismus kaum nachgelassen hat. Dieser ist aus liberaler Sicht auch ein anhaltender und durch nichts zu rechtfertigender Skandal. Neue Themen wie Sozial- und Umweltstandards werden ebenso als verkappter Protektionismus wahrgenommen. Viele Schwellenländer fragen auch durchaus zu Recht, ob zur offenen Weltgesellschaft nicht auch offenere Migrationspolitiken in den reichen Ländern gehören müssten. Damit tun sich wiederum die Industrieländer schwer. Globalisierung und freier Welthandel haben sich zwar unbestreitbar als Wachstumsmotoren erwiesen. Das bedeutet aber nicht, dass das tatsächlich auf der emotionalen Ebene verinnerlicht worden ist. Wenn schon entwickelte Industrieländer wie die USA und Frankreich immer wieder heftige politische Reaktionen gegen freien Handel an Liberale Außenpolitik gegenüber Schwellenländern: Chancen und Risiken 195 den Tag legen, dann dürfen uns ähnliche Reaktionen in Schwellenländern nicht verwundern. Zu deren historischem Gedächtnis gehört, dass der Kolonialismus von Handelsinteressen initiiert wurde, etwa von der British East India Company, die Indien erobert hat und sich in China in großem Stil als Drogenhändler betätigt hat. Die daraus resultierenden Opiumkriege sind in China nicht vergessen. Gegen diesen historischen Ballast muss jeder ankämpfen, der für freien Welthandel wirbt. Ein weiterer Aspekt ist die grundlegende Motivation für außenpolitisches Handeln. Für die westlichen Industrieländer sind die beiden Weltkriege eine Hauptquelle der historischen Inspiration für eine offene Weltgesellschaft, die die nationalistischen Exzesse der Vergangenheit verhindern soll. Für viele Schwellenländer dagegen sind die Weltkriege weit weniger Teil der historischen Erinnerung – oder sie sind es in anderer Bedeutung. Dagegen spielt der Kolonialismus eine große Rolle, die Erinnerung an Fremdherrschaft, an den darin institutionalisierten Rassismus. Der Versuch der europäischen Mächte, den Kolonialismus nach dem Zweiten Weltkrieg wiederzubeleben, hat dabei extrem viel Schaden angerichtet. Das betrifft auch die USA, die dies, wenn auch mit Bauchschmerzen, zugelassen und teilweise sogar logistisch unterstützt haben. Im Kalten Krieg und auch danach haben die Industrieländer ihre Unterstützung allzu oft am politischen Wohlverhalten des jeweiligen Landes ausgerichtet und nicht an seiner inneren Verfasstheit. Ägypten mag als aktuelles Beispiel dienen: Präsident Mubarak musste sich nicht annähernd so viel Kritik aus dem Ausland anhören wie der aktuelle frei gewählte Präsident Mursi. Das alles macht viele Schwellenländer zu begeisterten Nationalstaaten, und jede Einschränkung der nationalen Souveränität wird mit großem Misstrauen betrachtet. Das gilt umso mehr, als viele Schwellenländer sich noch nicht als gefestigte Nationalstaaten begreifen und mit vielerlei Problemen der staatlichen Integration und der Entwicklung von stabilen und effektiven Institutionen ringen. Sie befürchten daher, für intensiveren Wettbewerb und für die dabei notwendigen Anpassungsprozesse institutionell nicht gerüstet zu sein. Etliche Schwellenländer haben ungelöste innere Konflikte, die teilweise gewaltsam ausgetragen werden, wobei die Menschenrechte oft auf der Strecke bleiben. Internationale Menschenrechtspolitik wird daher von vielen Schwellenländern als gefährliche Einmischung in sensible Konflikte gesehen. Ähnliches gilt für Demokratieförderung: Hier befürch- 196 Siegfried Herzog ten viele Eliten in den Schwellenländern, dass die Industrieländer Einfluss auf ihre innenpolitischen Prozesse nehmen wollen. Da die eigene politische Integration noch unvollständig ist und viele Akteure und Institutionen noch schwach und korruptionsanfällig sind, befürchtet man, dass ausländische Einflüsse wirkmächtig und unkontrollierbar werden könnten. Das führt zu heftigen und oft paranoiden Reaktionen: Russlands Restriktionen gegenüber ausländischen Organisationen sind dabei ein aktuelles Beispiel. Nicht alle diese Befürchtungen können als Paranoia von etablierten Eliten, die um ihre Macht fürchten, abgetan werden. Der Transformationsprozess von elitendominierten Gesellschaften mit beschränktem Zugang zu gesellschaftlicher, wirtschaftlicher und politischer Teilhabe hin zu Gesellschaften mit offenem Zugang ist riskant und schwierig, wie der Vater der Institutionenökonomie, Douglass North, eindrucksvoll herausgearbeitet hat.7 Traditionell sind die meisten menschlichen Gesellschaften von kleinen Eliten regiert worden, und das Hauptinstrument waren Netzwerke von persönlicher Loyalität, angefangen bei Familienloyalität. Eine offene Gesellschaft ersetzt diese persönlichen Netzwerke durch regelgebundene und weitgehend offene, d. h. aber auch anonyme, Zusammenarbeit. Das birgt die Gefahr von extremen Konflikten, wenn etwa das alte Netzwerksystem sich auflöst, bevor ein glaubwürdiges regelgebundenes System es ersetzen kann. Es gibt dafür keine Blaupause, nur wenige Länder haben diesen Übergang geschafft, und die Gefahr, dass dieser Transformationsprozess die Gesellschaft destabilisiert und zu gewaltsamen Konflikten führt, ist real. Was ist zu tun? Angesichts der o. g. Risiken und Wahrnehmungsdifferenzen bleibt das Werben für die liberale Vision der offenen Weltgesellschaft die wichtigste Kernaufgabe – nach innen wie nach außen. Wenn wir diese Vision ernst nehmen, müssen sich nämlich Industrieländer wie Schwellenländer verändern. Eine liberale Außenpolitik gegenüber Schwellenländern kommt nicht ohne innenpolitische Unterfütterung zustande. -------------------------------------------- 7 North, Douglass/Weingast, Barry R./Wallis, John Joseph: Violence and Social Orders: A Conceptual Framework for Interpreting Recorded Human History; Cambridge Mass. 2009. Liberale Außenpolitik gegenüber Schwellenländern: Chancen und Risiken 197 Sonst würden die Schwellenländer zu Recht vermuten, hier sollten nur sie überredet werden, den vom Westen dekretierten Status quo unverändert zu übernehmen. Das Werben für die offene Weltgesellschaft kann auch nicht auf Regierungshandeln begrenzt werden. Nötig ist, dass sich die Gesellschaften auf allen Ebenen stärker austauschen: Zivilgesellschaft, Wissenschaft, Wirtschaft, Politik und Staat. Das hat die Bundesregierung in ihrem Konzept zur Zusammenarbeit mit neuen Gestaltungsmächten auch zu Recht betont.8 Was vermutlich noch stärker geschehen muss, ist ein Dialog mit den Eliten in den Schwellenländern darüber, wie notwendig dieser Austausch für die Gestaltung der globalen Welt ist. Die von Schwellenländern wahrgenommenen Risiken der politischen Beeinflussung müssen dabei zwar ernst genommen werden, aber der o. g. große Nutzen, der für beide Seiten in einem intensiveren Austausch liegt, muss noch stärker kommuniziert werden. Dazu gehört auch, in den Schwellenländern mehr Verständnis dafür zu wecken, wie wichtig eine breite Palette von Akteuren und Instrumenten ist, die staatliches Handeln unterstützen oder ergänzen, bisweilen auch kritisieren. Wenn Schwellenländer einen respektierten Platz auf dem internationalen Parkett haben wollen – und es ist in unserem Interesse, dass sie das tun – dann müssen sie auch die Instrumente dafür schaffen, von größeren diplomatischen Diensten über professionelle Think Tanks, Handelskammern und autonome Universitäten bis zu NGOs, die diesen Prozess gestalten können. Es ist in der Tat auf die Dauer nicht gesund, wenn die Zivilgesellschaft eines Landes zu einem beachtlichen Teil vom Ausland mitfinanziert wird. Anstatt dies zu unterbinden, sollten die Schwellenländer aber deutlich mehr dafür tun, die geeigneten Rahmenbedingungen und Anreize zu schaffen, dass diese wichtigen Akteure in Zukunft stärker aus der eigenen Gesellschaft heraus finanziert werden, sei es durch staatliche Zuwendungen oder Spenden. Eine professionelle und ausdifferenzierte Zivilgesellschaft, die im internationalen Kontext einen Dialog auf Augenhöhe führen kann, ist eine Quelle der Stärke und der Sicherheit: Sie kann Anliegen eines Schwellenlandes überzeugend vertreten, Verständnis für die Grenzen und Probleme des Handelns von Schwellenländern wecken und so auch dafür sorgen, dass das Handeln von Schwellenländern besser verstan-------------------------------------------8 Vgl. Auswärtiges Amt: Globalisierung gestalten – Partnerschaften ausbauen – Verantwortung teilen. Konzept der Bundesregierung; Berlin 2012. 198 Siegfried Herzog den wird. Mangelnde Transparenz und Kommunikation sind wichtige Quellen von Misstrauen und Ängsten, die zu Fehlkalkulationen führen können. Hier können Schwellenländer noch stärker voneinander lernen: China und Russland sollte zu denken geben, dass der Aufstieg Indiens mit weit weniger Argwohn betrachtet wird als ihrer. Das liegt zu einem nicht unwichtigen Teil daran, dass Indien transparenter ist und dadurch sein Handeln besser verstanden wird. Das ist auch für ein weiteres Ziel liberaler Außenpolitik bedeutsam, nämlich für das der Demokratieförderung. Wie schon oben erwähnt, ist das ein sensibles Thema, denn der Übergang zu politischer Einmischung ist fließend. Die Zivilgesellschaft spielt dabei eine Schlüsselrolle. Seit Alexis de Tocqueville wissen wir, dass eine lebendige und demokratisch strukturierte Zivilgesellschaft das Fundament einer Demokratie bildet. Eine Stärkung der Zivilgesellschaft i. w. S. bedeutet daher nahezu automatisch auch eine Stärkung der demokratischen Kräfte. Wenn man sich die unterschiedliche Entwicklung von Bangladesch und Pakistan nach ihrer Trennung 1971 ansieht, fällt auf, dass die Zivilgesellschaft in Bangladesch ungleich stärker, professioneller und selbstbewusster ist als in Pakistan – und die Tatsache, dass Bangladesch auch eine wesentlich stabilere – wenn auch in vielem noch dysfunktionale – Demokratie hat, hängt damit zumindest teilweise zusammen. Es hat auch in Bangladesch Versuche gegeben, die Zivilgesellschaft klein zu halten, vor allem in der Zeit des Militärdiktators Ershad. Hier hat eine kluge Politik von Anreizen und sanftem Druck der internationalen Partner Bangladeschs dazu geführt, dass aus diesen Versuchen nichts wurde und sich die Zivilgesellschaft entfalten konnte. Das war im wohlverstandenen wirtschaftlichen und sozialen Interesse Bangladeschs, denn Grameen Bank, BRAC und all die anderen Organisationen trugen und tragen zur Lösung von sozialen und wirtschaftlichen Problemen bei. Eine kluge liberale Außenpolitik muss demzufolge Demokratieförderung so betreiben, dass der Nutzen für das Partnerland auf sozialen und wirtschaftlichen Gebieten deutlich wird. Noch sensibler wird es im Bereich der Menschenrechte. Einerseits gibt es für die Menschenrechtspolitik eine völkerrechtliche Grundlage in der UN-Charta, auf die alle Mitgliedsländer verpflichtet sind. Andererseits wird das Menschenrechtsthema von den meisten Schwellenländern mit großem Argwohn verfolgt, weil hier oft sensible Sicherheits- und Machtinteressen berührt werden. Die Frage ist dann für Liberale Außenpolitik gegenüber Schwellenländern: Chancen und Risiken 199 liberale Außenpolitik, wie viel Konfrontation und wie viel Kooperation eingesetzt werden soll. Zu grobem Unrecht dürfen Liberale nicht schweigen, ein gewisses Maß an Kritik und damit Konfrontation ist nötig. Aber gerade Schwellenländer reagieren auf Kritik aus den oben geschilderten Gründen hochempfindlich und lassen sich angesichts ihrer politischen und wirtschaftlichen Bedeutung auch kaum unter Druck setzen. Wenn liberale Außenpolitik tatsächliche Veränderungen erreichen will, dann muss sie das Thema so angehen, dass der Nutzen für das Partnerland im Vordergrund steht. Die Sorge um die internationale Reputation ist dabei ein Aspekt, aber noch sinnvoller ist es, bei den Institutionen der Rechtsstaatlichkeit anzusetzen. Unabhängige Gerichte und eine neutral funktionierende Polizei sind für die wirtschaftliche und soziale Entwicklung eines Landes von zentraler Bedeutung. Wenn man dort ansetzt, kann man eher erreichen, dass ein Reformprozess in Gang kommt. Die Erfahrung aus vielen Ländern lehrt, dass eine Stärkung und Professionalisierung des Justizwesens auch dazu führt, dass Menschenrechtsverletzungen stärker geahndet werden. Auch wenn das manchmal bedeutet, dass man Missstände nicht so klar anprangert, wie man es gern tun würde, so ist das doch der nachhaltigere Weg: Menschenrechte werden geschützt, wenn die Gesellschaft aus sich heraus die Institutionen schafft und die Normen verändert, die Menschenrechtsverletzungen eindämmen. Liberale Außenpolitik sollte daher auch im Dialog mit Vertretern der Wirtschaft darauf hinweisen, dass Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte zwei Seiten derselben Medaille sind und dass sich die Wirtschaft institutionell und individuell aus wohlverstandenem Eigeninteresse mehr dafür einsetzen sollte. Die meisten Unternehmer und auch wohlhabende Fachkräfte in Schwellenländern scheuen davor zurück, die eigene Zivilgesellschaft in Menschenrechtsfragen durch Spenden zu unterstützen. Deshalb stützen sie sich oft in hohem Maße auf ausländische Unterstützung, was sie politisch delegitimieren kann. Ein weiterer wichtiger Aspekt einer liberalen Außenpolitik gegenüber Schwellenländern ist eine offenere Behandlung des Themas Migration. Die Vision einer offenen Weltgesellschaft ist nicht denkbar ohne offenere Grenzen. Es muss daher ein Ziel liberaler Außenpolitik sein, auf beiden Seiten Visabestimmungen zu vereinfachen, Reisemöglichkeiten zu erweitern sowie Migration zu erleichtern. Migration hat wie Handel positive wirtschaftliche Folgen für beide Seiten, sie schafft 200 Siegfried Herzog tragfähige Brücken zwischen Gesellschaften und kann Entwicklung beflügeln. Dabei geht es nicht nur um Heimüberweisungen, so wichtig diese für einzelne Länder sind. China und Indien haben beispielsweise in ihrer Wachstumsdynamik sehr stark von ihrer Diaspora profitiert, die Wissen und Kapital eingebracht hat und eine Brücke zum Weltmarkt bildete. Die deutsche Wirtschaft stellt fest, dass die restriktive Einwanderungspolitik ab den 70ern dazu geführt hat, dass die wirtschaftlichen Eliten der Schwellenländer seither in die USA oder nach Australien zum Studium gegangen sind und unserer Wirtschaft diese persönlichen Partnernetzwerke fehlen. Das wird langsam korrigiert, aber da bleibt noch viel zu tun. Angesichts des historischen Erbes des westlichen Kolonialismus und Rassismus ist das ein Thema, das für Menschen in den Schwellenländern extrem hohen Symbolcharakter hat: Nehmt ihr uns auf Augenhöhe wahr, seid ihr bereit, mit uns gleichberechtigt zusammenzuleben, respektiert ihr uns? Wir müssen nach innen viel stärker vermitteln, wie viel Schaden demütigende Visaprozeduren ausgerechnet bei denen anrichten, die besonderes Interesse an unserem Land haben und unsere natürlichen Brückenbauer sind. Dagegen wiegt die Verhinderung der einen oder anderen Scheinehe oder des einen oder anderen Migranten, der ein Touristenvisum zur Übersiedlung nutzt, viel geringer. Zur liberalen Außenpolitik gehört natürlich auch das Eintreten für einen offenen Weltmarkt. Die Welthandelsorganisation ist eine große Errungenschaft. Es muss jeden Liberalen bedrücken, dass der Prozess der Handelsliberalisierung im Rahmen der WTO stockt. Liberale Außenpolitik sollte stärker auf Zugeständnisse der Industrieländer in Bereichen wie Landwirtschaft und Dienstleistungen dringenLiberale wissen, wie verwerflich der Agrarprotektionismus ist, der eine kleine Gruppe von Landwirten und Agrarfabriken in reichen Ländern auf Kosten der Konsumenten in reichen Ländern und der Produzenten in ärmeren Ländern privilegiert. Für Liberale ist das politisch weniger schwierig – Liberale stehen für die Überzeugung, dass selbst einseitige Handelsliberalisierungen für beide Seiten Vorteile bringen Hier sollten Liberale dem neo-merkantilistischen Duktus der Handelspolitik stärker widerstehen, die wie zu Zeiten Colberts so tut, als ob Exporte gut und Importe böse seien, und von gegenseitigen Zugeständnissen redet, als ob es sich um ein Nullsummenspiel handele. Liberale Außenpolitik gegenüber Schwellenländern: Chancen und Risiken 201 Dazu muss stärkerer Widerstand gegen die Aufnahme handelsfremder Themen wie Umwelt- und Sozialstandards kommen. Wenn man versucht, alle Probleme der Welt mit Hilfe der Handelspolitik zu lösen, wird man scheitern. Leider sind alle möglichen Lobbygruppen verständlicherweise versucht, den Hebel der Handelspolitik für ihre Zwecke zu nutzen. Es gibt zwar bereits verschiedene internationale Mechanismen für Umwelt- und Sozialfragen und auch Organisationen wie die ILO, aber dort sind die Prozesse mühsam und langwierig, und man hat keine Druckmittel in der Hand. Die bietet die Handelspolitik, und deshalb ist sie so populär. Es wird aber regelmäßig unterschätzt, wie viel Schaden das gerade bei den Schwellenländern anrichtet. Sie sehen darin eine verkappte Form des Protektionismus und eine unzulässige Erpressung in Fragen, die nichts mit dem offenen Handel zu tun haben. Das sollten wir ernster nehmen. So schmerzhaft das für viele Idealisten sein mag: Die Handelspolitik bietet keine Abkürzung für die Lösung von Umwelt- und Sozialproblemen in Schwellenländern. Wenn man ihnen den Marktzugang verwehrt, schwächt man die Wachstumsdynamik und damit auch die gesellschaftliche Dynamik, die davon induziert wird und die letztendlich nötig ist, um Umwelt- und Sozialprobleme zu lösen. Es ist empirisch eindeutig, dass Gesellschaften Umwelt- und Sozialprobleme desto energischer angehen, je wohlhabender sie sind. Es gibt dagegen kein Beispiel eines Landes in der Geschichte, das erst seine Umwelt- und Sozialprobleme gelöst hat, bevor es mit der Industrialisierung begonnen hat. Ein weiterer Streitpunkt mit Schwellenländern ist die Frage des geistigen Eigentums. Auch hier vermuten viele Schwellenländer, dass dieses Thema dazu benutzt wird, den etablierten Ländern einen dauerhaften Wettbewerbsvorteil zu sichern. Auch hier sollte liberale Außenpolitik diese Bedenken ernst nehmen. Geistiges Eigentum ist etwas fundamental anderes als Eigentum an Grund und Boden oder Gegenständen. Letzteres kann nicht gleichzeitig mehreren Nutzern zur Verfügung stehen. Die Definition von Eigentumsrechten und der dadurch mögliche Handel lösen das Allokationsproblem, d. h., es stellt sicher, dass Land oder Gegenstände von dem genutzt werden, der am meisten dafür bezahlt, d. h. der es am effizientesten einsetzen kann. Dieses Allokationsproblem stellt sich bei geistigem Eigentum nicht, das kann parallel von unbegrenzt vielen genutzt werden. Der Schutz des geistigen Eigentums schafft ein künstliches temporäres Monopol, und das 202 Siegfried Herzog ist ein notwendiges Übel, um die Investitionen in Forschung und Entwicklung zu finanzieren. Firmen sind aber – verständlicherweise – versucht, dieses Monopol auszudehnen und dadurch so lange wie möglich Monopolprofite zu verdienen. Das ist aus marktwirtschaftlicher Sicht problematisch, von den ethischen Problemen insbesondere im Falle von Medikamenten ganz zu schweigen. Dazu kommt, dass dies den technischen Fortschritt behindern kann, insbesondere in Schwellenländern, die aufholen, indem sie existierende Technologien übernehmen. Das war seit Beginn der Industrialisierung so: Die Briten ärgerten sich im 19 Jh. über deutsche Imitate, später ärgerten sich die Deutschen über japanische, dann die Japaner über koreanische oder chinesische, und keinem hat es auf Dauer geschadet, im Gegenteil: Diese Chance, bereits Entwickeltes zu übernehmen und zu adaptieren, ist mit dafür verantwortlich, dass wirtschaftlicher Fortschritt sich in den heutigen Schwellenländern so viel schneller entfaltet als früher. Deshalb ist die zunehmende Instrumentalisierung des Patentrechts zur Sicherung dauerhafter Monopolprofite ein hochproblematischer Trend. Liberale sollten sich hier innen- und außenpolitisch stärker gegen diese Monopolpolitik stellen und den Patentschutz auf das Nötige begrenzen, anstatt ihn immer mehr auszudehnen. Zu guter Letzt muss liberale Außenpolitik gegenüber Schwellenländern weiterhin differenziert ausfallen. Der Schwellenländerbegriff ist auf einer abstrakten Makroebene sinnvoll, wenn es darum geht, die Transformationsprozesse von Gesellschaften und die Verschiebung der politischen und wirtschaftlichen Gewichte in der Welt zu verstehen. Die Schwellenländer sind aber weit davon entfernt, eine homogene Gruppe zu sein oder sich so zu begreifen. Die BRICS-Treffen illustrieren sehr gut, wie groß die Unterschiede zwischen den Ländern sind und wie wenig Ansatzpunkte für gemeinsames Handeln existieren. In der Handelspolitik haben Brasilien und Südafrika als Nahrungsmittelexporteure andere Ziele als Indien, bei der Frage der Reform des Sicherheitsrates würde eine Aufnahme Brasiliens und Indiens automatisch die derzeit privilegierte Stellung von China und Russland schwächen, in sicherheitspolitischen Fragen haben Brasilien und Südafrika mit ihrer eher ruhigen Nachbarschaft wenig Kopfschmerzen, während China mit Indien und ASEAN teilweise ernsthaft über Kreuz liegt. In den meisten konkreten Politikfeldern muss liberale Außenpolitik weiterhin länder- oder regionalspezifische Konzepte entwickeln. Die oben Liberale Außenpolitik gegenüber Schwellenländern: Chancen und Risiken 203 ausgeführten Überlegungen stellen dafür einige grundsätzliche Prinzipien und Politikansätze zur Verfügung, aber sie können nicht alles abdecken und müssen individuell konkretisiert werden. Ein kleines Fazit Die Beschäftigung mit dem Thema Schwellenländer sollte bei uns den Blick dafür schärfen, dass wir es mit Veränderungen von historischer Dimension zu tun haben, die auch von uns gravierende Veränderungen verlangen. Die Schwellenländer werden nicht einfach alles übernehmen, was wir für gut und richtig halten, und unser Wohlstand bedeutet nicht, daß wir keine Anpassungen und keine Reformen mehr anzupacken brauchen. Das Gegenteil ist der Fall. Wir sollten uns klarmachen, dass diese Veränderungen für alle Beteiligten Risiken bergen und dass sie vor allem ein beachtliches Maß an Ängsten hervorrufen. Die politischen Herausforderungen werden bisweilen unterschätzt. Des Weiteren müssen wir unsere eigene Sicht auf die Welt hinterfragen und akzeptieren, dass sich die Welt von Brasilia, New Delhi, Bejing oder Jakarta aus gesehen manchmal etwas anders darstellt. Die Welt bleibt kompliziert, und die internationale Politik wird nicht deutlich einfacher werden. Wir müssen die politische Energie mobilisieren, diese Veränderungen zu begreifen und zu gestalten. Die größte Gefahr droht von Seiten politischer Kurzsichtigkeit und von nationalem Denken, das die globale Dimension ignoriert. Die Chancen, die sich uns bieten, sind aber auch immens – die Welt in eine Richtung zu bewegen, in der Gewalt weiter eingehegt wird und die Kooperation zu gegenseitigem Nutzen zunimmt, in der unsere letztlich künstlichen Grenzen mehr von ihrem trennenden Charakter verlieren. Darum geht es. Zu diesem Ziel gibt es keinen Automatismus, und es gibt genügend Gegenkräfte, die uns zeitweilig oder dauerhaft aus der Bahn werfen können – auch das lehrt uns die Weltgeschichte. Wir müssen schon etwas für diese Vision tun. Der wichtigste Schritt ist, mit den Schwellenländern daraus eine gemeinsame Vision zu machen. Arabischer Frühling: Die neuen Akteure des politischen Islam 205 Christian Wolff Arabischer Frühling: Die neuen Akteure des politischen Islam und die außenpolitischen Prämissen des Westens Einleitung Der so genannte Arabische Frühling 2011 hat das außenpolitische Handeln der westlichen Welt gegenüber den Staaten des Nahen Ostens vor neue Aufgaben gestellt. Nicht nur sind frühere Verhandlungspartner weggefallen, sondern es sind auch neue Akteure auf die politischen Bühnen der arabischen Staaten getreten, die lange Zeit noch als Gegner westlicher Politik betrachtet wurden. Mit den Muslimbrüdern in Ägypten hat es eine Organisation an die Spitze des Staates geschafft, die seit ihrer Gründung 1928 regelmäßiger Unterdrückung und Repression ausgesetzt war und deren Bild in der westlichen Öffentlichkeit stark durch Stereotypisierungen und Vorurteile geprägt war. Dabei stand auch liberale Außenpolitik lange Zeit vor einem ideologischen Dilemma. Zwar wurde einerseits die Förderung rechtsstaatlicher, zivilgesellschaftlicher und demokratischer Strukturen in Ägypten und den anderen Staaten des Nahen Ostens als Notwendigkeit einer modernen Staatenwelt betrachtet. So wurden jedoch die meist autoritären Herrscher in diesen Ländern trotz der Kenntnis über teils offensichtliche Wahlrechts- und Menschenrechtsverstöße toleriert und als verlässliche Verhandlungspartner akzeptiert. Dies lag sicherlich zum einen an der seit der iranischen Revolution von 1979/80 viel diskutierten Gefahr, die vermeintlich von islamistischen politischen Bewegungen für moderne Staatlichkeit ausging. Das Menetekel der iranischen Theokratie stand an der Wand und wurde zugespitzt als Ausdruck des repressiven Charakters sowie der Rückständigkeit islamischer Staatsideen beispielhaft benannt. Zum anderen galten die Bewegungen des politischen Islam als natürliche Feinde eines erfolgreichen Friedensprozesses im Nahen Osten sowie als Gefahr für die territoriale Integrität Israels. 206 Christian Wolff Hier wurde und wird häufig auf die Ermordung des ägyptischen Präsidenten Sadat verwiesen, der – so wird oftmals zugespitzt formuliert – für die Verhandlung des Friedensvertrages mit Israel sein Leben lassen musste. Liberale Außenpolitik befand und befindet sich also in einem Dilemma zwischen der Förderung rechtsstaatlicher Grundsätze, liberaler Vorstellungen des Staatsbürgers und der Ideen gerechter Wohlstandsverteilung auf der einen sowie der Tolerierung autoritärer, oft dynastischer und immer repressiver Herrschaft auf der anderen Seite. Betrachtet man die Politik des Westens gegenüber arabischen Staaten auf einer Meta-Ebene, so eröffnen sich im Wesentlichen drei Prämissen, die leitend waren. 1. Sicherheit und Stabilität Unter diesem Punkt lassen sich allgemeine Aspekte der internationalen Sicherheitspolitik wie die Terrorismusbekämpfung ebenso fassen wie die Garantie der kolonialen staatlichen Grenzen im Nahen Osten. Letzteres bezieht sich nicht nur, aber durchaus auch auf den israelischen Staat, dessen Existenzrecht besonders von deutscher Seite zu Recht als unverhandelbar betrachtet wird. Im Rahmen der globalen Wohlstandsverteilung dürfte aber auch die Sicherheit, beziehungsweise die Undurchlässigkeit der Grenzen zu Europa, in den letzten Jahrzehnten von immer größerer Bedeutung gewesen sein. So muss sicherlich die Flüchtlingsproblematik als starker Einfluss westlicher Außenpolitik gegenüber den Staaten des Nahen Ostens genannt werden. Besonders die Fähigkeit autoritärer Staatsführungen, Flüchtlinge schnell und ohne europäische Menschenrechtsstandards noch vor dem Erreichen europäischen Bodens abzufangen und in ihre Heimatländer zu verbringen, ist sicherlich ein prägender Faktor in der Zusammenarbeit Europas mit den Mittelmeerländern gewesen. Beispielhaft treten hier die spanischen Exklaven Ceuta und Melilla in Marokko oder die Arbeit der FRONTEX im Zuge der Ausdehnung des europäischen Grenzkontrollregimes auf die Maghreb-Staaten hervor.1 Diese Ent-------------------------------------------1 vgl. u. a.: Fischer-Lescano, Andreas/Tohidipur, Timo: Europäisches Grenzkontrollregime. Rechtsrahmen der europäischen Grenzschutzagentur FRONTEX; in: ZaöRV 67/2007, S. 1219-1276; Naceur, Sofian Philip/ Groth, Annette: Expansion der Festung Europa und Flüchtlingsdrama in Ägypten; in: Telepolis, 6.3.2013: http://www.heise.de/ tp/artikel/38/38643/1.html; zuletzt aufgerufen am 14.3.2013; Parkes, Roderick: Ge- Arabischer Frühling: Die neuen Akteure des politischen Islam 207 wicklung leitet natürlich in den geopolitischen Bereich der Rohstoffund Wegesicherheit über, der im Falle Ägyptens durch den Suez-Kanal repräsentiert wird, aber auch durch zahlreiche weitere politische Projekte wie beispielsweise DESERTEC geprägt wird. 2. Wirtschaftliche Entwicklung Die wirtschaftliche Zusammenarbeit der EU mit den Mittelmeerstaaten ist ebenso wie der sicherheitspolitische Aspekt Teil der euromediterranen Zusammenarbeit. Allerdings, so scheint es, unterliegt auch dieser außenpolitische Bereich einer gewissen Einseitigkeit zugunsten der EU. Dies zeigt sich beispielhaft an der Etablierung einer Freihandelszone mit den arabischen Mittelmeerstaaten. Dabei sticht besonders die Frage der Zollfreiheit für Agrarprodukte in der EU als Streitpunkt ins Auge. Aufgrund innenpolitischer Sachlagen sehen sich die meisten EU-Länder noch nicht in der Lage, offensichtlich kompetitive Waren in ein Freihandelsabkommen und somit in den Binnenmarkt der EU einzubinden. Hinzu kommt, dass die wirtschaftlichen Liberalisierungsforderungen im Zuge der Kreditvergabe durch Weltbank und Weltwährungsfonds oftmals weniger zur Etablierung freier und fairer Marktbedingungen geführt haben, sondern vielmehr oligarchische Strukturen in den autoritären Regimen beförderten. Dies lag zum einen an fehlenden politischen Durchsetzungsmitteln der außenpolitischen Akteure und zum anderen an der langfristigen Verankerung neo-patrimonialer Strukturen in den jeweiligen Staaten.2 So empfehlen Demmelhuber und Roll, „[d]ie politische Stärkung der gegenwärtigen [2007, Anm. d. Autors] Herrschaftselite, die sich zu einem bedeutenden Teil aus am Status Quo orientierten Wirtschaftsoligarchen zusammensetzt […] im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit möglichst zu vermeiden.“3 Die Schwerpunktsetzung liberaler Außenpolitik, die sich prinzipiell an der Förderung von „marktwirtschaftliche[n] Reformen mit einem speziellen Schwerpunkt auf Rechtsstaat-------------------------------------------meinsame Patrouillen an Europas Südflanke – Zur Frage der Kontrolle der afrikanischen Einwanderung; SWP-Aktuell 44, September 2006. 2 Siehe u. a.: Zahid, Muhammad: The Muslim Brotherhood and Egypt‘s Succession Crisis; London, 2010; S. 44ff; sowie Demmelhuber, Thomas/Roll, Stephan: Herrschaftssicherung in Ägypten – Zur Rolle von Reformen und Wirtschaftsoligarchen; SWPStudie, Berlin, Juli 2007. 3 Demmelhuber/Roll; 2007, S. 33. 208 Christian Wolff lichkeit, Entbürokratisierung und Deregulierung“4 ausrichtet, scheint im Rückblick die Bedingungen der oben genannten Stabilitätsprämisse nicht erfüllt zu haben. 3. Islamismus Die dritte Prämisse lehnt sich in ihrer inhaltlichen Ausrichtung eng an den erstgenannten Punkt „Sicherheit und Stabilität“ an. Spätestens mit den Terroranschlägen auf das World-Trade-Center von 2001 ist die Gefahr eines gewaltbereiten Islamismus/Jihadismus eine prägende Konstante, wenn es um eine politische Betrachtung des Nahen Ostens geht. Die Tendenz, islamische politische Bewegungen vereinfachend mit gewaltausübenden Strömungen gleichzusetzen, ist jedoch bereits vor 2001 latent vorhanden und offenbart sich beispielhaft in der Rezeption des Attentates auf Sadat 19815 oder der Anschläge auf Touristen in Ägypten in der Mitte der 1990er Jahre. So kommt es schließlich so weit, dass der populäre und vielrezipierte islamistische Ideologe Sayyid Qutb fälschlicherweise als Führer der Muslimbruderschaft dargestellt wird.6 Die diffus anmutende Gemengelage gegenüber dem politischen Islamismus wird durch die Revolution in Iran von 1979 und die Furcht vor einem Export der aus dieser hervorgegangenen islamischen Staatlichkeit noch verschärft. Die Warnungen vor einer Expansion der Wilayat-e Faqih Irans in die arabischen Nachbarstaaten stellen bis in die heutige Zeit eine Konstante besonders in geopolitischen Strategien um den persischen Golf herum dar. Auch das Aufkommen islamistischer Akteure wie Hamas oder Hizbullah im NahostKonflikt und die damit in Verbindung stehenden Selbstmordattentate -------------------------------------------- 4 Doering, Detmar: Wirtschaftsfreiheit in der arabischen Welt: Woran lag es?; Blogbeitrag auf liberalesinstitut.wordpress.com vom 22.11.2012; http://liberalesinstitut. wordpress.com/2012/11/22/wirtschaftsfreiheit-in-der-arabischen-welt-woran-lag-es/; zuletzt aufgerufen am 14.4.2013. 5 Beispielsweise: „Vordenker des Islamismus“ – WDR Zeitgeschichtliches Archiv vom 29.8.2006; http://www1.wdr.de/themen/archiv/stichtag/stichtag2162.html; zuletzt aufgerufen am 15.4.2013. 6 So wird Qutb sogar als „Gründer der Muslimbruderschaft“ von Necla Kelek in ihrer Besprechung von Shereen El-Fekis Buch „Sex und die Zitadelle“ in „Die Welt“ vom 6.4.2013 genannt. http://www.welt.de/print/die_welt/literatur/article115057163/ Orientalische-Lust.html; zuletzt aufgerufen am 15.4.2013. Auch in der TAZ wird Qutb als Führer der Muslimbruderschaft bezeichnet. http://www.taz.de/!106957/; zuletzt aufgerufen am 15.4.2013. Arabischer Frühling: Die neuen Akteure des politischen Islam 209 schüren die Angst vor einer Ausdehnung islamischer politischer Ideen. Außenpolitische Akteure, besonders, wenn sie aus dem liberalen Lager kommen, haben darüber hinaus naturgemäß eine kritische Einstellung gegenüber religiösen und/oder fundamentalistischen Bewegungen, die eine ideologische Sichtweise dogmatisch für alle Bürger einer Gesellschaft als verpflichtende Norm festschreiben wollen. So ist denn auch die lange Zeit nicht vorhandene Bereitschaft außenpolitischer Akteure zu verstehen, mit Bewegungen wie der ägyptischen Muslimbruderschaft in direkte Gespräche einzutreten. Folglich kam denn 2005 auch der Erfolg der Muslimbruderschaft in der ersten Runde der damaligen Parlamentswahlen durchaus überraschend für westliche Beobachter. Seit diesen Wahlen galt die Muslimbruderschaft jedoch als offensichtlich am besten organisierte und wohl auch einzige ernstzunehmende Oppositionskraft im autoritären Ägypten. Der Kairoer Frühling, der diese Wahlgewinne des politischen Islam erst ermöglichte, entstand durch den Druck des Auslands, und er verschwand, sobald die außenpolitischen Reaktionen auf die Wahlergebnisse der Muslimbruderschaft in Ägypten sowie der Hamas in Gaza im Ton schärfer und kritischer wurden.7 Der politische Islam wurde seitens europäischer Außenpolitik also indirekt von der Demokratisierungsförderung als dieser entgegenstehend ausgenommen. Zwar gab es kurz nach dem Sturz Mubaraks im Februar 2011 eine spürbare inhaltliche Annäherung an die Muslimbruderschaft seitens der Medien. Spätestens seit der Verabschiedung der derzeitigen ägyptischen Verfassung und den teils äußerst widersprüchlichen Aussagen Präsident Mursis sind die beschriebenen Rezeptionsmuster, wenn auch in gemilderter Form, wieder präsent.8 -------------------------------------------- 7 siehe u. a. Süddeutsche: „Die ganze Region wird ins Chaos stürzen“; http://www. sueddeutsche.de/politik/reaktionen-die-ganze-region-wird-ins-chaos-stuerzen-1.915213; zuletzt aufgerufen am 15.4.2013 oder auch Ritzmann, Alexander: Muslimbrüder zerstören Deutschland von innen; in: Die Welt vom 19.12.2007; http://www.welt.de/ politik/article1474736/Muslimbrueder-zerstoeren-Deutschland-von-innen.html; zuletzt aufgerufen am 15.4.2013. 8 siehe u. a.: Trager, Eric: Unverwüstliche Muslimbruderschaft – Düstere Aussichten für ein freies Ägypten und einen friedlichen Nahen Osten; in: Internationale Politik 6/2011, S. 74-82; https://zeitschrift-ip.dgap.org/de/ip-die-zeitschrift/archiv/jahrgang-2011/ november-dezember/unverw%C3%BCstliche-muslimbruderschaft; zuletzt aufgerufen am 15.4.2013; Medick, Veit: Parlamentswahlen in Ägypten: Messlatte für die Muslimbrüder, 9.11.2005; http://www.spiegel.de/politik/ausland/parlamentswahl-in-aegyptenmesslatte-fuer-die-muslimbrueder-a-383873.html; zuletzt aufgerufen am 15.4.2013. 210 Christian Wolff Die Rezeption des Islamismus und das „penetrated System“ nach 2011 Das große Problem in der Rezeption der Akteure des politischen Islam scheint sich auf zwei Punkte zurückführen zu lassen. Erstens ist dies die Enttäuschung darüber, dass die sichtbare Einigkeit der Ägypter während der #Jan25-Bewegung, die sich in zahlreichen Symbolen auf dem Tahrir-Platz offenbart hat, offensichtlich nicht von langer Dauer war. Konfessionelle Differenzen, sexuelle Diskriminierung sowie zunehmende Gewalt im Zuge von Anti-Regierungs-Demonstrationen einer frustrierten Jugend prägen das Bild der Berichterstattung und zeigen vor allem, dass die Ereignisse vom Frühjahr 2011 die akuten gesellschaftlichen Probleme Ägyptens nur überdeckt und keineswegs gelöst haben. Zweitens ist ein westliches Rezeptionsdilemma vorhanden. Zwar will man die demokratisch gewählte Regierung – nicht nur in Ägypten – nicht mit Forderungen unter Druck setzen, weil man sonst Gefahr läuft, tief verankerte und nicht unbegründete Ängste vor einer Art kolonialer Einmischung ausländischer Mächte zu reanimieren. Das Rekurrieren auf universalistische Prinzipen liberaler – westlicher – Gesellschaften wird jedoch in westlichen Medien zunehmend drückender, so dass die Forderung nach Einführung verschiedenster Grund- und Menschenrechtskataloge langfristig nicht bloß reine Rhetorik bleiben kann. Diese zwei Bedingungen erschweren die mediale und politische Behandlung der neuen Akteure des politischen Islam in der arabischen Welt. Der Spagat zwischen unerwünschter externer Einmischung und menschenrechtlich konditionierter Wirtschafts- und Entwicklungszusammenarbeit prägt westliche und besonders deutsche Außenpolitik in den Ländern des sogenannten Arabischen Frühlings offensichtlich enorm. Die Interdependenzen zwischen der machtorientierten Interessenpolitik der realistischen und der an der Handlungslogik sowie der Rollenerwartung orientierten idealistischen Theorieschule der Außenpolitik offenbaren sich am Umgang mit Akteuren des politischen Islam deutlich. Hier lässt sich die Theorie des „Penetrated System“ von L. Carl Brown, die auch heute noch Relevanz hat, einführen. Sie stellt, dezidiert auf den Nahen und Mittleren Osten zugespitzt, die Region als eine durch externe Mächte in deren Sinne beeinflusste, jedoch nicht in Gänze durchdrungene dar. Hinzu kommt mit dem Verweis auf die Spieltheorie, dass es einerseits zu stets wechselnden Koalitionen zwischen den Akteuren kommt. Die Anlässe hierzu wirken sich fast immer – egal, ob sie lokal oder übergeordnet ihren Arabischer Frühling: Die neuen Akteure des politischen Islam 211 Ursprung haben – auf alle Akteure und alle Ebenen aus. Damit steht in Verbindung, dass andererseits politische Taktik den Vorzug vor langfristig angelegten Strategien erhält.9 „A penetrated political system is one that is neither effectively absorbed by the outside challenger nor later released from the outsider`s smothering embrace. A penetrated system exists in continuous confrontation with a dominant outside political system.“10 Vor dem Hintergrund dieser Theorie, die die Verquickung von Interessen und Akteuren darstellt, ist auch das Handeln des politischen Islam zu betrachten. Die Begriffe moderner Gesellschaften und die Akteure des politischen Islam Im Umgang mit den Akteuren des politischen Islam, für die in diesem Artikel exemplarisch die ägyptische Muslimbruderschaft steht, sind die oben genannten eher realpolitisch orientierten außenpolitischen Prämissen prägend, sowie die Frage, wie sogenannte westliche oder eben liberale Werte wie Freiheit, Bürger und Staat mit der islamischen Staatsidee dieser Gruppen zu vereinen sind. Zusammenfassend wird in diesem Kontext oft von der Demokratiekompatibilität gesprochen, die zum Ausdruck bringt, dass westliche Ideale liberaler Gesellschaften einen Bogen spannen von der Etablierung der Rechtsstaatlichkeit, der Bürger- und Menschenrechte bis hin zu individuellen Freiheitsrechten. Die historische Entwicklung dieser Werte im Westen wird bei dieser Kompatibilitätsfrage meist ebenso hintangestellt, wie diese Werte häufig idealisiert und besonders in Bezug auf die Menschenrechtskataloge universell normiert behandelt werden.11 Es ist offensichtlich, dass Akteure, deren Vorstellung von Gesellschaft eng mit religiös begründeten Normen verknüpft ist, nur schwerlich alle idealen Bedingungen erfüllen können und wollen, um in das Schema westli-------------------------------------------- 9 Brown, L. Carl: International Politics and the Middle East – Old Rules, Dangerous Games; London 1984, S. 16ff. 10 Brown, L. Carl: International Politics and the Middle East – Old Rules, Dangerous Games; London 1984, S. 5. 11 Taylor, Charles: Why we need a radical redefinition of secularism; in: Butler, Judith … [et al.]: The power of religion in the public sphere; New York 2011, S. 40, 41. 212 Christian Wolff cher liberaler Demokratien zu passen. Vielmehr zeigt sich, dass individuelle und kollektive Erfahrungen ebenso wie die Auseinandersetzung mit globalen politischen Gegebenheiten zu indigenen Interpretationen von Freiheit, Bürger und Staat geführt haben, die nicht in allen, aber doch in einigen grundlegenden Punkten Gemeinsamkeiten mit denen westlicher Interpretation aufweisen. Vorab ist es jedoch nötig, die wesentlichen Kernkonflikte der Muslimbruderschaft darzustellen, um darauf aufbauend deren Interpretation von Freiheit, Bürger und Staat zu analysieren. Neben einer kurzen Schilderung der Gründungsbedingungen der Bruderschaft werden die ideologische Debatte nach der Ermordung Hasan al-Bannas sowie das problematische Verhältnis zwischen Militär und Muslimbrüdern hier prägend sein. Natürlich ist die Geschichte der Muslimbruderschaft komplexer, und in der Tiefe müsste die Rolle der sogenannten Generation der Mitte (Jil al-Wasat), die in den 1970er Jahren politisch aktiv wurde, noch eingehender dargestellt werden. Da hier jedoch der Fokus auf den wesentlichen Problemen der Ideologie der Muslimbruderschaft liegt, wird auf weiterführende Literatur zur Generation der Mitte sowie auch der Hizb alWasat in der folgenden Fußnote verwiesen.12 Kernkonflikte der Muslimbruderschaft Die Bedingungen für die Gründung der Muslimbruderschaft durch Hasan al-Banna 1928 in Ismailiyya waren bestimmt durch den Eindruck der von den Briten kolonial abgesicherten Unabhängigkeit Ägyptens. De jure galten der ägyptische König Fuad I. (1922-1936) und seine Nachfolger Faruq (1936-1952) sowie Fuad II. (1952-1953) als Souveräne der ägyptischen Nation, die sich mit der britischen „Declaration to Egypt“ seit 1922 als Königreich und später als konstitutionelle Monarchie verstand. De facto blieben die britischen Besatzungstruppen jedoch weiterhin besonders um die Suezkanalzone im Lande und erhielten im Falle einer Bündnisverpflichtung weitreichende strategische Einflussrechte auf die Infrastruktur und die Außenpolitik Ägyptens. Die Politik dieser 1920er Jahre, die oftmals auch als liberale -------------------------------------------- 12 Ghobashy, Mona el: The Metamorphosis of the Egyptian Muslim Brothers; in IJMES, 3/2005, S. 373 – 395; Browers, Michaelle, L.: Political Ideology in the Arab World – Accommodation and Transformation; Cambridge 2009; Dufner, Ulrike: Islam ist nicht gleich Islam; Leverkusen 2001; Rutherford, Bruce K.: Egypt after Mubarak; Princeton 2008. Arabischer Frühling: Die neuen Akteure des politischen Islam 213 Periode bezeichnet werden, zeichnete sich durch stetig wechselnde Koalitionen der parlamentarischen Parteien sowie eine zunehmende Korrumpierbarkeit der handelnden Politiker aus.13 Die Parteien jener Zeit waren meist durch Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens und entsprechende klientelistische Verbindungen geprägt.14 Die Einflüsse rein westlich orientierter Lebensstile, ausgehend von einer elitären Bevölkerungsschicht in Kairo, die sich an die ehemaligen Kolonialvertreter anlehnte, wirkten in die ländlichen Gebiete ein und äußerten sich auch in einer zunehmenden Verarmung der bäuerlichen Bevölkerung, die unter teils feudalen Bedingungen lebte, gefolgt von einem ansteigenden Migrationsdruck auf die Großstädte.15 Hinzu kam, dass die Wirtschaft insgesamt zum einen noch immer durch britische beziehungsweise europäische Geldgeber kontrolliert wurde und zum anderen wenig soziale Wohlfahrt seitens des Staates garantieren konnte. Die Religion als eines von drei Elementen, die Taha Hussein der ägyptischen Kultur zugeschrieben hat, wurde gerade in den urbanen Zentren zu einer eher machtlegitimierenden denn die Lebensumstände normativ durchdringenden Konstante.16 In diesem gesellschaftlichen Kontext entsteht die Muslimbruderschaft aus dem Anspruch al-Bannas heraus, eine religiöse Bewegung zu begründen, die sich nicht, wie viele bereits vorhandene Gruppierungen, nur auf die religiöse Ertüchtigung ihrer Mitglieder beschränkt, sondern eine aktive Rolle bei der Umgestaltung der vorherrschenden gesellschaftlichen Lebensformen einnimmt. Dies bedeutet schon von Beginn an, dass der Fokus der Muslimbruderschaft auf politische Partizipation gelegt wird.17 Die Muslimbruderschaft sieht al-Banna als Ausdruck einer umfassenden islamischen Lebenswirklichkeit, die, im Sinne Mohammad Abduhs und weiterer islamischer Reformtheologen, die ägyptische Nation zurückfüh-------------------------------------------- 13 u. a.: Hourani, Albert: Arabic Thought in the Liberal Age – 1798 – 1939; Cambridge 1983. 14 Vatikiotis, P. J.: The History of Egypt – From Muhammad Ali to Mubarak; Baltimore 1985, S. 272ff. 15 Schulze, Reinhard: Geschichte der islamischen Welt im 20. Jahrhundert; 2. Aufl., München 2003, S. 123ff. 16 Hourani, Albert: Die Geschichte der arabischen Völker; Frankfurt am Main 1992; S. 414ff. 17 Zur historischen Genese der Muslimbruderschaft siehe besonders: Mitchell, Richard P.: The Society of the Muslim Brothers; New York 1993; Lia, Brynjar: The Society of the Muslim Brothers in Egypt – The Rise of an Islamic Mass Movement 1928 – 1942; Ithaca/New York 1999; Krämer, Gudrun: Hasan al-Banna; London 2010. 214 Christian Wolff ren soll zu ihrer durch westliche Lebensweisen überdeckten Identität. Dabei darf dies nicht als Rückschritt oder gar als generelle Ablehnung moderner Gesellschaftsformen und Verhaltensweisen betrachtet werden, sondern vielmehr als Suche nach der eigenen Identität im Kontext einer westlich dominierten Moderne. Diese Identität wird religiös durch den Islam, national durch die ägyptische Zivilisation und kulturell durch eine Verbindung von arabischen sowie ägyptischen Merkmalen definiert.18 Die Muslimbruderschaft lehnt sich in ihrer Gründungsphase sowie in ihrer organisatorischen Strukturierung also an mehrere historische Bedingungen der 1920er Jahre an. Zum einen fasst sie sich – bis heute – als in sich geschlossene Bewegung auf, die verschiedene Initiationsstufen ihrer Mitglieder kennt. Die Mitglieder werden geworben und können sich im Regelfall – anders verhält es sich bei der 2011 gegründeten Partei Freiheit und Gerechtigkeit (FJP) – nicht selbst aktiv um eine Mitgliedschaft bewerben. Es handelt sich um eine bruderschaftliche Struktur, die auf einen internen ideologischen Zusammenhalt abzielt. Zum anderen wurden die Mitglieder der Bruderschaft zum Teil in Gruppen organisiert, die der europäischen Pfadfinderbewegung stark ähnelten.19 Der umfassende Begriff vom Islam als Einstellung zum Leben drückte sich darüber hinaus in einem sportlichen, spirituellen und religiösen Lehrplan aus, der das einzelne Mitglied zum Missionar der Sache der Bruderschaft machen sollte. Diese Missionierung sollte kreisförmig vom Individuum ausgehend auf die engere und weitere Familienebene, über die Nachbarschaft und das gesellschaftliche Umfeld am Ende auf die ägyptische Nation wirken und dezidiert durch vorbildhaftes Verhalten und Überzeugungsarbeit ausgeübt werden. Das Narrativ der Befreiung von Fremdherrschaft drückte sich in diesem Zusammenhang in zwei wesentlichen Komponenten aus. Erstens war dies die Befreiung von der westlichen physischen und kulturellen Durchdringung Ägyptens und der arabischen Welt, die durch die am Suezkanal stationierten britischen Streitkräfte ebenso wie durch westliche Konsumgüter und Lebensstile besonders in den Großstädten sichtbar wurde. Zweitens ging es jedoch auch um die Überwindung der als korrupt empfundenen Parteienlandschaft des Ägyptens der 1920er und 1930er Jahre sowie um die Abgrenzung zur Rolle der islamischen Gelehrten (Ulama) der Azhar, welche durch -------------------------------------------18 19 Lia, 1999, S. 80. Lia, 1998, S. 174. Arabischer Frühling: Die neuen Akteure des politischen Islam 215 ihren relativen politischen Quietismus als Teil der innerislamischen Urheber für die offensichtliche Rückständigkeit der islamischen Welt betrachtet wurden.20 Um die Befreiung von Fremdherrschaft voranzutreiben, hatte die Muslimbruderschaft einen geheimen beziehungsweise militärischen Apparat (Jihaz al-Sirri) etabliert, der in Guerilla-Aktionen gegen die britischen Soldaten und im Krieg mit Israel eingesetzt wurde. Kurz vor der Ermordung Hasan al-Bannas 1949 wurden Mitglieder des geheimen Apparates auch mit der Ermordung des Premierministers Al-Nuqrashi 1948 in Verbindung gebracht. Dieser wollte die Bruderschaft gesetzlich verbieten lassen. Führungskrise und ideologische Ausdifferenzierung Um den geheimen Apparat entspann sich in den Jahren nach alBannas Tod schließlich der wohl prägendste Konflikt der Muslimbruderschaft, der seinen Ursprung zum einen in der Wahl dessen Nachfolgers Hasan al-Hudaybi sowie zum anderen in den Ereignissen der Jahre 1952-54 hatte. Wurde al-Banna als charismatischer, beinahe unwidersprochener Führer gesehen, der die verschiedensten ideologischen Strömungen, die mit dem bewaffneten, dem politisch-moderaten und dem religiös-missionierenden Arm der inzwischen zur Massenorganisation gewachsenen Muslimbruderschaft jeweils in Verbindung standen, auf sich vereinen konnte, so versuchten nach dessen Ermordung Hardliner und Moderate, einen je passenden eigenen Kandidaten durchzusetzen. Mit Hasan al-Hudaybi wurde jedoch eine Art Kompromisskandidat, der als relativ durchsetzungsschwach eingeschätzt wurde, neuer Führer der Bruderschaft. Ziel war es, mit dem langjährigen Richter al-Hudaybi ein seriöses Gesicht nach außen zu präsentieren und den ideologischen Konflikt intern unter Umgehung alHudaybis auszutragen.21 Al-Hudaybi trat jedoch als vehementer Verfechter einer gewaltlosen Politik der Bruderschaft auf und suchte den offenen Konflikt mit den Vertretern des geheimen Apparates. Ideologisch spitzte sich die Situation zu, als nach den Massenverhaftungen von Muslimbrüdern ab 1954 die Führungsspitze der Bruderschaft inhaftiert und teils zu lebenslänglichen Strafen oder gar zur Hinrich-------------------------------------------20 21 Vatikiotis, 1985; S. 271ff sowie besonders ab S. 296ff. Mitchell, 1993, S. 87. 216 Christian Wolff tung verurteilt wurde.22 In dieser Phase schrieb Sayyid Qutb, der ehemalige Schriftleiter der Muslimbruderschaft, sein ideologisches Werk „Milestones“ (Ma‘alim fi-t-tariq), welches unter anderem das Konzept des Takfir (Jemanden-für-ungläubig-Sprechen; Exkommunikation), die Theorie der Jahiliyya23 sowie die Idee elitärer Gruppen zur Durchsetzung eines utopisch-idealisierten islamischen Staates frei von menschlicher Herrschaft beinhaltet und als Mittel im Kampf gegen moralisch korrumpierte Regierungen rechtfertigt.24 Hasan al-Hudaybi hat diese Schrift zwar nicht in Gänze widerlegt, jedoch in maßgeblichen Teilen entschärft.25 Direkt bezugnehmend auf die zu dieser Zeit populären Schriften Maududis greift er indirekt Qutb an und betont, dass es einerseits menschliche Regierungen geben kann und darf – die durchaus mit demokratischen Verfahren legitimiert werden können – und ein gottgefälliges Leben in solchen Gesellschaften möglich ist. Andererseits betont er, dass die Methodik des Takfir, die auch als Legitimation für Attentate auf die so exkommunizierten Menschen dient, in göttliche Entscheidungen eingreife, dass Gott eben der letzte und einzige Richter über die wahre Gläubigkeit der Menschen sei. In seinem Buch „Prediger, nicht Richter“ führt al-Hudaybi genau dies vertieft und theologisch begründet aus. Seine Arbeit diente im weiteren Verlauf der Geschichte der Muslimbruderschaft, aber auch der Bewegungen des gewaltfreien politischen Islam dazu, den bewaffneten Arm langfristig aus der Organisation zu entfernen sowie das noch in den 1920er und 1930er Jahren durchaus akzeptierte politische Attentat aus den Handlungsoptionen der Muslimbruderschaft ideologisch auszuschließen. Die vorgenannte Generation der Mitte bezog ihre politische Haltung schließlich aus der Lektüre der Schriften Qutbs sowie der Arbeit alHudaybis. Beide, so betonte es Mohammed Habib, der ehemalige Stellvertreter des Führers der Muslimbruderschaft, Mohammed Mahdi Akef, in einem Interview mit dem Autor 2007, müssten zusammen gelesen und verstanden werden. Der nach Veränderung und Gesell-------------------------------------------22 Zollner, 2009, S. 22-23. Bezeichnung der Zeit vor dem Auftreten des Islam als „Zeit der Unwissenheit“. Qutb transferiert diesen Begriff in die Moderne und bezeichnet die – auch islamischen – Regierungen seiner Zeit als unwissend und, da sie im Prinzip den Islam bereits kennen, deshalb als angreifbar. 24 Binder, Leonard; Islamic Liberalism – A Critique of Development Ideologies; London 1988, S. 171 f.f 25 Zollner, 2009, S. 75. 23 Arabischer Frühling: Die neuen Akteure des politischen Islam 217 schaftsreform strebende Gestus Sayyid Qutbs drücke die Unzufriedenheit mit dem Ist-Zustand der islamischen Gesellschaften aus. Die theologische Bearbeitung Hasan al-Hudaybis nehme dem die radikale Schärfe und führe politisches Handeln und ideologische Motivation in eine Richtung, die als Methodik der Muslimbruderschaft zu begreifen sei.26 So wird also die Kritik Qutbs am moralischen Wertverlust moderner Gesellschaften, die sich besonders auf den materialistischen Kern westlicher politischer Ideologien bezieht, mit dem Diktum „Prediger, nicht Richter“ verbunden. Gewalt als Mittel der Politik verliert somit ebenso ihre Akzeptanz, wie auch die Idee eines idealen islamischen Staates mit vorbildlichen Gläubigen frei von menschlicher Herrschaft im Reich der Utopie bleibt. Die Muslimbruderschaft hat deshalb seit Hasan al-Hudaybi und dessen Nachfolgern den Einsatz von Gewalt sowie den revolutionären Umsturz zur Herbeiführung eines Gottesstaates abgelehnt. Zwar kann und muss hierbei immer zwischen der Aussage und der politischen Handlung kritisch unterschieden werden. Die Geschichte der Bruderschaft zeigt jedoch, dass der bewaffnete Kampf gegen Herrschaft, die als ungerecht erachtet wurde, nicht zum Kern ihrer Handlungsoptionen zählt. Eine religiös geprägte Bewegung bleibt die Muslimbruderschaft gleichwohl und wird in diesem Falle auch immer für die Einhaltung religiöser Vorschriften eintreten. In welcher Schärfe und mit welcher Regeltreue diese Vorschriften interpretiert und umgesetzt werden, hängt von der realpolitischen Konstellation in Ägypten sowie der politischen Auseinandersetzung mit modernen – teils säkularen – Ideen von Gesellschaft ab. Einen islamischen Staat iranischen Ursprungs lehnt die Muslimbruderschaft jedoch ab.27 Die Zeit der „großen Heimsuchung“ (Mihna) Neben diesem auf die Programmatik ausgerichteten prägenden Ereignis in der Geschichte der Muslimbruderschaft sind in Bezug auf den Erfahrungshintergrund der Bruderschaft sicherlich die Ereignisse um -------------------------------------------- 26 Wolff, Christian: Die ägyptische Muslimbruderschaft – Von der Utopie zur Realpolitik; Hamburg 2008; S. 151ff. 27 „Erian: Egypt Will Not Be Iran or Afghanistan“; in Ikhwanweb.com 18.2.2013; http://www.ikhwanweb.com/article.php?id=30664; zuletzt aufgerufen am 25.4.2013; zu Qutb und al-Hudaybi u. a.: Carré, Olivier: Mysticism and Politics; Leiden 2003 sowie Zollner, Barbara: The Muslim Brotherhood – Hasan al-Hudaybi and ideology; New York 2009 sowie Damir-Geilsdorf, Sabine: Herrschaft und Gesellschaft – Der islamistische Wegbereiter Sayyid Qutb und seine Rezeption; Würzburg 2003. 218 Christian Wolff die Revolutionsjahre von 1952-54 von maßgeblicher Bedeutung. Begrüßte die Muslimbruderschaft 1952 die Revolution der so genannten Freien Offiziere unter dem Obersten Nasser und dem General Naguib noch, weil sie damit unter anderem ein Ende der korrupten Parteien sowie durch ihre Verbindungen in das ägyptische Offizierscorps erheblich mehr Einfluss auf die nach-revolutionäre Gesellschaftsordnung erwartete, so wurde zumindest die letztere Hoffnung enttäuscht. Die Bruderschaft hatte sich relativ frühzeitig auf eine Präsidentschaft Naguibs festgelegt und diesen unterstützt. Hinzu kam, dass der Führer der Bruderschaft, Hasan al-Hudaybi, mehr direkten Einfluss der Muslimbruderschaft auf die Gestaltung der post-revolutionären Gesellschaft Ägyptens einforderte und so in Konflikt mit Nasser und dem von ihm dominierten Revolutionsrat geriet. Nach einem mutmaßlich von Muslimbrüdern verübten Anschlag – über die Hintergründe dieses Attentats gibt es wenig Klarheit – begann Nasser mit der intensiven Verfolgung und Zerschlagung seines stärksten politischen Konkurrenten. Masseninhaftierungen von Mitgliedern der Bruderschaft, die in Arbeitslager verbracht wurden, sowie militärgerichtliche Prozesse gegen die führenden Köpfe der Muslimbrüder führten zu einer fast kompletten Vernichtung der Organisation. Die Erfahrung dieser Repressionswelle, die über die ganze Regierungszeit Nassers anhalten sollte, prägt die kollektive Erfahrung der Muslimbruderschaft bis heute. Das vormals als kooperierender Partner in der Bekämpfung gesellschaftlicher Missstände betrachtete Militär verwandelte sich in den Augen der Bruderschaft in den schlimmsten Gegner. Ein eindrucksvolles Zeugnis dieser Zeit gibt die Autobiografie Zaynab al-Ghazzalis ab, die die psychische und physische Folter sowie die Willkür der Sicherheitsbehörden detailliert beschreibt.28 In der Historiographie der Muslimbruderschaft wird die Phase der existenziellen Verfolgung durch das Nasser-Regime als „Zeit der großen Heimsuchung“ (Mihna) beschrieben und in Biografien von damaligen Mitgliedern vielfach rezipiert.29 Das in das Militär gesetzte Vertrauen kann bedingt durch diesen historischen Hintergrund als tief erschüttert angesehen werden. Kurz nach den Ereignissen von 2011 kam es denn auch zu offenen Anklagen gegen ehemalige, noch lebende Minister des Nasser-Regimes. „Your -------------------------------------------- 28 Al-Ghazzali, Zainab: Return of the Pharao – Memoir in Nasir‘s Prison; Leicester 2006. 29 Krämer, Gudrun: Gottes Staat als Republik; Baden-Baden 1999; S: 192ff. Arabischer Frühling: Die neuen Akteure des politischen Islam 219 torture still shows on our bodies“ klagen ältere Mitglieder der Bruderschaft, die nicht nur einen Prozess gegen ihre Folterer forderten, sondern diese Botschaft durchaus auch als Warnung verstehen wollen.30 Die Akteure der Muslimbruderschaft, die nach den #Jan25-Protesten mit politischer Macht ausgestattet waren, erfuhren die Stärke des Militärs, als es um die Aufstellung eines Präsidentschaftskandidaten ging. Wollte die Bruderschaft sich vorerst aus dem Kampf um das höchste Amt auch deshalb heraushalten, um dem Militär und ausländischen Staaten keinen Vorwand für einen möglichen politischen Eingriff zu geben, so wurde die schließlich doch folgende Nominierung eines Kandidaten zu einem ersten Einblick in das ägyptische Machtspiel. Der vom Führungsbüro der Bruderschaft favorisierte Khairat al-Shatir31 wurde aufgrund seiner Verurteilung und Inhaftierung unter Mubarak32 vom Militärrat nicht als Kandidat zugelassen, so dass man mit Mohammed Mursi einen mutmaßlich schwächeren Kandidaten präsentierte.33 Den direkten Konflikt mit dem Militär wollten die Muslimbrüder in einer Phase der politischen Unsicherheit, die noch keine demokratisch legitimierte Herrschaft oder gar eine verbindliche Verfassung kannte, nicht suchen. Dies beruhte auch darauf, dass die Rolle des Militärs in der Revolution 1952/54 und im Machtwechsel von 2011 – laut Maha Azzam – auf dem Mythos der Einigkeit zwischen ägyptischer Armee und ägyptischem Volk fußte.34 Dieser Mythos schien stark genug zu sein, Ängste und Hoffnungen gleichermaßen hervorzurufen. Zum einen sahen sich die Demonstranten auf dem Tahrir-Platz durch den Aufmarsch des Militärs in ihren Forderungen bestätigt, zum anderen scheint das Militär seine reale Machtoption in Ägypten unabhän-------------------------------------------- 30 „Your torture still shows on our bodies, Brothers tell Nasser's defense minister“, in Egyptindependent, 3.7.2012; http://www.egyptindependent.com/news/your-torture-stillshows-our-bodies-brothers-tell-nasser-s-defense-minister; zuletzt aufgerufen am 15.4.2013. 31 „FJP representatives give signatures in support of Shater’s presidency“, in Egyptindependent, 2.4.2012; http://www.egyptindependent.com/news/fjp-representatives-givesignatures-support-shater%E2%80%99s-presidency; zuletzt aufgerufen am 15.4.2013. 32„Case against El-Shater presidency bid adjourned until Wednesday“, in Al-Ahram Online, 10.4.2012; http://english.ahram.org.eg/NewsContent/1/64/38977/Egypt/Politics/ Case-against-ElShater-presidency-bid-adjourned-unt.aspx; zuletzt aufgerufen am 15.4.2013. 33 „Ashri: Once Again Al-Shater is Barred From Exercising His Political Rights“, Ikhwanweb.com; 17.4.2012; http://www.ikhwanweb.com/article.php?id=29900; zuletzt aufgerufen am 15.4.2013. 34 Azzam, Maha: Egypt’s Military Council and the Transition to Democracy, Chatham House briefing paper; May 2012. 220 Christian Wolff gig von den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen auszunutzen, um eigene Interessen auch mit autoritären Methoden durchzusetzen. Beispielhaft ist dies in der Umbruchphase 2011 sichtbar gewesen, als das Militär sich das Recht gab, Zivilisten willkürlich zu verhaften (Dekret vom 13. Juni 2012). Auch haben Menschenrechtsorganisationen darauf hingewiesen, dass der Militärrat in Bürger- und Menschenrechte teils schärfer eingegriffen habe, als dies unter Mubarak der Fall gewesen sei.35 In diesem Zusammenhang wird in der ägyptischen Presse die Rolle des Militärs unter besonderer Berücksichtigung des nasseristischen Erbes vermehrt diskutiert. Gamal Nkrumah spricht gar von einer „Undying Legacy“, einem unauslöschlichen Erbe der Revolution 1952/54 also, das fest mit der Person und den Methoden Nassers verbunden sei.36 Al-Ahram Online veröffentlichte darüber hinaus Kapitel aus den Memoiren von Khaled Mohieldin, der mit Nasser im Führungsstab des Revolutionskomitees 1952/54 saß. Mohieldin beschreibt hier den zunehmenden Ansehensverlust der Muslimbruderschaft in der Gruppe der revoltierenden Freien Offiziere.37 Im Mai 2012 bemüht sich Ahmad Shokr in einem Beitrag für Jadaliyya, „the demons of history“ zu beschwichtigen, und betont: „This is Not 1954“.38 Vor dem Hintergrund einer Machtoption des Militärs, welches aus dem politischen Gefüge Ägyptens nicht wegzudenken ist, sowie der Tatsache, dass die Muslimbruderschaft seit ihrer Gründung 1928 regelmäßiger Repression seitens staatlicher Institutionen ausgesetzt war und in den 1950er Jahren die Erfahrung machte, dass „the greater its role, the higher the risk of a violent crackdown“, ist die politische Positionierung der Bruderschaft während und nach den Ereignissen von 2011 zu -------------------------------------------- 35 u. a.: HRW: Worse than Mubarak: SCAF’s Assault on Egyptian Rights; http://www.hrw.org/news/2012/07/19/worse-mubarak-scaf-s-assault-egyptian-rights; zuletzt aufgerufen am 28.4.2013. 36 Nkrumah, Gamal: Undying Legacy; in Al-Ahram Weekly, September 2010: http://weekly.ahram.org.eg/2010/1016/fr2.htm; zuletzt aufgerufen am 15.4.2013. 37 Mohieldin, Khaled: Nasser, myself and the Muslim Brotherhood, Ahram Online, Juli 2012; http://english.ahram.org.eg/NewsContent/1/139/48402/Egypt/-July-Revolution/ Nasser,-myself-and-the-Muslim-Brotherhood.aspx; zuletzt aufgerufen am 23.4.2013. 38 Shokr, Ahmad: This is Not 1954; Jadaliyya, May 2012: http://www.jadaliyya. com/pages/index/4845/this-is-not-1954-; zuletzt aufgerufen am 23.4.2013. Arabischer Frühling: Die neuen Akteure des politischen Islam 221 bewerten.39 Die Rolle von individuellen und kollektiven Erfahrungen mit autoritärer Unterdrückung ist für die Muslimbruderschaft weiterhin ein prägendes Element für ihre politische Aktivität und ihre Programmatik.40 Freiheit, Bürger und Staat in der Ideologie der Muslimbruderschaft Vor dem Hintergrund der zwei genannten Konfliktsituationen stellt sich die Frage nach der Rezeption von Freiheit, Bürger und Staat seitens der Muslimbruderschaft. Zum einen werden diese Begriffe aus dem Bewusstsein einer kollektiven Erfahrung heraus behandelt. Diese Erfahrung ist zum anderen ideologisch geprägt von den Ideen Hasan al-Bannas, Sayyid Qutbs sowie der Theorie des zivilen islamischen Staates, wie er seit den 1990er Jahren in der Programmatik der Bruderschaft Gestalt annimmt. Im Sinne liberaler Ideen moderner Gesellschaften spielen die Begriffe von Freiheit, Bürger und Staat sowie ihr gegenseitiges Verhältnis zueinander eine maßgebliche Rolle.41 Im liberalen politischen Spektrum ist der Freiheitsbegriff wohl der bedeutendste, wenn es um die Bewertung anderer politischer Akteure geht. Um den Freiheitsbegriff jedoch greifbar zu machen und von bloßer rhetorischer Verwendung zu entlasten, ist es im Folgenden nötig, zwei wesentliche definitorische Klarstellungen voranzustellen. So gibt der Begriff der „negativen Freiheit“ von Isaiah Berlin die Möglichkeit, besonders individuelle Abwehrrechte zu definieren. Berlin betont, dass ein Individuum – unabhängig von physischen Einschränkungen – in seiner Handlungsfähigkeit von anderen Individuen beziehungsweise von verfassten Gesellschaften nicht beeinträchtigt werden dürfe, solange es nicht die Handlungsoptionen anderer Individuen einschränkt. Die negative Freiheit kann deshalb als eine „Freiheit von“ Begrenzungen verstanden werden.42 Betrachtet man nun den kollektiven Erfahrungshintergrund der Muslimbruderschaft mit Schwerpunkt auf die so -------------------------------------------- 39 Wickham, Carrie Rosefsky: The Muslim Brotherhood after Mubarak; in: Foreign Affairs Februar/2011; http://www.foreignaffairs.com/articles/67348/carrie-rosefskywickham/the-muslim-brotherhood-after-mubarak; zuletzt aufgerufen am 23.4.2013. 40 Wolff, Christian: Eine Frage der Legitimität; in: Fokus-Nahost.de vom 12.2.2013; http://www.fokus-nahost.de/?p=1186; zuletzt aufgerufen am 25.4.2013. 41 Für die folgende empirische Analyse greife ich auf Interviews zwischen mir und führenden Mitgliedern der Muslimbruderschaft sowie Oppositionellen aus den Jahren 2007, 2009 und 2010 zurück. 42 Berlin, Isaiah: Four Essays on Liberty; Oxford 1969. 222 Christian Wolff genannte Zeit der großen Heimsuchung (Mihna), dann können Forderungen der Bruderschaft beispielsweise nach Versammlungsfreiheit, freier Meinungsäußerung und selbstbestimmter Regierung kategorisiert werden. Aus der kollektiven Erfahrung von Repression, die zwar ihren Höhepunkt in der Regierungszeit Nassers hatte, aber schon kurz nach der Gründung der Bruderschaft 1928 begann, lassen sich die teils sehr liberalen Forderungen nach Bürger- und Menschenrechten verstehen. Verbindet man diese Forderungen mit der religiösen Ausrichtung der Bruderschaft, wird es nötig, den sogenannten positiven beziehungsweise „reflexiven Freiheitsbegriff“ einzuführen. Stellt Berlin die positive als Gegenpart zur negativen Freiheit in einen sozialistischen Kontext, so geht Axel Honneth dazu über, ein eher kommunitaristisches Argument zu betonen. Er hebt hervor, dass die Reflexivität der Freiheitshandlung sich nicht nur auf das jeweils andere Individuum, sondern auch auf gesellschaftliche Zielvorstellungen als Ganzes beziehen müsse. Anders als noch Berlin sieht Honneth jedoch im demokratischen Sozialstaat den Wahrer reflexiver Freiheiten. Als „Freiheit zu“, also als Freiheit, die im Rahmen einer gegebenen Vorstellung des gesamtgesellschaftlichen Guten gewährt wird, ordnet Honneth diese Freiheit in einen demokratischen und marktwirtschaftlichen Kontext ein. Die Schärfe der Kritik Berlins an der Idee der positiven beziehungsweise der reflexiven Freiheit nimmt Honneth, indem er die negative Freiheit als „originäres und unverzichtbares Element des moralischen Selbstverständnisses der Moderne“ darstellt und einbindet.43 Diese Verbindung der zwei Freiheitsdefinitionen erweitert Jeremy Waldron um ein emotionales Verständnis des Freiheitsbesitzes. „Das menschliche Handeln, der Wille und das Initiieren von Handlung ist eine äußerst komplizierte Angelegenheit: Dies ist nicht nur der Ort eines der widerspenstigsten metaphysischen Probleme, sondern auch die Quelle überschäumender Freude und tiefer Verzweiflung. Unser Gefühl, was es heißt, Freiheit zu besitzen und auszuüben, ist gebunden an die Vorstellungen, die wir uns von uns als Personen und von unseren Beziehungen zu Werten, zu anderen -------------------------------------------43 Honneth, Axel: Das Recht der Freiheit; Berlin 2011, S. 58. Arabischer Frühling: Die neuen Akteure des politischen Islam 223 Personen, zur Gesellschaft und zur kausalen Ordnung der Welt machen.“44 Ist der Begriff der Freiheit nun in der gegebenen Kürze dieses Artikels dargestellt, folgt die Frage, wie moderne Gesellschaften mit den Bedingungen liberaler Staatlichkeit umgehen. Nimmt man beispielsweise die Konstruktion des überlappenden Konsenses von John Rawls als Grundlage, so ist es möglich, der starken religiösen Determination der ägyptischen Gesellschaft eine deliberative Basis zu geben, auf deren Grundlage die Begrifflichkeiten von Freiheit, Bürger und Staat konzeptualisiert werden können.45 Zwar liegt der Rawlschen Idee eines überlappenden Konsenses ein normativ-säkularer Gehalt zugrunde, dieser lässt sich jedoch, geht man analytisch vor, in den Kontext religiös geprägter Gesellschaften einbetten. Zum einen geschieht dies dadurch, dass man die Modellhaftigkeit des Rawlschen Konsenses vergegenwärtigt und diesen so auf die Lebenswirklichkeiten der Menschen in den zu untersuchenden Gesellschaften anpasst. Zum anderen lässt sich die säkulare Utopie, die dem übergreifenden Konsens zugrunde liegt, durch die Einwände Charles Taylors,46 dass Individuen in ihrer alltäglichen Lebensrealität auch durch religiöse Praktiken bestimmt werden, einschränken. Die Grundannahme des Konsenses besteht darin, dass über die Art und Weise der Legitimation von staatlicher Herrschaft sowie des gesellschaftlichen Zusammenlebens keine Einigkeit getroffen werden muss. Eine Einigkeit muss gewissermaßen im Ziel des Konsenses gegeben sein und lässt so Raum für eine gewisse Tolerierbarkeit unterschiedlicher (kollektiver) Begründungen für die gesellschaftliche Ordnung. Die Frage, inwieweit ein religiös geprägter Staat als liberaler Staat verstanden werden kann, hängt, folgt man Rawls, schließlich von der Tiefe ab, die eine Diskussion von Themen, die über den moralischreligiösen Rahmen des Konsenses hinausgehen einnimmt.47 Geht man -------------------------------------------- 44 Waldron, Jeremy: Theoretische Grundlagen des Liberalismus; in: van den Brink/van den Reijen: Bürgergesellschaft, Recht und Demokratie; Frankfurt am Main 1995, S. 111 – 112. 45 Rawls, John: Politischer Liberalismus; Frankfurt am Main 2003. 46 Taylor, Charles: Quellen des Selbst – Die Entstehung der neuzeitlichen Identität; Frankfurt am Main 1996. 47 Beispielhaft kann hier die Debatte um die sogenannte Homosexuellen-Ehe oder auch die sogenannten Konkordanz-Lehrstühle angeführt werden. Auch auf die Diskussion über den Gottesbegriff in einer möglichen europäischen Verfassung kann hier verwiesen werden. 224 Christian Wolff auf die Grundbedingungen moderner Staatlichkeit ein, so findet sich in der Ideologie der Bruderschaft die Zustimmung zu demokratischer Herrschaftslegitimation ebenso wie die Notwendigkeit friedlicher Machtwechsel. Auch die staatsbürgerliche Gleichheit, die für moderne Gesellschaften grundlegend ist, sieht die Muslimbruderschaft in ihrer Idee des zivilen islamischen Staates als maßgeblich an.48 Rein formaljuristisch wären somit wesentliche Bedingungen liberaler Staatlichkeit bereits erfüllt. Die im Rahmen der Feldforschung des Autors in den Jahren 2007, 2009 und 2010 entstandenen Interviews mit Mitgliedern säkularer, sozialistischer und liberaler Parteien können hierzu in den erfragten Erfahrungskontext führender Mitglieder der Muslimbruderschaft gestellt werden. Im Allgemeinen stehen die Rezeptionen der Begriffe Freiheit, Bürger und Staat in einem überlappenden Konsens, da die unterschiedlichen befragten Gruppen auf jeweils ähnliche Probleme aus ihrer alltäglichen Lebenserfahrung rekurrieren. Die autoritäre Herrschaft als staatlicher Rahmen gibt den Erfahrungshintergrund vor. Staatlichkeit, wie sie unter Mubarak, Nasser und Sadat geherrscht hat, wurde deshalb als letztlich unvereinbar mit den Idealen moderner liberaler Gesellschaften betrachtet. In Tabelle 2 wird der Erfahrungshintergrund der befragten Muslimbrüder spezifischer auf die zwei Definitionen von Freiheit bezogen. Der übergreifende Konsens stellt den Legitimationsrahmen staatlicher Herrschaft dar. MB-Mitglieder Nicht-MB-Oppositionelle Freiheit Gefangenschaft Repression Staat Ungerechtes System Parallelgesellschaft, Korruption Bürger Staatliche Willkür Fehlende Bürgerrechte In einem allgemeinen Verständnis wird Freiheit bei Muslimbrüdern wie anderen Oppositionellen durch die direkte Repressionserfahrung konstitutiv politisch geformt. So sind Muslimbrüder in einem hohen Maße von Verhaftungen betroffen gewesen, wohingegen andere Oppositionelle die generelle staatliche Repression als maßgeblich kennzeichneten. In der Rezeption des Begriffes der Staatlichkeit glei-------------------------------------------48 FJP Election Program, 2011, S. 15. 225 Arabischer Frühling: Die neuen Akteure des politischen Islam chen sich die Erfahrungswerte an, da bei beiden Gruppen von einem ungerechten, korrupten System und der daraus resultierenden Entstehung einer Parallelgesellschaft gesprochen wird. Die starke Staatlichkeit der autoritären Zeit, beginnend mit der Revolution unter Nasser 1952 bis zur Revolution 2011, kann als Ausdruck einer generell als nicht mehr mit dem Volk in direkter Verbindung stehenden Herrschaftselite verstanden werden. Mohamed Mahdi Akef – Führer der Muslimbruderschaft von 2004-2010 – äußerte hierzu, dass sich das ägyptische Volk gewissermaßen seit Pharaos Zeiten im Stadium der Fremdherrschaft beziehungsweise der Subordination befunden habe. Der Bürger wird deshalb nun in den beiden vorgenannten Kontexten von Muslimbrüdern besonders im Zusammenhang mit staatlicher Willkür – die Erfahrung von Inhaftierung und Militärgerichtsbarkeit dürfte hier prägend sein – und von anderen Oppositionellen als gewissermaßen bürgerrechtslos gesehen. Freiheit Bürger Staat Negative Freiheit Religionsfreiheit Gleichheit vor dem Gesetz Positive Freiheit Übergreifender Konsens Vorhandensein von Religion Demokratische Struktur, Verfassung Gleiche Pflichten Identität als Ägypter, frei von Ethnie, Sprache, Religion Rechtsstaatlichkeit Gewaltenteilung Islamische Rechtsordnung – Sharia Nation als einendes Element – Keine religiöse Diskriminierung Freiheit kann im begrifflichen Kontext in ihrem negativen Verständnis zum Staat als Manifestation von Rechtsstaatlichkeit und Gewaltenteilung, im Verhältnis zum Bürger als rechtlicher Gleichheitsgrundsatz und im Verhältnis zu einem allgemeinen Freiheitsbegriff als Ausdruck der Religionsfreiheit (verstanden als die Abwesenheit von fremder Einschränkung der Ausübung der eigenen Religiosität) interpretiert werden. Im positiven Verständnis entwickelt Freiheit zum Staat einen eher kommunitaristischen Ansatz, der sich in der islamischen Grundordnung, also der Sharia, als Referenzrahmen der staatlichen Gewalt ausdrückt. Der Bürger wird im positiven Freiheitsverständnis als ein auf gesamtgesellschaftliche Verpflichtungen hin orientiertes Individuum konstruiert. Der allgemeine Freiheitsbegriff wird 226 Christian Wolff durch das Vorhandensein von Religiosität und einer damit verbundenen Nicht-Konzeption von a-Religiosität verstanden. Der überlappende Konsens, also die Möglichkeit der Vereinigung unterschiedlicher Weltanschauungen, Ideologien oder Religionen auf einer Verständigungsbasis, ohne der jeweiligen ontologisch-normativen Legitimation und Argumentation eine zustimmende oder ablehnende Haltung entgegenzusetzen, dient zur Aggregation der aus den Erfahrungswerten, der politischen Programmatik und der politischen Praxis gewonnenen Erkenntnisse. In Bezug auf ein allgemeines Freiheitsverständnis drückt sich dies in der Forderung nach demokratischen Strukturen und einer generellen Verfasstheit der Freiheitsrechte und -pflichten aus. Der Begriff des Bürgers wird durch die spezifische ägyptische Identitätskonstruktion bestimmt, welche sich besonders in der Hochphase der Revolution 2011 durch die Überwindung religiöser Unterschiede unter dem einenden Begriff des „Ägyptertums“ verdeutlichte. Hierzu gehört in der politischen Debatte die Konzeptualisierung eines Staatsbürgerschaftsrechts, welches einen Ägypter unabhängig von seiner Ethnie, seiner Sprache oder seiner Religion definiert.49 Der Staat wird im Zusammenhang des übergreifenden Konsenses als einendes, nationales Element verstanden, das zum einen den territorialen, kulturellen, traditionellen und sprachlichen Rahmen steckt, aber eben auch die Bürgerrechte – hierbei wird besonders die Religionsfreiheit genannt – schützt. Die ägyptische Verfassung, die Muslimbruderschaft und liberale Außenpolitik Die Muslimbruderschaft hat in ihrer Geschichte die Erfahrung gemacht, dass sie, wenn sie eine Gesellschaft mit islamischen Moralvorstellungen etablieren möchte, sich von der utopischen Idee des weltumspannenden Gottesstaates entfernen muss. Dieser Konflikt hat sich, wie oben beschrieben, besonders um die Personen Sayyid Qutb und Hasan al-Hudaybi herum polarisiert. Die idealisierte Darstellung der Staatsidee Qutbs und des zivilen islamischen Staates findet sich in Abbildung 1. Anders als Qutb hat al-Hudaybi jedoch keine abstrakte Idee von Staatlichkeit in seine Ideologie implementiert. Gemeinsam ist -------------------------------------------- 49 „Al-Masry al-Youm veröffentlicht Teile des Programms der neuen Partei der Muslimbruderschaft“, 10.8.2007, http://www.almasry-alyoum.com/article2.aspx?ArticleID =71826; zuletzt aufgerufen am 27.2.2013. Arabischer Frühling: Die neuen Akteure des politischen Islam 227 beiden Staatsmodellen, dass sie einen normativen Kontext teilen. Den normativen Kontext beschreibt Krämer, wenn sie die Sharia als ein im Wandel der Lebenswirklichkeiten sich befindendes Rechtssystem darstellt, welches die Legalität und die Legitimität moderner Staatlichkeit im islamischen System durch die moralische Bindung individueller Handlungen voneinander abgrenzt. „Einzig ein höheres Gesetz und allein absolut bindende Werte können aus dieser Sicht den Einklang von Legalität und Legitimität herstellen. […] Einzige Garantie für Gleichheit, Freiheit und Legitimität, einzig stabile moralische Fundierung von Staat und Gesellschaft ist somit die Scharia bzw. das Urteil/die Herrschaft Gottes (ukm allh).“ Das Vorhandensein einer menschlichen Regierung und vielmehr die Legitimation derselben durch demokratische Wahlen öffnet also die Programmatik der Muslimbruderschaft für moderne und liberale Vorstellungen von Staat, Bürger und Freiheit. Im Falle des Freiheitsbegriffs muss der normative Kontext, der mit einer breiten Definition der Sharia und somit dem zweiten Artikel in der ägyptischen Verfassung benannt ist, interpretiert werden. Die ägyptische Verfassung von 2012, welche von der Muslimbruderschaft beziehungsweise von Abgeordneten ihrer Partei für Freiheit und Gerechtigkeit wesentlich ausgearbeitet wurde, gibt in ihrer Präambel bereits die grundlegenden 228 Christian Wolff Merkmale des zivilen islamischen Staates vor. Dort heißt es, dass man die Bedeutung von Gleichheit und Staatsbürgerschaft im Sinne der „mighty culture and our luminous history“ nach den Zeiten des Autoritarismus wiedergewonnen habe. Betont wird außerdem, dass es eine zivilisatorische Errungenschaft Ägyptens sei, Diskriminierung nicht zu dulden und gleichzeitig den Monotheismus hervorgebracht zu haben.50 Darüber hinaus wird in Artikel fünf der Verfassung auf die Volkssouveränität verwiesen, die durch das gesamte Volk im Sinne der Gleichheit ausgeübt wird. Die Artikel 31 bis 42 beschäftigen sich deshalb mit den negativen Freiheitsrechten, die aus der oben genannten Erfahrung der Repression heraus das Individuum vor staatlicher Willkür ebenso schützen, wie sie die Bürgerrechte bewahren sollen. Die normative Ordnung innerhalb dieser Verfassung wird durch die Übergabe der Verantwortung für das Personenstandsrecht in die Hoheit der Konfessionen sowie die offizielle Einbindung der Azhar in den Gesetzgebungsprozess etabliert.51 Hier eröffnet sich der islamische Kontext des zivilen islamischen Staates, der das Personenstandsrecht den Angehörigen der Buchreligionen, Islam, Christentum und Judentum, zuspricht und dabei auf die monotheistische Tradition sowie die theologischen Verbindungen aller drei Religionen Bezug nimmt. Beispielhaft für die Wirksamkeit des normativen Kontextes der Sharia kann deshalb die Religionsfreiheit betrachtet werden, die im Sinne der islamischen Jurisprudenz nur Angehörigen der drei Weltreligionen zuerkannt wird. Die Vorstellung von a-Religiosität ist somit kraft der Verfassung nicht vorgesehen. Der zivile islamische Staat wird nämlich genau dadurch geprägt, dass er die religiösen Gewissheiten der ägyptischen Gesellschaft als normativen Rahmen voraussetzt. Fazit Im Umgang mit den neuen Akteuren des politischen Islam in der arabischen Welt wird liberale Außenpolitik nicht darum herumkommen, sich vertieft und frei von Stereotypen mit der Programmatik dieser Bewegungen zu beschäftigen. Die Erfahrungen der Repression so-------------------------------------------50 Verfassung Ägyptens, 2012, Präambel. Es bleibt jedoch fraglich, ob die Azhar diese Rolle als religiöser Prüfer der Gesetze, die sie inoffiziell schon lange wahrgenommen hat, tatsächlich so prädestiniert ausüben möchten. Außerdem hat die Vergangenheit gezeigt, dass die Vorstellungen der Azhar oftmals den Vorstellungen der religiösen Bewegungen entgegenstehen. 51 Arabischer Frühling: Die neuen Akteure des politischen Islam 229 wie die internen Auseinandersetzungen um eine ideologische Mäßigung müssen immer in die Bewertung aktueller Handlungen der Muslimbrüder und der ihnen nahestehenden Organisationen in den Ländern des so genannten Arabischen Frühlings einfließen. Liberale Außenpolitik muss sich dazu mit der historischen Entwicklung ihrer eigenen Begrifflichkeiten sowie der generellen Unschärfe, die mit Freiheit, Bürger und Staat einhergeht, auseinandersetzen, um handlungsfähig gegenüber Akteuren des politischen Islam zu sein. Es steht das Dilemma im Raum, dass liberale gesellschaftspolitische Ansätze durchaus auch ihren Widerhall in den Ideologien des politischen Islam – soweit er sich gewaltfrei definiert – gefunden haben, sich diese Ansätze jedoch vorerst nur in einem äußerst religiös geprägten Kontext entfalten. Nimmt man die Erfahrungshintergründe der ägyptischen Muslimbruderschaft und deren Auswirkungen auf das politische Handeln und Fordern ernst, so ist festzustellen, dass fernab der ideologischen Orientierung ein realpolitisch geprägter Raum vorhanden ist, der einen Diskurs über die Gestaltung moderner Gesellschaften erlaubt. Es muss in diesem Zusammenhang jedoch darauf verwiesen werden, dass dieser Raum begrenzt ist. Zum einen durch die lokalen Bedingungen vor Ort, die sich unter anderem in der jeweils unterschiedlichen Interpretation gesellschaftlicher Gewissheiten ausdrücken. Zum anderen sind die machtpolitischen Aspekte, die L. Carl Brown bereits in seiner Theorie des penetrated System dargestellt hat, zu berücksichtigen. Das Einwirken unterschiedlichster Interessen auf die Gestaltung der Politik gegenüber den neuen Regierungen muss ernst genommen und besonders im Hinblick auf die Konstanz liberaler Ideen hinterfragt werden. Ideologie ist also nicht der einzige Beweggrund für die Politik der Staaten im Nahen Osten. Vielmehr, so macht es den Anschein, ist die innergesellschaftliche Auseinandersetzung um die Ausgestaltung der postautoritären Staaten noch in einem langfristigen Prozess begriffen. Enttäuschte Erwartungen einer demonstrierenden – teils sehr westlich ausgebildeten – Jugend aus der oberen Mittelschicht treffen auf konservative Vorstellungen von Gesellschaft. Daneben findet der Machtkampf zwischen den Angehörigen der alten und neuen Eliten nicht nur im politischen, sondern auch im ökonomischen Bereich statt. Die Rolle des Militärs in dieser Situation, das zeigt die Zeit von 2011-2012 deutlich, ist nicht festgelegt darauf, den neu entstandenen, freien Parlamentarismus zu schützen. Die militärischen Führer haben klare wirtschaft- 230 Christian Wolff liche Interessen, die sie im Übrigen auch in den Artikeln 195ff der ägyptischen Verfassung beispielsweise mit einem eigenen Budgetrecht gestärkt haben. Die Hauptaufgabe liberaler Außenpolitik dürfte nun darin bestehen, Rechtsstaatlichkeit und politische Stabilität in den Staaten des Arabischen Frühlings positiv zu begleiten, ohne die bekannten vor allem sicherheitspolitischen Interessen zu sehr in den politikgestaltenden Vordergrund zu stellen. Es wird deshalb für liberale Außenpolitik primär die Frage der Glaubwürdigkeit von Bedeutung sein. Diese dürfte sich besonders auf den Umgang mit den anfangs genannten drei Prämissen sowie auf die Akzeptanz von demokratisch legitimierten Regierungen, die nicht auf den ersten Blick rein westlichen, teils idealisierten Vorstellungen liberaler Politik entsprechen, beziehen. Glaubwürdigkeit, Selbstbestimmung und der Dialog auf gleichberechtigter Basis werden im Umgang mit den neuen Akteuren des politischen Islam deshalb notwendig sein. Gerade die Weiterentwicklung von Menschenrechtsstandards und sozialer Wohlfahrt bedarf im Voraus einer liberalen Umsetzung fairer und freier weltwirtschaftlicher Marktbedingungen. Die neuen post-autoritären Staaten des Arabischen Frühlings können so nicht nur politisch, sondern auch gesellschaftlich und ökonomisch die Möglichkeit bekommen, oligarchische Strukturen, korrupte Bürokratien und hohe Jugendarbeitslosigkeiten zu bekämpfen. So können die drängendsten Gerechtigkeitsfragen dieser Gesellschaften angegangen und darauf aufbauend Probleme moderner Staatlichkeit diskutiert werden. Über die Autoren 231 Über die Autoren Hans-Jürgen Beerfeltz, geboren 1951, lernte die Grundzüge der Entwicklungspolitik als Referent bei der Friedrich-Naumann-Stiftung kennen – seiner ersten beruflichen Station nach dem Soziologiestudium in Hamburg. Sein weiterer beruflicher Werdegang beinhaltete die Leitung des Büros für Otto Graf Lambsdorff in dessen Zeit als Bundeswirtschaftsminister, den internationalen politischen Bildungsbereich im Geschäftsbereich des BMI und eine langjährige Tätigkeit bei der Bundeszentrale für politische Bildung, dessen Vize-Präsident er zuletzt war. Während seiner Zeit als Bundesgeschäftsführer der FDP leistete HansJürgen Beerfeltz auch Entwicklungsberatung – mit insgesamt mehr als 100 internationalen Einsätzen mit Schwerpunkten in Mittel- und Südamerika sowie Südostasien. Wissenschaftlich arbeitete er besonders zu Themen der Werte- und der Kommunikationsentwicklung. Seit dem Regierungswechsel in 2009 ist Hans-Jürgen Beerfeltz Staatssekretär im Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung. Dr. Kerstin Brauckhoff ist wissenschaftliche Referentin im Liberalen Institut der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit. Sie studierte Politikwissenschaften, Philosophie sowie Psychologie in München und promovierte in Berlin. Zunächst arbeitete sie als persönliche Referentin des Ministers der Finanzen des Landes Sachsen-Anhalt und wurde dann Projektleiterin in der Vertretung des Landes SachsenAnhalt bei der EU. Sie absolvierte zudem ein Traineeprogramm bei der Europäischen Kommission in Brüssel. Darüber hinaus war sie über mehrere Jahre Lehrbeauftragte für Europäische Politik am JeanMonnet-Lehrstuhl von Professor Wolfgang Wessels an der Universität zu Köln. Seit Januar 2013 ist sie Mitglied des „Team Europe“ der Europäischen Kommission. Siegfried Herzog, geboren 1962 in Biberach/Riß, machte eine Lehre als Industriekaufmann bei der Porsche AG in Stuttgart und studierte 232 Über die Autoren Volkswirtschaftslehre an den Universitäten Tübingen und Georgetown, Washington D.C. Für seine Diplomarbeit zu ländlichen Kreditsystemen in Bangladesch erhielt er den Preis der Schitag-Stiftung. Seit 1994 arbeitet er bei der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit, zuerst im Regionalbüro Südasien in Neu Delhi, wo er die wirtschaftspolitische Arbeit betreute. Von 2002 bis 2006 leitete er das Asienreferat der Stiftung in Potsdam, danach ging er als Projektleiter Philippinen nach Manila. Seit Sommer 2010 leitet er das Regionalbüro Südasien in Neu Delhi. Er ist verheiratet und hat eine Tochter. Prof. Dr. Harald Kliemt ist seit 2006 Professor für Philosophie und Ökonomik und nun Vizepräsident Forschung an der Frankfurt School of Finance & Management. Diplom-Kaufmann 1974, Promotion in Philosophie 1977. Habilitation 1983 an der Johann Wolfgang Goethe Universität in Frankfurt am Main, Lehrstuhl für praktische Philosophie an der Universität Duisburg 1988. Publikationen in Fachzeitschriften wie Journal of conflict resolution, Public Choice, Journal of Economic Behavior and Organization, Theory and Decision, Transplantation. Zahlreiche Buchveröffentlichungen. Harald Leibrecht, MdB ist seit Juli 2011 Koordinator für die transatlantische zwischengesellschaftliche, kultur- und informationspolitische Zusammenarbeit im Auswärtigen Amt. Er ist seit 2002 Mitglied des Bundestages (FDP-Fraktion). In der Legislaturperiode 20092013 ist er Stellvertretender Vorsitzender im Unterausschuss Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik sowie Mitglied des Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung. Von 1984 bis 2007 war er Geschäftsführer der Schiller International University, einer internationalen Universität in freier Trägerschaft. Harald Leibrecht hat Wirtschaftswissenschaften in Straßburg, Heidelberg, London und Florida studiert. Prof. Dr. Dr. h. c. Karl-Heinz Paqué (Magdeburg), Wirtschaftswissenschaftler; ehem. Landesminister der Finanzen in Sachsen-Anhalt. Geboren 1956 in Saarbrücken; verheiratet; FDP; 1975-1980 Studium der Volkswirtschaftslehre in Saarbrücken, Kiel und Vancouver; 1986 Promotion an der Universität Kiel; 1991-1996 Wissenschaftlicher Direktor und Abteilungsleiter am Institut für Weltwirtschaft in Kiel; 1996 Habilitation; 1996-2002 und wieder seit 2008 Lehrstuhl für Volkswirtschaftslehre mit Schwerpunkt Internationale Wirtschaft an der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg; 2002-2006 Minister Über die Autoren 233 der Finanzen in Sachsen-Anhalt; 2006-2008 Vorsitzender der FDPFraktion im Landtag Sachsen-Anhalt; seit 2010 Dekan der Fakultät für Wirtschaftswissenschaft der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg; 2011-2013 Mitglied der Enquete-Kommission „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität“ des Deutschen Bundestages. Jüngste Buchveröffentlichungen: „Die Bilanz. Eine wirtschaftliche Analyse der Deutschen Einheit“ (2009), „Wachstum! Die Zukunft des globalen Kapitalismus“ (2010) und „Vollbeschäftigt. Das neue deutsche Jobwunder“ (September 2012). Dr. Michael von Prollius ist Publizist, Gründer von „Forum Ordnungspolitik“ und Seniorexperte für Geld/Geldpolitik beim Freiheitswerk. Nach dem Studium der Betriebswirtschaftslehre und Geschichte in Bayreuth und Berlin promovierte er über das Wirtschaftssystem der Nationalsozialisten. Zu seinen Buchpublikationen zählen u.a. Deutsche Wirtschaftsgeschichte nach 1945 (2006), Die Pervertierung der Marktwirtschaft (2009) und Die Euro-Misere (2011). Zusammen mit Norbert F. Tofall hat er das Liberale Privatseminar in der Tradition von Ludwig von Mises und Friedrich August von Hayek gegründet. Robert von Rimscha, Jahrgang 1964, studierte in Freiburg und Boston Geschichte, Germanistik, Volkswirtschaftslehre und Philosophie. Nach dem Examen (MA Amerikanistik) lehrte er als Gastdozent an der University of South Africa in Pretoria, ehe er 1990 das Graduiertenkolleg am John-F.-Kennedy-Institut der FU Berlin besuchte. Seit 1991 arbeitete er als Journalist für den Berliner „Tagesspiegel“, darunter von 1994 an als Stellvertretender Nachrichten- und Politikchef, von 1996 bis 2001 als USA-Korrespondent und anschließend als Leiter der Parlamentsredaktion. Er ist Autor der Bücher „Südafrika nach der Apartheid. Aspekte des politischen, sozioökonomischen und kulturellen Wandels in der Ära de Klerk“ (Nomos, 1991), „Gute Hoffnung am Kap? Das neue Südafrika“ (From, 1992), „Politische Korrektheit in Deutschland – eine Gefahr für die Demokratie“ (Bouvier, 1994), „Der kleine Bruder – Deutschland und das Modell USA“ (Bouvier, 1996), „Die flexible Gesellschaft“ (Econ, 1999), „Die Kennedys – Glanz und Tragik eines amerikanischen Traums“ (Campus, 2000), „George W. Bush – Präsident in Krisenzeiten“ (Heyne, 2001) und „Die Bushs – Weltmacht als Familienerbe“ (Campus, 2004). 2004 wurde er Sprecher der FDP und Abteilungsleiter Presse/Öffentlichkeitsarbeit im Thomas-Dehler-Haus. Ende 2009 wechselte er ins Auswärtige Amt, 234 Über die Autoren wo er die Leitung des Planungsstabs übernahm. Seit Herbst 2011 ist Robert von Rimscha Botschafter der Bundesrepublik Deutschland in Laos. Dr. agr. Hermann Otto Solms, Diplom-Ökonom, geb. 1940 in Lich, Kreis Gießen, Oberhessen. Nach einer Banklehre und dem Abschluss der Kaufmannsgehilfenprüfung studierte er Wirtschaftswissenschaften und Landwirtschaft an den Universitäten in Frankfurt am Main, Gießen und Kansas State, USA. Er war von 1976 bis 1984 als selbstständiger Unternehmer tätig und ist bis heute Mitglied in Beirat und Aufsichtsrat verschiedener Unternehmen. Seit 1980 ist er Mitglied des Deutschen Bundestages und beschäftigt sich seither schwerpunktmäßig mit Fragen der Finanz- und Steuerpolitik. Von 1985 bis 1991 war er stellvertretender Vorsitzender, von 1991 bis 1998 Vorsitzender der FDP-Bundestagsfraktion. Seit Oktober 1998 ist er Vizepräsident des Deutschen Bundestages. Er ist seit 2009 Mitglied des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie des Deutschen Bundestages und Vorsitzender des Arbeitskreises II (Wirtschaft und Finanzen) der FDPBundestagsfraktion. Er ist Mitglied des Kuratoriums der FriedrichNaumann-Stiftung für die Freiheit. Prof. Dr. Johannes Varwick, geb. 1968, seit 2013 Professor für internationale Beziehungen und europäische Politik an der MartinLuther-Universität Halle-Wittenberg, zuvor u.a. 2009-2013 Professor für Politische Wissenschaft an der Friedrich-Alexander Universität Erlangen-Nürnberg, 2009 Theodor-Heuss-Chair am Instituto Technologico Autonomo de Mexico in Mexico-City, 2003-2009 Professor für Politikwissenschaft an der Universität Kiel, 2000-2003 wissenschaftlicher Assistent an der Helmut-Schmidt-Universität der Bundeswehr, 1999-2000 Leiter des Bereichs Europäische Sicherheitspolitik am Forschungsinstitut der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik, Berlin. Dr. Guido Westerwelle ist seit dem 28. Oktober 2009 Bundesaußenminister. Nach dem Abitur folgten das Studium sowie die anschließende Promotion in Jura an der Universität Bonn. Danach war er als Rechtsanwalt in Bonn tätig. Er ist Ehrendoktor der Hanyang Universität, Seoul, Südkorea. Er war Bundesvorsitzender der Jungen Liberalen von 1983-1988, Kreisvorsitzender der FDP Bonn von 1993 bis 2000, Generalsekretär der FDP von 1994 bis 2001 und Bundesvorsitzender der FDP von Mai 2001 bis Mai 2011. Er ist Mitglied des Bundestages seit Über die Autoren 235 8. Februar 1996, von Mai 2006 bis Oktober 2009 war er zudem Vorsitzender der FDP-Bundestagsfraktion. Vom 28. Oktober 2009 bis 18. Mai 2011 war er Vizekanzler der Bundesrepublik Deutschland. Er ist Altstipendiat der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit. Christian Wolff, M.A., promoviert an der Professur für Politik und Zeitgeschichte des Nahen Ostens (Prof. Dr. Christoph Schumann) an der Uni Erlangen. Er ist Mitgründer des Blogs: www.fokus-nahost.de und war lange Zeit Stipendiat der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit. Sein Forschungsschwerpunkt ist der politische Islam und hierbei besonders die ägyptische Muslimbruderschaft. In seiner Promotion, aber auch schon seiner Magisterarbeit („Die ägyptische Muslimbruderschaft – Von der Utopie zur Realpolitik“, Diplomica, Hamburg, 2008), behandelt er die Entwicklung liberalen politischen Denkens in der Muslimbruderschaft. Im Rahmen mehrerer Forschungsaufenthalte 2007, 2009, 2010 in Ägypten konnte er mit zahlreichen Mitgliedern der Führungsebene der Muslimbruderschaft, aber auch mit Vertretern der linken, säkularen und liberalen Opposition Interviews und Gespräche führen. Ein weiterer Schwerpunkt seiner Forschung betrifft die Veränderung gesellschaftlicher Aushandlungsprozesse durch das sogenannte Web 2.0.