Inhaltsübersicht - Friedrich-Naumann

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Inhaltsübersicht - Friedrich-Naumann
Inhaltsübersicht
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Inhaltsübersicht
Vorwort der Herausgeberin .........................................................
7
Vorwort Guido Westerwelle
Liberale Außenpolitik für eine vernetzte Welt ..............................
11
Michael von Prollius
Grundsätze liberaler Außenpolitik im 21. Jahrhundert ................
19
Hartmut Kliemt
Liberale Ideal- und Realpolitik in der Außenpolitik des 21. Jahrhunderts .......................................................................................
47
Johannes Varwick
Globalisierung, internationale Organisationen und Multilateralismus in einer komplexen Welt – liberale Antworten? .................
61
Karl-Heinz Paqué
Transatlantischer Freihandel: Ein Weg zur Stärkung des Liberalismus ...........................................................................................
89
Hans-Jürgen Beerfeltz
Von der Patenschaft zur Partnerschaft – Moderne Entwicklungspolitik als Zukunftsinvestition ..................................................... 103
Kerstin Brauckhoff/Hermann Otto Solms
Deutschland in der Europäischen Union – Die Europäische Union
in der Welt ................................................................................... 117
Harald Leibrecht
Neue Perspektiven für die transatlantische Zusammenarbeit ....... 139
6
Inhaltsübersicht
Robert von Rimscha
Freiheit im Sozialismus. Deutsche Außen-, Entwicklungs- und
Menschenrechtspolitik in Laos: Ein Spagat zwischen Anknüpfungspunkten und Abgründen ...................................................... 159
Siegfried Herzog
Liberale Außenpolitik gegenüber Schwellenländern: Chancen und
Risiken ......................................................................................... 185
Christian Wolff
Arabischer Frühling: Die neuen Akteure des politischen Islam
und die außenpolitischen Prämissen des Westens ......................... 203
Über die Autoren .......................................................................... 231
Vorwort der Herrausgeberin
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Vorwort der Herausgeberin
Liberale Außenpolitik hat viele Facetten. Das wird in dem vorliegenden Sammelband deutlich. Diese Facetten werden durch unterschiedlichste Hintergründe und Denkansätze bestimmt. Und sie werden dadurch bestimmt, ob über liberale Außenpolitik in der Theorie
oder in der Praxis geschrieben wird. Ziel des Sammelbandes ist es,
diese Vielfältigkeit aufzuzeigen, darzustellen, durch welche Umstände
sich praktische Politik von theoretischen Überlegungen unterscheidet
und schließlich die Herausforderungen aufzuzeigen, vor denen liberale
Außenpolitik im 21. Jahrhundert steht. Der Sammelband soll Denkanstöße geben, wie liberale Außenpolitik in der Zukunft gestaltet werden
kann. Dabei kann der Leser sich aus verschiedensten Themenbereichen
und Herangehensweisen bedienen. Und er soll sich aus diesen Facetten
die Freiheit nehmen, für sich selbst seine Lösungen auf die Herausforderungen der Gegenwart zu finden.
Dr. Guido Westerwelle, Bundesminister des Auswärtigen, hebt in
seinem Vorwort die traditionellen Werte der liberalen Außenpolitik
hervor: Die Freiheit des Einzelnen, die demokratische Teilhabe am
Gemeinwesen, der Schutz von Minderheiten durch den Rechtsstaat
und die Solidarität zwischen Schwächeren und Stärkeren waren und
sind die Grundlagen liberaler Außenpolitik. Dies gilt auch für die Herausforderungen der Zukunft. Sie sind nicht diskutabel und sie sind das
Bindeglied liberaler außenpolitischer Ideen und Handlungen. Dies gilt
für die Zukunft der EU genauso wie für unser Handeln außerhalb der
EU. Denn nur dort, wo Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechte und Demokratie gewährleistet sind, können Stabilität, wirtschaftliche Entwicklung und Frieden gesichert werden. Das Vorwort des Ministers ist
daher auch eine Art Geleitwort für den Sammelband. Es stellt dar, auf
welchen Grundlagen liberale Außenpolitik basiert. Und es zeigt zugleich ihre Grenzen – seien diese durch unterschiedliche Denkansätze
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Kerstin Brauckhoff
in der Theorie bestimmt oder durch die Notwendigkeit von Kompromissen in der praktischen liberalen Alltagspolitik.
Die Grundsätze liberaler Außenpolitik aus einem theoretischen
Ansatz heraus beleuchtet Dr. Michael von Prollius. Er formuliert die
Prinzipien liberaler Außenpolitik und wendet diese dann auf ihre Praxis an. Dabei zeigt er auf, inwieweit ordnungspolitische Prinzipien in
der Vergangenheit im Fokus standen. Und er zeigt auf, wann und warum die Umsetzung dieser Prinzipien problematisch war.
Ähnliches gilt für Professor Hartmut Kliemt, der freilich zu deutlich anderen Ergebnissen kommt. Er beleuchtet unterschiedliche Vorstellungen liberaler Außenpolitik und zeigt deren Grenzen auf, denn in
der realen Politik sind die reinen Ideen des Ordoliberalismus kaum
umsetzbar. Auch Kliemt betont die grundlegenden Werte des Liberalismus. Und zeigt zugleich, wie unterschiedlich innerhalb des Liberalismus der Begriff „liberal“ definiert und ausformuliert werden kann.
Welche Antworten die Liberalen auf die Strukturveränderungen
liefern können, die sich durch die Globalisierung und den Multilateralismus ergeben, untersucht Professor Johannes Varwick. Aus einer
Beobachterperspektive beleuchtet er, welche Bedeutung internationale
Organisationen und multilaterale Arrangements in Zukunft haben
werden und formuliert konkrete Handlungsempfehlungen für die liberale Außenpolitik.
Von hoher Aktualität ist der Aufsatz von Professor Karl-Heinz Paqué. Dieser diskutiert die Zukunft der Welthandelsordnung. Und er
zeigt auf, dass mit der Schaffung einer transatlantischen Freihandelszone die Welthandelsordnung in eine stabile und wachstumsorientierte
Zukunft geführt werden kann. Dabei gelingt es Paqué, den Freihandel
auch gegen Argumente von Gegnern des Freihandels zu verteidigen
und aufzuzeigen, warum der Abschluss eines transatlantischen Freihandelsabkommens zudem von höchster Bedeutung auch für künftige
Handelsfragen ist.
Hans-Jürgen Beerfeltz, Staatssekretär im Bundesministerium für
wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, bilanziert in seinem
Aufsatz zunächst die Entwicklungshilfe der Vergangenheit, um daran
anschließend darzustellen, worin sich liberale Entwicklungspolitik von
der Politik der Vergangenheit unterscheidet und wie mithilfe liberaler
Entwicklungspolitik die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts besser zu bewältigen sind. Auch er betont dabei die Prinzipien des Libera-
Vorwort der Herrausgeberin
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lismus und wie wichtig es für Entwicklungspolitik ist, den Menschen
in den Entwicklungsländern die Chancen zu bieten, in Freiheit und
Eigenverantwortung ihr Leben zu gestalten. Dies soll nicht durch bloße
Umverteilung gelingen, sondern aufgrund nachhaltiger Verbesserungen
der Lebensverhältnisse, die letztlich von den Menschen selbst erwirkt
werden.
Einem weiteren regionalen Schwerpunkt widmen sich die Herausgeberin sowie Dr. Hermann Otto Solms. Sie zeigen, welche Lösungen
liberale Politik für die Zukunft der Europäischen Union bereithält.
Grundlage ihres Aufsatzes ist dabei ein aktuelles Positionspapier der
Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit, das unter Leitung von
Hermann Otto Solms von einer Arbeitsgruppe im Auftrag des Kuratoriums der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit erarbeitet wurde. Neben Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und Marktwirtschaft ist
dabei die Wahrung der Subsidiarität von zentraler Bedeutung für die
Zukunft der europäischen Integration.
Schließlich beleuchtet Harald Leibrecht, Koordinator für die transatlantische Zusammenarbeit, in seinem Beitrag die neuen Perspektiven
für die transatlantische Zusammenarbeit. Über die Verhandlungen
zum Abschluss eines transatlantischen Freihandelsabkommens hinaus
stellt er dar, wie sich die transatlantischen Beziehungen in der Zukunft
gestalten sollten. Und wie Liberale diese wichtige Partnerschaft unterstützen können.
Ein sehr konkretes Beispiel der Chancen und Grenzen praktischer
liberaler Außenpolitik findet sich im Aufsatz von Robert von Rimscha,
Botschafter der Bundesrepublik Deutschland in Laos. Robert von Rimscha berichtet dabei eindrucksvoll von seiner täglichen Arbeit. Und er
stellt dar, dass ein pragmatisches Vorgehen in der politischen Praxis
oft besser zum Ziel führt als unbeirrtes Festhalten an politischen Positionen. Dabei muss aber immer abgewogen werden, wo die Grenzen
des Pragmatismus liegen – und wo ein Überschreiten dieser Grenzen
nicht mehr zu verantworten wäre.
Siegfried Herzog wiederum diskutiert die liberale Außenpolitik gegenüber Schwellenländern. Auch in diesem Beitrag wird deutlich, dass
liberale Prinzipien zwar das Eine sind, dass aber insbesondere im Umgang mit den Schwellenländern diese Prinzipien nicht um jeden Preis
und immer vollumfänglich umgesetzt werden können. So gilt es auch
hier, den Spagat zu bewältigen zwischen einer Politik, die liberale
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Kerstin Brauckhoff
Wertvorstellungen auch in den Schwellenländern zur Grundlage des
gesellschaftlichen und politischen Handelns machen will und zwischen
der Anerkennung von historischen und gesellschaftlichen Besonderheiten, die für Liberale bisweilen nur mit erheblichen Bauchschmerzen zu
tolerieren sind.
Abschließend erläutert Christian Wolff, welche Auswirkungen der
Arabische Frühling für die liberale Außenpolitik hat. Wolff skizziert
die Entwicklung hin zum Arabischen Frühling und durch welche sozialen, religiösen und politischen Prozesse dieser bestimmt ist. Er macht
darüber hinaus konkrete Vorschläge, wie Liberale dem Phänomen
begegnen sollten und wie sie sich in ihrer Außenpolitik darauf einstellen können.
Die Aufzählung der Aufsätze zeigt, wie breit gefächert die Aspekte
der liberalen Außenpolitik sind. Gleichwohl soll und kann dieser
Sammelband keinem Anspruch auf Vollständigkeit gerecht werden. Er
kann ebenso keine verbindlichen Antworten liefern. Vielmehr soll er
einen Anstoß zur Diskussion über solche Themen liefern, zu denen es
keine einfachen Lösungen gibt. Dazu bedurfte es einer konstruktiven
Diskussion und Mitarbeit der Autoren, bei denen sich die Herausgeberin sehr herzlich bedankt. Die Autoren des Sammelbandes lieferten
zahlreiche inhaltliche Ideen und wichtige Vorschläge. Und sie lieferten
ausnahmslos pünktlich und zuverlässig und haben damit letztlich wesentlich zum Zustandekommen des Sammelbandes beigetragen. Und
das, obwohl der Zeitraum für die Fertigstellung der Beiträge sehr
knapp bemessen war. Das ist keine Selbstverständlichkeit. Dass dies
dennoch so unkompliziert geklappt hat, zeigt vielleicht auch, wie
spannend und interessant das Thema ist. Und wie notwendig es allen
Beteiligten erscheint, die Antworten der liberalen Außenpolitik auf die
unterschiedlichen globalen und regionalen internationalen Herausforderungen zusammenzufassen. Die Herausgeberin trägt dabei die Verantwortung für die Auswahl der Themen und der Autoren – und hofft
dennoch, möglichst allen Gemütern gerecht geworden zu sein. Dank
gilt natürlich auch den vielen zuverlässigen und fleißigen Geistern im
Hintergrund. Diese alle lückenlos aufzuzählen, scheint unmöglich. Der
Dank sei daher eher zentraler Art – und deswegen nicht weniger herzlich.
Kerstin Brauckhoff
Berlin, im Juni 2013
Liberale Außenpolitik für eine vernetzte Welt
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Vorwort des Bundesministers des Auswärtigen
Guido Westerwelle MdB
Liberale Außenpolitik für eine vernetzte Welt
Drei Millionen E-Mails pro Sekunde, eine Milliarde FacebookNutzer, fünf Milliarden Mobiltelefone weltweit: Neue Kommunikationstechnologien haben einen weltweiten Austausch in ungekannter
Geschwindigkeit und Breite ermöglicht. Was noch vor 20 Jahren unvorstellbar war, ist in unserer immer dichter vernetzten Welt Alltag
geworden.
Das ist zuallererst eine gewaltige Bereicherung. Sie eröffnet jedem
Einzelnen nie dagewesene Chancen, sich kulturell, wirtschaftlich und
politisch zu entfalten. Sie macht unsere Gesellschaften weltoffener,
vielfältiger und bunter. Und sie stärkt denjenigen den Rücken, die in
autoritären Regimen für Freiheit eintreten. Zugleich stellt sie uns aber
auch vor ganz neue außenpolitische Gestaltungsaufgaben, von der
Bewältigung globaler Verwerfungen auf den Finanzmärkten bis hin zur
Wahrung von Freiheit und Sicherheit im Cyberraum.
Diese epochalen Herausforderungen werden wir besser meistern,
wenn wir uns vergewissern, wofür liberale Außenpolitik heute steht.
Ihre Grundlagen sind die Werte der großen europäischen Revolutionen
von 1789 bis 1989: die Freiheit des Einzelnen, die demokratische Teilhabe aller am Gemeinwesen, der Schutz von Minderheiten durch den
Rechtsstaat und die Solidarität zwischen Stärkeren und Schwächeren.
Liberale Außenpolitik tritt in der Welt für die universelle Geltung
der Menschenrechte und für eine friedliche Ordnung auf der Grundlage des Rechts ein. Sie setzt auf die Kraft des freien Handels und auf
Chancengerechtigkeit in einer sozialen Marktwirtschaft. Sie ist auf
Stabilität und Nachhaltigkeit angelegt, in der Haushaltspolitik genauso
wie beim Klimaschutz und in der Abrüstungspolitik.
In einer vernetzten Welt gibt uns das liberale Leitbild einer weltoffenen, leistungsbereiten und toleranten Gesellschaft unverzichtbare
Orientierung. Es hilft uns, die großen außenpolitischen Fragen unserer
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Guido Westerwelle
Zeit zu beantworten. Das gilt heute in Europa genauso wie auf globaler Ebene.
I.
Gerade wir Europäer spüren heute, dass unsere Gesellschaften,
Wirtschaften und Demokratien dichter vernetzt sind denn je. Entscheidungen, die heute in einem Mitgliedstaat fallen, können morgen handfeste Folgen für die Nachbarn haben. Europa ist zur Schicksalsgemeinschaft zusammengewachsen. Das ist die eigentliche Urerfahrung der
Schuldenkrise.
Das europäische Projekt ist eine Erfolgsgeschichte. Seit Schuman
und Monnet haben Bürger und Staaten Schritt für Schritt ihre Souveränität zum gegenseitigen Nutzen gebündelt. Diese bahnbrechende
Idee hat uns Jahrzehnte des Friedens, der Freiheit und des Wohlstands
gebracht. Sie hat aus Erzfeinden Brüder werden lassen. Sie hat linke
und rechte Diktaturen überwunden. Sie hat einen gespaltenen Kontinent geheilt und die deutsche Einheit Wirklichkeit werden lassen. Für
uns Deutsche ist Europa die Lehre aus dem dunkelsten Kapitel unserer
Geschichte und zugleich unsere Zukunft in der globalisierten Welt. In
diesem Europa sind wir zu unserem Glück vereint.
In Zukunft wird es in Europa darum gehen, unsere immer engere
europäische Verflechtung so zu gestalten, dass wir ihre Chancen maximieren und ihre Gefahren minimieren. Dabei geht es nicht um ein
schlichtes „mehr Europa“ in eingefahrenen Bahnen. Es geht auch nicht
um einen Rückzug in die vermeintliche Idylle des Nationalen. Die
wahre Gestaltungsaufgabe unserer Zeit ist weitaus anspruchsvoller:
Wir müssen ein besseres Europa bauen, das Kraft aus seiner Vernetzung schöpft.
Diese Einsicht ist es, die uns veranlasst, Schritt für Schritt eine Politische Union in Europa zu schaffen. Sie wird unsere Währungsunion
vollenden; sie wird Europa als globalen Akteur stärken; und sie wird
schließlich volle demokratische Teilhabe an künftigen politischen Weichenstellungen in Europa bewahren. Die Verwirklichung der Politischen Union wird nicht in einem einzigen großen Sprung gelingen.
Aber ein klares strategisches Ziel erleichtert es, unsere Schritte in die
richtige Richtung zu lenken.
Liberale Außenpolitik für eine vernetzte Welt
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Das Europa der Wettbewerbsfähigkeit müssen wir jetzt verwirklichen. Die europäische Wirtschaft braucht neuen Schwung. Nur so
werden wir die Krise dauerhaft hinter uns lassen. Nur so werden wir
uns im globalen Wettbewerb behaupten. Wir werden nicht hinnehmen,
dass in Teilen Europas jeder zweite Jugendliche ohne Arbeitsplatz
bleibt. Und wir werden nicht zulassen, dass Teile unseres Kontinents
wirtschaftlich den Anschluss verlieren. Das ist Ausdruck europäischer
Solidarität. Es ist aber auch in unserem wohlverstandenen Eigeninteresse. Im vernetzten Europa wird es uns nicht dauerhaft gutgehen,
wenn es unseren Nachbarn auf Dauer schlechtgeht.
Deshalb ist es jetzt unerlässlich, dass die europäischen Mitgliedstaaten den Kurs der Konsolidierung und der Strukturreformen halten.
Das wird Anstrengungen und Härten mit sich bringen, die uns nicht
kaltlassen. Aber es wird vor allem den Weg für eine nachhaltige Gesundung frei machen und denjenigen, die heute ohne Arbeit sind, neue
Chancen eröffnen. Ein Rückfall in eine gescheiterte Schuldenpolitik
dagegen hätte verhängnisvolle Folgen. Wachstum auf Pump würde
Arbeitslosigkeit und wirtschaftlichen Stillstand in Teilen unseres Kontinents auf Jahre zementieren. Deshalb ist es so wichtig, jetzt die mutigen Anstrengungen fortzusetzen.
Auf diesem schweren Weg darf und wird sie Europa nicht alleinlassen. Deshalb haben wir auch auf europäischer Ebene die Weichen
auf Arbeit und Wachstum gestellt. Durch neue Chancen für Unternehmertum und Innovation. Durch einen europäischen Haushalt, der
in Zukunft investiert, statt Überkommenes zu subventionieren. Durch
die rasche Vollendung unseres Binnenmarkts. Durch den Abbau unnötiger Bürokratie in Europa. Und indem wir so schnell wie möglich
Verhandlungen über ein umfassendes transatlantisches Wirtschaftsabkommen zu einem guten Abschluss bringen. Bis diese weitreichenden
Maßnahmen ihre volle Wirkung auf Europas Arbeitsmärkten entfalten, werden wir entschlossen gegen die schlimmsten Härten der Krise
angehen, durch einen europäischen Arbeits- und Wachstumspakt und
durch gezielte Investitionen, die junge Menschen in Europa in Lohn
und Brot bringen.
Unsere Politik des Wachstums durch Reformen, der Konsolidierung und der Solidarität wird Europa befähigen, die Krise dauerhaft
hinter sich zu lassen. Irland, Portugal, Griechenland und Spanien haben auf diesem Weg erste wichtige Fortschritte gemacht. Sie haben
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Guido Westerwelle
Defizite spürbar verringert und Wettbewerbsfähigkeit zurückgewonnen. Dieser erste Silberstreif am Horizont kann uns nur bestärken, den
eingeschlagenen Weg gemeinsam weiterzugehen.
In einem zweiten Schritt müssen wir unsere Währung langfristig
krisenfest machen. Wo nationale Fehlentwicklungen ganz Europa aus
dem Gleichgewicht bringen können, sollten wir in Zukunft neue Formen der Zusammenarbeit entwickeln. Vor allem wird es darauf ankommen, unsere Fiskal-, Finanz- und Wirtschaftspolitiken künftig
enger zu verzahnen. Dabei geht es nicht um zentralistische Planwirtschaft. Europa braucht vielmehr einen politischen Rahmen, der seiner
fortschreitenden ökonomischen Vernetzung gerecht wird.
Diese Pionierarbeit ist unerlässlich für den wirtschaftlichen Erfolg
des Euro. Sie ist auch eine demokratische Notwendigkeit. Europas
Bürger müssen Einfluss auf die Entscheidungen nehmen können, deren
Auswirkungen sie ja direkt betreffen. In der vernetzten europäischen
res publica müssen sie dort Mitsprache haben, wo ihre Angelegenheiten verhandelt werden. Deshalb müssen wir Demokratie in Europa
künftig so organisieren, dass sie unseren immer engeren Verflechtungen gerecht wird.
Dabei wird es uns helfen, neu über den Begriff der Subsidiarität
nachzudenken. Im vernetzten Europa sollten politische Entscheidungen
so nah bei den Menschen fallen wie möglich. Die Krise erinnert uns
aber auch daran, dass wir allen Bürgern Teilhabe einräumen müssen,
die diese Entscheidungen betreffen.
„Mehr Europa“ darf nicht „weniger Demokratie“ heißen. Die
Verantwortung für eine engere Zusammenarbeit in der Finanz- und
Wirtschaftspolitik sollten wir deshalb nie allein der Brüsseler Bürokratie aufbürden. Der demokratische Disput auf nationaler und europäischer Ebene gehört ins Zentrum politischer Willensbildung. Deshalb
sollten wir die Parlamente Europas noch stärker in die Verantwortung
nehmen, etwa im Rahmen künftiger wirtschaftspolitischer Vertragspartnerschaften. Das gilt für nationale Parlamente wie für das Europäische Parlament. So nutzen wir die schöpferische Kraft von Kritik und
Widerspruch für ein besseres Europa. So verhindern wir, dass die europäische Idee selbst Gegenstand von Protest und Ablehnung wird.
Schritt für Schritt verwirklichen wir so die Vision von einer Politischen
Union, die den Anforderungen unserer immer engeren europäischen
Vernetzung auch künftig gewachsen ist.
Liberale Außenpolitik für eine vernetzte Welt
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II.
Über diese Gestaltungsaufgaben im Inneren Europas dürfen wir
nicht die großen Herausforderungen ausblenden, vor denen wir heute
global stehen. Wenn wir über unseren europäischen Horizont hinausblicken, dann sehen wir eine Welt im Umbruch. Die Kräfteverhältnisse
auf der Welt verschieben sich in atemberaubendem Tempo. Die alte
Weltordnung wankt, eine neue ist bisher noch nicht ausreichend erkennbar.
Noch vor 30 Jahren hat Deutschland zehnmal so viele Güter ausgeführt wie China. Heute ist dieses China zur größten Handelsnation
der Welt aufgestiegen. Allein Indien wird bald dreimal so viele Einwohner haben wie die gesamte Europäische Union. Der Aufstieg des
einen bedeutet dabei nicht den Abstieg eines anderen. Außenpolitik ist
kein Nullsummenspiel.
Der Aufstieg neuer Kraftzentren verändert die Weltpolitik fundamental. Wirtschaftliche Erfolgsgeschichten begründen politische Gestaltungsmacht. Deutschland unterstützt diese Entwicklungen. Mehr
Mitsprache bedeutet auch mehr Verantwortung. Die Einbindung neuer
Spieler liegt im gegenseitigen Interesse. Wir wollen weiter beherzt ein
Netz strategischer Partnerschaften mit den globalen Spielern der Zukunft weben. Es geht uns dabei nicht nur um gute Regierungskontakte,
sondern um den partnerschaftlichen Austausch der Gesellschaften. Wir
bauen Vertrauen auf und schaffen tragfähige Netzwerke. Die Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik ist zentraler Bestandteil unserer werteorientierten Außenpolitik. Bewährte Partnerschaften zu pflegen und
neue Partnerschaften mit den neuen Kraftzentren dieser Welt zu begründen, ist das erklärte Ziel deutscher Außenpolitik. Wer Globalisierung gestalten will, braucht starke Partner.
In unserer Weltgesellschaft werden immer mehr Fragen zu Themen
einer neuen Weltinnenpolitik. Es gibt kaum einen deutschen Politikbereich, von der inneren Sicherheit bis hin zur Bildungspolitik, der nicht
durch die Globalisierung beeinflusst ist. Internationale Themen wirken
in die nationale Politik, nationale Entscheidungen haben umgekehrt
Einfluss darauf, ob wir unsere globalen Ziele erreichen, beispielsweise
in der Energie- oder Klimapolitik.
Wir brauchen neue Impulse für den Freihandel, protektionistische
Tendenzen betrachten wir mit großer Sorge. Es ist gut, dass wir rasch
die Verhandlungen über ein umfassendes transatlantisches Wirtschafts-
16
Guido Westerwelle
abkommen aufnehmen. Diese Verhandlungen werden uns große Anstrengungen abverlangen. Aber der enorme wirtschaftliche und politische Nutzen eines solchen Abkommens wird für beide Seiten aller
Mühen wert sein. Dieses strategische Projekt kann uns helfen, die Krise gemeinsam zu bewältigen. Zugleich wird es die Regeln prägen, nach
denen die Welt künftig Geschäfte macht und Ordnungspolitik gestaltet. So kann es zu einem wichtigen Pfeiler einer künftigen Weltordnung
werden.
Deutschland setzt sich für eine regelgeleitete, stabilisierende Weltordnung ein. Multilateralismus ist der Weg, Frieden und Wohlstand
sind das Ziel. Wir brauchen ein gemeinsames Gerüst von Regeln, gerade dann, wenn neue Themen aufkommen und immer mehr Spieler
auf dem Platz sind. Deutschland steht für eine Stärkung des Völkerrechts. Eine Welt der gemeinsamen Normen und der partnerschaftlichen Zusammenarbeit ist die beste Voraussetzung für Frieden und
Sicherheit, für Entwicklung und für Wohlstand.
Als Forum für die Welt, als Katalysator der politischen Bewusstseinsbildung, als Verhandlungsort für die internationale Regelsetzung,
aber auch als Akteur in akuten Krisen sind die Vereinten Nationen
nicht wegzudenken. Die Vereinten Nationen sind für uns das Herzstück einer globalen Ordnung, die auf Kooperation setzt.
Die Globalisierung ist auch eine Globalisierung der Werte. Der
Irrglaube, dass es Regionen oder Kulturen gäbe, wo Menschen keine
Demokratie ersehnen, wurde durch die Entwicklungen in Nordafrika
und in der arabischen Welt eindrucksvoll widerlegt. Die Globalisierung ist ein sozialer Vernetzungsprozess, der uns alle jeden Tag mehr
zu Mitgliedern einer Weltgesellschaft macht. Die Globalisierung begünstigt Informationsfreiheit und Teilhabe. Sie erschwert Zensur, Abschottung und Unterdrückung.
Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechte und Demokratie sind Voraussetzungen für Stabilität, wirtschaftliche Entwicklung und Frieden. Die
universelle Gültigkeit der Menschenrechte steht für uns außer Frage.
Wir sprechen von diesen fundamentalen Prinzipien nicht, um anderen
unser Lebensmodell aufzudrängen. Das könnten wir auch gar nicht.
Wir können aber als gutes Beispiel vorangehen und Unterstützung
anbieten. Das tun wir mit Selbstbewusstsein und in dem Bewusstsein
der großen Überzeugungskraft, die unsere Werte haben.
Liberale Außenpolitik für eine vernetzte Welt
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Deutsche Außenpolitik ist Friedenspolitik. Deshalb freut es mich,
dass Abrüstung und Nichtverbreitung endlich wieder als Zukunftsthemen der internationalen Politik erkannt werden. Wir müssen alles
dafür tun, dass Massenvernichtungswaffen nicht zum Fluch der Globalisierung werden, und Deutschland steht zu einer Kultur der militärischen Zurückhaltung. Zurückhaltung heißt nicht, dass wir weniger
beitragen wollen oder werden als andere. Zurückhaltung heißt vielmehr, dass wir das militärische Instrument auch vor dem Hintergrund
unserer Geschichte stets besonders sorgfältig prüfen, bevor wir es zum
Einsatz bringen. Das drückt sich zum Beispiel aus in der besonderen
Konstellation der Bundeswehr als Parlamentsarmee.
III.
Die großen europäischen und globalen Herausforderungen erfordern, dass wir in der Außenpolitik neue Wege gehen. Die Zeiten, in
denen sich Diplomatie auf Absprachen zwischen Ministern und Botschaftern beschränken konnte, sind vorüber. In unserer vernetzten
Welt nimmt die Zahl der Spieler rasant zu, die den Anspruch und die
Fähigkeit haben, internationale Beziehungen mitzuprägen. Das bestimmt heute Regierungshandeln weltweit. So gibt es innerhalb der
deutschen Bundesregierung heute kein Ressort mehr, das sich nicht mit
Fragen von internationaler Tragweite auseinandersetzen muss. Aber
auch die grenzüberschreitende Vernetzung unserer Unternehmen und
Zivilgesellschaften wächst rasant.
Die politischen Stiftungen leisten hier Hervorragendes. Deutschland wird von vielen um die Arbeit der politischen Stiftungen beneidet.
Die deutschen politischen Stiftungen sind ein Juwel in den internationalen Beziehungen.
Deutschland genießt in der Welt hohes Ansehen und großes Vertrauen. Wir sind ein international verlässlicher und geschätzter Partner. Das Ansehen unseres Landes basiert auf der Stärke unserer Wirtschaft, auf unserer internationalen Solidarität und der deutschen Politik, die das nationale Interesse weitsichtig formuliert und auf internationale Einbindung setzt.
Die deutsche Außenpolitik zeichnet sich aus durch Verlässlichkeit
und Kontinuität. Den Auftrag deutscher Außenpolitik haben uns die
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Guido Westerwelle
Mütter und Väter des Grundgesetzes ins Stammbuch geschrieben,
nämlich in einem vereinten Europa dem Frieden in der Welt zu dienen.
Diesem Kurs ist liberale Außenpolitik verpflichtet und wird es immer
sein.
Grundsätze liberaler Außenpolitik im 21. Jahrhundert
19
Michael von Prollius
Grundsätze liberaler Außenpolitik im
21. Jahrhundert1
„Es wird (…) noch immer nicht beachtet, daß ewiger Frieden
nur durch restlose und allgemeine Durchführung des liberalen
Programms erreicht werden kann, und daß der Weltkrieg nichts
anderes war als die natürliche und notwendige Folge der antiliberalen Politik der letzten Jahrzehnte.“2
„Kein Staat soll sich in die Verfassung und Regierung eines
anderen Staats gewalttätig einmischen.“3
Über die Wirtschaft hinaus ist die Außenpolitik ein klassisches Betätigungsfeld für Interventionisten. Die Geschichte der Außenpolitik ist
vor allem eine Geschichte der Einmischung in die Angelegenheiten
anderer Völker, ob politisch oder militärisch, vielfach geleitet von
ökonomischen Interessen. Regelmäßig geschieht dies heute im Namen
des Friedens. Das Verhältnis von Staaten, im Grunde genommen ihrer
Regierungen, wird politisch wie wissenschaftlich wesentlich unter
Macht- und Konfliktgesichtspunkten betrachtet. Das Denken in
Gleichgewichten, Stabilität und als überlegen angesehenen westlichen
Standards – allen voran wohlfahrtsstaatliche Demokratie und ein dementsprechend erforderlicher Staatsaufbau – spielt eine zentrale Rolle.
Antagonismen resultieren regelmäßig aus ideologisierten Kollektivismen, wie das Aufputschen der Völker vor dem Ersten Weltkrieg besonders eindringlich zeigt.
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1 Der Aufsatz ist aus einem Vortrag mit anschließender Diskussion im Rahmen des
„Liberalen Privatseminars in der Tradition von Ludwig von Mises und Friedrich August
von Hayek“ hervorgegangen. Wertvolle Hinweise verdanke ich Isabell Heuber, Norbert
F. Tofall und Erich Weede.
2 Mises, Ludwig von: Liberalismus; Sankt Augustin, 2000, S. 98.
3 Kant, Immanuel: Zum ewigen Frieden; Bern/München/Wien, o. J., S. 13.
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Michael von Prollius
Bereits die Beseitigung der durch Interventionismus begründeten
Probleme im Zuge einer Strategie des ungehinderten weltweiten Austauschs, der Nicht-Einmischung und der Stärkung internationalen
Rechts würde helfen, wesentliche Herausforderungen aktueller Außenund Sicherheitspolitik zu bewältigen.
Nach dem vermeintlichen „Ende der Geschichte“ wird in Deutschland die Bundeswehr in eine Interventionsarmee umstrukturiert. Im
Zusammenhang mit dem sogenannten „Krieg gegen den Terror“ hat
der amerikanische Gouverneur und Präsidentschaftskandidat Ron Paul
eine weitreichende Erkenntnis auf die Kurzformel gebracht: „They are
here, because we are there.“4 Derweilen wird in Afghanistan ein „endloser Krieg“5 geführt. Auf Deutschland übertragen könnte es statt
„Deutschland wird am Hindukusch verteidigt“ angesichts terroristischer Bedrohungen heißen: „Der Hindukusch wird in Deutschland
verteidigt“. Indes bleibt festzuhalten: Es gibt praktisch keinen Krieg
gegen Staaten, sondern nur gegen Menschen, die darunter leiden.
Zugleich vollziehen die Menschen im islamischen Krisenbogen eine
Freiheitsrevolution, die als „Arabischer Frühling“ in die Geschichte
eingeht – eine Revolution, die letztlich auf Freiheit, Recht und Selbstbestimmung im islamischen Selbstverständnis vor dem Hintergrund
abendländisch-universaler Prinzipien abzielt.
Grund genug, um auf die Prinzipien liberaler Außenpolitik, die
Praxis liberaler Außenpolitik und die Herausforderungen liberaler
Außenpolitik im 21. Jahrhundert zu blicken.6 Dafür werden im Folgenden ordnungspolitische Prinzipien entwickelt, die als Maßstab für
die praktische Ausgestaltung einer liberal fundierten Außenpolitik
Orientierung bieten sollen. Eine dezidierte Einordnung und Abgrenzung innerhalb der Theoriediskussionen der Internationalen Beziehungen ist hingegen nicht beabsichtigt. Zunächst werden klassisch-liberale
Grundlagen nach Kant skizziert und daran anschließend sieben liberale
Prinzipien für die Außenpolitik postuliert. Im Abschnitt „Praxis der
Außenpolitik“ wird anhand der Beispiele Irak-Krieg, Iran-Sanktions--------------------------------------------
4 Paul, Ron: A Foreign Policy of Freedom. Peace, Commerce And Honest Freedom;
Lake Jackson 2007.
5 Greiner, Bernd: Afghanistan – der endlose Krieg?, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 10/2011.
6 Der hier verfolgte Ansatz orientiert sich an klassisch-liberalen Prinzipien und Werten. Eine Positionierung innerhalb der liberalen Schule der Internationalen Beziehungen
ist nicht beabsichtigt.
Grundsätze liberaler Außenpolitik im 21. Jahrhundert
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regime, state-/nationbuilding und Entwicklungshilfe aufgezeigt, dass
einerseits Interessenverfolgung nicht stringent erfolgt und andererseits
liberale Prinzipien weitgehend vernachlässigt werden. Im letzten Teil
werden auf der Grundlage klassisch-liberaler Prinzipien Lösungsansätze für eine prinzipienbasierte, handlungsorientierte Außenpolitik formuliert.
I.
Prinzipien liberaler Außenpolitik
Das Staatenrecht (Völkerrecht) herrscht nach Immanuel Kant, „wo
ein Staat als eine moralische Person gegen einen anderen im Zustande
der natürlichen Freiheit, folglich auch dem des beständigen Krieges
betrachtet, teils das Recht zum Krieg teils das im Kriege teils das, einander zu nötigen, aus diesem Kriegszustande herauszugehen, mithin
eine den beharrlichen Frieden gründende Verfassung, d. i. das Recht
nach dem Kriege zur Aufgabe macht“, wobei „im Völkerrecht nicht
bloß ein Verhältnis eines Staats gegen den anderen im ganzen, sondern
auch einzelner Personen des einen gegen einzelne des anderen, im gleichen gegen den ganzen andren Staat selbst in Betrachtung kommt“.7
Was bedeutet das für die Prinzipien liberaler Außenpolitik? Nach
Kant genießt das Staaten-/Völkerrecht Priorität. Dieses Recht muss
gesetzt werden, denn das Staatensystem lässt sich im Naturzustand
durch einen anarchischen Zustand charakterisieren. Es gibt noch keine
Herrschaft des Rechts. Es besteht eine latente Kriegsgefahr, da dem
Recht des Stärkeren erst die Stärke des Rechts entgegengesetzt werden
muss, damit der Stärkere gewaltlos in die Schranken gewiesen werden
kann. Die Herrschaft des Rechts muss also an die Stelle des Naturzustands treten.
Praktisch trifft allerdings der auf Thomas Hobbes zurückgehende
Bezug Kants, nämlich der einer Anarchie als Feindschaft aller Staaten
und eines Krieges aller gegen alle, nicht zu. Es lassen sich keine permanenten Kriegsvorbereitungen beobachten. Menschen haben kein natürliches Interesse, Krieg zu führen, sondern leben lieber unbeeinflusst in
Frieden. Bezeichnenderweise hat Hermann Göring diesen Sachverhalt
auf den Punkt gebracht, als er feststellte: Alles was man tun müsse, sei
zu behaupten, das eigene Land werde angegriffen und denjenigen, die
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Kant, Immanuel: Die Metaphysik der Sitten; Stuttgart 1990, S. 206.
22
Michael von Prollius
für Frieden eintreten, mangele es an Patriotismus und sie gefährdeten
das Land.8 Besser als die Hobbes’sche eignet sich die Locke’sche Anarchie für eine Charakterisierung der internationalen Beziehungen: Rivalität prägt die Welt, Ausbrüche von Gewalt bedrohen die Sicherheit,
aber nicht permanent. Aufgabe des Staates ist der Schutz von Eigentum – Selbsteigentum (Leib und Leben) und Privateigentum.
Nach Kant9 haben Staaten grundsätzlich ein Recht zum Krieg,
darüber hinaus gibt es ein Recht im Krieg und das Recht nach dem
Krieg. Ziel ist stets der Frieden durch Austritt aus dem Krieg. Das
Recht zum Krieg beinhaltet die Notwendigkeit, vor dem Kriegführen
die Zustimmung der Staatsbürger (mittels ihrer Repräsentanten) einzuholen. Der Staat hat das Recht, die Staatsbürger für Kriegsdienste
heranzuziehen, da er von ihnen für diesen Zweck geschaffen wurde.
Das Recht zum Krieg besteht – nur im Naturzustand – bei Lädierung
durch Gewalt, Bedrohung, dazu zählt auch Kriegsrüstung, woraus
wiederum das Recht auf einen Präventivkrieg folgt, oder bei einem
Machtungleichgewicht, weil es ein Recht auf Gleichgewicht der Staaten gibt. Verboten sind hingegen Strafkriege, Ausrottungs- und Unterjochungskriege, Plünderungen, Erstattung von Kriegskosten und heimtückische kriegerische Mittel.
Staaten agieren als moralische Personen; damit sind sie gleichsam
individualisiert und müssen den Ansprüchen an das Handeln von Individuen nach dem kategorischen Imperativ genügen: „Handle so, daß
die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.“ Das Kollektiv hat keine Voroder Überrechte im Verhältnis zum Individuum.
Aufgabe der Regierungen ist es, einerseits aus dem Kriegs- in den
Friedenszustand einzutreten, andererseits eine Verfassung zu schaffen,
die einen anhaltenden Frieden erzeugt. Ein Völkerbund soll Angriffe
auf Mitgliedstaaten abwehren. Er beruht auf einer föderalen Verfassung mit Austrittsrecht. Die Herrschaft des Rechts, zumal weltweit
etabliert, ermöglicht Frieden und bringt Staaten aus dem Naturzustand
heraus.
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8 Zitiert nach Paul, Ron: A Foreign Policy of Freedom. Peace, Commerce And Honest
Freedom, S. 363.
9 Vgl. Kant, Immanuel: Die Metaphysik der Sitten; Stuttgart 1990, 206-16 (2. Abschnitt. Das Völkerrecht. §§ 53-61).
Grundsätze liberaler Außenpolitik im 21. Jahrhundert
23
Welche Prinzipien lassen sich für eine liberale Außenpolitik von
Kant ausgehend entwickeln?
1.
Für die Außenpolitik gelten die gleichen Grundsätze wie für die
Innenpolitik – liberale Prinzipien einer freien Gesellschaft sind universell gültig. Die Aufgabe und Existenzberechtigung des Staates
besteht im Schutz von Leib, Leben und Eigentum der Bürger, die
ihn zu diesem Zweck geschaffen und beauftragt haben. Die Herrschaft des Rechts bindet gerade auch den Staat. Menschen können
am besten selbstständig für ihre Geschicke sorgen. Das Handeln
der Staatsvertreter muss transparent und jederzeit überprüfbar
sowie offenlegbar sein.
Nicht-Einmischung: Auch in der Außenpolitik haben unbeabsichtigte Konsequenzen staatlichen Handelns – Interventionsspirale,
Sperrhakeneffekt und die Verdrängung freier, friedlicher Initiativen – ihre volle Berechtigung. Nicht-Handeln als Handeln und
Nicht-Einmischung in die Angelegenheiten anderer Völker sind
daher die vornehmsten Aufgaben eines jeden Staates. Im Vordergrund steht die freie, ungehinderte Kooperation der Menschen, die
unter der Bedingung der Freiheit ihr Leben besser führen und verantworten können als von Regierungen geführt und gelenkt. Der
Liberalismus selbst „dient der Erhaltung des gegenwärtig erreichten Standes und dem weiteren Ausbau der wechselseitigen Kooperation der Menschen“.10 Recht und Humanismus sind in diesem
Sinne die Leitmotive außenpolitischen Handelns. Die Goldene Regel der Außenpolitik lautet: Greife niemals ein anderes Land an!
Die Menschen eines jeden Landes haben das Recht auf Selbstbestimmung.
2.
Darüber hinaus ist jedoch zu diskutieren, ob Interventionen in innere Angelegenheiten eines Staates und damit die Verletzung von dessen Souveränität gerechtfertigt sind, wenn einer Einmischung höherrangige Rechtsprinzipien (Menschenrechte) zugrunde liegen.11 Erforderlich ist hierfür eine klare, konsequente Regelbindung.
-------------------------------------------10
Mises, Ludwig von: Liberalismus, S. 93.
Staaten haben ein Recht auf innere Souveränität. Zu ihrer Wahrung haben sich andere Staaten verpflichtet. Zugleich haben Menschen ein Recht auf ein von staatlicher
Gewalt unversehrtes Leben (universal gültige Menschenrechte). Diese beiden Rechte
können in Konflikt geraten, etwa durch unterschiedliche Formen von Gewaltherrschaft.
Liberale Institutionalisten wie Robert O. Keohane und Joseph S. Nye argumentieren,
11
24
Michael von Prollius
Nicht-Einmischung darf aber nicht mit Isolationismus12 verwechselt werden und bedeutet auch nicht, dass es überhaupt keine Eingriffe
gibt oder ein absolutes Verbot des Kriegführens, vielmehr deckt das
Völkerrecht in eng begrenzten (Not-)Fällen zu Recht Interventionismus. Schließlich ist das Recht mit der Befugnis zu zwingen verbunden.
3.
Krieg als letztes Mittel, um Frieden wiederherzustellen: Liberale
Außenpolitik ist nicht pazifistisch. Abschreckung, Aggression, aber auch Präventivkriege sind zwar keine geeigneten Mittel,
Wehrhaftigkeit hingegen schon. Gewalt darf mit Gewalt beantwortet werden.13 Kriegsrecht ist ein (prekäres) Notrecht, um die
bedrohte eigene Existenz zu verteidigen und zu sichern. Krieg ist
insofern das letzte Mittel, nachdem die Politik alle übrigen Mittel
ausgeschöpft hat; Krieg ist aber gerade nicht die Fortsetzung der
Politik mit anderen Mitteln. Krieg lässt sich weder allein politisch
noch moralisch und auch nicht ökonomisch legitimieren, sondern
allenfalls durch die deutliche Begrenzung oder/und Verringerung
von Gewalt.14 Denn das Ziel des Kriegs muss der Frieden sein.
Allerdings ist Kriegführen auch mit dem propagierten Ziel,
den Frieden wieder herzustellen, durch weitreichende Beschränkungen und Herausforderungen limitiert, nämlich: 1. Die Zustimmung der Staatsbürger, 2. die Begrenzung staatlicher Macht,
3. die Beseitigung des Interesses am Kriegführen.
--------------------------------------------
dass die innere Souveränität eines Staates eingeschränkt werden kann, wenn ein höher
bewertetes Rechtsgut eingeschränkt wird und durch die Intervention gewahrt oder
wieder hergestellt werden soll. Hinzu kommt, dass etwa im Fall einer Revolution der
Staat keine Legitimitätsquelle für seine Souveränität mehr besitzt – das Volk stellt das
auf die staatlichen Institutionen übertragene Repräsentationsmonopol gerade infrage.
12 Barry R. Posen plädiert mit seiner Forderung, sich von der Hegemonialstrategie der
USA ab- und einem Schutz enger nationaler Sicherheitsinteressen zuzuwenden, ebenfalls
ausdrücklich nicht für Isolationismus, sondern für die Bewältigung der seiner Ansicht
nach großen sicherheitspolitischen Herausforderungen: Erhaltung der globalen Machtbalance, Kampf gegen Terroristen und Eindämmen nuklearer Proliferation, Posen, Barry
R.: Pull Back. The Case for a Less Activist Foreign Policy; in: Foreign Affairs JanuaryFebruary/2013. Leider fehlt eine sozioökonomische Komponente praktisch vollständig.
13 Artikel 51 der UN-Charta anerkennt beispielsweise das „Recht zur Selbstverteidigung im Falle eines bewaffneten Angriffs“. Nach dem Völkergewohnheitsrecht ist sogar
ein Angriff gestattet, der einen Gegenangriff vorwegnimmt, wenn „eine unmittelbare,
überwältigende Notwendigkeit zur Selbstverteidigung besteht, die keine Wahl der Mittel
und keine Zeit mehr zu weiterer Überlegung lässt“ („Caroline-Formel“). Legale Präventivkriege unterliegen damit sehr restriktiven Regeln.
14 Siehe hierzu Münkler, Herfried: Die neuen Kriege; Reinbek bei Hamburg 2002.
Grundsätze liberaler Außenpolitik im 21. Jahrhundert
25
Frei nach Lord Acton gilt: Macht korrumpiert, absolute
Macht korrumpiert absolut. Folglich ist eine strenge Limitierung
staatlicher Handlungsbefugnisse unter Berücksichtigung der Zustimmung der Bevölkerung gerade in so grundsätzlichen Fragen
wie Krieg und Frieden erforderlich. Das gilt umso mehr in Anlehnung an Kant: „Wer einmal die Gewalt in Händen hält, wird sich
vom Volk nicht Gesetze vorschreiben lassen und auch gegenüber
anderen Staaten sich nicht vom Recht beschränken lassen bei seiner Interessenverfolgung.“15 Allerdings bietet das Mehrheitsprinzip keine verlässliche Sicherung für den Frieden und keine hinlängliche Sperre gegen Propaganda und Ideologisierung durch Kriegstreiber insbesondere der Staatsführungen. Um den Frieden zu erhalten, gilt es daher das Interesse am Kriegführen zu beseitigen.
Entscheidende Voraussetzung bildet eine Ordnung der Freiheit für
eine offene Gesellschaft, die Lebensverhältnisse ermöglicht, die
dem Interesse am Kriegführen abträglich sind.16 Zudem besteht
eine wichtige Aufgabe darin, das Bild vom Krieg zu ändern. Krieg
sollte konsequent gebrandmarkt und entlarvt werden.17 Krieg hat
nichts Heroisches. Krieg bringt Verarmung, Tod und Verstümmelung mit sich. Das gilt umso mehr, als Krieg und ausufernde
Staatstätigkeit Brüder sind, oder mit Friedrich Schiller: Der Krieg
ernährt den Krieg.
Kapitalismus, verstanden als freie Marktwirtschaft, ist der beste
Friedensgarant: Offene Märkte, Vertragsfreiheit, Privateigentum,
Freihandel – weder Schutzzölle noch nicht-tarifäre Handelshemmnisse – und Rechtssicherheit ermöglichen den Tausch über politische Grenzen hinweg und damit die Kooperation unterschiedlicher
Menschen und Völker. Die internationale Arbeitsteilung ist ein
4.
-------------------------------------------15
Kant, Immanuel: Ewiger Frieden, S. 60f.
Vgl. Mises, Ludwig von: Liberalismus, S. 98f.: „Damit der Frieden nicht gestört
werde, muss man das Interesse am Kriegführen beseitigen. Man muss eine Ordnung
aufrichten, die Völkern und Volksteilen Lebensverhältnisse schafft, mit denen sie soweit
zufrieden sind, dass sie nicht zum Verzweiflungsmittel des Krieges greifen. Der Liberale
geht nicht darauf aus, den Krieg durch Sittensprüche und Predigten abzuschaffen. Er
sucht in der Gesellschaft Bedingungen zu schaffen, die die Kriegsursachen beseitigen.“
17 Robert Higgs warnt zu Recht davor, dass Kriegsgründe grundsätzlich auf schwachen Behauptungen und vielfach auf Propaganda beruhen. Zudem würden die Kriegsfolgen auf schlechten Spekulationen über das beruhen, was geschehen würde, wenn man
nicht handele. Siehe Higgs, Robert: War is horrible, but … ; in: The Independent Review
2/2012, S. 314f.
16
26
5.
6.
Michael von Prollius
schlagendes Anti-Kriegsargument, auch mit Blick auf die verheerenden Langzeitfolgen des Ersten Weltkrieges für die bereits globalisierte Welt. Von Frédéric Bastiat stammt die bekannte Weisheit,
sobald Güter Grenzen nicht mehr überqueren dürfen, werden es
Soldaten tun. Sobald hingegen „Kapital und Arbeit auch ins Ausland wandern können, … schwindet die Berechtigung, eine Unterscheidung zwischen den Wirkungen des Freihandels im Binnenverkehr und im Außenverkehr zu machen.“18 Es versteht sich von
selbst, dass alle freiwillig geschlossenen Verträge respektiert werden müssen. Frieden und Freihandel19, unbeschränkte Selbstbestimmung und Kooperation stehen im Mittelpunkt einer liberalen
Außenpolitik. Schließlich zielen die Austauschbeziehungen zwischen Menschen auf eine Verbesserung der Situation beider Seiten.
Eine Rahmenordnungspolitik zur Stärkung liberaler Institutionen
weltweit gehört ebenfalls zu den liberalen außenpolitischen Prinzipien, also das friedliche, aber nachdrückliche Eintreten für eine
freie Gesellschaft. Praktisch bedeutet das heute eine Politik in
Richtung der Römischen Verträge mit einer Grundrechtscharta
und Freihandel sowie Freizügigkeit für Arbeit und Kapital. Die
Devise muss lauten: „Menschenrechte sind unverletzlich und Freihandel ohne Ausnahme!“, und sie muss alle Staaten der Erde einbeziehen.
Praktisch bedeutet das, für die Einhaltung unveräußerlicher
Rechte einzutreten, Verstöße anzuprangern und Freihandel nicht
von Reziprozität, also nicht von den Zugeständnissen anderer
Staaten, ebenfalls Freihandel zuzulassen, abhängig zu machen. Deren Zollbarrieren und nicht-tarifäre Handelshemmnisse schaden
zuallererst der Bevölkerung des Staates, der den Freihandel einschränkt.
Die Gewährung eines uneingeschränkten Rechts auf Sezession und
damit selbstbestimmte Staatsbildung ist ein konsequent liberaler
--------------------------------------------
18 Mises, Ludwig von: Liberalismus, S. 118, vgl. systematisch auch Boudreaux, Don:
Globalization; Westport 2008.
19 Bei vollkommener Freiheit des Güter- und Dienstleistungsverkehrs, von Arbeit und
Kapital, würden die Standortbedingungen über die günstigste Produktion entscheiden.
Privatbahnen könnten dann beispielsweise problemlos mehrere Länder durchfahren, was
bei nationalen Bahnen Probleme hervorruft. Ähnlich verhält es sich mit Häfen, Flughäfen und Fernstraßen, die in der Hand privater Betreiber keinen Anlass für politische
Reibereien bieten.
Grundsätze liberaler Außenpolitik im 21. Jahrhundert
27
Grundsatz, der im Selbstbestimmungsrecht der Völker verankert
wurde. Aus grundsätzlichen Erwägungen und der Notwendigkeit,
das herrschende Staatensystem (in seinen Grenzen) friedlich anpassen zu können, ist diesem Selbstbestimmungsrecht ohne Wenn
und Aber zur Geltung zu verhelfen. Die Möglichkeit, die Staatsgrenze friedlich zu verlegen, wenn die Bewohner eines Gebietes
das wünschen, beseitigt eine wichtige Konfliktursache, wie Ludwig
von Mises aus eigener Anschauung wusste; viele Kriege des 19.
und 20. Jahrhunderts wären vermieden worden.20
Große Bedeutung kommt hierbei Plebisziten zu. Die Bewohner
eines Gebietes sollen abstimmen, zu welchem (neuen) Staatsgebiet
sie gehören wollen. Minderheiten müssen um ihre Lebensbedingungen fürchten, wenn die Regierung eines Staates in der Hand
von Angehörigen einer anderen Ethnie, Nation oder Religion ist
und keine Möglichkeit zum politischen Ausweichen besteht. Aktuelle Beispiele aus dem Mittleren Osten wie Bahrain, Syrien und
Irak, um nur drei zu nennen, sprechen in den Medien regelmäßig
für sich.
Insgesamt gilt, dass Staatsgrenzen ihre Bedeutung im Zuge liberaler Außenpolitik (weiter) verlieren sollten. Die EU ist in dieser
Hinsicht in gewisser Hinsicht ein positives Beispiel, problematisch
ist aber ihre zentralistische Verfasstheit.21 Ein Weltstaat ist eine alte Forderung des Liberalismus, allerdings nicht als zentralistischer
Staat, sondern als Verbindung aller Völker unter allgemeinen
Rechtsgesetzen. Deshalb ist das Völkerrecht dem Staatsrecht übergeordnet. Dementsprechend gehören über Staaten stehende Gerichte und Behörden, die den Frieden zwischen Staaten sicherstellen sollen, zu den liberalen Prinzipien, wenn die mit ihnen besetzten Personen sich dem Schutz und der Mehrung der Freiheit verschrieben haben.
--------------------------------------------
20 Heute ist das in Europa beispielsweise mit Blick auf die Basken, die Konflikte in
Belgien, aber auch auf dem Balkan und Bestrebungen der Schotten ein auch aktuell
bedeutsames Recht. Am Rande Europas wird beispielsweise den Kurden dieses Recht
verwehrt.
21 So verfolgen die EU-Zentristen andere Ziele als ein freiheitliches Europa im liberalen Sinn. Sie verlagern die nationalen, umfassenden Kompetenzen lediglich auf die supra-nationale Ebene, um so einen einheitlichen, mächtigen, geschlossenen Raum zu bilden. Eine direkte Folge ist die sich abzeichnende Absicht, die Entwicklung der Welt
gestalten zu wollen, auch mit Auslandseinsätzen von Streitkräften, um dem perzipierten
Machtpotenzial zur Geltung zu verhelfen.
28
7.
Michael von Prollius
Frieden kann weltweit letztlich nur durch Beschränkung der
Staatstätigkeit auf die absoluten Kernaufgaben gesichert werden.
Sobald die Bedeutung des Staates für jeden einzelnen gering ist
und die Staatsführung nur geringfügige, stark beschränkte Möglichkeiten besitzt, Herrschaft über die Bürger auszuüben, werden
Kriege und kriegsähnliche Auslandseinsätze eine unattraktive und
beschwerliche Angelegenheit.22
II. Praxis außenpolitischen Handelns
Der Irak-Krieg und das iranische Sanktionsregime, die nachfolgend
eingehender thematisiert werden, stehen für eine interessengeleitete
Praxis außenpolitischen Handelns im Namen der Freiheit. Problematisch ist dabei indes, dass liberale Interessen nicht dominierten und
auch die konkrete Politik nicht liberalen Prinzipien genügte. In grundsätzlicher Form gilt das auch für zwei langjährige außenpolitische
Praktiken – state-/nationbuilding und Entwicklungshilfe –, die ebenfalls nachfolgend kurz untersucht werden.
1. Irak-Krieg
Der Irakkrieg erscheint als ein Paradebeispiel für die folgenschwere
Differenz zwischen Absicht und Resultaten von Regierungshandeln in
außen- und sicherheitspolitischen Belangen. Kennzeichnend waren
Gruppendenken und die kumulative Radikalisierung eines politischen
Entwicklungsprozesses, der von bemerkenswert schlichten, emotionsgeladenen Motiven einer kleinen, abgeschlossenen Gruppe von Regierungsmitgliedern angetrieben wurde, darunter Präsident George W.
Bush, Verteidigungsminister Donald Rumsfeld, Sicherheitsberaterin
Condoleezza Rice und Vizepräsident Richard Cheney. Der Krieg lag
noch nicht einmal im nationalen amerikanischen Interesse, wie 33
führende Repräsentanten der neorealistischen Schule der Internationalen Politik bereits am 26. September 2002 in der New York Times
--------------------------------------------
22 Die Privatisierung von Streitkräften ist keine geeignete Alternative. Frieden ist keine
Frage mangelnder Effizienz, sondern machtpolitischer und ökonomischer Anreize. Aus
(sesshaften) Privatarmeen würden aller Voraussicht und historischer Erfahrung nach
Staaten entstehen.
Grundsätze liberaler Außenpolitik im 21. Jahrhundert
29
darlegten und in der Zeitschrift Foreign Policy Anfang 2003 umfassender begründeten.23
Eine Untersuchung der Kriegsgründe ermöglicht eine Aufteilung in
Rahmenbedingungen und Ziele. Zu den Rahmenbedingungen gehören
eine dünne, einseitig selektierte und instrumentalisierte Informationsbasis, zudem die Fehlkalkulationen der politischen Führung der USA
wie des Irak, ferner das Versagen der Medien als Kontrollinstanz und
schließlich eine zur Selbsttäuschung führende US-Propaganda. Als
zentralen Kriegsgrund im Sinne eines Ziels führt Stephan Bierling in
seiner „Geschichte des Irakkriegs“ den Wunsch Bushs und seiner Berater an, „durch eine Demonstration der eigenen Macht ein Exempel zu
statuieren und nach den Anschlägen vom 11. September das Risikokalkül aller potentiellen Feinde der USA zu verändern“.24 Hingegen sei
der Irakkrieg weder durch die Neokonservativen verursacht noch
maßgeblich für Israel, Öl oder Militärbasen geführt worden.
Die Kriegsbilanz fällt verheerend aus: Mehr als 100.000 tote Zivilisten, ein traumatisiertes, instabiles Land, ca. 2 Billionen US-Dollar
Kosten, zudem die Schwächung der amerikanischen Stellung in der
Welt, ein an den Zielen gemessen kontraproduktiver Eingriff in die
Region und das Schüren von Antiamerikanismus. Immerhin wurde ein
Diktator gestürzt und beseitigt, die US-Staatsführung erwies sich als
(doch noch) lernfähig – George W. Bush warf in letzter Minute das
Ruder herum –, und das Horrorszenario eines weithin destabilisierten
Mittleren Ostens blieb aus. Gleichwohl ist der Irakkrieg nicht „der
Schlüssel zur Lösung der Konflikte im Mittleren Osten und zur Demokratisierung der arabischen Welt“.25
Die außenpolitische Zurückhaltung Deutschlands war hier angemessen. Ein Verzicht auf den Krieg hätte darüber hinaus für Hunderttausende unbeabsichtigte oder billigend in Kauf genommene Konsequenzen vermieden. Das gilt umso mehr, als sich mit Blick auf den
--------------------------------------------
23 Der Anzeigentext in der New York Times „War With Iraq Is Not in America's Interest“ ist unter http://www.bear-left.com/archive/2002/0924oped.html abrufbar. Der
Aufsatz stammt von: Mearsheimer, John/Walt, Stephen: An Unnecessary War; in: Foreign Policy January-February/ 2003, S. 50-59.
24 Bierling, Stephan: Geschichte des Irakkriegs. Der Sturz Saddams und Amerikas
Albtraum im Mittleren Osten; München 2010, S. 100.
25 Ebd., S. 223. Angemerkt sei, dass George Bush Senior weiser als sein Sohn gehandelt hat, indem er den Aggressor aus Kuwait vertrieb, militärisch besiegte, aber den Irak
nicht eroberte und besetzte.
30
Michael von Prollius
irakischen Diktator und sein Regime die Frage stellt, ob der Arabische
Frühling nicht ebenfalls zu massenhaften Protesten und Forderungen
nach einem Rücktritt Saddams in Bagdad, Arbil, Kirkuk, Basra und
anderen Städten geführt hätte.
Das Beispiel zeigt außerdem, dass es unter Berücksichtigung liberaler Prinzipien gerechtfertigt ist, das ethnisch-konfessionell heterogene
irakische Volk selbst für sein Schicksal verantwortlich zu machen.
Freihandel statt Sanktionen, ggf. auch Monitoring, Kontrolle und
Direkthilfen hätten diese Bemühungen unterstützt.
2. Iran-Sanktionsregime
Am Beispiel Iran lässt sich die Frage diskutieren, ob militärische
Gewalt und wirtschaftspolitischer Zwang geeignete Mittel sind, um
selbstgesteckte politische Ziele zu erreichen. Die Islamische Republik
Iran ist bekannt für ihr Hegemonialstreben am Persischen Golf und
das Streben nach einer Nuklearwaffenoption. Eine Betrachtung aus
Sicht Irans führt zur Wahrnehmung eines Sicherheitsdilemmas: Iran ist
eingekreist von US-Streitkräften. Mit Israel, Pakistan, Russland und
China befinden sich vier Nuklearwaffenstaaten in der Nachbarschaft.
Iran liegt in Reichweite US-amerikanischer Nuklearwaffen. Der Nahost-Konflikt und der ethnisch-religiöse Konflikt zwischen den die Region zahlenmäßig dominierenden Sunniten und der schiitischen Minderheit kommen hinzu. Jeder Versuch, die Sicherheitslage zu Irans
Gunsten zu verbessern, wird als Bedrohung der anderen Staaten wahrgenommen. Zugleich gilt die Fähigkeit zur nuklearen Abschreckung als
besonders effektive Sicherheitsgarantie, die konventioneller Abschreckung überlegen ist.26
Insbesondere der Westen will Iran zu einem Kurswechsel zwingen.
Das jahrzehntelange US-Sanktionsprogramm wurde sukzessive intensiviert und international erheblich erweitert. Nicht nur ökonomische
Vernunft, sondern auch maßgebliche politikwissenschaftliche Schu--------------------------------------------
26 Siehe Thränert, Oliver: Der Iran und die Verbreitung von ABC-Waffen; SWP: Berlin August 2003 (http://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/studien/S2003
_30_trt.pdf, abgerufen am 22.04.2012) und Reissner, Johannes: Irans Selbstverständnis
als Regionalmacht. Machtstreben im Namen antikolonialer Modernität; SWP: Berlin
Oktober 2008 (http://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/studien/2008_
S29_rsn_ks.pdf, abgerufen am 22.04.2012).
Grundsätze liberaler Außenpolitik im 21. Jahrhundert
31
len27 kommen zu dem Ergebnis, dass weder Sanktionen noch der Einsatz militärischer Gewalt die Grundproblematik zu lösen vermögen.
Tatsächlich haben sich Sanktionen an den gesetzten Zielen gemessen
bisher regelmäßig als ungeeignet, teilweise auch als kontraproduktiv
erwiesen.28
Aus neorealistischer Perspektive kann Iran keine außenpolitische
Balancierung vornehmen, weil es trotz russischer und chinesischer
Sympathien weitgehend isoliert ist. Der Aufbau einer nuklearen Abschreckungskapazität ist eine naheliegende Alternative. Die drei regionalen Nuklearmächte sind nicht Mitglied des Atomwaffensperrvertrags. Die Vertragsbedingungen machen einen Beitritt für eine NichtAtommacht unattraktiv (Institutionalisten). Auch die Sicht der SozialKonstruktivisten kommt zu dem Ergebnis, dass der Einsatz militärischer Gewalt das Sicherheitsdilemma nur verschärfen würde. Um den
Anreiz zu beseitigen, müssten andere Maßnahmen ergriffen werden –
einschließlich glaubwürdiger Sicherheitsgarantien. Stattdessen wurde
ein immer engmaschigeres Sanktionsregime geknüpft. Die Folgen sind
Abschottung des Landes, innenpolitische Verhärtung, Festhalten an
den Nuklearambitionen und Fortbestehen des Hegemonialstrebens.
Mit einer offenen, aber für Proliferationsgüter kontrollierten Handelsund Kulturpolitik wäre das absehbar nicht passiert. Sanktionen und
Blockaden gehören zu den Mitteln, die im Krieg eingesetzt werden.
Genauso wie militärische Drohungen schaden sie dem Handel und
--------------------------------------------
27 Dazu gehören die auf Machtpolitik ausgerichteten Realisten, die sogenannten Liberalen oder Institutionalisten, welche ökonomische und politische Verflechtungen sowie
Kooperation als kriegs-/konfliktmildernd interpretieren, und schließlich die Konstruktivisten, die die Wirkung von Ideen, die Bedeutung gesellschaftlicher Diskussionen sowie
die Rolle von Erwartungen und Verhaltensnormen betonen. Exemplarisch sei zudem
Stephen M. Walt genannt, der einen reformierten Realismus unter Berücksichtigung der
Macht ökonomischer Kräfte und den Wandel von Interessen und Identitäten im Zeitablauf vertritt, und Alexander Wendt, der der Auffassung ist, dass internationale Institutionen staatliche Interessen und Identitäten verändern können. Kooperation helfe, zumal
Akteure Entscheidungen regelgeleitet treffen, wobei intersubjektiv geteilte, wertegestützte Erwartungen an ein angemessenes Verhalten ausschlaggebend seien.
28 „Die Erfahrungen mit Sanktionen deuten darauf hin, dass diese in aller Regel nicht
besonders erfolgreich sind.“ Hefeker, Carsten/Menk, Karl-Wolfgang: Wie wirkungsvoll
sind Sanktionen? Das Beispiel Südafrika; HWWA-Report, Hamburg 2002 (http://
www.econstor.eu/bitstream/10419/32934/1/356982777.pdf, zuletzt aufgerufen am
20.04.2012). Grundsätzlich: Hufbauer Garry C./Schott, Jeffrey J./Elliott, Kimberly A.
(Hg.): Economic Sanctions Reconsidered: History and Current Policy; Washington
2008. Demnach haben drei Viertel aller untersuchten Sanktionen das explizite Ziel
verfehlt und bei den Übrigen wurden lediglich Teilerfolge erzielt.
32
Michael von Prollius
friedlichen Austausch zwischen Menschen. Zudem provozieren und
verstärken sie eine Bunkermentalität. Angestrebte Verhaltensänderungen bewirken sie indes nur selten. Kontraproduktive Symbolpolitik ist
die Folge.
Das Beispiel zeigt, dass unter Berücksichtigung liberaler Prinzipien
eine Stärkung der Handlungsspielräume iranischer Bürger durch Freihandel statt Sanktionen, durch internationale Verhandlungen mit weniger Vorbedingungen bei Anerkennung einer zeitweise liberaleren
iranischen Außenpolitik sowie der Anwendung gleicher Rechtsmaßstäbe für alle Staaten in der Region die Entstehung neuer Probleme
vermieden und die Selbstbestimmung der Völker unterstützt hätte.
3. Statebuilding, nationbuilding
Seit den 1990er Jahren wächst die Tendenz in der Politik, Bedrohungen und Risiken für internationales Handeln stärker zu gewichten
und zu berücksichtigen. Zerfallende und zerfallene Staaten wurden als
Quelle überspringender Probleme identifiziert, internationales Eingreifen immer stärker als notwendig angesehen. Truppen vor Ort erwiesen
sich jedoch regelmäßig nicht in der Lage, die Konflikte zu lösen. Statebuilding wurde daher als Instrument auserkoren, um Konflikte zu
managen, einzugrenzen und zu regeln. Vorbild ist der funktionsfähige
westliche Staat – die Verankerung staatlicher Institutionen nach westlichem Vorbild misslang indes regelmäßig.
Berit Bliesemann de Guevara und Florian P. Kühn sind in „Illusion
Statebuilding“ der Frage nachgegangen, warum der westliche Staat so
schwer zu exportieren ist. Sie liefern folgende Antworten: Statebuilding als Aufbau gesellschaftlich eingebetteter Herrschaftsstrukturen ist
eine Illusion. Ergebnis sind Potemkin'sche Fassaden, nicht stabile Institutionen. Es besteht eine formale Ähnlichkeit bei strukturellen Unterschieden, weil Sozialbeziehungen in den Ländern anderen Mustern und
Logiken folgen. Der Staat durchdringt die Gesellschaft nicht und kann
politische Ziele nicht umsetzen – zugleich nutzt die Gesellschaft staatliche Funktionen kaum: „Persönliche Bindungen und informelle Arrangements, häufig verstärkt durch ökonomische Abhängigkeiten,
prägen die Beziehungen zwischen Staat und Gesellschaft und gelten als
Grundsätze liberaler Außenpolitik im 21. Jahrhundert
33
vielversprechender als formelle Verfahren.“29 Internationales Statebuilding stößt an „strukturelle Grenzen, die es nicht überwinden kann,
egal wie ausgefeilt die Reformprojekte sind.“30 Es sei eine Selbsttäuschung des Westens, das Ziel der Friedensschaffung durch Militäreinsatz, Institutionenaufbau, Marktliberalisierung und Demokratisierung
von außen umzusetzen. Die westliche Statebuilding-Politik sei letztlich
selbstbezogen. Dies komme mit Blick auf die sozialen Auswirkungen
auf die Bevölkerung einer „organisierten Verantwortungslosigkeit“31
gleich.
Der Staat sei nicht per se die Lösung, das Fehlen von Staatlichkeit
kein grundsätzlicher Mangel, Ausdruck von Instabilität und Sicherheitsproblemen. Zugleich kann der Staat Teil des Problems sein, etwa
wenn sich einzelne Gruppen seiner bemächtigen. Zudem ist der Staat
ein historisch gewachsenes Phänomen – im Westen von innen heraus
vollzogen, außereuropäisch häufig durch das internationale Staatensystem vorgegeben. Die westliche etatistische Brille kann daher den Blick
auf die tatsächlichen Probleme verstellen.
Eine herausragende Bedeutung besitzen lokal vorhandene Ordnungen, die nicht staatlicher Natur sein müssen. Interventionen laufen
Gefahr, die Verbindung politischer Rechenschaft zwischen Bevölkerung und Herrschern auf die internationale Ebene zu verlagern. Ein
derartiger Interventionismus widerspricht „den Grundwerten liberaler,
westlicher Stabilität, nämlich politischer Selbstbestimmung, Souveränität und demokratischer Willensbildung.“32
Ihr Plädoyer lautet: Im Umgang mit Krisen ist es notwendig, realistisch und bescheiden zu handeln und „letztlich die Selbsttäuschung
umfassender Gestaltungsfähigkeit im State building zu beenden.“33
--------------------------------------------
29 Bliesemann de Guevara, Berit/Kühn, Florian P.: Illusion Statebuilding. Warum sich
der westliche Staat so schwer exportieren lässt; Hamburg 2010, S. 12; ähnlich Stewart,
Rory /Knaus, Gerald: Can Intervention Work?; New York/London 2011, die gestützt
auf Untersuchungen zu Afghanistan und Bosnien argumentieren, dass der Schlüssel zum
Erfolg nicht bei demjenigen liegt, der interveniert, sondern bei der lokalen Bevölkerung.
30 Ebd., S. 15. Coyne, Christopher J.: After War. The Political Economy of Exporting
Democracy; Stanford 2008 weist zudem auf folgende Konstellation hin: Wiederaufbau
wird durch externe und interne Faktoren beschränkt, dort am stärksten, wo politischer,
sozialer und ökonomischer Wandel besonders drängend ist. Klassische Wiederaufbaumaßnahmen funktionieren dort am schlechtesten, wo sie am stärksten benötigt werden.
31 Ebd., S. 15, S. 179.
32 Ebd.
33 Ebd., S. 181.
34
Michael von Prollius
Der Staat besitze nicht nur eine internationale, sondern vor allem eine
gesellschaftliche Funktion, und dieser Teil des Staates lasse sich nicht
exportieren. Interventionen müssten angesichts der Lücke zum Idealbild tendenziell ewig andauern. Tatsächlich könnten Interventionen
aus strukturellen Gründen nicht enden. Das gelte umso mehr, als das
Statebuilding-Konzept davon ausgeht, der Staat produziere gleichsam
automatisch Sicherheit und Wohlfahrt. Das sei nicht der Fall. Um
diesem Ziel nahezukommen, gelte es vom westlichen Staatsverständnis
abzuweichen und Regionalisierung statt Zentralisierung sowie genossenschaftliche, staatliche und privatwirtschaftliche Ordnungsmodelle
im Einzelfall abzuwägen. Adressat wäre dann nicht der Staat oder die
Nation als solches, sondern ein dezentrales Vorgehen, bei dem beispielsweise die Stämme zu Adressaten werden.
Diesem bemerkenswert liberalen Plädoyer lässt sich noch hinzufügen: Zivilgesellschaften können nicht konstruiert werden, sie müssen
wachsen. Da allein individuelle Freiheit Zivilisation bewahren und
fortentwickeln kann, sollten alle Ziele, Mittel und Instrumente der
Außenpolitik auf ihren Erhalt gerichtet sein – nicht mehr und nicht
weniger. Die Adressaten sind indes auf lokaler Ebene zu finden und
liegen damit häufig außerhalb der Reichweite anderer Regierungen.
4. Entwicklungshilfe
Theoretiker und Praktiker zweifeln daran, dass die praktizierte
Entwicklungshilfepolitik die selbstgesteckten Ziele erreichen kann.
Mahnende Stimmen kritisieren ferner ihre kontraproduktiven Wirkungen. Die wesentlichen Argumente sind dabei:
a) Die Entwicklungshilfe erreicht die Ärmsten nicht, weil machtpolitische Realitäten ausgeblendet und falsche Instrumente eingesetzt
werden. Paul Collier, langjähriger Feldstudienanalyst der ärmsten
Länder der Welt, kommt zu dem Ergebnis, die Politik habe in Bezug
auf „The Bottom Billion“34 versagt. Autokraten halten Menschen weiter in der Stagnation gefangen. Die Probleme konzentrierten sich in
den ärmsten Ländern. Dort gebe es einen Kampf zwischen Reformern
und Machteliten, den Collier allerdings für erfolgreich beeinflussbar
--------------------------------------------
34 Collier, Paul: The Bottom Billion. Why the Poorest Countries Are Failing and What
Can Be Done About it; New York 2008, nachfolgend siehe Part 4 „The Instruments“, S.
99-156.
Grundsätze liberaler Außenpolitik im 21. Jahrhundert
35
hält. Er nennt vier Instrumentenkategorien: Hilfe (Geld), Handel, Militärinterventionen und schließlich Normen und Verfassungen.
Geld sei bisher jedoch zu viel und zu schnell geflossen, es versickere regelmäßig in korrupten Kanälen. Ferner helfe Handel beispielsweise Afghanistan nicht weiter, das derzeit nur Opium für den Export zu
bieten habe. Mehr robust herbeigeführte Sicherheit in Kombination
mit einer Herrschaft des Rechts würde hingegen eine verbesserte Hilfe
ermöglichen, und zwar dort, wo sie besonders notwendig sei.35 Dagegen würde den „Bottom Billion“ durch Protektionismus und Sanktionen gegen die Regime nur Schaden zugefügt.
b) Die Entwicklungshilfe schafft Abhängigkeit, aber keine Selbstständigkeit. Übersteigt die Entwicklungshilfe acht Prozent des Bruttosozialprodukts, so wirkt sie kontraproduktiv.36 Mussie Habte urteilt:
„Die Bilanz von fünf Jahrzehnten Entwicklungspolitik für Afrika
könnte verheerender kaum sein“.37 Es seien keine ökonomischen und
politischen Entwicklungen in Gang gesetzt worden, trotz Milliardenzuwendungen. Afrika sei zu einem „Kontinent von 'Bettlern'“ degeneriert, die Macht von Despoten wurde konsolidiert. Er gelangt zu der
Schlussfolgerung: „(…) zentral für die Lösung der Probleme ist und
bleibt das Engagement der afrikanischen Staaten selbst.“ Afrikaner wie
Habte stehen mit dieser Ansicht auf dem Schwarzen Kontinent nicht
allein. Der kenianische Wirtschaftsexperte James Shikwari sprach
schon vor Jahren von „Fehlentwicklungshilfe“, und die sambische
Ökonomin mit internationaler Arbeitserfahrung Dambisa Moyo fordert in „Dead Aid“ sogar ein Ende der Entwicklungshilfe und stattdessen Freihandel sowie ein Engagement auf internationalen Kapitalmärkten; zugleich begrüßt sie die umfassenden chinesischen Direktinvestitionen in die Infrastruktur als Vorbild.38
--------------------------------------------
35 Paul Collier vertieft diese Problematik in: Wars, Guns, and Votes. Democracy in
Dangerous Places; New York 2009 mit Blick auf politische Gewalt, indem er einen sehr
begrenzten Einsatz internationaler Streitkräfte fordert, um Sicherheit zu schaffen und
Regierungen zu verantwortungsvollem Handeln zu verpflichten.
36 Vgl. Easterly, William: Wir retten die Welt zu Tode. Für ein professionelleres Management im Kampf gegen die Armut; Frankfurt am Main 2008.
37 Habte, Mussie: Afrika neu denken; in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 1/2011, S. 67-73.
38 Moyo, Dambisa: Dead Aid. Why aid is not working and how there is another way
for Africa; London 2010. Ausgerechnet von China könne sich die westliche Außenpolitik Anregungen für eine Strategie abgucken, ohne die gravierenden (illiberalen) Defizite
zu übersehen: die systematische und umfassende Sicherung von Rohstoffen, insbesonde-
36
Michael von Prollius
c) Die Qualität der Regierungsführung ist entscheidender als Entwicklungshilfe, Wirtschaftsreformen in einem umfassenden Sinn besitzen gegenüber Demokratisierung Priorität. Nicht Demokratie schafft
Wohlstand, sondern Marktwirtschaft. Erforderlich ist ein funktionsfähiger Ordnungsrahmen mit gesicherten Eigentumsrechten, Gewerbefreiheit, offenen Märkten, stabiler Währung und guter Regierungsführung auch im Sinne solider Staatshaushalte. Um Armut zu überwinden,
kann eine „beschäftigungsorientierte Entwicklungspolitik“ auf der
Grundlage der konstituierenden Prinzipien der Sozialen Marktwirtschaft geeignet sein. Eine vergleichsweise etatistische, aber erfolgsbewährte Strategie hat Hans-Gert Braun in Anlehnung an Singapur entwickelt.39
Fazit: Nichts zu tun kann besser sein, als in gut gemeinter Absicht
zu schaden. Die Erfolgsfaktoren, um der Armut zu entkommen, unterscheiden sich nicht wesentlich von denen des Westens beim Übergang
von massenhafter ländlicher Armut zur industrialisierten Welt im 19.
Jahrhundert: Der Schlüssel ist eine institutionelle Revolution. Die Empirie unterstützt diese Sicht weltweit, ob Economic Freedom Index,
Easy of Doing Business Index oder World Competitiveness Report,
Wohlstand entsteht dort, wo Freiheit herrscht und sich private Initiative entfalten kann.
--------------------------------------------
re Erdöl, in Verbindung mit Wohlstand und Entwicklung treibenden Direktinvestitionen
in die afrikanische Infrastruktur, die inzwischen diversifiziert wurde u. a. in die Bereiche
Tourismus, Telekommunikation und Textilien, aber auch kulturellen Austausch, Gesundheit und Ausbildung umfasst. Davon profitiert auch Afrika, während der chinesische Einfluss in Wirtschaft, Politik und Gesellschaft Afrikas einzigartig ist. Ob die Infrastruktur tatsächlich der Bevölkerung zugutekommt, hängt vom Einzelfall ab.
39 Vgl. Braun, Hans-Gert: Armut überwinden durch Soziale Marktwirtschaft und
Mittlere Technologie. Ein Strategieentwurf für Entwicklungsländer; Berlin 2010. Zunächst sollen alle wirtschaftspolitischen Maßnahmen der Vollbeschäftigung untergeordnet werden. Es müsse ein dauerhafter, nachhaltiger und die Gesamtwirtschaft erfassender Entwicklungsprozess ins Leben gerufen werden, der ohne Hilfe von außen auskomme. Dazu soll der Staat eine wirtschaftliche Infrastruktur schaffen und systematisch
ausreichend Einnahmen erzielen. Nicht Spitzen-, sondern Mittlere Technologie sei der
Erfolgsschlüssel, also die Technik, die in Deutschland vor rund 50 Jahren „state of the
art“ war. Weniger Kapitalintensität sei zumeist gefordert, die im Land eingesetzte Technologie müsse der Faktorausstattung angepasst werden. Der Aufbau eines entsprechenden Finanzsektors, bei dem ausländische Direktinvestitionen eine unterstützende Rolle
zugemessen bekommen, weil der Selbsthilfe auch hier ein Primat zukomme, sei ebenfalls
von großer, zumeist unterschätzter Bedeutung. Erst in einer zweiten Phase gehe es um
Produktivitätssteigerungen und Wachstumsorientierung.
Grundsätze liberaler Außenpolitik im 21. Jahrhundert
37
III. Perspektive und Lösungsansätze
Die vielfach illiberale außenpolitische Praxis bedeutet nicht nur,
dass liberale Prinzipien nicht (hinreichend) verfolgt werden, sondern
auch, dass in Europa auf EU-Ebene und in Deutschland Ziele noch
immer nicht klar definiert werden. Folglich ist es nur schwer möglich,
Mittel und Wege adäquat zu planen. Eine Diskrepanz zwischen Gewünschtem und Machbarem ist die Folge. Mitleid ist keine hilfreiche
politische Kategorie, der Unterschied zwischen handeln wollen und
handeln können respektive selbst handeln ist immens. Das derzeitig
gängige Moralisieren ist ungeeignet und sollte durch regelgebundenes
Handeln ersetzt werden. Es entsteht eine Strategielücke, die nicht zuletzt einer mangelnden Gewohnheit, in strategischen Interessen zu
denken, geschuldet ist.40 Zur Strategielücke kann sich leicht eine
Kommunikationslücke gesellen. So ist Deutschland seit Jahrzehnten
„Zahlmeister der EU“41 und neuerdings alternativloser Euroretter,
wird aber auch als Spalter Europas mit Beherrschungsabsichten angefeindet. Anstelle einer Strategie des „Muddling-through“ (Charles E.
Lindblohm) bietet es sich an, konsequent auf liberale Ziele, Prinzipien
und Praktiken zu vertrauen. Das bedeutet, das Prinzip Zwang konsequent durch das Prinzip Vertrag zu ersetzen. Freiwilliger Austausch ist
die Grundlage von Frieden. Das bedeutet ferner Selbstbeschränkung.
Es hilft das Eingeständnis, dass manches, vielleicht vieles die eigenen
Kräfte übersteigt. Menschen müssen selbst für ihr Recht eintreten.
Zugleich werden viele bisher selbst geschaffene Probleme gar nicht erst
entstehen. Schließlich bringt eine konsequent liberale Außenpolitik die
Einsicht mit sich: Gewalt wird sich niemals vollständig überwinden
lassen. Der ewige Friede ist nicht erreichbar. Wir können die Welt
nicht retten. Bescheidenheit ist daher eine Devise, Wehrhaftigkeit mit
Worten und Taten zur Errichtung und zum Schutz einer Ordnung der
Freiheit und des Friedens eine weitere Lehre.
--------------------------------------------
40 Timo Noetzel hat in seinem gestochen scharfen Aufsatz „Germany's small war in
Afghanistan: Military learning amid politico-strategic Inertia“ (in: Contemporary Security Policy 3/2010, S. 486-508) das gravierende Missverhältnis zwischen dem – nicht
existenten – politisch-strategischen Denken in Berlin und den operativen Maßnahmen
am Beispiel Afghanistan-Einsatz aufgezeigt.
41 Willeke, Franz-Ulrich: Deutschland, Zahlmeister der EU. Abrechnung mit einer ungerechten Lastenverteilung; München 2011.
38
Michael von Prollius
Unter dieser Voraussetzung gilt es, die einleitend dargestellten
Prinzipien einer liberalen Außenpolitik in Lösungsansätze zu übersetzen. Die große, dahinterstehende Frage lautet letztlich: Wie können
Konflikte vermieden und wie kann Frieden geschaffen bzw. erhalten
werden?42
Ludwig von Mises brachte das Programm des Liberalismus wie
folgt auf den Punkt: „Das Ziel der inneren Politik des Liberalismus ist
auch das seiner auswärtigen Politik: Frieden. So wie im Innern der
Staaten so strebt der Liberalismus auch im Verkehr zwischen den Staaten friedliches Zusammenwirken an. Der Ausgangspunkt des liberalen
Denkens ist die Erkenntnis des Wertes und der Wichtigkeit menschlicher Kooperation, und alles, was der Liberalismus plant und ins Werk
setzen will, dient der Erhaltung des gegenwärtig erreichten Standes
und dem weiteren Ausbau der wechselseitigen Kooperation der Menschen. Als letztes Ideal schwebt dabei immer der Gedanken einer vollständigen Kooperation der ganzen Menschheit vor, die sich friedlich
und ohne Reibungen abwickelt. Das Denken des Liberalen hat immer
das Ganze der Menschheit im Auge und nicht nur Teile, es haftet nicht
an engen Gruppen, es endet nicht an den Grenzen des Dorfes, der
Landschaft, des Staates und des Erdteils. Es ist ein kosmopolitisches,
ein ökumenisches Denken, ein Denken, das alle Menschen und die
ganze Erde umspannt. Der Liberalismus ist in diesem Sinne Humanismus, der Liberale Weltbürger, Kosmopolit.“43
1. Den Austausch der Menschen fördern, denn Kapitalismus ist für
Frieden bedeutender als Demokratie.
Erich Weede hat die große Bedeutung des kapitalistischen Friedens
herausgearbeitet. Das Ergebnis seiner quantitativen, qualitativen und
historischen Gesamtschau, die er unter den Titel „The capitalist peace“44 gestellt hat, lautet: Für den Frieden ist Kapitalismus (als umfas-------------------------------------------42 Der hier aufgezeigte liberale Ansatz passt zu den in den Internationalen Beziehungen zunehmend erforschten grundlegenden Änderungen des Staatensystems: dem Aufstieg von Netzwerken aus überwiegend nicht-staatlichen Akteuren, der wachsenden
Multipolarität und der globalisierten Wirtschaft.
43 Mises, Ludwig von: Liberalismus, S. 93.
44 Weede, Erich: The Capitalist Peace; in: Coyne, Christopher J./Mathers, Rachel L.
(Hg.): The handbook on the political economy of war; Cheltenham 2011, S. 269-280;
umfangreicher zudem Ders.: Balance of Power, Globalization and the Capitalist Peace;
2. Aufl, Berlin 2007. Bestätigung findet Weedes Untersuchung zuletzt unter anderem
Grundsätze liberaler Außenpolitik im 21. Jahrhundert
39
sende Idee) bedeutender als Demokratie. Das liege zum einen daran,
dass Demokratie ohne die Wohlfahrt, die der Kapitalismus erbringe,
nicht bestehen könne. Insofern sei ein demokratischer Friede praktisch
die Folge von Kapitalismus. Zum anderen verleite die demokratische
Friedenstheorie zu der Annahme, Frieden könne durch Krieg erreicht
werden – im Namen der Demokratie. Darüber hinaus habe die Installation einer Demokratie in einer autokratischen Region destabilisierende Wirkung, die Aussicht auf Frieden werde reduziert. Kapitalismus
mit seinen friedensfördernden Effekten von Freihandel und wirtschaftlicher Zusammenarbeit besitze noch einen weiteren Vorteil, er lasse
sich leichter exportieren als Demokratie, gerade auch nicht-demokratische Staatsführungen könnten sich dafür erwärmen.
Christopher J. Coyne hat in seiner systematischen, abwägenden
Untersuchung des Demokratieexports „After War“45 drei praktikable
Wege aufgezeigt: Ein Gewalteinsatz in Verbindung mit einer erforderlichen langfristigen Kolonialisierung, die zur Befriedung und Gewährleistung der öffentlichen Sicherheit geeignet ist, hilft nur wenig beim
Aufbau des Rechtsstaats und von selbstständigen Institutionen („Samariter-Dilemma“), führt aber regelmäßig zu perversen politischen
Maßnahmen (Public Choice-Probleme). Begrenzte Militäreinsätze zur
Aufrechterhaltung von Frieden und Stabilität (Peacekeeping) scheitern
daran, dass westliche liberale demokratische Institutionen nicht oktroyiert werden können, das Neutralitätsgebot der Interventionskräfte
nicht funktioniert und es zu einem „Mission creep“ kommt (Interventionsspirale), bis es sich nicht mehr um einen begrenzten PeacekeepingEinsatz handelt.
Non-Interventionismus in Verbindung mit Freihandel sei hingegen
das effektivste Mittel, um liberale Demokratien zu exportieren. Das
bedeute den Verzicht auf Militäreinsätze, die nur zur Verteidigung des
eigenen Landes geeignet sind, und die Beseitigung aller Handelsbarrieren – auch unilateral. Schätzungen zu Beginn des Jahrhunderts zufolge
würde der weltweite Freihandel 500 Millionen Menschen aus der Ar--------------------------------------------
durch: Hegre, Havard/Oneal, John R./Russett, Bruce: Trade does promote peace: New
simultaneous estimates of the reciprocal effects of trade and conflict; in: Journal of
Peace Research, 47/2010, S. 763-774.
45 Coyne; Christopher J.: After War. The Political Economy of Exporting Democracy;
Stanford 2008, siehe nachfolgend insbesondere S. 173-194.
40
Michael von Prollius
mut befreien und gleichzeitig 200 Mrd. US-Dollar jährlich für die
Entwicklungsländer bringen.46
Eine derartige non-interventionistische, aber ganz und gar nicht isolationistische Strategie birgt weitere Vorteile: Internationaler Frieden, guter Wille und gegenseitiges Verständnis werden gefördert, genauso wie kulturelle Vielfalt und Annäherung, Toleranz und internationales Recht – und zwar „bottom up“. Der Westen würde ein Zeichen
des Friedens setzen, in Abkehr von seiner bisher überwiegend interventionistischen Politik.47 Im Fall von Handelsprotektionismus und restriktiver Immigrationspolitik wirkt diese ironischerweise sogar isolationistisch. Letztlich handelt es sich um den Einsatz von „soft power“
(Joseph Nye), der an Werten und Institutionen ansetzt und in langer
Frist große Wirksamkeit besitzt.
2. Die Völker müssen sich in allererster Linie selbst helfen, denn
Selbsthilfe ist (im Erfolgsfall) besonders wirksam und dauerhaft.
Eine konsequente Strategie der Gewaltlosigkeit ist dabei
vielversprechend.
Der tragfähigste Weg zur Überwindung von Diktaturen und autoritären Regimen ist immer noch ihre Überwindung von innen. Hier
setzt Gene Sharp an, der einen Leitfaden für den Sturz von Diktaturen
entwickelt hat.48 Sharp befürwortet konsequent und kompromisslos
eine umfassende Strategie der Gewaltfreiheit, die er über die taktische
Ebene bis zu den Methoden herunterbricht. Die Bevölkerung müsse
eine Entschlossenheit zum Widerstand entwickeln, um sich selbst zu
befreien, so lautet das Credo seiner durch Realismus geprägten jahrelangen Forschungsquintessenz. Es komme darauf an, die Idee der
Nichtzusammenarbeit zu begreifen: „Wenn genügend Untergebene
trotz repressiver Maßnahmen ihre Kooperation lange genug verweigern, wird das Unterdrückungssystem geschwächt werden und am
-------------------------------------------46
Ebd., S. 182.
Die USA sind statistisch betrachtet das aggressivste Land der Erde nach dem Zweiten Weltkrieg, urteilt Ivan Eland und weist darauf hin, dass eines der konstituierenden
Prinzipien bei der Staatsgründung Anti-Militarismus war. Eland, Ivan: High Costs May
Not Be the Worst Aspect of the Attack on Libya, Commentary; The Independent Institute: Oakland, March 30, 2011.
48 Sharp, Gene: Von der Diktatur zur Demokratie. Ein Leitfaden für die Befreiung;
engl. Originalausgabe 1993, 2. Aufl. München 2008.
47
Grundsätze liberaler Außenpolitik im 21. Jahrhundert
41
Ende zusammenbrechen.“49 Gene Sharp zeigt, wie mächtig gewaltloser
Widerstand sein kann, der die Quellen politischer Macht in allen Bereichen der Gesellschaft untergräbt. Die drei großen Mittelkategorien
lauten: Protest, Nichtzusammenarbeit und Intervention. Eine strategische Planung bildet einen wichtigen Erfolgsfaktor, Mittel müssen ausgewählt und gezielt eingesetzt werden, Kampagnen müssen entworfen
und abgestimmt werden, die Idee der Nichtzusammenarbeit bedarf
systematischer Verbreitung; auf Repressionen gilt es flexibel und
standhaft zu reagieren. Außerdem ist es mit dem Niederringen der
diktatorischen Regimes nicht getan. Der Übergang zur Demokratie ist
eine heikle Phase, der Entwurf einer Verfassung eine Herausforderung.
Gene Sharp plädiert für einen dezentralen Aufbau des Staates und eine
Allgemeinverständlichkeit des Verfassungstextes. Erfolgsgarantien gibt
es indes keine, Opfer regelmäßig viele.
Dieser Lösungsansatz ist vollständig kompatibel mit dem ersten
hier skizzierten, also der Förderung des Austauschs zwischen Menschen. Handeln bleibt dabei nicht auf den Bereich des Staates beschränkt, sondern kann sich auf private Initiative stützen, darunter
Privat-Diplomatie etwa in Form von Konferenzen, Kolloquien und
intensiven Kontakten, an denen auch staatliche Funktionsträger ohne
offiziellen Auftrag teilhaben können. Hinzu kommen Kampagnen, die
bei guter Organisation und Kommunikation durchaus erfolgreich
Druck etwa über die Möglichkeiten des Web 2.0 ausüben können.50
Das schließt neben Handel und Kapitalexport auch vielseitige Formen
einer Informationspolitik im In- und Ausland ein. Selbstverständlich
gehören Unterstützung und Export (nicht Aufzwingen) von Marktwirtschaft auf der Grundlage eines vorbildlichen und damit nachahmenswerten Modells einer freien Gesellschaft dazu.
--------------------------------------------
49 Sharp, Gene: Von der Diktatur zur Demokratie: Ein Leitfasden für die Befreiung;
a.a.O., S. 73.
50 Beispiele finden sich in allen Teilen der Welt, darunter auch Südamerika, wie weltweite Proteste gegen marxistische FARC-Rebellen in 160 Städten, über Facebook organisiert, im Februar 2008 zeigen. Vgl. Bohnen, Johannes/Kallmorgen, Jan-Friedrich: Wie
Web 2.0 die Politik verändert; in: Internationale Politik Juli-August 2009, S. 18-25, hier
S. 20.
42
Michael von Prollius
3. Liberale Wehrhaftigkeit praktizieren, die abschreckend und
aufklärend dem eigenen Schutz dient.
Freihandel hilft nicht unmittelbar gegen „Bösewichte“. Bedrohungen entstehen heute kaum mehr durch Staaten, sondern gehen von
Kleingruppen aus, durchaus auch in Failing States.51 Was innenpolitisch richtig ist, trifft auch außenpolitisch zu: Der Schutz von Leib,
Leben und Eigentum erfordert Wehrhaftigkeit. Hier ist Sicherheitspolitik gefragt. Westliche Sicherheitsbehörden weisen beträchtliche Defizite auf, können aber auch nennenswerte Erfolge vorweisen: Die Operationsbedingungen von Gegnern einer freiheitlich-rechtsstaatlichen
Ordnung haben sich seit 9/11 durch internationalen Verfolgungsdruck, aber auch eine aktive Politik insbesondere der USA (gezielte
Tötungen vor allem mittels Drohnen, die rechtlich zumindest fragwürdig sind) erheblich verschlechtert. Fahndungserfolge wurden erzielt,
Attentate vereitelt. Hier erfüllt der Staat seine hoheitlichen Aufgaben,
er überschreitet aber auch das Recht der Freiheit. Zugleich bleibt die
bürokratische Verfahrensweise strukturell bedingt ineffizient und teilweise auch ineffektiv.52
Welche liberalen Handlungsmöglichkeiten bestehen, um außenpolitisch unterstützend zu wirken? Zunächst Interventionen zum Schutz
individueller Freiheit: Damit wird der eingangs skizzierte Verlust staatlicher Souveränität als Reaktion auf erhebliche Verstöße gegen die
Souveränität des Individuums in den Mittelpunkt gerückt. Freiheit und
Recht zu bringen, ist eine zum Scheitern verurteilte Strategie, das können die Völker nur selbst erringen, aber Nothilfe, um Freiheit und
Recht für die eigene Gemeinschaft zu sichern, ist als Selbstschutz legitim. Die Regelbindung kann sich an der strengen Limitierung von
Präventivkriegen durch das Völkerrecht orientieren. Interventionen,
um andere Menschen angesichts einer versagenden oder sich gegen sie
wendenden Staatsgewalt zu schützen, ist hingegen nicht die Pflicht
eines anderen Staates. Dessen Legitimität besteht im Schutz der eige--------------------------------------------
51 Das kann sich ändern und wird mit Blick auf Gruppen wie radikale Islamisten in
Mali bzw. der Sahelzone sowie im Nahen und Mittleren Osten teils aufmerksam, teils
mit Argwohn beobachtet. Auch hier ist Abschottung die kontraproduktive Politik,
genauso wie es die frühere Unterstützung der Diktatoren und eine ungeeignete Entwicklungshilfe war.
52 Siehe grundsätzlich Mises, Ludwig von: Die Bürokratie; Sankt Augustin 2004 (englische Erstauflage 1944).
Grundsätze liberaler Außenpolitik im 21. Jahrhundert
43
nen Bürger, während es nicht seine Aufgabe ist, Leib und Leben seiner
Bürger zum Schutz von Menschen in anderen Staaten einzusetzen. Bei
jeder Intervention53 ist folglich vorab ein enger Kriterienkatalog als
Maßstab anzulegen. Dazu gehören
–
der festgestellte Souveränitätsverlust einer Staatsführung, die
massenhaft Menschenrechte missachtet hat,
–
woraus sich eine Option (aber keine Pflicht) für ein Eingreifen
zum Schutz der Bevölkerung oder von Bevölkerungsgruppen
ergibt (O2P = „Option to Protect“ anstelle der gebräuchlichen
Formel R2P = „Responsibility to Protect“).
–
Eine sorgfältige Folgenabschätzung einschließlich der Opportunitätskosten spielt eine entscheidende Rolle. Es ist offenkundig kontraproduktiv, wenn Anspruch und Wirklichkeit auseinanderklaffen; ein Eingreifen ist verfehlt, wenn die Kosten höher als der Nutzen sind.
–
In engem Zusammenhang damit muss im Falle eines Eingreifens die Verhältnismäßigkeit gewahrt werden, und der Schutz
Unbeteiligter darf nicht nur ein politisches Lippenbekenntnis
bleiben.
–
Schließlich muss der Endzustand besser sein als die Lage, die
zum Eingreifen geführt hat. Die Wiederherstellung des Friedens und der Herrschaft des Rechts gehören an erster Stelle
dazu.
Die Interventionsart wird situativ zu bestimmen sein, denkbar sind
Waffenlieferungen, der Eingriff mit Luftkriegsmitteln bis hin zu Bodentruppen oder die Einrichtung von Sicherheits- und Flugverbotszonen. Stets gilt indes: Die eingreifende Partei wird bei nahezu allen eingesetzten Mitteln Teil des Konflikts und vielfach zum Kombattanten.
Nur sehr selten lassen sich die Kosten und Folgen von Interventionseinsätzen in klassisch-liberaler Perspektive rechtfertigen, weil sie
tatsächlich dem Schutz der eigenen, sich anvertrauenden Menschen
dienen und nicht (selbstkonstruierte) Fallen in unwegsamen Bergen
oder Wüsten sind. Ernüchternde Erfahrungen von Militäreinsätzen
reichen von Afghanistan und Algerien über Britisch-Malaya, Kenia
und Irak bis Portugiesisch-Afrika, Somalia und Vietnam. Statt Präven--------------------------------------------
53 Der Interventionsbegriff wird hier eng gefasst als direkter, unmittelbarer Eingriff in
die inneren und äußeren Angelegenheiten eines Staates insbesondere mit militärischen,
polizeilichen und verwaltungsmäßigen Mitteln.
44
Michael von Prollius
tivkriegen besitzen die Mobilisierung von internationalem Beistand
und das Schmieden von Allianzen zur Sicherung von Recht und Freiheit Vorrang. Das gilt auch für nicht-staatliche Akteure, etwa bei der
Sicherung von Handelswegen.54
Primat einer präventiven friedenssichernden Außenpolitik bleibt,
den ungeheuren Wohlstandsfortschritten, die durch das Fortschreiten
der Kooperation von Menschen über nationale Grenzen hinweg – also
Globalisierung – verursacht wurden, Raum zu geben und keine Hindernisse in den Weg zu legen. Tausch und Spezialisierung sind der
Schlüssel für steigenden Massenwohlstand. Zugleich macht die Globalisierung nationale Grenzen vergessen.55 Die Globalisierung kann
Grenzen überwinden, national wie regional. Menschen, mit denen man
handelt, ist man nicht feindlich gesonnen.
Perspektive als Blick zurück und Blick nach vorn
Voraussetzung für Freiheit und Recht ist nicht Demokratie, sondern rechtschaffendes Regierungshandeln, Bindung ausnahmslos aller
an Regeln, die die Freiheit des Einzelnen schützen. Demokratie ist
nicht Freiheit und auch nicht per se liberal. Demokratie ist ein Verfahren für Entscheidungen – per Mehrheitsabstimmung. Das Verfahren
besitzt keinen höheren Wert an sich, sondern hat sich vielfach als
zweckmäßig erwiesen. Allerdings darf die Tyrannei einer Minderheit
nicht durch die Tyrannei einer Mehrheit abgelöst werden. Liberalismus ist die Begrenzung der Herrschaft des Staates zur Sicherung der
Freiheit des Einzelnen auch gegen andere Individuen. Im Zentrum
stehen die Grenzen der Wirksamkeit des Staates, damit die Bürger ihre
Kräfte zu einem größtmöglichen Ganzen entfalten können. Menschen
dürfen und sollen in Freiheit unter dem Recht selbst für sich entscheiden.
Diejenigen, die sich nicht an die Regeln einer freien Gesellschaft
halten, müssen dazu gezwungen werden. Der Schutz von Leib, Leben
und Eigentum ist die Aufgabe des Staates, auf die sich die Staatsbe--------------------------------------------
54 Schutz bietet in erster Linie eine Bewaffnung der Handelsschiffe, die nicht verwehrt
werden darf. Zusätzlich ist die international koordinierte Durchsetzung der Freiheit der
Meere gerechtfertigt.
55 Wer sich abschottet, sei es mit Subventionen für „Infant industries“ oder nationalistischem „Kauft einheimische Produkte!“, schädigt hingegen die eigene Bevölkerung.
Grundsätze liberaler Außenpolitik im 21. Jahrhundert
45
diensteten konzentrieren und somit beschränken sollten. Dann kann
sich Prosperität ungehindert entfalten. Freiheit und Recht zu schützen
und zu stärken, das ist die Aufgabe aller Menschen.
Da im Liberalismus die höchsten Werte Freiheit und Recht sind,
sollten sie auch die leitenden Werte und Interessen einer liberalen Außenpolitik sein. In kürzester Form bedeutet liberale Außenpolitik also:
individuelle Freiheit schützen.
Liberale Ideal- und Realpolitik in der Außenpolitik des 21. Jahrhunderts
47
Hartmut Kliemt
Liberale Ideal- und Realpolitik in der
Außenpolitik des 21. Jahrhunderts
1. Einleitung
Die erste große Welle der Globalisierung seit etwa der Mitte des
19. Jahrhunderts war nicht nur eine Zeit des Kolonialismus, sondern
durchaus auch eine Periode im weiteren Sinne liberaler Welthandelspolitik. Die Erfolge dieser Politik gaben dem Liberalismus auch als politischem Überzeugungssystem zusätzlichen Auftrieb. Die nachfolgende
Zivilisationskatastrophe des Ersten Weltkrieges und die Zwischenkriegszeit mit Aufschwung und nachfolgender Großer Depression
waren heroische, liberalem Denken in Innen- und Außenpolitik wenig
günstige Zeiten. Der Zweite Weltkrieg und die kollektiven Anstrengungen, die er erforderte, bildeten erst recht keinen guten Nährboden
für liberale Überzeugungen. Überraschenderweise überlebten liberales
Gedankengut und liberale Institutionen diese Stürme. Mit dem Ende
des real vegetierenden Sozialismus sowjetischer Prägung nahm die
Ausweitung der weltweiten Arbeitsteilung wieder Fahrt auf. Eine vielfach auf Verrechtlichung abzielende, vor allem westliche Außenpolitik
begünstigte – ungeachtet entgegengerichteter Bestrebungen vieler Interessengruppen – nicht nur das Wachstum des Welthandels, sondern
auch die Entstehung formeller und informeller, privater ebenso wie
zwischenstaatlicher (inter-)nationaler Rechts-Institutionen.
Die Verrechtlichung jurisdiktionsübergreifender internationaler
Konfliktbehandlung ebenso wie die Tatsache, dass aufstrebende antiliberale Kräfte wie das heutige China besonders von der Globalisierung und Verrechtlichung der Handelsbeziehungen profitieren, geben
Anlass zu der Hoffnung, dass sich die Geschichte nicht wiederholt. Die
heroischen Zeiten des mittleren 20. werden uns im 21. Jahrhundert
nach der gegenwärtigen Atempause zunehmender Globalisierung wohl
nicht einholen. Dennoch wäre es ein Irrtum, Außenpolitik im 21.
Jahrhundert durch eine Art Weltinnenpolitik unter internationalem
48
Hartmut Kliemt
Recht ersetzen zu wollen. Wir können der Realisierung des liberalen
Kernideals der Verrechtlichung von Beziehungen nicht dadurch Vorschub leisten, dass wir bereits heute nach Maßstäben einer möglichen
künftigen Weltinnenpolitik handeln. Ein solcher Mangel an Realitätssinn würde liberale Ideale eher gefährden als unterstützen.
Die Bedingungen von David Humes „Naturrecht“, nämlich „of the
stability of possession, of its transference by consent, and of the performance of promises“1, können zwar Grundlage zwischenstaatlicher
„rule of law“ sein. Anarchische rechtliche Ordnung ohne eine zentrale
ordnungsstiftende Macht ist möglich.2 Sie bleibt aber qualitativ verschieden von einer Ordnung mit zentralisierter Durchsetzung des „Naturrechts“.3
Den qualitativen Unterschieden zwischen einer anarcho-liberalen
und einer ordo-liberalen Vorstellung von liberaler Außenpolitik will
ich im Weiteren nachgehen. Innenpolitisch scheint mir viel für ordoliberale (mit zentraler Durchsetzung), außenpolitisch aber alles für
anarcho-liberale Organisationsformen (ohne zentrale Durchsetzung)
zu sprechen. In einem ersten Schritt expliziere ich knapp, was ich unter
„liberaler Rechtspolitik“ generell verstehen möchte. In den nächsten
Schritten geht es mir darum, das Konzept einer anarchischen Rechtsordnung einzuführen (3.) und eine liberale Variante am konkreten
Beispiel des mittelalterlichen Island zu illustrieren (4.). Grenzen und
Leistungsfähigkeit internationalen Rechts als einer Form anarchischer
Ordnung lassen sich vor dem Hintergrund des Vorangehenden abschätzen (5.). Die Frage einer einzelfallorientierten gegenüber einer an
-------------------------------------------1
Hume, David: A Treatise of Human Nature; Oxford 1978, Kap. 6.
In der idealen Theorie kann man sich dabei auf das sogenannte Folk-Theorem der
Spieltheorie berufen (vgl. Aumann, Robert J.: Survey of Repeated Games; in: Ders. et al.
(Hg.): Essays in Game Theory and Mathematical Economics; Mannheim 1981, S. 11–42
und als frühe Anwendungen Taylor, Michael: Anarchy and Cooperation; London/New
York 1976; Ders.: Community, Anarchy and Liberty; Cambridge 1982; Ders.: The
Possibility of Cooperation; Cambridge 1987; Schotter, Andrew: The Economic Theory
of Social Institutions; Cambridge 1981; Kliemt, Hartmut: Antagonistische Kooperation;
Freiburg/München 1986), in der realen Geschichte etwa auf das Beispiel Islands (vgl.
Radice, Betty/Baldick, Robert (Hg.): Njal’s Saga; Baltimore, Maryland 1960 und Solvason, Birgir T. R.: Ordered Anarchy, State and Rent-Seeking: The Icelandic Commonwealth 930-1264; Washington D.C. 1990) und mit Bezug auf sogenannte „primitive
Gesellschaften“ auf Diamond, Jared M.: The World Until Yesterday: What Can We
Learn from Traditional Societies?; New York 2012.
3
Die Existenz eines qualitativen Unterschieds wird von den sogenannten Ordoliberalen anerkannt und von den Anarcho-Liberalen bestritten.
2
Liberale Ideal- und Realpolitik in der Außenpolitik des 21. Jahrhunderts
49
feste Regeln oder Doktrinen gebundenen Außenpolitik behandle ich
(6.), bevor ich zum kurzen Schluss gelange (7.).
2. Liberale Rechtspolitik
Der Begriff „liberal“ lässt viele Deutungen zu. Er ist nicht nur ein
Begriff politischer Theorie, sondern auch Teil einer politischen Praxis,
die von Meinungen und vom Kampf um „Begriffsherrschaft“ in der
Meinungsbildung geprägt wird. In Amerika haben von Anhängern des
weltverbessernden paternalistischen Sozialdemokratismus auf der Linken bis hin zu Vertretern des prinzipienfesten Anarcho-Kapitalismus
auf der Rechten nahezu alle Gruppen versucht, die Deutungshoheit
über „liberal“ zu erringen.
In Europa hat der Begriff „liberal“ sich etwas mehr von seiner traditionellen inhaltlichen Bestimmtheit erhalten können. Doch auch hier
umfasst das Spektrum des politischen Liberalismus ziemlich heterogene Positionen, denen keine einzelne Begriffsexplikation gerecht werden
kann. Der Anspruch auf eine verbindliche Begriffsdeutung scheidet
aus. Ohne Verbindlichkeitsanspruch zu erheben, werde ich daher im
Weiteren jene Positionen als „(politisch) liberal“ bezeichnen, deren
primäres Ideal die institutionell-rechtliche Realisierung einer „Fahrordnung für den Verkehr unter Menschen“ ist. Diese Ordnung bestimmt in einer fundamentalen Entscheidung, welche Belange als private und welche als öffentliche Angelegenheiten betrachtet werden
sollen.4
Von einer liberalen Ordnung werden alle mündigen Akteure nach
der Maxime „volenti non fit iniuria“ dazu autorisiert, ihre eigenen
Ziele mit ihren eigenen Mitteln zu verfolgen, solange sie dadurch nicht
die gleichen Rechte anderer verletzen. Der klassische (ordnungs-)politi--------------------------------------------
4 Kukathas identifiziert diese Entscheidung richtigerweise als grundlegend für eine
community. Bei ihm ist es allerdings eher eine Überzeugung als eine rechtliche Festlegung (Kukathas, Chandran: Liberalism, Communitarianism and Political Community;
in: Social Philosophy and Policy, 1/1996, S. 80–104). Hannah Arendt hat in ihren Elementen und Ursprüngen totalitärer Herrschaft bezeichnenderweise herausgearbeitet,
dass totalitäre Strolche wie Heinrich Himmler stolz darauf waren, dass zur Hochzeit des
sogenannten Dritten Reiches niemand mehr privat war (Arendt, Hannah: Ursprünge
und Elemente totalitärer Herrschaft; München 2003).Das sollte uns angesichts des
immer lauter werdenden Rufes nach „mehr Verantwortung“, nach „Gemeinwohlorientierung“, etc. sehr nachdenklich stimmen. Politisierung ist gefährlich, selbst dann, wenn
sie nicht von Strolchen betrieben wird.
50
Hartmut Kliemt
sche Liberalismus verlangt zudem, dass der politische Akt, in dem
definiert wird, was als Sphäre öffentlicher Anliegen und was als Sphäre
privater Zielverfolgung zu begreifen ist, bestimmten Bedingungen unterliegt: Die liberale Grenzziehung der vom Recht als privat respektierten, entpolitisierten und der öffentlichen Sphäre erfolgt unter der
Maßgabe der Bestimmtheit des Rechts und mit dem Ziel, möglichst
viele Belange privater (pluraler) Zielverfolgung zu überantworten,
während der Staat nur subsidiär für alle verbindliche „Gemeinschaftsziele“ verfolgen darf.
Die vorangehend skizzierte ordo-liberale Konzeption ist Ausdruck
interpersonalen Respekts vor pluralen Werten und damit eines Kernanliegens des Liberalismus.5 Diesem Anliegen korrespondiert im zwischenstaatlichen Bereich eine Tendenz zur außenpolitischen NichtEinmischung. Als Orientierung der Außenpolitik taugt ein ordoliberaler Ansatz allerdings wenig. In der Außenpolitik bietet auch im
21. Jahrhundert ein anarcho-liberaler Ansatz die bessere Orientierung.
3. Verrechtlichte Anarchie
Ebenso wie die staatsfreie Interaktion zwischen Individuen muss
zwischenstaatliche Anarchie keineswegs mit Chaos, heißem Krieg und
fortwährenden Kampfhandlungen einhergehen. Unter kleinen Beteiligtenzahlen bzw. – in größeren Netzwerken – bei festen Nachbarschaftsbeziehungen liegt die Entstehung spontaner Ordnung, die den zwischenmenschlichen bzw. zwischenstaatlichen Umgang ohne Zentralgewalt regelt, durchaus im Rahmen des natürlichen menschlichen Verhaltensrepertoires – wie insbesondere Jäger-Sammler-Gruppen, die
während des größten Teils der Menschheitsgeschichte vorherrschten,
zeigen.6
--------------------------------------------
5 Die gleichen Rechte werden durch die Präsenz wechselseitiger Externalitäten nicht
verletzt. Wenn ich eine Würstchenbude als lokaler Monopolist in meiner Straße betreibe, dann ist die Gründung einer Pizzeria in meiner Nähe womöglich negativ für mein
Geschäft. Doch ungeachtet dieser „Externalität“ gibt es in einer liberalen Ordnung keine
legitime Einrede und auch keine Entschädigungsansprüche für meine Gewinnminderung,
die ich geltend machen könnte. J. St. Mills „no harm principle“ ist insoweit nicht besonders hilfreich.
6 Vgl. auch jüngst wieder Diamond, Jared M.: The World Until Yesterday: What Can
We Learn from Traditional Societies?; New York 2012.
Liberale Ideal- und Realpolitik in der Außenpolitik des 21. Jahrhunderts
51
Wie insbesondere auch die Geschichte der zweiten Hälfte des 20.
Jahrhunderts belegt, kann man Einsichten der Analyse anarchischer
inter-individueller Rechtsordnungen auf das anarchische Zusammenleben souveräner Staaten übertragen. Die internationale Anarchie kann
ebenso wie die inter-individuelle weitgehend friedlich und in einem
bestimmten Sinne rechtlich sein. Viele Streitfragen zwischen Staaten
werden mittlerweile nach Maßstäben internationalen Rechts beurteilt
und häufig auch bereinigt.
Die Verrechtlichung zwischenstaatlicher Beziehungen hebt deren
politischen Charakter jedoch nicht auf. So wie die rechtlichen Beziehungen in so genannten primitiven anarchischen Gesellschaften (oder
im nicht-primitiven anarchischen mittelalterlichen Island, s. u.) durch
das Fehlen eines Staates nicht entpolitisiert waren, so bleiben auch die
internationalen Beziehungen primär politisch und nur sekundär –
wenn überhaupt – rechtlich.
Natürlich kann man die Sphäre des Politischen so definieren, dass
Staatlichkeit und die Existenz einer zentralen Normerlass- und Normänderungsregel zum notwendigen Charakteristikum der Existenz von
„Politik“ werden.7 Es gibt dann trivialerweise keine internationale und
natürlich auch keine Außenpolitik.8 Diese Sicht des Politischen wird
aber generell Rechtsordnungen ohne gewalt-monopolistische Rechtsdurchsetzung nicht gerecht. Denn in sogenannten primitiven Gesellschaften führt gerade das Fehlen der Zentralgewalt zur Eliminierung
des „Privaten“ und zur „Politisierung“ der Gesellschaft.9 Die Menschen sind in diesen Gesellschaften fortwährend damit beschäftigt,
intern und extern Allianzen zu bilden. Für die wenigen Beispiele entwickelter rechtlicher Anarchien, von denen wir Kenntnis haben, scheint
Ähnliches zu gelten. Da man hiervon vieles über die Grundlagen einer
die Verrechtlichung anstrebenden liberalen Außenpolitik lernen kann,
lohnt es sich, einen etwas näheren Blick auf Island zu werfen (und
--------------------------------------------
7 Die Bezüge zu Hart sind offensichtlich (Hart, Herbert L. A.: The Concept of Law;
Oxford 1961).
8 Die Tatsache, dass Entitäten, die selbst von zentralen Normänderungsregeln bestimmt werden, beteiligt sind, ergibt keineswegs die Übertragbarkeit des Politikkonzeptes auf deren Beziehungen.
9 Es ist ein Irrtum vieler Anhänger des Anarcho-Liberalismus, dass sie aus der Staatsfreiheit der Anarchie auf deren unpolitischen Charakter schließen. Posner mit seiner
„theory of primitive society“ hätte ihnen als Warnung dienen können; vgl. Posner, R.
A.: The Economics of Justice; Cambridge, MA. 1981.
52
Hartmut Kliemt
damit auf das Lieblingsbeispiel von Anarcho-Liberalen wie David
Friedman)10.
4. Anarchische Binnenpolitik: das Beispiel Islands
Die isländische Rechtsordnung, wie sie uns etwa in Njáls Saga
(1960) geschildert wird, war auch ohne schriftliche Kodifizierung und
schriftliche Fixierung von Präzedenzentscheidungen vor allem prozedural ziemlich komplex. In den auf das Jahr 870 nach der ersten Besiedlung folgenden ca. 200 Jahren wurde das Recht durch mündliche
Überlieferung – und dafür extra benannte Personen – gezielt wach
gehalten. Man versuchte, das positive Recht auch ohne die Möglichkeit der schriftlichen Form zu fixieren.
Die isländische Rechtsordnung erinnert uns stärker an das heutige
sogenannte internationale Recht als an das heutige innerstaatliche
Privatrecht. Das moderne „Privatrecht“ ist immer öffentlich und zentral durchgesetztes Recht. Es ergibt sich aus der politischen Entscheidung, bestimmte Bereiche des Lebens unter Prinzipien der Rechtlichkeit zu entpolitisieren. Die nicht-staatlichen Vertragsparteien dürfen,
wenn die Entpolitisierung durch zentrale (politische) Rechtsdurchsetzung funktioniert, darauf vertrauen, dass die von ihnen eingegangenen
vertraglichen Bindungen weitgehend neutral durchgesetzt werden.
Dieses Vertrauen konnte es in Island einfach deshalb nicht geben, weil
es keine zentrale Durchsetzungsmacht gab.
Trotzdem hatte man es mit einer in vielen Hinsichten zwar weitgehend liberalen und doch entlang vieler Dimensionen durch und durch
politisierten Ordnung zu tun. Das Fehlen zentraler staatlicher Durchsetzung des Rechts führte im mittelalterlichen Island zwar nicht dazu,
dass das formale Recht keine Rolle spielte. Das formale Recht spielte
durchaus eine Rolle dafür, wer am Ende bestimmte Ansprüche durchsetzen konnte. Wie leicht es fiel, Unterstützer zu finden, um Ansprüche
zu realisieren, hing davon ab, was das Recht besagte. Das Fehlen eines
Gewaltmonopols, dessen Rechtsdeutung man einfordern und nach
Gewinn eines „Rechtstitels“ auch auf sich allein gestellt durchsetzen
--------------------------------------------
10 Vgl. zum Folgenden Friedman, David: Private Creation and Enforcement of Law: A
Historical Case; in: The Journal of Legal Studies, 2/1979, S. 399–415 und Solvason,
Birgir T. R.: Ordered Anarchy, State and Rent-Seeking: The Icelandic Commonwealth
930-1264; Washington D.C. 1990.
Liberale Ideal- und Realpolitik in der Außenpolitik des 21. Jahrhunderts
53
konnte, führte aber dazu, dass in der rechtlichen Anarchie am Ende
doch die Macht, die man – u. a. unter Berufung auf das Recht – selbst
mobilisieren konnte, den Ausschlag gab.
Das, was wir heute als „Networking“ bezeichnen, kennzeichnete
das Leben im mittelalterlichen Island durchweg. Die künstliche Entpolitisierung durch eine staatliche Rechtspolitik, die eine gut funktionierende freiheitliche Rechtsordnung kennzeichnet, war vor der Gründung des isländischen Staates noch nicht vollzogen. Daher taten alle
Rechtssubjekte gut daran, für den Streitfall und die dann ggf. notwendige Rechtsdurchsetzung präpariert zu sein.
Wer sich in Island einfach darauf verlassen hätte, dann, wenn er
Recht hatte, auch Recht zu bekommen, wäre nicht in der Lage gewesen, sich in Streitfällen durchzusetzen. Selbst rechtstreu zu sein und
etwa durch eigene Rechtstreue die anderen Akteure auf die eigene Seite
ziehen zu wollen, war keinesfalls eine erfolgversprechende Strategie.
Wir sollten diese Einsichten aus dem Bereich privat-rechtlicher
Anarchie im Rahmen liberaler Außenpolitik beherzigen. Mehr als eine
anarchische Rechtsordnung dürfen wir als Teil der internationalen
Politik nicht erhoffen. Diese Rechtsordnung kann, wie im mittelalterlichen Island und in der internationalen Politik auch heute, eine Rolle
dabei spielen, wie leicht man die Unterstützung anderer Akteure findet. Dies entbindet aber gerade nicht von der Notwendigkeit, sich
unter anderem auch durch Macht-, Bündnis- und Militärpolitik um
eine Verbesserung der Durchsetzbarkeit eigener rechtlicher Ansprüche
zu bemühen.11
5. Keine Weltinnenpolitik
Auch im 21. Jahrhundert bleibt liberale Außen- vornehmlich
Macht-, Bündnis- und nicht ordo-liberale Rechtspolitik. Es geht um
die Suche nach strategischen Gleichgewichten zwischen unabhängigen
(souveränen) Entscheidungsträgern, die – soweit überhaupt – nur unvollkommene (Selbst-)Bindungsfähigkeit besitzen. Das sogenannte
internationale „Recht“ verdient diesen Namen nur in dem gleichen
--------------------------------------------
11 Das ist der Grund, warum ich persönlich zum Ordo-Liberalismus Buchanans neige,
obwohl ich die vertragstheoretischen Überzeugungen meines verstorbenen Freundes
niemals geteilt habe.
54
Hartmut Kliemt
(sekundären) Sinne, wie die Ordnung in sogenannten primitiven Gesellschaften es tut.
Jede Verfolgung liberaler Ideale inter-personellen und inter-nationalen Respektes in der Außenpolitik muss sich der – nach ordo-liberalen Maßstäben geurteilt – „Minderrechtlichkeit“ der außenpolitischen
Beziehungen bewusst bleiben. Verbindliche Verträge, die zentral
durchgesetzt werden können, gibt es nicht, die Masten des Odysseus
sind noch nicht in den rechtlichen Himmel gewachsen, und alle segeln
weiter unter der Piratenflagge des nationalen Interesses (so wie es von
den in den unabhängigen Einheiten Herrschenden jeweils definiert
wird).
Prinzipienfeste Bekenntnisse zu liberalen Idealen der Verrechtlichung bringen diese Ideale einer Realisierung in politisierten Situationen nicht näher. Allein der politische Aufbau hinreichender eigener
Fähigkeiten der Sanktionierung abweichenden Verhaltens kann Absprachen stabilisieren und insoweit auch bei dezentraler Durchsetzung
verbindlich werden lassen. Eine an liberalen Idealen orientierte Außenpolitik wird damit zur klassischen Macht- und Bündnispolitik. Sie ist
Mittel der Durchsetzung anarcho-liberaler Rechtsprinzipien.
Diese technologische Sicht der Außenpolitik führt zu scheinbaren
Inkohärenzen, welche die Gegner des Liberalismus von jeher zu nutzen
suchen, um die Glaubwürdigkeit derjenigen, die liberale Ideale realpolitisch verfolgten, zu diskreditieren. Auch die Liberalen selbst tun sich
schwer, denn wer sich dem rechtlichen Respekt für plurale Werte und
der Toleranz innenpolitisch verpflichtet fühlt, kann in der Außenpolitik die nötige Intoleranz gegenüber der Intoleranz nicht leicht aufbringen.
6. Außenpolitik als Technologie
Die Gründerväter der modernen politischen Theorie, Niccolò
Macchiavelli und Thomas Hobbes, haben den12 technologischen Charakter von Realpolitik verstanden. Sie waren keineswegs Liberale in
unserem Sinne. Aber auch als Liberale tun wir gut daran, die klassischen Einsichten in Verfolgung unserer Ideale zu beherzigen. In einer
Welt knapper Ressourcen wird die Macht, die Ressourcen zu kontrol-------------------------------------------12
Im Sinne von Albert, Hans: Traktat über rationale Praxis; Tübingen 1978.
Liberale Ideal- und Realpolitik in der Außenpolitik des 21. Jahrhunderts
55
lieren, immer eine notwendige Voraussetzung jeder Verfolgung weitergehender Ideale bleiben. Auch die Verfolgung des Ideals, Machtausübung und die Mittelwahl selbst rechtlich zu beschränken, steht unter
dieser Bedingung. Das kann im Extrem erfordern, die eigenen Ideale zu
suspendieren, indem man realpolitische Mittel wählt, deren Gebrauch
man eigentlich ablehnt, sogar auf Dauer eliminieren will. Im realpolitischen Tagesgeschäft geraten die liberalen Ideale damit wie alle politischen Ideale in Gefahr, bis zur Unkenntlichkeit entstellt oder zum
bloßen Bekenntnis zu werden.13
6.1 Kluge Einzelentscheidungen
Der Teufel steckt im Detail. In der Außenpolitik ist das nicht anders als in allen anderen Bereichen unseres (politischen) Lebens. Im
Wust vieler kleiner Entscheidungen unter Anforderungen, die in verschiedenste Richtungen zu weisen scheinen, einem Kompass zu folgen,
ist die wahre Kunst des Möglichen. Die Linie zwischen der Bereitschaft, Kompromisse einzugehen, und prinzipienloser Anpassung an
die Umstände des Augenblicks ist in der Praxis schwer zu ziehen. Ein
Politiker wie Talleyrand etwa erscheint den einen als hemmungsloser
Opportunist, den anderen als Patriot, der es fertigbrachte, in den
wechselnden Zeitläuften scheinbar allen Herren, aber am Ende doch
nur seinen eigenen patriotischen Idealen zu dienen.
Dürfen wir als Liberale etwa zu Ländern, die an der Folter festhalten, normale außenpolitische Beziehungen unterhalten? Falls wir dies
im nationalen Interesse unter Missachtung grundlegender moralischer
Normen interpersonalen Respekts vollziehen, dürfen wir dies, ohne die
Praktiken wenigstens anzuprangern? Müssen wir von unseren diplomatischen Vertretern verlangen, dass sie wenigstens hinter den diplomatisch verschlossenen Türen auf eine Verbesserung der Situation
hinwirken? Sind Bekenntnisse zu verletzten Normen kompensatorisch
erforderlich, wenn wir nichts tun können, um eine Einhaltung der von
uns befürworteten Normen zu sichern? Wie würden wir in einer Situation argumentieren, in der wir etwa die Folterung eigener Staatsbürger
in einem anderen Land nur verhindern könnten, indem wir Staatsbürger dieses Landes zu Geiseln nähmen und ggf. auch foltern würden?
--------------------------------------------
13 Kompromisse können die schönsten Ideale bis hin zum totalitären „Lying for the
Truth“ kompromittieren.
56
Hartmut Kliemt
Noch aufschlussreicher ist möglicherweise die Behandlung von
Fällen, die weniger klar erscheinen. Unser Verhältnis zu Ländern, die
an Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit und zugleich an der Todesstrafe
festhalten, ist für jene ein Prüfstein, die die Verhängung von Körperstrafen insgesamt ablehnen. In einem Fall wie dem der USA kommt die
zusätzliche Komplikation hinzu, dass dieser in vielem vorbildlich liberale bundesstaatliche Rechtsstaat eine unterschiedliche Regelung des
Strafrechts seiner Bundesstaaten zulässt. Was bedeutet für uns die
Tatsache, dass wir diplomatische Beziehungen letztlich nur mit den
USA als ganzer rechtlicher Einheit unterhalten, nicht aber mit den
Teilstaaten? Wie würden wir mit einem Bundesstaat umgehen, der
seinen Teilstaaten beispielsweise die Folter oder andere fundamentale
Eingriffe in die Sphäre der Individuen, die in diesen Territorien leben,
zugestehen würde?
Wenn die Rechte von Individuen wichtiger als kollektive Interessen, wenn individuelle gegenüber kollektiven Gesichtspunkten als vorrangig anzusehen sind, stellt sich zwangsläufig die Frage, warum wir
Individuen anderer Staaten für nicht ebenso schutzwürdig wie die
Bürger unserer eigenen Staaten halten. Die Tatsache, dass wir Bürger
anderer Staaten, die sich auf dem Territorium unseres Rechtsstaates
befinden, im Wesentlichen nach den gleichen Rechtsprinzipien behandeln wie die Bürger unseres Rechtsstaates, weist in diese Richtung.
Aber frei nach Musils Maxime, dass zwar alle Bürger gleich sind, achten wir darauf, dass eben nicht alle Bürger sind, und lassen nicht jeden
auf unser Territorium einreisen. Zwar operiert unser Verfassungsgericht manchmal mit der Formel vom „Weltrechtsprinzip“, wonach
beispielsweise deutsche Bürger, die im Ausland Handlungen begehen,
die dort nicht, bei uns aber sehr wohl unter Strafe stehen, auch bei uns
verfolgt werden. Trotzdem lassen wir nicht jedermann den Schutz
unserer Rechtsordnung angedeihen, egal wo er sich befindet.
Wir unterhalten durchaus freundliche diplomatische Beziehungen
nicht nur zu rechtsstaatlichen und demokratischen Systemen, sondern
auch zu Staaten, die von Schurken geführt werden. Solange die betreffenden Staaten sich als korporierte Akteure in ihrer Außenpolitik nicht
wie Schurken verhalten, reden wir überhaupt nicht von Schurkenstaaten. Erst wenn ein Staat als ganzer sich nach außen „schurkig“ verhält,
tun wir dies. Als anti-kollektivistische Liberale gehen wir dann aber
nicht soweit, alle Bürger von Schurkenstaaten für Schurken zu halten
Liberale Ideal- und Realpolitik in der Außenpolitik des 21. Jahrhunderts
57
oder sie auch nur für das Verhalten der Staaten, in denen sie leben,
verantwortlich zu machen. Die vormalige DDR war kein Schurkenstaat im landläufigen Sinne, doch hinderte das die Oberschurken Erich
Honecker und Erich Mielke nicht daran, viele Schurkereien im Namen
der eigenen Bürger anzuzetteln.
Auch ein Staat, der anders als die vormalige DDR seine eigenen
Bürger unter Beachtung all dessen, was wir für grundlegende liberale
Rechtsstaatsprinzipien halten, behandelt, unseren Staat und unsere
Bürger jedoch in ihren Rechten nicht respektiert, ist eine Denkmöglichkeit. De facto scheint diese Denkmöglichkeit zwar unter liberalen
Rechtsstaaten nicht realisiert zu sein. Dennoch wirft ein solcher hypothetischer Fall Fragen auf, die Schwierigkeiten einer am Grundwert des
Respekts für Individuen und deren Autonomie orientierten (Außen-)Politik deutlich machen.
Ob die These nun zutrifft, dass liberale Rechtsstaaten miteinander
keine Kriege führen werden bzw. keine Fälle von Kriegen dokumentiert sind, bei denen ausschließlich liberale Rechtsstaaten beteiligt waren, kann an dieser Stelle offen bleiben. Auch wenn diese These selbst
nicht ausnahmslos zutreffen sollte, scheint es doch zweifellos zuzutreffen, dass liberale Rechtsstaaten im Umgang mit anderen liberalen
Rechtsstaaten besondere Verhaltensweisen zeigen. Es handelt sich
zwar um äußerlich souveräne Akteure, jedoch unterliegt der Gebrauch
der Souveränität in diesen Fällen richtigerweise inneren Restriktionen.
Ob diese Restriktionen auch im Umgang mit Nicht-Rechtsstaaten
eingehalten werden müssen oder sollten, ist aber zweifelhaft.
Wenn es so etwas geben sollte wie eine strukturelle Tendenz zum
friedlichen Umgang mit anderen liberalen Rechtsstaaten, dann haben
liberale Rechtsstaaten ein natürliches Interesse daran, dass andere
Staaten ebenfalls die innere Struktur des liberalen Rechtsstaates aufweisen. Wie Staaten ihre Bürger im Inneren behandeln, spielt für uns
Bürger liberaler Rechtsstaaten dann eine Rolle, die auch Interventionen rechtfertigen kann.
Damit sind wir einem fundamentalen Problem ausgesetzt: Einerseits erklären wir, was wir als „Menschenrechte“ bezeichnen und den
Schutz dieser Menschenrechte zu einem übergeordneten Ziel, andererseits behandeln wir dieses Ziel im Umgang mit Staaten, die Menschenrechte ihrer eigenen Bürger verletzen, als nachrangig. Sofern unsere
außenpolitischen Interessen das erfordern, drücken wir gern nicht nur
58
Hartmut Kliemt
ein Auge zu, wenn wir in einem ansonsten uns freundlich gesinnten
Staatswesen Einschränkungen der Bürgerrechte beobachten. Soweit
wir mit unserer Zurückhaltung unsere eigenen langfristigen Interessen
an der Sicherung unserer eigenen Rechtsstaatlichkeit potenziell gefährden, wäre eine proaktive und interventionistische Politik womöglich
besser. Vielleicht wären ja etwas mehr Prinzipienfestigkeit im Umgang
mit anderen Staaten und ein entschlossenes Drängen auf deren innere
Rechtsstaatlichkeit („technologisch“) geeignet, ein internationales
Milieu zu schaffen, welches die Welt insgesamt rechtsstaatlicher bzw.
rechtsstaatsfreundlicher werden lässt.
6.2 Kluge Entscheidungsregeln
Von anderen Bereichen menschlicher Praxis wissen wir, dass wir
Ziele besser erreichen, wenn wir die Praxis an feste Regeln und Prinzipien binden und damit gerade nicht jeden Einzelfall nach Einzelurteilen entscheiden14 (Tetlock, 2006). In der medizinischen und psychologischen Diagnostik ist es etwa bekannt, dass ein Vorgehen, das bestimmte halbwegs objektivierbare Indikatoren benutzt, um daran
schematisch bestimmte Handlungsfolgen zu knüpfen, die von den
Interventionen erhofften Ergebnisse zuverlässiger erbringt, als es Experten mit ihren ganzheitlichen, den Einzelfall würdigenden Urteilen
könnten.15 Das gilt sogar dann, wenn das standardisierte Vorgehen
zunächst aus Vorschlägen von Experten entwickelt wurde.16
So gesehen könnte man hoffen, dass auch die Außenpolitik „bessere“ Ergebnisse erbringen würde, wenn sie sich an Standards binden
und nicht von Fall zu Fall vorgehen würde. Im Falle der EisenhowerDoktrin oder der Hallstein-Doktrin, die Staaten im Kalten Krieg zu
einem bestimmten Verhalten motivieren wollten, ging es darum, Anreize für andere Länder zu bestimmten Verhaltensweisen zu schaffen.
Man legte dazu eigene zukünftige Reaktionen durch Vorankündigung
fest. Solche Festlegungen unterliegen zwar allen Problemen der Selbst--------------------------------------------
14 Vgl. kritisch zu Expertenurteilen in der Politik Tetlock, Philip E.: Expert Political
Judgment: How Good Is It? How Can We Know?; neue Aufl., Princeton 2006.
15 Vgl. Meehl, Paul E.: Clinical Versus Statistical Prediciton: A Theoretical Analysis
and a Review of the Evidence; neue Aufl., Lanham, Maryland 1996.
16 Vgl. Kliemt, Hartmut: Constitutional commitments; in: Herder Dorneich, Philip et
al. (Hg.): Jahrbuch für Neuere Politische Ökonomie; Tübingen 1993, S. 145–173 und
Kahneman, Daniel: Thinking Fast and Slow; Baltimore, Maryland 2012.
Liberale Ideal- und Realpolitik in der Außenpolitik des 21. Jahrhunderts
59
bindung, der Glaubwürdigkeit von Versprechen bzw. Drohungen.17
Doch können sich liberale Staaten mit ihrer kritischen Öffentlichkeit
und ihren rechtsförmigen Strukturen in der Regel leichter selbst binden
als etwa autoritäre Systeme dies könnten (wenn überhaupt). Diese
Bindungsfähigkeit beruht wesentlich darauf, dass im Inneren Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit und der sogenannten „rule of law“ durchgesetzt werden können. Prozedurale Normen der rechtsförmigen
Überprüfung von Entscheidungen und die Möglichkeit, Regierungen
aus dem Amt zu wählen, wirken beide daraufhin, die Volatilität der
Entscheidungen an sich souveräner – also äußerlich ungebundener –
(außen-)politischer Akteure zu beschränken. Sie werden von ihren
eigenen Gerichten an den von ihnen erlassenen Rechtsnormen und von
den eigenen Bürgern an den von ihnen gemachten Ankündigungen
gemessen. Ihre Fähigkeit, opportunistisch zu handeln, ist damit eingeschränkter als in Systemen ohne (liberale) Rechtsstaatlichkeit. Das ist
ein Vorteil, den liberale Außenpolitik bewusster nutzen sollte. Selbstbindungsfähigkeit kann durchaus einen Aspekt der Machtentfaltung
bilden. Der außenpolitische strategische Gebrauch solcher Mittel ist
noch unterentwickelt. Es ist eine der Aufgaben der liberalen Außenpolitik des 21. Jahrhunderts, mit den Erfordernissen der Machtpolitik
kompatible strategische „Commitments“ zur Förderung liberaler Ziele
einzugehen. Wir machen von dieser Technologie bislang zu wenig
Gebrauch.
7. Zu guter Letzt: Weniger Politik wäre mehr
Eine der innerstaatlichen Wirkung zentraler und neutraler Rechtsdurchsetzung entsprechende relative Entpolitisierung der Rechtsbeziehungen ist mit Bezug auf die Außenpolitik nicht in Sicht. Zwar gibt es
Bereiche, in denen beispielsweise in Europa aus früherer Außenpolitik
aufgrund der zentralen Durchsetzung dezentral wirksamer Normen
europäische Innenpolitik geworden ist. Ein bestimmter Bereich wurde
etwa durch die Straßburger Gerichtsbarkeit dem Zugriff im engeren
Sinne politischer Instanzen zugunsten rechtlicher, insbesondere gericht--------------------------------------------
17 Ausführlicher nachlesbar in Kliemt, Hartmut: Constitutional commitments;
a. a. O., S. 145–173 und technisch elaborierter in Güth, Werner/Kliemt, Hartmut: The
Rationality of Rational Fools; in: Peter, Fabienne/Schmid, Hans Bernhard (Hg.): Rationality and Commitment; Oxford 2007, S. 124–149.
60
Hartmut Kliemt
licher, Institutionen entzogen. Das Ergebnis ist fragil, weil die entsprechenden Interessengruppen tatkräftig mit dem „rent-seeking“ begonnen haben. Sie zielen unter dem Deckmantel von Harmonisierung und
internationaler Gerechtigkeit auf zentrale Regulierungen als besonders
effiziente Maßnahmen zur zentralen Durchsetzung von Partikularinteressen. Hier steht die liberale Außenpolitik vor ihren größten Herausforderungen und der Frage, inwieweit die Zeit reif dafür ist, ordoliberale und nicht nur anarcho-liberale Ziele mit Bezug auf Europa zu
verfolgen. Die Amerikaner können uns auch hier als Beispiel und
Warnung dienen. Ihnen gegenüber haben wir zumindest zwei Vorteile:
Zum einen enthalten die europäischen Verträge explizite Austrittsklauseln, zum anderen ist die kulturelle und sprachliche Vielfalt in Europa
ein Schutz vor zu viel Harmonisierung. Ein echter Föderalismus, der
eine Politik zwischen Außen- und Innenpolitik, zwischen Anarchound Ordoliberalismus ermöglicht, wäre ganz im Sinne der ursprünglichen amerikanischen Verfassungsväter (der zweiten amerikanischen
Verfassung) und auch ein Ideal für Europa. Das Schicksal des amerikanischen Föderalismus ist aber hinsichtlich der Realisierung liberaler
Ideale interjurisdiktioneller Konkurrenz gewiss nicht nur ermutigend.
Globalisierung, internationale Organisationen und Multilateralismus
61
Johannes Varwick
Globalisierung, internationale Organisationen
und Multilateralismus in einer komplexen
Welt – liberale Antworten?
1. Vorbemerkung
Die Außen- und Sicherheitspolitik der Bundesrepublik Deutschland war lange von beachtlicher Kontinuität geprägt. Seit einigen Jahren hat sie sich jedoch zunehmend von einigen etablierten Bezugspunkten gelöst und bewegt sich im Spannungsfeld zwischen Kontinuität
und Wandel inzwischen recht deutlich in Richtung Wandel. Beispiele
dafür sind etwa die deutsche Haltung in der Libyen-Frage (erstmals
stimmte Deutschland im März 2011 anders ab als alle anderen im VNSicherheitsrat vertretenen NATO- und EU-Partner) sowie die sich
immer deutlicher abzeichnende Führungsrolle in der Europäischen
Union. Die Welt, in der sich deutsche Außen- und Sicherheitspolitik
bewegen muss, wird sich in den kommenden Jahrzehnten aller Wahrscheinlichkeit nach ebenso rasant verändern, wie dies in den vergangenen Jahrzehnten der Fall war. Es wird dabei wie stets in der Geschichte
Überraschungen geben, das Unvorhergesehene und das Unvorhersehbare werden die Politik mindestens ebenso stark prägen wie das heute
zu Erwartende.
Es ist zunächst darauf hinweisen, dass man sich dieser wie auch
anderen Fragestellungen aus mindestens drei Perspektiven nähern kann
– die jeweils eine eigene Rationalität besitzen. Man könnte
– erstens mit einer Entscheiderperspektive, also einer politischen
Logik,
–
–
zweitens mit einer Beamtenperspektive, also einer bürokratischen Logik aus Sicht des Apparates und
drittens mit einer Beobachterperspektive, also einer externen
analytischen Logik an diese Frage herantreten.
62
Johannes Varwick
Dieser Beitrag argumentiert dezidiert aus der dritten Perspektive –
was nicht heißt, dass kein Verständnis für die anderen beiden Perspektiven bestehen oder ihnen gar eine innere Logik abgesprochen würde.
Diese sind im besten Fall ebenfalls rational, aber eben zweckrational.
Anders formuliert: Es geht in diesem Beitrag nicht um (partei)politische Positionen bzw. Positionierung1 oder die von vielfältigen Zwängen geprägte Sichtweise der Administration, sondern um den Versuch,
aus wissenschaftlicher Sicht einige strategische Grundfragen des Themenbereichs Globalisierung, internationale Organisationen und Multilateralismus in einer komplexen Welt zu behandeln. Ich beschränke
mich dabei auf die Frage, welche Bedeutung internationale Organisationen und multilaterale Arrangements in der Welt der kommenden
Jahre haben werden, und was dies für die zentrale Organisation des
globalen Multilateralismus – die Vereinten Nationen (VN) – bedeuten
könnte. Daraus abgeleitet werden vier zentrale Themengebiete dieser
Fragestellung identifiziert, denen sich deutsche Außenpolitik zuwenden
sollte, und Elemente einer denkbaren liberalen Agenda formuliert.
2. Globalisierung und internationale Organisationen: ein
konzeptioneller Problemaufriss
Hintergrundfolie für die Bedeutung internationaler Organisationen
und multilateraler Politik ist zunächst der seit längerer Zeit anhaltende
Prozess der Globalisierung.2 Dieser kann allgemein als ein Prozess
zunehmender Verbindungen zwischen Gesellschaften und Problembereichen dergestalt definiert werden, dass Ereignisse in einem Teil der
Welt in zunehmendem Maße Gesellschaften und Problembereiche in
anderen Teilen der Welt berühren. Bei diesen Verbindungen ist erstens
eine quantitative Zunahme, zweitens eine qualitative Intensivierung
und drittens eine räumliche Ausdehnung empirisch feststellbar. Dabei
erodiert zunehmend jene Kongruenz von Staatsgebiet, Staatsvolk und
Staatsmacht, von Territorialität und Souveränität, die den Nationalstaat kennzeichnet. Neben Staaten und internationalen Organisationen
--------------------------------------------
1 Dieser Beitrag nimmt insofern auch keinen Bezug auf die Programmdebatte der FDP
im engeren Sinne und ist auch dezidiert nicht als solcher zu verstehen.
2 Vgl. Varwick, Johannes: Globalisierung, in: Woyke, Wichard (Hg.): Handwörterbuch internationale Politik; 12. Aufl., Opladen 2011, S. 176-186.
Globalisierung, internationale Organisationen und Multilateralismus
63
treten mit transnationalen Konzernen und einer transnational vernetzten Zivilgesellschaft neue Akteure auf die Bühne der Weltpolitik.
Die Ausprägung der genannten Globalisierungsdimensionen kann
(liberale) Außenpolitik nicht unberührt lassen und hat dementsprechend auch programmatische Konzepte hervorgebracht.3 Zentraler
Befund bei der Globalisierung der Politik ist die feststellbare Erosion
nationalstaatlicher Souveränität. Die Einheit von Entscheidungsmacht
und Entscheidungswirkung, die der umfassenden Dispositionsgewalt
des Staates über gesellschaftliche Verhältnisse zugrunde lag, gehört in
vielen Bereichen der Vergangenheit an. Handlungsrelevante Räume
sind heute somit in erster Linie funktional und nicht mehr territorial
bestimmbar. Bestandteil dieses Prozesses ist:
–
sowohl erstens die steigende Bedeutung internationalisierter
politischer Kooperationsformen, die im Einzelfall supranationale Entscheidungsmechanismen entwickeln können;
–
als auch zweitens die zunehmende Sektoralisierung der internationalen Politik in grenzüberschreitenden Problemfeldern
wie Sicherheitspolitik, Umweltpolitik, Finanzpolitik u. a. m.,
bei denen deutlich wird, dass der Nationalstaat als alleiniger
Handlungsrahmen ausgedient hat.
Das internationale System besteht zu Beginn des 21. Jahrhunderts
aus weniger als 200 Staaten, von denen – mit steigender Tendenz –
etwas mehr als 46 Prozent als ‚frei‘ zu bezeichnen sind.4 Dazu kommen nach Zählweise der ‚Union of International Associations‘ (UIA)
rund 26.000 internationale Verträge, 5.200 Regierungsorganisationen,
über 15.000 Nichtregierungsorganisationen und etwa 40.000 transnationale Konzerne. Diese Zahlen relativieren sich etwas, wenn man
nach der klassischen Definition zählt: So kommt die UIA auf 246 völkerrechtsfähige International Governmental Organisations (IGOs) und
--------------------------------------------
3 Siehe etwa das unter Federführung des Auswärtigen Amts entstandene Konzept der
Bundesregierung „Globalisierung gestalten – Partnerschaften ausbauen – Verantwortung
teilen“ vom Februar 2012 (http://www.auswaertiges-amt.de/cae/servlet/contentblob/
608384/publicationFile/169956/Gestaltungsmaechtekonzept.pdf).
4 Nach der – sicherlich angreifbaren – Zählweise von Freedom House sind 2013 90
Staaten frei, 58 teilweise frei und 77 nicht frei; Freedom House: Freedom in the World
2013; Washington 2013.
64
Johannes Varwick
auf 7.306 International Non-Governmental Organisations (INGOs)
mit weltweiter oder regionaler Mitgliedschaft.5
Die Verdichtung globaler Verflechtungen in den Bereichen Wirtschaft, Kultur, Ökologie, aber auch Technologie, Kommunikation,
Verkehr, Migration u.a.m. hat mithin zu abnehmender Steuerungsfähigkeit des einzelnen Staates geführt. Eine breite Palette von Problemen ist nur noch auf dem Weg internationaler Zusammenarbeit
zu regeln. Dabei zwingt die Globalisierung nationalstaatliche Politik
nicht zuletzt in einen Wettbewerb um ‚globalisierungstaugliche‘ Wirtschafts-, Sozial- und Gesellschaftssysteme. Gerade dieser Wettbewerb –
bei dem es, wie bei jedem Wettbewerb, Gewinner und Verlierer geben
wird – macht einen Großteil der Befürchtungen aus, die mit dem Begriff Globalisierung verbunden werden. Unter globalisierten Rahmenbedingungen ist eine abnehmende Fähigkeit und Bereitschaft von Staaten zu konstatieren, durch Umverteilung von Ressourcen Wohlfahrt zu
stiften. So verstanden, deckt Globalisierung auch ‚Konstruktionsmängel‘ von nationalen politischen und sozialen Systemen auf, die bei weniger offenen Märkten nicht derart zutage getreten wären. In Folge der
globalen Finanzkrise seit 2008/2009 zeigte sich zudem, dass die in der
Gruppe der 8 (G-8) organisierten wichtigsten westlichen Industrienationen gezwungen wurden, bedeutende Schwellenländer in eine „Gruppe
der 20“ (G-20) einzubinden und auf Gipfeltreffen die Grundrisse einer
neuen internationalen Finanz- und Wirtschaftsarchitektur zu erarbeiten. Auch wenn dieser Prozess noch nicht abgeschlossen ist, wird das
Gewicht der neuen Akteure im „G-20-Club“ zunehmen und die internationale Politik verändern.6
Einen erheblichen Teil des gegenwärtigen Weltordnungsdiskurses
macht die Frage aus, ob über zwischenstaatliche Politik hinaus verbindliche Regelungen geschaffen werden können und müssen, die die
in zahlreichen Politikfeldern erodierende nationale Souveränität im
globalen Interesse relativieren und gleichzeitig die Fähigkeit zur Steuerung grenzüberschreitender Probleme zurückgewinnen. In einer kleiner
--------------------------------------------
5 Vgl. statt vieler: Tietje, Christian/Brouder, Alan (Hg.): Handbook of transnational
Economic Governance Regimes; Leiden/Boston 2009 und Schieder, Siegfried: Internationale Organisationen; in: Schmidt, Manfred G. u. a. (Hg.): Studienbuch Politikwissenschaft, Wiesbaden 2013, S. 439-464.
6 Siehe dazu etwa Rode, Reinhard: Der schleichende Niedergang des Westens. Multilateralismus als Gegenmittel; Münster 2010 und Grätz, Jonas: The De-Westernisation of
Globalisation; in: Thränert, Oliver (Hg.): Strategic Trends 2013; Zürich 2013, S. 15-36.
Globalisierung, internationale Organisationen und Multilateralismus
65
werdenden Welt existiert ein Bedarf an Leistungen, die traditionell
durch den Staat erbracht worden sind und heute nicht mehr durch
diesen übernommen werden können. Wie dieser Bedarf gedeckt werden könnte, wird in der Politikwissenschaft in ihren sehr unterschiedlichen ‚Schulen‘ kontrovers diskutiert.7
Vertreter der realistischen Schule sehen insofern keinen Handlungsbedarf, als dass Globalisierung zwar das ökonomische, soziale
und kulturelle Leben erheblich verändern mag, der Nationalstaat aber
zentrale Instanz in der internationalen Politik bleibt. Vertreter der
liberalen Schule bewerten diesen Befund anders. Für sie bedeutet Globalisierung eine fundamentale Transformation weltpolitischer Prozesse, die realistische Vorstellungen zunehmend obsolet erscheinen lässt.
Internationale Beziehungen stellen sich für sie als Spinnwebmodell dar,
in welchem der Staat als ein (wichtiger) Akteur unter vielen verstanden
wird, der aber nicht mehr in der Lage ist, das Geschehen auf seinem
Territorium isoliert zu bestimmen.
Da aber gleichwohl hoher Regelungsbedarf für grenzüberschreitende Probleme gesehen wird, sucht man nach alternativen Steuerungsmodellen in der globalisierten Welt. Ein Versuch zur Bewältigung der globalen Herausforderungen wird unter dem Schlagwort
‚Global Governance‘ diskutiert, welche insbesondere durch die Arbeit
der von Willy Brandt angeregten ‚Kommission für Weltordnungspolitik‘ (Commission on Global Governance) bekannt wurde. Diese unabhängige Kommission griff in ihrem 1995 vorgelegten Abschlussbericht
die bereits zuvor in der Wissenschaft geführte Debatte auf und versuchte, den Begriff inhaltlich zu füllen. Die Kommission definiert Global
Governance als „die Gesamtheit der zahlreichen Wege, auf denen Individuen sowie öffentliche und private Institutionen ihre gemeinsamen
Angelegenheiten regeln“.8 Der Begriff umfasst sowohl formale Institutionen und mit Durchsetzungsmacht versehene Herrschaftssysteme als
auch informelle Regelungen. Grunderkenntnis ist dabei, dass sich bei
--------------------------------------------
7 Die liberale Schule ist eine Strömung innerhalb der IB-Theorien, die nicht notwendigerweise mit Liberalismus im parteipolitischen Sinne übereinstimmt. Sie betont die
Auswirkungen interner Verhältnisse eines Staates für sein außenpolitisches Verhalten,
berücksichtigt auch gesellschaftliche Akteure und setzt im Verhältnis zur realistischen
Schule stärker auf eine „Evolution“ der internationalen Beziehungen durch Kooperation.
Als Liberaler im parteipolitischen Sinne kann man insofern Anhänger unterschiedlicher
Theorieschulen sein; siehe Punkt 6.
8 Kommission für Weltordnungspolitik: Nachbarn in einer Welt; Bonn 1995, S. 4.
66
Johannes Varwick
Globalisierung der Probleme auch ‚die‘ Politik globalisieren muss, was
sich jedoch nicht nur auf die klassische Zusammenarbeit zwischen den
Staaten bezieht, sondern auch auf die Entwicklung eines neuen Politikmodells jenseits eines simplen Mehr an Multilateralismus und intensiviertem globalen Denken zielt, bei dem staatliche und nichtstaatliche
Akteure auf verschiedenen Ebenen neuartig zusammenarbeiten.
Das Konzept hat seitdem zahlreiche Wissenschaftler zu Definitionsversuchen und einer inhaltlichen Ausarbeitung angeregt,9 deren
erste Gemeinsamkeit ist, dass sie sich bewusst von den weltföderalistischen Vorstellungen einer Art Weltregierung abgrenzen. Somit
meint ‚Global Governance‘, verstanden im Sinne der deutschen Übersetzung als ‚Weltordnungspolitik‘:
–
erstens die Neudefinition staatlicher Souveränität, mit der die
Basisprinzipien des Souveränitätskonzeptes (Unverletzbarkeit
der Grenzen, Verbot der Einmischung in ‚innere‘ Angelegenheiten, alleinige Verfügungsgewalt des Staates über gesellschaftliche Verhältnisse) infrage gestellt werden;
–
zweitens die Verdichtung und Verrechtlichung der internationalen Beziehungen durch internationale Organisationen und
Regime, die als institutionalisierte Formen des norm- und regelgeleiteten Verhaltens bei der politischen Bearbeitung von
Konflikten in unterschiedlichen Sachbereichen verstanden
werden und die auf gemeinsamen Prinzipien, Normen, Regeln
und Entscheidungsverfahren aufbauen sowie
–
drittens die Fokussierung auf die Erweiterung des Kreises der
Akteure über die Staaten und klassischen internationalen Organisationen hinaus und die Entwicklung eines neuen Politikstils.
Im Mittelpunkt globaler Strategiekonzepte stehen das System der
Vereinten Nationen, andere internationale Organisationen wie etwa
die Welthandelsorganisation (WTO), internationale Regime wie etwa
das zur Nichtverbreitung von Atomwaffen oder das Klimaschutzregime, regionale Zusammenschlüsse wie etwa die Europäische Union,
die als Kerne und Katalysatoren einer solchen Entwicklung wirken
--------------------------------------------
9 Statt vieler: Baylis, John/Smith, Steve/Owens, Patricia (Hg.): The Globalization of
World Politics; 5. Aufl., Oxford 2011; Rittberger, Volker/Kruck, Andreas/Romund,
Anne: Grundzüge der Weltpolitik. Theorie und Empirie des Weltregierens; Wiesbaden
2010 und Neyer, Jürgen: Globale Demokratie; Baden-Baden 2013.
Globalisierung, internationale Organisationen und Multilateralismus
67
könnten, aber auch verschiedene globale Netzwerke. Die tragenden
Akteure solcher globalen Netzwerke sind internationale Nichtregierungsorganisationen (INGOs) der sogenannten internationalen Zivilgesellschaft. Die Einsicht in die Unzulänglichkeit rein zwischenstaatlicher Kooperationsprozesse wie auch die oft bescheidenen Politikergebnisse klassischer internationaler Organisationen sollen dabei den
Grundstein für das Entstehen neuer Kooperationsformen zwischen
öffentlichen und privaten Akteuren auf dem Weg zu einer ‚global public policy‘ bilden. Zunehmend rückt dabei auch die Kooperation mit
Unternehmen der Privatwirtschaft (den so genannten ‚Business International Nongovernmental Organizations‘, BINGOs) in das Blickfeld.
Ob jedoch eine grundlegende Machttransformation (power shift) von
der Staatenwelt zu einer transnational vernetzten Zivilgesellschaft
feststellbar ist, muss mit einigen Fragezeichen versehen werden. Zumindest muss hier erneut nach Politikfeldern, aber zusätzlich auch
nach Weltregionen, differenziert werden. Denn auch die globalisierte
Welt lässt sich nicht über einen Kamm scheren.
Globalisierung bedeutet die sich beschleunigende erdumspannende
Vernetzung von Akteuren und Aktionsfeldern. Dabei sind insbesondere die Problembereiche, die sich nicht (mehr) national bearbeiten lassen, ein zuverlässiger Indikator für den bereits erreichten Stand der
Globalisierung. Somit besteht die zentrale Herausforderung für die
internationale Politik darin, nach grenzüberschreitenden Substituten
für die abnehmende Steuerungsfähigkeit auf der nationalstaatlichen
Ebene zu suchen. Wie unter diesen Voraussetzungen demokratisches
und effektives Regieren jenseits des Nationalstaates möglich sein kann,
gehört zu den offenen Fragen der Politikwissenschaft. Das Einfordern
‚intelligenter‘ Mechanismen für diesen Problembereich bedeutet nichts
anderes, als dass diese noch nicht gefunden sind.
Kommen wir nun in einem dritten Schritt zu der Frage, wie sich in
einer globalisierten Welt multilaterale Politik verändert hat, bevor
Elemente einer liberalen außenpolitischen Agenda skizziert werden.
3. Multilateralismus im Wandel
Nach einer formal-deskriptiven Definition bezeichnet Multilateralismus die Praxis der Koordination nationaler Politiken von drei oder
mehr Staaten durch Ad-hoc-Vereinbarungen oder Institutionen. Damit
68
Johannes Varwick
ließe sich aber nahezu jede Form zwischenstaatlicher Zusammenarbeit
jenseits von Uni- und Bilateralismus als multilateral bezeichnen. Auf
der anderen Seite stehen normativ gehaltvolle Konzepte, die Multilateralismus als Politikstil verstehen, bei dem die zwischenstaatlichen Beziehungen auf der Basis bestimmter allgemein akzeptierter Verhaltensregeln und Prinzipien ablaufen. Kennzeichnend ist in dieser Perspektive
eine, wie Robert Keohane10 es klassisch genannt hat, Kultur der Reziprozität, der gegenseitigen Verlässlichkeit und des prinzipiellen Verzichts auf unabgestimmtes Verhalten.
In der Wissenschaft zeichnet sich eine Dichotomie zwischen zwei
Formen des Multilateralismus ab: der sogenannten ‚klassischen’ und
der ‚neuen’ Form. Der klassische Multilateralismus ist der institutionalisierte, formalisierte Multilateralismus, symbolisiert insbesondere
im VN-System, und der neue Multilateralismus ist der selektive Multilateralismus eines Zusammenschlusses Gleichgesinnter zur Lösung
bestimmter Probleme. Während das klassische Verständnis größtenteils dem hergebrachten deutschen Verständnis entspricht, zeichnet
sich der ‚neue Multilateralismus’ durch eine lockerere Form von Adhoc-Koalitionen und eine größere Betonung der Output-Legitimität
aus.
Wer nun der Auffassung ist, diesem instrumentellen Verständnis
von Multilateralismus stünde ein einheitliches europäisches Verständnis gegenüber, dem muss entgegnet werden, dass auch in Europa unterschiedliche Varianten des Denkens über Multilateralismus anzutreffen sind:11
–
So ist erstens eine ‚deutsche Denkschule’ auszumachen, für die
Multilateralismus an sich als ein Gewinn gilt. Verhandlungen
und eine Strategie des langen Atems werden als die entscheidenden Parameter gesehen, um eine ordnungspolitische Alternative zur Macht- und Gewaltpolitik darzustellen.
--------------------------------------------
10 Keohane, Robert O.: Reciprocity in International Relations; in: International Organization 1/ 1986, S. 1-27. Siehe als gute Zusammenfassungen zur neueren, in der
Wissenschaft breit geführten Multilateralismusdebatte: Cox, Robert (Hg.): The New
Realism: Perspectives on Multilateralism and World Order; London 2007, sowie Koops,
Joachim: The European Union as an Integrative Power? Assessing the EU's 'Effective Multilateralism' towards NATO and the United Nations; Brussels 2011.
11 Siehe dazu ausführlicher Varwick, Johannes: Völkerrecht und internationale Politik
– ein ambivalentes Verhältnis; in: Breit, Gotthard (Hg.): Recht und Politik. Eine Einführung; Schwalbach 2005, S. 109-133.
Globalisierung, internationale Organisationen und Multilateralismus
69
Zweitens ist eine ‚französische Denkschule’ anzutreffen, die
Multilateralismus primär als Instrument einer politischen Multipolarität sieht.
–
Drittens kann von einer ‚britischen Denkschule’ gesprochen
werden, die einen Kompromiss zwischen den beiden erstgenannten darstellt und eher pragmatisch orientiert ist. Das
Hauptanliegen dieser Denkschule ist es, internationale Probleme effektiv und wenn möglich durch multilaterale Kooperation zu lösen.
Aus diesen Schulen abgeleitet gilt, dass es in der Wissenschaft, aber
auch in der Politik der Staaten sehr unterschiedliche Betrachtungsweisen hinsichtlich der Bedeutung internationaler Abkommen und völkerrechtlicher Regeln gibt. Die beiden Extrempositionen lassen sich wie
folgt zuspitzen:
–
Eine ‚legalistische Schule’ sieht in völkerrechtlichen Arrangements ein extrem hohes Gut, dem politische Erwägungen unterzuordnen sind. Wenn Staaten Verpflichtungen eingegangen
sind, dann müssen sie sich auch an diese halten, weil andernfalls eine Grundvoraussetzung internationaler Kooperation beschädigt wird. Es wird akzeptiert, dass durch völkerrechtliche
Arrangements die staatliche Souveränität insofern beschnitten
wird, als dass diese staatliches Verhalten determinieren.
–
Eine ‚politikorientierte Schule’ stellt völkerrechtliche Arrangements stärker in einen politischen Kontext und betont, dass
es letztlich politischen Entscheidungen der Regierungen vorbehalten bleiben soll und muss, ob sich diese an überstaatliche
Regelungen halten oder nicht. Völkerrechtliche Regelungen
sind ein Abwägungsfaktor unter vielen anderen und dürften
demnach nicht den Anspruch erheben, maßgeblich handlungsleitend zu sein.
Es ist inzwischen Allgemeingut, dass sich die machtpolitischen
Gewichte in dieser Welt massiv verschoben haben. Jenseits etablierter
multilateraler Formate haben sich in den vergangenen Jahren neue
Formate entwickelt bzw. an Bedeutung gewonnen. Der Begriff ‚Club
Governance‘ beschreibt das Phänomen solcher informeller Kooperations- und Abstimmungsmechanismen. Im Gegensatz zu den institutionalisierten Formen internationaler Kooperation ist eine derartige Zusammenarbeit geprägt durch einen schwachen Institutionalisierungs–
70
Johannes Varwick
grad. Solche Clubs sind also keine klassischen internationalen Organisationen oder Regime, sondern informelle oder/und schwach institutionalisierte Zusammenkünfte von Staatenvertretern in einem beschränkten Teilnehmerkreis. In den vergangenen Jahren ist eine Art
‚Proliferation von Clubs‘ auszumachen. Die G-20 ist dabei nur ein
besonders prominentes Beispiel. Club-Formate, die bestimmte Interessen oder auch Werte verfolgen und auf die Bearbeitung konkreter
Probleme zielen, sind also eine Form des selektiven Multilateralismus.
Denkbar sind verschiedene Ad-hoc-Formate und informelle Netzwerke. Der Grad der Institutionalisierung wird bewusst niedrig gehalten,
um die Informalität und Flexibilität dieser Formate zu gewährleisten.
Will man den Versuch unternehmen, die Leistungsfähigkeit, die
Grenzen und Chancen der Club-Governance im Vergleich zum klassischen Multilateralismus auszuloten, dann lassen sich mit Ulrich Schneckener12 die Parameter Legitimität, Effektivität, Kohärenz und Ressourcenmobilisierung unterscheiden.
–
Legitimität: Wer ist an Entscheidungen beteiligt und wer hat
Zugang zum Club?
–
Effektivität: Sind die Gremien in der Lage, ihre Ziele zu erreichen und zu ‚liefern‘?
–
Kohärenz: Sind die Beschlüsse einigermaßen widerspruchsfrei
und aufeinander abgestimmt?
–
Ressourcenmobilisierung: Können finanzielle und politische
Ressourcen zur Umsetzung der gefassten Beschlüsse mobilisiert
werden?
Daraus lässt sich ein ‚magisches Viereck multilateraler Politik‘
konstruieren, mit dessen vier Ecken Legitimität, Effektivität, Kohärenz
und Ressourcenmobilisierung die Relevanz solcher Foren zu einem
großen Teil determiniert wird. Es lässt sich argumentieren, dass mit
Formen des selektiven Multilateralismus unter Umständen effektiv
agiert werden kann, die Legitimität aber nicht besonders hoch ist.
Gleichwohl kommt es dabei auf die Frage an, ob man – um es in der
Terminologie von Fritz Scharpf13 auszudrücken – eher auf die sogenannte output-Legitimität oder eher auf input-Legitimität zielt. Die
informellen Elemente sind dabei für die Lösung aktueller Krisen und
Konflikte zuständig. Die formellen Elemente konzentrieren sich auf die
-------------------------------------------12
13
Schneckener, Ulrich: Globales Regieren durch Clubs; Berlin 2009.
Scharpf, Fritz W.: Regieren in Europa; Frankfurt a. M./New York 1999.
Globalisierung, internationale Organisationen und Multilateralismus
71
Implementierung und vor allem die Legitimation der Ergebnisse der
informellen Gruppen. So ein „Multilateralism light“14 erinnert aber an
das Konzert der europäischen Mächte im 19. Jahrhundert: keine formalen Regeln oder Verträge, keine permanenten Strukturen, Entscheidungen fallen immer auf Konsensbasis und sind selektiv und exklusiv.
Die gegenwärtigen Entwicklungen in den Bereichen Multilateralismus und Global Governance sind eng miteinander verbunden. Die
Evolution der G-20 markiert in doppelter Hinsicht einen Einschnitt in
der Entwicklung von Global Governance:
Sie ist:
–
erstens auffälliges Zeichen der Anerkennung der zunehmenden
Interdependenz in der globalen Politik wie auch der Bedeutung
der „emerging markets and powers“; und
–
zweitens repräsentiert sie einen Schwenk von einem wertebasierten zu einem interessensbasierten Multilateralismus, oder –
technisch gesprochen – den Sieg von relativen Gewinnen und
Machtpolitik über absolute Gewinnen und klassischen Multilateralismus.
Aber die „Clubgovernance“ trägt wenig zu einer Synthese bei:
denn deren Wesen ist von Einschränkung und Selektion geprägt, wohingegen die wichtigsten Topoi von Global Governance Entgrenzung
und Verbindung sind. Und mehr noch: Im Zentrum der Clubs stehen
die klassischen Akteure des Realismus (Regierungen!), im Gegensatz
zur Grundannahme von Global Governance, eben ein breiteres Akteursensemble einzubeziehen. Allenfalls ließe sich Clubgovernance als
neuer „Staats-Akteur-Kern“ in dieser Architektur verorten. Unabhängig davon: Es ist vor allem der Druck dieses paradigmatischen Wandels im Verständnis von Multilateralismus, mit dem sich internationale
Organisationen gegenwärtig konfrontiert sehen und der – so wird im
Folgenden argumentiert – auch die deutsche Außenpolitik herausfordert.
4. Konsequenzen: Deutschland und die Vereinten Nationen
Die Vereinten Nationen bilden nach offizieller deutscher Einschätzung ein unverzichtbares Kernstück innerhalb der multilateralen Ori--------------------------------------------
14 Penttilä, Risto E.: Multilateralism light: The rise of informal international governance; London 2009.
72
Johannes Varwick
entierung des Landes. Dieser Ansatz wird in Deutschland sowohl von
einem breiten parteipolitischen Konsens als auch durch intensive zivilgesellschaftliche Unterstützung getragen. Die Stärkung des Multilateralismus im VN-Rahmen ist dabei traditionell zentrales deutsches Interesse. Diese Einschätzung gilt für alle Bundesregierungen der Nachkriegszeit. Es gibt wohl kaum ein globales Problem, bei dessen Bearbeitung den VN nicht eine Schlüsselrolle zugeschrieben würde. Das
Themenspektrum reicht von der Friedenssicherung über das Engagement für weltweite nachhaltige Entwicklung und den Kampf gegen
Armut, die Stärkung der Menschenrechte, die Steuerung der globalen
Umweltprobleme bis hin zum Kampf gegen den internationalen Terrorismus mitsamt seiner vielschichtigen Ursachen.
Deutsche VN-Politik zeichnet sich durch ein Engagement in der
ganzen Breite der VN-Themen aus und ist dementsprechend vielfältig.15 Neben den medien- und öffentlichkeitswirksamen Bereichen gibt
es eine breite Palette an Themen, bei denen sich Deutschland finanziell
und konzeptionell engagiert. Im Folgenden wird dies an zwei Bereichen exemplarisch beleuchtet: der VN-Friedenssicherung und Schutz
der Menschenrechte sowie dem Thema VN-Reform.
4.1 VN-Friedenssicherung und Menschenrechtsschutz
Am obersten Ziel der VN-Charta, die Welt ‚von der Geißel des
Krieges zu befreien‘, wirkt Deutschland aktiv mit. An VN-Friedensmissionen beteiligte sich die Bundesrepublik seit ihrem Beitritt im Jahr
1973 zunächst durch die Bereitstellung von Gerät und Transportkapazitäten. Deutschland gehört zwar traditionell zu den VN-freundlichsten Staaten und sieht sich mithin als einen der aktivsten Anwälte
eines effektiven VN-Multilateralismus. Im Bereich der VN-Friedenssicherung ist Deutschland aber ein vergleichsweise junger Akteur, da
angesichts der weltpolitischen Lage und innenpolitischer Restriktionen
die Beteiligung an internationalen Friedenssicherungseinsätzen erst seit
Anfang der 1990er Jahre in nennenswertem Ausmaß möglich wurde.
--------------------------------------------
15 Siehe etwa Auswärtiges Amt: Bericht der Bundesregierung zur Zusammenarbeit
zwischen der Bundesrepublik Deutschland und den Vereinten Nationen und einzelnen,
global agierenden, internationalen Organisationen und Institutionen im Rahmen des
VN-Systems in den Jahren 2010 und 2011; Berlin 2012 (https://www.auswaertigesamt.de/cae/servlet/contentblob/632766/publicationFile/174826/VNBericht1011.pdf).
Globalisierung, internationale Organisationen und Multilateralismus
73
Wegbereitend war hierfür das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur
Zulässigkeit von Auslandseinsätzen der Bundeswehr 1994.
Ein genauerer Blick auf die deutsche Beteiligung an jüngsten VNFriedensmissionen ergibt jedoch ein widersprüchliches Bild. In den
vergangenen Jahren hat sich Deutschland trotz seiner VN-freundlichen
Rhetorik weniger an VN-geführten, sondern vor allem an VN-mandatierten Einsätzen beteiligt. Während bei den Missionen des ersten Typs
– den bekannten ‚Blauhelm-Einsätzen‘ – die VN den Einsatz leiten,
handeln die Staaten oder Regionalorganisationen im Falle des zweiten
Typs als ‚Subunternehmer‘ des VN-Sicherheitsrates und können die
Details des Einsatzes weitgehend selbst regeln. Den derzeit (Frühjahr
2013) rund 7.000 deutschen Soldatinnen und Soldaten in VNmandatierten Einsätzen (insbesondere im Kosovo und in Afghanistan)
stehen rund 200 in VN-geführten Einsätzen gegenüber – das entspricht
etwa zwei Prozent der eingesetzten Truppen. Deutschland steht als
drittgrößter Beitragszahler der VN damit bei der Beteiligung an VNFriedensmissionen lediglich an 52. Stelle der 193 VN-Staaten, weit
hinter Staaten wie Bangladesch, Jordanien, Uruguay oder Senegal. Auf
der anderen Seite sind die erhebliche finanzielle Unterstützung für die
VN-Friedenssicherung von rund sieben Prozent Kosten für VN-Friedensmissionen sowie die umfangreiche begleitende Projektförderung
im Rahmen ziviler Krisenprävention hervorzuheben.16
Der Bereich Menschenrechte und Verrechtlichung der internationalen Beziehungen hat traditionell einen sehr hohen Stellenwert in der
deutschen VN-Politik. Deutschland ist Vertragspartei nahezu aller
einschlägigen Menschenrechtskonventionen und -protokolle und war
z. B. einer der führenden Initiatoren des Internationalen Strafgerichtshofes und bei der Verrechtlichung bestimmter Politikbereiche.
Deutschland gehört – nicht zuletzt aufgrund seiner historischen Erfahrungen – zu den Ländern, denen oftmals der Konsens aller Beteiligten
wichtiger und erstrebenswerter erscheint, als das rücksichtslose Durchboxen einzelstaatlicher Positionen. Deutschland verhält sich mithin im
VN-Kontext standardmäßig ‚aufgeklärt multilateral‘. Auch bei norma-------------------------------------------16 Zu einer kritischen Bilanz siehe Griep, Ekkehard/Nachtwei, Winfried 2011: Für
eine politische Aufwertung der VN-Friedenssicherung in Deutschland – Ungenutzte
Chancen im VN-Peacekeeping nutzen; DGVN Policy Paper 1/2011 und Varwick, Johannes/Stock, Christian: Keine Partner zweiter Klasse: Die Truppenstellerstaaten der
Vereinten Nationen verdienen Deutschlands Unterstützung; DGVN Policy Paper
1/2012.
74
Johannes Varwick
tiven Weiterentwicklungen, wie der Debatte um die Schutzverantwortung bei schwersten Menschenrechtsverletzungen (‚responsibility to
protect‘, R2P), wirkt Deutschland intensiv mit – auch wenn die deutsche Enthaltung im Sicherheitsrat bei der Entscheidung für die militärische Umsetzung der Schutzverantwortung im Fall Libyen im Jahr 2011
für viel Kritik gesorgt hat.17
Die Ermöglichung von nachhaltiger Entwicklung und Armutsbekämpfung gehört zu den Schwerpunktaufgaben der Vereinten Nationen und eine Vielzahl ihrer Programme und Institutionen ist diesen
Aufgaben im engeren und weiteren Sinn gewidmet. Deutschland hat
sich insbesondere bei der Förderung nachhaltiger Entwicklung, Armutsbekämpfung und im Bereich des globalen Umweltschutzes als
maßgeblicher Akteur etabliert. Es betrachtet die nachhaltige Bewahrung der Schöpfung als Voraussetzung einer dauerhaften und friedlichen Weltordnung und zeigt sich dementsprechend bei den internationalen Umwelt- und Entwicklungskonferenzen der vergangenen Jahre
besonders aktiv.
4.2 Reform der Vereinten Nationen
Trotz aller Wertschätzung für die Vereinten Nationen wird auch
von der deutschen Politik darauf hingewiesen, dass es für eine wichtige
Rolle der VN in der internationalen Politik einer ständigen Anpassung
der VN und in manchen Bereichen auch eines grundsätzlichen Umdenkens, insbesondere der mächtigen Mitgliedstaaten bedürfe. Nach dem
großen Reform-Schwung infolge des VN-Gipfels von 2005, als mit der
Kommission für Friedenskonsolidierung und dem Menschenrechtsrat
(in beiden Gremien wirkt Deutschland aktiv mit) zwei wichtige Institutionen neu geschaffen bzw. von Grund auf umgestaltet wurden, befinden sich die Vereinten Nationen nun in einem Modus beständiger aber
kleinerer Anpassungen. Zwar gab es durchaus weitere ehrgeizige Veränderungen, an denen Deutschland aktiv mitgewirkt hat. Mit dem
Thema Reform des Sicherheitsrates, in den das vereinigte Deutschland
bisher dreimal (1995/96, 2003/04 und 2011/12) als nichtständiges
Mitglied gewählt wurde, ist allerdings die wohl schwierigste Reform
auf die lange Bank geschoben worden. Deutschland strebt seit Anfang
--------------------------------------------
17 Varwick, Johannes: Ist Deutschland außenpolitisch isoliert? in: Gesellschaft, Wirtschaft, Politik 3/2011, S. 275-279; siehe auch Punkt 6 des vorliegenden Beitrags.
Globalisierung, internationale Organisationen und Multilateralismus
75
der 1990er Jahre im Rahmen einer umfassenden Neuzusammensetzung des Rates einen ständigen Sitz an. Die Suche nach einer gangbaren Sicherheitsratsreform wird neben hohen institutionellen Erfordernissen der Charta (alle ständigen Mitglieder im Rat müssen ebenso
zustimmen wie eine Zweidrittelmehrheit in der Generalversammlung)
auch durch eine dreifache inhaltliche Anforderung erschwert:
–
erstens soll die Repräsentativität verbessert werden (was nur
durch eine Erhöhung der Mitgliederzahl und/oder eine Veränderung des geographischen Proporzes der Sicherheitsratsmitglieder möglich ist);
–
zweitens soll die Legitimität erhöht werden (Schaffung eines
möglichst ‚demokratischen‘ Entscheidungsfindungsmechanismus innerhalb des Rates);
–
und drittens soll die Effizienz erhöht werden (Verbesserung der
Entscheidungsfindung und der Chance auf Befolgung der Beschlüsse).
Neben dem Beharren der ständigen Mitglieder auf ihrem Status
besteht vor allem die kaum auflösbare Spannung zwischen dem ersten
und dem dritten Aspekt. Was die Reformunfähigkeit des Sicherheitsrates für die VN bedeutet, ist schwer abzusehen. Es ist jedoch zu befürchten, dass ein unveränderter Sicherheitsrat an Autorität verliert.
Es ist aus heutiger Sicht offen, in welche Richtung sich die VN im
sicherheitspolitischen Bereich tatsächlich entwickeln werden. Einerseits
lässt sich argumentieren, dass in den vergangenen Jahren in der internationalen Politik ein Milieu entstanden ist, in dem zentrale Bestimmungen und Normen der Charta Referenzpunkte geworden sind. Sie
werden zwar nicht immer eingehalten, der Rechtfertigungsdruck im
Falle der Regelverletzung hat aber enorm zugenommen. Selbst große
Mächte können sich diesem, durch die internationale Öffentlichkeit
verstärkten, Druck kaum entziehen. Andererseits gilt es, sich von unrealistischen Erwartungen an die VN zu verabschieden. So ist das
Spannungsverhältnis zwischen den Zielen und Grundsätzen der VNCharta auf der einen und der politischen Realität auf der anderen Seite
offenkundig. Wesentliche Grundsätze der Charta basieren mithin auf
Regeln, die in der Praxis internationaler Politik immer aufs Neue relativiert, verändert oder schlichtweg systematisch missachtet werden.
Der souveränen Gleichheit aller Staaten steht ein ausgeprägtes Machtgefälle, der Pflicht zur friedlichen Streitbeilegung eine allgegenwärtige
76
Johannes Varwick
Gewalt im internationalen System gegenüber und trotz des allgemeinen
Gewaltverbots nehmen sich Staaten immer wieder das Recht auf unilaterale Gewaltanwendung. Zudem bewirkt die Globalisierung grundlegender Problembereiche eine Erosion staatlicher Souveränität. Dies
betrifft auch die zunehmende Notwendigkeit, (zunächst) innerstaatliche Konflikte auf internationaler Ebene genau zu beobachten und in
diese ggf. einzugreifen, was aber gemäß der Charta und dem festgeschriebenen Verbot der Einmischung in die inneren Angelegenheiten
der Staaten untersagt ist. In Artikel 2, Absatz 7 der VN-Charta heißt
es wörtlich: „Aus dieser Charta kann eine Befugnis der VN zum Eingreifen in Angelegenheiten, die ihrem Wesen nach zur inneren Zuständigkeit eines Staates gehören […] nicht abgeleitet werden […].“ Was
allerdings eine innere Angelegenheit ist, dürfte in den kommenden
Jahren sicher kontrovers diskutiert werden.
Bilanzierend ist festzustellen, dass multilaterale Zusammenarbeit
im Rahmen der VN oft mühsam, ineffektiv und zeitraubend ist. Einerseits ist bei bestimmten Problemkonstellationen (etwa in den meisten
Fragen der Weltumweltpolitik) unstrittig, dass nur ein multilateraler
Ansatz Erfolg versprechend sein kann. Die VN verfügen mit ihrem
breiten Ansatz über ein vielfältiges Instrumentarium. Andererseits sind
andere Problemkonstellationen offensichtlich nach den Prinzipien des
VN-Multilateralismus nicht immer effektiv zu bearbeiten. Hier gilt es,
jenseits von ‚wishful thinking‘ eine nüchterne Bestandsaufnahme vorzunehmen und die VN nicht zu überfordern oder gar von ihnen Leistungen zu verlangen, die sie nicht erbringen können. Multilateralismus
ist zudem kein Wert an sich, sondern nur dann sinnvoll, wenn damit
Beiträge zur Problemlösung geleistet werden. Dies gilt insbesondere für
den Bereich der internationalen Sicherheit, wo mitunter schnelles und
effizientes Handeln unerlässlich ist.
5. Konsequenzen für die deutsche Außenpolitik
Es sollen nun abschließend vier zentrale Themengebiete identifiziert werden, denen sich deutsche Außenpolitik im Zusammenhang
mit den angesprochenen Bereichen Globalisierung, Multilateralismus
und internationale Organisationen in besonderer Weise zuwenden
Globalisierung, internationale Organisationen und Multilateralismus
77
sollte.18 Anschließend wird der Versuch unternommen, in diesen Bereichen schlagwortartig eine moderne liberale außenpolitische Agenda zu
entwickeln.
5.1 Die Weiterentwicklung des Sicherheitsbegriffs
Der Sicherheitsbegriff hat in den vergangenen Jahren einen dreifachen Wandel durchlaufen. Er hat sich weitgehend gelöst von den klassischen nationalstaatlichen Parametern (Territorium und uneingeschränkte Souveränität), wurde erweitert um nahezu alle Politikfelder
jenseits des eigentlich Militärischen – die so genannte „securitization“19 – und hat das klassische negative Abwehr- um ein positives Sicherheitsverständnis erweitert. Mit fortschreitender Globalisierung
und Interdependenz ist davon auszugehen, dass als Nebeneffekt die
Spielräume für staatliches Querulantentum weiter verengt werden.
Denn in Situationen geteilter Verwundbarkeit schwindet der Anreiz,
den eigenen Vorteil im Nachteil des anderen zu suchen – und damit die
Gefahr gegenseitiger Bedrohung, da diese sich in einer interdependenten Welt gewiss früher oder später gegen den eigenen Staat richtet. Die
Folge wäre eine Reduzierung des sicherheitspolitischen ‚Bearbeitungslevels’ von militärischem auf eher polizeiliches Niveau im weiteren
Sinne. Zugleich werden weiter wachsende Interdependenzen jedoch
den Grad an Verwundbarkeit noch erhöhen. Dies gilt insbesondere
gegenüber malevolenten Akteuren, die keine Verantwortung gegenüber
einer eigenen politischen Öffentlichkeit haben, also insbesondere nichtstaatlichen Akteuren wie bspw. Terroristen. Als Konsequenz daraus
wird eine Mehrzahl der Politikfelder auch weiterhin unter Sicherheitsaspekten betrachtet werden. Allerdings sollte schon aus Effizienzgründen künftig mögliches Potenzial für de-securitization regelmäßig überdacht werden.
Trotz der skizzierten Entwicklungen wird es weiterhin erheblichen
Bedarf an staatlicher Bereitstellung von Sicherheit nach außen geben.
Der Schutz und die Unterstützung von staatlichen und nichtstaatlichen
Akteuren, die für die Verwirklichung deutscher Interessen (auch im
-------------------------------------------18 Dazu ausführlicher Varwick, Johannes/Stock, Christian: Herausforderungen der
deutschen Außen- und Sicherheitspolitik bis 2030: Eine Analyse aus Sicht der Zukunftsforschung; in: Zeitschrift für Außen- und Sicherheitspolitik 3/2012, S. 391-401.
19 Buzan, Barry/Wæver, Ole/de Wilde, Jaap: Security: A Framework for Analysis;
Boulder 1998.
78
Johannes Varwick
EU- und VN-Rahmen) tätig sind, werden noch an Bedeutung gewinnen. Die Ausübung des Gewaltmonopols wird sich vorwiegend in
einem Schnittmengenbereich zwischen polizeilichen, nachrichtendienstlichen und militärischen Aktivitäten bewegen. Das Verwischen der
Grenzen birgt vielfältige Risiken: für die Koordinierung, aber ebenso
für die Legitimierung und Kontrolle der Sicherheitspolitik. Das Problembewusstsein hierfür ist schon vorhanden; es bleibt jedoch abzuwarten, wie erfolgreich die ressortgemeinsame Umsetzung sein wird.
5.2 Veränderungen im Verständnis multilateraler Politik und
Machtverschiebungen im internationalen System
Die künftige Bedeutung multilateraler Arrangements über die europäische Ebene hinaus ist heute kaum abschätzbar. Wahrscheinlich
dürfte eine ‚Gleichzeitigkeit der Ungleichzeitigkeit‘ das Bild prägen, bei
der höchst unterschiedliche Trends, Prozesse und Konfliktformationen
zu beobachten sind. Neben einer ersten Zone, die sich durch offene
Grenzen, eine hohe Interaktionsdichte und einen stabilen Frieden auszeichnet, ist eine von Machtpolitik und kurzfristigen nationalen Interessen dominierte zweite Zone auszumachen, in der vornehmlich in
Kategorien militärischer Stärke und geopolitischer Einflusszonen gedacht wird. Eine dritte Zone ist gekennzeichnet durch Machthohlräume und den Verlust politischer Steuerungsfähigkeit. Diesen Zonen sind
zwar geographische Räume zuzuordnen – so beschränkt sich z. B. die
dritte Zone im Wesentlichen auf Teile Afrikas –, allerdings überlappen
die Räume sich, und die daraus resultierenden Probleme sind nicht auf
eine Zone zu begrenzen. Anders formuliert: Das Zeitalter frühmoderner Staaten, das 20. und das 21. Jahrhundert werden vermutlich
gleichzeitig stattfinden.
Es ist einerseits denkbar, dass sich die VN als Kern einer Global
Governance-Architektur herausbilden und der geregelte Multilateralismus effektiv Probleme löst. Andererseits ist es ebenso denkbar, dass
Multilateralismus verclubt und unterschiedliche Club-Formate (wie die
G-20) sowie andere themenspezifische Politiknetzwerke an Bedeutung
gewinnen. Dies würde für die deutsche Außenpolitik bedeuten, pragmatischer und weniger prinzipiell mit multilateralen Formaten arbeiten
zu müssen. Das klassische Leitprinzip deutscher Außenpolitik, der
effektive Multilateralismus, funktioniert dann, wenn sich die Beteiligten zunächst kooperativ gegenübertreten und zudem mit den Ergebnis-
Globalisierung, internationale Organisationen und Multilateralismus
79
sen der Kooperation zufrieden sind. Diese Situation ist allerdings nur
selten gegeben; für die Lösung internationaler Konflikte jenseits geschützter Räume wie der EU gilt, dass Multilateralismus oftmals nur in
Kombination mit klassischen Machtfaktoren effektiv ist.20
Zudem gilt es, das Machtspektrum der künftigen Staatenwelt zu
berücksichtigen. Während heute vor allem die Gefahr mangelnder
Staatlichkeit als Herausforderung für Deutschland betrachtet wird,
wird in Zukunft mit einer noch größeren Heterogenität zu rechnen
sein, da das Spektrum der Staaten im Gegensatz zu heute künftig um
einige global bedeutende Großmächte erweitert sein wird.
5.3 Steigende Bedeutung nicht-staatlicher Akteure
Transnational agierende nichtstaatliche Akteure aus der Wirtschafts- und Gesellschaftswelt werden relativ zu den Staaten größeres
Gewicht erhalten. Im Zusammenspiel mit einer internetgestützten globalen Öffentlichkeit ist es selbst in sensiblen Politikbereichen denkbar,
dass nichtstaatliche Akteure noch stärker Agenda-Setter und -Vorantreiber sein werden. Über die heute schon erkennbaren organisierten
Formen hinaus ist absehbar, dass dezentral durchgeführte Aktivitäten
mit gemeinsamen politischen Zielen auf der internationalen Ebene
zunehmen. Der Treiber dahinter ist wiederum die steigende Internetnutzung. Dies bringt eine neue Qualität mit sich, deren Anfänge sich
bereits jetzt an globalen internetgestützten Kampagnen ablesen lassen:
die Individualisierung der internationalen Politik.
Neben einer solchen Individualisierung ist mit einer weiteren Ausdehnung des Einflusses der Wirtschaftswelt zu rechnen, da die Durchsetzung des politischen Primats trotz der Bemühungen nach der Finanzkrise unwahrscheinlich erscheint. Dieser Einfluss wird weiterhin
in asymmetrischen Situationen zwischen transnationalen Konzernen
und schwachen Staaten direkt, ansonsten als treibende Kraft hinter
den nationalen Außenpolitiken ausgeübt werden. Für die deutsche
Außenpolitik ist dies zunächst mit Einschränkungen der Steuerbarkeit
internationaler Politik verbunden. Dies ist ein neutraler Befund, der
auf der einen Seite aufgrund von Lastenteilung letztlich zu mehr Effizienz führen oder auch, wie etwa in der Umweltpolitik, einen Legitimi--------------------------------------------
20 So auch Sandschneider, Eberhard: Deutsche Außenpolitik: Eine Gestaltungsmacht
in der Kontinuitätsfalle; in: Aus Politik und Zeitgeschichte 10/2012, S. 3-9.
80
Johannes Varwick
tätszuwachs zur Folge haben kann. Im Unterschied zu ähnlichen Prozessen auf der nationalstaatlichen Ebene können transnationale Vernetzungen zudem eine wichtige klassische Sicherheitsbedrohung, das
Unwissen über den anderen, reduzieren helfen. Auf der anderen Seite
ist es fragwürdig, ob asymmetrischen, von nicht-staatlichen Akteuren
ausgehenden, Sicherheitsbedrohungen besser begegnet werden kann als
heute. Aus dieser Perspektive bedeutet der Verlust von Steuerungsfähigkeit einen Zuwachs an Unsicherheit.
Die Frage, welche Akteure mit welcher Legitimität die internationale Politik gestalten, wird in der Zukunft aufgrund der Angleichung
der Gestaltungsfähigkeiten von noch größerer Bedeutung sein. Die
Legitimität der nicht-staatlichen Akteure muss geklärt werden, um
deren Anspruch, die klassisch-demokratisch legitimierte Außenpolitik
mit zu gestalten, überprüfen zu können. Interessenvertreter mit klarer
Hintergrundstruktur – ob Wirtschaftslobbyist oder NGO – könnten
dabei durch Transparenz durchaus mehr Legitimität in Anspruch
nehmen als eine anonyme Internet-Kampagne – oder auch ein intransparenter Zirkel von Einzelpersonen.
5.4 Ressourcenmanagement und Kommunikationssicherheit als
Interdependenzmanagement
Die hohe deutsche Außenhandelsquote ist Ausdruck der Abhängigkeit der deutschen Wirtschaft von der Einbindung in internationale
Märkte. Die Globalisierung ist ohne den freien und sicheren Austausch
von Menschen, Ideen, Gütern, Informationen und Kapital kaum vorstellbar. Die internationalen Verbindungswege verlaufen zum Großteil
durch vier globale öffentliche Räume oder ‚Global Commons‘ – die
hohe See, der Luft-, Welt- und Informationsraum.21 Deutschland, das
z. B. über eine der weltweit größten Handelsflotten verfügt, ist auf den
ungehinderten Zugang zur hohen See angewiesen. Aus dieser Abhängigkeit leitet sich ein ‚natürlicher‘ Gestaltungsanspruch für die Aufrechterhaltung der liberalen Ordnung in diesen vier Räumen ab, weil
Wohlstand und Sicherheit auf dieser Ordnung basieren.
--------------------------------------------
21 Hinweise dazu bei Wai Fung Lam: Governing the commons, in: Bevir, Mark (Hg.):
The SAGE Handbook of Governance; London 2011, S. 501-517 und Denmark, Abraham M.: Managing the global commons; in: The Washington Quarterly 3/2010, S. 165182.
Globalisierung, internationale Organisationen und Multilateralismus
81
Natürliche Ressourcen gewinnen global insbesondere aufgrund des
anhaltenden Trends demographischen Wachstums weiter an Bedeutung. Als sicherheitsrelevante, sich verknappende Ressourcen lassen
sich vor allem Trinkwasser, Nahrung und Mineralien identifizieren.
Die Auswirkungen auf andere Teile der Welt müssen berücksichtigt
werden, da sie sich in den politischen Prioritäten der betroffenen Staaten niederschlagen werden. Deutsche Außenpolitik sollte auf diese
Bedürfnisse Rücksicht nehmen und dazu beitragen, Lösungen auch für
die Knappheitsprobleme anderer Staaten bei existenziell wichtigen
Ressourcen zu finden. Dies dient nicht zuletzt der eigenen Sicherheit,
da das generelle Bedrohungsempfinden anderer Staaten gemindert und
die Wahrnehmung eines Verständnisses gemeinsamer globaler Verantwortung gefördert wird.
Mit Sicherheit wird die Kommunikationsinfrastruktur – sowohl
Hard- als auch Software – eine hohe Relevanz in der zukünftigen Außen- und Sicherheitspolitik Deutschlands einnehmen. Dies gilt aufgrund der Bedeutung von Kommunikation sowohl als Instrument der
Exekutive (in Administration, Diplomatie und Militär) als auch als
Grundlage für nicht-staatliches, nach außen gerichtetes Wirken (sowohl für ökonomische als auch organisierte und individuelle politische
Aktivitäten). Die besondere Qualität der Bedrohung der Kommunikationswege besteht in ihrem disruptiven Charakter und wird verstärkt
durch die fast schon epidemische Anfälligkeit hochgradig vernetzter
Gesellschaften und die möglicherweise schwer zu klärende Herkunft
der Bedrohung. Gerade der letzte Aspekt macht die Entwicklung passender Reaktionsstrategien so schwierig.
6. Bilanz: Deutschland, Multilateralismus und die Vereinten
Nationen – eine liberale Agenda
Das deutsche Interesse lässt sich vereinfacht wie folgt formulieren:
Deutschland ist in besonderem Maße auf eine offene, kooperative
internationale Ordnung angewiesen, in der sowohl freier Zugang zu
Ressourcen sichergestellt als auch Handelswege offen sind und keine
Zonen der Anarchie geduldet werden können. Damit verbunden liegt
es im deutschen Interesse, dass eine strategische Konfrontation des
Westens mit den aufsteigenden Mächten China und Indien (und möglicherweise Russland, Brasilien, Südafrika und Indonesien) verhindert
82
Johannes Varwick
wird. All dies – und ebenfalls die sicherheitspolitischen Implikationen
einer solchen internationalen Ordnung – kann besser gelingen, wenn
Deutschland seine Einflussmöglichkeiten europäisch bündelt, transatlantisch einbindet und mit den neuen weltpolitischen Zentren vernetzt.
Zentral für all dies ist aber vor allem, dass der politische Kompass
richtig justiert ist.22
Für die Handlungsmöglichkeiten deutscher Außen- und Sicherheitspolitik bleibt es darüber hinaus zentral, dass deren Entfaltungsund Wirkungsmöglichkeiten durch die europäische Ebene – die in
diesem Beitrag nicht das Thema war, die aber Schlüssel für vieles ist –
verstärkt (bzw. im Grunde genommen erst ermöglicht) werden. Es ist
gleichwohl nicht zu erwarten, dass die EU künftig über eine wirksame
gemeinsame Außenpolitik verfügt. Vielmehr ist damit zu rechnen, dass
die EU in der heutigen Form keinen Bestand hat und sich stattdessen
(neben der unwahrscheinlichen, aber gleichwohl denkbaren Perspektive des konfliktträchtigen Zerfalls) ein deutlich höher integrierter Kern
innerhalb der EU bildet, um den sich dann verschiedene Integrationskreise gruppieren: eine EU, die eher einer „European Onion“ statt
einer wirklichen „European Union“ gleicht.23 Die Chancen, dass ein
solches Kerneuropa sein ökonomisches Gewicht in politische Gestaltungsmacht umsetzt, sind deutlich höher, als dies in einer mit sich
selbst beschäftigten EU-XXL, die dann eher einer etwas aufgewerteten
OSZE gleichen würde, möglich wäre. Mit einer solchen Konstruktion
könnte zudem die Marginalisierung Europas gegenüber den weltpolitischen Polen USA, China und Indien verhindert sowie die Befähigung
gewonnen werden, durch Einflussnahme bei der Lösung globaler Probleme eigene Interessen vertreten zu können.
--------------------------------------------
22 Insofern muss die Fundamentalkritik an der deutschen Außenpolitik des Altkanzlers Helmut Kohl durchaus beunruhigen. „Wenn man keinen Kompass hat, wenn man
also nicht weiß, wo man steht und wo man hin will, und daraus abgeleitet dann entsprechend auch keinen Führungs- und Gestaltungswillen, dann hängt man auch nicht an
dem, was wir unter Kontinuitäten deutscher Außenpolitik verstehen, ganz einfach weil
man keinen Sinn dafür hat“, siehe das Interview mit Kohl in: Internationale Politik
5/2011, S. 10-17, hier S. 11.
23
Siehe Varwick, Johannes: Krise und Zukunft der Europäischen Integration: von der
„European Union“ zur „European Onion“?; in Varwick, Johannes (Hg.): Die Europäische Union. Krise, Neuorientierung, Zukunftsperspektiven; Schwalbach 2011, S. 12-38.
Globalisierung, internationale Organisationen und Multilateralismus
83
Vor dem Hintergrund des Schutzes gemeinsamer Werte und Interessen könnte dann auch eine globale NATO an Reiz gewinnen,24
einerseits, um die Partnerschaft mit den USA zu erhalten, und andererseits, um einen Gegenpol zu den asiatischen Großmächten zu bilden.
Dies muss nicht in eine konfliktive Situation münden, ganz im Gegenteil: Hegemoniale Großmächte bzw. (von ihnen dominierte) Regionalorganisationen in Asien könnten dort die gleiche Funktion wahrnehmen wie NATO und EU in Europa; auch die auf absehbare Zeit notwendige externe Unterstützung für die Friedenssicherung in Afrika
könnte somit mittelfristig auf westliche und östliche Schultern verteilt
werden.
Von einer abnehmenden Bindewirkung der etablierten Bezugspunkte deutscher Außen- und Sicherheitspolitik wäre Deutschland
fundamental betroffen, und daher liegt es im vitalen deutschen Interesse, diese Organisationen funktionsfähig zu halten. All dies verlangt
von der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik die Bereitschaft zur
politischen (Mit-)Führung und insbesondere zur materiellen Unterfütterung der politischen Absichten.
Auf den ersten Blick mag es leichtfallen, die diskutierten außenpolitischen Themen in eine liberale Agenda der internationalen Beziehungen einzuordnen – für die politische Praxis ist dies jedoch sehr viel
komplexer und widersprüchlicher, als es erscheinen mag. Ohne an
dieser Stelle in eine Theoriedebatte25 einsteigen zu wollen, können –
vereinfachend dargestellt – mehrere Elemente für eine liberale außenpolitische Denkschule als kennzeichnend gelten:26
–
Zwischenstaatlicher Frieden und internationale Stabilität müssen nicht notwendigerweise auf einer Politik der Machtbalance
beruhen;
--------------------------------------------
24 Siehe dazu Varwick, Johannes: Die NATO. Vom Verteidigungsbündnis zur Weltpolizei?; München 2008.
25 Siehe als Einstieg Schieder, Siegfried/Spindler, Manuela (Hg.): Theorien der Internationalen Beziehungen; 3. Aufl., Opladen 2010.
26 Angelehnt an Moravcsik, Andrew: Taking Preferences Seriously: A Liberal Theory
of International Relations; in: International Organizations 4/1997, S. 513-553 und
Krause, Joachim: Liberaler Imperialismus und imperialer Liberalismus als Erklärungsansätze amerikanischer Außenpolitik; in: Zeitschrift für Außen- und Sicherheitspolitik
1/2008, S. 68-95, hier S. 72f.
84
Johannes Varwick
Frieden und Stabilität haben besondere innergesellschaftliche
Voraussetzungen, und Demokratien sind untereinander friedfertiger, als andere politische Systeme;
–
die außenpolitische Präferenzbildung gesellschaftlicher Akteure
ist auf ihre Nutzenmaximierung angelegt;
–
der Staat überträgt die durchsetzungsfähigen gesellschaftlichen
Interessen in außenpolitische Präferenzen, und die Konfiguration der interdependenten Staatspräferenzen bestimmt staatliches Verhalten;
–
Interdependenz und gegenseitige Verwundbarkeit sind Schlüsselvoraussetzungen für Kooperation;
–
das individuelle Wohl der Menschen steht im Mittelpunkt,
weniger abstrakte Kategorien wie Staatsräson oder nationales
Interesse;
–
die Gewährung von wirtschaftlicher und politischer Freiheit
setzt eine positive Dynamik in Gang, die aus sich heraus friedensstiftend ist.
Eine gewisse ‚analytische Brache‘ ist jedoch die Frage, wie die
Voraussetzungen für eine liberale Ordnung geschaffen werden können,
wenn Unfreiheit und Unfrieden regieren. Hinsichtlich der angemessenen Wege zur Friedenssicherung und Wahrung von internationaler
Stabilität sind seit jeher zwei Herangehensweisen feststellbar, die sich
als Dissens zwischen den children of light und den children of darkness
umschreiben lassen. Aus der europäischen Aufklärung stammt eine
Vorstellung, die auf das Gute, die Vernunft und die Lernfähigkeit des
Menschen setzt. Demokratisierung sei aufgrund des nachweisbaren
Zusammenhangs zwischen der inneren Verfassung eines Staates und
seinem Außenverhalten zudem der beste Weg zur Konfliktvermeidung.
Der Gegenentwurf sieht die Welt hingegen durch das Schlechte beherrscht und anarchisch strukturiert. Nur eigene Stärke und das Prinzip der Selbsthilfe könnten Konflikte verhindern; nicht das erhabene
Ziel ‚Frieden‘, sondern das bescheidenere Ziel ‚Sicherheit‘ sollte angestrebt werden. Einer multilateralen Welt, in der Verhandlungen, Überzeugung, Konsenssuche und diplomatische Lösungen dominieren, steht
eine unilaterale Welt gegenüber, in der auf internationale Regelungen
letztendlich kein Verlass ist und in der im Extremfall Zwang vor Überzeugung geht.
–
Globalisierung, internationale Organisationen und Multilateralismus
85
Mit Blick auf die Rolle Deutschlands in den VN wird es zukünftig
Situationen geben (können), in denen sich Deutschland vor die Wahl
gestellt sieht, welche Art von Multilateralismus es bevorzugen soll.
Zudem ist es offenkundig, dass mitunter krasse Fehlentscheidungen –
wie die Libyen-Enthaltung27 – vorkommen, die gewissermaßen als VNpolitische wild card nicht vorhersehbar sind, aber massive Probleme
verursachen. Stefan Bierling hat das in der Süddeutschen Zeitung in
einem Kommentar mit dem Titel ‚Am liebsten Schweiz‘ deutlich formuliert: „Wer nicht weiß, was er will und welche Mittel er für seine
Ziele einzusetzen bereit ist, wird in der internationalen Politik schnell
vom Subjekt zum Objekt. Man kann nicht einen ständigen Sitz im UNSicherheitsrat anstreben, aber sich enthalten, wenn über den Schutz
libyscher Zivilisten abgestimmt wird.“28
In der weltweiten Wirtschafts- und Finanzkrise der Jahre 2008 und
folgende hatte Deutschland frühzeitig auf den Reformbedarf der internationalen Wirtschafts- und Finanzordnung hingewiesen – ohne dabei
durchschlagende Erfolge zu erzielen. Sowohl die Große Koalition als
auch die Nachfolgeregierung hatte sich für eine Stärkung der VN in
diesem Bereich eingesetzt und dabei pragmatisch sowohl eine Aufwertung von verschiedenen multilateralen ‚Clubformaten‘ wie der G-20
unterstützt als auch stets auf die wichtige Funktion der Inklusivität der
VN hingewiesen. Für die operative deutsche Politik resultiert daraus
ein hoher Bedarf nach strategischen Richtungsentscheidungen, die mit
diesen Fragen einhergehen. Zu klären ist etwa:
–
Sollen die Funktionen der G-20 auch jenseits von ‚Economic
Governance‘ ausgeweitet werden und welches institutionelles
Design ist dafür erforderlich?
--------------------------------------------
27 In der Libyen-Debatte 2011 konnte man gewiss mit jeweils guten Gründen zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen. Ob aber der von der deutschen Politik (und hier
insbesondere vom Außenminister) betonte gründliche Abwägungsprozess tatsächlich
stattgefunden hat, alle Folgen des Handelns richtig eingeschätzt wurden und zudem der
politische Kompass richtig justiert war, lässt sich mit guten Argumenten bezweifeln.
Denn gab es wirklich eine zwingende Begründung, sich gegen die traditionelle Grundrichtung deutscher Außenpolitik zu stellen und die USA, Frankreich und Großbritannien
gleichzeitig zu verprellen? Anders formuliert: Die Betonung der Zivilmachttraditionen
der Bonner Republik brach sich in der Libyen-Entscheidung mit der Einbindung in
traditionelle Bündnisstrukturen und der multilateralen Ausrichtung deutscher Außenpolitik.
28 Bierling, Stephan: Am liebsten Schweiz; in: Süddeutsche Zeitung vom 25.06.2012,
S. 2.
86
Johannes Varwick
Was bedeutet das für ‚the making of Außenpolitik‘? ‚G-Isierung‘ geht mittelfristig mit einer Zentralisierung des außenpolitischen Entscheidungsprozesses einher (Dominanz des Kanzleramts) und dürfte die Debatte um Strukturveränderungen (u.
a. nationaler Sicherheitsrat etc.) beschleunigen.
–
Wäre G-20 gar auf längere Sicht eine pragmatische Alternative
zum reformunfähigen Sicherheitsrat und weiteren Politikfeldern?
–
Wie kann der ‚G-isierungsprozess‘ kompatibel zu den VNProzessen gehalten werden und wie kann vermieden werden,
dass dadurch eine neue Spaltung entsteht?
Insgesamt wäre es vermutlich nicht unklug, wenn die Richtungsentscheidungen in diesem Fall eher durch eine gewisse strategische
Nicht-Festlegung gekennzeichnet sind – und das geschieht ja auch.
Von einer Mittelmacht wie Deutschland wird zu Recht erwartet,
dass sie eigene Vorstellungen hinsichtlich aktueller und struktureller
Problembereiche der internationalen Politik entwickelt und diese versucht durchzusetzen. Deutschland gehört zu den wichtigsten VNMitgliedern und hat darüber hinaus eine Verantwortung für und auch
ein Interesse an einer stabilen und offenen internationalen Ordnung.
Insofern ist Deutschland tatsächlich vom Konsumenten zu einem wichtigen (Mit-)Produzenten internationaler Ordnung geworden. Wenn es
stimmt, dass außenpolitische Entscheidungen durch den Zweiklang,
was außenpolitisch machbar und was innenpolitisch mehrheitsfähig
ist, bestimmt werden, dann haben sich beide Parameter in diesem
Zweiklang massiv verändert: Außenpolitisch ist die Lage nochmals
komplexer geworden, und innenpolitisch haben wir es mit einem unterentwickelten Verständnis für eine Rolle als aktiver Multilateralist zu
tun.
Insbesondere mit Blick auf die Forderung nach einem ständigen
Sitz im VN-Sicherheitsrat sollte damit mithin eine ernsthafte Selbstprüfung einhergehen, ob die strategische Identität Deutschlands, der weltpolitische Gestaltungswille Deutschlands und die in der Gesellschaft
vorherrschenden Einstellungen und Meinungen mit einem offensiven
Werben um einen deutschen Sitz in Übereinstimmung zu bringen sind.
Zudem könnte Deutschland in zahlreichen VN-relevanten Politikfeldern durchaus mehr tun und dem rhetorischen Bekenntnis zur Stärkung des VN-Multilateralismus praktische Taten folgen lassen. So
–
Globalisierung, internationale Organisationen und Multilateralismus
87
scheint es, um nur ein Beispiel zu nennen, durchaus verantwortbar,
deutsches Personal in substanzieller Größenordnung in VN-geführten
Missionen einzusetzen und sich nicht derart deutlich wie in den vergangenen Jahren auf die VN-mandatierten Missionen zu beschränken.
Nicht zuletzt wäre es ratsam, wenn sich liberale Außenpolitik
nicht nur prioritär dort engagiert, wo es um klassische liberale Themen
geht, die mit wenigen Risiken verbunden sind. Zugespitzt formuliert:
Es fällt auf, dass liberale Außenpolitik immer gerne da vorne dabei ist,
wo es um ‚das Schöne und Gute‘ geht, und sich wenig(er) dort besonders engagiert wo es um unangenehme und vielleicht auch risikoreiche
Beiträge geht. Es ist eben einfacher, sich dafür einzusetzen, in allgemeiner Form für globale Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte einzutreten als sich an einer innenpolitisch unpopulären R2P-Intervention
in Libyen zu beteiligen. Die ‚Kultur der Zurückhaltung‘ (für die zudem
die Partner Deutschlands immer weniger Verständnis aufbringen) und
die ‚Kultur der Verantwortung‘ sind in der deutschen Außenpolitik in
den vergangenen Jahren nicht immer richtig austariert worden. Der
von Hans-Dietrich Genscher in einer bestimmten historischen Konstellation völlig zu Recht beschworene Gegensatz von Verantwortungspolitik und Machtpolitik ist insofern nicht mehr das Kernproblem für
deutsche Außenpolitik. Insbesondere beim Thema Menschenrechtspolitik, so etwa Gerhard Baum, gebe es kein Gebot der NichtEinmischung. „Niemand wird leichtfertig für militärische Abenteuer
eintreten. Doch die Politik der militärischen Zurückhaltung […] ist in
bestimmten Situationen nicht durchzuhalten“.29
Die Globalisierung erzwingt eine konsequente Neuorientierung der
Politik auf weltpolitische Zusammenhänge. Deutschland kann es sich
nicht leisten, Außen- und Sicherheitspolitik vorwiegend als Pflichtübung oder gar als Verlängerung innen- und wahlpolitischer Kalküle
zu betreiben. Auch eine Konzentration auf die eigene Region und die
Stabilisierung des europäischen Umfelds wird, so wichtig sie ist, den
Anforderungen einer globalen Perspektive nicht gerecht. Liberale Außenpolitik sollte den Gedanken der Mitverantwortung für eine offene
internationale Ordnung in der gesamten Breite ausbuchstabieren.
Es war immer die Stärke liberaler Außenpolitik, nicht in die eine
oder andere Extremposition zu verfallen, und sich zudem nicht allzu
-------------------------------------------29
Baum, Gerhard: Von wegen Moralecke; in: Die Zeit (12) 2013, S. 10.
88
Johannes Varwick
sehr von öffentlichen Stimmungen leiten zu lassen. Zentrales liberales
außenpolitisches Paradigma könnte in diesem Sinne der Begriff ‚Handlungsfähigkeit‘ sein.30 Daraus resultieren durchaus unbequeme Fragen,
weil – die in diesem Beitrag angerissenen Punkte zu Ende gedacht –
einige erfolgversprechende Antworten durchaus jenseits etablierter
Pfade liberaler Außenpolitik gegangen werden müssten.
--------------------------------------------
30 In diesem Sinne auch Heumann, Hans-Dieter: Handlungsfähigkeit. Ein strategisches Gebot angesichts globaler Herausforderungen; in: Internationale Politik 3/2013, S.
110-113.
Transatlantischer Freihandel
89
Karl-Heinz Paqué
Transatlantischer Freihandel:
Ein Weg zur Stärkung des globalen
Liberalismus
Es gibt zwei Typen von Krisen: akute und schleichende. Die akuten Krisen werden allerorten bemerkt und heftig diskutiert. Sie dominieren die Schlagzeilen und sorgen für enorme politische Aufregung.
Finanz- und Schuldenkrisen sind klassische Beispiele dafür, denn sie
haben bei der Schnelligkeit moderner Kapitalmärkte eine zerstörerische Kraft, vor der sich alle fürchten. Schleichende Krisen sind ganz
anders. Sie werden meistens erst registriert, wenn ihre Folgen offen
zutage liegen – oft erst Jahrzehnte nach Einsetzen der Krise und selbst
dann nur in sehr indirekter Form, die sich kausal nicht mehr eindeutig
auf irgendwelche konkreten Ursprünge zurückführen lässt.
In diesem Beitrag behaupte ich, dass unsere Welthandelsordnung
in einer solchen schleichenden Krise steckt. Und ich mache einen politischen Vorschlag, wie diese Krise zu bekämpfen sein könnte. Im ersten Teil des Beitrags liefere ich die Diagnose. Sie lautet: Multilaterale
Verhandlungen zur Senkung von Handelsbarrieren haben ihre Grenzen erreicht, und zwar gerade wegen (und nicht trotz) der Globalisierung. Im zweiten Teil liefere ich einen Ansatz zur Therapie: die Schaffung einer transatlantischen Freihandelszone. Wohlbemerkt: einen
Ansatz und keine Patentlösung.
Im Vorhinein spreche ich eine Warnung aus: Diagnose und Therapie sind hochspekulativ. Dies liegt in der Natur der Sache: Wer über
die Wirkungen von Handel und Handelsordnungen spricht, der muss
lange Zeiträume – eben die Geschichte des Wirtschaftswachstums und
der Integration – ins Visier nehmen. Damit wird die Darstellung sehr
schnell zum groben Holzschnitt, von dem ich allerdings hoffe, dass er
Wesentliches abbildet. Ob dies so ist, mag der Leser selbst beurteilen.
90
1
Karl-Heinz Paqué
Diagnose: Krise des Multilateralismus
Eine Erfolgsgeschichte – das ist zweifellos der Weg in Richtung
Freihandel und Integration, den die Weltwirtschaft seit Ende des Zweiten Weltkriegs beschritten hat. Allein schon die Zahlen sind beeindruckend: Das Volumen des Welthandels hat sich zwischen 1950 und
2011 um den Faktor 35 erhöht. Bei industriell verarbeiteten Produkten
– in Abgrenzung zum Agrar- und zum Rohstoffhandel – war ein Anstieg auf das 82fache Niveau zu verzeichnen, was im Durchschnitt
einer jährlichen Steigerungsrate von 7,5 Prozent entspricht.1 Dieser
Trend der Expansion hielt bis in die allerjüngste Zeit an, mit gelegentlichen konjunkturellen Einbrüchen wie zuletzt (und besonders scharf)
im Jahr 2009; aber regelmäßig kehrte die Weltwirtschaft sehr schnell
zum gewohnt schnellen Tempo der Handelsintegration zurück.
Die Gründe für diese Entwicklung sind dreifach. Der erste Grund
liegt auf der Hand: Es gab im Trend ein kräftiges globales Wirtschaftswachstum, in den 1950er und 1960er Jahren vor allem getrieben durch den Wiederaufstieg der transatlantischen Wirtschaft mit
dem westlichen Europa (und allemal Deutschland) als Wachstumspol,
seit den 1980er Jahren durch die Öffnung und das Wachstum großer
Entwicklungs- und Schwellenländer wie China, Indien, Indonesien,
Brasilien u. a. sowie der mittel- und osteuropäischen Staaten nach dem
Fall des Eisernen Vorhangs und dem Ende der staatlichen Planwirtschaft mit Autarkie. Daneben gab es – der zweite Grund – eine massive
Abnahme der Transaktions- und Kommunikationskosten, bedingt seit
den 1980er Jahren durch technologische Neuerungen, die den weiträumigen und sicheren Transport von Gütern in Containern über die
ozeanischen Seewege sowie den schnellen Austausch von Nachrichten
über leistungsfähige Informationsnetze ermöglichten. Und schließlich –
der dritte Grund und unser eigentliches Thema – gab es einen Trend
zum Abbau von Handelshemmnissen, bedingt durch ein weltpolitisches Klima, das – bei allen Rückschlägen im Einzelnen – doch auf
lange Sicht der Liberalisierung des Welthandels zugutekam. Jedenfalls
stehen in dieser Hinsicht die letzten sechs Jahrzehnte in einem gewaltigen (positiven) Kontrast zu den vorangegangenen fast drei Jahrzehnten
mit ihren zwei Weltkriegen und einer Zwischenkriegszeit, die durch
--------------------------------------------
1
Alle Daten zur Entwicklung des internationalen Handels in diesem Beitrag stammen
aus dem Statistikteil der Website der Welthandelsorganisation (www.wto.org).
Transatlantischer Freihandel
91
Protektionismus und Desintegration (und nicht Integration!) der Weltwirtschaft gekennzeichnet war.
Bevor man also heute von Krise spricht, was wir im Folgenden tun
werden, muss man gewissermaßen historisch durchatmen und das
Erreichte würdigen. Denn nach 1945 gelang es, nicht nur am Geist der
relativ liberalen Welthandelsordnung vor 1914 anzuknüpfen, sondern
noch weit über diese hinauszugehen. Ein wesentliches Verdienst daran
hatte die multilaterale Welthandelsordnung im Rahmen des Allgemeinen Zoll- und Handelsabkommens (kurz: GATT, „General Agreement
on Tariffs and Trade“) und ab 1994 die Welthandelsorganisation
(kurz: WTO, „World Trade Organization“), die das Vertragswerk des
GATT übernahm. Heute gehören 159 Staaten der WTO an. Es sind
damit bereits mehr als 90 Prozent des globalen Handelsvolumens
durch die eminent wichtigen GATT-Prinzipien der Nicht-Diskriminierung erfasst. Auch die formalisierten Mechanismen der Streitschlichtung, die es seit Etablierung der WTO 1994 gibt, haben sich in der
Praxis bewährt, ebenso wie das allgemeine politische Bekenntnis zum
Freihandel als Grundorientierung der Mitgliedstaaten.
Tatsächlich liest sich die historische Abfolge der sogenannten Zollsenkungsrunden, die seit den späten 1940er Jahren stattfanden, zunächst wie eine gigantische Erfolgswelle. Acht Runden wurden abgeschlossen: die ersten zwei jeweils in einem Jahr (1947 und 1949) und
die drei folgenden in jeweils zwei Jahren (1950/51, 1955/56 und
1960/61); dann folgten die sogenannte Kennedy-Runde (1964-67), die
Tokio-Runde (1973-79) und die Uruguay-Runde (1986-1994), jeweils
mit substantiellen Ergebnissen der Senkung von Handelsbarrieren und
1994 dann auch mit einem großen institutionellen Schritt nach vorne:
der Gründung der WTO. Allerdings machte schon damals die stetig
zunehmende Dauer der Runden Sorge. Offenbar wurde es immer
schwieriger, auf multilateraler Ebene im riesigen Kreis der verhandelnden Staaten überhaupt noch einen Fortschritt zu erzielen.
Mit der Doha-Runde, die 2001 begann und bis heute nicht abgeschlossen ist, wurde das Problem dann ganz offensichtlich. Sie hat
bereits mit zwölf Jahren eine Rekorddauer erreicht, aber von einer
Einigung ist man – trotz aller sporadischen Bemühungen der Politik
auf höchster Ebene – noch immer sehr weit entfernt. Offenbar gibt es
tiefsitzende strukturelle Gründe, warum kein Fortschritt zustande
92
Karl-Heinz Paqué
kommt. Es sind aus meiner Sicht im Wesentlichen drei Gründe, die der
laufenden Doha-Runde ein Schneckentempo auferlegen.
Der erste Grund liegt im Erfolg der früheren Runden: Das globale
Zollniveau ist – wie immer man es misst – längst im historischen Vergleich relativ niedrig. Dies gilt allemal für die Länder der OECD, also
grob gesprochen den „Club der Reichen“ in der Weltwirtschaft. Es gilt
aber in zunehmendem Maße auch für die großen schnell wachsenden
Entwicklungs- und Schwellenländer, die im Zuge ihrer Öffnung wesentliche Schritte in Richtung Zollsenkung unilateral, also freiwillig
vollzogen. Was an Handelshemmnissen noch verbleibt, das liegt inzwischen vor allem auf administrativer und regulativer Ebene. Diese allerdings zum Gegenstand von Verhandlungen zu machen, ist überaus
schwierig, denn es geht dann oftmals um tiefe Eingriffe in Bereiche der
Praxis von Politik und Verwaltung, die als klassische Domäne nationaler Souveränität betrachtet werden. Jede Nation oder Handelszone hat
dabei ihr „Steckenpferd“: Deutschland und die EU ihre gesundheitlichen und ökologischen Normen, Japan seine überaus restriktiven Regulierungen des Einzel- und Großhandels im eigenen Land, China
seine laxe Handhabung intellektueller Eigentumsrechte, die Vereinigten Staaten die Vergabepraxis militärischer Aufträge etc. etc. Hier ist
Fortschritt, was Verhandlungstechnik und Interessen betrifft, sehr viel
schwieriger als bei der schlichten linearen Senkung der Zolltarife, die
zu früheren Zeiten im Vordergrund stand.
Der zweite Grund liegt im Strukturwandel derjenigen Volkswirtschaften, die den Hauptteil der Dynamik des globalen Wirtschaftswachstums und der Zunahme des Welthandels in den letzten beiden
Jahrzehnten beigetragen haben (und wohl auch in der Zukunft beitragen werden). Die großen wachsenden Entwicklungs- und Schwellenländer, allen voran China und Brasilien, aber zunehmend auch Indien,
werden selbst immer mehr zu Industrienationen, deren wirtschaftliche
Schwerpunkte nicht mehr in jenem Sektor liegen, der weltweit über
das höchste Maß an Protektion gebietet: die Landwirtschaft. Insofern
verlieren sie selbst – ähnlich wie früher die „alten“ Industrieländer
bereits gegen Ende des 19. Jahrhunderts – das vitale Interesse an Zollsenkungen auf Agrarprodukte. Global betrachtet macht der Handel
mit Agrarprodukten im Übrigen nur mehr rund 10 Prozent des gesamten Welthandels aus. Die eigentliche Dynamik der Weltwirtschaft findet also trotz Agrarprotektionismus statt. Dies ist übrigens ein Zu-
Transatlantischer Freihandel
93
stand, der dem des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts ähnelt, als
eine Reihe von damals jungen Industrienationen (darunter das
Deutschland von Bismarck und Wilhelm II.) zwar hohe Agrarzölle
erhob, diese aber der zügigen Integration der Länder in die Weltwirtschaft nicht wesentlich entgegenstanden, denn die eigentliche Dynamik
kam damals (und kommt heute) aus dem industriellen Wachstum von
Ländern, die nachziehen und aufholen.
Der dritte Grund ist ein politischer Stimmungswandel, der seit den
späten 1990er Jahren in den westlichen Industrienationen – und allemal in Deutschland – Platz greift. Was globale Belange betrifft, rücken
immer stärker Fragen der Ökologie und des Klimawandels in den
Vordergrund, gepaart mit Sorgen über die Verlagerung von Produktionsstätten in Entwicklungs- und Schwellenländer, die durch die laxeren Umweltschutzvorschriften in diesen Ländern begünstigt sein können. Ähnliches gilt für sozialstaatliche Regelungen, die den Einsatz von
Arbeit verteuern. Weit verbreitet ist deshalb die Befürchtung, es käme
durch den internationalen Handel und die globale industrielle Verflechtung zu „Ökodumping“ bzw. „Sozialdumping“, was beides wichtigen Zielen der Menschheit zuwiderliefe. Es ist deshalb ein mächtiger
Widerstand gegen die weitere Globalisierung entstanden, der sich vor
allem über supranational tätige nicht-staatliche Organisationen wie
Greenpeace oder Attac den Weg bahnt. Wie stark deren direkter politischer Einfluss tatsächlich ausfällt, ist schwer zu sagen, kann aber
auch dahinstehen. Denn entscheidend ist wahrscheinlich ohnehin ihre
indirekte Wirkung: Sie verändern das gesellschaftliche Klima, und
zwar eindeutig weg von der Priorität, den Freihandel weiter zu forcieren. Entsprechend vorsichtig werden alle politischen Kräfte, sich den
Freihandel offensiv als programmatisches Ziel auf die Fahnen zu
schreiben. Dies gilt ganz offensichtlich für sozialistisch, sozialdemokratisch oder grün-ökologisch orientierte Parteien, aber auch zunehmend
für Vertreter einer bürgerlich-liberalen Orientierung.
Es ist wichtig sich klarzumachen, dass alle drei genannten Gründe
für das Stocken des Fortschritts zum Freihandel langfristig-struktureller Art sind. Sie werden nicht so schnell verschwinden, weil die gesellschaftlichen Grundkonstellationen, die sie bedingen, sehr stabil sind.
Sie werden sich eher noch verstärken, und zwar mit dem weiteren
Wachstum und Strukturwandel der Entwicklungs- und Schwellenländer hin zu Industrienationen und dem Wandel der Industrienatio-
94
Karl-Heinz Paqué
nen selbst zu einer – tatsächlich oder vermeintlich – post-materiellen
Werthaltung und Mentalität, die ökologische und soziale Bedenken
besonders ernst nimmt oder zumindest behauptet, dies zu tun. Salopp
formuliert: Die Großwetterlage für die globale Liberalisierung des
Handels wird eher schlechter als besser. Es ist deshalb völlig offen, wie
überhaupt die Doha-Runde zu einem erfolgreichen Ende geführt werden könnte.
Eine solche Stagnation ist sicherlich keine Katastrophe für den Liberalismus. Denn zu viel ist an Freihandel erreicht worden, als dass
selbst die skeptischen Kräfte bereitstehen könnten, die Erfolgsgeschichte des Welthandels und der WTO mit brachialer politischer Gewalt
zurückzudrehen. Jedenfalls ist ein Rückfall, wie er mit dem Ersten
Weltkrieg, der Zwischenkriegszeit und dem Zweiten Weltkrieg stattfand, heute wohl doch sehr unwahrscheinlich. Ihn zu beschwören wäre
düstere Schwarzmalerei. Gleichwohl spreche ich von (schleichender)
Krise. Der Grund ist zunächst eher polit-psychologisch als ökonomisch: Eine Welt, in der das freie Austauschen von Waren und Dienstleistungen über nationale Grenzen hinweg den Stellenwert eines zentralen gesellschaftlichen und globalen Ziels verliert, läuft Gefahr, sich
generell von einer konstruktiv-kooperativen Haltung zu entfernen, und
zwar sowohl innen- als auch außenpolitisch. Das wilhelminische Kaiserreich liefert ein anschauliches, wenn auch sicherlich extremes Beispiel dafür: Die Ideale der bürgerlichen Selbstverantwortung und der
Völkerverständigung, wie sie in der Revolution von 1848 ihren Höhepunkt fanden, verblassten im Kaiserreich, gewissermaßen pari passu
mit dem Ideal des Freihandels. Und mit ihnen verblasste die Vorstellung, dass globales Wachstum und weltweite Integration ein „Positivsummenspiel“ sind, von dem letztlich alle profitieren. Stattdessen begannen aggressive imperialistische Träume an Gewicht zu gewinnen:
die Vorstellung, man müsse einen „Platz an der Sonne“ erobern, und
das ginge nur auf Kosten anderer (damals vor allem: Großbritanniens).
Die Gefahren sehen heute natürlich anders aus als damals. Ich sehe
die Hauptgefahr in der Gewichtsverlagerung in der Weltwirtschaft und
in den sie tragenden internationalen Organisationen, namentlich der
WTO. Tatsächlich wachsen mit Ländern wie China, Indien, Brasilien
und Indonesien heute potenzielle wirtschaftliche Riesen in die weltwirtschaftliche Arbeitsteilung, die keineswegs – wie die Länder Europas und Nordamerikas – aus einer gefestigten liberalen Tradition der
Transatlantischer Freihandel
95
Gesellschaftspolitik kommen. Die Lage ist insofern ganz anders als im
19. Jahrhundert: Damals war der lange bewunderte Pionier des Freihandels und der Industrialisierung Großbritannien – eine Nation also,
die schnell als Mutterland des Liberalismus galt und seither immer
geblieben ist. Ihm folgten damals Nationen wie Frankreich und das
junge Deutsche Reich, genau weil der Freihandel als ein so attraktives
und erfolgreiches Konzept erschien, dass man ihn – jedenfalls zunächst
– als Ordnungsrahmen übernahm. Erst als sich auch damals die Gewichte zu verlagern begannen, gewann auch das etatistische Denken
an Raum, etwa ab den späteren 1870er Jahren. Heute ist die Gewichtsverlagerung überall statistisch ablesbar, und sie geht hin zu
Ländern, die eine lange Tradition des Protektionismus haben und seit
ihrer Öffnung eine eher neomerkantilistische Politik betreiben.
Klassisches Beispiel dafür ist das noch immer formal kommunistische China. Ganz offensichtlich geht es dort der Politik nicht darum,
Idealen der Freiheit zu folgen, sondern die Weltmärkte erfolgreich mit
eigenen Produkten zu beliefern und damit die grundlegende Industrialisierung und schließlich Modernisierung des Landes zu betreiben. Ein
„ideologisches Bekenntnis“ zu den Prinzipien eines freien Handels mit
fairen Wettbewerbsbedingungen und dem Schutz des privaten Eigentums bis hin zu den „intellectual property rights“ wird man in der
politischen Grundphilosophie des Landes kaum finden. Und sollte ein
solches Bekenntnis doch ausgesprochen werden, so ist auf lange Sicht
ein gewisses Misstrauen berechtigt, wie tief die Bindung an freiheitliche Prinzipien wirklich geht. Ähnliches lässt sich für die große Mehrzahl der Entwicklungs- und Schwellenländer festellen, die in den
nächsten Jahren die Dynamik der Weltwirtschaft beherrschen werden.
Die historischen Gründe sind im Einzelfall ganz unterschiedlich – in
Brasilien zum Beispiel die Reste einer stark populistischen Tradition,
wie sie in Lateinamerika üblich ist, in Indien ein lokales Klientel- und
Kastendenken, das trotz stabil funktionierender Demokratie noch
lange nicht verschwunden ist.
Kurzum: Im Club der großen Nationen der Weltwirtschaft werden
immer mehr Länder Mitglied sein, denen es noch auf absehbare Zeit
an einem soliden Fundament des freiheitlichen Denkens fehlt. Die
Marktwirtschaft und der „Kapitalismus“ sind dort sehr junge Pflanzen, deren Wurzeln noch nicht sehr tief in das Wertesystem der Bevölkerung und der politischen Eliten hineinreichen. Von dort ist jedenfalls
96
Karl-Heinz Paqué
keine Wiederbelebung jenes kraftvollen Impulses liberalen Denkens zu
erwarten, wie er sich im Zuge der Integration Europas und Nordamerikas in die Weltwirtschaft bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts entwickelte. So positiv also die globale Wirtschaftsdynamik für
sich genommen sein mag – als Weg in den Wohlstand in vielen vormals bitterarmen Regionen der Welt –, so wenig lässt sich von ihr eine
Festigung der Welthandelsordnung erwarten.
2
Therapie: Transatlantisches Freihandelsabkommen
Soweit die Diagnose des globalen Status quo. Was hat nun ein
transatlantisches Freihandelsabkommen damit zu tun? Die Antwort
lautet: sehr viel. Die Gründe sind dabei wirtschaftlich und politisch,
allerdings mit einem klaren Übergewicht des Politischen.
Beginnen wir gleichwohl mit der ökonomischen Seite. Zunächst
gilt es festzuhalten: Selbst heute noch entfallen auf Europa plus Nordamerika – oder genauer: die Europäische Union (plus assoziierte
Nicht-EU-Mitgliedstaaten) und die NAFTA („North Atlantic Free
Trade Association“ mit den Vereinigten Staaten, Kanada, Mexiko)
etwa 50 Prozent des Welthandels. Und dies nach immerhin fast drei
Jahrzehnten des kräftigen Wirtschaftswachstums einiger riesiger Entwicklungs- und Schwellenländer, verbunden mit deren höchst dynamischer Integration in die Weltwirtschaft. Es besteht natürlich kein Zweifel, dass der Handelsanteil Europas und Nordamerikas in den kommenden Dekaden im Trend weit unter die 50-Prozent-Marke sinken
wird. Gleichwohl wird er substanziell bleiben – zumal dann, wenn es
der Eurozone schließlich doch gelingt, aus der derzeitigen Schuldenkrise herauszukommen und irgendwann wieder auf einen einigermaßen
stabilen Wachstumspfad zurückzufinden. Hinzu wird kommen, dass
sich spätestens in zwei bis drei Jahrzehnten das Wachstums- und Aufholtempo von Ländern wie China und Brasilien und vielleicht auch
Indien deutlich verlangsamen wird – wie stets in Volkswirtschaften,
die sich im Lebensstandard den Spitzenniveaus der Welt nähern. Irgendwann werden die Handelsgewichte einem neuen einigermaßen
stabilen Zustand zustreben, von dem heute noch niemand weiß, wo
genau er liegt. Gleichwohl ist es absolut plausibel zu unterstellen, dass
selbst in diesem neuen Handelsgleichgewicht Nordamerika und Europa weiterhin auch quantitativ bedeutende Akteure sein werden.
Transatlantischer Freihandel
97
Hinzu kommt die qualitative Dimension, die für Europa und
Nordamerika noch zunehmend an Gewicht gewinnen wird. Sieht man
von Japan, Australien und Neuseeland ab, so wird in keiner Region
der Welt der Druck in Richtung der Entwicklung zu wissens- und innovationsintensiver Produktion größer sein als in Europa und Nordamerika. Der Grund liegt auf der Hand: In der neuen globalen Arbeitsteilung, in der immer mehr bevölkerungsreiche Entwicklungs- und
Schwellenländer den Bereich industrieller Massenherstellung bis hin in
die Bereiche höherer Technologien beherrschen, müssen die global
führenden Nationen – wollen sie an der Spitze bleiben – ihre Produktpalette in Richtung der qualitativ höchstwertigen Waren und Dienstleistungen weiterentwickeln. Der weltwirtschaftliche Strukturwandel
bleibt also weiterhin, was er heute schon ist: eine Art Wettrennen der
Innovations- und Imitationskraft. Ergebnis wird sein, dass Europa und
Nordamerika immer mehr zum Ort des qualitativen Wachstums werden. Dies gilt gerade auch dann, wenn – wie derzeit in den USA – ein
Trend zur Re-Industrialisierung einsetzt, der bestimmte Produktionslinien, die früher ins Ausland verlagert wurden, wieder in die USA zurückholt. Denn dies werden wahrscheinlich genau jene Produktionslinien sein, die aufgrund der Nähe staatlicher und privater Forschung
und Entwicklung florieren und damit auch zur Innovationskraft des
Landes beitragen. Ähnliches gilt für allfällige Bemühungen in den Krisenländern der Eurozone, durch Stärkung einer exportfähigen Industrie nach Platzen der Immobilienblasen zu einem nachhaltigen Wachstum zurückzukehren.
Kurzum: Quantitativ und qualitativ bleiben Europa und Nordamerika – trotz eines Verlusts an relativer Bedeutung, was die Anteile
am Welthandel betrifft – überaus wichtige „global player“. Hinzu
kommt ihre Funktion als das, was man wirtschaftliche Pioniere nennen
könnte: Gerade wegen der hohen Wissens- und Innovationsintensität
ihrer Produkt- und Exportpalette werden sie in vielen neuen Produktbereichen die ersten sein, die auf völlig neuartige Fragen der internationalen Handelsordnung stoßen. So ist zum Beispiel die schon traditionelle Führungsrolle der USA im Kampf für den Schutz intellektueller
Eigentumsrechte nur zu verstehen mit Blick auf die besondere Interessenlage weltweit agierender amerikanischer Produzenten vor allem in
der Softwarebranche. Niemand kann genau voraussehen, welche neuen Produktionszweige eine innovationskräftige Wissensgesellschaft
98
Karl-Heinz Paqué
hervorbringt, aber dass es welche geben wird, ist hochwahrscheinlich.
Insofern wird die wirtschaftliche und handelspolitische Pionierrolle
Europas und Nordamerikas erhalten bleiben, vielleicht sogar noch
akzentuiert.
Ein Freihandelsabkommen zwischen den USA und der Europäischen Union betrifft also durchaus zwei Industrieregionen der Welt,
die auf Dauer von großer ökonomischer Bedeutung sind. Höchst spekulativ ist allerdings die Frage, wie stark die Wachstumsimpulse für
Nordamerika und Europa ausfallen, wenn es tatsächlich zu einem
solchen Abkommen kommt. Hier ist Vorsicht geboten, denn es handelt
sich um einen letzten – wenn auch wichtigen – Schritt hin zur Integration zweier Großregionen, die bereits heute relativ stark miteinander
über den Handel verwoben sind. Substanzielle Handelshemmnisse gibt
es vor allem im Agrarbereich, wo die USA und die Europäische Union
über Jahrzehnte zwei unterschiedliche Varianten des Protektionismus
verfolgt haben und wo derzeit, was den Einsatz neuer Technologien
betrifft, die Wege weit auseinander laufen. Dies gilt vor allem für den
Einsatz von Hormonen in der Fleischproduktion und die Grüne Gentechnik, die in den USA zur Standardtechnologie der Agrarwirtschaft
gehört, in Europa aber mit großer Skepsis betrachtet wird.
Tatsächlich spricht die Geschichte der Europäischen Integration
eher dafür, die Wachstumsimpulse des Freihandels bestenfalls als moderat und sehr langfristig einzustufen. Man erinnert sich an viele
höchst optimistische Prognosen, die Ende der 1980er Jahre mit Blick
auf die Vollendung des Europäischen Binnenmarktes gemacht wurden
und allesamt nicht eintrafen. Der Grund liegt auf der Hand: Auch
Europa war Ende der 1980er Jahre schon hochintegriert, und der letzte große Schritt der Liberalisierung brachte deshalb weit weniger an
Wachstumsdynamik als analoge Schritte bis in die 1970er Jahre, die
zur Öffnung vormals strikt geschlossener Märkte führten.
Aus diesen Gründen liegen letztlich doch die wichtigsten Argumente für eine transatlantische Freihandelszone auf der politischen Ebene.
Dies gilt insbesondere, wenn man die Zukunft der Welthandelsordnung in den Blick nimmt: Nicht das eher marginale zusätzliche Wachstum zweier industrieller Großregionen zählt, sondern die politischen
Chancen, die sich daraus ergeben. Sie bestehen im Wesentlichen aus
drei Aspekten:
Transatlantischer Freihandel
–
–
–
99
Eine transatlantische Freihandelszone signalisiert weltweit,
dass der Freihandel ein zentrales politisches Ziel bleibt. Dies ist
überaus wichtig in einer Zeit, in der andere globale Probleme
wie der Kampf gegen den Klimawandel den Freihandel auf der
politischen Agenda der industrialisierten Welt verdrängt zu
haben scheinen. Das Signal hat sehr langfristige Bedeutung: Es
macht klar, dass mit der Etablierung einer funktionierenden
WTO, die mit fast 160 Mitgliedstaaten mehr als 90 Prozent
des Welthandels abdeckt, der Kampf für den freien Austausch
von Waren und Dienstleistungen keineswegs beendet ist. Sie
liefert damit eine politische Botschaft von überragender Bedeutung: Die liberalen Pioniere der Industrialisierung setzen einen
hohen Standard mit Vorbildcharakter für die übrige Welt.
Eine transatlantische Freihandelszone ist eine Art Labor für die
Lösung künftiger Handelsfragen, die sich im multilateralen
Rahmen der WTO derzeit nicht vernünftig angehen lassen. Im
Dialog zwischen zwei großen (und schon hochintegrierten)
Wirtschaftsräumen sind sie dagegen möglicherweise lösbar
und liefern, wenn sie tatsächlich gelöst werden, eine Art Blaupause für multilaterale Verhandlungen in der ferneren Zukunft. Fragen der Grünen Gentechnik (mit der EU als Bremser)
oder militärischer Aufträge (mit den USA als Bremser) sind
Beispiele dafür. Die überschaubare Zahl von Konfliktfeldern
und Interessen sowie der bereits erreichte hohe Grad der Integration mögen dabei helfen, eine Einigung durch Bündelung
und Kombination von Themen in bilateralen Verhandlungen
zu erzielen.
Eine transatlantische Freihandelszone liefert eine positive
„strategische“ Vision eines gemeinsamen Weges zweier Großregionen, die einem gemeinsamen Wertesystem der Freiheit
verbunden sind. An solchen visionären Initiativen hat es in den
letzten Jahren zwischen den USA und Europa gemangelt: Die
amerikanische Politik setzte eindeutig den Schwerpunkt auf die
Entwicklungen der Beziehungen zu anderen Regionen der
Welt, vor allem dem ostasiatischen Pazifikraum. Und Europa
versank in der Folge der Finanz- und Schuldenkrise in einer
innereuropäischen Diskussion, die sich weit von Fragen der
Rolle Europas als Träger von Werten der Freiheit entfernte.
100
Karl-Heinz Paqué
Das Projekt einer Freihandelszone stünde als Initiative im
Rang nicht weit hinter der militärischen Zusammenarbeit in
der NATO.
Den großen Chancen einer politischen Initiative stehen Risiken gegenüber. Es ist realistisch anzunehmen, dass Verhandlungen über eine
transatlantische Freihandelszone sich über Jahre hinziehen werden.
Denn selbst die überschaubare Zahl von Konfliktfeldern liefert weite
Bereiche für harte Auseinandersetzungen, wie die lange Geschichte des
Protektionismus in der Flugzeugindustrie gezeigt hat. Gleichwohl zeigt
gerade auch die Erfahrung mit der industriepolitisch schwierigen
„Causa Airbus/Boeing“, dass Kompromisse letztlich ein Gebot der
politischen Klugheit sind und erreicht werden können, wenn ein hinreichend starker Wille zur Einigung da ist.
Vielleicht bietet die zweite Amtszeit des amerikanischen Präsidenten Barack Obama eine einmalige historische Chance, diesen Willen in
den USA zu mobilisieren. Obama wird sich – da sind sich alle Beobachter einig – in dieser Amtszeit verstärkt den europäischen Partnern
Amerikas zuwenden, nachdem er in seiner ersten Amtszeit das
Schwergewicht eindeutig auf den pazifischen Raum gelegt hatte (und
ohnehin innenpolitische Projekte seine Agenda beherrschten). Hinzu
kommt, dass im Zusammenspiel der Institutionen der amerikanischen
Demokratie der Präsident – in Abgrenzung zum Kongress – traditionell
die Rolle des Freihandelsbefürworters einnimmt. Es liegt nahe, dass in
einer zweiten Amtszeit ohne die Möglichkeit der Wiederwahl diese
Rolle wieder stärker in den Blick rückt.
Auch in Europa stehen die Zeichen nicht schlecht – trotz, vielleicht
sogar wegen der Schuldenkrise. Immerhin brauchen vor allem die Krisenländer der Eurozone einen Integrations- und Wachstumsschub, der
ihnen erlaubt, von der übermäßigen Binnenmarktorientierung des
letzten Jahrzehnts wegzukommen und eine leistungs- und exportfähige
Industrie aufzubauen. Eine verstärkte Öffnung des nordamerikanischen Marktes für preiswerte Industrieprodukte könnte gerade nach
einer Verbesserung der Lohnstückkosten durch die derzeit laufende
Deflationspolitik höchst erwünscht sein. In dieser Hinsicht drängen
sich sogar Parallelen zum Marshall-Plan in den 1950er Jahren auf: Wie
damals geht es heute um die Re-Integration von Teilen Europas in die
Weltwirtschaft, und da spielt der transatlantische Handel eine wichtige
Rolle.
Transatlantischer Freihandel
101
Fazit: Die Chancen überwiegen die Risiken bei Weitem. Klar ist allerdings, dass ein Projekt dieser Art, ist es einmal auf dem Verhandlungsweg, nicht scheitern darf. Denn sonst kehren sich die positiven
Signale und Botschaften genau in ihr Gegenteil um. Dies verlangt auf
beiden Seiten des Atlantiks große Führungskraft und harte Prioritätensetzung. Die Erfahrung lehrt nämlich, dass gerade die detailüberladenen Verhandlungen zu internationalen Handelsfragen ohne politische
Impulse von höchster Ebene eine Tendenz haben, im Sande steckenzubleiben. Ein Startsignal kommt also nur infrage, wenn auch die nötige
Einsatzbereitschaft vorhanden ist, die Verhandlungen in überschaubarem Zeitraum zum erfolgreichen Ende zu führen. Dies muss die Politik
in Brüssel und Washington sehr bald entscheiden.
Moderne Entwicklungspolitik als Zukunftsinvestition
103
Hans-Jürgen Beerfeltz
Von der Patenschaft zur Partnerschaft –
Moderne Entwicklungspolitik als
Zukunftsinvestition
50 Jahre Entwicklungshilfe haben es nicht vermocht, das Wohlstandsgefälle zwischen den wirtschaftlich entwickelten Industrieländern und den ärmsten Staaten der Welt erheblich zu verringern. Jedes
Jahr sterben acht Millionen Menschen an Hunger. Armut, Migration,
Klimawandel, staatliche Fragilität und instabile Märkte berauben viele
Millionen Menschen ihrer Zukunftsperspektiven. Ein „Weiter so“ der
Entwicklungspolitik konnte es so nicht geben. Die deutsche Entwicklungspolitik hat daher unter liberaler Führung die Weichen neu gestellt.
Die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts sind Fragen globaler
Entwicklung. Entwicklungspolitik wird in der Zukunft nicht danach
bewertet werden, wie altruistisch sie ist oder mit wie viel Geld sie die
ärmeren Teile der Welt fördert, sondern danach, wie wirksam sie ist
und ob sie Veränderungen erreichen kann. Wir haben das Ziel, die
Menschen in Entwicklungs- und Schwellenländern dabei zu unterstützen, ihre Lebensbedingungen zu verbessern. Wir wollen nicht unsere
Hilfe oder uns selbst unersetzlich machen – eine erfolgreiche Entwicklungszusammenarbeit bedeutet für uns ganz im Gegenteil, unsere Arbeit langfristig überflüssig zu machen.
Wir möchten, dass die Menschen in den Entwicklungsländern die
Chance haben, in Freiheit und Eigenverantwortung ihr Leben zu gestalten. Wir möchten, dass die Regierungen in den Kooperationsländern
aus eigener Kraft Rahmenbedingungen für den Wohlstand ihrer Bürger
schaffen können und dabei verantwortlich mit der ihnen von den Bürgern geliehenen Macht umgehen. Und wir möchten, dass diese Länder
starke Wirtschaftspartner werden, die ihren Platz im Welthandel finden und an der globalen Entwicklung teilhaben. Kurz: Wir wollen
nicht die Entwicklungshilfe fördern – und damit bestehende Verhält-
104
Hans-Jürgen Beerfeltz
nisse festigen –, sondern die Entwicklungspotenziale. Unsere Politik
steht für partnerschaftliche Kooperation auf Augenhöhe, sie behandelt
Partner als Mündige und macht sie selbstständig. Sie eröffnet damit
Menschen die Chance, ein Leben in Freiheit und Eigenverantwortung
zu führen. Eigenverantwortung und Chancengerechtigkeit sind die
Schlüsselbegriffe, um nachhaltige Verbesserungen der Lebensverhältnisse zu erreichen.
Das wird uns nicht von einem Tag auf den anderen gelingen, und
wir werden das auch nicht alleine bewerkstelligen können. Aber wir
haben bedeutende Schritte hin zu einer Neuausrichtung der deutschen
Entwicklungspolitik getan und sowohl strukturelle als auch konzeptionelle Reformen vollzogen.
Wertegeleitete Interessenpolitik
Entwicklungspolitik ist für uns keine karitative Hilfe – sie ist eine
Zukunftsinvestition im Interesse aller. Mangelnde Lebenschancen
anderswo werden auch unseren Wohlstand hierzulande bedrohen –
zum Beispiel durch Ressourcenknappheit, durch unfreiwillige Migration oder durch terroristische Bedrohungen. Die klassische Entwicklungshilfe hat leider nicht die erhoffte nachhaltige Verbesserung der
Lebenschancen bewirkt. Eine Entwicklungspolitik, die sich als werteund interessengeleitete Zukunftsinvestition versteht, hat ein größeres
Potenzial, nachhaltige Veränderungen in Gang zu setzen. Werte und
Interessen sind für uns grundsätzlich keine Gegensätze.
Unsere Werte konkretisieren sich in den Menschenrechten: Alle
Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Unser
Engagement und unsere ganze Anstrengung sind darauf ausgerichtet,
Menschen die Freiheit von Furcht und Not zu ermöglichen und ihnen
Chancen zu schaffen, ihre Lebensumstände zu verbessern und eigene
Ziele und Rechte zu verwirklichen.
Wir wollen uns daran messen lassen, ob wir mit unserem Handeln
diesen Idealen von Freiheit und Rechtsstaatlichkeit genügend Rechnung tragen. Wir haben daher die Menschenrechte zum Leitprinzip der
deutschen Entwicklungspolitik gemacht. Im Rahmen eines verbindlichen Konzeptes „Menschenrechte in der deutschen Entwicklungspolitik“ haben wir im BMZ eine Art „Menschenrechts-TÜV“ eingeführt.
Damit prüfen wir alle bilateralen staatlichen Neuvorhaben auf ihre
Moderne Entwicklungspolitik als Zukunftsinvestition
105
menschenrechtlichen Wirkungen und Risiken. Menschenrechte sind
für uns nicht ein Thema unter vielen anderen, sondern als Querschnittsthema das Thema, das bei jedem Projekt mitgedacht wird und
bei jedem Regierungsgespräch auf der Tagesordnung steht. Wir haben
damit die Wahrung der Menschenrechte zum zentralen Kriterium für
unsere Zusammenarbeit gemacht und ein Stück weit die „Versäulung“
der Entwicklungsarbeit beendet.
Ein zweites ist mir wichtig: Deutschland hat legitime Interessen.
Sie stehen nicht in einem Gegensatz zu unseren Werten, das Gegenteil
ist richtig: Wir haben Interesse an einem Leben in Freiheit und Frieden
und daran, unseren Wohlstand zu erhalten. Folgen von Fehlentwicklungen machen nicht an Grenzen halt. Es ist daher in unserem eigenen
Interesse, in der Welt für Rechtsstaatlichkeit einzutreten, offene Gesellschaften zu unterstützen, zu unternehmerischem Handeln zu ermutigen. Unsere Entwicklungspolitik gilt daher besseren globalen Rahmenbedingungen im ökonomischen und ökologischen, im politischen und
sozialen Sinn, um so auch die Armut zu beseitigen. Wenn wir dazu
beitragen können, dass Globalisierung kein Schicksal ist, sondern Lebenschancen für alle birgt, dann entspricht das nicht nur unseren Werten, sondern auch unseren Interessen.
Dabei gehen wir auch neue Wege. Wir nutzen das Engagement der
Wirtschaft entwicklungspolitisch stärker, um Beschäftigung zu schaffen und Armut zu reduzieren. Wenn mit Hilfe der Privatwirtschaft
bessere Entwicklungserfolge erreicht werden, dann gewinnen alle Beteiligten: die Menschen in den Kooperationsländern und die Menschen
in Deutschland. Nachhaltige Entwicklung kann es nur mit einem funktionierenden Privatsektor geben. Die Betonung einer stärkeren Rolle
von Handel und Privatwirtschaft ist dabei einer der wichtigen Aspekte
einer verantwortungsvollen Entwicklungspolitik. Wirtschaft, Entwicklungspolitik und Zivilgesellschaft sind bei uns enge Partner, keine Gegensätze. Entscheidend dabei sind Rechtsstaatlichkeit, offene Gesellschaften sowie unternehmerisches Handeln im Rahmen einer fairen
Marktordnung.
Unsere Werte sind nicht das Gegenteil von Interessen, unsere Werte sind unsere wichtigsten Interessen. Wirtschaftliche Interessen haben
dabei nicht Vorrang vor entwicklungspolitischen Zielen, sondern dienen ihnen. Wenn es zu Zielkonflikten kommt, wenn Menschenrechte
bedroht sind, dann werden wir nie wirtschaftlichen Interessen den
106
Hans-Jürgen Beerfeltz
Vorrang geben. Menschenrechte sind niemals Verhandlungsmasse.
Und Menschenrechte sind für uns auch niemals Interpretationssache.
Denn es gibt einen Kernbestand an Menschenrechten, die unbestreitbar universal gelten und nicht lediglich eine westliche Erfindung sind.
Niemand will gefoltert und niemand will von einer Geheimpolizei
verschleppt werden; alle Menschen wollen sich frei äußern können;
alle Menschen sind hungrig auf Bildung, und alle Menschen möchten
an wirtschaftlicher, sozialer und politischer Entwicklung teilhaben.
Unsere liberale Entwicklungspolitik setzt sich daher ohne Vorbehalte
für die Menschenrechte ein. Und kein Land kann sich mit Verweis auf
„ownership“ die menschenrechtliche Einmischung verbieten.
Partnerschaft auf Augenhöhe
Die Eigeninteressen in der Entwicklungszusammenarbeit anzuerkennen und zu benennen, bedeutet, ehrlich mit sich und seinen Partnern zu sein. Es bedeutet, die ärmeren Länder ernst zu nehmen – als
wirtschaftliche und politische Partner heute und in Zukunft. Eigeninteresse zu benennen, ist Voraussetzung dafür, dass wir unseren Partnerländern auf Augenhöhe begegnen. Barmherzigkeit kann viel Gutes
bewirken, doch uns geht es um strukturelle Veränderungen. Almosen
erniedrigen Menschen, statt sie zu befähigen, ihr Leben selbstbestimmt
zu leben. Uns kann es daher nicht um gönnerhafte Hilfe gehen, denn
das macht die einen zu edlen Spendern und die anderen zu Bettlern.
Uns geht es um eine respektvolle Partnerschaft, weil wir die Menschen und ihre Würde in den Vordergrund stellen. Wir sehen die Menschen in den Entwicklungsländern nicht als Hilfsempfänger, vielmehr
sind sie die Schlüsselakteure ihrer eigenen Entwicklung. Deshalb setzen
wir uns ein für partnerschaftliche Zusammenarbeit und nicht für paternalistische Bevormundung: Partnerschaft statt Patenschaft! Das
muss in einer Welt prinzipiell gleichberechtigter Menschen unser Imperativ sein.
Umsetzung von Wirksamkeitsprinzipien
Entwicklungspolitik wird in der Bevölkerung zwar als wichtig erachtet, dennoch steht sie unter einem starken Rechtfertigungsdruck.
Die Bürger erwarten zu Recht, dass die Mittel für Entwicklung effi-
Moderne Entwicklungspolitik als Zukunftsinvestition
107
zient und zielgerichtet eingesetzt werden. Viel hilft eben nicht unbedingt viel! Wir müssen uns von der Vorstellung verabschieden, dass
Entwicklungspolitik alles leisten könnte, wenn ihr nur genügend Mittel
zur Verfügung stünden. Ohne finanzielle Mittel kann Entwicklungspolitik nicht agieren, aber es kommt nicht nur auf die Summe an, sondern auf die Wirksamkeit des investierten Geldes. Wir können mit –
immer begrenzten! – Steuermitteln mehr Wirkung erzielen, wenn wir
Strukturen effizient gestalten, durch Evaluierungen Fehlinvestitionen in
der Zukunft vermeiden und aus Fehlern systematisch lernen, uns in
Abstimmung mit anderen auf bestimmte Aufgaben konzentrieren und
uns auch international besser koordinieren. Die Stärkung der Wirksamkeit der Zusammenarbeit ist einer der erklärten Arbeitsschwerpunkte des BMZ. Denn der Erfolg unserer Arbeit misst sich an den
erzielten Wirkungen.
Mit der Fusion der technischen Durchführungsorganisationen
(GTZ, InWEnt, DED) zur GIZ wurde die größte Strukturreform
durchgeführt, die die deutsche Entwicklungspolitik je erlebt hat. Die
Zusammenarbeit ist dadurch schlagkräftiger und wirksamer geworden; Doppelstrukturen wurden abgebaut. Unnötiger Koordinierungsaufwand entfällt, vorher zersplitterte Instrumente werden aus einer
Hand, zugeschnitten auf die Kooperationsländer, angeboten und können deutlich mehr Synergien und Wirkung entfalten. Das BMZ konnte
gestärkt werden, die politische Steuerung der Durchführungsorganisationen wurde deutlich verbessert. Das war ein Kraftakt, aber wir haben diesen Umbau, den die OECD aufgrund der Koordinierungs- und
Effizienzverluste in der alten institutionellen Struktur seit langem angemahnt hatte, gut bewältigt. Wir haben nun eine innovative Organisation und kein Nebeneinander von Institutionen.
Darüber hinaus werden durch das neu gegründete Deutsche Evaluierungsinstitut der Entwicklungszusammenarbeit (DEval) entwicklungspolitische Maßnahmen erstmals unabhängig und systematisch auf
ihre Wirksamkeit, Wirtschaftlichkeit und Nachhaltigkeit evaluiert. Die
Ergebnisse der Evaluierungen helfen uns, unsere Arbeit immer wieder
an unserem Anspruch zu messen: Haben wir etwas bewirkt? Haben
wir die Freiheit und die Lebenschancen der Menschen verbessert? Haben wir nachhaltiges Wachstum gefördert? Wir werden sicherlich nicht
immer gelobt werden, aber wir werden uns immer bemühen, noch
bessere Ergebnisse zu erzielen. Diese transparente Überprüfung erhöht
108
Hans-Jürgen Beerfeltz
die Akzeptanz und Legitimität für das, was wir entwicklungspolitisch
tun.
Als weiteren Wirksamkeitsschritt haben wir die Liste der Kooperationsländer nochmals gestrafft. Wir konzentrieren unsere Arbeit auf
jetzt 50 Kooperationsländer statt noch 58 wie zu Beginn der Legislaturperiode. Die Konzentration unserer Aktivitäten auf eine begrenzte
Zahl von Kooperationsländern und Betätigungsfeldern macht diese
wirksamer, sichtbarer und signifikanter. Und als erstes haben wir uns
entwicklungspolitisch von China getrennt.
Mit diesen Strukturreformen der deutschen Entwicklungszusammenarbeit konnte das gesamte Politikfeld entscheidend gestärkt werden. Dieses „Weniger ist Mehr“ entspricht den Beschlüssen der europäischen und internationalen Arbeitsteilung, die Deutschland entscheidend unterstützt und vorangetrieben hat. Denn der internationale „Aid
Effectiveness“-Prozess, der in Paris 2005 seinen Anfang nahm und in
Busan 2011 entscheidend ausgebaut werden konnte, formuliert Wirksamkeitsprinzipien, für die sich diese Bundesregierung mit Nachdruck
eingesetzt hat: eine bessere Arbeitsteilung unter den Gebern, größere
Wirksamkeit und Effizienz und eine stärkere Einbeziehung der Privatwirtschaft.
Alle Wirksamkeitsdebatten bleiben aber am Ende nutzlos, wenn
entwicklungsförderliche Rahmenbedingungen fehlen und keine Kohärenz mit anderen Politikfeldern gelingt. Um in der Bundesregierung die
Entwicklungspolitik besser als Querschnittsthema zu etablieren, hat
die Bundesregierung einen Ressortkreis zur Koordinierung der ODA
(Official Development Assistance) ins Leben gerufen – unter Leitung
des BMZ! Politikkohärenz ist gerade dann wichtig, wenn es um die
Abstimmung zwischen Außen-, Sicherheits- und Entwicklungspolitik
geht, wie in Afghanistan und anderen fragilen Staaten. Hier zeigt sich,
dass Entwicklungspolitik ein Schlüsselbereich für den Zukunftsaufbau
in vielen Staaten ist. Das gilt gleichermaßen für Konflikte zwischen
Agrarpolitik und Entwicklung einheimischer Märkte in unseren Partnerländern oder mit der Wirtschaftspolitik beim Thema Rüstungsexporte.
Moderne Entwicklungspolitik als Zukunftsinvestition
109
Stärkung der Zivilgesellschaft
Trotz aller Wirksamkeitsstrategien kann der Staat alleine die Herausforderungen von Entwicklung nicht bewältigen. Eine gelungene
Entwicklung erfordert daher die Mobilisierung aller gesellschaftlichen
Kräfte. Ohne Zivilgesellschaft und Wirtschaft geht es nicht – weder bei
uns noch in den Partnerländern. Es ist deshalb ein zentrales Anliegen
unserer liberalen Entwicklungspolitik, diese Kräfte zu mobilisieren und
zu stärken! Freiheit und Eigenverantwortung sind zentrale Bestimmungselemente unserer Entwicklungspolitik, und die lassen sich nicht
staatlich verordnen, sondern müssen gesamtgesellschaftlich über Grenzen hinweg entwickelt werden.
Das neue BMZ fördert die Auslandsarbeit der Kirchen, der politischen Stiftungen und der Nichtregierungsorganisationen mit erheblichen zusätzlichen Mitteln. Diese Träger leisten wichtige Beiträge in der
Entwicklungszusammenarbeit – sowohl in den Entwicklungsländern
als auch in der entwicklungspolitischen Bildungs- und Informationsarbeit in Deutschland. Zur Stärkung dieser Arbeit haben wir die finanzielle Förderung der zivilgesellschaftlichen Programme von 602 Millionen Euro (2009) auf 725 Millionen Euro 2012 deutlich erhöht. Mit
dem vom BMZ aufgelegten „Demokratiefonds“ konnten politische
Stiftungen zum Beispiel ihre seit vielen Jahren bestehenden Kontakte in
den arabischen Ländern nutzen und mit gezielten Projekten den „Arabischen Frühling“ unterstützen. Deutschland war damit das erste EULand, das die zivilgesellschaftlichen Kräfte in diesen Ländern stärkte.
Die Kirchen können über ihre weltweiten Partnerstrukturen selbst
unter den schwierigen Rahmenbedingungen eines Konfliktlandes wie
der Demokratischen Republik Kongo arbeiten. So fördert der Evangelische Entwicklungsdienst in der Provinz Südkivu ein Projekt, das
Menschenrechtsaktivisten stärkt, und ein Landwirtschaftsprojekt von
Misereor im Süden des Landes hat die Ernährungssicherung gebessert.
Ohne diese zivilgesellschaftlichen Partner könnte Entwicklungspolitik
kaum vor Ort funktionieren.
Daneben unterstützen wir auch zivilgesellschaftliche Akteure, die
ihr Engagement in die Entwicklungspolitik einbringen wollen. Der
entwicklungspolitische Freiwilligendienst weltwärts hat bislang rund
16.500 jungen Menschen im Alter von 18 bis 28 Jahren ermöglicht,
sich in Entwicklungsländern zu engagieren und internationale Lernerfahrungen zu sammeln. Bessere Multiplikatoren für die Zukunft kön-
110
Hans-Jürgen Beerfeltz
nen wir uns gar nicht wünschen! Ferner arbeiten wir enger mit den
Ländern und Kommunen zusammen – als wichtigen Scharnieren zwischen Regierung und Zivilgesellschaft.
Seit 2012 ist es für Bürgerinnen und Bürger sowie zivilgesellschaftliche Organisationen und Kommunen sehr viel leichter, sich entwicklungspolitisch zu engagieren. Wir haben in Engagement Global, dem
Service für Entwicklungsinitiativen, die Instrumente der entwicklungspolitischen Zusammenarbeit mit der Zivilgesellschaft und den Kommunen gebündelt. Damit gibt es erstmalig in Deutschland eine zentrale
Anlaufstelle für die Vielfalt des entwicklungspolitischen Engagements
sowie der Informations- und Bildungsarbeit: eine Telefonnummer, eine
Adresse und eine Website. Engagement Global informiert zu aktuellen
Projekten und Initiativen in Deutschland und weltweit, berät Einzelne
und Gruppen zu entwicklungspolitischen Vorhaben und fördert diese
finanziell. Das stärkt das Engagement der Zivilgesellschaft – sowohl in
den Partnerländern der deutschen Entwicklungszusammenarbeit als
auch in Deutschland. Ob Vereine und Nichtregierungsorganisationen,
Unternehmen und Kommunen, Lehrer und Schüler oder einfach nur
interessierte Bürgerinnen und Bürger: Wir möchten jeden zum Mitmachen bewegen, der sich für Entwicklungspolitik interessiert!
Das BMZ hat in den vergangenen Jahren den – oft auch kritischen
– Dialog mit der deutschen Zivilgesellschaft intensiviert. Dabei verfolgen wir zwei Kernanliegen: erstens möglichst viele Bürgerinnen und
Bürger dafür zu gewinnen, sich entwicklungspolitisch zu engagieren,
und zweitens Zivilgesellschaft, Staat und Wirtschaft miteinander ins
Gespräch zu bringen – denn um wirksam sein zu können, muss Entwicklungspolitik in der Gesellschaft verankert sein.
Einbindung der Wirtschaft
Besonders die professionelle Expertise der Wirtschaft ist ein wichtiger Pfeiler unseres Ansatzes. Wirtschaft und Entwicklungspolitik sind
für uns wichtige Partner, keine Gegensätze wie bei früheren Regierungen. Wir haben die Privatwirtschaft in unsere Arbeit eingebunden,
denn durch ihre Innovationskraft, Expertise und durch ihr Kapital
leistet sie einen bedeutenden Beitrag zur Entwicklung in unseren Kooperationsländern.
Moderne Entwicklungspolitik als Zukunftsinvestition
111
Wirtschaftliche Zusammenarbeit braucht günstige Rahmenbedingungen und eine leistungsfähige Privatwirtschaft. Beides ist im Fokus
unserer Entwicklungszusammenarbeit. Wir tragen vor Ort durch Politikberatung dazu bei, dass sich die wirtschafts- und handelspolitischen
Rahmenbedingungen und das Investitionsklima verbessern. Rechtssicherheit und Korruptionsbekämpfung sind für uns dabei von zentraler
Bedeutung. Außerdem haben wir die wirtschaftspolitische Unterstützung unserer Kooperationsländer noch stärker als bisher auf ökologisch nachhaltiges und beschäftigungswirksames Wachstum fokussiert.
Das große Potenzial der Wirtschaft muss und kann noch besser für
die Entwicklungspolitik erschlossen werden. Deutsche Firmen haben
beispielsweise in Bereichen wie Klimaschutz, Wasser, Gesundheit oder
erneuerbare Energien intelligente zukunftsweisende Lösungen anzubieten, die auch für Entwicklungs- und Schwellenländer hochattraktiv
sind. Und in den Entwicklungs- und Schwellenländern entstehen die
Märkte der Zukunft. Lokale Wertschöpfungsketten schaffen Arbeitsplätze und Steuereinnahmen in den Kooperationsländern. Die Produktivität lokaler Unternehmen, Investitionen und verantwortungsvolles
Engagement sind entscheidende Voraussetzungen für Wirtschaftswachstum in Entwicklungsländern. So schaffen wir „Win-Win“-Situationen: Auf ihrem Weg hin zu nachhaltiger Wirtschaftsentwicklung
und zum Einsatz unserer weltweit führenden Technologien wollen wir
Entwicklungs- und Schwellenländer unterstützen. Es geht nicht um
Almosen, sondern um Entwicklung durch wirtschaftliche Zusammenarbeit.
Entwicklungs- und Schwellenländer sind für uns die Märkte und
Wirtschaftspartner von morgen. Das BMZ trägt dazu bei, dass deutsches Know-how sich an Herausforderungen in Kooperationsländern
am Markt bewähren kann und unsere führenden Technologien angewandt und für neue Märkte fortentwickelt werden. Durch gute Regierungsführung, Korruptionsabbau, Bildung und Beratung in verschiedenen Sektoren wie z. B. der Energie- und Wasserversorgung schafft
das BMZ die nötigen guten Rahmenbedingungen für die Wirtschaft.
All das ist mehr als Außenpolitik. Je mehr Länder von der Globalisierung profitieren, desto mehr können starke Exportnationen wie wir
profitieren.
Um die Kooperation mit der Wirtschaft effektiver zu gestalten, haben wir zahlreiche Neuerungen eingeführt. Mitte 2010 haben wir im
112
Hans-Jürgen Beerfeltz
BMZ eine Servicestelle für die Wirtschaft eingerichtet. Sie ist der zentrale Ansprechpartner für Unternehmer, die mit entwicklungspolitisch
sinnvollen Geschäftsideen aktiv werden wollen. Wir haben zwei neue
Instrumente geschaffen: Wir fördern Machbarkeitsstudien kleinerer
Investitionen, und wir reduzieren Transaktionskosten bei der Vergabe
kleinvolumiger Kredite. So fördern wir gezielt mittelständische Unternehmen, die direkt in Entwicklungsländer investieren wollen. Wir
entsenden Verbindungsreferenten, sogenannte „EZ-Scouts“, in deutsche Wirtschaftsverbände und an deutsche Außenhandelskammern in
Entwicklungs- und Schwellenländern. Sie sollen Unternehmen individuell zu Investitionsvorhaben in unseren Partnerländern beraten. Sie
unterstützen vor Ort die Verzahnung von Entwicklungszusammenarbeit und Außenwirtschaft. Darüber hinaus gibt es ein ManagerTraining-Programm für Führungskräfte aus ausgewählten Entwicklungsländern. Sie werden Erfahrungen in deutschen Unternehmen
sammeln. Im Gegenzug werden sie deutschen Unternehmen Kontakte
in Entwicklungsländern ermöglichen. Denn wer sich kennt, kommt
besser ins Geschäft! Last but not least wollen wir das bewährte Programm develoPPP.de für Entwicklungspartnerschaften mit der Wirtschaft weiter ausbauen. Dabei werden wir besonders den Mittelstand
berücksichtigen.
Es geht uns darum, entwicklungspolitische Ziele mit außenwirtschaftlichen Interessen so miteinander in Einklang zu bringen, dass
beide Seiten, Partnerländer und Unternehmen, den größtmöglichen
Nutzen erzielen. Im Mittelpunkt stehen dabei immer die Menschen in
den Entwicklungsländern.
Globalisierung gestalten
Armut, Klimawandel, fragile Staatlichkeit sind nur einige der immensen Herausforderungen, vor denen wir stehen – und auf die wir als
Bundesregierung allein keine Antworten geben können. Ihre Bewältigung erfordert eine verstärkte und wirksamere Zusammenarbeit auf
internationaler Ebene. Das bedeutet, dass wir uns mit anderen Gebern
besser abstimmen, aber auch, dass wir unsere Kooperationsländer
stärker in die Verantwortung nehmen.
So haben wir die Zusammenarbeit mit den Schwellenländern neu
ausgerichtet. Wir möchten, dass wir die langjährig gewachsenen Bezie-
Moderne Entwicklungspolitik als Zukunftsinvestition
113
hungen mit einer kleinen Gruppe von Schwellenländern, die weiter
Unterstützung zur Bewältigung ihrer großen Entwicklungsprobleme
erhalten, aber zunehmend selbst globale Verantwortung als Partner
nachhaltiger Entwicklung in ärmeren Ländern übernehmen, zu einer
Weiterentwicklung der Beziehungen nutzen. Mit den Ländern Brasilien, Indien, Indonesien, Mexiko und Südafrika gehen wir eine „Globale Entwicklungspartnerschaft“ ein und fokussieren auf drei Bereiche:
Schutz von Klima und Umwelt, Förderung nachhaltiger Wirtschaftsentwicklung und Mitgestaltung globaler Entwicklungsagenden. Mit
Ländern, die wir aus der klassischen Entwicklungszusammenarbeit
„graduieren“ können, suchen wir neue Formen der Zusammenarbeit.
So erhält zum Beispiel die Türkei keine neuen Zusagen mehr, Programme dort laufen aus.
Wir haben auch unser entwicklungspolitisches Engagement in fragilen Staaten im Sinne einer Friedensinvestition ausgebaut. Entwicklungs- und Sicherheitspolitik sind dabei zwei Seiten einer Medaille: Es kann keine Entwicklung ohne Sicherheit, aber auch keine dauerhafte Sicherheit ohne Entwicklung geben. Da die Ursachen der Fragilität nicht allein mit entwicklungspolitischen Mitteln bekämpft werden
können, haben wir die Zusammenarbeit mit den Ressorts verstärkt
und mit den ressortübergreifenden Leitlinien zum Umgang mit fragilen
Staaten ein Prozedere für den Krisenfall festgelegt.
Afrika ist für uns ein Chancenkontinent, dessen Dynamik wir fördern wollen. Wir glauben, dass die Zukunft Afrikas vor allem in der
zunehmenden politischen und wirtschaftlichen Integration liegt. Wir
wollen, dass Afrika sein enormes Potenzial entfaltet – denn nur ausreichend große Märkte sind wettbewerbsfähig und können Investoren
anziehen, und nur eine stabile und friedliche Region kann im Welthandel bestehen. Wir unterstützen daher den von der Afrikanischen
Union beschlossenen Aufbau einer afrikanischen Friedens- und Sicherheitsarchitektur.
Deutschland hat bilateral seine Hausaufgaben gemacht und die
Entwicklungspolitik vom Kopf auf die Füße gestellt. Diese Positionen
bringen wir auch in die europäische und multilaterale Kooperation ein.
So haben wir in der Europäischen Union im Rahmen der Erstellung
des sogenannten Grünbuchs „Budgethilfe“ maßgeblich darauf hingewirkt, dass die allgemeine Budgethilfe, die in Europa ja zu knapp 25
Prozent aus deutschem Steuergeld finanziert wird, von Europa nicht
114
Hans-Jürgen Beerfeltz
kritik- und kriterienlos vergeben wird. Früher konnte es passieren,
dass Länder, die von Deutschland keinen Cent mehr für ihr Budget
bekommen hätten, weil sie regelmäßig Oppositionspolitiker oder
Journalisten verhafteten, gleichzeitig von der Europäischen Union
durch allgemeine Budgethilfe, finanziert durch unsere Steuergelder,
unterstützt wurden. Das ist nun ausgeschlossen, weil die Europäische
Union Menschenrechtsstandards und Kriterien der guten Regierungsführung als Grundlage für Budgethilfe vorsieht.
Auch bei der multilateralen Zusammenarbeit wirken wir aktiv
daran mit, mehr Wirkung in der internationalen Entwicklungspolitik
zu erzielen. Das BMZ unterstützt Reformansätze, in denen die Entwicklungsorganisationen der Vereinten Nationen auf Länderebene ihre
Zusammenarbeit strategischer, kohärenter und effizienter gestalten
und Doppelstrukturen abbauen. Zum 4. High Level Forum zu Wirksamkeit in Busan konnten wir u. a. internationale Organisationen und
die Europäische Kommission für eine Initiative zur Reduzierung von
Fragmentierung gewinnen. Und wir müssen auch ehrlicher Rechenschaft ablegen über das, was wir tun. Das BMZ möchte auch die Verbesserung des Berichtssystems über die ODA erreichen. Bislang wird
uns ein nach erfolgreichem Programmabschluss verzinst zurückgezahlter Entwicklungskredit negativ angerechnet – wenn der Kredit aber
platzt, dann steigt die ODA-Quote! Das kann nicht ernsthaft unser
Maßstab sein. Im Rahmen von „ODA and Beyond“ sind wir Vorreiter
in der Diskussion über die Modernisierung der Erfassung von Geberleistungen.
Wirksamkeitsprinzipien, wie wir sie in Deutschland umgesetzt haben, müssen auch für die internationalen Entwicklungszusammenarbeitsstrukturen gelten. Dafür muss noch viel Abstimmungs- und Überzeugungsarbeit geleistet werden, denn internationale Reformprozesse
sind langwierig und schwerfällig. Wir werden uns aber weiterhin in die
internationale Debatte aktiv einbringen, die Reformschritte intensiv
mitgestalten und uns immer wieder als innovativer Agenda-Setter positionieren.
Entwicklungspolitik als sichtbare Zukunftsinvestition
Entwicklungspolitik – wenn sie wirksam und nachhaltig ist – kann
die Welt verändern. Sie kann Armut bekämpfen, Umwelt und Res-
Moderne Entwicklungspolitik als Zukunftsinvestition
115
sourcen schützen und letztlich Frieden sichern. Gut gemachte Entwicklungspolitik ist globale Zukunftspolitik, an Werten und Interessen
ausgerichtet. Sie ist genauso entscheidend für die Zukunft der Entwicklungsländer wie für unsere eigene. Und es kommt darauf an, wie
sie gemacht wird: Wenn Entwicklungspolitik als Zukunftsinvestition
wahrgenommen wird, kann sie für Deutschland und für die Welt
sichtbar gute Entwicklungen bewirken. Wenn Freiheit, Lebenschancen
und Eigenverantwortung ihre Leitprinzipien bleiben, dann werden in
Zukunft viel mehr Menschen auf der Welt ihr Leben endlich selbst
gestalten können. Das ist das Ziel einer liberalen Entwicklungspolitik,
und dafür tritt sie sowohl im Inland als auch im Ausland mit Nachdruck ein.
Finanziell ist die deutsche Entwicklungspolitik bereits jetzt ein
Schwergewicht. Deutschland ist drittgrößter Geber in der bilateralen
Entwicklungskooperation weltweit, und das trotz inzwischen sinkender Bundeshaushalte. Der BMZ-Haushalt ist außerdem der zweitgrößte Investitionsetat des Bundeshaushalts. Je nachdem, in welchem Sektor ein Euro investiert wird, fließen – und zwar ohne Lieferaufbindung, im fairen Wettbewerb – bis zu vier Euro in die deutsche Wirtschaft zurück. Entwicklungspolitik darf aber kein Nischendasein führen, sondern muss in der Gesellschaft sichtbar sein. Ein Politikfeld, das
in vielen Ländern der Welt die Stimme Deutschlands repräsentiert,
muss auch im Inland entsprechend wahrgenommen werden. Nur eine
Entwicklungspolitik, die in der Mitte der Gesellschaft verankert ist,
findet das Wohlwollen von Bürgern, die dafür ihr Engagement, ihre
Stimme, ihre Spende und ihre Steuergelder geben.
Erfolgreiche Entwicklungspolitik ist aber nur möglich, wenn Politik, Wirtschaft und Gesellschaft an einem Strang ziehen. Wir haben in
dieser Legislaturperiode bereits vieles erreicht: unsere Werte definiert
und gestärkt, Strukturreformen durchgeführt, Angebote an die Zivilgesellschaft gemacht und die Wirtschaft eingebunden. Es bleibt noch viel
zu tun, aber wir bleiben dran, denn wir wollen mehr Freiheit in der
Welt verankern. Wir sehen unsere Arbeit als globale Zukunftspolitik –
das ist der Anspruch unserer liberalen Entwicklungspolitik.
Deutschland in der EU – Die EU in der Welt
117
Kerstin Brauckhoff/Hermann Otto Solms
Deutschland in der Europäischen Union –
Die Europäische Union in der Welt1
Freiheit, Demokratie, Rechtsstaat, Marktwirtschaft und Wettbewerb: Diese Ziele waren seit Beginn der europäischen Einigung die
Basis der Interessen aller Mitgliedstaaten. Mit der Verwirklichung
demokratischer und rechtsstaatlicher Ordnungen wurde die Grundlage
für Wohlstand geschaffen, denn soziale Marktwirtschaft kann nur dort
Wohlstand generieren, wo Recht und Ordnung die Voraussetzungen
für ein freies und faires Miteinander der Bürger darstellen. Der Erfolg
dieses Modells ist einzigartig und zog im Laufe der Jahre immer mehr
Staaten an, die Mitglied der Erfolgsgemeinschaft Europäische Union
(EU) werden wollten.
Die Garantie demokratischer Rechte und die wirtschaftliche Freiheit im europäischen Binnenmarkt schufen ein Leben der Bürger der
EU in Freiheit, Wohlstand und Sicherheit. Mittlerweile sind nicht nur
Frieden und Sicherheit selbstverständlich geworden. Ebenso selbstverständlich ist es, dass die Bürger der EU die Freiheiten des Binnenmarktes nutzen, um ihr eigenes Fortkommen zu mehren.
Dies gilt umso mehr, als Europas Besonderheit seine Vielfalt auf
engem Raum ist. Europa ist reich an Geschichte, Sprachen, Kunst und
Kultur. Die verschiedenen kulturellen und historischen Facetten europäischer Identität werden zusammengehalten durch gemeinsame kulturelle und rechtliche Traditionen und Wertvorstellungen, die Europa im
Verlauf seiner Geschichte geprägt haben. Hierzu zählt insbesondere die
-------------------------------------------1
Der vorliegende Aufsatz basiert auf dem Papier „Für ein Europa der Freiheit und
der Bürger!“ der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit. Dieses Papier wurde von
einer Experten-Kommission unter Vorsitz von Hermann Otto Solms und unter Beteiligung von Kerstin Brauckhoff erarbeitet und im März 2013 vom Kuratorium der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit als europapolitisches Positionspapier der Stiftung
für die Freiheit beschlossen. Die Autoren haben das Papier für diesen Aufsatz an einigen
Stellen überarbeitet und um eigene Gedanken ergänzt, ohne jedoch den grundlegenden
inhaltlichen Charakter des Papiers zu verändern.
118
Kerstin Brauckhoff/Hermann Otto Solms
mittelalterliche Ausdifferenzierung von geistlicher und weltlicher
Macht, von fürstlicher und ständischer Gewalt, die zur Grundlage des
westlichen Verständnisses von Freiheit, Individualismus und Pluralismus wurde. Die europäische Identität steht nicht in Konkurrenz zu
nationalen, regionalen oder lokalen Identitäten seiner Bürger. Sie kann
und soll diese Identitäten nicht ersetzen, sondern ergänzen.
Die Freiheit, die wir durch die EU erlangt haben, ist jedoch in
mehrfacher Hinsicht bedroht: Denn liberale Werte und ordnungspolitische Prinzipien bilden nicht mehr selbstverständlich die Basis des
gemeinsamen Handelns aller Mitgliedstaaten. Stattdessen ist ein Trend
zu immer mehr Zentralisierung, Protektionismus und marktverzerrenden staatlichen Eingriffen zu erkennen. Die Mitgliedstaaten bzw. die
europäischen Institutionen geben inzwischen nicht nur einen Rahmen
vor, der die Ordnung der Politik und der Märkte regelt. Sie schaffen
vielmehr eine zunehmende Anzahl von Einzelregelungen, mit denen sie
den Mitgliedstaaten und ihren Bürgern ein zu enges Regelungskorsett
zumuten. Bei vielen dieser Vorgaben ist fraglich, ob sie überhaupt auf
supranationaler, das heißt auf europäischer, Ebene notwendig und
angebracht sind. Darüber hinaus sind sie nicht für alle Mitgliedstaaten
gleichermaßen erforderlich und zur Anwendung geeignet. Auf diese
Weise werden die Mitgliedstaaten zu Regelungen gezwungen, die erhebliche Auswirkungen auf ihre politische und wirtschaftliche Entwicklung haben. Die Konsequenzen müssen die Bürger tragen: Sie
werden durch wachsende Regelungsdichte in ihren Freiheiten beschränkt und fühlen sich durch zunehmende Bürokratie und staatliche
Eingriffe in ihrem täglichen persönlichen und beruflichen Leben behindert. Schließlich wenden sie sich von der EU und ihren Entscheidungen ab. Immer öfter sind kritische Stimmen zur europäischen Integration zu hören.2
Ziel des Papiers „Für ein Europa der Freiheit und der Bürger!“ der
Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit und dieses Aufsatzes ist es
daher, die Bereiche zu analysieren, in denen die Freiheit der Bürger
Europas bedroht ist. Dies gilt für die persönliche Freiheit wie auch für
andere Dimensionen der Freiheit, die notwendig sind, um auch in Zukunft Wohlstand und Wachstum zu generieren. Im Anschluss an die
Analyse der für die Sicherung der Freiheit bedeutenden politischen,
-------------------------------------------2 Vgl. Knelangen, Wilhelm: Euroskepsis? Die EU und der Vertrauensverlust der Bürgerinnen und Bürger; in: Aus Politik und Zeitgeschichte 4/2012, S. 23-40.
Deutschland in der EU – Die EU in der Welt
119
institutionellen und wirtschaftlichen Herausforderungen werden
Handlungsempfehlungen gegeben. Diese sind als Anstöße zur Diskussion gedacht und sollen ähnliche Diskussionspapiere um Ideen zu einer
freiheitlichen Entwicklung der EU ergänzen.3 Sie sind zu verstehen als
Beitrag zur deutschen Debatte um die Rolle Deutschlands als Mitgliedstaat der EU, zur künftigen politischen und wirtschaftlichen Integration sowie zur Rolle Europas in der Welt.
Die politische Entwicklung der EU
Insbesondere in Deutschland wird immer wieder nach dem Ziel
der europäischen Integration – nach der finalité – gefragt. Es fällt auf,
dass diese Debatte in vielen anderen Mitgliedstaaten kaum geführt
wird, diese vielmehr die Weiterentwicklung der EU unter pragmatischen Gesichtspunkten betrachten und eine Festlegung über die Ziele
und das „Ende“ des europäischen Integrationsprozesses vermeiden.
Dies wäre auch in Deutschland wünschenswert, weil eine solche Haltung dazu beitragen kann, die Polarisierung der Debatte in EuropaBefürworter und Europa-Gegner zu beenden. Die europäische Integration ist ein hohes Gut, aber sie ist kein Selbstzweck. Und es wäre verfehlt, den Prozess der europäischen Integration als linearen Prozess
aufzufassen, der einen wohl definierten Abschluss – in welcher Form
auch immer – haben muss. Vielmehr war und ist die europäische Integration stets ein offener Prozess. Das Besondere an diesem Prozess
war stets, dass die Bürger den Prozess mitgetragen oder – wenn er den
Bürgern zu weit ging oder zu schnell war – abgelehnt haben. Die europäische Einigung fand mit den Bürgern statt, nicht gegen sie. Und das
muss auch in Zukunft Leitbild der Entwicklung der EU bleiben.
Die Diskussion zur Zukunft der EU ist in Deutschland unter anderem dadurch geprägt, dass bei Integrationsschritten immer wieder
Klagen vor dem Bundesverfassungsgericht gegen diese Integrationsschritte geführt wurden. Dabei hat das Bundesverfassungsgericht wiederholt den besonderen Charakter der EU deutlich gemacht, als es die
--------------------------------------------
3 Z. B. Auswärtiges Amt: Abschlussbericht der Gruppe zur Zukunft Europas der Außenminister Belgiens, Dänemarks, Deutschlands, Frankreichs, Italiens, Luxemburgs, der
Niederlande, Österreichs, Polens, Portugals und Spaniens; Berlin 17.09.2012 (http://
www.auswaertiges-amt.de/cae/servlet/contentblob/626324/publicationFile/171784/120918Abschlussbericht-Zukunftsgruppe-Deutsch.pdf, abgerufen am 22.04.13).
120
Kerstin Brauckhoff/Hermann Otto Solms
EU als „Staatenverbund“ charakterisiert hat. Nach der Definition des
Bundesverfassungsgerichtes erfasst dieser Staatenverbund „eine enge,
auf Dauer angelegte Verbindung souverän bleibender Staaten, die auf
vertraglicher Grundlage öffentliche Gewalt ausübt, deren Grundordnung jedoch allein der Verfügung der Mitgliedstaaten unterliegt und in
der die Völker – das heißt die staatsangehörigen Bürger – der Mitgliedstaaten die Subjekte demokratischer Legitimation bleiben“4. Dieses
Urteil beinhaltet einige wesentliche Aspekte, die einer besonderen Erwähnung bedürfen: So betont das Bundesverfassungsgericht die Souveränität der Mitgliedstaaten. Die Errichtung eines souveränen europäischen Bundesstaates – die immer wieder in der akademischen und
politischen Diskussion gefordert wird – ist demnach mit der geltenden
Verfassung nicht vereinbart. Dazu verweist das Bundesverfassungsgericht auf die Ewigkeitsgarantie, wie sie im Grundgesetz der Bundesrepublik formuliert ist. Diese lautet: „Eine Änderung dieses Grundgesetzes, durch welche die Gliederung des Bundes in Länder, die grundsätzliche Mitwirkung der Länder bei der Gesetzgebung oder die in den
Artikeln 1 und 20 niedergelegten Grundsätze berührt werden, ist unzulässig.“5 Soll das bestehende Grundgesetz durch eine neue Verfassung
ersetzt werden, so kann das nur im Rahmen eines Volksentscheides
geschehen: „Dieses Grundgesetz, das nach Vollendung der Einheit und
Freiheit Deutschlands für das gesamte deutsche Volk gilt, verliert seine
Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von
dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist.“6
Dies bedeutet: Wer über den vom Bundesverfassungsgericht definierten Staatenverbund hinausgehen will und weitergehende Elemente
der Staatlichkeit auf die europäische Ebene verlagern möchte, der
müsste zuvor das Grundgesetz durch eine andere Verfassung ersetzen,
die durch einen Volksentscheid zu beschließen wäre. Das Prinzip der
Rechtsstaatlichkeit und die Souveränität des Staatsvolkes blieben nur
auf diese Weise gewahrt – zwei zentrale Bestandteile liberaler und
demokratischer Ordnung.
Letztlich sollte auch in Deutschland die Debatte, welche Gestalt
Europa in Zukunft haben sollte, offen und ohne spezielle Vorfestlegungen geführt werden. Wie und ob sich der Staatenverbund Europa
-------------------------------------------4
BVerfG, 2 BvE 2/08 vom 30.06.2009, Absatz 1.
Art. 79 Abs. 3 GG.
6 Art. 146 GG.
5
Deutschland in der EU – Die EU in der Welt
121
ändern wird, hängt entscheidend von den Bürgern Europas selbst ab.
Die Festschreibung einer „finalité“, eines Endes des Weges, würde dem
europäischen Integrationsprozess gerade das nehmen, was seine Besonderheit ausmacht: seinen evolutionären Charakter, seine Gestaltungskraft, seine Kompetenz, auf Herausforderungen der regionalen
und globalen internationalen Ordnung zu reagieren. Grundlegend für
die Zukunft der europäischen Einigung ist vielmehr das Fundament
der gemeinsamen Werte, die den Prozess von Anfang an bestimmt
haben und die wesentlich zum Erfolg der politischen und wirtschaftlichen Integration beigetragen haben.
Differenzierte Integration
Die Europäische Union setzt sich heute aus 27 Mitgliedstaaten zusammen, nach dem Beitritt Kroatiens im Sommer 2013 wird die Anzahl der Mitgliedstaaten auf 28 steigen. Zur EU gehören sehr kleine
Staaten wie Malta oder Zypern und große, bevölkerungsreiche Mitgliedstaaten wie Deutschland, Polen oder Frankreich. Jeder Mitgliedstaat bringt einen Teil seiner Kultur und seiner Identität in die EU mit
ein. Und jeder Mitgliedstaat zeichnet sich durch Besonderheiten aus.
Es liegt nahe, dass es für einen so heterogenen Staatenverbund keine
für alle passende Universallösung politischer und wirtschaftlicher
Probleme geben kann. Dies wäre auch nicht zielführend, vielmehr
sollte jeder Mitgliedstaat die Möglichkeit behalten, flexibel und individuell auf die jeweiligen Entwicklungen im eigenen Land reagieren zu
können. Macht zum Beispiel die Bekämpfung einer Wirtschaftskrise
kurzfristige Reformen notwendig, wäre es nur hinderlich, zunächst die
– für den Staat individuell passende – Strategie zur Lösung der Krise
mit allen anderen Mitgliedstaaten der EU abstimmen und koordinieren
zu müssen. Dies kostet Zeit und führt letztlich zur Verschleppung der
akut notwendigen Maßnahmen. Auch eine supranationale Lösung ist
nicht hilfreich, denn eine „one-size-fits-all“-Lösung, die für alle der
bald 28 Mitgliedstaaten geeignet und passend wäre, ist aufgrund der
Verschiedenheit der regionalen und nationalen Wirtschaftsstrukturen
kaum vorstellbar.7
--------------------------------------------
7 Vgl. dazu auch: Heinemann, Friedrich: Die Theorie der optimalen Währungsräume
und die politische Reformfähigkeit – ein vernachlässigtes Kriterium; Mannheim 1998.
122
Kerstin Brauckhoff/Hermann Otto Solms
Wichtig ist daher, die europäische Integration nach Tiefe und Geschwindigkeit zu differenzieren. Ein „Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten“ kann wesentlich dazu beitragen, die akuten politischen, wirtschaftlichen oder sozialen Herausforderungen zu bewältigen. Staaten, die an der Weiterentwicklung der EU nicht oder nur
langsamer teilnehmen wollen, sollen dabei die anderen nicht aufhalten.
Dort, wo ein gemeinsames Vorgehen nicht möglich oder nicht (mehr)
erforderlich ist, erlaubt ein „Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten“ politischen Fortschritt, zeitliche Flexibilität und Rücksichtnahme auf besondere nationale Gegebenheiten. Wird die Zukunft der
EU so verstanden, bliebe auch künftig innerhalb der EU Raum für
Großbritannien oder andere integrationsskeptische Länder, ohne die
integrationsfreudigen Mitgliedstaaten gleichzeitig auszubremsen. Mit
dem Instrument der verstärkten Zusammenarbeit hat die EU eine vertragliche Grundlage geschaffen, welche die für eine differenzierte Integration notwendige institutionelle und zeitliche Flexibilität liefert.
Die Notwendigkeit, flexibel auf politische Herausforderungen zu
reagieren, zeigt sich insbesondere auch am Beispiel der Währungsunion. Wenn sich nach Gründung der Währungsunion zwischenzeitlich
herausstellt, dass ein Land politisch und ökonomisch dem Druck einer
Hartwährung nicht gewachsen und sichtlich überfordert ist, seine
Wettbewerbsfähigkeit und Schuldentragfähigkeit innerhalb der Währungsunion zu gewährleisten oder herzustellen, gefährdet es den Fortbestsand der Währungsunion als Ganzes. Deshalb ist es notwendig, die
Möglichkeit eines geordneten Resolvenzverfahrens zu schaffen, mit
dem es den Mitgliedstaaten möglich wird, innerhalb des Euro ihre
Überschuldung beherrschbar abzubauen. Darüber hinaus sollte es für
Euro-Staaten eine Möglichkeit geben, sich ganz oder für eine Übergangszeit aus der gemeinsamen Währung zurückzuziehen. Sobald diese
Staaten dann wieder eine solide finanzielle und strukturelle Basis für
ihre Mitgliedschaft im Euro geschaffen haben, müssen sie ihr Rückkehrrecht wahrnehmen können, das jedoch an klare Konditionen gebunden sein muss. Indem eine Möglichkeit zum – temporären – Austritt aus der Gemeinschaftswährung geschaffen wird, kann ein Staat,
der innerhalb der Hartwährung nicht wettbewerbsfähig ist, seine preisliche Wettbewerbsfähigkeit leichter wiederherstellen. Denn außerhalb
der Währungsunion kann er seine Währung abwerten und so seine
Chancen auf Sanierung vergrößern. Diese Lösung wäre keineswegs ein
Deutschland in der EU – Die EU in der Welt
123
historisch einmaliger Vorgang. Zudem wäre dies ein Weg, der für die
europäische Integration verträglicher wäre. Denn nur dann, wenn die
Mitgliedstaaten einer Währungsunion wirtschaftlich auf eigenen Beinen stehen können und sie mit ihrer wirtschaftlichen Leistungskraft im
Wettbewerb mit den anderen Mitgliedstaaten bestehen können, bleibt
die Währungsunion in ihrer Gesamtheit wettbewerbsfähig und anziehend für neue Mitglieder.8
Viele Integrationsschritte sind auch dann möglich, wenn sie zunächst nur von einem Teil der Mitgliedstaaten vollzogen werden.
Daneben gibt es aber einige Kernaufgaben der EU, die verschiedene
Geschwindigkeiten nicht zulassen. Diese Aufgaben können nur dann
für alle Mitgliedstaaten gleichermaßen effizient und effektiv gestaltet
werden, wenn sie in die ausschließliche Zuständigkeit der supranationalen Ebene fallen. Die klassischen Kernaufgaben, in denen eine solche
ausschließliche Zuständigkeit für die EU bereits umgesetzt ist, sind die
Zollunion, die Handelspolitik und Wettbewerbsregeln für den Binnenmarkt.9 In diesen Bereichen muss die Gemeinschaft über die entsprechenden Handlungsmöglichkeiten verfügen, denn in einer globalisierten Weltordnung kann Europa seine Interessen nur wahren, wenn
es in entscheidenden Politikbereichen mit einer Stimme spricht und
handelt.
Neben diesen Kernbereichen ist es auch in einigen anderen Politikbereichen erforderlich, dass die europäische Integration möglichst weit
voranschreitet. Ein „Mehr an Europa“ ist insbesondere notwendig bei
der Bewältigung der Migrations- und Asylprobleme, der Bekämpfung
der internationalen Kriminalität oder der grenzüberschreitenden Umweltverschmutzung. Eine engere Zusammenarbeit ist darüber hinaus
vorstellbar bei der Sicherung von Energie- und Rohstoffquellen, beim
Ausbau einer europäischen Energieinfrastruktur und bei den europäischen Energieaußenbeziehungen. Eine gemeinsame Gestaltung der
Politik kann auf diesen Feldern erheblich dazu beitragen, Risiken und
Gefährdungen zu vermeiden. Es ist daher im Interesse aller Mitgliedstaaten, dass die Handlungsfähigkeit der EU mit den genannten Her--------------------------------------------
8 Vgl. dazu: Born, Benjamin/Buchen, Teresa/Carstensen, Kai et al.: Austritt Griechenlands aus der Europäischen Währungsunion: historische Erfahrungen, makroökonomische Konsequenzen und organisatorische Umsetzung; München 2012.
9 Art. 3 AEUV.
124
Kerstin Brauckhoff/Hermann Otto Solms
ausforderungen Schritt hält und sie den neuen Aufgaben kompetent
und effizient begegnen kann.
Ähnliches gilt für den Bereich der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP). Zwar fordern die europäischen Institutionen
und die Mitgliedstaaten immer wieder ein gemeinsames Vorgehen in
der Außen- und Sicherheitspolitik und verlangen, dass „Europa an
einem Strang zieht“10. In der Realität ist jedoch festzustellen, dass
dieses einheitliche Vorgehen in der Außen- und Sicherheitspolitik viel
zu oft an nationalen Interessen und Besonderheiten der Mitgliedstaaten scheitert.11 Zwar gehört die Außenpolitik in der Theorie des Liberalismus zu den klassischen Staatsaufgaben,12 doch hätte eine weitgehende Integration auf die europäische Ebene weitreichende Konsequenzen: So läge am Ende des Integrationsprozesses die außen- und
sicherheitspolitische Souveränität der EU in Form einer ausschließlichen Zuständigkeit auf der supranationalen Ebene. Wollte die EU
dann ihrer Verantwortung gerecht werden, wären alle Mitgliedstaaten
gezwungen, einen angemessenen Beitrag zu leisten. Dieser Beitrag wäre
nicht nur finanzieller Art, es müssten auch entsprechende materielle
Ressourcen zur Verfügung gestellt werden. Bis hin zur Übernahme von
personeller Verantwortung in Krisen- und Kriegsfällen. In letzter Konsequenz wäre es erforderlich, dass der Deutsche Bundestag sein Vorbehaltsrecht über die Entsendung deutscher Soldaten bei internationalen Truppeneinsätzen aufgibt, denn eine Verlagerung der ausschließlichen Zuständigkeit an die EU würde bedeuten, dass die Mitgliedstaaten nur noch im Rahmen der europäischen Institutionen über die
GASP mitbestimmen können. Ein Festhalten am derzeit noch nahezu
ausschließlich praktizierten Einstimmigkeitsprinzip bei Ratsentscheidungen wäre dann ebenso nicht mehr praktikabel. Ein parlamentarisches Vorbehaltsrecht müsste dann in der Konsequenz dem Europäischen Parlament übertragen werden. Zu diesen Schritten besteht gegenwärtig weder in Deutschland noch in anderen Mitgliedstaaten eine
Bereitschaft. Um dennoch zumindest in den Bereichen der GASP, in
--------------------------------------------
10 Bundeskanzlerin Angela Merkel am Randes des Europäischen Rates im März 2013:
http://www.angela-merkel.de/page/103_883.htm.
11 Vgl. dazu z. B. Bendiek, Annegret: Handlungsfähigkeit durch politische Führung in
der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik; in: Dies./Lippert, Barbara/Schwarzer,
Daniela (Hg.): Entwicklungsperspektiven der EU. Herausforderungen für die deutsche
Europapolitik; Berlin 2011, S. 60 – 69.
12 Siehe hierzu auch den Aufsatz von Michael von Prollius in diesem Band.
Deutschland in der EU – Die EU in der Welt
125
denen auch eine Kompromisslösung bzw. eine Mehrheitsentscheidung
grundsätzlich möglich ist, die Integration voranzutreiben, sollten daher
zunächst verstärkt die Instrumente der Mehrheitsentscheidungen beziehungsweise das Konzept der „konstruktiven Enthaltung“13 genutzt
werden.14
Andere Politikbereiche der EU bedürfen einer Neustrukturierung.
So sollten die Ausgaben für die Strukturpolitik auf ihre Wirksamkeit
überprüft und grundsätzlich degressiv gestaltet werden. Es sollte auch
regelmäßig untersucht werden, inwieweit die Zuständigkeit der EU
überhaupt notwendig und zielführend ist und welche Mittel aus dem
Budget der EU mittel- und langfristig für die Strukturfonds zur Verfügung stehen sollten. Eine direkte, unmittelbare Mittelverwendung über
die jeweils kleinstmögliche Gebietskörperschaft könnte für die Ziele
der Strukturförderung möglicherweise effizienter und wirksamer sein.
Die Ziele der europäischen Agrarpolitik waren bei deren Gründung im Jahr 1957 die Sicherung angemessener Lebensstandards für
Landwirte, die Stabilisierung der Märkte und die Versorgungssicherheit der Bevölkerung. Diese Ziele sind angesichts liberalisierter Weltmärkte heute nicht mehr in Gefahr. Der europäische Binnenmarkt und
die Weltmärkte stellen eine ausreichende Versorgung sicher. Es ist
daher dringend erforderlich, die Gemeinsame Agrarpolitik stärker an
den ordnungspolitischen Grundsätzen der Marktwirtschaft zu orientieren. Dem Subsidiaritätsgedanken entsprechend sollten die Mitgliedstaaten oder Regionen wieder stärker die Eckpunkte der Agrarpolitik
festlegen, welche die Versorgung der Bevölkerung mit hochwertigen
Nahrungsmitteln sicherstellt, unsere Kulturlandschaft erhält und
gleichzeitig den Landwirten und ihren Familien eine auskömmliche
und selbstbestimmte Existenzgrundlage bietet. Selbstverständlich bleibt
es Aufgabe der Gemeinschaft, auch im Agrarbereich gemeinsame
Wettbewerbsregeln und Qualitätsstandards vorzugeben.
Darüber hinaus gilt es, bei der weiteren europäischen Integration
die Heterogenität der EU und die daraus hervorgegangenen Strukturen
zu berücksichtigen. Gemeinsames Handeln ist in den Kernbereichen
der EU sinnvoll und notwendig, „aber wer glaubt, man könne in der
-------------------------------------------13
Art. 31 EUV.
Zur Ausweitung der GASP im Rahmen des Vertrages von Lissabon vgl. Lieb, Julia/Maurer, Andreas (Hg.): Der Vertrag von Lissabon. Kurzkommentar; 3. Aufl., Berlin
2009.
14
126
Kerstin Brauckhoff/Hermann Otto Solms
EU die Einzelheiten der Sozialpolitik, der Lohnpolitik, der Forschungspolitik, der Technologiepolitik oder gar die Steuerung der nationalen
und regionalen Konjunkturen vergemeinschaften, der hat weder das
nationale Beharren noch die Produktivität dieses Beharrens begriffen.“15 Diese Produktivität aber ist notwendig für den Fortschritt und
das Wachstum innerhalb der EU. Von zentraler Bedeutung für die
künftige Entwicklung gemeinsamer Politik ist daher, in erster Linie das
Subsidiaritätsprinzip zu achten und Kompetenzen klar und konsequent
zuzuordnen.
Subsidiarität als Leitbild der Integration
Freiheit und Eigenverantwortung gehören untrennbar zusammen.
Wenn nicht der Einzelne selbst die Verantwortung für eine Entscheidung übernehmen kann und eine Aufgabe an eine staatliche Ebene
delegiert werden muss, dann sollte dies jeweils die Ebene sein, die
möglichst nah an den unmittelbar betroffenen Bürgern ist. Das erhöht
die Wahrscheinlichkeit, dass die Interessen möglichst aller Beteiligten
ausreichend berücksichtigt werden und so ein tragfähiger Kompromiss
zustande kommt. Die politische Verantwortung kann auf der gleichen
Ebene klar zugeordnet werden, wenn sich die handelnden politischen
Akteure in demokratischen Wahlen dem Wählervotum stellen müssen.
Darüber hinaus sind Systeme, in denen Entscheidungsbefugnisse dezentral verteilt sind, effizienter und innovativer als zentralistische Systeme. Dies gilt umso mehr, wenn zwischen den Beteiligten ein fairer
Wettbewerb herrscht.
Immer dann, wenn eine Entscheidung an eine politische Ebene delegiert werden soll, muss grundsätzlich geklärt werden, welche Ebene
die bestmögliche für diese Entscheidung ist. In einem Gesellschaftssystem ist es sinnvoll, die Frage nach der jeweils zuständigen politischen
Ebene im Rahmen der Verfassung oder im Rahmen eines Vertrages zu
regeln. Dabei ist auch zu klären, unter welchen Voraussetzungen die
Delegation auf die nächsthöhere Ebene oder gar auf die supranationale Ebene erfolgen darf und ob bzw. unter welchen Umständen diese
Delegation revidiert werden kann, wenn sich herausstellt, dass sie auf
der höheren Ebene nicht nutzbringend ist.
--------------------------------------------
15 Dohnanyi, Klaus von: Europas Krise kann Europas Chance sein; Die Welt,
01.02.2013.
Deutschland in der EU – Die EU in der Welt
127
In der EU gilt das Subsidiaritätsprinzip als Grundlage für die Klärung der Zuständigkeit einer politischen Ebene. Im Vertrag über die
Europäische Union (EUV) heißt es: „Nach dem Subsidiaritätsprinzip
wird die Union in den Bereichen, die nicht in ihre ausschließliche Zuständigkeit fallen, nur tätig, sofern und soweit die Ziele der in Betracht
gezogenen Maßnahmen von den Mitgliedstaaten weder auf zentraler
noch auf regionaler oder lokaler Ebene ausreichend verwirklicht werden können, sondern vielmehr wegen ihres Umfangs oder ihrer Wirkungen auf Unionsebene besser zu verwirklichen sind.“16 Dies bedeutet: Wo ein Problem auftaucht, liegt die Verantwortung zunächst bei
der kleinsten Einheit, und nur das, was diese nicht leisten kann, wird
auf der nächsthöheren Ebene geregelt. Dabei gilt: „klein vor groß“,
„privat vor Staat“ und „dezentral vor zentral“.
Die Entscheidung über die Delegation an die supranationale Ebene
ist ebenfalls vertraglich geregelt, und zwar im Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV).17 Dort sind zunächst
ausschließliche Zuständigkeiten der EU definiert. Darüber hinaus wird
ein Bereich geteilter Zuständigkeiten aufgezählt, in dem sowohl die EU
als auch die Mitgliedstaaten zuständig sein können. Insbesondere bei
den geteilten Zuständigkeiten muss dem Subsidiaritätsprinzip ein höherer Rang als bisher zukommen. Denn Subsidiarität ist eine entscheidende Voraussetzung für Bürgernähe, Transparenz und Wettbewerb.
Nur wenn den Kommunen, Regionen und Mitgliedstaaten so viel Verantwortung wie möglich belassen wird, ist gewährleistet, dass die EU
ein flexibles und demokratisches System bleibt.
Bevor eine staatliche Kollektivinstanz eingreift, wird bislang nicht
ausreichend geprüft, ob nicht zunächst der Bürger selbst oder lokale,
kommunale oder regionale Gebietskörperschaften entscheiden können.
Kann ein Problem auf regionaler oder einzelstaatlicher Ebene gelöst
werden, gibt es keine Begründung für eine Delegation auf die supranationale Ebene.
In der Vergangenheit kam es immer wieder zur Verlagerung von
Zuständigkeiten auf die EU, die bei konsequenter Anwendung des
Subsidiaritätsprinzips dort nicht zu begründen sind.18 Dieser Tendenz
-------------------------------------------16
Art. 5, Abs. 3 EUV.
Art. 3 u. Art. 4 AEUV.
18 Ein Beispiel ist der Vorschlag der Europäischen Kommission zur Einführung einer
europaweiten Frauenquote. Die Zuständigkeit Brüssels wurde von der Bundesregierung
17
128
Kerstin Brauckhoff/Hermann Otto Solms
zur Zentralisierung und Aneignung von Zuständigkeiten muss mehr
entgegengesetzt werden. Dazu ist es unter anderem erforderlich, über
das im Vertrag von Lissabon neu eingeführte Instrument der Subsidiaritätsrüge19 hinaus die vorbeugende Subsidiaritätskontrolle durch die
nationalen Parlamente zu stärken und weiterzuentwickeln. Dies gilt
umso mehr, als sich das Instrument der Subsidiaritätsrüge noch kaum
bewähren konnte und eher als „stumpfe Klinge“20 denn als „scharfes
Schwert“21 bewertet wird. Die nationalen Parlamente müssen demnach
zunächst intern jeweils verlässliche interne organisatorische Strukturen
aufbauen, die es ihnen ermöglichen, angesichts der Fülle der EUDokumente ihre Kontrollaufgaben zur Einhaltung der Subsidiarität22
effektiver als bisher wahrzunehmen.23 Die Kontrolle muss so ausgebaut werden, dass die Parlamente mit der notwendigen Kompetenz
und Autorität zur Prüfung der Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips
ausgestattet werden.24 Neben einer engen Vernetzung der Parlamente
untereinander ist auch eine Zusammenarbeit mit dem Europäischen
Parlament für eine schlagkräftige Subsidiaritätskontrolle unerlässlich.
Hierzu sollten bestehende interparlamentarische Gremien, wie zum
Beispiel die Konferenz der Europaausschüsse (COSAC), aktiviert werden.
Darüber hinaus ist es erforderlich, einen zweiten Senat des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) einzurichten, der in Zweifels- und Streitfällen angerufen werden kann und auf der Grundlage des Subsidiaritätsprinzips letztlich formal und juristisch bindend entscheidet, ob die
EU tatsächlich eine Kompetenz ausüben darf.
--------------------------------------------
u. a. mit dem Verweis auf die Verletzung des Subsidiaritätsprinzips abgelehnt. Vgl.
z. B. Tagesspiegel, 14.11.2012 (http://www.tagesspiegel.de/politik/vollzug-des-prestigeprojekts-bundesregierung-lehnt-eu-frauenquote-fuer-aufsichtsraete-ab/7386684.html).
19 Vertrag von Lissabon, Protokoll (Nr. 2), Art. 6.
20 Koch, Jessica/Kullas, Matthias: Subsidiarität nach Lissabon – Scharfes Schwert
oder stumpfe Klinge?; cep-Studie, Freiburg 2010, S. 21.
21 Ebd.
22 Art. 12 b) EUV.
23 Vgl. Vollrath, Sven: Herausforderungen bei der Umsetzung der neuen Rechte nach
dem Vertrag von Lissabon durch den Deutschen Bundestag und die Begleitgesetzgebung;
in: Abels, G./Eppler, A. (Hg.): Auf dem Weg zum Mehrebenenparlamentarismus?; Baden-Baden 2011.
24 Einen Überblick über die Rechte der einzelnen Parlamente bietet Callies, Christian:
Die neue Europäische Union nach dem Vertrag von Lissabon; Tübingen 2010.
Deutschland in der EU – Die EU in der Welt
129
Die institutionelle Entwicklung nach dem Vertrag von Lissabon
Die EU ist eine Gemeinschaft demokratischer Staaten, und das politische System der EU selbst ist ebenfalls ein demokratisches System.
Dieses System ist keinem der klassischen demokratischen Systeme
eindeutig zuzuordnen, sondern ein ganz eigenes System, das sich im
Laufe des europäischen Integrationsprozesses kontinuierlich weiterentwickelt hat. Dies gilt insbesondere auch für die Zusammensetzung
und Arbeitsweise der Institutionen der EU. Auch wenn die EU ein
eigenes System darstellt, das mit den klassischen demokratischen Systemen nicht vergleichbar ist, muss das System gleichwohl den Mindestanforderungen an ein demokratisches System genügen. Dazu gehören vor allem eine verbindliche und transparente Entscheidungsfindungsprozedur, die Gewaltenteilung oder die Möglichkeit, durch verbindliche Verfahren die politischen Entscheidungsträger zu bestimmen
und gegebenenfalls auszuwechseln. Genau hier sind jedoch derzeit
deutliche Defizite festzustellen.
So folgt die Stimmengewichtung im Europäischen Parlament dem
Prinzip der „degressiven Proportionalität“. Nach diesem Prinzip ist die
Anzahl der Abgeordneten eines EU-Mitgliedstaats nicht direkt proportional zu seiner Bevölkerungsgröße. Kleine Länder sind auf diese Weise
im Verhältnis überrepräsentiert. Dies führt zu einer ungleichen Stimmgewichtung der Abgeordneten des Europäischen Parlamentes, so dass
diese jeweils unterschiedlich viele Bürger vertreten. Die Stimme, mit
der ein Bürger eines großen Mitgliedstaates einen Abgeordneten wählt,
ist daher nicht gleich gegenüber der Stimme eines anderen Bürgers aus
einem kleinen Mitgliedstaat. Dies ist eine Einschränkung des Demokratieprinzips. Diese Benachteiligung könnte durch ein einheitliches
Wahlrecht mit der Gewährleistung von Sockelmandaten zum Schutz
kleinerer Staaten gemildert werden.
Die Europäische Kommission ist als eines der sieben politischen
Organe der EU mit einer überdurchschnittlichen Machtfülle ausgestattet. Sie hat exekutive, legislative und judikative Funktionen gleichermaßen. Als einziges Organ der EU hat sie das Recht, Gesetzesinitiativen vorzulegen. Zwar hat das Europäische Parlament mittlerweile das
Recht, die Europäische Kommission zur Vorlage einer Gesetzgebungsinitiative aufzufordern. Kommt die Kommission dieser Aufforderung
130
Kerstin Brauckhoff/Hermann Otto Solms
nicht nach, muss sie dies begründen.25 Diese Regelung wäre aber für
ein zukünftiges Europäisches Parlament, das auf der Basis eines reformierten Wahlrechts zusammentritt und eine direkte demokratische
Legitimation hat, nicht mehr angemessen. Stattdessen sollte auch das
Europäische Parlament dann mit einem Initiativrecht ausgestattet werden.
Im Vertrag von Lissabon wurde die Verkleinerung der Europäischen Kommission auf eine Anzahl, die zwei Dritteln der Zahl der
Mitglieder der EU entspricht, ab dem Herbst des Jahres 2014 beschlossen. Zwar ist der Europäische Rat im Dezember 2008 infolge
des irischen Referendums übereingekommen, „dass – sofern der Vertrag von Lissabon in Kraft tritt – im Einklang mit den erforderlichen
rechtlichen Verfahren ein Beschluss gefasst wird, wonach weiterhin ein
Staatsangehöriger jedes Mitgliedstaats der Kommission angehören
wird“26. Gleichwohl ist die Verkleinerung der Kommission sinnvoll
und notwendig, um langfristig eine effektive Arbeit der Kommission zu
gewährleisten. Daher sollte an dem ursprünglichen Beschluss der Verkleinerung, wie sie im Vertrag von Lissabon beschlossen wurde,27
festgehalten werden. Nur so kann die Kommission als Ganzes schlagkräftig und handlungsfähig agieren und eine weitere Aufsplitterung
und Anreicherung von Zuständigkeitsbereichen der einzelnen Kommissare verhindert werden. Angesichts der künftigen Erweiterung der
EU wird auch die vordem beschlossene Verkleinerung der Kommission
nicht ausreichen, so dass zukünftig weitere Schritte der Verkleinerung
werden folgen müssen.
Eine Direktwahl des Kommissionspräsidenten brächte ihm zwar
die höchste Legitimation von allen europäischen Organen, ohne ihn
jedoch zugleich mit den entsprechenden Kompetenzen auszustatten.
Zwangsläufig müsste er die in ihn gesetzten Erwartungen enttäuschen.
Stattdessen sollte an der aktuellen Regelung, nach der der Europäische
Rat dem Europäischen Parlament einen Kandidaten für das Amt des
Präsidenten der Kommission vorschlägt, der dann vom Europäischen
--------------------------------------------
25 Beschluss des Europäischen Parlaments vom 20. Oktober 2010 zur Revision der
Rahmenvereinbarung über die Beziehungen zwischen dem Europäischen Parlament und
der Europäischen Kommission (2010/2118(ACI)).
26 Rat der Europäischen Union: Tagung des Europäischen Rates vom 11./12. Dezember 2008 in Brüssel. Schlussfolgerungen des Vorsitzes.; Brüssel 13.02.2009, S. 2.
27 Art. 17 EUV.
Deutschland in der EU – Die EU in der Welt
131
Parlament mit der Mehrheit seiner Mitglieder gewählt wird, festgehalten werden.
Der Europäische Rat setzt sich zusammen aus den Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten der Europäischen Union. Als Vorsitzender wird jeweils für eine Amtszeit von zweieinhalb Jahren der Präsident des Europäischen Rates gewählt. Der Rat der Europäischen
Union (auch: Ministerrat) wiederum ist das Organ, in dem die Fachminister der Mitgliedstaaten vertreten sind. Derzeit gibt es zehn verschiedene, den jeweiligen Politikbereichen entsprechende Ratsformationen. Der Vorsitz wechselt halbjährlich zwischen den Mitgliedstaaten.
Diese Regelung behindert eine kontinuierliche und strategische Arbeit
der EU. Daher sollte die Dauer der rotierenden Ministerratsvorsitze
von einem halben Jahr auf ein Jahr verlängert werden.
Reform der Finanzierung
Die Finanzierung der EU ist ein anhaltender Streitpunkt zwischen
den Mitgliedstaaten der Union. Dabei geht es zum einen um die sogenannten Eigenmittel und die Höhe der Beiträge der einzelnen Mitgliedstaaten, zum anderen um die Höhe und die Struktur der Ausgaben.
Im System der EU-Eigenmittel stammen die größten Anteile aus
den sogenannten BNE-Eigenmitteln28. Dabei handelt es sich um Beiträge der Mitgliedstaaten, die als prozentualer Anteil ihres Bruttonationaleinkommens berechnet werden und damit die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der Mitgliedstaaten widerspiegeln. Sie machen gut 75
Prozent der Gesamteinnahmen der EU aus und sind daher neben den
traditionellen Eigenmitteln (Zölle und Agrarabschöpfungen) und den
Mehrwertsteuer-Eigenmitteln die wichtigste Finanzierungsquelle der
EU. Eine Abweichung vom Prinzip der Leistungsfähigkeit bei der Berechnung der BNE-Anteile ergab sich mit der Einführung des sogenannten Briten-Rabatts, nach dem seit 1984 zunächst Großbritannien
ein Rabatt auf die Beitragszahlungen gewährt wurde. Begründet wurde
dieser Rabatt mit der Argumentation, dass nicht genügend Mittel der
EU im Verhältnis zum Beitrag in den Mitgliedstaat zurückfließen
(„just-retour-Debatte“). Weitere Debatten für andere Mitgliedstaaten
folgten, so dass heute ein unübersichtliches System von Rabatten und
-------------------------------------------28
Bruttonationaleinkommen (BNE)-Eigenmittel.
132
Kerstin Brauckhoff/Hermann Otto Solms
Beitragsberechnungen entstanden ist. Der Europäische Rat hat als
Reaktion auf diese Unübersichtlichkeit und wiederkehrenden Schwierigkeiten im Dezember 2005 eine Reform des Haushaltes der Union
gefordert. Diese Reform bleibt auch nach der Einigung über den Mehrjährigen Finanzrahmen 2014 bis 2020 mehr als notwendig, um das
System der Einnahmen und die Ausgaben nachhaltig und gerecht zu
gestalten.29
Im Rahmen der Debatte um die Reform der Finanzierung wird
immer wieder auch eine Steuer als Eigenmittelquelle der EU gefordert.
Solange es allerdings das ausschließliche Recht der souveränen Staaten
ist, Steuern zu erheben, bleibt es ausgeschlossen, dieses Recht auf die
EU zu übertragen.30 Das gilt unabhängig davon, ob eine solche Steuer
von den Mitgliedstaaten erhoben und lediglich an die EU weitergegeben würde oder ob die EU ein eigenes Steuererhebungsrecht bekäme.
Auch am Verschuldungsverbot der EU muss festgehalten werden.
Ebenso muss weiterhin an der Begrenzung der Ausgabenhöhe der EU
im Rahmen der Eigenmittelobergrenze festgehalten werden.
Unabhängig von der Haushaltspolitik der EU werden immer wieder Vorschläge zur Harmonisierung der Steuerpolitik innerhalb der EU
gemacht. Eine gemeinsame europäische Steuerpolitik ist den Zielen der
EU jedoch nicht förderlich. Steuerwettbewerb zwischen den Mitgliedstaaten der EU führt nicht, wie oft behauptet, zu einem Unterbietungswettbewerb, sondern trägt maßgeblich zur Wettbewerbsfähigkeit
der einzelnen Mitgliedstaaten bei. Nur wenn die Mitgliedstaaten weiterhin durch Anpassungen der Steuersätze die Möglichkeit haben, auf
wirtschaftliche Entwicklungen kurzfristig und flexibel zu reagieren,
werden die gesamteuropäischen Ziele erreicht werden können.31 Aufgrund der Heterogenität der Volkswirtschaften der Mitgliedstaaten ist
bei den direkten Steuern (Einkommen, Gewinn) ein einheitlicher Steuersatz abzulehnen. Ein Steuerwettbewerb ist hier sinnvoll und notwendig. Anderes gilt für die europaweiten spezifischen Verbrauchssteuern,
die unmittelbar in die Preise eingehen. In diesem Feld ist eine vollständige Harmonisierung sinnvoll und dringend geboten, um Fehlentwick-------------------------------------------29 Einen Überblick über die Debatte findet sich in: Feld, Lars/Necker, Sarah: Fiskalföderalismus in der Europäischen Union: Herausforderungen für die Reform der Finanzierung der EU; European Liberal Forum: Brüssel o. J.
30 Vgl. dazu BVerfG, 2BvR 987/10 vom 07.09.2011, Absatz 2.
31 Vgl. Brauckhoff, Kerstin: Steuerwettbewerb in der Europäischen Union; European
Liberal Forum: Brüssel o. J.
Deutschland in der EU – Die EU in der Welt
133
lungen (Tanktourismus, Zigarettenschmuggel) und Wettbewerbsverzerrungen zu vermeiden.
Die Zukunft des Euro
Mit der Einführung der Europäischen Währungsunion als Stabilitätsunion war das Ziel verbunden, das wirtschaftliche Zusammenwachsen Europas und das Zusammengehörigkeitsgefühl der Europäer
zu fördern. Die Stabilitätsarchitektur der Währungsunion sollte auf
der Verpflichtung der Mitgliedstaaten zur eigenverantwortlichen
Haushaltsdisziplin und auf der Unabhängigkeit der Europäischen
Zentralbank (EZB) gründen. Inzwischen hat sich der Euro als eine
Währung von globaler Bedeutung etabliert. Allerdings leidet seine
Glaubwürdigkeit aufgrund der Schuldenpolitik seiner Mitgliedstaaten
und ihrer divergierenden Wettbewerbsfähigkeit.
Durch die Einführung des Euro sanken vor allem in den Staaten an
der Peripherie der Eurozone die Zinsen. Diese Entlastung verleitete zu
verstärkter staatlicher und privater Aufnahme von Schulden. Die günstigen Zinsen führten in Verbindung mit großzügiger Kreditgewährung
und mangelhafter Aufsicht über Finanzsektoren in einigen Ländern zur
Bildung von Preisblasen – vor allem im Immobiliensektor – und zur
Überhitzung der Konjunktur in den betreffenden Staaten. Das „billige
Geld“ erlaubte es Regierungen, dringend notwendige Strukturreformen zu vertagen. Überhitzte Konjunktur auf Pump, zu stark angestiegene Preise, nachlassende Wettbewerbsfähigkeit, wachsende Staatsverschuldung und instabile und teilweise völlig überdimensionierte Finanzsektoren bildeten ein gefährliches Krisengemisch. Als die kreditgetriebenen Blasen platzten und in einigen Staaten die Staatsverschuldung ausuferte, zogen die Anleger ihr Geld aus Furcht vor Verlusten
ab. Seither bilden sich gewaltige Finanzierungslücken.
Die Eurokrise hat einen entscheidenden Mangel der Europäischen
Währungsunion offengelegt: Es gab keinen wirksamen Mechanismus,
die Mitgliedstaaten daran zu hindern, sich im Übermaß zu verschulden. Bestehende Aufsichtsmöglichkeiten der EU wurden nicht konsequent genutzt. Ordnungspolitische Sicherungselemente, wie der Stabilitäts- und Wachstumspakt, wurden nicht eingehalten. Insbesondere der
Verstoß Deutschlands und Frankreichs 2003 gegen die Stabilitätskriterien und die daraufhin erfolgte Änderung der Kriterien 2005 hat ent-
134
Kerstin Brauckhoff/Hermann Otto Solms
scheidend zur Schwächung des Paktes beigetragen. Die unterschiedliche Leistungskraft der einzelnen Volkswirtschaften wurde dadurch
verschleiert und dringend notwendige, strukturelle Anpassungsmaßnahmen unterlassen.
Die Währungsunion kann jedoch nur als Stabilitätsunion dauerhaft bestehen.32 Die marktwirtschaftlichen Grundprinzipien der Stabilitätsgemeinschaft – insbesondere das Verbot einer gegenseitigen Budgethilfe der Euro-Staaten (No-Bail-Out-Gebot) – müssen wieder vollständig etabliert werden. Ebenso wie im Privatrecht gehören auch für
Staaten Entscheidung und Haftung untrennbar zusammen. Jede Vermischung von Verantwortung durch gemeinschaftliche Haftung – egal
in welcher Spielart – muss ausgeschlossen werden. Jeder einzelne Mitgliedstaat muss jeweils für sich genommen die Stabilitätserfordernisse
erfüllen. Unterschiedliche Zinssätze sind der Preis für die unterschiedliche Bonität der verschiedenen Staatsanleihen und sind in ihrer Signalwirkung für die jeweilige Haushaltspolitik unverzichtbar. Eine weitere Verschuldung der Mitgliedstaaten kann nur dann effektiv begrenzt
werden, wenn die Schuldner selbst ein Interesse daran haben, die Zinsen für ihre Anleihen auf dem Kapitalmarkt durch angemessene und
wirksame Reformmaßnahmen zu senken.
Eine Vergemeinschaftung von Schulden in der Eurokrise verleitet
dazu, sich zulasten anderer der eigenen Verantwortung zu entziehen
(moral hazard). Eurobonds, ein gemeinsamer Schuldentilgungsfonds
oder andere Varianten gemeinschaftlicher Haftung verstoßen gegen
das Prinzip der nationalen Finanzhoheit, gefährden das Budgetrecht
der nationalen Parlamente und verletzen damit Grundprinzipien der
Demokratie. Sie widersprechen zudem dem Subsidiaritätsprinzip und
lösen die akuten Probleme nicht, sondern verschärfen diese im Gegenteil noch.
Finanzielle Hilfen an die Euro-Staaten müssen zeitlich und der
Höhe nach begrenzt und mit Konditionen verbunden sein. Übergangsweise kann einzelnen Mitgliedstaaten mit Hilfe der Europäischen
Finanzstabilisierungsfazilität (EFSF) und der im Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) vorgesehenen Maßnahmen geholfen werden.
Doch können diese Instrumente sowie die Maßnahmen der Europäi--------------------------------------------
32 Vgl. dazu Fahrholz, Christian/Freytag, Andreas/Ohler, Christoph: Ein Rahmen für
die Europäische Wirtschafts- und Währungsunion – 6 Grundsätze für Stabilität; Berlin
2012.
Deutschland in der EU – Die EU in der Welt
135
schen Zentralbank (EZB) nur kurzfristig zur Marktberuhigung beitragen. Mittel- und langfristig ist es Aufgabe der Krisenstaaten, die erforderlichen Strukturreformen umzusetzen. Dies gilt umso mehr, als die
vertraglich fixierte Verantwortung der EZB für die Geldwertstabilität
auch in Zukunft ihr vorrangiges Ziel bleiben muss. Ihre Unabhängigkeit und das Verbot der Staatsfinanzierung müssen eingehalten werden
und weiter bestehen.
Mit dem Fiskalpakt wurden notwendige Schritte der finanzpolitischen Integration nachgeholt, die die Ausgabendisziplin verbessern
sollen. Vor allem die verbindliche Einführung von Schuldenbremsen
für die Euro-Staaten sowie von automatischen Sanktionsmechanismen
gegen Defizitsünder sind wichtige Instrumente zur Kontrolle der öffentlichen Haushalte. Grundsätzlich sollten Sanktionen so ausgestaltet
werden, dass sie eine verfehlte Haushaltspolitik automatisch korrigieren, zum Beispiel durch eine für diesen Fall vorgesehene Erhöhung der
Umsatzsteuer.33 So werden die Bürger veranlasst, die unsolide Finanzpolitik ihrer jeweiligen Parlamente und Regierungen in die Wahlentscheidung einzubeziehen.34
Aus Sicht der realen Wirtschaft kommt es als Folge der Ineffizienz
deregulierter Finanzmärkte in der Regel zu einem Marktversagen.
Deshalb muss das Pendel zurückschwingen. Es bedarf nicht unbedingt
mehr, aber zumindest einer besseren Regulierung der Akteure und
ihrer Verhaltensweisen, damit Finanzmärkte effizient funktionieren.
Die gefährlich enge Bindung ganzer Bankensektoren an die Staatshaushalte von Mitgliedstaaten und umgekehrt muss getrennt werden,
um Ansteckungseffekte zwischen den Banken und Staaten zu verhindern und um die Gefahr einzudämmen, dass in Schieflage geratene
Banken mit Steuergeldern gerettet werden müssen, weil sonst das ganze System kollabieren würde. Daher ist es sinnvoll, dass die EU zusätzlich zu den bereits ergriffenen kurzfristigen Maßnahmen eine effiziente
Bankenaufsicht bekommt, die mit den nationalen Aufsichtsbehörden
--------------------------------------------
33 Dieser Vorschlag geht zurück auf den Sachverständigenrat zur Begutachtung der
gesamtwirtschaftlichen Entwicklung: Nach dem EU-Gipfel: Zeit für langfristige Lösungen nutzen; Sondergutachten gemäß § 6 Absatz 2 Satz 1 des Gesetzes über die Bildung
eines Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung;
Wiesbaden 2012, S. 15.
34 Einen Überblick über die Ziele und Möglichkeiten künftiger Koordinierung geben
Feld, Lars P./Haucap, Justus/Möschel, Wernhard u. a.: Wie viel Koordinierung braucht
Europa?; Berlin 2013.
136
Kerstin Brauckhoff/Hermann Otto Solms
eng zusammenarbeiten und zugleich die Möglichkeit haben muss,
jeden einzelnen Überprüfungsfall an sich zu ziehen. Die geldpolitische
Unabhängigkeit der EZB muss in vollem Umfang gewahrt, das Statut
der EZB unangetastet bleiben. Insbesondere dürfen geld- und aufsichtspolitische Kompetenzen nicht vermischt und nicht von den gleichen Entscheidungsträgern wahrgenommen werden. Gleichzeitig muss
sichergestellt werden, dass die Eigenkapitalausstattung der Banken
erhöht wird, um die Risikobereitschaft der Banken zu bremsen (z. B.
Basel III). Die Staaten müssen in einem ersten Schritt dazu verpflichtet
werden, jeweils eigene Sicherungssysteme für Bankeinlagen einzurichten, die von den Banken finanziert werden. Wenn diese eingerichtet
und hinreichend finanziert sind, kann anschließend darüber nachgedacht werden, diese nationalen Sicherungssysteme zu einem europaweiten Netz zu verknüpfen. In gleicher Weise muss die Möglichkeit
einer geregelten Restrukturierung einzelner Banken in allen Euroländern geschaffen werden. Banken, die sich verspekuliert haben, müssen
möglichst geordnet aus dem Markt ausscheiden können. Dafür ist
dringend ein europäischer Rechtsrahmen für die geordnete Insolvenz
von Finanzinstituten erforderlich. Wenn der Finanzsektor mit solchen
Maßnahmen insgesamt robuster wird, sinkt die Gefahr der Ansteckung, so dass geordnete Banken- und Staateninsolvenzen möglich
werden und das Bail-Out-Verbot seinen Zweck erfüllen und konsequent angewendet werden kann.35
Ziel aller Reformbemühungen müssen Wettbewerbsfähigkeit und
Vollbeschäftigung sein. Diese entstehen nur dort, wo eine gut ausgebildete Bevölkerung arbeitet, wo Arbeitsmärkte und andere Märkte
offen und nicht überreguliert sind, wo fairer Wettbewerb herrscht, wo
Investoren sich auf eine leistungsfähige und schlanke Verwaltung und
Justiz verlassen können, wo die Löhne nicht schneller als der Produktivitätsfortschritt wachsen, wo die Staatsausgaben und die Verschuldung in einem tragfähigen Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt (BIP)
stehen. Nur so kann ein Standort für Investoren dauerhaft Attraktivität ausstrahlen. Die Verantwortung und Zuständigkeit, wettbewerbsfähige Voraussetzungen zu schaffen, liegt nach wie vor bei den Mit--------------------------------------------
35 Zur Zukunft der Wirtschafts- und Währungsunion vgl. auch: Dieter, Heribert:
Maastricht 2.0. Bei der Weiterentwicklung der Währungsunion hat Europa Alternativen
zum Zentralisierungsfetisch; SWP-Aktuell, Berlin 2012; Horn, Karen: Wirtschaftsverfassung statt Wirtschaftsregierung; FAZ 21.06.12.
Deutschland in der EU – Die EU in der Welt
137
gliedstaaten und kann auch nur dort effektiv geleistet werden. Während der EU die Vorgabe und Kontrolle der Ziele obliegt, ist die konkrete wirtschafts- und finanzpolitische Umsetzung Angelegenheit der
Mitgliedstaaten und ihrer jeweiligen untergliederten Ebenen bis hin zu
den Kommunen. Die EU kann die Mitgliedstaaten bei den notwendigen Strukturreformen durch den ihr bereits gegebenen ordnungspolitischen Rahmen unterstützen, und sie kann Anreize zu selbstbestimmten, verantwortungsbewussten Reformen geben: Mit makroökonomischer Überwachung kann sie auf Fehlentwicklungen in der Haushaltsund Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten hinweisen und die Staaten
und ihre Parlamente zu Korrekturen drängen. Sie kann durch eine
Vollendung des Binnenmarktes dazu beitragen, dass mehr Wettbewerb
in bislang geschützte Bereiche einzieht. Und sie kann durch den Abschluss liberaler Handelsabkommen die Handelshemmnisse im Welthandel reduzieren und so Wachstumskräfte freisetzen.
Ausblick
Die europäische Integration ist kein Projekt der Vergangenheit, sie
ist vielmehr ein Projekt der Zukunft. In der Vergangenheit hat sie wesentlich zur Sicherung von Frieden, Freiheit und Wohlstand beigetragen. Heute scheinen die Gefahr durch Kriege und die unmittelbare
Bedrohung der Freiheit gebannt. Gleichwohl bleiben die Sicherung von
Freiheit, Frieden und Wohlstand auch im 21. Jahrhundert die Ziele der
EU. Parallel dazu liegt der „Mehrwert“ der EU aber vor allem für die
jüngeren Generationen in der Nutzung der Chancen, die ihnen im
Rahmen der europäischen Einigung erwachsen: Für Schüler, Auszubildende oder Studenten sind Auslandsaufenthalte zur Selbstverständlichkeit geworden, Arbeitnehmer und Arbeitgeber nutzen die Möglichkeiten, die der Binnenmarkt ihnen bietet, ganz zu schweigen von grenzenlosen Reisemöglichkeiten und der damit verbundenen kulturellen
Bereicherung. Um diese Ziele und Chancen zu bewahren und fortzuentwickeln, braucht es eine kontinuierliche Überprüfung des Spannungsverhältnisses zwischen Kompetenzübertragung und Subsidiaritätswahrung. Europa kann stark und attraktiv bleiben, wenn es seinen
liberalen Wurzeln treu bleibt, wenn es die Demokratie und das Recht
138
Kerstin Brauckhoff/Hermann Otto Solms
auf allen Ebenen achtet, die Grund- und Menschenrechte schützt, eine
den Regeln der Marktwirtschaft entsprechende Ordnungspolitik verfolgt, wenn es nach außen geschlossen auftritt und zugleich nach innen
seine Vielfalt pflegt und nutzt.
Neue Perspektiven für die transatlantische Zusammenarbeit
139
Harald Leibrecht
Neue Perspektiven für die transatlantische
Zusammenarbeit
Pfeiler der deutschen Außenpolitik – eine Partnerschaft im
Wandel
Die transatlantischen Beziehungen sind neben der europäischen Integration der wichtigste Pfeiler der deutschen Außenpolitik. Dieser seit
mehr als einem halben Jahrhundert gültige Leitsatz hat nichts von
seiner Aktualität verloren. Und dennoch ist die transatlantische Zusammenarbeit heute mit der Partnerschaft der vergangenen Jahrzehnte
kaum vergleichbar. Die Beziehungen befinden sich in einem grundlegenden Wandel.
Meinungsunterschiede, wie vor einigen Jahren die über den IrakKrieg, können auch gewachsene Beziehungen auf eine Probe stellen;
gleichzeitig zeigen sie, dass die transatlantische Brücke auf einem sehr
soliden Fundament steht. Dieses Fundament kann zwar mitunter knirschen oder schwanken, aber es ist und bleibt fest verankert. Inzwischen haben sich sowohl die offiziellen politischen Beziehungen als
auch die gegenseitige Wahrnehmung in der Bevölkerung wieder deutlich gebessert.1 Und dennoch gilt: Die transatlantische Partnerschaft
läuft heute nicht mehr auf Autopilot. Sie verlangt Einsatz, Steuerung
und klare Zukunftsperspektiven.
Nach Ende des Zweiten Weltkriegs war die transatlantische
Freundschaft lange Zeit eine Selbstverständlichkeit. Die USA unterstützten Deutschland in seiner Demokratisierung und durch den
Marshall-Plan unmittelbar beim Wiederaufbau. Für Westdeutschland
waren die USA eine unerlässliche Schutzmacht. Kaum jemand erinnert
sich nicht an die bewegenden Worte der Solidarität von Präsident
Kennedy vor genau 50 Jahren: „Ich bin ein Berliner“. Seit der politischen Wende im Jahr 1990 fehlt das bindende Element einer gemein-------------------------------------------1
Quelle: www.transatlantictrends.org.
140
Harald Leibrecht
samen Bedrohung. Beide Seiten wandten sich neuen Schwerpunkten
zu: Deutschland zunächst der Wiedervereinigung und der europäischen
Integration; die USA unter anderem dem Nahen Osten, nach den Ereignissen des 11. Septembers dem Kampf gegen Terrorismus, zuletzt
vermehrt auch der Pazifikregion und Ostasien.
Der folgende Text widmet sich dieser transatlantischen Partnerschaft im Wandel. Im Fokus steht dabei neben der engen Abstimmung
in sicherheitspolitischen Fragen auch die weitere Intensivierung des
wirtschaftlichen Austauschs. Insbesondere werden konkrete Zukunftsfelder für die deutsch-amerikanische Zusammenarbeit, z. B. Berufsbildung oder Energie, besprochen. Ferner werden gesellschaftliche und
politische Veränderungen unserer transatlantischen Partner beleuchtet,
die für das Verhältnis von besonderer Relevanz sind. Im Zentrum der
deutschen und europäischen Außenpolitik gegenüber den USA könnte
in nächster Zeit ein klassisch liberales Projekt einen zentralen Platz
einnehmen: die Verhandlung eines umfassenden transatlantischen
Investitions- und Handelsabkommens.
Partner in Verantwortung in einer globalisierten Welt
Die transatlantischen Beziehungen bleiben Grundlage deutscher
und europäischer Sicherheit und stehen für die feste Einbindung des
geeinten Deutschlands in das westliche Bündnis. Das ist für viele Menschen auf beiden Seiten des Atlantiks heute selbstverständlich. Die
Beziehungen Deutschlands zu den Vereinigten Staaten und zu Kanada
sind exzellent und weitgehend problemfrei. Selten gab es einen Augenblick in der jüngeren Geschichte, an dem wir so viel Konsens in sicherheitspolitischen Fragen hatten wie im Moment: Das gilt für die Frage,
wie sich der Konflikt um das Atomprogramm des Irans friedlich lösen
lässt; es gilt für den Nahostkonflikt insgesamt, und es gilt für die derzeit dringendste Herausforderung, die Beendigung der schrecklichen
Gewalt gegen die Menschen in Syrien.
Seit Jahrzehnten garantiert die NATO unsere gemeinsame Sicherheit in der transatlantischen Gemeinschaft. Das Nordatlantische
Bündnis ist und bleibt das feste Fundament deutscher Sicherheits- und
Verteidigungspolitik. Mit dem beim NATO-Gipfel in Lissabon im
November 2010 verabschiedeten neuen Strategischen Konzept hat das
Neue Perspektiven für die transatlantische Zusammenarbeit
141
Bündnis eindrucksvoll Handlungsfähigkeit in einem sich wandelnden
Umfeld demonstriert.
Wir haben einen gemeinsamen Fahrplan für den Abzug unserer
Soldaten aus Afghanistan beschlossen und uns auf die Finanzierung
des Aufbaus der afghanischen Streitkräfte nach 2014 verständigt.
Deutschland hat bereits im Frühjahr 2013 ein konkretes Angebot für
die Beteiligung an der Post-ISAF-Mission vorgelegt. In Afghanistan,
am Horn von Afrika und im Kosovo sind bzw. waren deutsche, amerikanische und teilweise auch kanadische Soldaten gemeinsam im Einsatz, um für Frieden und Sicherheit zu sorgen. Und wir sind uns über
das grundsätzliche Ziel einig, langfristig eine atomwaffenfreie Welt zu
schaffen.
Partner mit Verantwortung in Zeiten der Finanzkrisen
Im Laufe der letzten 24 Monate ist bei zahlreichen Gipfeltreffen
deutlich geworden, dass auch die in der Presse manchmal hoch geschriebenen Unterschiede zwischen dem europäischen und dem amerikanischen Ansatz zur Lösung der Staatsschuldenkrise im Euroraum
keine unüberbrückbaren Gegensätze sind.
Die USA erwarten von den Europäern zu Recht, dass sie die
Staatsschuldenkrise in den Griff bekommen. Die wichtigsten Weichen
sind dafür gestellt. Dies wird von unseren transatlantischen Partnern
gewürdigt. Wir in Europa wiederum erwarten, dass die USA ihr eigenes Haushaltsdefizit in den Griff bekommen. Haushaltskonsolidierung
und Wachstum gehören zusammen; sie ergänzen sich. Ohne fiskalische
Konsolidierung wird es mittel- und langfristig kein Wachstum geben.
Und ohne Wachstum werden wir die Haushalte nicht konsolidieren
können. Auch ordnungspolitisch liegen die USA und Europa also letztlich nicht weit auseinander.
Dennoch blicken beide Seiten diesbezüglich immer noch mit Sorge
über den Atlantik, sei es zuletzt wegen der Situation in Zypern auf der
einen oder wegen des Haushaltsdefizits auf der anderen Seite. Schließlich leben wir als transatlantische Partner in dem wirtschaftlich am
engsten vernetzten Raum. Dies bietet hervorragende Zukunftsperspektiven, aber eben auch einige Gefahren. Letztendlich dominiert jedoch
das gegenseitige Vertrauen in die Fähigkeiten der Partner, ihre Probleme in den Griff zu bekommen.
142
Harald Leibrecht
Strategien gegen einen möglichen Bedeutungsverlust der
Partnerschaft
Welche Weichenstellungen und Voraussetzungen sind nun entscheidend, wenn wir uns den Zukunftsperspektiven zuwenden? Die
transatlantischen Beziehungen sind eine Erfolgsgeschichte, auf die wir
mit Recht stolz sind. Zur Selbstzufriedenheit aber besteht kein Anlass.
Gerade Deutschland läuft Gefahr, in den Augen der Amerikaner und
Kanadier zukünftig an Bedeutung zu verlieren. Die Gründe hierfür
sind ebenso vielfältig wie die Wege, einer solchen Entwicklung gegenzusteuern.
Während des Kalten Krieges war Deutschland tagtäglich in den
Nachrichten; Zehntausende von US-Soldaten und Vertretern der kanadischen Streitkräfte waren mit ihren Familien in Deutschland stationiert. Sie brachten den „American way of life“ zu uns, und sie trugen
„ihr“ Deutschland mit zurück in die amerikanischen und kanadischen
Haushalte. Sie waren die besten Botschafter, die man sich vorstellen
konnte.
Inzwischen sind Amerika und Europa globaler geworden. Immer
mehr US-Amerikaner definieren ihre Familie über lateinamerikanische,
asiatische und afrikanische Vorfahren. Dies gilt auch für Entscheidungsträger in Politik und Wirtschaft. Gleichzeitig interessieren sich
eben auch Schüler und Studierende in den USA und in Deutschland
vermehrt auch für andere Weltregionen, zum Beispiel China oder Lateinamerika. Insgesamt gilt es also, einem Bedeutungsverlust Deutschlands in Nordamerika gegenzusteuern.
„Mehr Deutsch, please“!2
Ein zentrales Element zur Generierung von Verständnis und Interesse für ein Land ist seine Sprache. Die USA sind jedoch ein Land von
„Fremdsprachensprechern“, kein Land von „Fremdsprachenlernern“.
Dennoch behauptet sich das Schulfach Deutsch noch immer mit knapp
400.000 Schülern. Langfristig ist das aber nicht genug, zumal die asiatischen Sprachen an Boden gewinnen.
Um die Rolle der deutschen Sprache zu stärken und das amerikanische Bewusstsein für die Rolle Deutschlands zu erhöhen, hat das
-------------------------------------------2
Leibrecht, Harald: Die Welt vom 4.6.2012.
Neue Perspektiven für die transatlantische Zusammenarbeit
143
Auswärtige Amt die USA seit 2012 zu einem strategischen Schwerpunktland für Deutsch als Fremdsprache gemacht. Damit sollen langfristig neue Impulse zum Erlernen der deutschen Sprache gesetzt werden. Schon jetzt gehören 91 Schulen in den USA zum Netzwerk „Schulen – Partner der Zukunft“ des Auswärtigen Amts (fünf deutsche Auslandsschulen, 77 Schulen, die das Sprachdiplom der Kultusministerkonferenz anbieten, und neun vom Goethe-Institut betreute Schulen).
Darüber hinaus bieten über 1.200 US-amerikanische Schulen vertieften
Unterricht im Fach Deutsch an, und jedes Jahr kommen mehrere Hundert Lehrer, etwa 1.500 Studierende und über 10.000 Schüler nach
Deutschland, um Sprache, Land und Kultur kennenzulernen. Ziel ist
ein Paradigmenwechsel: Unser Engagement zur Förderung von
Deutsch als Fremdsprache in den USA soll sich künftig primär darauf
richten, die Angebote zum Erlernen der deutschen Sprache quantitativ
und qualitativ auszubauen und die Attraktivität Deutschlands und der
deutschen Sprache zu erhöhen. Unsere Angebote werden noch stärker
an den Interessen unserer US-amerikanischen Partner ausgerichtet. Die
Zahl der Deutschlerner an den US-Schulen muss stabilisiert und möglichst dauerhaft erhöht werden. Dieses Ziel werden wir nur erreichen,
wenn es uns gelingt, unsere Partner in den USA in die Entwicklung
einzubinden.
Konkret bedeutet dies, dass die bereits bestehenden Aktivitäten
gebündelt werden. Es werden vermehrt Berater für den Deutschunterricht eingesetzt, die ein einheitliches Aufgabenprofil erhalten und bei
den Bildungsbehörden der Bundesstaaten angebunden sind. Diese Berater werden unterstützt durch ein Netz von US-amerikanischen
„Mentor Teachers“, sodass nach Möglichkeit jeder Deutschlehrer und
jede Schule, die Deutschunterricht anbietet oder anbieten möchte,
einen Ansprechpartner in der Nähe und ein Angebot an Informationsmaterialien, Beratung und Fortbildungsmaßnahmen findet. Gleichzeitig wird angestrebt, unsere Außendarstellung zu verbessern, indem
die Rolle, die Deutschland aktuell in verschiedenen Bereichen spielt,
hervorgehoben wird (Deutsch und Fußball, Deutsch und Technik,
Deutsch und Wirtschaft, deutsche Popmusik etc.).
Das Interesse an Deutschland muss in den USA erhalten bleiben;
dafür setzen wir uns durch diese und vergleichbare ganz konkrete
Maßnahmen aktiv ein. Wichtig ist dabei, jeweils auch die aktuellen
144
Harald Leibrecht
politischen und gesellschaftlichen Veränderungen auf der anderen
Atlantikseite im Auge zu behalten.
Ein Partner im Wandel: Die USA nach der Wiederwahl Barack
Obamas
Barack Obamas Wahl zum ersten schwarzen Präsidenten der Vereinigten Staaten 2008 machte ihn früh zu einer historischen Figur. Mit
seiner Wiederwahl ist nun klar, dass Obama keine Übergangsfigur ist,
sondern Gesellschaft und Politik in den USA nachhaltiger prägen
könnte, als viele bisher glaubten.
Im Zusammenhang mit der Wiederwahl Obamas sind zwei Faktoren von besonderer Bedeutung für das transatlantische Verhältnis:
Zum einen sind dies die demografischen Veränderungen in den
USA, die ganz entscheidend zu Obamas Wahlsieg beigetragen haben,
zum anderen das Gefühl vieler Amerikaner, in einer „Nachkriegszeit“
zu leben, in der es zunächst einmal vor allem um Investitionen in Bildung und Infrastruktur in den USA und um die wirtschaftliche Belebung in Amerika gehen muss – und weniger um amerikanisches Engagement im Ausland.
„Changing Face of America“
Obama verdankt seinen Wahlsieg einer Koalition aus weiblichen,
jungen, städtischen, oft unverheirateten Wählern, vor allem aber
der Unterstützung von Afroamerikanern, Hispanics und asiatischstämmigen Amerikanern. Afroamerikaner votierten mit 93 % für
Obama. Bei den Latinos und Asiaten waren es 71 % bzw. 73 %.
Obama profitierte zudem entscheidend davon, dass der Anteil der von
Angehörigen der Minderheiten abgegebenen Stimmen gegenüber 2008
noch einmal anstieg: Im wichtigen „Swing State“ Ohio beispielsweise
betrug der Anteil der afroamerikanischen Stimmen 2012 13 % – nach
11 % im Jahr 2008.3
Diese demografische Entwicklung wird anhalten: Spätestens 2050
wird die weiße Bevölkerung nur noch 47 % der Gesamtbevölkerung
ausmachen (2012 bei 63 %), sie wird zur größten Minderheit. Der
-------------------------------------------3
Quelle: www.realclearpolitics.com.
Neue Perspektiven für die transatlantische Zusammenarbeit
145
Anteil der hispanisch-stämmigen Bevölkerung wird von heute 17 %
auf 31 % im Jahr 2060 steigen; asiatisch-stämmige Amerikaner machen 2060 8 % der Bevölkerung aus, heute nur 5 %. Der Anteil der
schwarzen Bevölkerung wächst moderat von 13 auf 15 %. Ebenso
wird der Anteil an Personen mit zwei oder mehr Ethnizitäten zunehmen.4 Die USA wandeln sich also rasch.
Dieser Wandel hat Folgen für das US-amerikanische Parteiensystem: Die Republikaner werden sich stärker als bisher für die immer
wichtigeren Minderheiten öffnen müssen; ansonsten geraten sie in eine
strukturelle Minderheitenposition. Am veränderten Umgang der Republikaner mit dem Thema Einwanderung lässt sich eine solche Öffnung schon jetzt ablesen.
Der demografische Wandel Amerikas hat aber auch Folgen für
Deutschland und Europa. Vor einiger Zeit wurde vermehrt Kritik laut,
Europas Politiker und Diplomaten kommunizierten fast ausschließlich
mit dem „alten, weißen Amerika“5. Das mag ein wenig übertrieben
sein; in der Tendenz aber stimmt es. Die politischen Vertreter der
Minderheiten wurden bisher sicher vernachlässigt. Wir müssen uns
jetzt ganz gezielt auch für diese Gruppe in den USA öffnen. Dies gilt
sowohl für die politische Ebene als auch für den zivilgesellschaftlichen
Austausch. Gerade Universitäten, Stiftungen und den transatlantischen
Organisationen kommt hier eine tragende Rolle zu.
Diese Öffnung ist umso wichtiger, als auf beiden Seiten des Atlantiks auch ein Generationswechsel stattfindet. Wer heute in Washington
auf dem Capitol Hill oder mit der US-Regierung Gespräche führt, der
stellt fest, dass die Erinnerung an Aufenthalte in Deutschland, zum
Beispiel als Mitglied der U.S. Army, als Student oder Schüler, für viele
amerikanische Entscheidungsträger kaum noch eine Rolle spielt. Viele
Vertreter der Nachkriegsgeneration, die die transatlantischen Beziehungen lange geprüft haben, ziehen sich langsam in den Ruhestand
zurück: auf amerikanischer Seite Senatoren wie Joe Lieberman,
Richard Lugar, Sam Nunn oder etwa der frühere US-Außenminister
Henry Kissinger, auf deutscher Seite Hans-Dietrich Genscher, Richard
--------------------------------------------
4 Quelle: U.S. Census Bureau, unter: http://www.census.gov/newsroom/releases/img/
racehispanic_graph.jpg.
5 So u. a. Werz, Michael: Das Pazifische Jahrhundert, Süddeutsche Zeitung vom
10.12.2012.
146
Harald Leibrecht
von Weizsäcker und natürlich Helmut Schmidt. Eine vergleichbare
Entwicklung lässt sich auch in Bezug auf Kanada feststellen.
Präsident Obama hat in seinem außenpolitischen Team für die
zweite Amtszeit mit John Kerry und Chuck Hagel zwei überzeugte
Transatlantiker an zentraler Stelle postiert. Dies wird die Zusammenarbeit mit den USA in den kommenden Jahren sicher erleichtern, man
kennt sich – und die Chemie stimmt. Dennoch sollten wir uns von den
bekannten Gesichtern nicht täuschen lassen: Vielen jungen, neuen
Entscheidungsträgern auf beiden Seiten des Atlantiks fehlt die emotionale Bindung an den jeweils anderen Kontinent, welche die großen
Transatlantiker des 20. Jahrhunderts mitbrachten. „NATO is no longer in the genes“6 hat der frühere amerikanische Verteidigungsminister
Bob Gates in seiner Abschiedsrede vor der NATO im Juni 2011 gesagt, und dies beschreibt diese Veränderung in den transatlantischen
Beziehungen ziemlich treffend.
Die transatlantischen Beziehungen werden durch diese Entwicklungen insgesamt weniger emotional. Die Bindung, die durch Krieg,
Versöhnung und später durch den Ost-West-Konflikt und die Vollendung der deutschen Einheit entstand, lässt sich nicht einfach ersetzen.
Das wäre auch unsinnig. Wenn der amerikanische Präsident heute eine
Rede in Berlin hielte, hätte die zwangsläufig einen anderen – sachlicheren – Ton als die Rede Ronalds Reagans am Brandenburger Tor 1987
– oder die John F. Kennedys 1963, zwei Jahre nach dem Mauerbau,
mitten im Kalten Krieg.
Europas Antwort auf „America’s Pacific Century“7
Die demografischen Veränderungen im Inneren korrespondieren
außenpolitisch mit der strategischen Neuorientierung der USA nach
Asien. Die USA haben seit dem Herbst 2011 ein „rebalancing“ Richtung Asien/Pazifik begonnen, den sogenannten „pivot to Asia“. Damit
reagieren sie auf die immer weiter steigende wirtschaftliche Bedeutung
der asiatischen Schwellenländer und den Aufstieg Chinas. Präsident
Obama ist kurz nach seiner Wiederwahl schon im November 2012
erneut nach Asien gereist, nach Myanmar, Kambodscha und Thailand.
-------------------------------------------6
http://www.defense.gov/speeches/speech.aspx?speechid=1581.
http://www.foreignpolicy.com/articles/2011/10/11/americas_pacific_century?page
=full.
7
Neue Perspektiven für die transatlantische Zusammenarbeit
147
Außenminister Kerry bereiste Asien im April 2013. Es besteht also
kein Zweifel, dass die Öffnung nach Asien auch in Obamas zweiter
Amtszeit weiter verfolgt wird.
Diese Intensivierung des amerikanischen Interesses am asiatischpazifischen Raum steht jedoch nicht im Widerspruch zu guten und
engen transatlantischen Beziehungen. Ganz im Gegenteil.
Auch Europa hat sein Engagement in der Region Asien/Pazifik
immer weiter intensiviert. Das deutsche Außenhandelsvolumen ist in
den vergangenen Jahren deutlich gestiegen. Aber nirgendwo sind die
Zuwächse so groß wie im Handel mit dem asiatisch-pazifischen Raum.
Lange Zeit waren die USA Deutschlands größter Handelspartner außerhalb der Europäischen Union. Im Jahr 2011 hat erstmals China
diese Position übernommen. Das relativiert nicht die Bedeutung der
transatlantischen Wirtschaftsbeziehungen. Aber es dokumentiert, dass
gerade die deutsche Wirtschaft sich im Hinblick auf ihre Außenhandelspartner diversifiziert hat. Und die Länder Asiens nehmen dabei
einen immer prominenteren Platz ein.
Als Handelsstaat hat Deutschland ein elementares Interesse an
Frieden und Sicherheit im asiatisch-pazifischen Raum, an der friedlichen und von Regeln geleiteten Beilegung von Konflikten, an der Freiheit der Schifffahrtswege und an der Stärkung multilateraler regionaler
Organisationen. Deutschlands Interessen im asiatisch-pazifischen
Raum sind also weitgehend identisch mit denen der Vereinigten Staaten von Amerika. Amerikas Präsenz in der Region eröffnet den Ländern die Chance, ihren Wohlstand weiter zu steigern, die regionalen
Sicherheitsstrukturen zu stärken und Konflikte friedlich beizulegen.
In der öffentlichen Wahrnehmung nehmen die transatlantischen
Beziehungen derweil einen höheren Stellenwert ein als die zu den Ländern Asiens. Ausweislich der Umfrage der „Transatlantic Trends“
2012 sind sowohl Amerikaner als auch EU-Europäer der Auffassung,
dass die Beziehungen zu den USA bzw. Europa wichtiger sind als die
zu den Ländern Asiens.8
--------------------------------------------
8 Umfrage durchgeführt vom German Marshall Fund: www.transatlantictrends.com:
61% der Europäer und 55 % der Amerikaner vertreten diese Auffassung.
148
Harald Leibrecht
„Nation building at home“ – steigende Erwartungen an die
europäischen Partner?
Präsident Obama sagte in seiner Rede zur Amtseinführung am 21.
Januar 2013: „A decade of war is now ending. An economic recovery
has begun.“9 Amerika befindet sich also in einer selbsterklärten Nachkriegsphase. Dieser Satz Obamas entspricht dem derzeitigen Lebensgefühl vieler Amerikaner. Viele Menschen in den USA sind kriegsmüde.
Viele sind von den Ergebnissen der Kriege seit 9/11 nicht überzeugt.
Und verständlicherweise wünschen sie, dass sich ihre Politiker wieder
stärker dem eigenen Land zuwenden, dass Investitionen in die Infrastruktur Amerikas getätigt werden, dass Brücken nicht nur im Irak
oder in Afghanistan gebaut und erneuert werden, sondern vor allem in
den USA selbst.
Präsident Obamas Regierung steht zu Hause vor vielen großen
Herausforderungen – „Nation building at home“10 gewissermaßen:
Die Infrastruktur muss erneuert, Bildungssystem und Einwanderungsgesetzgebung reformiert, die Wirtschaft belebt, Arbeitsplätze geschaffen und die Sozialversicherungssysteme zukunftsfähig gemacht werden.
Seit zwei Jahren steht die hohe Staatsverschuldung im Zentrum der
innenpolitischen Debatte. Sie muss zurückgeführt werden, was weitere
Konjunkturprogramme ausschließt. Unmöglich ist all dies nicht – zumal die neu entdeckten Vorkommen an Gas und Öl günstige Energiepreise mit sich bringen, die die Reindustrialisierung der USA erleichtern und das Wachstum fördern werden.
Deutschland und die EU müssen damit rechnen, dass sich die USA
angesichts dieser Aufgabenfülle in den kommenden Jahren stärker auf
die „Baustellen“ im eigenen Lande konzentrieren werden als in der
jüngsten Vergangenheit. Schon jetzt haben die USA beschlossen, ihre
Militärausgaben in den kommenden zehn Jahren um 458 Mrd. USD
zurückzufahren. Sie möchten ihren militärischen „footprint“ in der
Welt verringern und verstärkt sicherheitspolitische Verantwortung
teilen oder gar abgeben.11 Im Libyenkrieg und in Mali griffen und
greifen sie nur unterstützend ein und überlassen die Initiative und die
--------------------------------------------
9 http://www.whitehouse.gov/the-press-office/2013/01/21/inaugural-addresspresident-barack-obama.
10 http://www.whitehouse.gov/state-of-the-union-2012.
11 http://articles.washingtonpost.com/2012-01-05/national/35439746_1_defensebudget-military-force-pentagon.
Neue Perspektiven für die transatlantische Zusammenarbeit
149
Hauptverantwortung anderen Ländern, vor allem Frankreich und
Großbritannien. Dieser Trend dürfte sich unter den Ministern Kerry
und Hagel fortsetzen. Beide stehen als Veteranen des Vietnamkriegs
groß angelegten militärischen Einsätzen eher skeptisch gegenüber und
werden mit einem immer geringer werdenden Budget zu kämpfen haben.
Die europäischen Partner müssen auf diese Veränderungen reagieren. Vertreter der US-Administration haben im Verlauf der vergangenen zwei Jahre immer wieder deutlich gemacht, dass die USA von
Europa erwarten, international mehr Verantwortung zu übernehmen,
um die Lasten der internationalen Politik gerechter zu verteilen. Der
amerikanische Wunsch nach mehr „burden-sharing“ dürfte sich in
Präsident Obamas zweiter Amtszeit noch verstärken.
Dieser Wunsch ist verständlich, und Deutschland macht unter anderem durch sein Engagement in Afghanistan, durch die Stationierung
der Patriot-Raketen in der Türkei sowie den langjährigen Einsatz im
Kosovo deutlich, dass es um seine Verantwortung weiß und diese Verantwortung auch wahrnimmt.
Wo früher Emotionen im transatlantischen Verhältnis dominierten, spielen heute Kosten-Nutzen-Kalkulationen eine immer wichtigere
Rolle. Wir sollten uns ganz grundsätzlich darüber im Klaren sein: Europas Bedeutung für Amerika wird in Zukunft auch davon abhängen,
ob Europa bereit und in der Lage ist, seinen Beitrag zur Lösung regionaler Konflikte und Bewältigung der globalen Herausforderungen zu
leisten. Nur dann bleiben wir auch ein für die USA relevanter und
wichtiger Partner. Zum Wandel in den transatlantischen Beziehungen
im 21. Jahrhundert gehört also auch, dass viele Amerikaner Europa
heute aus einem utilitaristischen Blickwinkel betrachten.
Im amerikanischen Wunsch nach mehr Lastenteilung liegt im Übrigen eine Chance für Europa. Die USA haben in der Vergangenheit
die Entwicklung einer Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik mitunter skeptisch begleitet. Sie schienen Europas Bemühungen
um eine gemeinsame Verteidigungspolitik als Konkurrenz zur Atlantischen Allianz wahrzunehmen. Das hat sich geändert. Heute fordern
die USA ein politisch und auch militärisch handlungsfähiges Europa.
Der besondere Mehrwert der EU-Missionen liegt dabei in dem umfassenden Ansatz, der zivile und militärische Komponenten kombiniert,
ein Modell, von dem auch die USA profitieren können. Wir sollten
150
Harald Leibrecht
dies als Chance begreifen und unsere Sicherheits- und Verteidigungspolitik in Europa noch stärker zusammenführen. Der Vertrag von
Lissabon hat die rechtlichen und institutionellen Grundlagen dafür
geschaffen. Vorschläge zur Umsetzung liegen auf dem Tisch.
Europa muss zukünftig noch stärker als bisher zum „Partner in
Verantwortung“ werden. Die EU muss bereit sein, insbesondere in der
direkten Nachbarschaft sicherheitspolitisch mehr Verantwortung zu
übernehmen.
Gleichzeitig müssen wir die europäischen und die atlantischen
Sicherheits- und Verteidigungsstrukturen enger verzahnen, so dass
NATO-Aktionen und das europäische Engagement im Rahmen der
Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik aufeinander abgestimmt sind und sich sinnvoll ergänzen. Wir sind hier am Anfang. Dass
derzeit 40 US-Amerikaner in zivilen Missionen der EU mitarbeiten, ist
ein gutes Zeichen dafür, dass wir auf dem richtigen Weg sind.
Neue Perspektiven der Zusammenarbeit jenseits der
Sicherheitspolitik
Auch jenseits der Sicherheits- und Verteidigungspolitik wollen wir
noch enger mit Nordamerika kooperieren. Wir sollten uns fragen: Wo
können wir Wissen austauschen und gemeinsame Erfahrungen sammeln? Wie können wir den Verlust der emotionalen Beziehung zwischen den Staaten auffangen? Wo kann die Kooperation im wirtschaftlichen und im zivilgesellschaftlichen Bereich noch enger werden?
Im Folgenden möchte ich drei ganz konkrete Perspektiven aufzeigen, die wir derzeit besonders aktiv verfolgen:
„Skills Initiative“: Duale Berufsbildung made in USA?
Bilateral hat das Auswärtige Amt im letzten Jahr seine Zusammenarbeit mit Nordamerika in einem Bereich deutlich verstärkt, der
lange unterschätzt wurde: Berufsbildung und Fachkräfteaustausch. In
seiner Rede zur Lage der Nation am 12. Februar 2013 sprach sich
Präsident Barack Obama für eine Reform des amerikanischen Schulsystems aus. In den High Schools solle verstärkt auch berufsvorbereitendes Wissen vermittelt werden. Dies solle besser auf den Berufseinstieg vorbereiten. Deutschland hob er dabei als Vorbild heraus:
Neue Perspektiven für die transatlantische Zusammenarbeit
151
„Countries like Germany focus on graduating their high school
students with the equivalent of a technical degree from one of our
community colleges, so those German kids, they're ready for a job
when they graduate high school. They've been trained for the jobs that
are there.”12
Bereits ein Jahr zuvor verwies er ebenfalls in seiner State of the Union-Ansprache auf Partnerschaften zwischen deutschen Unternehmen
in den USA und dortigen Bildungseinrichtungen mit dem Ziel, Verbesserungen in der Fachkräfteausbildung zu erreichen:
„Model partnerships between businesses like Siemens and community colleges in places like Charlotte, and Orlando, and Louisville are
up and running.“13
Deutschland wird in den USA als Partner gesehen, der bei der
dringend notwendigen Re-Industrialisierung helfen kann, weil deutsche Firmen, die in den USA investieren, ihre Arbeitskräfte vor Ort
finden und schulen. Ich konnte diese Synergien zwischen Wirtschaftsund Bildungswelt beispielsweise an der engen Zusammenarbeit zwischen BMW und der Clemson University in Greenville, South Carolina
beobachten.
Die Deutsche Botschaft in Washington, die Generalkonsulate, das
Büro des Delegierten der Deutschen Wirtschaft (RGIT) und die
Deutsch-Amerikanischen Handelskammern in den USA unterstützen
diese Zusammenarbeit mit der sogenannten „Skills Initiative“14. Im
ersten Schritt werden Firmen und Bildungseinrichtungen mit den Verantwortlichen auf Bundesstaatenebene zusammengebracht. Natürlich
kann das deutsche System nicht 1:1 auf die USA übertragen werden.
Die genauen Modalitäten müssen auf die Anforderungen der Unternehmen und das Bildungssystem der USA abgestimmt sein. Dazu bedarf es engster Abstimmung auf regionaler Ebene. Sowohl bei den
Unternehmen als auch auf Seite der Regierungen von Bundesstaaten
und Bildungseinrichtungen trifft die Initiative auf größtes Interesse.
Regionale „Skills Initiative“-Veranstaltungen konnten bislang u. a. in
den Carolinas, Ohio und Maryland durchgeführt werden. Weitere
Gespräche und Planungen laufen u. a. mit Massachusetts, Wisconsin
und Pennsylvania.
-------------------------------------------12
www.whitehouse.gov/state-of-the-union-2013.
www.whitehouse.gov/state-of-the-union-2012.
14 Weitere Informationen unter: www.germany.info/skillsinitiative.
13
152
Harald Leibrecht
Unterstützt wird diese Initiative durch zahlreiche Besucherreisen
und Workshops zum Thema berufliche Bildung und duales System. Im
Frühsommer 2013 hält sich beispielsweise eine Gruppe von Politikern
und Wirtschaftsvertretern aus Minnesota in meinem Wahlkreis in
Baden-Württemberg auf und besucht dort große und mittelständische
Unternehmen, um sich einen eigenen Eindruck von unseren Erfahrungen zum Thema berufliche Bildung zu machen.
Für Deutschland bedeutet diese Initiative die Chance, eigenes Wissen weiterzuvermitteln und sich als Partner in den USA präsent zu
halten. Gleichzeitig gelingt es deutschen Unternehmen mit diesem Modell der spezialisierten Ausbildung, sich an ihren Standorten in den
USA mit qualifizierten Arbeitskräften zu versorgen.
Die „Skills Initiative“ zeigt beispielhaft, dass es der deutschen
Außenpolitik gelungen ist, innerhalb kürzester Zeit und in idealer
Weise eine deutliche Priorität der Obama-Administration aufzugreifen
und so die deutsch-amerikanischen Beziehungen auf eine für beide
Seiten äußerst gewinnbringende Art und Weise voranzubringen.
Transatlantische Klimabrücke:
Zusammenarbeit bei neuen Energietechnologien
Ein zweites Thema, das in den vergangenen Jahren in der bilateralen Zusammenarbeit sehr an Bedeutung gewonnen hat, ist die Energiepolitik. Zunächst einmal mag das verwundern. Auf Bundesebene gibt
es ja gerade beim Thema Klima und Energie durchaus unterschiedliche
Entwicklungen und Auffassungen zwischen Deutschland und den USA
und auch zwischen Deutschland und Kanada. Während Deutschland
den Atomausstieg beschlossen hat und immer mehr auf regenerative
Energien baut, setzen die USA und Kanada auch weiterhin hauptsächlich auf fossile Energieträger sowie Atomkraft. Dazu tragen insbesondere die höheren Fördermengen an Erdöl – in Kanada überwiegend als
Rohöl aus Ölsänden – und Erdgas im eigenen Land bei. Die Förderung
von Schiefergas hat in den USA von 2005 bis 2010 um 45 % zugenommen. Diese Entwicklungen machen Energie wieder günstiger und
ermöglichen damit eine Reindustrialisierung, und sie verringern die
Abhängigkeit der USA von Öl- und Gasimporten aus anderen Ländern. Auch wenn die USA so schnell nicht vollkommen unabhängig
von diesen Importen sein werden, so ist davon auszugehen, dass sie
Neue Perspektiven für die transatlantische Zusammenarbeit
153
trotzdem immer weniger auf Importe aus Krisenregionen angewiesen
sein werden und schon bald zu einem Energieexporteur werden könnten – mit weitreichenden Folgen auch für die US-Außenpolitik.
Gleichzeitig gibt es in den USA viel Interesse an den deutschen Erfahrungen mit erneuerbaren Energien. Präsident Obama hat sich in
seiner jüngsten Antrittsrede dafür ausgesprochen, dass die USA den
Wandel zu erneuerbaren Energien mit anführen. Mit dieser Auffassung
trifft er allerdings bei großen Teilen des Kongresses auf Widerstände.
Um diesem grundsätzlich vorhandenen Interesse entgegenzukommen
und die in einigen Bundesstaaten sehr aktive Entwicklung hin zu regenerativen Energiequellen zu unterstützen, hat die Bundesregierung seit
2008 eine „Transatlantische Klimabrücke“ über den Atlantik geschlagen. Damit werden auf der Ebene der US-Bundesstaaten und der kanadischen Provinzen nachhaltige Energieprojekte gefördert und deutsches Expertenwissen vermittelt. Dadurch haben sich bereits viele enge
Beziehungen zwischen einzelnen Unternehmen sowie zwischen deutschen Städten, Regionen und Bundesländern und amerikanischen Bundesstaaten und Provinzen entwickelt.
Transatlantischer Marktplatz: Chancen und Risiken
Liberale Außenpolitik ist Freihandelspolitik. Ein weltumfassendes
Freihandelssystem scheint derzeit nicht realisierbar, auch wenn es
grundsätzlich unser vorrangiges Ziel bleibt. Umso wichtiger ist es, das
Thema regional weiter zu verfolgen. Was liegt da näher, als die beiden
größten Wirtschaftsräume der Welt zu einem einzigen großen Wirtschaftsraum zusammenzuschließen. Dafür scheinen die Chancen nun
besser zu stehen als jemals zuvor. Präsident Obama und die europäischen Staats- und Regierungschefs haben sich im Frühjahr 2013 für
eine umfassende und ambitionierte transatlantische Handels- und Investitionspartnerschaft ausgesprochen. Deutschland ist dabei eine treibende Kraft und sollte dies auch bleiben. Wir sollten alles daran setzen, die Chance zu nutzen, Handel und Investitionen über den Atlantik
hinweg noch enger zu verflechten. Dies könnte sogar der Doha-Runde
einen neuen Anschub geben.
Welche Vorteile bringt dieses Projekt für die beiden Partner und
warum sind die Voraussetzungen für seinen Erfolg diesmal besser als
bei früheren Anläufen?
154
Harald Leibrecht
Europa und Amerika suchen gleichermaßen nach Wachstumsimpulsen, die die Wirtschaften beleben und neue Arbeitsplätze schaffen. Jeder Partner hat großes Interesse am Zustandekommen eines
Abkommens. Gemeinsam erwirtschaften Europäer und Amerikaner
fast die Hälfte des Weltsozialprodukts. Der amerikanisch-europäische
Warenaustausch erreichte 2011 einen Wert von über 500 Milliarden
Euro. Mehr als die Hälfte aller amerikanischen Auslandsinvestitionen
geht nach Europa, auch heute noch. Umgekehrt betragen die europäischen Investitionen in den USA das Achtfache unserer Investitionen in
China und Indien zusammen.
Gleichzeitig geht es bei diesem Abkommen auch um Normen,
Standards und Regulierungsfragen. Mit ihnen entscheiden sich die
Marktchancen vieler guter Erfindungen und Produkte. Gemeinsam
haben Europa und die USA das Know-how und das Gewicht, um
weltweit akzeptierte Maßstäbe zu setzen. Wir wollen, dass die Normen
und Standards von morgen von uns und bei uns gesetzt werden, von
der Elektromobilität bis zum Schutz geistigen Eigentums. Auch die
hohen Sozial- und Umweltstandards in Europa und den USA könnten
Maßstab werden für künftige Abkommen mit dem Rest der Welt. Das
Abkommen kann auch die Position der beiden Partner gegenüber
Asien stärken.
Eine Studie des Centre for Economic Policy Research (CEPR) im
Auftrag der EU-Kommission kommt zum Ergebnis, dass ein umfassendes und ehrgeiziges Abkommen zusätzliche Wachstumseffekte von
jährlich bis zu 119 Mrd. € in der EU und bis zu 95 Mrd. € in den USA
generieren könnte, hauptsächlich zurückzuführen auf Regulierungsabbau und Liberalisierung der Dienstleistungen. Ein ifo-Gutachten im
Auftrag des Bundesministeriums für Wirtschaft kommt zu ähnlichen
Ergebnissen. Alleine in Deutschland wird mit einem Zuwachs von bis
zu 110.000 Arbeitsplätzen gerechnet.15
Ein transatlantisches Abkommen hätte jedoch nicht nur wirtschaftliches Potenzial. Es wäre ein starkes politisches Signal für die
gemeinsame Gestaltungskraft von Europa und Amerika. Es würde
Maßstäbe setzen für eine offene Wirtschaftsordnung, wie wir sie weltweit erhalten und ausbauen wollen. Es würde auch unserer engen Sicherheitspartnerschaft in der NATO und unserer Zusammenarbeit in
--------------------------------------------
15 „Dimensionen und Auswirkungen eines Freihandelsabkommens zwischen der EU
und den USA“, Studie des ifo-Instituts München.
Neue Perspektiven für die transatlantische Zusammenarbeit
155
vielen wichtigen außenpolitischen Fragen zusätzlichen Schub geben. Es
wäre ein Bekenntnis zur transatlantischen Zusammenarbeit, das dieser
eine neue Qualität geben würde. Ein Schritt weg von einer reinen sicherheits- und ordnungspolitischen Interessengemeinschaft hin zu einer
offenen Wirtschaftsgemeinschaft mit Interesse an gegenseitigen Investitionen und gemeinsamem Handel. Es wäre von amerikanischer Seite
ein Signal an Europa, dass die stärkere Gewichtung Asiens in der Außenpolitik auch in der praktischen Politik keine Abkehr von Europa
bedeutet. Ganz in dem Sinne, wie es Vizepräsident Joe Biden bei der
Münchner Sicherheitskonferenz im Januar 2013 betont hat: „Simply
put, President Obama and I continue to believe that, Europe is the
cornerstone of our engagement with the rest of the world and is the
catalyst for our global cooperation. It's that basic. Nothing has
changed.”16
Uns allen ist in den Jahren seit Ausbruch der Finanzkrise 2008
bewusst geworden, wie rasant der Aufstieg Chinas, Indiens, Brasiliens
und anderer Länder die Welt verändert hat. Wenn es uns gelingt, über
den Atlantik hinweg unsere wirtschaftlichen und kreativen Kräfte zu
bündeln, dann können wir der jetzt nach und nach entstehenden multipolaren Welt einen Stempel aufdrücken, der unsere Interessen wahrt
und fest in unseren gemeinsamen Werten verankert ist.
Amerika und Europa waren wegen der Finanzkrise in den vergangenen Jahren sehr auf sich selbst konzentriert. Die Verhandlungen zu
einem umfassenden Abkommen bieten die Chance, aus dieser Introvertiertheit auszubrechen und uns auf unsere enormen Stärken beiderseits
des Atlantiks zu besinnen. Unsere Gesellschaften bringen die klügsten
Köpfe hervor, sie produzieren die kreativsten Ideen, sie bieten die besten Chancen für die volle Entfaltung des Potenzials eines jeden Einzelnen. Ein umfassendes transatlantisches Abkommen wäre ein überzeugendes Signal für die Selbstbehauptung Europas und Amerikas in der
Globalisierung und für unsere Entschlossenheit, die Zukunft nach
unseren eigenen Werten zu gestalten.
Innerhalb der EU gibt es viel Unterstützung für diese „Transatlantic Trade and Investment Partnership“. Gleichzeitig gibt es natürlich
auch zahlreiche Bedenken und Unklarheiten, auf die wir uns einstellen
sollten und zu denen wir das Gespräch innerhalb und außerhalb der
--------------------------------------------
16 http://www.whitehouse.gov/the-press-office/2013/02/02/remarks-vice-presidentjoe-biden-munich-security-conference-hotel-bayeri.
156
Harald Leibrecht
EU suchen müssen. Schwierig könnten die Verhandlungen bei den
Themen audiovisuelle Medien, Verbraucherschutz, Agrarsubventionen
und Lebensmittelsicherheit werden.
In den USA ist in weiten Teilen der Bevölkerung und der politischen Klasse das Bewusstsein gestiegen, dass die US-Wirtschaft sich
stärker in den Weltmarkt integrieren muss. Neben zahlreichen Politikern auf beiden Seiten des Atlantiks unterstützen auch die Wirtschaftsvertreter – anders als bei früheren Anläufen – das transatlantische Abkommen ausdrücklich. Einer Umfrage von Forsa im Auftrag
des Handelsblatts zufolge äußerten 86 % von über 700 befragten
Topmanagern ihre Zustimmung zu und Unterstützung für das geplante
Abkommen. Bemerkenswert ist, dass nicht nur die großen Unternehmen, die direkte Handelsbeziehungen mit den USA pflegen, sich für
das Abkommen ausgesprochen haben, sondern auch die meisten mittelständischen Betriebe, die einen trickle-down-Effekt erwarten. In den
USA hat sich der Unternehmensverband US-Chamber of Commerce
schon früh hinter das Vorhaben gestellt, und auch die traditionell eher
freihandelskritischen Gewerkschaften verhalten sich konstruktiv.
Sehr viel weiter sind die Dinge bei einem anderen liberalen Projekt
bereits gediehen: Ein Wirtschafts- und Handelsabkommen zwischen
der EU und Kanada (CETA – Comprehensive Economic and Trade
Agreement) soll demnächst nach schwierigen Verhandlungen abgeschlossen werden. Auch hier streben beide Seiten ein ambitioniertes
Abkommen an, das neben dem weitgehenden Abbau von Zöllen den
gegenseitigen Marktzugang für Waren und Dienstleistungen deutlich
verbessern soll.
Fazit: Solides Fundament für neue Brückenschläge
Die transatlantische Partnerschaft befindet sich im Wandel. Sie
steht vor großen Herausforderungen, und zugleich erwartet sie zahlreiche spannende Perspektiven. Entscheidend wird auch in Zukunft das
Fundament dieser Partnerschaft sein:
Europa und Amerika teilen gemeinsame Werte. Das ist keine leere
Phrase. Die Würde des Menschen steht für uns im Mittelpunkt unseres
politischen Handelns. Das ist für alle politischen Entscheidungsträger
auf beiden Seiten des Atlantiks unstrittig, auch über Parteigrenzen
Neue Perspektiven für die transatlantische Zusammenarbeit
157
hinweg. Und diese Selbstverständlichkeit über das gemeinsame Wertefundament macht uns die Verständigung über das politisch und wirtschaftlich Notwendige leichter. Das schließt Differenzen über taktische
Fragen nicht aus. Aber der Kurs ist derselbe, weil wir uns an einem
gemeinsamen Kompass orientieren.
Ich glaube, dass es Amerikanern und Europäern gerade in einer
immer stärker globalisierten Welt – und bei aller berechtigten Begeisterung über die wirtschaftlichen Chancen in Asien und Lateinamerika –
guttut, sich auf dieses gemeinsame Wertefundament zu besinnen. Wir
sind „like-minded“, wie unsere amerikanischen und kanadischen
Freunde sagen, und wir sollten das nicht gering schätzen.
Wenn unsere Werte in der Welt des 21. Jahrhunderts weiter Beachtung finden sollen, wenn unsere Vorstellungen vom demokratischen Regieren, von der gleichberechtigen Rolle der Frau, vom freiheitlichen Wirtschaften in sozialer Verantwortung weiter Gültigkeit haben
sollen, dann müssen Europäer und Amerikaner gemeinsam für sie
werben. Das hat nichts mit Werteimperialismus zu tun. Wir wollen
niemandem vorschreiben, wie er zu leben hat. Aber wir haben allen
Grund, für unsere gemeinsamen Werte einzustehen.
Gerade weil wir in einer globalisierten, pluralistischen Welt leben,
ist das Besinnen auf die eigenen Werte so wichtig. Nur wer um das
eigene Wertefundament weiß, kann mit Unterschieden gelassen umgehen. Und ich bin mir sicher: Wenn Amerikaner und Europäer unsere
gemeinsamen Werte überzeugend vertreten, dann können wir auch
andere für diese Werte begeistern.
Freiheit im Sozialismus
159
Robert von Rimscha
Freiheit im Sozialismus
Deutsche Außen-, Entwicklungs- und Menschenrechtspolitik
in Laos:
Ein Spagat zwischen Anknüpfungspunkten und Abgründen1
Der Praxistest für jede liberale Außenpolitik findet vor Ort statt.
Auf den nachfolgenden Seiten geht es um einen solchen Praxistest. Der
Autor bittet vorab um Verständnis dafür, dass eine solche Schilderung,
die auch eine Schilderung von der Kollision liberaler Haltungen mit
völlig anderen Systemgegebenheiten ist, nicht ohne Bezüge zum eigenen Handeln auskommen kann. Aber das Handeln der deutschen Botschaft, das hier auch beschrieben wird, ist durchaus übertragbar. Dieser Praxistest ist ein Fallbeispiel für Möglichkeiten und Grenzen einer
an liberalen Grundsätzen orientierten Politik in einem schwierigen
Umfeld und mit einem staatlichen Partner, der sich als Organ der „Revolutionären Volkspartei“ versteht. Wie also geht das: Liberal sein im
Kommunismus?
Man stelle sich ein Land vor, das ungefähr so groß ist wie die alte
Bundesrepublik West. Dieses Land hat aber nur die Bevölkerung von
Berlin, Hamburg und München – knapp sieben Millionen Bürger. Das
Sozialprodukt liegt bei inzwischen gut 1.500 Dollar pro Kopf und
Jahr, nachdem Hunderttausende aus der Armut entkommen konnten.
Mit dem Auto dauert es noch immer 30 Stunden, um von der Nordgrenze mit China an die Südgrenze mit Kambodscha zu fahren, da die
Straßen schlecht und weite Teile des Landes bergig sind.
Dieses Land heißt Laos. Es steht nie im Zentrum der internationalen Öffentlichkeit. Bekannt ist Laos nur als lange abgeschotteter, sich
allmählich öffnender, romantisch-exotischer Sehnsuchtsort für Reisende. Die prächtig erhaltene Altstadt von Luang Prabang ist der bedeutsamste Magnet für Touristen. In deutschen Zeitungen findet sich Laos
--------------------------------------------
1 Dieser Beitrag gibt die persönlichen Wertungen des Autors wieder und ist nicht als
offizielle Äußerung des Auswärtigen Amts zu verstehen.
160
Robert von Rimscha
denn auch fast nur im Reise-Teil. Welches Image dem Land anhaftet,
lässt sich an den Titelzeilen dieser Artikel ablesen: „Erwachendes Land
am Mekong/In Laos ist das Leben ein langer, zumeist ruhiger Fluss“2,
„Stillgestanden! In Laos ist das Leben ein langer, ruhiger Fluss. Nicht
nur für die Einheimischen“3, „Laos erwacht aus der Zeitlosigkeit“4,
„Nostalgie am Mekong“5, „Das vergessene Land/Langsam lüftet sich
der Bambusvorhang in Fernost – zum Vorschein kommt Laos, unberührt und ursprünglich, mit dem größten Dschungel und den schönsten Tempeln Asiens“6, „Wo die Sonne hinter dem Buddha versinkt/Laos ist arm an Touristen und reich an asiatischer Ruhe und
Gastfreundschaft“7, „Noch lächelt Buddha/Das verschlafene Laos ist
auf den Ansturm des Massentourismus nicht vorbereitet“8, „Ein weißer Fleck mit vielen Farben/Laos: Unberührtes Reiseziel auf der Landkarte Südostasiens“9 oder „Laos pflegt den Charme der Langsamkeit/Auf der Flucht vor dem Fortschritt zählt jeder Monat/Südostasiens
vergessenes Kind trödelt einer Zukunft entgegen, für die sich das Land
ohnehin lieber Zeit lassen sollte.“10
Diese Reise-Lyrik und Trägheits-Metaphorik blendet eine Dimension konsequent aus. Laos zählt zur letzten Handvoll kommunistischer
Staaten. Rote Hammer-und-Sichel-Fahnen prangen nicht nur an öffentlichen Gebäuden, sondern auch an vielen Privathäusern. Wer bei
der Zentralbank Referatsleiter werden möchte, muss zunächst zur
halbjährigen Marxismus-Schulung. In der Provinzhauptstadt Sam
Neua wird die Bevölkerung um 5:30 Uhr früh von Lautsprechern geweckt, aus denen erbauliche Parolen und Selbstverpflichtungen zur
Planübererfüllung dröhnen. Wenn Staatspräsident Choummaly Sayasone zum Nationalfeiertag am 2. Dezember eine Rede vor dem diplomatischen Corps hält, benutzt er wieder und wieder die Formel „Partei
und Staat“. Der Präsident ist zugleich Nummer Eins im Politbüro der
„Revolutionären Volkspartei“, der KP. Und er ist hoher Offizier. Par-------------------------------------------2
Die Welt, 04.06.2004, S. R1.
Süddeutsche Zeitung Magazin, 22.08.2001, S. 5-7.
4 Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11.04.1996, S. R1.
5 Die Zeit, 16.02.1996, S. 54.
6 Welt am Sonntag, 21.03.2004, S. 79.
7 Süddeutsche Zeitung, 05.03.1996, S. I.
8 Die Zeit, 04.011991, S. 37.
9 Rheinischer Merkur, 19.05.1989, S. 25.
10 Süddeutsche Zeitung, 02.03.1999, S. V2/1.
3
Freiheit im Sozialismus
161
tei, Staat, Armee, Regierung – personell und strukturell bilden sie ein
kaum abgrenzbares Ganzes.
Einzig die Nationalversammlung, das Parlament, hat sich die vergangenen Jahre über von einer Abnick- zu einer Kontroll-Instanz entwickelt. Kandidaten für Parlamentssitze müssen zwar von der Partei
oder einer ihrer Massenorganisationen aufgestellt werden, doch erstens
kommen gerade über die Jugendliga der KP immer wieder Nichtmitglieder wie der Vorsitzende des Jungunternehmerverbandes auf den
Stimmzettel, und zweitens nehmen sich die Wähler die Freiheit, auch
verdienten Genossen kein Mandat zu geben. Beides resultiert in einer
zunehmenden Anbindung der Parlamentarier an ihren Wahlkreis, dem
gegenüber sie sich als rechenschaftspflichtig sehen.
In der gültigen Menschenrechts-Landesstrategie der Europäischen
Union (EU) ist denn auch die institutionelle Stärkung der Unabhängigkeit und der Aufsichtsfunktion der Nationalversammlung als eines von
drei Haupt-Zielen fixiert. Deutschland ist hier am wirksamsten aktiv
durch die Entsendung zweier „Integrierter Experten“11 unter dem
Dach des „Centrum für internationale Migration und Entwicklung“
(CIM), die für die beiden wichtigsten Parlaments-Ausschüsse arbeiten
und unter anderem 2012 am Aufbau des „Parliamentary Learning
Center“, einer Mischung aus Wissenschaftlichem Dienst und praktischer Fortbildungsanstalt für Abgeordnete, maßgeblich beteiligt waren. Die beiden anderen Kernanliegen der EU-Strategie sind die Unterstützung der Zivilgesellschaft und mehr Rechtsstaatlichkeit.
Wie erheblich die tatsächlichen Defizite in Laos sind, wird in diversen internationalen Rankings deutlich. Beispiel Pressefreiheit: Laos
liegt in der aktuellen Rangliste der Pressefreiheit von „Reporter ohne
Grenzen“ auf Rang 168 von 179 Staaten. Einen Grund hierfür hat die
Schweizer Journalistin Deborah Rast aus der Redaktion des „Blick“
als Hospitantin bei der „Vientiane Times“ tagtäglich erlebt. Laotische
Journalisten sind Staatsbedienstete und zur Parteitreue verpflichtet.
Rast schildert die Folgen: „Nie würden die Journalisten etwa negativ
über den umstrittenen Sayaburi-Staudamm berichten. (…) Im Notfall
werden kritische Zitate von Anwohnern einfach komplett umgeschrie--------------------------------------------
11 Sie unterstehen dem örtlichen Arbeitgeber im Partnerland und sind in die dortigen
Strukturen voll integriert. Deutschland zahlt die Gehaltsdifferenz zwischen ortsüblichem
und deutschem Lohn.
162
Robert von Rimscha
ben. Aus ‚Ich hasse den Damm, ich wurde von meinem Land vertrieben‘ wird ‚Ich liebe den Damm, dadurch bekomme ich Strom.‘“12
Beispiel Korruption: Beim von „Transparency International“ erstellten Korruptionswahrnehmungsindex 2012 liegt Laos auf Platz 160
von 174 überprüften Ländern. Gemessen wird hier, als wie bestechlich
der öffentliche Sektor wahrgenommen wird. Die „Vientiane Times“
vom 30. März 2012 machte mit der Nachricht auf, Staats- und Parteichef Choummaly Sayasone habe ein entschiedeneres und härteres Vorgehen gegen die Korruption verlangt. Er begründete dies auch damit,
Laos liege wegen Vetternwirtschaft und Bestechlichkeit „unter dem
Mikroskop“ des Auslands und internationaler Organisationen. „Corruption cited as main reason for poverty“, meldete die gleiche Zeitung
in einer unzweideutigen Schlagzeile ein halbes Jahr später.13 Wiedergegeben wurde in dem Text, was Cheuang Sombounkhanh in einer Rede
gesagt hatte, der Vorsitzende des Rates für Propaganda und Ausbildung im Zentralkomitee der regierenden Kommunisten. Mithin ist
Korruption ein Thema, dessen endemische Natur von Spitzenvertretern des Landes nicht geleugnet wird. Daraus zu schließen, diese führenden Vertreter seien selbst immun, wäre indes falsch.
Beispiel wirtschaftliche Freiheit: Im Index „Ease of Doing Business“ der Weltbank und der „International Finance Corporation“ von
2013 liegt Laos von 185 Staaten auf Rang 163. Beim Einzelmerkmal
„Schutz von Investoren“ rangiert Laos gar auf Platsz 184 und ist damit
Vorletzter, beim Einzelmerkmal „Umgang mit Insolvenz“ ist Laos
Letzter. Im Klartext bedeutet dies: Alles eingesetzte Kapital ist in diesem Falle verloren.
Beispiel Vereinigungsfreiheit: Generalleutnant Duangchai Phichit,
der Verteidigungsminister des Landes, sprach Anfang 2013 aus Anlass
des 64. Jahrestages der Gründung der Armee. Laut Pressemitteilung
„erinnerte er die Soldaten an die Ideologie und die verdeckten Aktivitäten von Staatsfeinden und sagte, diese führten destabilisierende
Handlungen in umfassender Art und Weise aus und konzentrierten
sich dabei auf die Strategie des friedlichen Wandels.“14 Eine Führung,
die „Staatsfeindschaft“ mit „friedlichem Wandel“ gleichsetzt, ist eine
misstrauische. Lokale Nichtregierungsorganisationen, „Non Profit As-------------------------------------------12
Rast, Deborah: Schreiben für die Partei, in: BLICK Online, 06.02.2013.
27.10.2012, S. 3.
14 Vgl. Vientiane Times, 19.01.2013.
13
Freiheit im Sozialismus
163
sociations“ (NPAs) genannt, werden zögerlich registriert und strikt
kontrolliert. Oppositionsgruppen in einem politischen Sinne gibt es
nicht. Jene wenigen Laoten, die an Demonstrationen beteiligt waren,
sitzen als Dissidenten in Haft.
Beispiel Rechtsstaatlichkeit und Unabhängigkeit der Justiz: „Vetternwirtschaft und Bestechlichkeit werden täglich schlimmer“, hat
Oudet Souvannavong, Vize-Präsident der Laotischen Nationalen Industrie- und Handelskammer, einer US-Zeitung gesagt. „Gerichte gehen an den Höchstbietenden.“15 Und damit natürlich auch ihre Urteile.
Beispiel Verteilungsgerechtigkeit: Obwohl der Anteil der Armen
offiziellen Angaben zufolge von zunächst 39 Prozent in den 1990er
Jahren auf zuerst 27 Prozent 2010 und dann auf 17 Prozent Anfang
201316 gesenkt werden konnte, ist der wichtigste Indikator für die
breite Partizipation der Bevölkerung am raschen Wirtschaftswachstum
in eine negative Richtung gegangen: Der Gini-Koeffizient wuchs von
30,4 in den 1990er Jahren auf 36,7 im Jahr 2008. So rangiert Laos
denn auch beim „Human Development Index“ der Vereinten Nationen
(VN) auf Platz 138 von 187 untersuchten Staaten.17
Politisch und strukturell ist Laos folglich ziemlich genau das Gegenteil dessen, was ein liberales Koordinatensystem ausmachen würde.
Es ist nur folgerichtig, dass beim „Freiheitsbarometer Asien 2010“,
einer Meta-Studie der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit,
Laos auf dem vorletzten Rang landete – mit 4.92 von 100 möglichen
Punkten.18
Der laotische Kommunismus kam 1975 nicht nach militärischen
Triumphen oder nach einer erfolgreichen Mobilisierung breiter Bevölkerungsschichten an die Macht, sondern eher by default, in einem
Machtvakuum quasi, wie Vatthana Pholsena korrekt beschreibt19. Auf
--------------------------------------------
15 Otto, Ben: Foreign Money Pours Into Laos/Neighboring Countries Jostle For Work
In Hydropower And Resources; Western Companies Also Step In, in: Wall Street Journal, 29.01.2013.
16 Vgl. Vientiane Times, 04.04.2013, S. 1. Die Armut in Laos wird staatlicherseits
nicht nach Individuen, sondern nach betroffenen Familienhaushalten gemessen.
17 Vgl. UNDP: Human Development Report 2011; New York 2011, und, trotz erheblicher Fortschritte, unverändert vom Rang her in den Berichten 2012 und 2013.
18 Letztplatziert war Nordkorea mit 0.00 Punkten. Vor Laos lagen Myanmar/Burma
(vor den Reformen) mit 14.89 Punkten und Brunei mit 16.22 Zählern. Als freiestes
Land in Asien wurde Japan ermittelt.
19 Vgl. Pholsena, Vatthana: Post-war Laos. The Politics of Culture, History and Identity, Singapur 2006, S. 3.
164
Robert von Rimscha
dem Nebenschauplatz des Haupt-Indochinakrieges wurde der Kampf
durch Aussitzen gewonnen, nicht durch Angriff. Für Waffen, Struktur
und Ideologie sorgten die vietnamesischen Brüder. Für antikolonialistische, antikapitalistische und antiimperialistische Haltungen in der
Bevölkerung taten Franzosen und Amerikaner ausreichend viel. Seitdem regiert im Kern ein kleiner Kreis von Siegern, die intern keinen
Dissens zulassen, nach außen jedoch – auch gegenüber der eigenen Bevölkerung – auf ideologisches Sendungsbewusstsein weitgehend verzichten. So sind heute nur drei Prozent der Erwachsenen Mitglieder
der streng leninistisch, hierarchisch allein auf die Spitze ausgerichteten
Partei.
Die sich rapide vermehrenden KP-Flaggen überall in Laos sind
kein Indiz orthodox-ideologischer Restauration, sondern vielmehr der
Versuch, das gegenwärtige Regierungssystem als integralen und konstitutiven Bestandteil der laotischen Nationalgeschichte zu präsentieren.
Seinen Kern und Ausgangspunkt hat dieser post-sozialistische Leninismus im Gründungsmythos der Kriegsjahre, und heute ist die Unabhängigkeits-Dividende zur wichtigsten Legitimierung der Ein-ParteienHerrschaft geworden. Für die Gegenwart gibt es ein zweites MetaNarrativ, das ähnliche integrierende und Kontinuität schaffende Funktion hat: Partei und Staat sind dem alles überwölbenden Ziel der Modernisierung verpflichtet. Modernisierung bedeutet eben auch, dass es
per Definition keinen Widerspruch zwischen sozialistischem Aufbruch
und marktwirtschaftlicher Realität geben kann, und damit auch keinen
Widerspruch zwischen Öffnung und Beharren auf dem Machtmonopol
der KP.
Als drittes ideologisches Element kommt die zunehmende SelbstVerortung im asiatischen Kontext hinzu, wobei auch hier die Auswahl
der Vorbilder eine selektive – und illiberale – ist. Die Tradition Asiens
steht aus Sicht der laotischen Kommunisten für den starken Vater
Staat, der Land und Menschen führt und dabei jene Richtung kennt
und vorgibt, in die sich alle zu bewegen haben. Korrektive werden
nicht für nötig erachtet.
Der so entstandene Amalgam-Patriotismus, der eigentliche Kitt der
Gesellschaft, hat mit Buddhismus und erheblichem Stolz auf das beeindruckende Wirtschaftswachstum von konstant knapp acht Pro-
Freiheit im Sozialismus
165
zent20 oder, breiter gedeutet, mit Stolz auf die Aufbauleistung seit dem
Krieg mindestens so viel zu tun wie mit Sozialismus im engeren Sinne.
Was vor ihnen war, das umarmen die Kommunisten, sei es Buddhismus, royalistisches Erbe oder die reiche Alltagskultur aus Musik, Festen, Kunsthandwerk. Wenn es ein Fanal für diesen dominanten Diskurs des Patriotismus gibt, so mag man es darin sehen, dass blutjunge
Heavy-Metal-Musiker in den Live-Clubs der Hauptstadt Vientiane
stolz T-Shirts mit der Nationalfahne tragen. Und die Fahnen sind nicht
etwa distanzierend verfremdet. Beobachter haben die paradoxe Situation des laotischen Kommunismus auf die Formel gebracht, hier werde
Perestroika ohne Glasnost praktiziert.
Individualismus statt Armut
Wie kann man in solchen Verhältnissen liberale Außen- und Menschenrechtspolitik gestalten? Wie kann Deutschland die Zivilgesellschaft stärken, wenn deren Vertreter eingeschüchtert werden? Wie
können die Interessen der deutschen Wirtschaft vertreten werden,
wenn es tagtägliche Praxis ist, dass mindestens zehn Prozent des Investitionsvolumens in den Taschen der Genehmigenden landen, und wenn
es einen nennenswerten Schutz von Privateigentum nicht gibt? Wie
kann man für Freiheit werben, wo es Freiräume kaum gibt? Man kann
dies alles – allerdings sehr beschränkt, oft eher durch indirektes Tun
denn durch ostentatives Auftreten, und stets nur in einer Politik der
kleinen Schritte quer durch die Ebene der Mühen.
Deutschland ist in Laos zweitgrößter Geber von ODA (Official
Development Assistance) nach Japan. Ein vorrangiges Interesse deutscher Politik in Laos ist daher der zielführende Einsatz dieser Mittel
für die Entwicklungszusammenarbeit. Es lohnt sich, die hier gültigen
Mechanismen näher zu betrachten – wegen des Volumens und aufgrund der Tatsache, dass Entwicklungszusammenarbeit nur unter
Einbeziehung staatlicher Partner möglich ist, auch wenn der primäre
Nutznießer die breite Bevölkerung sein soll.
--------------------------------------------
20 7,3 % (2005), 7,4 % (2006), 7,5 % (2007), 7,5 % (2008), 6,5 % (2009), 7,7 %
(2010), 8,0 % (2011), 7,9 % (ADB-Schätzung) bis 8,2 % (Weltbank-Schätzung) (2012)
166
Robert von Rimscha
Laos ist in einer weiteren Hinsicht ein Beispielland. Als zweiter
Partner-Staat weltweit21 wurde Laos 2012 zum Pilot-Land der neuen
gemeinsamen Außenstruktur deutscher Politik. Die Steuerung der Umsetzungsorganisationen wie „Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit“ (GIZ), „Kreditanstalt für Wiederaufbau“ (KfW) oder
„Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe“ (BGR) wurde
in die Botschaft verlagert. Statt der Schwerpunktkoordinatoren von
der GIZ gibt es jetzt Schwerpunktteams unter Leitung eines Botschaftsangehörigen. Mit dieser und etlichen weiteren organisatorischen
Umstellungen soll erreicht werden, dass jene, die implementieren sollen, tatsächlich auch das implementieren, was politisch von Deutschland gewollt wird.
Als kommunistisches Land verfährt Laos strikt entlang des jeweils
gültigen Fünfjahresplans. NSEDP heißt er in Laos: „National SocioEconomic Development Plan“. Wenn ein westliches Land die latenten
Verdachtsmomente, insgeheim gehe es ihm um Systemwechsel und
regime change, und ein solches Grundmisstrauen ist in der laotischen
Führung breit vorhanden, erfolgreich aushebeln möchte, dann ist es
ratsam, die eigenen Aktivitäten als entlang der Vorgaben des NSEDP
ausgerichtet darzustellen und sie auch tatsächlich im Kontext der einheimischen Ziele zu begreifen.
Die laotische Führung hat zwei Visionen: Bis 2015 sollen die
„Millennium Development Goals“ (MDGs) erreicht werden; bis 2020
möchte das Land den Status eines „Least Developed Country“ (LDC)
überwunden haben. Der NSEDP ist die Blaupause für jene Maßnahmen, die diesen beiden Zielen dienen. So hat sich die laotische Regierung beispielsweise vorgenommen, innerhalb des aktuellen Fünfjahresplans eine Million Landtitel zu vergeben. Für das offizielle Vientiane
ist dies ein erheblicher Beitrag zur Armutsbekämpfung in ländlichen
Regionen, also zur MDG-Erreichung. Denn es ist offenkundig, dass
Agrarland besser genutzt wird, wenn jene, die es bearbeiten, rechtliche
Sicherheit hinsichtlich ihres Grund und Bodens haben.
Dass die Vergabe von Landtiteln bedeutsam ist im Kontext der
Stärkung der Produktivität in der Landwirtschaft und damit einen
wichtigen Beitrag zur Armutsbekämpfung leistet, steht außer Frage.
--------------------------------------------
21 Der erste war Mali, mit allen durch die späteren kriegerischen Auseinandersetzungen dort verbundenen Einschränkungen in den Möglichkeiten tatsächlicher Entwicklungszusammenarbeit.
Freiheit im Sozialismus
167
Aus deutscher Sicht und unter liberalen Anzeichen ist die Vergabe von
Landtiteln natürlich gleichzeitig noch viel mehr. Landtitel stärken das
Individuum. Sie sind ein Schritt hin zu mehr Respekt vor Privateigentum und ein Beitrag zur Stärkung der Rechtsstaatlichkeit. Landtitel
sind die bestmögliche Versicherung gegen willkürliche Enteignungen
und land grabbing, sei es durch Investoren aus China oder Vietnam
oder sei es durch die eigene Regierung bei Infrastrukturmaßnahmen.
In der Nord-Provinz Luang Namtha führt die GIZ ein Pilotprojekt
durch, das genau diese Vergabe von Landtiteln implementiert – von
der Vermessung und der Erstellung von Land-Katastern über das
Schlichten von Grundstücks-Streitigkeiten bis hin zur schlussendlichen
Aushändigung der dokumentierten Landtitel an die Eigentümer. Entwicklungsminister Dirk Niebel hat sich im Februar 2012 einen eigenen
Eindruck von dieser Arbeit machen können.
Dieses Beispiel ist paradigmatisch. Liberale Vorstellungen von Eigentum und Individualrechten können hier durchgesetzt werden, weil
sie zu Recht auch als Instrumente zur Erreichung der offiziellen Ziele
der laotischen Regierung gelten. Die Schnittmengen zwischen Entwicklungszusammenarbeit und Menschenrechtspolitik sind nicht auf dieses
Beispiel begrenzt. Taktisch und strategisch gilt stets, dass leichter umzusetzen ist, was als einem einheimischen Politikziel dienend wahrgenommen wird. So gilt die Faustformel, im Namen der Armutsbekämpfung auf Individualrechte und verbesserte Wirtschaftsstrukturen zu
setzen, ebenso für den Bereich der Mikrofinanzen. Hier ist in Laos
neben den staatlichen Durchführern GIZ und KfW vor allem der
Deutsche Genossenschafts- und Raiffeisenverband aktiv. Ebenfalls
einen Beitrag sowohl für die Armutsbekämpfung als auch für die Entfaltung individueller wirtschaftlicher Freiheit leisten die insgesamt
1.286 Kilometer an Landstraßen, deren Bau oder Ausbau Deutschland
bis Januar 2013 über die KfW unterstützt hat.
Es existiert eine ganze Reihe von sozialen Problemen, die in Laos
lange totgeschwiegen wurden, inzwischen aber offen thematisiert werden. Die weitverbreitete Drogensucht unter Jüngeren ist eines dieser
Themenfelder. Hunderttausende in Laos schlucken ATS, „amphetamine type steroids“, hier auch „Yaba“ genannt. Partei und Staat sehen in
den chemischen Drogen, von denen immer wieder Millionen Pillen bei
Einzelrazzien gefunden werden, ein wichtiges Entwicklungshemmnis.
Jugendliche und junge Erwachsene, die drogensüchtig sind, aber nicht
168
Robert von Rimscha
als Dealer in Erscheinung getreten sind, landen nicht in Haft, sondern
in Entzugs- und Verwahranstalten wie Somsanga, einer Einrichtung
knapp außerhalb von Vientiane. Die Organisation Human Rights
Watch hat Mitte 2011 einen äußerst kritischen Bericht über die Zustände in Somsanga veröffentlicht. Körperliche und sexuelle Gewalt,
Übergriffe und Willkür wurden den Anstaltsbediensteten vorgeworfen.
Liberale Menschenrechtspolitik besteht darin, angesichts solcher
im Raum stehender Vorwürfe auf Offenheit und Transparenz zu drängen. Man ermutigt die laotischen Stellen, Somsanga nicht zu verstecken, sondern Zugang zu gewähren, Missstände nicht zu kaschieren,
Freiwillige beispielsweise aus dem „Weltwärts“-Programm dort arbeiten zu lassen. Jeder Blick hinter die Mauern solcher Einrichtungen ist
ein klein bisschen mehr Sicherheit, dass es weniger grobe Verstöße
gegen die Rechte der Insassen und Patienten gibt. Im konkreten Fall
hat dies funktioniert. Ich selbst konnte etliche Male nach Somsanga
kommen, und sowohl Fernsehteams des ZDF als auch der ARD erhielten Zutritt, führten Gespräche und produzierten Dokumentationen.
Eine ähnliche Konstellation und ähnliche Argumentationsmuster wurden von westlichen Staaten benutzt, um am 5. Februar 2013 nach
vielen Jahren vergeblicher Bitten endlich Zugang zum Gefängnis Zamke – ebenfalls knapp außerhalb von Vientiane gelegen – zu erhalten. In
Zamke sitzen keine Ausländer, sondern nur Laoten ein, und zwar
ausschließlich Gefangene, die zu Haftstrafen von mindestens fünf Jahren verurteilt wurden.
In der Politik braucht man Verbündete. Liberale Vorstellungen
sind leichter einzuspeisen, wenn man nicht der einzige ist, der für sie
wirbt. Naheliegend ist der enge Schulterschluss mit der EU-Delegation
vor Ort und mit den anderen EU-Mitgliedsstaaten. Die Abstimmung
ist eng und äußerst vertrauensvoll. Der nächstgrößere Kreis ist der der
„likeminded countries“. Die USA, Australien und Japan zählen zu
dieser Gruppe. Auch hier setzen alle Akteure auf enge Koordination
und Kooperation. Und es gibt eine wichtige gesellschaftliche Gruppe
innerhalb der Laoten, die ein natürlicher Ansprechpartner ist. Zigtausende Laoten sind, oft nach Jahrzehnten, aus dem Exil in den USA, in
Frankreich oder auch in Deutschland zurückgekehrt in ihre alte Heimat. Die Motivation hierfür ist uneinheitlich. Meist spielen familiäre
Bindungen und ökonomische Perspektiven in dem Land, das mit seinem Wachstum zu den Top Ten der Welt gehört, eine große Rolle.
Freiheit im Sozialismus
169
Doch egal, warum jemand nach langer Zeit zurück nach Laos kommt:
Wer Jahre in Berlin, in Lyon oder in Wisconsin verbracht hat, wird für
Freiheit und Pluralismus ein offeneres Ohr haben als jene große Mehrheit der Laoten, die ein anderes Gesellschaftssystem nie selbst erlebt
haben.
Schwierig wird es in Laos immer dann, wenn Partei und Staat ihr
Machtmonopol berührt sehen. Feste zivilgesellschaftliche Strukturen
sind etwas, das in Laos rasch im Verdacht der konspirativen Opposition steht. Deutschland, Europa und die „Likeminded“ versuchen seit
Jahren, die Rolle von Nichtregierungsorganisationen, der NPAs und
der internationalen NGOs, in den wichtigsten Gremien der Abstimmungs-Architektur zwischen Laos und den Gebern zu stärken, im
„Round-Table“-Prozess und bei den Sektorarbeitsgruppen („Sector
Working Groups“, SWGs). Erste Erfolge gibt es: NPAs und NGOs
sind beim „Round Table“ jetzt dabei.
Deutschland hat seit 2012 den Ko-Vorsitz zweier SWGs inne, jener
zu „Natürlichen Ressourcen und Umwelt“ und jener zu „Handel und
Privatsektorentwicklung“. Diese beiden Schwerpunkte sind kongruent
mit den beiden Kernbereichen der bilateralen Entwicklungszusammenarbeit. Anfang 2013 konnte nach mühsamen Verhandlungen und auf
deutsches Drängen mit „Care“ erstmals eine NGO als Ko-Vorsitzende
einer Unter-Arbeitsgruppe installiert werden. Doch wahrhaftige zivilgesellschaftliche und privatwirtschaftliche Partizipation in dieser Architektur sicherzustellen ist nach wie vor schwierig. Ein Grund besteht
darin, dass die laotische Führung weiter dazu neigt, diese Gremien als
pledging events zu verstehen, also als Gelegenheit, Wunschzettel vorzulegen und Hilfszusagen zu bekommen. Die Entwicklungspartner
dagegen verstehen „Round Table“ und SWGs als Foren für den politisch-strategischen Dialog über Entwicklungsfragen.
Nur rund 170.000 Laoten arbeiten in der Privatwirtschaft. 1,4
Millionen sind formal Selbstständige, meist Bauern. 1,1 Millionen
arbeiten unentgeltlich im Familienbetrieb mit, meistens in der Landwirtschaft. Fast 300.000 Laoten sind Staatsbedienstete, beim Militär
oder bei Unternehmen, die Staat oder Militär gehören. Praktisch bedeutet dies: Berufliche Bildung ist auch in Laos ein Schwerpunkt deutscher Zusammenarbeit. Elf Berufsschulen im ganzen Land werden von
der Bundesrepublik unterstützt. Indes gibt es kein Duales System. Betriebe bilden nicht aus. Privatwirtschaftliche Strukturen, die das staat-
170
Robert von Rimscha
liche Bildungsangebot ergänzen könnten, sind noch kaum vorhanden.
Umso mehr drängen deutsche Stellen darauf, dass die Berufsschulen
ihre zentral vorgegebenen Kurrikula an den Erfordernissen des Marktes orientieren und nicht an den Bedürfnissen künftiger Arbeitgeber
vorbei ausbilden.
Ein Hebel für die Durchsetzung liberaler Vorstellungen besteht in
den Selbstverpflichtungen, die Laos eingegangen ist. 2012 erfolgte der
WTO-Beitritt und die Ratifizierung dreier Konventionen der Vereinten
Nationen, darunter als wichtigster jener gegen Folter. Allerdings wäre
es nicht realistisch, angesichts der äußerst begrenzten Kapazität der
laotischen Verwaltung eine faktische Umsetzung all dessen zu erwarten, was einmal unterschrieben wurde. Zur Stärkung der Kapazitäten
in einem für Deutschland besonders wichtigen Bereich, der Wald- und
Forstwirtschaft, ist Anfang 2012 eine Studie über die Governance in
diesem Sektor durchgeführt worden. Deutschland gibt viel Geld für
den Erhalt von Wald und Biodiversität. So ist es bemerkenswert, dass
Laos einen Blick in die eigenen Strukturen für diese Studie gestattet
hat.
Diese positive Entwicklung hat sich fortgesetzt, als Laos am 9./10.
Mai 2012 bei den bilateralen Regierungsverhandlungen22 einem „Meilensteinprozess“ zustimmte, der faktisch einer Konditionierung von
Zusammenarbeit nahekommt: Bevor bestimmte Maßnahmen zum
Kapazitätsaufbau beginnen können, hat die laotische Regierung Zuständigkeiten innerhalb neu geschaffener Ministerien zu klären. Die
Umsetzung dieses Prozesses war und ist zwar mühsam, bedeutsam ist
indes der Grundsatz: Wenn man Zusammenarbeit auf Augenhöhe will,
sollte es ein Geben und Nehmen geben. Deutschland gibt Beratung,
Expertise und Geld – Laos gibt Informationen und klare Ansprechpartner. Der Grundgedanke des „mehr für mehr“ ist hier umgesetzt
worden.
Dass damit schon das Ende von Raubbau an der Natur und insbesondere von illegaler Abholzung erreicht wäre, behauptet indes niemand. Dennoch ist es von großer Bedeutung, dass Deutschland und
die EU massiv den FLEGT-Prozess (Aktionsplan „Forest Law Enforcement, Governance and Trade“) unterstützen. FLEGT ist für die
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22 Verhandelt wurde damals eine Zweijahreszusage des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung von 62 Millionen Euro, was einer Verdoppelung der vorherigen Zweijahreszusage gleichkam.
Freiheit im Sozialismus
171
Forstwirtschaft nichts grundlegend anderes als EITI („Extractive Industries Transparency Initiative“) für den Bergbau: ein Schritt zur
multilateralen Verrechtlichung, zur Transparenz, zur Angleichung an
internationale Normen. Anders gesagt: ein liberaler Schritt hin zur
Einbettung in unser Wertesystem.
Ob es um Forstwirtschaft, um Bergbau oder um die absehbar zentrale Rolle der Wasserkraft geht: Liberale Politik heißt, das Recht auf
Entwicklung ausdrücklich anzuerkennen. Ziel muss die Hilfestellung
beim Austarieren von Nutzung und Schonung natürlicher Ressourcen
sein, nicht das Überstülpen verabsolutierter Verhinderungsphantasien.
Wer als Fortschritts-Blockierer auftritt, katapultiert sich selbst ins Aus
– auch wenn es dafür Beifall in den deutschen Medien und von Nichtregierungsorganisationen gäbe.
Liberalismus durch Umarmung
Außen-, Entwicklungs- und Menschenrechtspolitik ist nicht beschränkt auf den Umgang mit Gremien, Instrumenten und internationalen Vereinbarungen. Politik hat auch mit Personen zu tun. In Laos
leben fast 3.500 Bürger, die in Deutschland ausgebildet wurden – in
der DDR. Für die meisten liegt ihr Aufenthalt in Leipzig oder Dresden
Jahrzehnte zurück, und fließend Deutsch spricht kaum mehr einer
dieser Ex-Studenten. Aber eine Affinität ist geblieben. Die überwiegende Mehrzahl dieser ehemaligen Ost-Studenten sind heute keine DDRSystem-Nostalgiker, sondern Deutschland-Romantiker. Sie haben die
große weite Welt erstmals und oft letztmalig in Karl-Marx-Stadt oder
Halle erlebt. Und etliche dürften den Umzug von Laos in die DDR
ungefähr so erlebt haben wie ein DDR-Bürger die Umsiedelung in den
Westen: als Schritt in ein reicheres, entwickelteres Land, in dem soziale
Zusammenschlüsse nicht die maßgebliche Rolle spielen wie in der
alten Heimat.
Dass ich für den einen oder anderen Laoten dennoch „das falsche
Deutschland“ vertrete, den marktwirtschaftlichen Sieger in der Konfrontation des Kalten Krieges, ist nicht von der Hand zu weisen. Entsprechend bedeutsam war es für mich persönlich, vor allem während
der ersten Monate als Botschafter jeden auftrumpfend anti-kommunistischen Ton zu vermeiden und stattdessen jene gesamtdeutsche
Identität zu betonen (die ich ganz persönlich aufgrund meines familiä-
172
Robert von Rimscha
ren Hintergrunds habe), aus der sich der Vertretungsanspruch ableitet,
den der deutsche Botschafter in Laos heute hat: für die gesamte deutsche Nation, und für alle Teile deutscher Geschichte.
Konkret wurde dies, als ich wenige Tage nach Übergabe meiner
Beglaubigungsschreiben die Rede zum Tag der Deutschen Einheit zu
halten hatte. Wie zelebriert man den deutschen Mauerfall im asiatischen Rest-Bezirk des realexistierenden Sozialismus? Wie preist man
das Ende der SED-Diktatur in einem Einparteienstaat? Wie feiert man
das Ende des Kommunismus im Kommunismus? Wie preist man einen
friedlichen Volksaufstand, ohne das Gastland und seine ungewählten
Volksvertreter zu beleidigen?
Ein Selbstzitat sei mir hier erlaubt. Ich entschied mich für einen
doppelten Kunstgriff. Ich verwestlichte Laos und veröstlichte mich
selbst. Zunächst nahm ich die laotische Regierung beim Wort und
vereinnahmte sie – „Demokratie“ steht im laotischen Staatswappen
neben „Frieden, Unabhängigkeit, Einheit und Wohlstand“. „Sozialismus“ steht dort wohlweislich seit vielen Jahren nicht mehr.
Zur mentalen Abrüstung zeichnete ich dann das Bild meiner eigenen Familie als einer zwischen Ost und West zerrissenen, die also
durch die Einheit erst wieder zu sich finden konnte. Ich berichtete,
dass mein Großvater Professor für osteuropäische Geschichte in Erlangen gewesen war, während gleichzeitig seine Cousine osteuropäische
Geschichte an der Humboldt-Universität lehrte. Ich erzählte, dass mein
Onkel westdeutscher Botschafter in Costa Rica gewesen war, während
mein Onkel dritten Grades als ostdeutscher Botschafter in Peru arbeitete. So wollte ich den kriegsgewinnlerischen Besser-Wessi dämpfen,
ohne die historische Großtat des Mauerfalls – wohlgemerkt: eine ostdeutsche Großtat – zu schmälern.
Natürlich wies ich auf die bedeutsame Rolle Gorbatschows hin.
Zum Ende kam eine Passage, in der ich betonte, dass die Berliner
Mauer nicht einfach „fiel“, sondern von Osten her eingedrückt wurde,
von mutigen Deutschen in einer friedlichen Revolution. „Diese Ostdeutschen stehen für jene fünf Werte Demokratie, Frieden, Unabhängigkeit, Einheit und Wohlstand. Sie leben die Tradition von Bach,
Beethoven, Wagner, Goethe, Schiller, Mann, Brecht, Grass, Hegel,
Kant, Kepler, Leibniz, Gauß, Euler, Röntgen, Koch, Bosch, Siemens,
Daimler, Planck, Einstein, Heisenberg und vielen vielen anderen. Es ist
diese deutsche Kultur – in der Musik und in der Literatur, in den Wis-
Freiheit im Sozialismus
173
senschaften und in der Technik, in der Philosophie, der Mathematik,
der Medizin und den Ingenieurswissenschaften –, die tausende Laoten
ganz persönlich kennenlernen konnten, als sie in Deutschland studierten. Dieses kostbare Erbe ist das wertvolle Fundament, auf dem wir
alle heute aufbauen können, wenn wir unsere Beziehungen weiter stärken und ausbauen. Ich möchte daher an dieser Stelle ein ganz herzliches Willkommen all jenen Bürgern von Laos zurufen, die Alumni und
Alumnae deutscher Universitäten sind. Sie sind einer der Hauptpfeiler,
auf denen die Brücke unserer Freundschaft ruht.” So kann man den
Mauerfall im Kommunismus besingen: umarmend. Liberal sein heißt,
Gegensätze integrieren zu können.
Das bunte Deutschland zeigen
Oben ist beschrieben worden, wie Menschenrechtspolitik und
Entwicklungszusammenarbeit als sich gegenseitig verstärkend verstanden werden können. Dies nutzt beiden – sie stehen als force multipliers
Schulter an Schulter nebeneinander. Zugleich konterkariert dies die
immer wieder sichtbaren Versuche des Partners, „guter ODA“ die
„schlimme Menschenrechtspolitik“ gegenüber zu stellen. Synergien
zwischen ODA und Menschenrechtspolitik müssen auch deshalb genutzt werden, weil Deutschland – und die EU – nur so oberhalb der
eigenen Gewichtsklasse wahrgenommen werden.
Bei den Direktinvestitionen (Foreign Direct Investment, FDI) gibt
es in Laos drei große Spieler, Vietnam, China und Thailand, und dann
kommt lange Zeit nichts. Von den Europäern hat nur Frankreich aufgrund seiner nachwirkenden Kolonialgeschichte ein nennenswertes
FDI-Volumen. Die Wirtschaftsgroßmacht Deutschland ist in Laos eine,
der ein legendärer Ruf ihrer Industrieprodukte vorauseilt, doch dies ist
mehr Zukunftserwartung denn Gegenwart. Aber auch hier gibt es
einen Ansatzpunkt. Laos hat ein überragendes Interesse an Diversifikation und will keineswegs nur von Vietnam, China und Thailand abhängig sein. Deutsche Spitzenvertreter bekommen von jedem laotischen Minister gesagt, wie gern man mehr deutsches Wirtschaftsengagement sähe. Bei diesem Interesse ansetzend kann man wieder und
wieder betonen, wie sehr die freie Investitionsentscheidung deutscher
Unternehmen von passenden Rahmenbedingungen abhängt, wie sehr
174
Robert von Rimscha
sich Firmen aus der Bundesrepublik an Rechtsunsicherheit, mangelndem Schutz von Privateigentum und staatlicher Willkür stören.
Ob es um Land-Titel geht, um Klein- und Kleinstkredite für Gewerbetreibende, um Marktzugang durch Straßenbau oder um die Investitionen etablierterer Unternehmen: Umsetzbar ist die Synergie zwischen Menschenrechts- und Entwicklungszielen dann am besten, wenn
sie sich ankoppelt an die selbstgesteckten Vorgaben der laotischen
Führung.
Um diesen eher abstrakten Feststellungen mehr Leben einzuhauchen, sollen, zunächst auf den Feldern Kultur und Medien, ein paar
konkrete Handlungsmöglichkeiten geschildert werden – und jener Fall,
der am drastischsten die Grenzen der Einflussnahme deutlich gemacht
hat.
Gesellschaftlich höchst wirksam ist die Kulturarbeit im weitesten
Sinne. Dabei ist der Kultur-Sektor einer, der beispielhaft für die sehr
begrenzten Kapazitäten im Lande stehen kann. Es gibt in ganz Laos
kein einziges Kunstmuseum mit Dauerausstellung. Es existiert nur eine
einzige Galerie, die anbietet, was wir für üblich halten: Beratung und
Unterstützung des Künstlers, Werbung, Verkauf. Es gibt im ganzen
Land keinen Kuratoren und keinen Choreographen. In der Popmusik
gibt es ganze zehn Personen, die komponieren. Klassische Komponisten gibt es nicht. Es gibt fünf Musikproduzenten und zwei ausgebildete
Tontechniker im Lande. Es gibt weder eine Film-Akademie noch eine
professionelle Ausbildung für eine andere Sparte der Kino-Industrie.
Kein einziger laotischer Schauspieler hat eine Ausbildung genossen.
Einen professionellen Drehbuchautor gibt es nicht. Die rund zehn
Filmregisseure des Landes sind allesamt Amateure, Dilettanten oder
Autodidakten – meist eine Mischung davon. Drei bis sechs laotische
Filme werden pro Jahr produziert. In den beiden einzigen Kinos, eines
in Vientiane, eines in Savannakhet, spielen die einfach gemachten LaoFilme deutlich mehr Geld ein als die Thai-Produkte, die dort ansonsten
dominieren – Nachfrage nach Kino aus dem eigenen Land gibt es also.
Kaum Nachfrage gibt es nach Büchern. Seit Staatsgründung 1975 sind
(bis 2012) gerade 3.000 Bücher auf Laotisch erschienen. Zwar werden
rund hundert Magazine verlegt, aber nur ein einziges Verlagshaus gilt
als profitabel. Ökonomisch ist Fotografieren, Schreiben, Drucken oder
Freiheit im Sozialismus
175
Design nur dort eine Lebensgrundlage, wo große Firmen die Kunden
sind.23
Kunst und Kultur sind Früchte der individuellen Kreativität – und
Freiräume für individuelle Kreativität sind die Fruchtblase, in der liberale Emanzipation gedeiht. Dass Kunst und Kultur zugleich Hefe im
Teig einer Gesellschaft sind und mentale sowie intellektuelle Nischen
schaffen, in denen das zarte Pflänzchen Freiheit gedeiht, ist gerade für
ein Land wie Laos bedeutsam. Ob es um vom Auswärtigen Amt finanzierten Kulturerhalt im meistbesuchten Tempel von Vientiane oder in
buddhistischen Provinz-Bibliotheken geht, wo tausende PalmblattHandschriften konserviert wurden, diese kulturelle Zusammenarbeit
ist etwas, was hoch geschätzt wird. Der laotische Außenminister und
Vize-Premier Dr. Thongloun Sisoulith sprach 2012 sowohl gegenüber
Minister Dr. Guido Westerwelle als auch gegenüber Minister Dirk
Niebel den tiefempfundenen Dank aus, den Laos für diese deutsche
Arbeit verspüre.
Kulturarbeit ist zugleich Werbung für Deutschland und für das Erlernen der deutschen Sprache (gelehrt wird sie lediglich an der Nationalen Universität in einem Vorort von Vientiane). Wenn die Botschaft
einmal eine Bluesrock-Band auftreten lässt, dann einen AkkordeonSpieler mit Schlagern und Volksliedern im Repertoire hat, dann ein
Klassik-Konzert aus Anlass des 200. Geburtstages von Richard Wagner veranstaltet und schließlich einen DJ-Abend mit club music organisiert, dann sind dies nicht Wohlfühlveranstaltungen für Entwicklungshelfer und Expatriierte, sondern Abende, an denen Hunderte Laoten
etwas vom kulturellen und gesellschaftlichen Pluralismus in Deutschland erfahren – und zwar sinnlich, nicht theoretisch. Dies ist ein Kern
liberalen Selbstverständnisses: Deutschland zeigt praktisch, wie bunt es
ist.
Am authentischsten kann dies ein Laote natürlich dann erleben,
wenn er selbst nach Deutschland reist. Das kräftige Wirtschaftswachstum macht es möglich, dass sich immer mehr Mitglieder der Mittelschicht diesen Traum verwirklichen können. Allein von 2011 auf 2012
stieg die Zahl der Visa, die die Botschaft ausgestellt hat, um 53 Prozent an. Die Reisefreiheit, ein Ausdruck des ur-liberalen Rechts auf
Selbstbestimmung des eigenen Lebens, ist in Laos nicht eingeschränkt.
--------------------------------------------
23 Alle Zahlen stammen aus: Huard, Emilie und Panyaphone, Chanmaly: Baseline
Study of the Lao Cultural Industries, UNESCO, Bangkok 2012.
176
Robert von Rimscha
Die liberale und pluralistische Gesellschaft hat als eine ihrer
Grundvoraussetzungen die Meinungs- und Pressefreiheit. Dass die
Medien in Laos staatlich zensiert und gelenkt werden, ist oben bereits
beschrieben worden. Bemerkenswert ist indes, dass es eine MetaDebatte über die Rolle der Medien in Laos gibt. Manchmal wechseln
sich in den Zeitungen fast im Tagestakt Artikel ab, in denen von der
Mahnung eines Funktionärs berichtet wird, die Medien sollten nicht
vergessen, dass sie ein Organ der Propaganda der Partei seien. Und
tags darauf analysiert ein Chefredakteur das geringe Interesse, auf das
die Medien im Lande stoßen, ruft dazu auf, in der Berichterstattung
näher auf die Bedürfnisse der Bevölkerung einzugehen und weniger
Gremien-Wiedergabe zu betreiben, und dieser Essay gipfelt dann im
Aufruf, laotische Journalisten sollten sich nicht länger einer Selbstzensur unterziehen und keine Schere im Kopf haben.
So berichtete die englischsprachige „Vientiane Times“ über eine Rede des Verlegers der laotischsprachigen „Vientiane Mai“,
Thongleuan Phimmasanh, vor dem Jahrestreffen des Landesministeriums für Information, Kultur und Tourismus der Provinz Vientiane.
„Manche Regierungsvertreter werden unvernünftigerweise zornig und
bedrohen unsere Reporter, wenn diese ihre Arbeit kritisieren“, wird er
zitiert. Weiter führte der Verleger aus, etliche Staatsbedienstete bestünden darauf, dass Journalisten ihr Tun im besten Licht darstellten
und gefällige Artikel publizierten, in denen alle ihre Aktivitäten, wie
unbedeutsam sie auch sein mochten, in der Zeitung erschienen.24 Der
Verleger vergisst indes den versöhnlichen Hinweis nicht, die von ihm
kritisierten Beamten verstünden nicht, was ZK und Politbüro der KP
festgelegt hätten, nämlich dass die Medien ein „watchdog to help prevent anti-social conduct“ seien.
So interessant solche Ansätze einer kritischen Selbstreflexion sind,
zur umfangreichen Informationsbeschaffung im westlichen Sinne taugen die Zeitungen und vor allem das Fernsehen nicht. So beginnt eine
an liberalen Leitlinien orientierte Arbeit in Laos mit dem schlichten
Umstand, dass man Informationen nur bekommt, wenn man sie sich
selbst beschafft, und eben ganz wesentlich aus nicht-staatlichen Quellen. Dies wiederum hat zur Voraussetzung, dass man Menschen kennt,
die einem ihr Vertrauen schenken, und dass man viel Zeit in den in-------------------------------------------24
Vientiane Times, 22.02.2013, S. 2.
Freiheit im Sozialismus
177
formellen Gedankenaustausch mit möglichst vielen verschiedenen
Bevölkerungsgruppen investiert.
Als Produkt deutscher Außenpolitik wird in Laos erhebliche Energie in die Journalisten-Weiterbildung gesteckt. Die Akademie der
Deutschen Welle ist hier an der wichtigsten staatlichen Universität
ebenso aktiv wie die Botschaft bei Schulungen mit dem Laotischen
Journalistenverband und weiteren Partnern. Im Ergebnis kann man
davon ausgehen, dass die meisten laotischen Journalisten die Beschränkungen, unter denen sie zu arbeiten haben, durchaus kritisch
reflektieren.
Dass Anregungen nur begrenzt umsetzbar sind, gilt nicht nur für
Journalisten in Laos. Auch bei Fort- und Weiterbildungen in anderen
Berufen – eine politische Stiftung aus der Bundesrepublik kümmert
sich beispielsweise um Staatsanwälte und versucht, denen rechtsstaatliche Verfahrensweisen nahezubringen – muss ins Kalkül einbezogen
werden, dass nur ein Bruchteil des Vermittelten in der Praxis angewendet wird. Die begründete Hoffnung ist indes, dass die Auseinandersetzung mit anderen Medien- oder Rechtskulturen haften bleibt,
und sei es zunächst auch nur im Kopf.
Einzuberechnen ist allerdings auch, dass bei allen capacity building-Maßnahmen jene ebenfalls vertreten sind, denen es in erster Linie
um das Abgreifen eines per-diem-Satzes zur Aufwandsentschädigung
geht. Und nicht von der Hand zu weisen ist der Umstand, dass es vor
allem im politischen Diskurs über Kapazitäten die Gefahr von window
dressing gibt: Wo der politische Wille beispielsweise zum Kampf gegen
die Korruption fehlt, helfen weder die schönsten Deklarationen noch
die besten Schulungen. Wie in vielen Entwicklungsländern ist auch die
Regierungs- und Verwaltungslandschaft in Laos zerklüftet und von
Gräben durchzogen, gezeichnet vom disconnect zwischen Absichtsbekundungen und Realitäten.25
Heikel ist jeder formalisierte Umgang mit Partnern aus Zivilgesellschaft und Bürgergesellschaft. Gemeinsame Ko-Vorsitze in SWGs mögen eine institutionelle Aufwertung und ein Signal der Wertschätzung
sein, sie schützen unabhängig Denkende aber nicht vor staatlichen
Repressalien. Das Grundmisstrauen gegen alles, was nicht von der
--------------------------------------------
25 Die EU hat vom Thinktank ADE eine umfassende Studie zu diesem „gap between
discourse and practise“ (S. 6) in dessen Political Economy Analysis vom Februar 2013
vorlegen lassen.
178
Robert von Rimscha
Partei und ihren Massenorganisationen selbst gelenkt wird, sitzt tief im
Staate Laos.
Ein wichtiges Instrument in der Menschenrechtspolitik ist der
zweijährliche EU-Laos-Menschenrechtsdialog. Zuletzt fand er im Februar 2011 und im Februar 2013 statt. Inhaltliche Positionen mögen
erheblich voneinander abweichen, aber das Diskussionsklima ist immerhin offen. Die laotische Seite geht auf jedes Thema ein und beschränkt sich nicht auf das Verlesen vorgefertigter Sprechzettel. Im
Rahmen des Menschenrechtsdialogs werden auch Einzelschicksale von
inhaftierten Dissidenten thematisiert.
Im Sommer 2012 veranstaltete die US-Botschaft auf ihrem Gelände erstmals einen Nachmittag, der unter der Überschrift „Proud To Be
Us“ firmierte. Der Slogan und die grafische Gestaltung in Regenbogenfarben ließen keinen Zweifel daran zu, um was es hier ging. Der stellvertretende Gesundheitsminister, der eine Rede hielt, widmete sich
ausschließlich dem Thema der sexuell übertragbaren Krankheiten und
der Aids-Bekämpfung. Worte wie „Homosexualität“, „Schwule“ oder
„Lesben“ fielen in seinem Beitrag nicht. Internationale Medien vermeldeten das Ereignis als „Ersten Christopher Street Day“ in Laos,
was die Regierung sehr gestört haben soll. So schmal sind die Grate,
auf denen man zu wandeln hat.
Die Vertretung deutscher Wirtschaftsinteressen steht in Laos nicht
im Vordergrund der Außenpolitik. Sind indes zwei Unternehmen aus
der Bundesrepublik an der Ausschreibung für neue Personalausweise
interessiert oder spielen etliche große Namen der deutschen Wirtschaft
beim Boom im Bereich Hydropower eine Rolle, so ist die Türöffnerfunktion der Auslandsvertretung eine liberale Selbstverständlichkeit.
2012 haben Bosch und MAN Vertretungen in Vientiane eröffnet,
Mercedes-Benz ist bereits vertreten, BMW und Audi sitzen in den
Startlöchern. Diese Repräsentanzen sind ein erstes Ausstrecken von
Fühlern.
Hierbei kommt der deutschen Wirtschaft eine weltweite Einmaligkeit zugute. Nur in Laos gibt es keine deutsch-laotische oder auch
französisch-laotische Kammer, sondern allein eine europäische („European Chamber of Commerce and Industry in Lao PDR“, ECCIL). Es
ist damit gelungen, eine gemeinsame Interessensvertretung der Privatwirtschaft zu installieren – ohne Konkurrenz zu binationalen Einrichtungen. Unter den Aspekten der Arbeitsteiligkeit und der Europäisie-
Freiheit im Sozialismus
179
rung deutscher Außenwirtschaftspolitik ist dies nicht nur eine Besonderheit der Konstruktion, sondern eine enorme praktische Arbeitserleichterung. Die eine Telefonnummer, unter der Europa zu erreichen
sein soll – hier gibt es sie.
Als Produktionsort für deutsche Unternehmen spielt Laos nur in
den Bereichen Textilwirtschaft und Solarenergie eine Rolle. Bei milliardenschweren Bahn-Projekten sind die Verträge meist so gestrickt,
dass der letztlich finanzierende Partner, sei es China, sei es Malaysia,
den Alleinauftrag für den Bau bekommt.
Laos zeigt seit Jahren ganz erhebliche wirtschaftliche Dynamik, eine gewisse gesellschaftliche Öffnung, aber kaum politische Flexibilität.
Für alle drei Bereiche gibt es angepasste Angebote deutscher Außenpolitik. Für das wirtschaftliche Vorankommen ist indes weniger der deutsche Privatsektor der gegenwärtige Partner denn die Entwicklungszusammenarbeit. Das eine kann und soll in das andere münden. Wenn
heute, auch aufgrund der alten DDR-Bindungen, viele aus der Spitze
des Minen-Ministeriums sich an der Bergakademie Freiberg vorführen
lassen, wie man Rohstoffe umweltschonend gewinnt, so kann dies ein
Schritt hin zu einer formalen „Rohstoffpartnerschaft“ werden, wie sie
Deutschland zum beiderseitigen Nutzen mit einigen Entwicklungs- und
Schwellenländern bereits unterhält.
Deutschland lebt davon, vernetzt zu sein wie kaum ein anderes
Land. Eine Wirtschaft wie die unsere, die auf Wissen fußt und von
Exporten lebt, kann nicht anders vorgehen. Deshalb war es richtig,
dass Deutschland 28 Jahre lang als einziger EU-Mitgliedsstaat neben
Frankreich mit einer Botschaft in Laos präsent war. Andere folgen.
Seit April 2013 gibt es auch wieder eine britische Botschaft in Vientiane.
Die Präsenz in der Fläche zahlt sich aus. Denn ein weiterer Anknüpfungspunkt für deutsche Politik bietet die Kooperation im multilateralen Bereich. Wenn es um VN-Gremien oder um Personal für
internationale Organisationen geht, arbeiten Laos und Deutschland
gut und eng zusammen. 2012 beispielsweise wurde die neue VNInstitution IPBES („Intergovernmental Platform on Biodiversity and
Ecosystem Services“, auf Deutsch manchmal kurz „Weltbiodiversitätsrat“) an Bonn vergeben. Ein Land, das sich für den Standort am Rhein
aussprach, war Laos. Im Vorfeld solcher Vergaben finden unzählige
Gespräche statt, und wichtige Anliegen deutscher Außenpolitik wie der
180
Robert von Rimscha
Gedanke der Nachhaltigkeit sind längst so sehr Marken-Kern des
deutschen Außenauftritts, dass das Werben für Bonn keine SisyphusArbeit war. Auch im Menschenrechtsrat der VN sitzt Deutschland,
weil wir in der Generalversammlung hinein gewählt wurden – auch
von Laos.
Ein letztes, bilaterales Feld der Zusammenarbeit, das von laotischer Seite ganz besonders geschätzt wird, ist der Einsatz gegen während des Krieges nicht explodierte Streumunition („Unexploded Ordnance“, UXO). 80 bis 100 Millionen Einzel-Sprengsätze, in Laos werden sie bombies genannt, verseuchen nicht nur den Boden und töten
bis heute Menschen, sie verdammen vor allem ganze Distrikte zur
Armut: Keiner kann effizient sein Agrarland nutzen, wenn jede weitere
Vergrößerung des Reis-Feldes den Tod bedeuten könnte.26 Seit Mitte
der 90er Jahre, seit dem Beginn der planmäßigen UXO-Räumung, hat
Deutschland rund 16 Millionen Dollar in diesen Sektor investiert. Es
geht dabei weniger um die Beseitigung von Relikten aus der Vergangenheit als um das Schaffen von Entwicklungsmöglichkeiten für heute
und morgen. Weniger UXO im Boden heißt mehr wirtschaftliche
Nutzbarkeit des Landes – ein urliberales Anliegen.
Der Fall Sombath Somphone
Wertegeleitet und interessensorientiert – so versteht sich deutsche
Außen- und Entwicklungspolitik, und so verstehen sich gerade liberale
Außenpolitik und liberale Entwicklungszusammenarbeit. Im bisherigen
Text ist geschildert worden, wo Möglichkeiten und Anknüpfungspunkte auch in einem völlig anders gearteten Gesellschaftssystem bestehen. Es wäre unehrlich, nicht auch über Grenzen zu berichten. Dabei wird es kaum überraschen, dass der Blick in den Abgrund dort
stattfindet, wo es um Menschenrechte geht, wo es also nicht um das
Austarieren vielleicht divergierender Interessen geht, sondern um das
feste Fundament universeller Freiheits- und Persönlichkeitsrechte, die
aus liberaler Sicht weder mit kulturellen Begründungen relativiert noch
staatlich ausgehebelt werden dürfen.
Am frühen Abend des 15. Dezember 2012 verschwand mitten in
Vientiane der bedeutendste Vertreter der laotischen Zivilgesellschaft,
--------------------------------------------
26 Mit rund einer Tonne Bomben pro Kopf der Bevölkerung, abgeworfen zwischen
1963 und 1973, ist Laos das pro Kopf meistbombardierte Land der Welt.
Freiheit im Sozialismus
181
Sombath Somphone. Der damals 60-Jährige war nach einem langen
Aufenthalt in den USA in seine alte Heimat zurückgekehrt und hatte
unter anderem PADETC („Participatory Development Training Center“) aufgebaut, eine Institution, die der dörflichen Bevölkerung bei
der effizienteren Landwirtschaft half. Im Oktober 2012 war er einer
der Hauptorganisatoren des von Deutschland finanziell massiv unterstützten „Asia-Europe Peoples´ Forum“ (AEPF), einer Vor-Veranstaltung zum Gipfel des ASEM („Asia-Europe Meeting“). Sombath ist ein
stets freundlicher Herr, der jahrzehntelang eng mit der Regierung in
Entwicklungs-, Bildungs- und Landwirtschaftsfragen zusammengearbeitet hat.
Er verschwand, so die offizielle Lesart, unmittelbar nach einer
Routine-Verkehrskontrolle. Eine Überwachungskamera der Polizei hat
das Geschehen festgehalten. Millionen haben weltweit eine HandyKopie dieses Videos gesehen, denn der Fall Sombath wurde rasch zum
meistberichteten und meistbeachteten Einzelereignis der jüngeren laotischen Geschichte. Cathy Ashton, Desmond Tutu und Hillary Clinton
äußerten sich besorgt. Am 7. Februar 2013 nahm das Europäische
Parlament eine Entschließung an, die an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig ließ. Die offiziellen Ermittlungen und Untersuchungen des
laotischen Sicherheitsministeriums ließen von Anfang an so viel zu
wünschen übrig, dass es etlichen Beobachtern schwer fiel, sie überhaupt ernst zu nehmen.
Hier also stieß deutsches und liberales Handeln an eine Grenze.
Was tut man, wenn die laotische Seite sagt, nach wochenlangen Ermittlungen habe man keinen Zeugen und keine Informationen gefunden, fest stehe nur eins, nämlich dass die Regierung selbst in das Verschwinden nicht verwickelt sei? Was tut man, wenn der Chefermittler
im persönlichen Gespräch und dann auch öffentlich sagt, das OriginalVideo der Polizei sei genauso grobkörnig wie die bekannte HandyKopie, und deshalb sei es nicht gelungen, auch nur eine einzige Person
oder ein einziges Nummernschild zu identifizieren? Was tut man,
wenn in den veröffentlichten Verlautbarungen der Regierung immer
wieder behauptet wird, es könne sich möglicherweise um einen familiären Konflikt oder eine geschäftliche Auseinandersetzung handeln,
wenn die Ermittler aber zugleich einräumen, sie hätten nicht ein einziges Indiz für solche öffentlichen Mutmaßungen gefunden? Was tut
man, wenn beim Menschenrechtsdialog zwischen der EU und Laos am
182
Robert von Rimscha
4. Februar 2013 auf jede der zig Detailfragen zu Sombaths Schicksal
wieder und wieder die stereotype Antwort erfolgt: „Wir verweisen auf
den veröffentlichten vorläufigen Polizeibericht, dieser enthält die Antworten auf alle Ihre Fragen.“ Was tut man, wenn sich gar nichts tut,
wenn diplomatisch unzweideutige Eil-Anfragen drei Wochen lang
ohne jede Reaktion bleiben?
Hier ist eine Grundsatzfrage einer Außen- und Menschenrechtspolitik aus liberaler Perspektive berührt. Außenpolitik ist nie monothematisch, und ihre vielen Aktionsfelder stehen nie unter dem Primat
einer einzelnen Vorstellung. Logischerweise führt ein schwieriger Menschenrechtsfall nicht dazu, dass ein deutscher Botschafter die Zelte
abbricht und empört das Land verlässt. So klar, wie dieser Grundsatz
ist, so schwierig ist die Gratwanderung in der Praxis und im Detail.
Eberhard Sandschneider, der Leiter des Forschungsinstituts der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik, hat gerade postuliert:
„Wenn Werte und Interessen im Konflikt zueinander stehen, kann es
für eine pragmatische Außenpolitik notwendig und durchaus auch
sinnvoll sein, zeitlich begrenzt seine Interessen in den Vordergrund zu
stellen. (…) Glaubwürdige und effektive Außenpolitik gründet sich auf
das Machbare und nicht auf Rechthaberei. (…) Wer gibt uns das
Recht, aktiv in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten einzugreifen?“27 Dass Rechthaberei ein schlechter Ratgeber ist, steht außer
Frage. Aber: Das Völkerrecht wandelt sich und wächst. Begriffe wie
„Nichteinmischung“, „innere Angelegenheiten“ und „diplomatische
Zurückhaltung“ bedeuten im 21. Jahrhundert etwas anderes als im
19.. Und wo ist die Grenze zur Leisetreterei, wenn, wie im Fall Sombath, viele asiatische Leitartikler und Parlamentarier Laos den Bruch
von Normen vorwerfen, die heute das Zusammenleben in Asien und
ASEAN bestimmen sollten? Wenn der Fall Sombath also von Asiaten
zum Anlass genommen wird, ganz in unserem Sinne bei der vertieften
Integration innerhalb der ASEAN-Gemeinschaft auch eine WerteDimension einzufordern? Kurz gesagt: Wenn Sombath zum Fanal der
Verletzung universeller Rechte wird – und nicht zum Verteidigungsraum der Kultur-Relativisten?
Was also tut man? Für mich persönlich gilt in heiklen Menschenrechtsfragen und in nicht-demokratischen Ländern eine relativ schlich--------------------------------------------
27 Sandschneider, Eberhard: Raus aus der Moralecke! Die deutsche Außenpolitik sollte der Welt nicht ihre Werte diktieren, in: Die Zeit, 28.02.2013, S. 13.
Freiheit im Sozialismus
183
te Devise. Ich verhalte mich so, dass ich nicht nur den Inhabern der
Macht unter die Augen treten kann, sondern ebenso aufrecht den Betroffenen und all jenen, die gegenwärtig nicht an den Schalthebeln
sitzen.
Man fragt nach, wieder und wieder. Man hakt nach und erinnert.
Man zieht bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit laotische
Minister zur Seite und macht ihnen deutlich, wie schwer dieser Fall
wiege, dass er sich nicht aussitzen lasse. Man hält engen Kontakt zur
Familie Sombaths. Man berücksichtigt deren Rat und Empfehlung bei
allen Aktivitäten. Man spricht mit anderen, die ein ähnliches Schicksal
für sich selbst befürchten. Man berichtet. Man dringt auf weitere Treffen. Man denkt über alle möglichen Konsequenzen nach. Man stimmt
sich aufs Engste mit den europäischen Kollegen und gleichdenkenden
Partnern ab. Man nutzt drei Ebenen: das Öffentliche, sei es bei Reden
oder in Presseerklärungen, das offizielle Diplomatische, sei es bei Demarchen oder in VN-Gremien, und das Diskrete. Man schreibt Briefe
und beantwortet jene vielen, die einen erreichen. Man identifiziert
politische Hebel und spielt über Bande: Wessen Anruf bei wem könnte
nutzen? Man bemüht sich, der verstörten und verunsicherten deutschen Gemeinde, von der ein Gutteil mit Sombath zusammengearbeitet
hat, die Lage zu erklären, ohne abzuwiegeln und ohne zu dramatisieren. Man ist Ansprechpartner. Man ist präsent. Man kümmert sich.
Deutschland und der Liberalismus können stolz darauf sein, dass
die erste Reaktion überhaupt aus einem Mitgliedsstaat der Europäischen Union aus Berlin kam. Noch vor Weihnachten 2012 drückte der
Menschenrechtsbeauftragte der Bundesregierung, Markus Löning,
seine tiefe Sorge über Sombaths Verschwinden aus und forderte die
laotische Regierung auf, alles in ihrer Macht stehende zu tun, um den
Fall aufzuklären.
Sombath Somphone ist bis heute verschollen, bis zum Redaktionsschluss für diesen Band. Am 15. Mai 2013 waren es fünf Monate.
Unser Einfluss, die Mächtigen in Laos zu etwas zu bewegen, ist eben
begrenzt. Und so gehört zu liberaler Außenpolitik in der Praxis auch
die demütige Einsicht, dass wir die Welt nicht einfach so gestalten
können, wie wir sie gern hätten. Aber für unsere Sicht und Haltung
werben, das können wir – immer und überall.
Liberale Außenpolitik gegenüber Schwellenländern: Chancen und Risiken
185
Siegfried Herzog
Liberale Außenpolitik gegenüber
Schwellenländern: Chancen und Risiken
Was ist liberale Außenpolitik?
Liberale Außenpolitik will die Freiheit in der Welt stärken und
ausweiten. Freiheit verwirklicht sich im nationalen Rahmen in der
offenen Gesellschaft, basierend auf den Regelkreisen einer freien
Marktwirtschaft, Rechtsstaatlichkeit auf der Basis der allgemeinen
Menschenrechte sowie partizipativer Demokratie. Auf internationaler
Ebene geht es also darum, auf eine möglichst offene Weltgesellschaft
hinzuarbeiten, die auf einer verbindlichen internationalen Rechtsordnung beruht. Das ist eine Arbeit für viele Generationen, aber einige
institutionelle Bausteine einer solchen offenen Weltgesellschaft sind
bereits erreicht: Der freie Welthandel hat in der Welthandelsorganisation WTO (World Trade Organization) einen soliden Rahmen erhalten, eine internationale Rechtsordnung ist im Entstehen, fußend auf
der allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. Der Internationale
Strafgerichtshof und die internationale Seerechtskonvention sind jüngere Ergebnisse, auch die Verankerung von Menschenrechtsinstrumenten in regionalen Organisationen wie der südostasiatischen Staatengruppe ASEAN. Dazu kommen Systeme kollektiver Sicherheit, die
über den Charakter traditioneller Bündnisse zwischen Staaten hinausgewachsen sind.
Die Förderung und Sicherung von Demokratie steckt dagegen
noch in den institutionellen Kinderschuhen. Europa hat mit dem Demokratiegebot als Voraussetzung für eine Mitgliedschaft in der Europäischen Union sowie mit dem Europarat eine Vorreiterrolle gespielt.
Die Begründung für eine internationale Verankerung von Demokratie
ist im Vergleich zu Menschenrechten, Völkerrecht und Wirtschaftsfreiheit etwas schwieriger. Ein wichtiges Argument ist ein empirisches,
dass Demokratien friedfertiger seien und in der Geschichte selten bis
nie gegen andere Demokratien Krieg geführt hätten. Auch seien sie in
186
Siegfried Herzog
ihrem Handeln transparenter und berechenbarer, was die internationale Stabilität erhöhe.
Diese Anliegen werden überwiegend von den meisten entwickelten
Industriestaaten geteilt und gefördert. Liberale Außenpolitik misst
daher den Beziehungen zu den Staaten dieser Wertegemeinschaft besondere Bedeutung bei. Dazu zählen neben den Mitgliedern von EU
und NATO auch Australien, Neuseeland und Japan, man kann auch
Staaten wie Südkorea und Taiwan hinzurechnen.
Liberale Außenpolitik sollte dabei als Weiterentwicklung der klassischen Außenpolitik gesehen werden. Deren Grundanliegen bleiben
bestehen: die Bewahrung von Sicherheit und Wohlstand durch stabile
und gute Beziehungen zu allen Nachbarn in Europa, durch stetige
Weiterentwicklung der Beziehungen zu den Nachbarn der EU, insbesondere gewichtigen Ländern wie Russland und der Türkei. Die Sicherung der wirtschaftlichen Interessen Deutschlands ist am nachhaltigsten durch eine allgemeine Freihandelspolitik zu erreichen.
Die von den USA maßgeblich gestaltete internationale Ordnung
nach dem Zweiten Weltkrieg hat viele dieser Anliegen bereits zumindest in Ansätzen enthalten. Seit dem Ende des Kalten Krieges haben
sich neue Chancen für eine Weiterentwicklung einer solchen offenen
Weltordnung ergeben. Die aktuelle intensive Phase der Globalisierung
ist teilweise durch diese institutionellen Rahmenbedingungen befördert
worden. Dazu kommen aber die individuellen Entscheidungen der
Nationalstaaten, ihre Wirtschaftspolitik stärker an Marktwirtschaft
und Welthandel auszurichten, und es kommen technologische Veränderungen hinzu wie die Senkung der Transportkosten durch Flugverkehr und Containerschiffahrt oder die Senkung der Kommunikationskosten durch Revolutionen in der Telekommunikation und der Informationstechnologie.
Der Aufstieg der Schwellenländer
Die Globalisierung hat für eine ganze Reihe von Ländern tiefgreifende und in der Summe sehr positive wirtschaftliche Veränderungen
mit sich gebracht. Sie haben historisch einzigartige Wachstumsphasen
hinter sich, ihre Wirtschaft hat sich dabei rapide gewandelt, was auch
dramatische gesellschaftliche Veränderungen mit sich gebracht hat,
etwa eine rapide Verstädterung. Millionen von Menschen sind im
Liberale Außenpolitik gegenüber Schwellenländern: Chancen und Risiken
187
Zuge dieses Prozesses der Armut entkommen, mehr als je zuvor in der
Weltgeschichte. Eine ganze Reihe von Ländern ist auf dem Weg, zu
den klassischen Industrieländern wirtschaftlich aufzuschließen. Gleichzeitig sind viele soziale Indikatoren noch auf dem Niveau von Entwicklungsländern. Länder mit diesen Merkmalen werden als Schwellenländer bezeichnet, und je nach Definition gibt es etwa 40 davon.
Dazu gehören die sogenannten BRICS-Staaten – Brasilien, Russland,
Indien, China und Südafrika –, aber auch Länder wie die Türkei, Malaysia, Indonesien, Thailand und Mexiko. Die ursprünglichen Tigerstaaten Südkorea, Singapur, Hong Kong und Taiwan, für die der Begriff einst erfunden wurde, gehören bereits zu den entwickelten Industrieländern.
Es ist natürlich keineswegs gesagt, dass alle Schwellenländer tatsächlich zu den Industrieländern aufschließen. Bisher haben nur Südkorea und Taiwan es geschafft, 50 Jahre lang mit mehr als 5% pro
Jahr zu wachsen. Viele Schwellenländer haben strukturelle Schwächen,
die den Wachstumsprozess anhalten oder verlangsamen können. Russland und Brasilien sind sehr stark von Rohstoffexporten abhängig, die
Industrie dagegen ist nicht besonders konkurrenzfähig. Ähnliches gilt
für Südafrika. Indien und Brasilien leisten sich einen teuren Wohlfahrtsstaat, während die grundlegende Infrastruktur noch nicht gebaut
oder marode ist. Chinas Wachstum gründete zu einem sehr hohen
Maß auf öffentlichen Investitionen, und das kann nicht in diesem Umfang weitergehen. Sein Finanzsektor ist unterentwickelt und weiterhin
von der Politik dominiert, seine Bevölkerung beginnt zu altern. All das
deutet auf eine Phase langsameren Wachstums hin. Dazu kommt noch
das Risiko politischer Umwälzungen, da das politische System weiterhin auf Repression aufgebaut ist. Man tut angesichts der Schwellenländereuphorie gut daran, alte euphorische Prognosen nachzulesen. In
den 20er Jahren war Argentinien eines der zehn reichsten Länder der
Welt. Brasilien gilt seit vielen Jahrzehnten als Land der Zukunft, und
Japans prognostizierte Dominanz ist nie Wirklichkeit geworden, im
Gegenteil: Das Land stagniert in besorgniserregender Weise. Angesichts der oben angedeuteten gravierenden strukturellen Unterschiede
zwischen den Schwellenländern sollte man sich hüten, sie zu sehr über
einen Kamm zu scheren und die Wachstumsphase der letzten 20 Jahre
einfach in die Zukunft zu projizieren. Es gibt keinen Wachstumsautomatismus, die nationalen wirtschaftspolitischen Hausaufgaben müssen
188
Siegfried Herzog
weiterhin erledigt werden, und nicht jedes der aktuellen Schwellenländer wird das bewältigen. Es ist auch gut möglich, dass der Wachstumsprozess in Zukunft etwas langsamer verläuft, weil Chinas Wachstum eher bei 7 als bei 10 % liegen dürfte und weil Indiens Wachstum
noch zu unstetig ist.1
Die Gewichte in der Welt verschieben sich
Dieser Einwand bedeutet allerdings nicht, dass man das Thema
Schwellenländer vorschnell ad acta legen sollte. Solange die Globalisierung nicht dramatisch eingeschränkt werden sollte, ist es sehr wahrscheinlich, dass der Wachstumsprozess in der Welt weitergeht und die
Schwellenländer insgesamt weiter aufschließen werden. Großbritannien benötigte 150 Jahre, um im Gefolge der industriellen Revolution
sein Pro-Kopf-Einkommen zu verdoppeln. Die USA benötigten dafür
50 Jahre, Indien dagegen nur 16 und China ganze 12, und das bei
ungleich größeren Bevölkerungen. Darin liegt in der Tat eine fundamentale Veränderung der Dynamik. Damit geht ein Zuwachs von
Macht und Einfluß einher, und zwar auf wirtschaftlichem, politischem
und kulturellem Gebiet. Die Gewichte der Welt verschieben sich dementsprechend nach Osten und Süden, denn dieser Prozess vollzieht sich
am stärksten in Asien. Die Ergebnisse sind bereits sichtbar: China ist
zur Werkbank der Welt geworden, Indien und die Philippinen sind
führend bei IT-gestützten Dienstleistungen. Korea ist eine Macht im
Schiffbau und in der Unterhaltungselektronik. Auf kulturellem Gebiet
sieht man einen wachsenden Einfluß des indischen Films, koreanischer
Popmusik, Seifenopern und Mode.
Besonders spürbar wird es natürlich in der internationalen Politik:
In den WTO-Verhandlungen geht nichts mehr ohne Länder wie China,
Indien oder auch Brasilien. In der internationalen Klimapolitik gilt
dasselbe, sehr zur Irritation der westlichen Industrieländer. Der Klimagipfel in Kopenhagen 2009 hat dies in ziemlich schroffer Weise deutlich gemacht.
Militärisch bleiben die USA weiterhin dominant, aber diese Dominanz hat zunehmend Grenzen. Der Ausbau und die Modernisierung
der chinesischen Streitkräfte, insbesondere der Marine, verschiebt das
-------------------------------------------1
Vgl. Sharma, Ruchir: Breakout Nations; New York 2012.
Liberale Außenpolitik gegenüber Schwellenländern: Chancen und Risiken
189
Gleichgewicht in Asien. China hat in den letzten Jahren mehrfach seine
Muskeln spielen lassen, sei es gegenüber Taiwan durch Stationierung
neuer Mittelstreckenraketen, sei es gegenüber den Philippinen und
Vietnam in den umstrittenen See- und Inselgebieten im Südchinesischen Meer, sei es kürzlich gegenüber Japan. Indien beobachtet mit
Sorge die chinesischen Investitionen in pakistanische und srilankische
Häfen. Indien selbst baut seine Streitkräfte ebenfalls aus, einschließlich
der atomaren Komponente, und hat die Beziehungen zu den USA vertieft, einschließlich engerer Zusammenarbeit der Streitkräfte. Viele
ASEAN-Länder arbeiten ebenfalls wieder enger mit den USA zusammen, auch auf militärischem Gebiet.
In Asien liegen auch die größten Risiken für den Weltfrieden: der
Konflikt auf der koreanischen Halbinsel, der chinesische Anspruch auf
Taiwan, Chinas Grenzkonflikte mit Japan, Vietnam, Malaysia und den
Philippinen sowie mit Indien, dazu noch der indisch-pakistanische
Konflikt. Alle diese Konflikte können zu einem zwischenstaatlichen
Krieg führen, der weiter eskaliert. Das ist so in keiner anderen Weltregion der Fall, selbst der Nahostkonflikt birgt weniger unmittelbares
Risiko für einen konventionellen Krieg.
Wie kann der Wandel interpretiert und gestaltet werden?
Die Herausforderung für die nächsten Jahrzehnte wird also sein,
wie man diese tiefgreifenden Veränderungen und die verschiedenen
Konflikte bewältigt. Nun hat sich die Welt ständig verändert, und stets
ist irgendein Wandel zu bewältigen, aber die aktuelle Entwicklung
stellt in mancher Hinsicht dennoch eine epochale Veränderung dar:
Die globale Dominanz Europas und der von Europa gegründeten Staaten (USA, Kanada, Australien…), die über 250 Jahre lang angedauert
hat, scheint sich ihrem Ende zuzuneigen. Eine derartige Veränderung
will erst einmal gestaltet werden.
Die Grundfrage ist, ob die Zukunft mehr internationale Kooperation bringen wird, um die Welt friedlicher und wohlhabender zu machen, oder ob neue Konfliktlinien entstehen, die Frieden und Wohlstand in der Welt weiter fundamental bedrohen. Zwei theoretische
Ansätze haben dabei in der Diskussion eine besonders einflussreiche
Rolle gespielt. Francis Fukuyama sah mit dem Ende des Kalten Krieges
ein Ende ideologischer Gegensätze gekommen. Das erfolgreiche Gesell-
190
Siegfried Herzog
schaftsmodell der rechtsstaatlich verfassten Demokratie mit marktwirtschaftlicher Wirtschaftsordnung würde sich auf der ganzen Welt
durchsetzen.2 Dem setzte Samuel Huntington seine These vom Kampf
der Kulturen gegenüber. Er teilte die Welt in kulturelle Sphären auf,
die weiterhin in mehr oder weniger starkem Konflikt miteinander liegen würden.3 Ergänzend zu Huntington gibt es düstere Prognosen über
zunehmende Verteilungskämpfe um knappe Ressourcen, sei es Öl oder
Wasser, die für zunehmende Anarchie sorgen würden.4
Diese Überlegungen sind keineswegs nur theoretische Übungen.
Die internationale Politik wird maßgeblich davon beeinflusst, ob die
wichtigen Akteure den Rest der Welt in erster Linie als eine Quelle von
Bedrohungen ansehen oder als potentielle Partner, mit denen ein Interessenausgleich oder gar eine Kooperation zum gegenseitigen Nutzen
möglich ist. Diese Debatte ist unter außenpolitischen Eliten in der Welt
in vollem Gange.
Keine der beiden Thesen ist von der tatsächlichen Entwicklung
bisher voll bestätigt worden. Der islamistische Jihad wird als Beleg für
Huntingtons These interpretiert, ebenso das Fortbestehen des autoritären Systems in China, das manche schon als neues Modell betrachten.
Demgegenüber hat der Arabische Frühling Belege für Fukuyamas Thesen geliefert, dass nämlich universale demokratische Ideen weiterhin
wirkmächtig sind. Die globale Finanzkrise hat bisher nicht zu einem
nennenswerten Anstieg des Protektionismus geführt, d. h., die Idee des
offenen Weltmarkts findet weiterhin breite globale Zustimmung.
Liberale Außenpolitik bedeutet in dieser Situation, sich gegen die
pessimistischen Visionen einer unheilbar konfliktiven Welt zu stellen.
Das liberale Ziel einer offenen Weltgesellschaft hat weiterhin eine
realistische Chance. Die Weltgeschichte zeigt zwar, dass die Menschheit seit ihrer Frühzeit eine ziemlich ausgeprägte Neigung zur Gewalt
hat, sie zeigt aber auch, dass es Gesellschaften gelungen ist, diese Neigung zur Gewalt sukzessive einzuhegen. Durch die industrielle Revolution hat sich die Menschheit aus der ökonomischen Zwangsjacke der
Agrargesellschaft gelöst, die moderne Wissenschaft ermöglicht ein
tiefgreifenderes Verständnis der Welt als je zuvor, und die moderne
-------------------------------------------2
Vgl. Fukuyama, Francis: The End of History and the Last Man; New York 1992.
Vgl. Huntington, Samuel Phillips: The Clash of Civilizations and the Remaking of
World Order; New York 1998
4 Vgl. Kaplan, Robert: The Coming Anarchy; New York 2001.
3
Liberale Außenpolitik gegenüber Schwellenländern: Chancen und Risiken
191
Kommunikationstechnologie überwindet die Barrieren von Zeit und
Raum. Während die Pessimisten auf die kaum wandelbare Natur des
Menschen abheben, die in der Tat einigen Anlass zum Pessimismus
gibt, können die Optimisten darauf verweisen, dass die menschliche
Erfindungsgabe und das menschliche Organisationstalent mit dieser
besser umgehen können als zuvor und dass das Ziel einer offenen
Weltgesellschaft nicht nur wünschenswert, sondern möglich ist. So gibt
es interessante Ansätze, empirisch zu belegen, dass die Häufigkeit von
Gewaltanwendung über die Jahrhunderte signifikant abgenommen
hat.5
Die Schwellenländer und die offene Weltgesellschaft:
Nullsummenspiel, Konkurrenz oder Nutzen für alle?
Diese offene Weltgesellschaft, das Ziel der optimistischen liberalen
Weltsicht, wird aber nicht von alleine entstehen, sondern muss in mühevoller Kleinarbeit entwickelt werden, und sie muss insbesondere den
Schwellenländern Raum zur echten Mitgestaltung bieten. Das bringt
Herausforderungen für alle Beteiligten. Es darf nicht darum gehen, die
Schwellenländer als Juniorpartner in ein bestehendes internationales
System zu integrieren, sondern das internationale System mit den
Schwellenländern konzeptionell weiterzuentwickeln. An einer derartigen Vision besteht von Seiten vieler Schwellenländer durchaus Interesse.6
Die Kernfrage ist, welche Veränderungen Konfliktstoff bergen und
wie dies bewältigt werden kann. Die wirtschaftlichen und kulturellen
Veränderungen im Gefolge des Aufstiegs der Schwellenländer sind
dabei relativ leicht zu bewältigen. Mehr kulturelle Vielfalt bereichert.
Es wird zwar immer Menschen geben, die sich vor Veränderung und
größerer Vielfalt fürchten und stets in Angst leben, dass ihre traditionelle Kultur verloren geht. Allerdings hat sich keine Kultur in Isolation
entwickelt, und die dynamischsten Zentren der Kulturen sind zumeist
Handelsstädte gewesen, die Einflüsse von vielen Seiten aufgenommen
-------------------------------------------5 Pinker, Steven: The Better Angels of Our Nature: Why Violence Has Declined; London 2011.
6 So etwa der indische Finanzminister P. Chidambaram in einer Rede: „The Rise of
the East: Implications for the Global Economy” am 16.4.2013 an der Harvard Universität, dokumentiert in: http://www.domain-b.com/economy/worldeconomy/20130417_
p_chidambaram.html.
192
Siegfried Herzog
und verarbeitet haben. Die o. g. Beispiele aus der modernen Populärkultur zeigen auch, dass es sich keineswegs um eine Einbahnstraße
handelt. Viele Leute, die den Verlust traditioneller kultureller Normen
und Praktiken beklagen und eine armselige Einheitskultur fürchten,
vergessen, wie sehr sich diese im Zeitablauf verändert haben, und sie
unterschätzen, wie viel Vielfalt und Kreativität der globale Austausch
freisetzt. Gleiches gilt für die Wissenschaft: Auch diese hat sich noch
nie isoliert entwickelt, und die größten Fortschritte sind dann erzielt
worden, wenn Forscher in intensivem Austausch mit anderen Forschern ohne geographische Begrenzungen gestanden haben.
Marktwirtschaftliche Entwicklung ist ebenfalls kein Nullsummenspiel, auch wenn es immer wieder Anpassungsschwierigkeiten gibt.
Unter Ökonomen ist weitgehend Konsens, dass offene Märkte und
freier Austausch erstrebenswert sind, da sie Wohlstand schaffen und
Innovation beflügeln. Was Deutschland im Schiffsbau an Korea „verloren“ haben mag, ist durch die wachsende Nachfrage aus Korea nach
deutschen Maschinen und Oberklasse-Autos kompensiert worden.
Umgekehrt hat es Korea nicht geschadet, dass seine Textilindustrie
nach Bangladesch abgewandert ist, wodurch sich das einstige Sorgenkind der Entwicklungspolitik zu einem Land mit wirtschaftlicher Eigendynamik gemausert hat: die Textilindustrie generiert fast 20 Milliarden US-Dollar an Exporten, in über 5000 Unternehmen sind vier
Millionen Arbeitsplätze entstanden, vor allem für Frauen, und das hat
in einem grundsätzlich konservativen islamischen Land eine deutliche
Verbesserung der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Rolle der
Frauen bewirkt. Das wird angesichts der Berichterstattung über einzelne skandalöse Verfehlungen bei Bau- und Feuersicherheit oft vergessen.
Einzelne Branchen und Regionen leiden überall auf der Welt unter
diesem Wandel, insgesamt macht er aber alle reicher, wenn man sich
der Herausforderung stellt. Die Integration aufstrebender Volkswirtschaften in die Weltwirtschaft ist daher gerade für Liberale nicht das
Problem, sondern die Neigung vieler Menschen und damit auch vieler
Politiker, in Nullsummenspielen zu denken und die Notwendigkeit des
Wandels und der Reformen zu ignorieren. Das ist gerade in reichen
Gesellschaften eine häufige und gefährliche Versuchung. Hier müssen
Liberale noch stärker dagegen halten. Der zunehmend offene Weltmarkt hat den Wohlstand in der Welt eindeutig vermehrt und den
Liberale Außenpolitik gegenüber Schwellenländern: Chancen und Risiken
193
Schwellenländern ihren rasanten Aufstieg ermöglicht – wie der offene
Weltmarkt des 19. Jahrhunderts dies für Deutschland und Japan getan
hat. Wenn man ihn durch neo-merkantilistische Politik aushöhlt und
die Nationalstaaten wieder anfangen, einen staatlichen Wettlauf zur
jeweiligen nationalen Rohstoffsicherung zu betreiben, wirkt das destabilisierend und konfliktschürend. Das sollte eigentlich eine Lehre aus
dem Ersten Weltkrieg sein. Die Gefahr für den offenen Weltmarkt ist
durchaus real, denn die WTO-Verhandlungen stecken in der Sackgasse, und an deren Stelle tritt ein Wust von bilateralen Freihandelsabkommen, die den Welthandel wieder re-politisieren und verschiedenen
Lobbygruppen mehr Einfluss geben.
Auf dem Feld der internationalen Politik ist die Herausforderung
deutlich größer. Neue aufstrebende Mächte bringen das mühsam austarierte Gleichgewicht durcheinander. Als Außenseiter haben sie relativ
wenig Anhänglichkeit an das existierende internationale Beziehungssystem, wenn sie ihm nicht sogar aktiv misstrauen. Ein Zuwachs an
Macht und Einfluss geht in der Politik auch tatsächlich meist auf Kosten von anderen – hier gibt es in der Tat partiell Nullsummenspiele.
Eine Zunahme der Zahl der Akteure bedingt auch eine Zunahme der
potentiellen Reibungs- und Konfliktpunkte und stellt daher größere
Anforderungen an Kommunikation und Beziehungsmanagement. Das
alles vollzieht sich vor dem Hintergrund, dass die Außenpolitik gerade
in Demokratien den Wählern nicht besonders wichtig ist und daher die
politische Macht fast vollständig von innenpolitischen Faktoren abhängt. Die Versuchung, Außenpolitik daher vorwiegend unter dem
Gesichtspunkt der innenpolitischen Dynamik zu sehen, wächst dabei.
Dieser Trend wird dadurch verstärkt, dass die klassischen Informationsmedien von den Unterhaltungsmedien zurückgedrängt werden und
die Berichterstattung über internationale Beziehungen es dabei am
schwersten hat, Aufmerksamkeit zu finden. Eine vorwiegend innenpolitisch determinierte Außenpolitik hat es aber schwer, Interessen anderer Akteure angemessen zu berücksichtigen. Notwendige Kompromisse, die Kosten und Risiken beinhalten, werden damit politisch schwer
durchsetzbar und kosten politisches Kapital. Politische Belohnung gibt
es dagegen kaum, denn selbst wenn diese Politik außenpolitisch erfolgreich ist, nehmen die Wähler davon nur wenig Notiz. Eine aggressive,
nicht-kooperative Außenpolitik dagegen mobilisiert nationale Emotio-
194
Siegfried Herzog
nen und kann von innenpolitischen Problemen ablenken. Das gilt insbesondere, aber nicht ausschließlich, für autoritäre Regime.
Hier liegt der Grund dafür, dass es keinen echten Konsens über die
angestrebte neue Weltordnung gibt und dass die liberale Vision einer
offenen Weltgesellschaft mit traditionellen Vorstellungen von Großmachtpolitik und mit den pessimistischen bis apokalyptischen Visionen à la Huntington und Kaplan konkurriert. Das gilt für Schwellenländer wie für Industrieländer.
Glaubwürdigkeitsprobleme der liberalen Vision
Die Vision der offenen Weltgesellschaft wird in vielen Schwellenländern als eine westliche Vision wahrgenommen, die ein gewisses
Glaubwürdigkeitsproblem hat. Da eine ganze Reihe der oben erwähnten existierenden Bausteine nach dem Zweiten Weltkrieg maßgeblich
auf die Initiative der USA zurückgehen, stellt sich aus Sicht der Schwellenländer die Frage, ob es sich dabei nicht um eine schön verpackte
Strategie handelt, die Dominanz der USA und Europas festzuschreiben.
Das westliche Bekenntnis zu offenem Wettbewerb stößt nämlich allzu
oft an Grenzen, wenn andere Länder anfangen, erfolgreich zu konkurrieren. Die USA und etliche europäische Länder, insbesondere Frankreich, befällt regelmäßig Panik ob der neuen Konkurrenz aus Asien. In
den 80er Jahren war Japan das Objekt der Furcht, gegenwärtig ist es
China, und regelmäßig werden Rufe nach mehr Protektionismus laut.
Die WTO-Verhandlungen sind auch deshalb festgefahren, weil der
westliche Agrarprotektionismus kaum nachgelassen hat. Dieser ist aus
liberaler Sicht auch ein anhaltender und durch nichts zu rechtfertigender Skandal. Neue Themen wie Sozial- und Umweltstandards werden
ebenso als verkappter Protektionismus wahrgenommen. Viele Schwellenländer fragen auch durchaus zu Recht, ob zur offenen Weltgesellschaft nicht auch offenere Migrationspolitiken in den reichen Ländern
gehören müssten. Damit tun sich wiederum die Industrieländer
schwer.
Globalisierung und freier Welthandel haben sich zwar unbestreitbar als Wachstumsmotoren erwiesen. Das bedeutet aber nicht, dass
das tatsächlich auf der emotionalen Ebene verinnerlicht worden ist.
Wenn schon entwickelte Industrieländer wie die USA und Frankreich
immer wieder heftige politische Reaktionen gegen freien Handel an
Liberale Außenpolitik gegenüber Schwellenländern: Chancen und Risiken
195
den Tag legen, dann dürfen uns ähnliche Reaktionen in Schwellenländern nicht verwundern. Zu deren historischem Gedächtnis gehört, dass
der Kolonialismus von Handelsinteressen initiiert wurde, etwa von der
British East India Company, die Indien erobert hat und sich in China
in großem Stil als Drogenhändler betätigt hat. Die daraus resultierenden Opiumkriege sind in China nicht vergessen. Gegen diesen historischen Ballast muss jeder ankämpfen, der für freien Welthandel wirbt.
Ein weiterer Aspekt ist die grundlegende Motivation für außenpolitisches Handeln. Für die westlichen Industrieländer sind die beiden
Weltkriege eine Hauptquelle der historischen Inspiration für eine offene Weltgesellschaft, die die nationalistischen Exzesse der Vergangenheit verhindern soll. Für viele Schwellenländer dagegen sind die Weltkriege weit weniger Teil der historischen Erinnerung – oder sie sind es
in anderer Bedeutung. Dagegen spielt der Kolonialismus eine große
Rolle, die Erinnerung an Fremdherrschaft, an den darin institutionalisierten Rassismus. Der Versuch der europäischen Mächte, den Kolonialismus nach dem Zweiten Weltkrieg wiederzubeleben, hat dabei extrem viel Schaden angerichtet. Das betrifft auch die USA, die dies,
wenn auch mit Bauchschmerzen, zugelassen und teilweise sogar logistisch unterstützt haben. Im Kalten Krieg und auch danach haben die
Industrieländer ihre Unterstützung allzu oft am politischen Wohlverhalten des jeweiligen Landes ausgerichtet und nicht an seiner inneren
Verfasstheit. Ägypten mag als aktuelles Beispiel dienen: Präsident Mubarak musste sich nicht annähernd so viel Kritik aus dem Ausland
anhören wie der aktuelle frei gewählte Präsident Mursi.
Das alles macht viele Schwellenländer zu begeisterten Nationalstaaten, und jede Einschränkung der nationalen Souveränität wird mit
großem Misstrauen betrachtet. Das gilt umso mehr, als viele Schwellenländer sich noch nicht als gefestigte Nationalstaaten begreifen und
mit vielerlei Problemen der staatlichen Integration und der Entwicklung von stabilen und effektiven Institutionen ringen. Sie befürchten
daher, für intensiveren Wettbewerb und für die dabei notwendigen
Anpassungsprozesse institutionell nicht gerüstet zu sein. Etliche
Schwellenländer haben ungelöste innere Konflikte, die teilweise gewaltsam ausgetragen werden, wobei die Menschenrechte oft auf der
Strecke bleiben. Internationale Menschenrechtspolitik wird daher von
vielen Schwellenländern als gefährliche Einmischung in sensible Konflikte gesehen. Ähnliches gilt für Demokratieförderung: Hier befürch-
196
Siegfried Herzog
ten viele Eliten in den Schwellenländern, dass die Industrieländer Einfluss auf ihre innenpolitischen Prozesse nehmen wollen. Da die eigene
politische Integration noch unvollständig ist und viele Akteure und
Institutionen noch schwach und korruptionsanfällig sind, befürchtet
man, dass ausländische Einflüsse wirkmächtig und unkontrollierbar
werden könnten. Das führt zu heftigen und oft paranoiden Reaktionen: Russlands Restriktionen gegenüber ausländischen Organisationen
sind dabei ein aktuelles Beispiel.
Nicht alle diese Befürchtungen können als Paranoia von etablierten Eliten, die um ihre Macht fürchten, abgetan werden. Der Transformationsprozess von elitendominierten Gesellschaften mit beschränktem Zugang zu gesellschaftlicher, wirtschaftlicher und politischer Teilhabe hin zu Gesellschaften mit offenem Zugang ist riskant
und schwierig, wie der Vater der Institutionenökonomie, Douglass
North, eindrucksvoll herausgearbeitet hat.7 Traditionell sind die meisten menschlichen Gesellschaften von kleinen Eliten regiert worden,
und das Hauptinstrument waren Netzwerke von persönlicher Loyalität, angefangen bei Familienloyalität. Eine offene Gesellschaft ersetzt
diese persönlichen Netzwerke durch regelgebundene und weitgehend
offene, d. h. aber auch anonyme, Zusammenarbeit. Das birgt die Gefahr von extremen Konflikten, wenn etwa das alte Netzwerksystem
sich auflöst, bevor ein glaubwürdiges regelgebundenes System es ersetzen kann. Es gibt dafür keine Blaupause, nur wenige Länder haben
diesen Übergang geschafft, und die Gefahr, dass dieser Transformationsprozess die Gesellschaft destabilisiert und zu gewaltsamen Konflikten führt, ist real.
Was ist zu tun?
Angesichts der o. g. Risiken und Wahrnehmungsdifferenzen bleibt
das Werben für die liberale Vision der offenen Weltgesellschaft die
wichtigste Kernaufgabe – nach innen wie nach außen. Wenn wir diese
Vision ernst nehmen, müssen sich nämlich Industrieländer wie Schwellenländer verändern. Eine liberale Außenpolitik gegenüber Schwellenländern kommt nicht ohne innenpolitische Unterfütterung zustande.
--------------------------------------------
7 North, Douglass/Weingast, Barry R./Wallis, John Joseph: Violence and Social Orders: A Conceptual Framework for Interpreting Recorded Human History; Cambridge
Mass. 2009.
Liberale Außenpolitik gegenüber Schwellenländern: Chancen und Risiken
197
Sonst würden die Schwellenländer zu Recht vermuten, hier sollten nur
sie überredet werden, den vom Westen dekretierten Status quo unverändert zu übernehmen.
Das Werben für die offene Weltgesellschaft kann auch nicht auf
Regierungshandeln begrenzt werden. Nötig ist, dass sich die Gesellschaften auf allen Ebenen stärker austauschen: Zivilgesellschaft, Wissenschaft, Wirtschaft, Politik und Staat. Das hat die Bundesregierung
in ihrem Konzept zur Zusammenarbeit mit neuen Gestaltungsmächten
auch zu Recht betont.8 Was vermutlich noch stärker geschehen muss,
ist ein Dialog mit den Eliten in den Schwellenländern darüber, wie
notwendig dieser Austausch für die Gestaltung der globalen Welt ist.
Die von Schwellenländern wahrgenommenen Risiken der politischen
Beeinflussung müssen dabei zwar ernst genommen werden, aber der
o. g. große Nutzen, der für beide Seiten in einem intensiveren Austausch liegt, muss noch stärker kommuniziert werden. Dazu gehört
auch, in den Schwellenländern mehr Verständnis dafür zu wecken, wie
wichtig eine breite Palette von Akteuren und Instrumenten ist, die
staatliches Handeln unterstützen oder ergänzen, bisweilen auch kritisieren. Wenn Schwellenländer einen respektierten Platz auf dem internationalen Parkett haben wollen – und es ist in unserem Interesse, dass
sie das tun – dann müssen sie auch die Instrumente dafür schaffen, von
größeren diplomatischen Diensten über professionelle Think Tanks,
Handelskammern und autonome Universitäten bis zu NGOs, die diesen Prozess gestalten können. Es ist in der Tat auf die Dauer nicht
gesund, wenn die Zivilgesellschaft eines Landes zu einem beachtlichen
Teil vom Ausland mitfinanziert wird. Anstatt dies zu unterbinden,
sollten die Schwellenländer aber deutlich mehr dafür tun, die geeigneten Rahmenbedingungen und Anreize zu schaffen, dass diese wichtigen
Akteure in Zukunft stärker aus der eigenen Gesellschaft heraus finanziert werden, sei es durch staatliche Zuwendungen oder Spenden. Eine
professionelle und ausdifferenzierte Zivilgesellschaft, die im internationalen Kontext einen Dialog auf Augenhöhe führen kann, ist eine
Quelle der Stärke und der Sicherheit: Sie kann Anliegen eines Schwellenlandes überzeugend vertreten, Verständnis für die Grenzen und
Probleme des Handelns von Schwellenländern wecken und so auch
dafür sorgen, dass das Handeln von Schwellenländern besser verstan-------------------------------------------8 Vgl. Auswärtiges Amt: Globalisierung gestalten – Partnerschaften ausbauen – Verantwortung teilen. Konzept der Bundesregierung; Berlin 2012.
198
Siegfried Herzog
den wird. Mangelnde Transparenz und Kommunikation sind wichtige
Quellen von Misstrauen und Ängsten, die zu Fehlkalkulationen führen
können. Hier können Schwellenländer noch stärker voneinander lernen: China und Russland sollte zu denken geben, dass der Aufstieg
Indiens mit weit weniger Argwohn betrachtet wird als ihrer. Das liegt
zu einem nicht unwichtigen Teil daran, dass Indien transparenter ist
und dadurch sein Handeln besser verstanden wird.
Das ist auch für ein weiteres Ziel liberaler Außenpolitik bedeutsam, nämlich für das der Demokratieförderung. Wie schon oben erwähnt, ist das ein sensibles Thema, denn der Übergang zu politischer
Einmischung ist fließend. Die Zivilgesellschaft spielt dabei eine Schlüsselrolle. Seit Alexis de Tocqueville wissen wir, dass eine lebendige und
demokratisch strukturierte Zivilgesellschaft das Fundament einer Demokratie bildet. Eine Stärkung der Zivilgesellschaft i. w. S. bedeutet
daher nahezu automatisch auch eine Stärkung der demokratischen
Kräfte. Wenn man sich die unterschiedliche Entwicklung von Bangladesch und Pakistan nach ihrer Trennung 1971 ansieht, fällt auf, dass
die Zivilgesellschaft in Bangladesch ungleich stärker, professioneller
und selbstbewusster ist als in Pakistan – und die Tatsache, dass Bangladesch auch eine wesentlich stabilere – wenn auch in vielem noch
dysfunktionale – Demokratie hat, hängt damit zumindest teilweise
zusammen. Es hat auch in Bangladesch Versuche gegeben, die Zivilgesellschaft klein zu halten, vor allem in der Zeit des Militärdiktators
Ershad. Hier hat eine kluge Politik von Anreizen und sanftem Druck
der internationalen Partner Bangladeschs dazu geführt, dass aus diesen
Versuchen nichts wurde und sich die Zivilgesellschaft entfalten konnte.
Das war im wohlverstandenen wirtschaftlichen und sozialen Interesse
Bangladeschs, denn Grameen Bank, BRAC und all die anderen Organisationen trugen und tragen zur Lösung von sozialen und wirtschaftlichen Problemen bei. Eine kluge liberale Außenpolitik muss demzufolge Demokratieförderung so betreiben, dass der Nutzen für das
Partnerland auf sozialen und wirtschaftlichen Gebieten deutlich wird.
Noch sensibler wird es im Bereich der Menschenrechte. Einerseits
gibt es für die Menschenrechtspolitik eine völkerrechtliche Grundlage
in der UN-Charta, auf die alle Mitgliedsländer verpflichtet sind. Andererseits wird das Menschenrechtsthema von den meisten Schwellenländern mit großem Argwohn verfolgt, weil hier oft sensible Sicherheits- und Machtinteressen berührt werden. Die Frage ist dann für
Liberale Außenpolitik gegenüber Schwellenländern: Chancen und Risiken
199
liberale Außenpolitik, wie viel Konfrontation und wie viel Kooperation eingesetzt werden soll. Zu grobem Unrecht dürfen Liberale nicht
schweigen, ein gewisses Maß an Kritik und damit Konfrontation ist
nötig. Aber gerade Schwellenländer reagieren auf Kritik aus den oben
geschilderten Gründen hochempfindlich und lassen sich angesichts
ihrer politischen und wirtschaftlichen Bedeutung auch kaum unter
Druck setzen. Wenn liberale Außenpolitik tatsächliche Veränderungen
erreichen will, dann muss sie das Thema so angehen, dass der Nutzen
für das Partnerland im Vordergrund steht. Die Sorge um die internationale Reputation ist dabei ein Aspekt, aber noch sinnvoller ist es, bei
den Institutionen der Rechtsstaatlichkeit anzusetzen. Unabhängige
Gerichte und eine neutral funktionierende Polizei sind für die wirtschaftliche und soziale Entwicklung eines Landes von zentraler Bedeutung. Wenn man dort ansetzt, kann man eher erreichen, dass ein Reformprozess in Gang kommt. Die Erfahrung aus vielen Ländern lehrt,
dass eine Stärkung und Professionalisierung des Justizwesens auch
dazu führt, dass Menschenrechtsverletzungen stärker geahndet werden. Auch wenn das manchmal bedeutet, dass man Missstände nicht
so klar anprangert, wie man es gern tun würde, so ist das doch der
nachhaltigere Weg: Menschenrechte werden geschützt, wenn die Gesellschaft aus sich heraus die Institutionen schafft und die Normen
verändert, die Menschenrechtsverletzungen eindämmen. Liberale Außenpolitik sollte daher auch im Dialog mit Vertretern der Wirtschaft
darauf hinweisen, dass Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte zwei
Seiten derselben Medaille sind und dass sich die Wirtschaft institutionell und individuell aus wohlverstandenem Eigeninteresse mehr dafür
einsetzen sollte. Die meisten Unternehmer und auch wohlhabende
Fachkräfte in Schwellenländern scheuen davor zurück, die eigene Zivilgesellschaft in Menschenrechtsfragen durch Spenden zu unterstützen. Deshalb stützen sie sich oft in hohem Maße auf ausländische Unterstützung, was sie politisch delegitimieren kann.
Ein weiterer wichtiger Aspekt einer liberalen Außenpolitik gegenüber Schwellenländern ist eine offenere Behandlung des Themas Migration. Die Vision einer offenen Weltgesellschaft ist nicht denkbar
ohne offenere Grenzen. Es muss daher ein Ziel liberaler Außenpolitik
sein, auf beiden Seiten Visabestimmungen zu vereinfachen, Reisemöglichkeiten zu erweitern sowie Migration zu erleichtern. Migration hat
wie Handel positive wirtschaftliche Folgen für beide Seiten, sie schafft
200
Siegfried Herzog
tragfähige Brücken zwischen Gesellschaften und kann Entwicklung
beflügeln. Dabei geht es nicht nur um Heimüberweisungen, so wichtig
diese für einzelne Länder sind. China und Indien haben beispielsweise
in ihrer Wachstumsdynamik sehr stark von ihrer Diaspora profitiert,
die Wissen und Kapital eingebracht hat und eine Brücke zum Weltmarkt bildete. Die deutsche Wirtschaft stellt fest, dass die restriktive
Einwanderungspolitik ab den 70ern dazu geführt hat, dass die wirtschaftlichen Eliten der Schwellenländer seither in die USA oder nach
Australien zum Studium gegangen sind und unserer Wirtschaft diese
persönlichen Partnernetzwerke fehlen. Das wird langsam korrigiert,
aber da bleibt noch viel zu tun. Angesichts des historischen Erbes des
westlichen Kolonialismus und Rassismus ist das ein Thema, das für
Menschen in den Schwellenländern extrem hohen Symbolcharakter
hat: Nehmt ihr uns auf Augenhöhe wahr, seid ihr bereit, mit uns
gleichberechtigt zusammenzuleben, respektiert ihr uns? Wir müssen
nach innen viel stärker vermitteln, wie viel Schaden demütigende Visaprozeduren ausgerechnet bei denen anrichten, die besonderes Interesse an unserem Land haben und unsere natürlichen Brückenbauer
sind. Dagegen wiegt die Verhinderung der einen oder anderen Scheinehe oder des einen oder anderen Migranten, der ein Touristenvisum
zur Übersiedlung nutzt, viel geringer.
Zur liberalen Außenpolitik gehört natürlich auch das Eintreten für
einen offenen Weltmarkt. Die Welthandelsorganisation ist eine große
Errungenschaft. Es muss jeden Liberalen bedrücken, dass der Prozess
der Handelsliberalisierung im Rahmen der WTO stockt. Liberale Außenpolitik sollte stärker auf Zugeständnisse der Industrieländer in
Bereichen wie Landwirtschaft und Dienstleistungen dringenLiberale
wissen, wie verwerflich der Agrarprotektionismus ist, der eine kleine
Gruppe von Landwirten und Agrarfabriken in reichen Ländern auf
Kosten der Konsumenten in reichen Ländern und der Produzenten in
ärmeren Ländern privilegiert. Für Liberale ist das politisch weniger
schwierig – Liberale stehen für die Überzeugung, dass selbst einseitige
Handelsliberalisierungen für beide Seiten Vorteile bringen Hier sollten
Liberale dem neo-merkantilistischen Duktus der Handelspolitik stärker widerstehen, die wie zu Zeiten Colberts so tut, als ob Exporte gut
und Importe böse seien, und von gegenseitigen Zugeständnissen redet,
als ob es sich um ein Nullsummenspiel handele.
Liberale Außenpolitik gegenüber Schwellenländern: Chancen und Risiken
201
Dazu muss stärkerer Widerstand gegen die Aufnahme handelsfremder Themen wie Umwelt- und Sozialstandards kommen. Wenn
man versucht, alle Probleme der Welt mit Hilfe der Handelspolitik zu
lösen, wird man scheitern. Leider sind alle möglichen Lobbygruppen
verständlicherweise versucht, den Hebel der Handelspolitik für ihre
Zwecke zu nutzen. Es gibt zwar bereits verschiedene internationale
Mechanismen für Umwelt- und Sozialfragen und auch Organisationen
wie die ILO, aber dort sind die Prozesse mühsam und langwierig, und
man hat keine Druckmittel in der Hand. Die bietet die Handelspolitik,
und deshalb ist sie so populär. Es wird aber regelmäßig unterschätzt,
wie viel Schaden das gerade bei den Schwellenländern anrichtet. Sie
sehen darin eine verkappte Form des Protektionismus und eine unzulässige Erpressung in Fragen, die nichts mit dem offenen Handel zu tun
haben. Das sollten wir ernster nehmen. So schmerzhaft das für viele
Idealisten sein mag: Die Handelspolitik bietet keine Abkürzung für die
Lösung von Umwelt- und Sozialproblemen in Schwellenländern. Wenn
man ihnen den Marktzugang verwehrt, schwächt man die Wachstumsdynamik und damit auch die gesellschaftliche Dynamik, die davon induziert wird und die letztendlich nötig ist, um Umwelt- und
Sozialprobleme zu lösen. Es ist empirisch eindeutig, dass Gesellschaften Umwelt- und Sozialprobleme desto energischer angehen, je wohlhabender sie sind. Es gibt dagegen kein Beispiel eines Landes in der
Geschichte, das erst seine Umwelt- und Sozialprobleme gelöst hat,
bevor es mit der Industrialisierung begonnen hat.
Ein weiterer Streitpunkt mit Schwellenländern ist die Frage des
geistigen Eigentums. Auch hier vermuten viele Schwellenländer, dass
dieses Thema dazu benutzt wird, den etablierten Ländern einen dauerhaften Wettbewerbsvorteil zu sichern. Auch hier sollte liberale Außenpolitik diese Bedenken ernst nehmen. Geistiges Eigentum ist etwas
fundamental anderes als Eigentum an Grund und Boden oder Gegenständen. Letzteres kann nicht gleichzeitig mehreren Nutzern zur Verfügung stehen. Die Definition von Eigentumsrechten und der dadurch
mögliche Handel lösen das Allokationsproblem, d. h., es stellt sicher,
dass Land oder Gegenstände von dem genutzt werden, der am meisten
dafür bezahlt, d. h. der es am effizientesten einsetzen kann. Dieses
Allokationsproblem stellt sich bei geistigem Eigentum nicht, das kann
parallel von unbegrenzt vielen genutzt werden. Der Schutz des geistigen Eigentums schafft ein künstliches temporäres Monopol, und das
202
Siegfried Herzog
ist ein notwendiges Übel, um die Investitionen in Forschung und Entwicklung zu finanzieren. Firmen sind aber – verständlicherweise –
versucht, dieses Monopol auszudehnen und dadurch so lange wie
möglich Monopolprofite zu verdienen. Das ist aus marktwirtschaftlicher Sicht problematisch, von den ethischen Problemen insbesondere
im Falle von Medikamenten ganz zu schweigen. Dazu kommt, dass
dies den technischen Fortschritt behindern kann, insbesondere in
Schwellenländern, die aufholen, indem sie existierende Technologien
übernehmen. Das war seit Beginn der Industrialisierung so: Die Briten
ärgerten sich im 19 Jh. über deutsche Imitate, später ärgerten sich die
Deutschen über japanische, dann die Japaner über koreanische oder
chinesische, und keinem hat es auf Dauer geschadet, im Gegenteil:
Diese Chance, bereits Entwickeltes zu übernehmen und zu adaptieren,
ist mit dafür verantwortlich, dass wirtschaftlicher Fortschritt sich in
den heutigen Schwellenländern so viel schneller entfaltet als früher.
Deshalb ist die zunehmende Instrumentalisierung des Patentrechts zur
Sicherung dauerhafter Monopolprofite ein hochproblematischer
Trend. Liberale sollten sich hier innen- und außenpolitisch stärker
gegen diese Monopolpolitik stellen und den Patentschutz auf das Nötige begrenzen, anstatt ihn immer mehr auszudehnen.
Zu guter Letzt muss liberale Außenpolitik gegenüber Schwellenländern weiterhin differenziert ausfallen. Der Schwellenländerbegriff
ist auf einer abstrakten Makroebene sinnvoll, wenn es darum geht, die
Transformationsprozesse von Gesellschaften und die Verschiebung der
politischen und wirtschaftlichen Gewichte in der Welt zu verstehen.
Die Schwellenländer sind aber weit davon entfernt, eine homogene
Gruppe zu sein oder sich so zu begreifen. Die BRICS-Treffen illustrieren sehr gut, wie groß die Unterschiede zwischen den Ländern sind
und wie wenig Ansatzpunkte für gemeinsames Handeln existieren. In
der Handelspolitik haben Brasilien und Südafrika als Nahrungsmittelexporteure andere Ziele als Indien, bei der Frage der Reform des Sicherheitsrates würde eine Aufnahme Brasiliens und Indiens automatisch die derzeit privilegierte Stellung von China und Russland schwächen, in sicherheitspolitischen Fragen haben Brasilien und Südafrika
mit ihrer eher ruhigen Nachbarschaft wenig Kopfschmerzen, während
China mit Indien und ASEAN teilweise ernsthaft über Kreuz liegt. In
den meisten konkreten Politikfeldern muss liberale Außenpolitik weiterhin länder- oder regionalspezifische Konzepte entwickeln. Die oben
Liberale Außenpolitik gegenüber Schwellenländern: Chancen und Risiken
203
ausgeführten Überlegungen stellen dafür einige grundsätzliche Prinzipien und Politikansätze zur Verfügung, aber sie können nicht alles
abdecken und müssen individuell konkretisiert werden.
Ein kleines Fazit
Die Beschäftigung mit dem Thema Schwellenländer sollte bei uns
den Blick dafür schärfen, dass wir es mit Veränderungen von historischer Dimension zu tun haben, die auch von uns gravierende Veränderungen verlangen. Die Schwellenländer werden nicht einfach alles
übernehmen, was wir für gut und richtig halten, und unser Wohlstand
bedeutet nicht, daß wir keine Anpassungen und keine Reformen mehr
anzupacken brauchen. Das Gegenteil ist der Fall. Wir sollten uns
klarmachen, dass diese Veränderungen für alle Beteiligten Risiken
bergen und dass sie vor allem ein beachtliches Maß an Ängsten hervorrufen. Die politischen Herausforderungen werden bisweilen unterschätzt. Des Weiteren müssen wir unsere eigene Sicht auf die Welt
hinterfragen und akzeptieren, dass sich die Welt von Brasilia, New
Delhi, Bejing oder Jakarta aus gesehen manchmal etwas anders darstellt. Die Welt bleibt kompliziert, und die internationale Politik wird
nicht deutlich einfacher werden. Wir müssen die politische Energie
mobilisieren, diese Veränderungen zu begreifen und zu gestalten. Die
größte Gefahr droht von Seiten politischer Kurzsichtigkeit und von
nationalem Denken, das die globale Dimension ignoriert. Die Chancen, die sich uns bieten, sind aber auch immens – die Welt in eine
Richtung zu bewegen, in der Gewalt weiter eingehegt wird und die
Kooperation zu gegenseitigem Nutzen zunimmt, in der unsere letztlich
künstlichen Grenzen mehr von ihrem trennenden Charakter verlieren.
Darum geht es. Zu diesem Ziel gibt es keinen Automatismus, und es
gibt genügend Gegenkräfte, die uns zeitweilig oder dauerhaft aus der
Bahn werfen können – auch das lehrt uns die Weltgeschichte. Wir
müssen schon etwas für diese Vision tun. Der wichtigste Schritt ist, mit
den Schwellenländern daraus eine gemeinsame Vision zu machen.
Arabischer Frühling: Die neuen Akteure des politischen Islam
205
Christian Wolff
Arabischer Frühling:
Die neuen Akteure des politischen Islam und
die außenpolitischen Prämissen des Westens
Einleitung
Der so genannte Arabische Frühling 2011 hat das außenpolitische
Handeln der westlichen Welt gegenüber den Staaten des Nahen Ostens
vor neue Aufgaben gestellt. Nicht nur sind frühere Verhandlungspartner weggefallen, sondern es sind auch neue Akteure auf die politischen
Bühnen der arabischen Staaten getreten, die lange Zeit noch als Gegner westlicher Politik betrachtet wurden. Mit den Muslimbrüdern in
Ägypten hat es eine Organisation an die Spitze des Staates geschafft,
die seit ihrer Gründung 1928 regelmäßiger Unterdrückung und Repression ausgesetzt war und deren Bild in der westlichen Öffentlichkeit
stark durch Stereotypisierungen und Vorurteile geprägt war. Dabei
stand auch liberale Außenpolitik lange Zeit vor einem ideologischen
Dilemma. Zwar wurde einerseits die Förderung rechtsstaatlicher, zivilgesellschaftlicher und demokratischer Strukturen in Ägypten und den
anderen Staaten des Nahen Ostens als Notwendigkeit einer modernen
Staatenwelt betrachtet. So wurden jedoch die meist autoritären Herrscher in diesen Ländern trotz der Kenntnis über teils offensichtliche
Wahlrechts- und Menschenrechtsverstöße toleriert und als verlässliche
Verhandlungspartner akzeptiert. Dies lag sicherlich zum einen an der
seit der iranischen Revolution von 1979/80 viel diskutierten Gefahr,
die vermeintlich von islamistischen politischen Bewegungen für moderne Staatlichkeit ausging. Das Menetekel der iranischen Theokratie
stand an der Wand und wurde zugespitzt als Ausdruck des repressiven
Charakters sowie der Rückständigkeit islamischer Staatsideen beispielhaft benannt. Zum anderen galten die Bewegungen des politischen
Islam als natürliche Feinde eines erfolgreichen Friedensprozesses im
Nahen Osten sowie als Gefahr für die territoriale Integrität Israels.
206
Christian Wolff
Hier wurde und wird häufig auf die Ermordung des ägyptischen Präsidenten Sadat verwiesen, der – so wird oftmals zugespitzt formuliert –
für die Verhandlung des Friedensvertrages mit Israel sein Leben lassen
musste. Liberale Außenpolitik befand und befindet sich also in einem
Dilemma zwischen der Förderung rechtsstaatlicher Grundsätze, liberaler Vorstellungen des Staatsbürgers und der Ideen gerechter Wohlstandsverteilung auf der einen sowie der Tolerierung autoritärer, oft
dynastischer und immer repressiver Herrschaft auf der anderen Seite.
Betrachtet man die Politik des Westens gegenüber arabischen Staaten
auf einer Meta-Ebene, so eröffnen sich im Wesentlichen drei Prämissen, die leitend waren.
1. Sicherheit und Stabilität
Unter diesem Punkt lassen sich allgemeine Aspekte der internationalen Sicherheitspolitik wie die Terrorismusbekämpfung ebenso fassen
wie die Garantie der kolonialen staatlichen Grenzen im Nahen Osten.
Letzteres bezieht sich nicht nur, aber durchaus auch auf den israelischen Staat, dessen Existenzrecht besonders von deutscher Seite zu
Recht als unverhandelbar betrachtet wird. Im Rahmen der globalen
Wohlstandsverteilung dürfte aber auch die Sicherheit, beziehungsweise
die Undurchlässigkeit der Grenzen zu Europa, in den letzten Jahrzehnten von immer größerer Bedeutung gewesen sein. So muss sicherlich
die Flüchtlingsproblematik als starker Einfluss westlicher Außenpolitik
gegenüber den Staaten des Nahen Ostens genannt werden. Besonders
die Fähigkeit autoritärer Staatsführungen, Flüchtlinge schnell und
ohne europäische Menschenrechtsstandards noch vor dem Erreichen
europäischen Bodens abzufangen und in ihre Heimatländer zu verbringen, ist sicherlich ein prägender Faktor in der Zusammenarbeit
Europas mit den Mittelmeerländern gewesen. Beispielhaft treten hier
die spanischen Exklaven Ceuta und Melilla in Marokko oder die Arbeit der FRONTEX im Zuge der Ausdehnung des europäischen
Grenzkontrollregimes auf die Maghreb-Staaten hervor.1 Diese Ent-------------------------------------------1
vgl. u. a.: Fischer-Lescano, Andreas/Tohidipur, Timo: Europäisches Grenzkontrollregime. Rechtsrahmen der europäischen Grenzschutzagentur FRONTEX; in: ZaöRV
67/2007, S. 1219-1276; Naceur, Sofian Philip/ Groth, Annette: Expansion der Festung
Europa und Flüchtlingsdrama in Ägypten; in: Telepolis, 6.3.2013: http://www.heise.de/
tp/artikel/38/38643/1.html; zuletzt aufgerufen am 14.3.2013; Parkes, Roderick: Ge-
Arabischer Frühling: Die neuen Akteure des politischen Islam
207
wicklung leitet natürlich in den geopolitischen Bereich der Rohstoffund Wegesicherheit über, der im Falle Ägyptens durch den Suez-Kanal
repräsentiert wird, aber auch durch zahlreiche weitere politische Projekte wie beispielsweise DESERTEC geprägt wird.
2. Wirtschaftliche Entwicklung
Die wirtschaftliche Zusammenarbeit der EU mit den Mittelmeerstaaten ist ebenso wie der sicherheitspolitische Aspekt Teil der euromediterranen Zusammenarbeit. Allerdings, so scheint es, unterliegt
auch dieser außenpolitische Bereich einer gewissen Einseitigkeit zugunsten der EU. Dies zeigt sich beispielhaft an der Etablierung einer
Freihandelszone mit den arabischen Mittelmeerstaaten. Dabei sticht
besonders die Frage der Zollfreiheit für Agrarprodukte in der EU als
Streitpunkt ins Auge. Aufgrund innenpolitischer Sachlagen sehen sich
die meisten EU-Länder noch nicht in der Lage, offensichtlich kompetitive Waren in ein Freihandelsabkommen und somit in den Binnenmarkt der EU einzubinden. Hinzu kommt, dass die wirtschaftlichen
Liberalisierungsforderungen im Zuge der Kreditvergabe durch Weltbank und Weltwährungsfonds oftmals weniger zur Etablierung freier
und fairer Marktbedingungen geführt haben, sondern vielmehr oligarchische Strukturen in den autoritären Regimen beförderten. Dies lag
zum einen an fehlenden politischen Durchsetzungsmitteln der außenpolitischen Akteure und zum anderen an der langfristigen Verankerung neo-patrimonialer Strukturen in den jeweiligen Staaten.2 So empfehlen Demmelhuber und Roll, „[d]ie politische Stärkung der gegenwärtigen [2007, Anm. d. Autors] Herrschaftselite, die sich zu einem
bedeutenden Teil aus am Status Quo orientierten Wirtschaftsoligarchen zusammensetzt […] im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit möglichst zu vermeiden.“3 Die Schwerpunktsetzung liberaler Außenpolitik, die sich prinzipiell an der Förderung von „marktwirtschaftliche[n] Reformen mit einem speziellen Schwerpunkt auf Rechtsstaat-------------------------------------------meinsame Patrouillen an Europas Südflanke – Zur Frage der Kontrolle der afrikanischen
Einwanderung; SWP-Aktuell 44, September 2006.
2 Siehe u. a.: Zahid, Muhammad: The Muslim Brotherhood and Egypt‘s Succession
Crisis; London, 2010; S. 44ff; sowie Demmelhuber, Thomas/Roll, Stephan: Herrschaftssicherung in Ägypten – Zur Rolle von Reformen und Wirtschaftsoligarchen; SWPStudie, Berlin, Juli 2007.
3 Demmelhuber/Roll; 2007, S. 33.
208
Christian Wolff
lichkeit, Entbürokratisierung und Deregulierung“4 ausrichtet, scheint
im Rückblick die Bedingungen der oben genannten Stabilitätsprämisse
nicht erfüllt zu haben.
3. Islamismus
Die dritte Prämisse lehnt sich in ihrer inhaltlichen Ausrichtung eng
an den erstgenannten Punkt „Sicherheit und Stabilität“ an. Spätestens
mit den Terroranschlägen auf das World-Trade-Center von 2001 ist
die Gefahr eines gewaltbereiten Islamismus/Jihadismus eine prägende
Konstante, wenn es um eine politische Betrachtung des Nahen Ostens
geht. Die Tendenz, islamische politische Bewegungen vereinfachend
mit gewaltausübenden Strömungen gleichzusetzen, ist jedoch bereits
vor 2001 latent vorhanden und offenbart sich beispielhaft in der Rezeption des Attentates auf Sadat 19815 oder der Anschläge auf Touristen in Ägypten in der Mitte der 1990er Jahre. So kommt es schließlich
so weit, dass der populäre und vielrezipierte islamistische Ideologe
Sayyid Qutb fälschlicherweise als Führer der Muslimbruderschaft
dargestellt wird.6 Die diffus anmutende Gemengelage gegenüber dem
politischen Islamismus wird durch die Revolution in Iran von 1979
und die Furcht vor einem Export der aus dieser hervorgegangenen
islamischen Staatlichkeit noch verschärft. Die Warnungen vor einer
Expansion der Wilayat-e Faqih Irans in die arabischen Nachbarstaaten
stellen bis in die heutige Zeit eine Konstante besonders in geopolitischen Strategien um den persischen Golf herum dar. Auch das Aufkommen islamistischer Akteure wie Hamas oder Hizbullah im NahostKonflikt und die damit in Verbindung stehenden Selbstmordattentate
--------------------------------------------
4 Doering, Detmar: Wirtschaftsfreiheit in der arabischen Welt: Woran lag es?; Blogbeitrag auf liberalesinstitut.wordpress.com vom 22.11.2012; http://liberalesinstitut.
wordpress.com/2012/11/22/wirtschaftsfreiheit-in-der-arabischen-welt-woran-lag-es/; zuletzt aufgerufen am 14.4.2013.
5 Beispielsweise: „Vordenker des Islamismus“ – WDR Zeitgeschichtliches Archiv vom
29.8.2006; http://www1.wdr.de/themen/archiv/stichtag/stichtag2162.html; zuletzt aufgerufen am 15.4.2013.
6 So wird Qutb sogar als „Gründer der Muslimbruderschaft“ von Necla Kelek in ihrer
Besprechung von Shereen El-Fekis Buch „Sex und die Zitadelle“ in „Die Welt“ vom
6.4.2013 genannt. http://www.welt.de/print/die_welt/literatur/article115057163/
Orientalische-Lust.html; zuletzt aufgerufen am 15.4.2013. Auch in der TAZ wird Qutb
als Führer der Muslimbruderschaft bezeichnet. http://www.taz.de/!106957/; zuletzt
aufgerufen am 15.4.2013.
Arabischer Frühling: Die neuen Akteure des politischen Islam
209
schüren die Angst vor einer Ausdehnung islamischer politischer Ideen.
Außenpolitische Akteure, besonders, wenn sie aus dem liberalen Lager
kommen, haben darüber hinaus naturgemäß eine kritische Einstellung
gegenüber religiösen und/oder fundamentalistischen Bewegungen, die
eine ideologische Sichtweise dogmatisch für alle Bürger einer Gesellschaft als verpflichtende Norm festschreiben wollen. So ist denn auch
die lange Zeit nicht vorhandene Bereitschaft außenpolitischer Akteure
zu verstehen, mit Bewegungen wie der ägyptischen Muslimbruderschaft in direkte Gespräche einzutreten. Folglich kam denn 2005 auch
der Erfolg der Muslimbruderschaft in der ersten Runde der damaligen
Parlamentswahlen durchaus überraschend für westliche Beobachter.
Seit diesen Wahlen galt die Muslimbruderschaft jedoch als offensichtlich am besten organisierte und wohl auch einzige ernstzunehmende
Oppositionskraft im autoritären Ägypten. Der Kairoer Frühling, der
diese Wahlgewinne des politischen Islam erst ermöglichte, entstand
durch den Druck des Auslands, und er verschwand, sobald die außenpolitischen Reaktionen auf die Wahlergebnisse der Muslimbruderschaft in Ägypten sowie der Hamas in Gaza im Ton schärfer und kritischer wurden.7 Der politische Islam wurde seitens europäischer Außenpolitik also indirekt von der Demokratisierungsförderung als dieser
entgegenstehend ausgenommen. Zwar gab es kurz nach dem Sturz
Mubaraks im Februar 2011 eine spürbare inhaltliche Annäherung an
die Muslimbruderschaft seitens der Medien. Spätestens seit der Verabschiedung der derzeitigen ägyptischen Verfassung und den teils äußerst
widersprüchlichen Aussagen Präsident Mursis sind die beschriebenen
Rezeptionsmuster, wenn auch in gemilderter Form, wieder präsent.8
--------------------------------------------
7 siehe u. a. Süddeutsche: „Die ganze Region wird ins Chaos stürzen“; http://www.
sueddeutsche.de/politik/reaktionen-die-ganze-region-wird-ins-chaos-stuerzen-1.915213;
zuletzt aufgerufen am 15.4.2013 oder auch Ritzmann, Alexander: Muslimbrüder zerstören Deutschland von innen; in: Die Welt vom 19.12.2007; http://www.welt.de/
politik/article1474736/Muslimbrueder-zerstoeren-Deutschland-von-innen.html; zuletzt
aufgerufen am 15.4.2013.
8 siehe u. a.: Trager, Eric: Unverwüstliche Muslimbruderschaft – Düstere Aussichten
für ein freies Ägypten und einen friedlichen Nahen Osten; in: Internationale Politik
6/2011, S. 74-82; https://zeitschrift-ip.dgap.org/de/ip-die-zeitschrift/archiv/jahrgang-2011/
november-dezember/unverw%C3%BCstliche-muslimbruderschaft; zuletzt aufgerufen
am 15.4.2013; Medick, Veit: Parlamentswahlen in Ägypten: Messlatte für die Muslimbrüder, 9.11.2005; http://www.spiegel.de/politik/ausland/parlamentswahl-in-aegyptenmesslatte-fuer-die-muslimbrueder-a-383873.html; zuletzt aufgerufen am 15.4.2013.
210
Christian Wolff
Die Rezeption des Islamismus und das „penetrated System“ nach 2011
Das große Problem in der Rezeption der Akteure des politischen
Islam scheint sich auf zwei Punkte zurückführen zu lassen. Erstens ist
dies die Enttäuschung darüber, dass die sichtbare Einigkeit der Ägypter während der #Jan25-Bewegung, die sich in zahlreichen Symbolen
auf dem Tahrir-Platz offenbart hat, offensichtlich nicht von langer
Dauer war. Konfessionelle Differenzen, sexuelle Diskriminierung sowie zunehmende Gewalt im Zuge von Anti-Regierungs-Demonstrationen einer frustrierten Jugend prägen das Bild der Berichterstattung
und zeigen vor allem, dass die Ereignisse vom Frühjahr 2011 die akuten gesellschaftlichen Probleme Ägyptens nur überdeckt und keineswegs gelöst haben. Zweitens ist ein westliches Rezeptionsdilemma
vorhanden. Zwar will man die demokratisch gewählte Regierung –
nicht nur in Ägypten – nicht mit Forderungen unter Druck setzen, weil
man sonst Gefahr läuft, tief verankerte und nicht unbegründete Ängste
vor einer Art kolonialer Einmischung ausländischer Mächte zu reanimieren. Das Rekurrieren auf universalistische Prinzipen liberaler –
westlicher – Gesellschaften wird jedoch in westlichen Medien zunehmend drückender, so dass die Forderung nach Einführung verschiedenster Grund- und Menschenrechtskataloge langfristig nicht bloß
reine Rhetorik bleiben kann. Diese zwei Bedingungen erschweren die
mediale und politische Behandlung der neuen Akteure des politischen
Islam in der arabischen Welt. Der Spagat zwischen unerwünschter
externer Einmischung und menschenrechtlich konditionierter Wirtschafts- und Entwicklungszusammenarbeit prägt westliche und besonders deutsche Außenpolitik in den Ländern des sogenannten Arabischen Frühlings offensichtlich enorm. Die Interdependenzen zwischen
der machtorientierten Interessenpolitik der realistischen und der an der
Handlungslogik sowie der Rollenerwartung orientierten idealistischen
Theorieschule der Außenpolitik offenbaren sich am Umgang mit Akteuren des politischen Islam deutlich. Hier lässt sich die Theorie des
„Penetrated System“ von L. Carl Brown, die auch heute noch Relevanz
hat, einführen. Sie stellt, dezidiert auf den Nahen und Mittleren Osten
zugespitzt, die Region als eine durch externe Mächte in deren Sinne
beeinflusste, jedoch nicht in Gänze durchdrungene dar. Hinzu kommt
mit dem Verweis auf die Spieltheorie, dass es einerseits zu stets wechselnden Koalitionen zwischen den Akteuren kommt. Die Anlässe hierzu wirken sich fast immer – egal, ob sie lokal oder übergeordnet ihren
Arabischer Frühling: Die neuen Akteure des politischen Islam
211
Ursprung haben – auf alle Akteure und alle Ebenen aus. Damit steht in
Verbindung, dass andererseits politische Taktik den Vorzug vor langfristig angelegten Strategien erhält.9
„A penetrated political system is one that is neither effectively absorbed by the outside challenger nor later released from the outsider`s smothering embrace. A penetrated system exists in continuous confrontation with a dominant outside political system.“10
Vor dem Hintergrund dieser Theorie, die die Verquickung von Interessen und Akteuren darstellt, ist auch das Handeln des politischen
Islam zu betrachten.
Die Begriffe moderner Gesellschaften und die Akteure
des politischen Islam
Im Umgang mit den Akteuren des politischen Islam, für die in diesem Artikel exemplarisch die ägyptische Muslimbruderschaft steht,
sind die oben genannten eher realpolitisch orientierten außenpolitischen Prämissen prägend, sowie die Frage, wie sogenannte westliche
oder eben liberale Werte wie Freiheit, Bürger und Staat mit der islamischen Staatsidee dieser Gruppen zu vereinen sind. Zusammenfassend
wird in diesem Kontext oft von der Demokratiekompatibilität gesprochen, die zum Ausdruck bringt, dass westliche Ideale liberaler Gesellschaften einen Bogen spannen von der Etablierung der Rechtsstaatlichkeit, der Bürger- und Menschenrechte bis hin zu individuellen Freiheitsrechten. Die historische Entwicklung dieser Werte im Westen wird
bei dieser Kompatibilitätsfrage meist ebenso hintangestellt, wie diese
Werte häufig idealisiert und besonders in Bezug auf die Menschenrechtskataloge universell normiert behandelt werden.11 Es ist offensichtlich, dass Akteure, deren Vorstellung von Gesellschaft eng mit
religiös begründeten Normen verknüpft ist, nur schwerlich alle idealen
Bedingungen erfüllen können und wollen, um in das Schema westli--------------------------------------------
9 Brown, L. Carl: International Politics and the Middle East – Old Rules, Dangerous
Games; London 1984, S. 16ff.
10 Brown, L. Carl: International Politics and the Middle East – Old Rules, Dangerous
Games; London 1984, S. 5.
11 Taylor, Charles: Why we need a radical redefinition of secularism; in: Butler, Judith … [et al.]: The power of religion in the public sphere; New York 2011, S. 40, 41.
212
Christian Wolff
cher liberaler Demokratien zu passen. Vielmehr zeigt sich, dass individuelle und kollektive Erfahrungen ebenso wie die Auseinandersetzung
mit globalen politischen Gegebenheiten zu indigenen Interpretationen
von Freiheit, Bürger und Staat geführt haben, die nicht in allen, aber
doch in einigen grundlegenden Punkten Gemeinsamkeiten mit denen
westlicher Interpretation aufweisen. Vorab ist es jedoch nötig, die
wesentlichen Kernkonflikte der Muslimbruderschaft darzustellen, um
darauf aufbauend deren Interpretation von Freiheit, Bürger und Staat
zu analysieren. Neben einer kurzen Schilderung der Gründungsbedingungen der Bruderschaft werden die ideologische Debatte nach der
Ermordung Hasan al-Bannas sowie das problematische Verhältnis
zwischen Militär und Muslimbrüdern hier prägend sein. Natürlich ist
die Geschichte der Muslimbruderschaft komplexer, und in der Tiefe
müsste die Rolle der sogenannten Generation der Mitte (Jil al-Wasat),
die in den 1970er Jahren politisch aktiv wurde, noch eingehender dargestellt werden. Da hier jedoch der Fokus auf den wesentlichen Problemen der Ideologie der Muslimbruderschaft liegt, wird auf weiterführende Literatur zur Generation der Mitte sowie auch der Hizb alWasat in der folgenden Fußnote verwiesen.12
Kernkonflikte der Muslimbruderschaft
Die Bedingungen für die Gründung der Muslimbruderschaft durch
Hasan al-Banna 1928 in Ismailiyya waren bestimmt durch den Eindruck der von den Briten kolonial abgesicherten Unabhängigkeit Ägyptens. De jure galten der ägyptische König Fuad I. (1922-1936) und
seine Nachfolger Faruq (1936-1952) sowie Fuad II. (1952-1953) als
Souveräne der ägyptischen Nation, die sich mit der britischen „Declaration to Egypt“ seit 1922 als Königreich und später als konstitutionelle Monarchie verstand. De facto blieben die britischen Besatzungstruppen jedoch weiterhin besonders um die Suezkanalzone im Lande
und erhielten im Falle einer Bündnisverpflichtung weitreichende strategische Einflussrechte auf die Infrastruktur und die Außenpolitik
Ägyptens. Die Politik dieser 1920er Jahre, die oftmals auch als liberale
--------------------------------------------
12 Ghobashy, Mona el: The Metamorphosis of the Egyptian Muslim Brothers; in
IJMES, 3/2005, S. 373 – 395; Browers, Michaelle, L.: Political Ideology in the Arab
World – Accommodation and Transformation; Cambridge 2009; Dufner, Ulrike: Islam
ist nicht gleich Islam; Leverkusen 2001; Rutherford, Bruce K.: Egypt after Mubarak;
Princeton 2008.
Arabischer Frühling: Die neuen Akteure des politischen Islam
213
Periode bezeichnet werden, zeichnete sich durch stetig wechselnde
Koalitionen der parlamentarischen Parteien sowie eine zunehmende
Korrumpierbarkeit der handelnden Politiker aus.13 Die Parteien jener
Zeit waren meist durch Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens und
entsprechende klientelistische Verbindungen geprägt.14 Die Einflüsse
rein westlich orientierter Lebensstile, ausgehend von einer elitären
Bevölkerungsschicht in Kairo, die sich an die ehemaligen Kolonialvertreter anlehnte, wirkten in die ländlichen Gebiete ein und äußerten sich
auch in einer zunehmenden Verarmung der bäuerlichen Bevölkerung,
die unter teils feudalen Bedingungen lebte, gefolgt von einem ansteigenden Migrationsdruck auf die Großstädte.15 Hinzu kam, dass die
Wirtschaft insgesamt zum einen noch immer durch britische beziehungsweise europäische Geldgeber kontrolliert wurde und zum anderen wenig soziale Wohlfahrt seitens des Staates garantieren konnte.
Die Religion als eines von drei Elementen, die Taha Hussein der ägyptischen Kultur zugeschrieben hat, wurde gerade in den urbanen Zentren zu einer eher machtlegitimierenden denn die Lebensumstände normativ durchdringenden Konstante.16 In diesem gesellschaftlichen Kontext entsteht die Muslimbruderschaft aus dem Anspruch al-Bannas
heraus, eine religiöse Bewegung zu begründen, die sich nicht, wie viele
bereits vorhandene Gruppierungen, nur auf die religiöse Ertüchtigung
ihrer Mitglieder beschränkt, sondern eine aktive Rolle bei der Umgestaltung der vorherrschenden gesellschaftlichen Lebensformen einnimmt. Dies bedeutet schon von Beginn an, dass der Fokus der Muslimbruderschaft auf politische Partizipation gelegt wird.17 Die Muslimbruderschaft sieht al-Banna als Ausdruck einer umfassenden islamischen Lebenswirklichkeit, die, im Sinne Mohammad Abduhs und weiterer islamischer Reformtheologen, die ägyptische Nation zurückfüh--------------------------------------------
13 u. a.: Hourani, Albert: Arabic Thought in the Liberal Age – 1798 – 1939; Cambridge 1983.
14 Vatikiotis, P. J.: The History of Egypt – From Muhammad Ali to Mubarak; Baltimore 1985, S. 272ff.
15 Schulze, Reinhard: Geschichte der islamischen Welt im 20. Jahrhundert; 2. Aufl.,
München 2003, S. 123ff.
16 Hourani, Albert: Die Geschichte der arabischen Völker; Frankfurt am Main 1992;
S. 414ff.
17 Zur historischen Genese der Muslimbruderschaft siehe besonders: Mitchell, Richard P.: The Society of the Muslim Brothers; New York 1993; Lia, Brynjar: The Society
of the Muslim Brothers in Egypt – The Rise of an Islamic Mass Movement 1928 – 1942;
Ithaca/New York 1999; Krämer, Gudrun: Hasan al-Banna; London 2010.
214
Christian Wolff
ren soll zu ihrer durch westliche Lebensweisen überdeckten Identität.
Dabei darf dies nicht als Rückschritt oder gar als generelle Ablehnung
moderner Gesellschaftsformen und Verhaltensweisen betrachtet werden, sondern vielmehr als Suche nach der eigenen Identität im Kontext
einer westlich dominierten Moderne. Diese Identität wird religiös
durch den Islam, national durch die ägyptische Zivilisation und kulturell durch eine Verbindung von arabischen sowie ägyptischen Merkmalen definiert.18 Die Muslimbruderschaft lehnt sich in ihrer Gründungsphase sowie in ihrer organisatorischen Strukturierung also an
mehrere historische Bedingungen der 1920er Jahre an. Zum einen fasst
sie sich – bis heute – als in sich geschlossene Bewegung auf, die verschiedene Initiationsstufen ihrer Mitglieder kennt. Die Mitglieder werden geworben und können sich im Regelfall – anders verhält es sich
bei der 2011 gegründeten Partei Freiheit und Gerechtigkeit (FJP) –
nicht selbst aktiv um eine Mitgliedschaft bewerben. Es handelt sich um
eine bruderschaftliche Struktur, die auf einen internen ideologischen
Zusammenhalt abzielt. Zum anderen wurden die Mitglieder der Bruderschaft zum Teil in Gruppen organisiert, die der europäischen Pfadfinderbewegung stark ähnelten.19 Der umfassende Begriff vom Islam
als Einstellung zum Leben drückte sich darüber hinaus in einem sportlichen, spirituellen und religiösen Lehrplan aus, der das einzelne Mitglied zum Missionar der Sache der Bruderschaft machen sollte. Diese
Missionierung sollte kreisförmig vom Individuum ausgehend auf die
engere und weitere Familienebene, über die Nachbarschaft und das
gesellschaftliche Umfeld am Ende auf die ägyptische Nation wirken
und dezidiert durch vorbildhaftes Verhalten und Überzeugungsarbeit
ausgeübt werden. Das Narrativ der Befreiung von Fremdherrschaft
drückte sich in diesem Zusammenhang in zwei wesentlichen Komponenten aus. Erstens war dies die Befreiung von der westlichen physischen und kulturellen Durchdringung Ägyptens und der arabischen
Welt, die durch die am Suezkanal stationierten britischen Streitkräfte
ebenso wie durch westliche Konsumgüter und Lebensstile besonders in
den Großstädten sichtbar wurde. Zweitens ging es jedoch auch um die
Überwindung der als korrupt empfundenen Parteienlandschaft des
Ägyptens der 1920er und 1930er Jahre sowie um die Abgrenzung zur
Rolle der islamischen Gelehrten (Ulama) der Azhar, welche durch
-------------------------------------------18
19
Lia, 1999, S. 80.
Lia, 1998, S. 174.
Arabischer Frühling: Die neuen Akteure des politischen Islam
215
ihren relativen politischen Quietismus als Teil der innerislamischen
Urheber für die offensichtliche Rückständigkeit der islamischen Welt
betrachtet wurden.20 Um die Befreiung von Fremdherrschaft voranzutreiben, hatte die Muslimbruderschaft einen geheimen beziehungsweise
militärischen Apparat (Jihaz al-Sirri) etabliert, der in Guerilla-Aktionen gegen die britischen Soldaten und im Krieg mit Israel eingesetzt
wurde. Kurz vor der Ermordung Hasan al-Bannas 1949 wurden Mitglieder des geheimen Apparates auch mit der Ermordung des Premierministers Al-Nuqrashi 1948 in Verbindung gebracht. Dieser wollte die
Bruderschaft gesetzlich verbieten lassen.
Führungskrise und ideologische Ausdifferenzierung
Um den geheimen Apparat entspann sich in den Jahren nach alBannas Tod schließlich der wohl prägendste Konflikt der Muslimbruderschaft, der seinen Ursprung zum einen in der Wahl dessen Nachfolgers Hasan al-Hudaybi sowie zum anderen in den Ereignissen der
Jahre 1952-54 hatte. Wurde al-Banna als charismatischer, beinahe
unwidersprochener Führer gesehen, der die verschiedensten ideologischen Strömungen, die mit dem bewaffneten, dem politisch-moderaten
und dem religiös-missionierenden Arm der inzwischen zur Massenorganisation gewachsenen Muslimbruderschaft jeweils in Verbindung
standen, auf sich vereinen konnte, so versuchten nach dessen Ermordung Hardliner und Moderate, einen je passenden eigenen Kandidaten
durchzusetzen. Mit Hasan al-Hudaybi wurde jedoch eine Art Kompromisskandidat, der als relativ durchsetzungsschwach eingeschätzt
wurde, neuer Führer der Bruderschaft. Ziel war es, mit dem langjährigen Richter al-Hudaybi ein seriöses Gesicht nach außen zu präsentieren und den ideologischen Konflikt intern unter Umgehung alHudaybis auszutragen.21 Al-Hudaybi trat jedoch als vehementer Verfechter einer gewaltlosen Politik der Bruderschaft auf und suchte den
offenen Konflikt mit den Vertretern des geheimen Apparates. Ideologisch spitzte sich die Situation zu, als nach den Massenverhaftungen
von Muslimbrüdern ab 1954 die Führungsspitze der Bruderschaft
inhaftiert und teils zu lebenslänglichen Strafen oder gar zur Hinrich-------------------------------------------20
21
Vatikiotis, 1985; S. 271ff sowie besonders ab S. 296ff.
Mitchell, 1993, S. 87.
216
Christian Wolff
tung verurteilt wurde.22 In dieser Phase schrieb Sayyid Qutb, der ehemalige Schriftleiter der Muslimbruderschaft, sein ideologisches Werk
„Milestones“ (Ma‘alim fi-t-tariq), welches unter anderem das Konzept
des Takfir (Jemanden-für-ungläubig-Sprechen; Exkommunikation), die
Theorie der Jahiliyya23 sowie die Idee elitärer Gruppen zur Durchsetzung eines utopisch-idealisierten islamischen Staates frei von menschlicher Herrschaft beinhaltet und als Mittel im Kampf gegen moralisch
korrumpierte Regierungen rechtfertigt.24 Hasan al-Hudaybi hat diese
Schrift zwar nicht in Gänze widerlegt, jedoch in maßgeblichen Teilen
entschärft.25 Direkt bezugnehmend auf die zu dieser Zeit populären
Schriften Maududis greift er indirekt Qutb an und betont, dass es
einerseits menschliche Regierungen geben kann und darf – die durchaus mit demokratischen Verfahren legitimiert werden können – und
ein gottgefälliges Leben in solchen Gesellschaften möglich ist. Andererseits betont er, dass die Methodik des Takfir, die auch als Legitimation
für Attentate auf die so exkommunizierten Menschen dient, in göttliche Entscheidungen eingreife, dass Gott eben der letzte und einzige
Richter über die wahre Gläubigkeit der Menschen sei. In seinem Buch
„Prediger, nicht Richter“ führt al-Hudaybi genau dies vertieft und
theologisch begründet aus. Seine Arbeit diente im weiteren Verlauf der
Geschichte der Muslimbruderschaft, aber auch der Bewegungen des
gewaltfreien politischen Islam dazu, den bewaffneten Arm langfristig
aus der Organisation zu entfernen sowie das noch in den 1920er und
1930er Jahren durchaus akzeptierte politische Attentat aus den Handlungsoptionen der Muslimbruderschaft ideologisch auszuschließen.
Die vorgenannte Generation der Mitte bezog ihre politische Haltung
schließlich aus der Lektüre der Schriften Qutbs sowie der Arbeit alHudaybis. Beide, so betonte es Mohammed Habib, der ehemalige
Stellvertreter des Führers der Muslimbruderschaft, Mohammed Mahdi
Akef, in einem Interview mit dem Autor 2007, müssten zusammen
gelesen und verstanden werden. Der nach Veränderung und Gesell-------------------------------------------22
Zollner, 2009, S. 22-23.
Bezeichnung der Zeit vor dem Auftreten des Islam als „Zeit der Unwissenheit“.
Qutb transferiert diesen Begriff in die Moderne und bezeichnet die – auch islamischen –
Regierungen seiner Zeit als unwissend und, da sie im Prinzip den Islam bereits kennen,
deshalb als angreifbar.
24 Binder, Leonard; Islamic Liberalism – A Critique of Development Ideologies; London 1988, S. 171 f.f
25 Zollner, 2009, S. 75.
23
Arabischer Frühling: Die neuen Akteure des politischen Islam
217
schaftsreform strebende Gestus Sayyid Qutbs drücke die Unzufriedenheit mit dem Ist-Zustand der islamischen Gesellschaften aus. Die theologische Bearbeitung Hasan al-Hudaybis nehme dem die radikale
Schärfe und führe politisches Handeln und ideologische Motivation in
eine Richtung, die als Methodik der Muslimbruderschaft zu begreifen
sei.26 So wird also die Kritik Qutbs am moralischen Wertverlust moderner Gesellschaften, die sich besonders auf den materialistischen
Kern westlicher politischer Ideologien bezieht, mit dem Diktum „Prediger, nicht Richter“ verbunden. Gewalt als Mittel der Politik verliert
somit ebenso ihre Akzeptanz, wie auch die Idee eines idealen islamischen Staates mit vorbildlichen Gläubigen frei von menschlicher Herrschaft im Reich der Utopie bleibt. Die Muslimbruderschaft hat deshalb
seit Hasan al-Hudaybi und dessen Nachfolgern den Einsatz von Gewalt sowie den revolutionären Umsturz zur Herbeiführung eines Gottesstaates abgelehnt. Zwar kann und muss hierbei immer zwischen der
Aussage und der politischen Handlung kritisch unterschieden werden.
Die Geschichte der Bruderschaft zeigt jedoch, dass der bewaffnete
Kampf gegen Herrschaft, die als ungerecht erachtet wurde, nicht zum
Kern ihrer Handlungsoptionen zählt. Eine religiös geprägte Bewegung
bleibt die Muslimbruderschaft gleichwohl und wird in diesem Falle
auch immer für die Einhaltung religiöser Vorschriften eintreten. In
welcher Schärfe und mit welcher Regeltreue diese Vorschriften interpretiert und umgesetzt werden, hängt von der realpolitischen Konstellation in Ägypten sowie der politischen Auseinandersetzung mit modernen – teils säkularen – Ideen von Gesellschaft ab. Einen islamischen
Staat iranischen Ursprungs lehnt die Muslimbruderschaft jedoch ab.27
Die Zeit der „großen Heimsuchung“ (Mihna)
Neben diesem auf die Programmatik ausgerichteten prägenden Ereignis in der Geschichte der Muslimbruderschaft sind in Bezug auf den
Erfahrungshintergrund der Bruderschaft sicherlich die Ereignisse um
--------------------------------------------
26 Wolff, Christian: Die ägyptische Muslimbruderschaft – Von der Utopie zur Realpolitik; Hamburg 2008; S. 151ff.
27 „Erian: Egypt Will Not Be Iran or Afghanistan“; in Ikhwanweb.com 18.2.2013;
http://www.ikhwanweb.com/article.php?id=30664; zuletzt aufgerufen am 25.4.2013; zu
Qutb und al-Hudaybi u. a.: Carré, Olivier: Mysticism and Politics; Leiden 2003 sowie
Zollner, Barbara: The Muslim Brotherhood – Hasan al-Hudaybi and ideology; New
York 2009 sowie Damir-Geilsdorf, Sabine: Herrschaft und Gesellschaft – Der islamistische Wegbereiter Sayyid Qutb und seine Rezeption; Würzburg 2003.
218
Christian Wolff
die Revolutionsjahre von 1952-54 von maßgeblicher Bedeutung. Begrüßte die Muslimbruderschaft 1952 die Revolution der so genannten
Freien Offiziere unter dem Obersten Nasser und dem General Naguib
noch, weil sie damit unter anderem ein Ende der korrupten Parteien
sowie durch ihre Verbindungen in das ägyptische Offizierscorps erheblich mehr Einfluss auf die nach-revolutionäre Gesellschaftsordnung
erwartete, so wurde zumindest die letztere Hoffnung enttäuscht. Die
Bruderschaft hatte sich relativ frühzeitig auf eine Präsidentschaft Naguibs festgelegt und diesen unterstützt. Hinzu kam, dass der Führer
der Bruderschaft, Hasan al-Hudaybi, mehr direkten Einfluss der Muslimbruderschaft auf die Gestaltung der post-revolutionären Gesellschaft Ägyptens einforderte und so in Konflikt mit Nasser und dem
von ihm dominierten Revolutionsrat geriet. Nach einem mutmaßlich
von Muslimbrüdern verübten Anschlag – über die Hintergründe dieses
Attentats gibt es wenig Klarheit – begann Nasser mit der intensiven
Verfolgung und Zerschlagung seines stärksten politischen Konkurrenten. Masseninhaftierungen von Mitgliedern der Bruderschaft, die in
Arbeitslager verbracht wurden, sowie militärgerichtliche Prozesse gegen die führenden Köpfe der Muslimbrüder führten zu einer fast kompletten Vernichtung der Organisation. Die Erfahrung dieser Repressionswelle, die über die ganze Regierungszeit Nassers anhalten sollte,
prägt die kollektive Erfahrung der Muslimbruderschaft bis heute. Das
vormals als kooperierender Partner in der Bekämpfung gesellschaftlicher Missstände betrachtete Militär verwandelte sich in den Augen der
Bruderschaft in den schlimmsten Gegner. Ein eindrucksvolles Zeugnis
dieser Zeit gibt die Autobiografie Zaynab al-Ghazzalis ab, die die
psychische und physische Folter sowie die Willkür der Sicherheitsbehörden detailliert beschreibt.28 In der Historiographie der Muslimbruderschaft wird die Phase der existenziellen Verfolgung durch das Nasser-Regime als „Zeit der großen Heimsuchung“ (Mihna) beschrieben
und in Biografien von damaligen Mitgliedern vielfach rezipiert.29 Das
in das Militär gesetzte Vertrauen kann bedingt durch diesen historischen Hintergrund als tief erschüttert angesehen werden. Kurz nach
den Ereignissen von 2011 kam es denn auch zu offenen Anklagen
gegen ehemalige, noch lebende Minister des Nasser-Regimes. „Your
--------------------------------------------
28 Al-Ghazzali, Zainab: Return of the Pharao – Memoir in Nasir‘s Prison; Leicester
2006.
29 Krämer, Gudrun: Gottes Staat als Republik; Baden-Baden 1999; S: 192ff.
Arabischer Frühling: Die neuen Akteure des politischen Islam
219
torture still shows on our bodies“ klagen ältere Mitglieder der Bruderschaft, die nicht nur einen Prozess gegen ihre Folterer forderten, sondern diese Botschaft durchaus auch als Warnung verstehen wollen.30
Die Akteure der Muslimbruderschaft, die nach den #Jan25-Protesten
mit politischer Macht ausgestattet waren, erfuhren die Stärke des Militärs, als es um die Aufstellung eines Präsidentschaftskandidaten ging.
Wollte die Bruderschaft sich vorerst aus dem Kampf um das höchste
Amt auch deshalb heraushalten, um dem Militär und ausländischen
Staaten keinen Vorwand für einen möglichen politischen Eingriff zu
geben, so wurde die schließlich doch folgende Nominierung eines
Kandidaten zu einem ersten Einblick in das ägyptische Machtspiel. Der
vom Führungsbüro der Bruderschaft favorisierte Khairat al-Shatir31
wurde aufgrund seiner Verurteilung und Inhaftierung unter Mubarak32
vom Militärrat nicht als Kandidat zugelassen, so dass man mit Mohammed Mursi einen mutmaßlich schwächeren Kandidaten präsentierte.33 Den direkten Konflikt mit dem Militär wollten die Muslimbrüder
in einer Phase der politischen Unsicherheit, die noch keine demokratisch legitimierte Herrschaft oder gar eine verbindliche Verfassung
kannte, nicht suchen. Dies beruhte auch darauf, dass die Rolle des
Militärs in der Revolution 1952/54 und im Machtwechsel von 2011 –
laut Maha Azzam – auf dem Mythos der Einigkeit zwischen ägyptischer Armee und ägyptischem Volk fußte.34 Dieser Mythos schien stark
genug zu sein, Ängste und Hoffnungen gleichermaßen hervorzurufen.
Zum einen sahen sich die Demonstranten auf dem Tahrir-Platz durch
den Aufmarsch des Militärs in ihren Forderungen bestätigt, zum anderen scheint das Militär seine reale Machtoption in Ägypten unabhän--------------------------------------------
30 „Your torture still shows on our bodies, Brothers tell Nasser's defense minister“, in
Egyptindependent, 3.7.2012; http://www.egyptindependent.com/news/your-torture-stillshows-our-bodies-brothers-tell-nasser-s-defense-minister; zuletzt aufgerufen am 15.4.2013.
31 „FJP representatives give signatures in support of Shater’s presidency“, in Egyptindependent, 2.4.2012; http://www.egyptindependent.com/news/fjp-representatives-givesignatures-support-shater%E2%80%99s-presidency; zuletzt aufgerufen am 15.4.2013.
32„Case against El-Shater presidency bid adjourned until Wednesday“, in Al-Ahram
Online, 10.4.2012; http://english.ahram.org.eg/NewsContent/1/64/38977/Egypt/Politics/
Case-against-ElShater-presidency-bid-adjourned-unt.aspx; zuletzt aufgerufen am 15.4.2013.
33 „Ashri: Once Again Al-Shater is Barred From Exercising His Political Rights“,
Ikhwanweb.com; 17.4.2012; http://www.ikhwanweb.com/article.php?id=29900; zuletzt
aufgerufen am 15.4.2013.
34 Azzam, Maha: Egypt’s Military Council and the Transition to Democracy, Chatham House briefing paper; May 2012.
220
Christian Wolff
gig von den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen auszunutzen, um
eigene Interessen auch mit autoritären Methoden durchzusetzen. Beispielhaft ist dies in der Umbruchphase 2011 sichtbar gewesen, als das
Militär sich das Recht gab, Zivilisten willkürlich zu verhaften (Dekret
vom 13. Juni 2012). Auch haben Menschenrechtsorganisationen darauf hingewiesen, dass der Militärrat in Bürger- und Menschenrechte
teils schärfer eingegriffen habe, als dies unter Mubarak der Fall gewesen sei.35
In diesem Zusammenhang wird in der ägyptischen Presse die Rolle
des Militärs unter besonderer Berücksichtigung des nasseristischen
Erbes vermehrt diskutiert. Gamal Nkrumah spricht gar von einer
„Undying Legacy“, einem unauslöschlichen Erbe der Revolution
1952/54 also, das fest mit der Person und den Methoden Nassers verbunden sei.36 Al-Ahram Online veröffentlichte darüber hinaus Kapitel
aus den Memoiren von Khaled Mohieldin, der mit Nasser im Führungsstab des Revolutionskomitees 1952/54 saß. Mohieldin beschreibt
hier den zunehmenden Ansehensverlust der Muslimbruderschaft in der
Gruppe der revoltierenden Freien Offiziere.37 Im Mai 2012 bemüht
sich Ahmad Shokr in einem Beitrag für Jadaliyya, „the demons of
history“ zu beschwichtigen, und betont: „This is Not 1954“.38 Vor
dem Hintergrund einer Machtoption des Militärs, welches aus dem
politischen Gefüge Ägyptens nicht wegzudenken ist, sowie der Tatsache, dass die Muslimbruderschaft seit ihrer Gründung 1928 regelmäßiger Repression seitens staatlicher Institutionen ausgesetzt war und in
den 1950er Jahren die Erfahrung machte, dass „the greater its role, the
higher the risk of a violent crackdown“, ist die politische Positionierung der Bruderschaft während und nach den Ereignissen von 2011 zu
--------------------------------------------
35 u. a.: HRW: Worse than Mubarak: SCAF’s Assault on Egyptian Rights;
http://www.hrw.org/news/2012/07/19/worse-mubarak-scaf-s-assault-egyptian-rights;
zuletzt aufgerufen am 28.4.2013.
36 Nkrumah, Gamal: Undying Legacy; in Al-Ahram Weekly, September 2010:
http://weekly.ahram.org.eg/2010/1016/fr2.htm; zuletzt aufgerufen am 15.4.2013.
37 Mohieldin, Khaled: Nasser, myself and the Muslim Brotherhood, Ahram Online,
Juli 2012; http://english.ahram.org.eg/NewsContent/1/139/48402/Egypt/-July-Revolution/
Nasser,-myself-and-the-Muslim-Brotherhood.aspx; zuletzt aufgerufen am 23.4.2013.
38 Shokr, Ahmad: This is Not 1954; Jadaliyya, May 2012: http://www.jadaliyya.
com/pages/index/4845/this-is-not-1954-; zuletzt aufgerufen am 23.4.2013.
Arabischer Frühling: Die neuen Akteure des politischen Islam
221
bewerten.39 Die Rolle von individuellen und kollektiven Erfahrungen
mit autoritärer Unterdrückung ist für die Muslimbruderschaft weiterhin ein prägendes Element für ihre politische Aktivität und ihre Programmatik.40
Freiheit, Bürger und Staat in der Ideologie der Muslimbruderschaft
Vor dem Hintergrund der zwei genannten Konfliktsituationen
stellt sich die Frage nach der Rezeption von Freiheit, Bürger und Staat
seitens der Muslimbruderschaft. Zum einen werden diese Begriffe aus
dem Bewusstsein einer kollektiven Erfahrung heraus behandelt. Diese
Erfahrung ist zum anderen ideologisch geprägt von den Ideen Hasan
al-Bannas, Sayyid Qutbs sowie der Theorie des zivilen islamischen
Staates, wie er seit den 1990er Jahren in der Programmatik der Bruderschaft Gestalt annimmt. Im Sinne liberaler Ideen moderner Gesellschaften spielen die Begriffe von Freiheit, Bürger und Staat sowie ihr
gegenseitiges Verhältnis zueinander eine maßgebliche Rolle.41 Im liberalen politischen Spektrum ist der Freiheitsbegriff wohl der bedeutendste, wenn es um die Bewertung anderer politischer Akteure geht.
Um den Freiheitsbegriff jedoch greifbar zu machen und von bloßer
rhetorischer Verwendung zu entlasten, ist es im Folgenden nötig, zwei
wesentliche definitorische Klarstellungen voranzustellen. So gibt der
Begriff der „negativen Freiheit“ von Isaiah Berlin die Möglichkeit,
besonders individuelle Abwehrrechte zu definieren. Berlin betont, dass
ein Individuum – unabhängig von physischen Einschränkungen – in
seiner Handlungsfähigkeit von anderen Individuen beziehungsweise
von verfassten Gesellschaften nicht beeinträchtigt werden dürfe, solange es nicht die Handlungsoptionen anderer Individuen einschränkt.
Die negative Freiheit kann deshalb als eine „Freiheit von“ Begrenzungen verstanden werden.42 Betrachtet man nun den kollektiven Erfahrungshintergrund der Muslimbruderschaft mit Schwerpunkt auf die so
--------------------------------------------
39 Wickham, Carrie Rosefsky: The Muslim Brotherhood after Mubarak; in: Foreign
Affairs Februar/2011; http://www.foreignaffairs.com/articles/67348/carrie-rosefskywickham/the-muslim-brotherhood-after-mubarak; zuletzt aufgerufen am 23.4.2013.
40 Wolff, Christian: Eine Frage der Legitimität; in: Fokus-Nahost.de vom 12.2.2013;
http://www.fokus-nahost.de/?p=1186; zuletzt aufgerufen am 25.4.2013.
41 Für die folgende empirische Analyse greife ich auf Interviews zwischen mir und
führenden Mitgliedern der Muslimbruderschaft sowie Oppositionellen aus den Jahren
2007, 2009 und 2010 zurück.
42 Berlin, Isaiah: Four Essays on Liberty; Oxford 1969.
222
Christian Wolff
genannte Zeit der großen Heimsuchung (Mihna), dann können Forderungen der Bruderschaft beispielsweise nach Versammlungsfreiheit,
freier Meinungsäußerung und selbstbestimmter Regierung kategorisiert werden. Aus der kollektiven Erfahrung von Repression, die zwar
ihren Höhepunkt in der Regierungszeit Nassers hatte, aber schon kurz
nach der Gründung der Bruderschaft 1928 begann, lassen sich die teils
sehr liberalen Forderungen nach Bürger- und Menschenrechten verstehen. Verbindet man diese Forderungen mit der religiösen Ausrichtung
der Bruderschaft, wird es nötig, den sogenannten positiven beziehungsweise „reflexiven Freiheitsbegriff“ einzuführen. Stellt Berlin die
positive als Gegenpart zur negativen Freiheit in einen sozialistischen
Kontext, so geht Axel Honneth dazu über, ein eher kommunitaristisches Argument zu betonen. Er hebt hervor, dass die Reflexivität der
Freiheitshandlung sich nicht nur auf das jeweils andere Individuum,
sondern auch auf gesellschaftliche Zielvorstellungen als Ganzes beziehen müsse. Anders als noch Berlin sieht Honneth jedoch im demokratischen Sozialstaat den Wahrer reflexiver Freiheiten. Als „Freiheit zu“,
also als Freiheit, die im Rahmen einer gegebenen Vorstellung des gesamtgesellschaftlichen Guten gewährt wird, ordnet Honneth diese
Freiheit in einen demokratischen und marktwirtschaftlichen Kontext
ein. Die Schärfe der Kritik Berlins an der Idee der positiven beziehungsweise der reflexiven Freiheit nimmt Honneth, indem er die negative Freiheit als „originäres und unverzichtbares Element des moralischen Selbstverständnisses der Moderne“ darstellt und einbindet.43
Diese Verbindung der zwei Freiheitsdefinitionen erweitert Jeremy
Waldron um ein emotionales Verständnis des Freiheitsbesitzes.
„Das menschliche Handeln, der Wille und das Initiieren von Handlung ist eine äußerst komplizierte Angelegenheit: Dies ist nicht nur
der Ort eines der widerspenstigsten metaphysischen Probleme,
sondern auch die Quelle überschäumender Freude und tiefer Verzweiflung. Unser Gefühl, was es heißt, Freiheit zu besitzen und
auszuüben, ist gebunden an die Vorstellungen, die wir uns von uns
als Personen und von unseren Beziehungen zu Werten, zu anderen
-------------------------------------------43
Honneth, Axel: Das Recht der Freiheit; Berlin 2011, S. 58.
Arabischer Frühling: Die neuen Akteure des politischen Islam
223
Personen, zur Gesellschaft und zur kausalen Ordnung der Welt
machen.“44
Ist der Begriff der Freiheit nun in der gegebenen Kürze dieses Artikels dargestellt, folgt die Frage, wie moderne Gesellschaften mit den
Bedingungen liberaler Staatlichkeit umgehen. Nimmt man beispielsweise die Konstruktion des überlappenden Konsenses von John Rawls
als Grundlage, so ist es möglich, der starken religiösen Determination
der ägyptischen Gesellschaft eine deliberative Basis zu geben, auf deren
Grundlage die Begrifflichkeiten von Freiheit, Bürger und Staat konzeptualisiert werden können.45 Zwar liegt der Rawlschen Idee eines überlappenden Konsenses ein normativ-säkularer Gehalt zugrunde, dieser
lässt sich jedoch, geht man analytisch vor, in den Kontext religiös
geprägter Gesellschaften einbetten. Zum einen geschieht dies dadurch,
dass man die Modellhaftigkeit des Rawlschen Konsenses vergegenwärtigt und diesen so auf die Lebenswirklichkeiten der Menschen in den
zu untersuchenden Gesellschaften anpasst. Zum anderen lässt sich die
säkulare Utopie, die dem übergreifenden Konsens zugrunde liegt,
durch die Einwände Charles Taylors,46 dass Individuen in ihrer alltäglichen Lebensrealität auch durch religiöse Praktiken bestimmt werden,
einschränken. Die Grundannahme des Konsenses besteht darin, dass
über die Art und Weise der Legitimation von staatlicher Herrschaft
sowie des gesellschaftlichen Zusammenlebens keine Einigkeit getroffen
werden muss. Eine Einigkeit muss gewissermaßen im Ziel des Konsenses gegeben sein und lässt so Raum für eine gewisse Tolerierbarkeit
unterschiedlicher (kollektiver) Begründungen für die gesellschaftliche
Ordnung. Die Frage, inwieweit ein religiös geprägter Staat als liberaler
Staat verstanden werden kann, hängt, folgt man Rawls, schließlich von
der Tiefe ab, die eine Diskussion von Themen, die über den moralischreligiösen Rahmen des Konsenses hinausgehen einnimmt.47 Geht man
--------------------------------------------
44 Waldron, Jeremy: Theoretische Grundlagen des Liberalismus; in: van den
Brink/van den Reijen: Bürgergesellschaft, Recht und Demokratie; Frankfurt am Main
1995, S. 111 – 112.
45 Rawls, John: Politischer Liberalismus; Frankfurt am Main 2003.
46 Taylor, Charles: Quellen des Selbst – Die Entstehung der neuzeitlichen Identität;
Frankfurt am Main 1996.
47 Beispielhaft kann hier die Debatte um die sogenannte Homosexuellen-Ehe oder
auch die sogenannten Konkordanz-Lehrstühle angeführt werden. Auch auf die Diskussion über den Gottesbegriff in einer möglichen europäischen Verfassung kann hier verwiesen werden.
224
Christian Wolff
auf die Grundbedingungen moderner Staatlichkeit ein, so findet sich in
der Ideologie der Bruderschaft die Zustimmung zu demokratischer
Herrschaftslegitimation ebenso wie die Notwendigkeit friedlicher
Machtwechsel. Auch die staatsbürgerliche Gleichheit, die für moderne
Gesellschaften grundlegend ist, sieht die Muslimbruderschaft in ihrer
Idee des zivilen islamischen Staates als maßgeblich an.48 Rein formaljuristisch wären somit wesentliche Bedingungen liberaler Staatlichkeit
bereits erfüllt. Die im Rahmen der Feldforschung des Autors in den
Jahren 2007, 2009 und 2010 entstandenen Interviews mit Mitgliedern
säkularer, sozialistischer und liberaler Parteien können hierzu in den
erfragten Erfahrungskontext führender Mitglieder der Muslimbruderschaft gestellt werden.
Im Allgemeinen stehen die Rezeptionen der Begriffe Freiheit, Bürger und Staat in einem überlappenden Konsens, da die unterschiedlichen befragten Gruppen auf jeweils ähnliche Probleme aus ihrer alltäglichen Lebenserfahrung rekurrieren. Die autoritäre Herrschaft als
staatlicher Rahmen gibt den Erfahrungshintergrund vor. Staatlichkeit,
wie sie unter Mubarak, Nasser und Sadat geherrscht hat, wurde deshalb als letztlich unvereinbar mit den Idealen moderner liberaler Gesellschaften betrachtet. In Tabelle 2 wird der Erfahrungshintergrund
der befragten Muslimbrüder spezifischer auf die zwei Definitionen von
Freiheit bezogen. Der übergreifende Konsens stellt den Legitimationsrahmen staatlicher Herrschaft dar.
MB-Mitglieder
Nicht-MB-Oppositionelle
Freiheit
Gefangenschaft
Repression
Staat
Ungerechtes System
Parallelgesellschaft, Korruption
Bürger
Staatliche Willkür
Fehlende Bürgerrechte
In einem allgemeinen Verständnis wird Freiheit bei Muslimbrüdern wie anderen Oppositionellen durch die direkte Repressionserfahrung konstitutiv politisch geformt. So sind Muslimbrüder in einem
hohen Maße von Verhaftungen betroffen gewesen, wohingegen andere
Oppositionelle die generelle staatliche Repression als maßgeblich
kennzeichneten. In der Rezeption des Begriffes der Staatlichkeit glei-------------------------------------------48
FJP Election Program, 2011, S. 15.
225
Arabischer Frühling: Die neuen Akteure des politischen Islam
chen sich die Erfahrungswerte an, da bei beiden Gruppen von einem
ungerechten, korrupten System und der daraus resultierenden Entstehung einer Parallelgesellschaft gesprochen wird. Die starke Staatlichkeit der autoritären Zeit, beginnend mit der Revolution unter Nasser
1952 bis zur Revolution 2011, kann als Ausdruck einer generell als
nicht mehr mit dem Volk in direkter Verbindung stehenden Herrschaftselite verstanden werden. Mohamed Mahdi Akef – Führer der
Muslimbruderschaft von 2004-2010 – äußerte hierzu, dass sich das
ägyptische Volk gewissermaßen seit Pharaos Zeiten im Stadium der
Fremdherrschaft beziehungsweise der Subordination befunden habe.
Der Bürger wird deshalb nun in den beiden vorgenannten Kontexten
von Muslimbrüdern besonders im Zusammenhang mit staatlicher
Willkür – die Erfahrung von Inhaftierung und Militärgerichtsbarkeit
dürfte hier prägend sein – und von anderen Oppositionellen als gewissermaßen bürgerrechtslos gesehen.
Freiheit
Bürger
Staat
Negative
Freiheit
Religionsfreiheit
Gleichheit vor
dem Gesetz
Positive
Freiheit
Übergreifender
Konsens
Vorhandensein
von Religion
Demokratische
Struktur,
Verfassung
Gleiche
Pflichten
Identität als
Ägypter, frei
von Ethnie,
Sprache,
Religion
Rechtsstaatlichkeit
Gewaltenteilung
Islamische Rechtsordnung – Sharia
Nation als einendes
Element – Keine
religiöse Diskriminierung
Freiheit kann im begrifflichen Kontext in ihrem negativen Verständnis zum Staat als Manifestation von Rechtsstaatlichkeit und Gewaltenteilung, im Verhältnis zum Bürger als rechtlicher Gleichheitsgrundsatz und im Verhältnis zu einem allgemeinen Freiheitsbegriff als
Ausdruck der Religionsfreiheit (verstanden als die Abwesenheit von
fremder Einschränkung der Ausübung der eigenen Religiosität) interpretiert werden. Im positiven Verständnis entwickelt Freiheit zum
Staat einen eher kommunitaristischen Ansatz, der sich in der islamischen Grundordnung, also der Sharia, als Referenzrahmen der staatlichen Gewalt ausdrückt. Der Bürger wird im positiven Freiheitsverständnis als ein auf gesamtgesellschaftliche Verpflichtungen hin orientiertes Individuum konstruiert. Der allgemeine Freiheitsbegriff wird
226
Christian Wolff
durch das Vorhandensein von Religiosität und einer damit verbundenen Nicht-Konzeption von a-Religiosität verstanden. Der überlappende Konsens, also die Möglichkeit der Vereinigung unterschiedlicher
Weltanschauungen, Ideologien oder Religionen auf einer Verständigungsbasis, ohne der jeweiligen ontologisch-normativen Legitimation
und Argumentation eine zustimmende oder ablehnende Haltung entgegenzusetzen, dient zur Aggregation der aus den Erfahrungswerten,
der politischen Programmatik und der politischen Praxis gewonnenen
Erkenntnisse. In Bezug auf ein allgemeines Freiheitsverständnis drückt
sich dies in der Forderung nach demokratischen Strukturen und einer
generellen Verfasstheit der Freiheitsrechte und -pflichten aus. Der Begriff des Bürgers wird durch die spezifische ägyptische Identitätskonstruktion bestimmt, welche sich besonders in der Hochphase der Revolution 2011 durch die Überwindung religiöser Unterschiede unter dem
einenden Begriff des „Ägyptertums“ verdeutlichte. Hierzu gehört in
der politischen Debatte die Konzeptualisierung eines Staatsbürgerschaftsrechts, welches einen Ägypter unabhängig von seiner Ethnie,
seiner Sprache oder seiner Religion definiert.49 Der Staat wird im Zusammenhang des übergreifenden Konsenses als einendes, nationales
Element verstanden, das zum einen den territorialen, kulturellen, traditionellen und sprachlichen Rahmen steckt, aber eben auch die Bürgerrechte – hierbei wird besonders die Religionsfreiheit genannt – schützt.
Die ägyptische Verfassung, die Muslimbruderschaft und
liberale Außenpolitik
Die Muslimbruderschaft hat in ihrer Geschichte die Erfahrung gemacht, dass sie, wenn sie eine Gesellschaft mit islamischen Moralvorstellungen etablieren möchte, sich von der utopischen Idee des weltumspannenden Gottesstaates entfernen muss. Dieser Konflikt hat sich,
wie oben beschrieben, besonders um die Personen Sayyid Qutb und
Hasan al-Hudaybi herum polarisiert. Die idealisierte Darstellung der
Staatsidee Qutbs und des zivilen islamischen Staates findet sich in
Abbildung 1. Anders als Qutb hat al-Hudaybi jedoch keine abstrakte
Idee von Staatlichkeit in seine Ideologie implementiert. Gemeinsam ist
--------------------------------------------
49 „Al-Masry al-Youm veröffentlicht Teile des Programms der neuen Partei der Muslimbruderschaft“, 10.8.2007, http://www.almasry-alyoum.com/article2.aspx?ArticleID
=71826; zuletzt aufgerufen am 27.2.2013.
Arabischer Frühling: Die neuen Akteure des politischen Islam
227
beiden Staatsmodellen, dass sie einen normativen Kontext teilen. Den
normativen Kontext beschreibt Krämer, wenn sie die Sharia als ein im
Wandel der Lebenswirklichkeiten sich befindendes Rechtssystem darstellt, welches die Legalität und die Legitimität moderner Staatlichkeit
im islamischen System durch die moralische Bindung individueller
Handlungen voneinander abgrenzt.
„Einzig ein höheres Gesetz und allein absolut bindende Werte
können aus dieser Sicht den Einklang von Legalität und Legitimität herstellen. […] Einzige Garantie für Gleichheit, Freiheit und
Legitimität, einzig stabile moralische Fundierung von Staat und
Gesellschaft ist somit die Scharia bzw. das Urteil/die Herrschaft
Gottes (ukm allh).“
Das Vorhandensein einer menschlichen Regierung und vielmehr
die Legitimation derselben durch demokratische Wahlen öffnet also
die Programmatik der Muslimbruderschaft für moderne und liberale
Vorstellungen von Staat, Bürger und Freiheit. Im Falle des Freiheitsbegriffs muss der normative Kontext, der mit einer breiten Definition
der Sharia und somit dem zweiten Artikel in der ägyptischen Verfassung benannt ist, interpretiert werden. Die ägyptische Verfassung von
2012, welche von der Muslimbruderschaft beziehungsweise von Abgeordneten ihrer Partei für Freiheit und Gerechtigkeit wesentlich ausgearbeitet wurde, gibt in ihrer Präambel bereits die grundlegenden
228
Christian Wolff
Merkmale des zivilen islamischen Staates vor. Dort heißt es, dass man
die Bedeutung von Gleichheit und Staatsbürgerschaft im Sinne der
„mighty culture and our luminous history“ nach den Zeiten des Autoritarismus wiedergewonnen habe. Betont wird außerdem, dass es eine
zivilisatorische Errungenschaft Ägyptens sei, Diskriminierung nicht zu
dulden und gleichzeitig den Monotheismus hervorgebracht zu haben.50
Darüber hinaus wird in Artikel fünf der Verfassung auf die Volkssouveränität verwiesen, die durch das gesamte Volk im Sinne der Gleichheit ausgeübt wird. Die Artikel 31 bis 42 beschäftigen sich deshalb mit
den negativen Freiheitsrechten, die aus der oben genannten Erfahrung
der Repression heraus das Individuum vor staatlicher Willkür ebenso
schützen, wie sie die Bürgerrechte bewahren sollen. Die normative
Ordnung innerhalb dieser Verfassung wird durch die Übergabe der
Verantwortung für das Personenstandsrecht in die Hoheit der Konfessionen sowie die offizielle Einbindung der Azhar in den Gesetzgebungsprozess etabliert.51 Hier eröffnet sich der islamische Kontext des
zivilen islamischen Staates, der das Personenstandsrecht den Angehörigen der Buchreligionen, Islam, Christentum und Judentum, zuspricht
und dabei auf die monotheistische Tradition sowie die theologischen
Verbindungen aller drei Religionen Bezug nimmt. Beispielhaft für die
Wirksamkeit des normativen Kontextes der Sharia kann deshalb die
Religionsfreiheit betrachtet werden, die im Sinne der islamischen Jurisprudenz nur Angehörigen der drei Weltreligionen zuerkannt wird.
Die Vorstellung von a-Religiosität ist somit kraft der Verfassung nicht
vorgesehen. Der zivile islamische Staat wird nämlich genau dadurch
geprägt, dass er die religiösen Gewissheiten der ägyptischen Gesellschaft als normativen Rahmen voraussetzt.
Fazit
Im Umgang mit den neuen Akteuren des politischen Islam in der
arabischen Welt wird liberale Außenpolitik nicht darum herumkommen, sich vertieft und frei von Stereotypen mit der Programmatik dieser Bewegungen zu beschäftigen. Die Erfahrungen der Repression so-------------------------------------------50
Verfassung Ägyptens, 2012, Präambel.
Es bleibt jedoch fraglich, ob die Azhar diese Rolle als religiöser Prüfer der Gesetze,
die sie inoffiziell schon lange wahrgenommen hat, tatsächlich so prädestiniert ausüben
möchten. Außerdem hat die Vergangenheit gezeigt, dass die Vorstellungen der Azhar
oftmals den Vorstellungen der religiösen Bewegungen entgegenstehen.
51
Arabischer Frühling: Die neuen Akteure des politischen Islam
229
wie die internen Auseinandersetzungen um eine ideologische Mäßigung müssen immer in die Bewertung aktueller Handlungen der Muslimbrüder und der ihnen nahestehenden Organisationen in den Ländern des so genannten Arabischen Frühlings einfließen. Liberale Außenpolitik muss sich dazu mit der historischen Entwicklung ihrer eigenen Begrifflichkeiten sowie der generellen Unschärfe, die mit Freiheit,
Bürger und Staat einhergeht, auseinandersetzen, um handlungsfähig
gegenüber Akteuren des politischen Islam zu sein. Es steht das Dilemma im Raum, dass liberale gesellschaftspolitische Ansätze durchaus
auch ihren Widerhall in den Ideologien des politischen Islam – soweit
er sich gewaltfrei definiert – gefunden haben, sich diese Ansätze jedoch
vorerst nur in einem äußerst religiös geprägten Kontext entfalten.
Nimmt man die Erfahrungshintergründe der ägyptischen Muslimbruderschaft und deren Auswirkungen auf das politische Handeln und
Fordern ernst, so ist festzustellen, dass fernab der ideologischen Orientierung ein realpolitisch geprägter Raum vorhanden ist, der einen Diskurs über die Gestaltung moderner Gesellschaften erlaubt. Es muss in
diesem Zusammenhang jedoch darauf verwiesen werden, dass dieser
Raum begrenzt ist. Zum einen durch die lokalen Bedingungen vor Ort,
die sich unter anderem in der jeweils unterschiedlichen Interpretation
gesellschaftlicher Gewissheiten ausdrücken. Zum anderen sind die
machtpolitischen Aspekte, die L. Carl Brown bereits in seiner Theorie
des penetrated System dargestellt hat, zu berücksichtigen. Das Einwirken unterschiedlichster Interessen auf die Gestaltung der Politik gegenüber den neuen Regierungen muss ernst genommen und besonders
im Hinblick auf die Konstanz liberaler Ideen hinterfragt werden. Ideologie ist also nicht der einzige Beweggrund für die Politik der Staaten
im Nahen Osten. Vielmehr, so macht es den Anschein, ist die innergesellschaftliche Auseinandersetzung um die Ausgestaltung der postautoritären Staaten noch in einem langfristigen Prozess begriffen. Enttäuschte Erwartungen einer demonstrierenden – teils sehr westlich
ausgebildeten – Jugend aus der oberen Mittelschicht treffen auf konservative Vorstellungen von Gesellschaft. Daneben findet der Machtkampf zwischen den Angehörigen der alten und neuen Eliten nicht nur
im politischen, sondern auch im ökonomischen Bereich statt. Die Rolle
des Militärs in dieser Situation, das zeigt die Zeit von 2011-2012 deutlich, ist nicht festgelegt darauf, den neu entstandenen, freien Parlamentarismus zu schützen. Die militärischen Führer haben klare wirtschaft-
230
Christian Wolff
liche Interessen, die sie im Übrigen auch in den Artikeln 195ff der
ägyptischen Verfassung beispielsweise mit einem eigenen Budgetrecht
gestärkt haben. Die Hauptaufgabe liberaler Außenpolitik dürfte nun
darin bestehen, Rechtsstaatlichkeit und politische Stabilität in den
Staaten des Arabischen Frühlings positiv zu begleiten, ohne die bekannten vor allem sicherheitspolitischen Interessen zu sehr in den politikgestaltenden Vordergrund zu stellen. Es wird deshalb für liberale
Außenpolitik primär die Frage der Glaubwürdigkeit von Bedeutung
sein. Diese dürfte sich besonders auf den Umgang mit den anfangs
genannten drei Prämissen sowie auf die Akzeptanz von demokratisch
legitimierten Regierungen, die nicht auf den ersten Blick rein westlichen, teils idealisierten Vorstellungen liberaler Politik entsprechen,
beziehen. Glaubwürdigkeit, Selbstbestimmung und der Dialog auf
gleichberechtigter Basis werden im Umgang mit den neuen Akteuren
des politischen Islam deshalb notwendig sein. Gerade die Weiterentwicklung von Menschenrechtsstandards und sozialer Wohlfahrt bedarf
im Voraus einer liberalen Umsetzung fairer und freier weltwirtschaftlicher Marktbedingungen. Die neuen post-autoritären Staaten des Arabischen Frühlings können so nicht nur politisch, sondern auch gesellschaftlich und ökonomisch die Möglichkeit bekommen, oligarchische
Strukturen, korrupte Bürokratien und hohe Jugendarbeitslosigkeiten
zu bekämpfen. So können die drängendsten Gerechtigkeitsfragen dieser Gesellschaften angegangen und darauf aufbauend Probleme moderner Staatlichkeit diskutiert werden.
Über die Autoren
231
Über die Autoren
Hans-Jürgen Beerfeltz, geboren 1951, lernte die Grundzüge der
Entwicklungspolitik als Referent bei der Friedrich-Naumann-Stiftung
kennen – seiner ersten beruflichen Station nach dem Soziologiestudium
in Hamburg. Sein weiterer beruflicher Werdegang beinhaltete die Leitung des Büros für Otto Graf Lambsdorff in dessen Zeit als Bundeswirtschaftsminister, den internationalen politischen Bildungsbereich im
Geschäftsbereich des BMI und eine langjährige Tätigkeit bei der Bundeszentrale für politische Bildung, dessen Vize-Präsident er zuletzt war.
Während seiner Zeit als Bundesgeschäftsführer der FDP leistete HansJürgen Beerfeltz auch Entwicklungsberatung – mit insgesamt mehr als
100 internationalen Einsätzen mit Schwerpunkten in Mittel- und Südamerika sowie Südostasien. Wissenschaftlich arbeitete er besonders zu
Themen der Werte- und der Kommunikationsentwicklung. Seit dem
Regierungswechsel in 2009 ist Hans-Jürgen Beerfeltz Staatssekretär im
Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung.
Dr. Kerstin Brauckhoff ist wissenschaftliche Referentin im Liberalen Institut der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit. Sie studierte Politikwissenschaften, Philosophie sowie Psychologie in München und promovierte in Berlin. Zunächst arbeitete sie als persönliche
Referentin des Ministers der Finanzen des Landes Sachsen-Anhalt und
wurde dann Projektleiterin in der Vertretung des Landes SachsenAnhalt bei der EU. Sie absolvierte zudem ein Traineeprogramm bei
der Europäischen Kommission in Brüssel. Darüber hinaus war sie
über mehrere Jahre Lehrbeauftragte für Europäische Politik am JeanMonnet-Lehrstuhl von Professor Wolfgang Wessels an der Universität
zu Köln. Seit Januar 2013 ist sie Mitglied des „Team Europe“ der
Europäischen Kommission.
Siegfried Herzog, geboren 1962 in Biberach/Riß, machte eine Lehre als Industriekaufmann bei der Porsche AG in Stuttgart und studierte
232
Über die Autoren
Volkswirtschaftslehre an den Universitäten Tübingen und Georgetown, Washington D.C. Für seine Diplomarbeit zu ländlichen Kreditsystemen in Bangladesch erhielt er den Preis der Schitag-Stiftung. Seit
1994 arbeitet er bei der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit,
zuerst im Regionalbüro Südasien in Neu Delhi, wo er die wirtschaftspolitische Arbeit betreute. Von 2002 bis 2006 leitete er das Asienreferat der Stiftung in Potsdam, danach ging er als Projektleiter Philippinen nach Manila. Seit Sommer 2010 leitet er das Regionalbüro Südasien in Neu Delhi. Er ist verheiratet und hat eine Tochter.
Prof. Dr. Harald Kliemt ist seit 2006 Professor für Philosophie und
Ökonomik und nun Vizepräsident Forschung an der Frankfurt School
of Finance & Management. Diplom-Kaufmann 1974, Promotion in
Philosophie 1977. Habilitation 1983 an der Johann Wolfgang Goethe
Universität in Frankfurt am Main, Lehrstuhl für praktische Philosophie an der Universität Duisburg 1988. Publikationen in Fachzeitschriften wie Journal of conflict resolution, Public Choice, Journal of
Economic Behavior and Organization, Theory and Decision, Transplantation. Zahlreiche Buchveröffentlichungen.
Harald Leibrecht, MdB ist seit Juli 2011 Koordinator für die
transatlantische zwischengesellschaftliche, kultur- und informationspolitische Zusammenarbeit im Auswärtigen Amt. Er ist seit 2002 Mitglied des Bundestages (FDP-Fraktion). In der Legislaturperiode 20092013 ist er Stellvertretender Vorsitzender im Unterausschuss Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik sowie Mitglied des Ausschuss für
wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung. Von 1984 bis 2007
war er Geschäftsführer der Schiller International University, einer
internationalen Universität in freier Trägerschaft. Harald Leibrecht hat
Wirtschaftswissenschaften in Straßburg, Heidelberg, London und Florida studiert.
Prof. Dr. Dr. h. c. Karl-Heinz Paqué (Magdeburg), Wirtschaftswissenschaftler; ehem. Landesminister der Finanzen in Sachsen-Anhalt.
Geboren 1956 in Saarbrücken; verheiratet; FDP; 1975-1980 Studium
der Volkswirtschaftslehre in Saarbrücken, Kiel und Vancouver; 1986
Promotion an der Universität Kiel; 1991-1996 Wissenschaftlicher
Direktor und Abteilungsleiter am Institut für Weltwirtschaft in Kiel;
1996 Habilitation; 1996-2002 und wieder seit 2008 Lehrstuhl für
Volkswirtschaftslehre mit Schwerpunkt Internationale Wirtschaft an
der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg; 2002-2006 Minister
Über die Autoren
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der Finanzen in Sachsen-Anhalt; 2006-2008 Vorsitzender der FDPFraktion im Landtag Sachsen-Anhalt; seit 2010 Dekan der Fakultät für
Wirtschaftswissenschaft der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg; 2011-2013 Mitglied der Enquete-Kommission „Wachstum,
Wohlstand, Lebensqualität“ des Deutschen Bundestages. Jüngste
Buchveröffentlichungen: „Die Bilanz. Eine wirtschaftliche Analyse der
Deutschen Einheit“ (2009), „Wachstum! Die Zukunft des globalen
Kapitalismus“ (2010) und „Vollbeschäftigt. Das neue deutsche Jobwunder“ (September 2012).
Dr. Michael von Prollius ist Publizist, Gründer von „Forum Ordnungspolitik“ und Seniorexperte für Geld/Geldpolitik beim Freiheitswerk. Nach dem Studium der Betriebswirtschaftslehre und Geschichte
in Bayreuth und Berlin promovierte er über das Wirtschaftssystem der
Nationalsozialisten. Zu seinen Buchpublikationen zählen u.a. Deutsche Wirtschaftsgeschichte nach 1945 (2006), Die Pervertierung der
Marktwirtschaft (2009) und Die Euro-Misere (2011). Zusammen mit
Norbert F. Tofall hat er das Liberale Privatseminar in der Tradition
von Ludwig von Mises und Friedrich August von Hayek gegründet.
Robert von Rimscha, Jahrgang 1964, studierte in Freiburg und
Boston Geschichte, Germanistik, Volkswirtschaftslehre und Philosophie. Nach dem Examen (MA Amerikanistik) lehrte er als Gastdozent
an der University of South Africa in Pretoria, ehe er 1990 das Graduiertenkolleg am John-F.-Kennedy-Institut der FU Berlin besuchte. Seit
1991 arbeitete er als Journalist für den Berliner „Tagesspiegel“, darunter von 1994 an als Stellvertretender Nachrichten- und Politikchef, von
1996 bis 2001 als USA-Korrespondent und anschließend als Leiter der
Parlamentsredaktion. Er ist Autor der Bücher „Südafrika nach der
Apartheid. Aspekte des politischen, sozioökonomischen und kulturellen Wandels in der Ära de Klerk“ (Nomos, 1991), „Gute Hoffnung am
Kap? Das neue Südafrika“ (From, 1992), „Politische Korrektheit in
Deutschland – eine Gefahr für die Demokratie“ (Bouvier, 1994), „Der
kleine Bruder – Deutschland und das Modell USA“ (Bouvier, 1996),
„Die flexible Gesellschaft“ (Econ, 1999), „Die Kennedys – Glanz und
Tragik eines amerikanischen Traums“ (Campus, 2000), „George W.
Bush – Präsident in Krisenzeiten“ (Heyne, 2001) und „Die Bushs –
Weltmacht als Familienerbe“ (Campus, 2004). 2004 wurde er Sprecher der FDP und Abteilungsleiter Presse/Öffentlichkeitsarbeit im
Thomas-Dehler-Haus. Ende 2009 wechselte er ins Auswärtige Amt,
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Über die Autoren
wo er die Leitung des Planungsstabs übernahm. Seit Herbst 2011 ist
Robert von Rimscha Botschafter der Bundesrepublik Deutschland in
Laos.
Dr. agr. Hermann Otto Solms, Diplom-Ökonom, geb. 1940 in
Lich, Kreis Gießen, Oberhessen. Nach einer Banklehre und dem Abschluss der Kaufmannsgehilfenprüfung studierte er Wirtschaftswissenschaften und Landwirtschaft an den Universitäten in Frankfurt am
Main, Gießen und Kansas State, USA. Er war von 1976 bis 1984 als
selbstständiger Unternehmer tätig und ist bis heute Mitglied in Beirat
und Aufsichtsrat verschiedener Unternehmen. Seit 1980 ist er Mitglied
des Deutschen Bundestages und beschäftigt sich seither schwerpunktmäßig mit Fragen der Finanz- und Steuerpolitik. Von 1985 bis 1991
war er stellvertretender Vorsitzender, von 1991 bis 1998 Vorsitzender
der FDP-Bundestagsfraktion. Seit Oktober 1998 ist er Vizepräsident
des Deutschen Bundestages. Er ist seit 2009 Mitglied des Ausschusses
für Wirtschaft und Technologie des Deutschen Bundestages und Vorsitzender des Arbeitskreises II (Wirtschaft und Finanzen) der FDPBundestagsfraktion. Er ist Mitglied des Kuratoriums der FriedrichNaumann-Stiftung für die Freiheit.
Prof. Dr. Johannes Varwick, geb. 1968, seit 2013 Professor für internationale Beziehungen und europäische Politik an der MartinLuther-Universität Halle-Wittenberg, zuvor u.a. 2009-2013 Professor
für Politische Wissenschaft an der Friedrich-Alexander Universität
Erlangen-Nürnberg, 2009 Theodor-Heuss-Chair am Instituto Technologico Autonomo de Mexico in Mexico-City, 2003-2009 Professor für
Politikwissenschaft an der Universität Kiel, 2000-2003 wissenschaftlicher Assistent an der Helmut-Schmidt-Universität der Bundeswehr,
1999-2000 Leiter des Bereichs Europäische Sicherheitspolitik am Forschungsinstitut der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik,
Berlin.
Dr. Guido Westerwelle ist seit dem 28. Oktober 2009 Bundesaußenminister. Nach dem Abitur folgten das Studium sowie die anschließende
Promotion in Jura an der Universität Bonn. Danach war er als Rechtsanwalt in Bonn tätig. Er ist Ehrendoktor der Hanyang Universität,
Seoul, Südkorea. Er war Bundesvorsitzender der Jungen Liberalen von
1983-1988, Kreisvorsitzender der FDP Bonn von 1993 bis 2000, Generalsekretär der FDP von 1994 bis 2001 und Bundesvorsitzender der
FDP von Mai 2001 bis Mai 2011. Er ist Mitglied des Bundestages seit
Über die Autoren
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8. Februar 1996, von Mai 2006 bis Oktober 2009 war er zudem Vorsitzender der FDP-Bundestagsfraktion. Vom 28. Oktober 2009 bis 18.
Mai 2011 war er Vizekanzler der Bundesrepublik Deutschland. Er ist
Altstipendiat der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit.
Christian Wolff, M.A., promoviert an der Professur für Politik und
Zeitgeschichte des Nahen Ostens (Prof. Dr. Christoph Schumann) an
der Uni Erlangen. Er ist Mitgründer des Blogs: www.fokus-nahost.de
und war lange Zeit Stipendiat der Friedrich-Naumann-Stiftung für die
Freiheit. Sein Forschungsschwerpunkt ist der politische Islam und
hierbei besonders die ägyptische Muslimbruderschaft. In seiner Promotion, aber auch schon seiner Magisterarbeit („Die ägyptische Muslimbruderschaft – Von der Utopie zur Realpolitik“, Diplomica, Hamburg,
2008), behandelt er die Entwicklung liberalen politischen Denkens in
der Muslimbruderschaft. Im Rahmen mehrerer Forschungsaufenthalte
2007, 2009, 2010 in Ägypten konnte er mit zahlreichen Mitgliedern
der Führungsebene der Muslimbruderschaft, aber auch mit Vertretern
der linken, säkularen und liberalen Opposition Interviews und Gespräche führen. Ein weiterer Schwerpunkt seiner Forschung betrifft die
Veränderung gesellschaftlicher Aushandlungsprozesse durch das sogenannte Web 2.0.