Leipzig 1989 und Weimar 1991

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Leipzig 1989 und Weimar 1991
Es gilt das gesprochene Wort
FESTVERANSTALTUNG
DER EDF DEUTSCHLAND GMBH
ANLÄSSLICH DES 25. JUBILÄUMS DER FRIEDLICHEN REVOLUTION IN LEIPZIG
UNTER SCHIRMHERRSCHAFT
VON BURKHARD JUNG
OBERBÜRGERMEISTER DER STADT LEIPZIG
SALLES DE POLOGNE, HAINSTRAßE 19, 04109 LEIPZIG
9. OKTOBER 2014
„ OHNE DIE FRIEDLICHE REVOLUTION IN LEIPZIG VON 1989
KEIN WEIMARER DREIECK VON 1991“ *)
Prof. E.h. Dr. Drs.h.c. Klaus-Heinrich Standke
Chevalier de la Légion d’Honneur
Präsident
Komitee zur Förderung der deutsch-französisch-polnischen Zusammenarbeit e.V.
(‚Weimarer Dreieck’)
Zum 40. Jahrestag der DDR am 7.10.1989 machte ein sarkastischer Spruch die Runde,
wonach die deutsche Wiedervereinigung in genau 25 Jahren stattfände, d.h. am 7.10.2014:
An diesem Tag werde die DDR 65 Jahre alt und könne mit dem damit erreichten Rentenalter,
in die Bundesrepublik ausreisen und sich damit selbst auflösen…
1
Messieurs les Directeurs Roth et Dejouany,
Sehr geehrter Herr Oberbürgermeister Burkhard Jung,
Liebe Festgäste aus nah und fern,
wir sind heute hier versammelt in einer Stadt, deren Name im Buch der Geschichte
wie der kaum eines anderen Ortes mit dem europäischen Friedensprozess
verbunden ist:
Die Völkerschlacht in Leipzig von 1813 führte ein Jahr später zum Wiener
Kongress, der zu einer neuen europäischen Friedensordnung führte.1
Die friedliche Revolution in Leipzig von 1989 führte ein Jahr später zur Einheit
Deutschlands und machte damit den Weg frei für eine Neuordnung Europas.
Bei seinem historischen Besuch in der Karl-Marx-Universität Leipzig am 21.12.1989
hob der französische Staatspräsident François Mitterand hervor, dass von Leipzig
aus „der Heldenstadt“, „der Stadt der Kultur, der Denker und des Glaubens“, wie er
sie nannte2, Geschichte nicht nur für das Land, sondern für ganz Europa geschrieben
wurde.
Die großen Protestzüge
zehntausender Bürger auf dem Leipziger Ring fanden
Nachahmung in anderen Städten der DDR und wurden zum Sinnbild für die friedlich
verlaufende Revolution in ganz Ostdeutschland.
I.
Erinnern wir uns an die Anfänge vor einem Vierteljahrhundert:
Am 4. September 1989 fand im Anschluss an das traditionelle Friedensgebet in der
Leipziger Nikolaikirche die erste große Montagsdemonstration des Herbstes 1989
statt. Von diesem denkwürdigen Montag an stieg mit jeder Woche die Zahl der
Teilnehmer und auch die Brisanz des öffentlichen Protestes. Die Sicherheitskräfte
versuchten – ohne Erfolg, wie sich bald zeigte - mit Gewalt die Versammlungen zu
verhindern.
Das Stadtarchiv Leipzig vermerkt in seiner Chronik des Jahres 1989, dass am 9.
Oktober, d.h. heute exakt vor 25 Jahren, mehr als 70.000 Menschen aus Leipzig
und aus vielen anderen Städten der DDR auf dem Leipziger Innenstadt-Ring
demonstriert haben.
Die Demonstranten forderten „Freiheit“ und „Freie Wahlen!“;
Sie riefen „Wir sind das Volk!“, sie riefen „Keine Gewalt“ Und: „Wir wollen
Veränderungen“. Sie riefen aber auch „Wir bleiben hier“. Der Ruf „Wir sind ein Volk“
stand nicht zu Anbeginn, sondern kam erst viel später. Auf einem in Leipzig verteilten
Flugblatt vom 9. Oktober 1989 fand sich zwar bereits der Satz „Wir sind ein Volk“
gesperrt geschrieben vermerkt. Dieser Ruf wendete sich aber an die Tausende der
aufmarschierten staatlichen Einsatzkräfte (Staatssicherheit, Volkspolizei, Nationale
Volksarmee, Betriebskampfgruppen) und forderte diese zum Gewaltverzicht auf – die
Wiedervereinigung Deutschlands war zum damaligen Zeitpunkt nicht gemeint.
(* erweiterte Fassung des am 9. Oktober 2014 in Leipzig gehaltenen Vortrages
1
King, David, Wien 1814, Der Kongreß, der Europa neu erfand, Pieper, München 2014
2
Mitterand, François, De l’Allemagne, de la France, Editions Odile Jacob, Paris1996, S.205
2
Es bleibt ungeklärt geklärt, wann der Wechsel der Leipziger Demonstrationsparole
von „Wir sind das Volk“ bis zum Ruf nach staatlicher Wiedervereinigung „Wir sind
ein Volk“ erstmals erfolgte, vermutlich aber erst nach der Maueröffnung in Berlin am
9. November 1989. Hierzu heute morgen der Bundespräsident: „Kein 9. November
ohne den 9. Oktober. Vor der Einheit kam die Freiheit.“
Rund 8.000 staatliche Einsatzkräfte säumten am Abend des 9. Oktober den Weg der
Demonstranten. Die Bevölkerung wurde vor der Teilnahme an der Demonstration
gewarnt. Die Situation war angespannt. Weder die SED-Verantwortlichen noch die
Demonstranten wussten, wie dieser Abend verlaufen würde. Nachdem Erich
Honecker kurz zuvor, d.h. am 26. September 1989, den Geheimbefehl Nr. 8/89
erlassen hatte, wonach „Krawalle dieser Art von vornherein zu unterbinden seien“,
deuteten die Vorbereitungen der Staatsmacht auf die Demonstration am 9. Oktober
auf einen militärischen Eingriff hin. Politisches Vorbild war für die DDR-Führung
die nur wenige Monate zuvor, d.h. am 3./4. Juni 1989, erfolgte gewaltsame
Niederschlagung
des
Protestes
einer
friedlichen
studentischen
Demokratiebewegung durch das chinesische Militär auf dem ‚Platz des himmlischen
Friedens’ im Zentrum Pekings durch das chinesische Militär (Tian’anmen-Massaker).
Die DDR-Staatsführung solidarisierte sich ausdrücklich mit dem „chinesischen
Brudervolk“:
Am 8. Juni 1989 verlas der Erste Sekretär der SED-Bezirksleitung in Rostock,
Ernst Timm, vor der Volkskammer eine Erklärung: „Die chinesische
"Volksmacht" habe sich gezwungen gesehen, "Ordnung und Sicherheit unter
Einsatz bewaffneter Kräfte wieder herzustellen", "Dabei", so weiter, "sind
bedauerlicherweise zahlreiche Verletzte und auch Tote zu beklagen". Die
Abgeordneten applaudierten.
> Zur Erinnerung: Nach Schätzungen kamen rund 2.600 Menschen ums
Leben, etwa 7.000 wurden verletzt.3
Vier Tage später, am 12. Juni 1989, bekräftigte DDR-Außenminister Oskar
Fischer in einem Gespräch mit dem chinesischen Außenminister Qian Qichen
"die Solidarität und Verbundenheit mit der Volksrepublik China und dem
chinesischen Brudervolk".
Egon Krenz, der Stellvertreter des Vorsitzenden Staatsrates und Sekretär des
Zentralkomitees der SED für Sicherheitsfragen, äußerte am 8. Juni 1989 in
der DDR-Fernsehsendung ‚Aktuelle Kamera’ ausdrücklich seinen Beifall für
das chinesische Vorgehen.
In der Leipziger Volkszeitung vom 6. Oktober 1989 erschien unter der Überschrift
„Staatsfeindlichkeit
nicht
länger
dulden“
die
Erklärung
einer
Betriebskampfgruppenhundertschaft der SED, die die Montagsdemonstranten als
„gewissenlose
Elemente“
bezeichnete
und
dazu
aufrief,
„diese
konterrevolutionären Aktionen endgültig und wirksam zu unterbinden. Wenn es sein
muss, mit der Waffe in der Hand!“4
Die hiernach nicht unberechtigte Furcht vor einer gewaltsamen, einer „Chinesischen
Lösung“ in der DDR - die Bundespräsident Gauck heute Morgen bei dem Festakt im
Gewandhaus als Menetekel erwähnte 5 - verschärfte sich noch: Egon Krenz reiste
3
Amnesty International, Chinesisches Rotes Kreuz
Leipziger Volkszeitung, damals Organ der Bezirksleitung der SED, Klaus Sator, Deutscher
Bundestag, Wissenschaftliche Dienste, Nr. 27/14, 2.10.2014
5
www.bundespraesident.de, Rede zur Demokratie, 9.10.2014 Leipzig
4
3
während der Anfänge der revolutionären Entwicklungen in der DDR am 1. Oktober
1989, d.h. eine Woche vor dem Leipziger Protestmarsch, zum 40. Jahrestag der
Gründung der VR China nach Peking.
Die Nationale Volksarmee war für den 6. bis 9. Oktober in „erhöhte
Gefechtsbereitschaft“ versetzt worden.
Wie wir wissen, blieben glücklicherweise
in Leipzig
die befürchteten
Zusammenstöße mit der Staatsmacht aus. Die nicht genehmigte Demonstration
über den Leipziger Innenstadt-Ring verlief am 9. Oktober tatsächlich gewaltlos.
Letztlich verhinderten allein schon die großen Menschenmassen die geplante
Niederschlagung und vereitelten ein in der damals aufgeheizten Stimmung nicht
auszuschließendes Blutbad.
Zur Befriedung der angespannten Lage hat maßgeblich auch ein kurz vor Ende des
Friedensgebetes in der Nikolaikirche durch Lautsprecher und durch den Stadtfunk
verbreiteter dramatischer „Aufruf der Leipziger Sechs“ beigetragen, der ebenfalls zur
Gewaltlosigkeit aufrief und von Kurt Masur verlesen wurde6
Frank Beyer hat unter dem Titel „Nikolaikiche“ die von Ericht Loest in seinem
gleichnamigen Roman die hier beschriebenen dramatischen Geschehnisse verfilmt.
Nicht ohne Schaudern habe ich gestern Abend diesen Film im Fernsehen wieder
gesehen.
Das Datum des 9. Oktober ist unauflöslich mit der friedlichen Revolution im Herbst
1989 verwoben. Viele, darunter auch Hans-Dietrich Genscher, machen daher keinen
Hehl aus ihrer Ansicht, dass „der 9. Oktober ein angemessener Gedenk- und
Feiertag wäre als das Zufallsdatum 3. Oktober als deutscher Nationalfeiertag." Für
Friedrich Schorlemmer wird der proklamatorische Staatsakt der Wiedervereinigung
vom 3. Oktober 1990 niemals jene emotionale Kraft erreichen wie der 9. Oktober
1989 – der Tag des Bürgermutes.7
Auf Beschluss des Deutschen Bundestages soll daher parallel zu Berlin auch in
Leipzig zum Gedenken an den gewaltfreien Widerstand und an die Zivilcourage der
Leipziger Bürger und Bürgerinnen – stellvertretend für alle Bürgerrechtler
Ostdeutschlands, die im Herbst 1989 die Freiheit einforderten - ein Denkmal der
Freiheit und Einheit Deutschlands errichtet werden.
Das Leipziger Stadtarchiv berichtet des Weiteren, dass nach dem 9. Oktober die
Montagsdemonstrationen keinesfalls abebbten, sondern im Gegenteil weiter
anschwollen: Am 16. Oktober nahmen bereits 120.000 Bürger daran teil, und vom
23. Oktober bis Weihnachten 1989 wurden an jedem Montag jeweils rund 200.000
Teilnehmer verzeichnet.
6
„Bürger! Professor Kurt Masur, Pfarrer Dr. Zimmermann, der Kabarettist Bernd-Lutz Lange und die
Sekretäre der SED-Bezirksleitung Dr. Kurt Meyer, Jochen Pommert und Dr. Roland Wötzel wenden
sich mit folgendem Aufruf an alle Leipziger: Unsere gemeinsame Sorge und Verantwortung haben uns
heute zusammengeführt. Wir sind von der Entwicklung in unserer Stadt betroffen und suchen nach
einer Lösung. Wir alle brauchen freien Meinungsaustausch über die Weiterführung des Sozialismus in
unserem Land. Deshalb versprechen die Genannten heute allen Bürgern, ihre ganze Kraft und
Autorität dafür einzusetzen, dass dieser Dialog nicht nur im Bezirk Leipzig, sondern auch mit unserer
Regierung geführt wird. Wir bitten Sie dringend um Besonnenheit, damit der friedliche Dialog möglich
wird. Es sprach Kurt Masur.“
7
Schorlemmer, Friedrich, Erst die Freiheit, dann die Einheit!, Leitartikel, Leipziger Volkszeitung
9.10.2014
4
Am 9. November 1989 fiel die Berliner Mauer und die innerdeutsche Grenze wurde –
wie man heute weiß - offenbar dank einer Tollpatschigkeit von Günter Schabowski,
der erst drei Tage zuvor zum Sekretär des ZK der SED für Informationswesen
ernannt worden war 8- als Produkt einer Verkettung seltsamer Umstände 9 geöffnet. Wenig bekannt ist, dass – wie der frühere französische Außenminister
Roland Dumas in seiner Autobiographie10 berichtet - in derselben Nacht ebenfalls
die sowjetischen Streitkräfte in der DDR (Westgruppe) in Alarmzustand versetzt
wurden. Um den Ernst der damaligen Lage zu erhellen, zitierte Dumas eine
Botschaft vom 10. November von Präsident Gorbatschow an Präsident Mitterand, in
der er diesen bittet, alles zu tun, damit die Situation nicht außer Kontrolle gelange.
In dieser politischen Gemengelage zu Ende des europäischen Schicksalsjahrs 1989,
deren Ausgang damals noch völlig ungewiss war, verdient besondere Beachtung,
dass François Mitterand als einziger Staatspräsident der vier Siegermächte der
bereits wankenden DDR einen offiziellen Besuch abstattete. Er wollte sich mit seiner
Visite am 20./22. Dezember 1989 ein persönliches Bild der Lage eines Landes
verschaffen, in dem – wie er es ausdrückte - sich gerade ein Stück europäischer
Geschichte abspielte“11.
Nach seinem Besuch bei der DDR-Staatsführung in Ost-Berlin machte Präsident
Mitterand am 21.Dezember 1989 – übrigens einer Anregung von Hans-Dietrich
Genscher folgend – einen Besuch in Leipzig. Im überfüllten Hörsaal 19 der KarlMarx-Universität in Leipzig stellte der französische Präsident vor rund 1000
Studenten, die ihn begeistert empfingen, seine Sicht über die zu erfüllenden
Rahmenbedingungen einer Annäherung der beiden deutschen Staaten und ihrer
eventuellen Wiedervereinigung dar.12 13
Die unterschiedlichen und zum Teil konträren Positionen der Staatschefs der vier
Siegermächte, George H. W. Bush, Michail Gorbatschow, François Mitterand und
Margaret Thatcher gegenüber der deutschen Wiedervereinigung hat der frühere
amerikanische Außenminister James Baker in seinem Grußwort zum heutigen
Friedensgebet in der Nikolaikirche skizziert.14 15
Wie sensitiv für Gewalthaber aller Art unkontrollierte Volksaufmärsche sind wie das
Beispiel von Leipzig zeigte, beweist ein anderes persönlich erlebtes Beispiel
ebenfalls aus dem Schicksalsjahr 1989: Am 21. Dezember 1989, just an demselben
8
DIE ZEIT Nr. 39/23.9.2009
Botschafter a.D. Frank Elbe nennt die Öffnung der Mauer am 9. November 1989 „ein
unvorhergesehenes, eruptives Ereignis“ in: Kiessler, Richard und Elbe, Frank, Der diplomatische Weg
zur deutschen Einheit, Suhrkamp Taschenbuch, Nomos, Baden-Baden 1993, S.45
10
Dumas, Roland, Le fil et la pelote, Plon 1996, S.339
11
Mitterand, François, De l’Allemagne, de la France, a.a.O., S.107
12
Frankreichs Staatspräsident Mitterrand tritt für die Existenz zweier deutscher Staaten ein.
DER SPIEGEL 1/1990, 1.1.1990
13
Im selben Sinne äußert sich auch Valentin Falin, sowjetischer Botschafter a.D., in seinen Mémoiren
über die Ereignisse im Herbst 1989: „Vereinigung – ja, Anschluss – nein“ Falin, Valentin, Politische
Erinnerungen, Droemer-Knaur, München 1993, S.490
14
Übersetzung des Grußwortes des ehemaligen US-Außenministers James A. Baker III, bei dem
Friedensgebet in der Nikolaikirche, Leipzig, 9.10.2014
15
Zum selben Thema der frühere Präsident der Sowjetunion Michail Gorbatschow: „…Auch NATOVerbündete der Bundesrepublik Deutschland – Engländer, Franzosen, Italiener – wollten die
Wiedervereinigung Deutschlands nicht, schon gar nicht eine rasche.“ Gorbatschow, Michail, Wie es
war. Die deutsche Wiedervereinigung, Econ, München 2000, S.92
9
5
Tag, an dem Präsident Mitterand seinen Leipzig-Besuch durchführte, hatte ich mit
meiner Frau in Moskau die Ehre, am offenen Sarg des eine Woche zuvor
verstorbenen Physikers und Friedensnobelpreisträgers Andrei Dmitrijewitsch
Sacharow Totenwache zu halten. Wir waren Augenzeugen als seine Witwe Elena
Bonner mit Präsident Michail Gorbatschow telefonierte, um dessen Einwilligung zu
erlangen, dass der Trauerzug quer durch Moskau zum Friedhof Wostrjakowo ziehen
würde. Gorbatschow lehnte ab. Er war im Hinblick auf die schon damals nicht zu
übersehende Erosion seiner Machtbasis16 offenkundig von Sorge erfüllt, dass sich ähnlich wie wenige Wochen zuvor in Leipzig - der Aufmarsch zu Ehren des vom ihm
hochgeschätzten großen Toten
in einen unkontrollierbaren Demonstrationszug
verwandeln könne.
Die Leipziger Montagsdemonstrationen haben nicht nur ähnliche Manifestationen
im Herbst 1989 in zahlreichen anderen Orten der DDR zur Folge gehabt. Aus
heutiger Sicht können sie bis in die jüngste Zeit hinein als Vorläufer gelten für eine
Vielzahl ähnlich gewaltfreier Protestaktionen der Bürger, so z.B.
auf dem Tahir-Platz in Kairo und an anderen Orten des kurzlebigen
Arabischen Frühlings im Jahr 2011,
auf der Puetra del Sol in Madrid mit den ‚Indignados’, den ‚Empörten’, im Jahr
2012,
auf dem Gezi-Park in Istanbul im Jahr 2013
im Frühjahr 2014 auf dem Majdan in Kiew
oder als jüngstes Beispiel
die noch andauernde Studentenrevolte in
Hongkong.
Der vor zwei Jahren verstorbene Stéphane Hessel, Ambassadeur de France,
ehem. Buchenwald-Häftling und Gründungsmitglied unseres Kuratoriums, hat im
Alter von 93 Jahren eine Streitschrift „Indignez-vous!, „Empört Euch“,17 verfasst,
die in 4 Millionen Exemplaren in 34 Sprachen erschienen ist und in rund 100
Ländern verkauft wurde und vor allem von der Jugend begeistert aufgenommen
wurde. Er, der in hohem Alter weltweit zum Idol des gewaltfreien Bürgerprotests
geworden ist, empfand Genugtuung über das unter ganz anderen Umständen
von Leipzig ausgegangene Protestsignal. Die Stadt Weimar hat dem vielerorts
Hochgeehrten, der in Weimar-Buchenwald die schlimmste Zeit seines Lebens
verbringen musste, wenige Wochen vor seinem Tod die Ehrenbürgerwürde
versagt. Ich bin mir sicher, dass Leipzig, die Stadt des Bürgerprotestes, die
„Heldenstadt“18, vor dieselbe Frage gestellt, ihm diese Ehrung nicht verweigert
hätte.
II.
Nach diesem historischen Exkurs zu den Anfängen der von Leipzig ausgegangenen
friedlichen Revolution möchte ich nun den Bogen schlagen zur europäischen
16
Lozo, Ignaz, Der Putsch gegen Gorbatschow und das Ende der Sowjetunion, Böhlau Verlag, KölnWeimar-Wien 2014
17
Hessel, Stéphane, Empört Euch!, Ullstein, Berlin, 8.Auflage 2011
18
Der Schriftsteller Christoph Hein prägte als Erster den Begriff « Leipzig, die Heldenstadt ». Bei der
Großdemonstration am 4.11.1989, fünf Tage vor der Öffnung der Mauer, forderte er, ähnlich wie Berlin
den Untertitel „Hauptstadt der DDR“ trage, solle künftig Leipzig den Untertitel „Heldenstadt“ tragen. Zit.
in: DIE ZEIT, „Welches war die Heldenstadt?“
6
Dimension dieses epochemachenden Ereignisses,
polnischen Zusammenarbeit im Weimarer Dreieck.
zur
deutsch-französisch-
Unsere Gastgeber von der Electricité de France haben sinnigerweise durch ihre
Einladung zum Lichtfest in Leipzig sowohl den französischen wie auch den
polnischen Bezug zum Weimarer Dreieck schon hergestellt: Als französisches
Unternehmen hat EDF für diesen Festakt den prachtvollen Rahmen der Salles de
Pologne ausgewählt. An dieser Stelle stand weiland das Hôtel de Pologne, so
benannt nach dem Besuch im Jahr 1706 des polnischen Königs Stanislaw I.
Leszczyski.
Was hat es mit dem ‚Weimarer Dreieck’ auf sich? Warum schmücken heute die
Flaggen Deutschlands, Frankreichs und Polens das Podium der Salles de Pologne?
Der polnischen Solidarność-Bewegung war es gelungen – nach erstmals in einem
Land des damaligen Ostblocks durchgeführten freien Wahlen – am 13. September
1989 unter Führung von Tadeusz Mazowiecki eine demokratisch legitimierte
Regierung zu bilden.
Die Ereignisse in Leipzig, nur wenige Tage später, am 9. Oktober 1989, führten
ursächlich am 9. November 1989 zur Öffnung der Berliner Mauer. Dies war das
Signal für die Auslösung eines Domino-Effekts, in dem ein Ostblock-Land nach dem
anderen, freie Wahlen abhielt. Nicht überall verlief die Revolution so friedlich wie in
Deutschland.
Die Ereignisse überschlugen sich weiterhin: Das Jahr 1991 sah die Auflösung
sämtlicher Machtstrukturen des Ostblocks: Zunächst sowohl des Warschauer Paktes
als militärischer Beistandspakt wie auch des Rates für Gegenseitige Wirtschaftshilfe
(RGW), die beide unter Führung der Sowjetunion standen und schließlich Ende 1991
die Auflösung der Sowjetunion selbst.
Für die Länder Westeuropas erwuchs hieraus eine große Verantwortung.
Hans-Dietrich Genscher berief im Frühjahr 1991 gemeinsam mit seinem
französischen Amtskollegen Roland Dumas eine gemeinsame Botschafterkonferenz
nach Weimar ein. Beide Minister betonten ihre Bereitschaft, im Rahmen der
Europäischen Gemeinschaft die erforderlich gewordene neue europäische Ostpolitik
gemeinsam zu gestalten. Sie beschlossen das größte Land in Mittel- und Osteuropa,
Polen, als Dritten in diesen jahrzehntelangen informellen Zweierbund zu assoziieren.
Durch die engen Kontakte, die insbesondere zwischen den damaligen
Außenministern Deutschlands, Frankreichs und Polens in der kritischen Phase der
Verhandlungen entstanden, die die deutsche Wiedervereinigung zum Ziele hatten, ist
eine enge menschliche Beziehung zwischen den drei Spitzendiplomaten gewachsen.
Während das freundschaftliche Verhältnis zwischen Hans-Dietrich Genscher und
Roland Dumas schon länger bestand (F. Mitterand: Es vergehen keine zehn Tage,
ohne dass die beiden sich sehen19), kam nun als Dritter im Bunde der polnische
Außenminister Krzysztof Skubiszewski hinzu. Genscher berichtet in seiner
Autobiographie hierüber wie folgt: „…So war es möglich, (am 28.29.August) 1991 ein
19
Mitterand, François, De l’Allemagne, de la France, a.a.O., S.204
7
Treffen in Weimar zu arrangieren, an dem Dumas, Skubiszewski und ich teilnahmen.
Dazu gaben wir gemeinsam eine französisch-polnisch-deutsche Erklärung zur
Zukunft Europas ab. Es war die erste Zusammenkunft der Außenminister dieser drei
Länder, an deren Ende ein gemeinsames, verpflichtendes Bekenntnis zur Einheit
Europas stand. So bildete sich das Weimarer Dreieck oder auch der Weimarer
Bogen: Frankreich, Polen und Deutschland in gemeinsamer Verantwortung für die
Einheit Europas. Dieses Signal ging von Weimar aus, der Stadt Goethes und
Schillers.“20
Das Weimarer Dreieck sollte sich nicht auf eine besondere deutsch-französischpolnische Zusammenarbeit beschränken. Gedacht war von Anfang an gemeinsame
Anstrengung zur Schaffung eines nun möglich gewordenen größeren politischen,
wirtschaftlichen und kulturellen Europas. Hier kam es insbesondere darauf an, die
wieder unabhängig gewordenen mittel- und osteuropäischen Länder auf ihrem Weg
in gesamteuropäische Strukturen zu begleiten. Für Bundespräsident Joachim Gauck
bedeutet daher die vor einem Jahrzehnt erfolgte Aufnahme der mittel- und
osteuropäischen Länder in die EU
„so etwas wie eine zweite Gründung der
Europäischen Union!“
Der Umstand, dass der Bundespräsident heute am Tag des Erinnerns an 25 Jahre
der friedlichen Revolution in Leipzig seine Amtskollegen aus der sog. ‚VisegradGruppe’, d.h. aus Polen, der Tschechischen und der Slowakischen Republik und aus
Ungarn als Ehrengäste zu dem Festakt anlässlich seiner feierlichen ‚Rede zur
Demokratie’ in das Gewandhaus eingeladen hat, ist eine Art von Krönung des vor
einem
Vierteljahrhundert
in
dieser
Stadt
begonnenen
europäischen
Einigungswerkes.
Als Kernstück mit Symbolkraft und als gelungenes Beispiel für die enge politische
und zivilgesellschaftliche Zusammenarbeit jahrhundertelang einstmals verfeindeter
Länder im größer gewordenen Europa kann ebenfalls das Weimarer Dreieck gelten.
Im Herbst 1989 war es das kraftvolle Engagement der Bürger und Bürgerinnen
Leipzigs, das das schier Unmögliche vollbrachte, nämlich die verkrusteten Strukturen
der DDR durch ihre Protestmärsche zum Einsturz zu bringen. In diesem Sinne rief
der unvergessene Stéphane Hessel millionenfach die Jugend der Welt auf: Indignezvous! Empört Euch“.21
Auch das Weimarer Dreieck Deutschlands, Frankreichs und Polens bedarf - wie das
größer gewordene „Europa der 28“ - der unablässigen Mitwirkung und der
Einbeziehung der Bürgergesellschaft in der gesamten „Breite des Lebens“ wie es in
der Weimarer Erklärung der drei Außenminister von 1991 heißt.22
20
Genscher, Hans-Dietrich, Erinnerungen, Siedler, Berlin 1995, S.894
Hessel, Stéphane, Empört Euch!, Ullstein, Berlin, 8.Auflage 2011
Indignez-vous!, éditions inigène, Paris 2013
22
Standke, Klaus-Heinrich (Hrsg.), Das Weimarer Dreieck in Europa, Die deutsch-französischpolnische Zusammenarbeit. Entstehung – Potentiale – Perspektiven.
Verlag Adam Marszałek, Thorn 2010, 931 S., ISBN 978-83-7611-464-4
21
8
Das Wunder des „Leipzig von 1989“ führte nur einen Monat später zur Öffnung der
Berliner Mauer. Es war Vorausbedingung sowohl für das „Weimar von 1991“ und
damit letztlich für das europäische Einigungswerk insgesamt.
FESTVERANSTALTUNG
DER EDF DEUTSCHLAND GMBH
ANLÄSSLICH DES 25. JUBILÄUMS DER FRIEDLICHEN REVOLUTION IN LEIPZIG
UNTER SCHIRMHERRSCHAFT
VON BURKHARD JUNG
OBERBÜRGERMEISTER DER STADT LEIPZIG
SALLES DE POLOGNE, HAINSTRAßE 19, 04109 LEIPZIG
9. OKTOBER 2014, 20 :00
PROGRAMMABLAUF
20:15
Begrüßung:
Gonzague Dejouany
C.E.O., EDF Deutschland GmbH
Gérard Roth
Direktor, Kontinentaleuropa EDF
Vortrag:
9
Prof. E.h. Dr. Drs.h.c. Klaus-Heinrich Standke
Chevalier de la Légion d’Honneur
Präsident
Komitee zur Förderung der deutsch-französisch-polnischen Zusammenarbeit e.V.
(‚Weimarer Dreieck’)
„ OHNE LEIPZIG VON 1989 KEIN WEIMAR VON 1991.
DAS WEIMARER DREIECK DER ZIVILGESELLSCHAFT“
21:15
Ansprache:
Burkhard Jung
Oberbürgermeister der Stadt Leipzig
22:00
Ende der Veranstaltung
Lichtfest Leipzig 2014
Herbst ´89- Aufbruch zur Demokratie
Zum 25. Jahrestag, dem 9. Oktober 2014, erstreckte sich das Lichtfest Leipzig auf einer Strecke von
3,6 Kilometern über den gesamten Innenstadtring der Stadt, entlang des historischen
Demonstrationsweges von 1989. Internationale Künstler schafften mittels Licht, Audio und Video
wechselnde Blickwinkel und stellten aktuelle Bezüge her. Ein Vierteljahrhundert nach der Friedlichen
Revolution wurden der Freiheitsgeist und der bürgerliche Gemeinschaftssinn für die 150.000
Teilnehmer am Lichtfest 2014 wieder erlebbar.
Höhepunkt des diesjährigen Lichtfestes war im Gewandhaus ein Politischer Festakt mit einer Rede zur
Demokratie von Bundespräsident Joachim Gauck in Anwesenheit der Staatspräsidenten Bronisław
Komorowski (Polen), Miloš Zeman (Tschechien), Andrej Kiska (Slowakei) und János Áder (Ungarn).
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Foto: Jens Schlüter (Stadt Leipzig)
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