EUPHORBOS UND DER TOD DES PATROKLOS Im 16

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EUPHORBOS UND DER TOD DES PATROKLOS Im 16
EUPHORBOS UND DER TOD DES PATROKLOS
von HUGO
~ÜHLESTEIN
Im 16. Buch der Ilias rückt Patroklos aus, die Troer von den Schiffen
der Achäer zu vertreiben; nur soviel hat ihm Achill, der Freund, erlaubt.
Aber im Siegesrausch wagt er sich bis unter die ~auern Troias und fällt.
Dieses letzte Stück, II 783ff., ist merkwürdig kompliziert: Zuerst betäubt
Apollon den Patroklos mit einem Schlag auf den Rücken, dann verwundet
ihn ein Dardaner, Euphorbos, des Panthoos Sohn, von hinten mit dem Speer,
und erst als dritter trifft ihn Hektor tödlich. Anschliessend im P eilt ~ene­
laos zum Schutz der Leiche herbei; Euphorbos fordert ihn deshalb heraus,
es kommt zum Kampf, und er fällt; ~enelaos hätte ihn auch noch der Waffen
beraubt, weicht aber vor dem herannahenden Hektor zurück.
Das ist des Euphorbos ganze Rolle. Es wird also im Gedicht vom Zorn
des Achilleus gerade hier, an entscheidender Stelle - erst der Tod des
Patroklos steigert Achill, als ~itschuldigen, zum tragischen Helden - ein
bisher gänzlich Unbekannter eingeführt, der darauf nur noch zu fallen hat
und nach P 91 endgültig vergessen ist. Das verstösst, nach unserem Empfinden, gegen die poetische Ökonomie: Patroklos müsste durch Hektor
fallen, durch Hektor allein, auf den ja dann Achills ganze Rache zielt. Ihn
verkleinert jetzt die Einschaltung des Gottes und besonders des Euphorbos.
Diesem Eindringling - denn so wirkt Euphorbos im Zusammenhang - steht
die Homerkritik bisher ratlos gegenüber 1.
1 Anstoss nimmt man allgemein. Ältere Autoren diskutiert C. Hentze, Anhang zu
Homers !lias, 6, 190()2, 30-36. S. dann u.a. Hoefer, R.-E. 6, 1907, 1173, 34; D. Mülder,
D. !lias u. ihre Quellen, 1910, 183f.; W. Schmid, Gesch. d. gr. Lit. 1, 1, 1929, 995;
Renata v. Scheliha, Patroklos, 1943, 263; A. Heubeck, Fests. Hum. Gymn. Erlangen,
1950, 29; P. Von der Mühll, Krit. Hypomnema z. Ilias, 1952, 251. Man hat die Rolle
des Euphorbos zu motivieren versucht: Aus Nationalismus habe der griechische Dichter
Hektors Sieg verkleinert (Bethe, Homer I, 1914, 318; Schmid, a.O. und 1095 ); oder
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Und doch fordert die störende Komplikation zur Erklärung heraus.
Ka~nte der Dichter etwa einen Euphorbos aus einer Tradition 2, an die er
sich gebunden fühlte? Oder hat, zum Schaden der Komposition und aus
Gründen, die wir nicht verstehen, erst ein späterer Bearbeiter den Euphorbos
eingefügt 3? Das erste nicht, das zweite kaum; aber eines wird klar herauskommen: Der Dardaner ist mitsamt seinem Namen Euphorbos für die eine
Szene vom Tod des Patroklos erfunden, allerdings nicht frei, sondern angeregt
durch ein mächtig wirkendes Vorbild. Dieses ist eindeutig identifizierbar,
und des Dichters Gründe für die Einführung des Euphorbos sind mit Sicherheit zu erschliessen.
Aufs Richtige führt, wie in andern Fällen, zunächst der Name. Dann
bietet sich eine Reihe von Bestätigungen in den Einzelheiten der Euphorboshandlung gleichsam von selber an. Endlich harmoniert das Ergebnis mit
früheren Feststellungen, wonach Homer stark durch das Gedicht von Achills
Tod inspiriert ist. Ich durchgehe das einzelne in dieser Folge.
Das Wort EÜCPOpßO<; bedeutet 'mit guter Weide' oder, bei verbal aufgefasstem Hinterglied, 'gut fütternd, gute Weide gewährend'. Der Name
Euphorbos passt also, seinem Sinne nach, zu einem Hirten. Und so wurde er
auch aufgefasst: Der Hirt, welcher den ausgesetzten Ödipus rettet, heisst
auf einer Vase 4 Euphorbos, dann bei Seneca, Oed. 840ff., Phorbas 5. Und
noch die orphischen Lithika, 463 A., kennen einen BOUXOAL01}<; Eücpopßo<;;
da harmonieren also die Namensinhalte von Vater und Sohn 6, wie so oft in
den Mythen.
Aber warum trägt der Mann, welcher Patroklos trifft, einen Hirtennamen? Was für ein Hirt kann dem Dichter die Person des Euphorbos ein-
,I
Euphorbos gebe Gelegenheit zu sofortiger, vorläufiger Rächung des Patroklos (H. Pestalozzi, D. Achilleis als Quelle d. !lias, 1945, 45; W. Kullmann, D. Quellen der !lias,
1960, 316), was jedoch Achill verkleinerte und der Menisdichtung zuwiderliefe.
2 Das ist implizit erwogen bei v. Wilamowitz, D. !lias u. Homer, 1916, 143f.,
auch bei Von der Mühll 255.
3 S. z.B. Fick und Erhardt bei Hentze 36; Bethe, Horn. II, 1922, 322.32V9 •
4 Amphora des Achilleusmalers: A. de Ridder, CataI. des vases peints de la BibI.
Nat., 1902, No. 372.
5 Diese Namensform war auch sonst aufs Hirtenleben bezogen, wie die übereinstimmung der Inhalte zusammengehöriger Namen zeigt: Phorbas hat in argivischer Sage
zur Schwester die Kleo-boia, zur Frau die Eu-boia, zur Mutter die Melantho (nach Melantheus, dem Ziegenhirten in der Odyssee); in anderer Sage ist er der Sohn der Orsi-nome,
der Tochter des Eury-nomos. Ein Troianer 1l>6pßac; ist 'ltoMIJ.TJA.oc; E 490.
6 Die Mutter ist 'AßapßapETJ, die gleiche, welche Z 22 dem BOVXOA.lwv Zwillinge
schenkt. Dort ist sie eine Wassernymphe, vUIJ.(j)TJ VTJ~C;, und ihr Name (zu lt-ß6pßopoc;)
passt dazu. In den Lithika, 461ff., hat ihr Sohn Euphorbos von ihr Medizin gelernt.
Das muss in augusteischer Zeit bekannt genug gewesen sein, wenn der Bruder des
Antonius Musa, selber Arzt, sich Euphorbos nennen konnte. Ist es Zufall, dass beide
ärztlichen Brüder gerade durch Wasserkuren berühmt geworden sind?
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gegeben haben? Man suche nicht weit: Der berühmteste Hirt der griechischen
Sage ist Paris. Ja, nach Paris hat Homer den Euphorbos geschaffen! Das
beweisen eine ganze Reihe von Einzelheiten, die erst so, mit dem Blick auf
Paris, nun auf einmal ihre Erklärung finden. So schon beim ersten Auftreten
des Euphorbos, II 806ff.:
(Patroklos ist eben vom Gott geschlagen worden,)
O"'t'ij OE 't'aq>wv' oml}Ev OE IJ.E't'&q>PEVOV O~,EL ooupt
w(..I.WV (..I.EO"O"llYU~ O"xE06ilEV ß&A,E A&poavo~ &vi}p,
IIavl)otoll~ 'Euq>opßo~, ö~ 1)A,LX~llV ExhaO"'t'o
EYXEt l}' L7t7tOO"UVTI 't'E 7t60EO"O"L 't'E Xap7taA,L(..I.OLO"LV •
xat ya.p 01} 't'6't'E q>w't'a~ EELXOO"L ßijO"EV &q>' L7t7tWV,
7tpw't" EMwv O"uv OXEO"q>L, oLoaO"x6(..1.EVO~ 7tOA.E(..I.OLO •
ö~ 't'OL 7tpw't'o~ Eq>ijXE ßEA.O~, IIa't'p6xA,EE~ L7t7tEU,
ouoE Otl.(..I.aO"O"' • 0 (..I.EV aihL~ &vEOpa(..l.E, (..I.LX't'O 0' O(..l.LA,4l •••
810
1. 807 ist Euphorbos ein Dardaner, weil die Dardaner am Ida wohnen,
Y 215ff. B 819ff., wo Paris die Herden seines Vaters hütet 7.
2. Das gleiche Bild, Paris als Hirt auf dem Ida, gibt also dann im
nächsten Vers dem Euphorbos diesen Namen 8.
3. Der Dichter macht ihn zum Panthoiden, um ihn zu adeln, entsprechend dem Adel des Prinzen Paris, des Priamiden. Denn mit Priamos
und Panthoos beginnt die Liste der Geronten in der Teichoskopie, r 146:
OL 0' &(..I.q>t IIpLa(..l.ov xat II&vl}oov, x't'A,. Dass damit gar noch Panthoos zum
Dardaner wird, der doch in Troia selbst zu den Geronten gehört, r 149, hat
den Dichter nicht gestört.
4. Die Zeichnung des Euphorbos, 808ff., folgt weiterhin dem Lebenslauf
des Paris: Dieser war vom Ida in die Stadt zurückgekehrt, um unerkannt an
den Leichenspielen teilzunehmen, welche Priamos - ihm zu Ehren, den er
tot glaubte! - veranstaltet hatte. In diesen Spielen übertraf er, noch als
Hirt, alle andern, auch die Prinzen, seine Brüder, und gab sich dann zu
erkennen 9. Davon angeregt lässt der Dichter den Euphorbos sich unter den
jungen Männern auszeichnen im Speerwerfen, Wagenrennen und Lauf, 808f.
7 Das Adjektiv Aapoa:voc; 807 hat G. Jachmann, D. horn. Schiffskatalog, 1958, 259,
willkürlich mit Tp(llLOC; gleichgesetzt, während doch 811 ausdrücklich gesagt ist, dass
Euphorbos erst gerade von auswärts gekommen ist.
_ . 8 Das widerlegt frühere Vorstellungen von einem vorerst namenlosen Dardaner, der
nachträglich Euphorbos genannt worden wäre: Mülder, a.O. (der im Hirtennamen eine
Persiflage des Helden sah!); Bethe I, 1914, 319; C. Robert, D. gr. Heldensage 3, 2.
1923, 1015f.; P. Cauer, Grundfr. d. Homerkr., ]923\ 677; Von der Mühll 251ff.
9 So nach Hygin, fab. 91 (vgl. 273), der Euripides nacherzählt (B. Snell, Euripides
Alexandros, 1937, 23.61).
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5. Die unerwarteten Erfolge des Paris haben aber auch die ebenso
erstaunlichen militärischen Siege des Euphorbos inspiriert, der, kaum angekommen, gleich zwanzig Wagenkämpfer niederwirft, obschon er das Kriegshandwerk erst lernt 10. - Oder gehört 810f. etwa noch zu den Wettkämpfen?
Dann wäre an eine Art Turniere zu Wagen, mit stumpfen Lanzen, gedacht,
und 't6'tE bezöge sich auf die Zeit, als Euphorbos EXEXCl.O"'tO.
6. Und im Kampf ist Euphorbos ein zweiter Paris, indem er erst nach
Apollons Schlag anzugreifen wagt: Zusammen mit ApolIon erlegte Paris den
Achilleus in der Aithiopis nach dem Auszug des Proklos: 'Axü.A.Eu~ ••• {I1tO
n&.ptOO~ &.'VCl.tPEL'tCl.t XCl.t 'A7t6A.A.w'Vo~. Homer weist darauf hin, X 359f.
7. Sogar die Richtung des Angriffs verrät die Quelle der Anregung:
Euphorbos trifft Patroklos mit dem Speer von hinten, am Rücken, zwischen
den Schultern, 806f. 11; so ist est durch den Schlag des Gottes auf den gleichen
Körperteil vorbereitet (79lf., mit den gleichen Wörtern gesagt). Aber warum
der koordinierte Angriff des Gottes und des Menschen von hinten erfolgt,
warum und wie Euphorbos hinter den Gegner zu stehen kommt, ist nicht
einzusehen. Was hier unmotiviert erscheint, war eben sinnvoll und nötig in
der Vorlage: Dort traf Paris - auch er zusammen mit Apollon - den Achill
durchaus von hinten, nämlich in die Ferse, wo allein er verwundbar war.
Das ist auf den Vasenbildern deutlich zu sehen 12.
8. 812f.: « Der also hat dich, Patroklos, zuerst verwundet; aber er wich
gleich zurück.» Die Logik der Stelle ist klar: Euphorbos wird zuerst
gerühmt, 808-811, flieht aber dann doch vor Patroklos, sogar vor dem schon
geschlagenen und verwundeten; das erhöht den Patroklos. Aber so muss eben
auch die Rolle des Paris bei der Erlegung des Achilleus gewesen sein: Den
gewaltigsten der Griechenhelden konnte der Beste der Troer nur mit göttlicher
Hilfe treffen, und er wich noch vor dem getroffenen sofort zurück. übrigens
passt die Taktik des raschen Vorprellens und Zurückweichens zum Bogen10 Damit erledigt sich Naucks Konjektur A.tA.at611E\lO~ für 8t8a(j)t611E\lO~. Was vorschwebt, ist die Umstellung, das 'Umlernen' vom Hirten zum Krieger.
11 Das ist genau so und sehr eindrücklich dargestellt auf einer Metope des Heraions
in Foce deI Sele, s. K. Friis Johansen, The Iliad in Early Greek Art, 1967, 277f. (mit
Lit.), Fig. 98.
12 Eine chalkidische Amphora (verschollen. Pfuhl, Mal. u. Zeichn. Abb. 163. R. Hampe und E. Simon, Griech. Sagen in d. frühen etrusk. Kunst, 1964, 48ff. Abb. 10) stellt
den Kampf um die Leiche des Achilleus dar. Die Namen sind beigeschrieben. Ein Pfeil
steckt in Achills Ferse, ein zweiter in seiner Weiche, beide haben ihn von hinten
getroffen. - Auf einer pontischen Amphora in Kopenhagen (Ars Antiqua Auktion I,
Luzern 1959, 46, Nr. 130, Taf. 60. Hampe-Simon 45ff. Taf. 18.19) zielt Paris von
hinten auf die Ferse des Achilleus, während dieser gegen einen andern Krieger kämpft,
den Hampe-Simon 51 als Aeneas identifizieren. Das scheint mir dadurch bestätigt zu
sein, dass zu Füssen dieses Helden Wald angedeutet ist: Aeneas ist ja Dardaner vom
Ida ("181]
= t81]).
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schützen Paris und wirkt, auf den Speerwerfer Euphorbos übertragen, weniger überzeugend.
9. Auch der zweite Auftritt des Euphorbos, sein Kampf und Tod im
Anfang des P, erweist ihn als andern Paris: Euphorbos fällt von der Lanze des
Menelaos. Das ist der Gegner des Paris im r, sein natürlicher Gegner nach
dem Raub der Helena 13.
10. Euphorbos ist P 9.59 (und 23 zusammen mit seinem Bruder) EUIlllEA.~T}C; genannt, auch das mit dem Blick auf den Priamiden; denn das Epitheton gehört in der Ilias sonst nur dem Priamos, Z 449 +, in berühmten
Versen. Den Euphorbos soll es adeln, gleich wie das Patronymikon 11a.viMoT}c;,
vgl. oben Ziffer 3.
11. Euphorbos fordert heraus, P 12ff., ähnlich wie Paris, r 15ff., aber
nun unlogisch: «Menelaos, lass ab vom Leichnam, denn ich habe als erster
der Troer Patroklos getroffen; so lass den Ruhm mir, sonst erschlage ich
dich. » Ganz wie wenn zwei Sieger von der gleichen Partei um den Besitz
eines gemeinsam Erkämpften rivalisierten! Aber die Rede ist auf dem Hintergrund der Rivalität zwischen Paris und Menelaos ungeschickt gedichtet.
12. Im Kampf zwischen Euphorbos und Menelaos sind die Verse
P 43 b-46 wörtlich dem Zweikampf von Paris und Menelaos entnommen,
r 347b -350. Aber dort folgt auf E1tEU~a.llEVOC; ALt 1ta.'tp~ das Gebet 351ff.,
während diese Worte nun im P in der Luft hängen 14. Also P nach r, nicht
etwa umgekehrt.
13. P 51f. Die schönen Haare des Euphorbos, seine x611a.L Xa.phEO'OW
olloLa.L 1\ sind dem Dichter eingegeben durch die Anmut des Aphroditelieblings Paris. Von Chariten und Nymphen begleitet war ihm Aphrodite beim
Schönheitsstreit auf dem Ida entgegengeschritten 16.
14. Noch der Vers P 80 wird erst mit dem Blick auf Paris verständlich:
ApolIon weist Hektor darauf hin, dass Menelaos soeben den Euphorbos
getötet hat, Tpwwv 'tOV &pLO''tOV: Der Beste der Troer ist Euphorbos trotz
11 810 nach seinem gar nicht rühmlichen Angriff auf Patroklos gewiss nicht,
übrigens sein Vorbild Paris auch nicht im r, wohl aber in den troischen
Kampfspielen, die schon in 11 808f. zitiert sind, vgl. oben Ziffer 4. Danach
also auch P 80.
Es genügt. Alles konvergiert zur Evidenz: Das Muster für Euphorbos ist
Paris, der auf dem Ida ausgesetzte Prinz, der zum Hirten aufwächst, in die
13 In der Kleinen Ilias fiel Paris zwar durch Philoktet, aber Menelaos schändete
immerhin seine Leiche.
14 Von der Mühll 255.
15 Eustathios: aV'tt 'tOÜ ''to~aü'ta~ otac; ~XO~EV af Xap~'tEC;'. - Die Schönheit des Paris
im Alexandros des Euripides: fr. 18,8 (Snell p. 10): 8 B' WBE l10pepn B~aepE[.
16 Die Chariten haben der Aphrodite einen Peplos gewirkt E 338.
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Stadt zurückkehrt, in Kampfspielen alle besiegt und danach erkannt wird,
der Rivale des Menelaos, der schöne Liebling der Aphrodite, der später mit
ApolIons Hilfe den Achill von hinten erlegt und ihm doch auch dann nicht
zu stehen wagt.
-Dieses Resultat kann nun in die ursprüngliche Frage eingesetzt werden,
warum der Dichter für die Tötung des Patroklos neben Hektor noch einen
andern einführt. Wir können jetzt präzisieren: Wärum einen zweiten Paris?
Und die Frage kann mit Sicherheit beantwortet werden; ja, ein Abbild des
Paris in dieser Rolle wird geradezu gefordert, wenn man nur sich dessen
erinnert, was schon vor geraumer Zeit über das Verhältnis Homers zu einer
früheren Dichtung erschlossen worden ist: Die Menis und Patroklie ist eine
überbietung der Aithiopis 17. Dort war erzählt, wie Achills Freund Antilochos
seinen von Memnon bedrängten Vater rettete und dabei von Memnons Hand
fiel. Achilleus rächte seinen Freund an Memnon trotz den Warnungen seiner
Mutter Thetis, die ihm prophezeit hatte, er müsse nach dem Sieg über Memnon bald selber sterben. Achill stürmte bis in das Skäische Tor vor und wurde
dort von Paris und ApolIon erschossen. Kampf um die Leiche, Bergung,
Trauer, Berstattung, Leichenspiele. Demgegenüber schafft Homer in Patroklos
dem Achill einen andern Freund, der nicht für seinen Vater stirbt, sondern
an dessen Tod Achill selber mitschuldig wird wegen seines unversöhnlichen
Grolls gegen Agamemnon. Und dem neuen Freund gibt Homer in Hektor
einen neuen Gegner als Ziel für Achills Rache. Patroklos und Hektor überbieten Antilochos und Memnon, und Homers Achill wird den Groll fallen
lassen, um den Freund zu rächen, endlich auch die Rache aufgeben und
Hektor lösen.
Diese seinerzeit durch Vergleichung der Ilias mit dem, was wir von der
Aithiopis wissen, gewonnene Hypothese, damals von der Kritik skeptisch
aufgenommen, erweist sich jetzt als evident richtig dank der Frage nach dem,
was die Namen der neu geschaffenen Personen aussagen: Der des Patro-klos
und der seines Vaters Men-oit-ios (und das nur dem Patroklos im II eignende
Epitheton bt1tO-Xn,Eui}o~) sind nach dem Vorbild für den neuen Freund Achills
ausgewählt, nach Antilochos im Kampf mit Memnon, nach ihm, der 7ta'tpoc;
EXAUE, der seines Vaters L7t7tOLCn eine XEAEUi}O~ bereitete, und der dabei oho\l
E(.lE\lE; denn in diesen Namenselementen des neuen Freundes, gleichsam seinen
Personalien, ist 'die grosse Stunde des andern Freundes festgehalten, der
17 S. vor allem Pestalozzis in Anm. 1 genanntes Buch. Ich wiederhole nicht die in
SMEA 9, 1969, 9124 gegebene Liste der wichtigsten Autoren über die Aithiopishypothese.
Die Ansichten von J. Kakridis waren schon 1944 in Athen in griechischer Sprache
erschienen ('OtJ.TJPLXE~ 'EPEINE~). Viel Richtiges notiert auch E. Howald, Mus. Helv. 8,
1951, 111-118. Die Aithiopishypothese ist ein Hauptgegenstand von Kullmanns in Anm.
1 gen. Buch (die Lit. dort S. 27f.).
Euphorbos und der Tod des Patroklos
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Opfertod des Antilochos, die Szene, welche wir am schönsten bei Pindar,
Pyth. 6, 28ff. lesen 18.
Aehnlich hat der Dichter mit Blick auf Memnon für seinen Hektor
diesen Namen ausgewählt; denn "Ex't'wp behält nicht nur den Vokalismus
und den ungefähren Umfang von MEp,\lW\I, sondern weitgehend auch dessen
Sinn, indem ja dieser Name für den Dichter an p,E\lW, p,tp,\lW anklingen
musste 19. So hat der 'Standhafte' den 'Beschützer der Stadt' suggeriert (s. die
Deutung E 472f. "Ex't'op, ... cp1jc; ••• 1t6)..L\I E;Ep,E\I, cf. n 728-730).
Aber der Vergleich der !lias und der Aithiopis hat noch weiter geführt:
In Patroklos sind nämlich die Züge zweier Vorbilder miteinander kombiniert:
Als Freund, der fällt und gerächt wird, ist Patroklos zwar ein anderer Antilochos, aber als siegreicher Held, der trotz Warnungen voranstürmt und fällt,
der geborgen, beweint, bestattet und mit Leichenspielen geehrt wird, ist er
ein anderer AchilI. Diese Zweiheit der Vorbilder für Patroklos haben besonders deutlich schon Heubeck (1950) 29f. und Schadewaldt, Von Homers Welt
und Werk, 19522 194f. hervorgehoben 20. Dank ihr gelang es dem Dichter,
in sein Werk, das vom Troianischen Krieg nur eine Episode umfasst - vom
Streit der Helden bis zur Lösung Hektors - , auch die später spielenden
grossen Szenen der zu überbietenden Vorlage umdichtend einzufangen 21.
Ausführlicher hierüber in SMEA 9, 1969, 86-93.
Und zwar in diesem Fall in übereinstimmung mit der gültigen Etymologie,
wennanders Heubeck, Innsbrucker Beitr. z. Kulturwiss. 14, 1968 (= Gedenkschrift Brandenstein), 357ff., recht hat, MEIJ.VWV auf *MEV-IJ.WV zurückzuführen (vgl. SMEA 9, 93).
Dafür spricht, dass die Griechen aus dem Thronnamen Sethos' 1., Mn-m:c.t-RC, den
ihnen geläufigen Namen Memnon heraushörten (H. W. Helck im Kl. Pauly III, 1969,
1190). Das dürfte eben zu einer Zeit geschehen sein, als man noch *MEVIJ.WV sprach.
-Wie sehr der Dichter sich auch für die prachtvollste Hektorpartie gerade durch den
Namen des Vorbildes, durch den Anklang von MEIJ.VWV an IJ.EVEW, hat mitbestimmen
lassen, das zeigt der Hektor des X; wie ein roter Faden durchzieht sein IJ.EVEW das ganze
Stück: X 5: "Ex't'opa. ö' a.U't'OÜ IJ.ELVa.~ OA.O~" IJ.OLpa. 'ItEÖ1jO'EV. Dagegen der Vater, 38:
"Ex't'op, 1J.1) IJ.0~ IJ.CIJ.VE ••• a.VEpa. 't'oü't'ov. Aber wieder der Sohn, 92: a.A.A.' B 'YE p.CIJ.V
'AX~A.Tia., ferner 131: &e; &PIJ.a.WE IJ.EVWV. Dann die Flucht, 136: ouö' ri,p' ~'t" ~'t'A.1j a.Uj}~
IJ.EVEW. Weiter Athenes Trug, 230: a.A.ESWIJ.EO'j}a. IJ.EVOV't'Ee; und Hektors Zurückwendung
251: OUÖE 'Ito't" ~'t'A.1jV IJ.ELVa.~ ••• , «jetzt aber werde ich dir stehen.» Und 256: a.t XEV
EIJ.Ot ZEVe; Öwn xa.IJ.IJ.OvC1jV. Vgl. auch 237 und 241 und die Anklänge sogar in IJ.vTiO'a.~
(84.268) und in IJ.EVOe; (96).
20 Die achilleische Komponente der Patroklosgestalt (Tod, Bergung der Leiche) hatte
Renata v. Scheliha schon 1943 herausgearbeitet (Patroklos S. 264.397f.).
21 'Homer hat den Tod des Peleiden durch die Schilderung des Patroklos-Schicksals
vollgültig in die Ilias « hereingeholt ».': Heubeck (1950) 30. Hier sei noch einer Nebenfigur gedacht, bei welcher wiederum der Name bestätigt, was aus dem Vergleich mit
der Aithiopis schon erschlossen worden war: Wir wissen dank der schon erwähnten
cltalkidischen Amphora (s. Anm. 12), dass beim Kampf um Achills Leiche der Lykier
Glaukos einen Riemen um den Fuss des Toten zu schlingen versuchte und dabei von
Aias durchbohrt wurde. Sehr genau das gleiche wird nun beim Kampf um die Leiche
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Nun aber gibt die Durchdringung der beiden Vorbilder in dem einen
Patroklos auch für die Szene, die hier zur Diskussion steht, den Schlüssel,
wenn man diese Verflechtung nur zu Ende denkt: Die beiden Linien, die nach
Antilochos und die nach Achilleus, kreuzen einander gerade dort, wo der
Held fällt. Und dort ist nicht etwa von den beiden Toden der Vorlage der
eine ausgewählt für Patroklos und der andere fallen gelassen, sondern beide
sind miteinander kombiniert. Der Tod des Antilochos durch Memnon, den
jetzt Hektor ersetzt, und der Tod des Achilleus selber durch Apollon und
Paris, denen jetzt Apollon und Euphorbos entsprechen, sind gleichsam addiert.
Deshalb also ist Euphorbos erfunden. Und nur deshalb, weil Patroklos sozusagen zwei Tode stirbt, erscheint die Szene kompliziert und überladen. Die
Kumulierung der Vorlagen in der Neuschöpfung geht eben auf Kosten der
poetischen Geschlossenheit.
Das Euphorbosproblem ist so gelöst. Der Name hat das Vorbild verraten.
Das ist Paris, der in Homers Vorlage die entsprechende Rolle spielte. Soviel
ist jetzt transparent. Und es ergeben sich mancherlei Konsequenzen. Davon
hier nur noch weniges:
Ein Sicheres: Den Euphorbos hat es vor der Patroklie nicht gegeben,
so wenig wie Patroklos selber und Hektor 22.
Nicht ebenso sicher ist das nächste: Ist wirklich das Ende des Patroklos
vom Menisdichter so, mit Euphorbos (und Apollon) zu Hektor hinzu, aus
einem Guss geschaffen worden? Wahrscheinlich ja. Oder hat Homer zuerst
einen Patroklos nur aus der Gestalt des Antilochos heraus geschaffen? In
einem zweiten Schritt hätte dann ein Nachfolger - oder Homer selber, weiter
ausholend und sich übersteigernd - seinen Patroklos achilleisch gemacht,
immer mit dem Blick auf die Aithiopis, um die grossen Szenen, die
auf Achills Tod folgten, transponierend in das neue Gedicht einzubeziehen.
Euphorbos müsste dann zu diesem zweiten Wurf gehören. Kaum so. Ein
terminus an te quem fUr Euphorbos ist aber auf jeden Fall der ostgriechische
Teller aus dem letzten Viertel des 7. Jahrhunderts, der den Kampf um die
Leiche des Euphorbos darstellt (s.u.).
des Patroklos von einem 'I7t7t6f)ooC; erzählt, P 288-303. Dass Glaukos das Vorbild
ist, hatte Pestalozzi (19f.) erkannt. Das wird jetzt durch den Namen des Helden bestätigt:
Der ist durch Hippolochos, den Vater des Glaukos, dem Dichter eingegeben.
22 Aufs Richtige kamen u.a., mehr oder weniger entschieden, aber alle noch ohne
die Namen zu befragen, für Euphorbos: Kullmann 181 (<< mit grosser Wahrscheinlichkeit
Erfindung des Iliasdichters »)j für Patroklos: R. v. Scheliha 235ff., mit bemerkenswerter
Erörterung aller Argumentej Pestalozzi 45 (<< Patroklos und Hektor - die eigensten
Schöpfungen der Ilias »)j Heubeck (1950) 29 (<< ...eine Gestalt eigener Konzeption, den
Menoitiaden Patroklos, neu zu schaffen »); vgl. M. P. Nilsson, Die Antike 14, 1938, 32
(Patroklos «in der Hauptsache eine Schöpfung des homerischen Dichters»). Aber zahlreicher sind die Fehlauffassungen. Ober Hektor gehen die Meinungen sehr auseinander;
Kullmann 182-185 kommt zu keiner definitiven Entscheidung.
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Andere chronologische Folgerungen: Für die Achillesferse, jenes
Märchenmotiv von der (immer nur unvollkommenen) Unverwundbarkeit des
Helden, verschiebt sich der terminus ante quem jetzt von den Vasen, die
den Schuss von hinten in die Ferse darstellen 23, bis auf Homers Vorlage
zurück, aus der die Angriffsrichtung übernommen ist, TI 806f. (oben Ziffer 7) 24.
Und als vorhomerisch erweist sich das meiste, was von Paris erzählt
wird; denn der Prinz als Hirt auf dem Ida und seine Rückkehr zum Sieg in
den Spielen setzt das Wandermotiv von der vergeblichen Aussetzung des
schicksalsschwangeren Königskindes voraus, das sich später unter Gleichaltrigen auszeichnen und dabei seine Identität verraten wird, wie der Gründer des
Perserreichs, wie Romulus und Remus 25.
Ferner ist der Zweikampf Euphorbos-Menelaos durch den Zweikampf
Paris-Menelaos im r eingegeben, der seinerseits auf Grund der Rivalität des
Gatten und des Entführers der Helena gedichtet ist, den Raub der Helena
also voraussetzt. Gleiches gilt von der Vaterschaft des Panthoos, der aus der
Teichoskopie stammt, wo Helena nicht wegzudenken ist. Wie denn überhaupt die Aussetzung des unheilbringenden Sohnes das Unheil, das er anrichten wird, schon impliziert.
Nicht ganz ebenso zwingend setzt der Raub der Helena auch schon das
Parisurteil voraus; die Fahrt nach Hellas könnte man sich allenfalls auch
anders motiviert vorstellen. Aben die Schönheit des Euphorbos und der
Vergleich mit den Chariten (s. Ziffer 13 hiervor) verrät doch die Gunst
der Aphrodite für Paris schon in Homers Vorlage, der gleichen Göttin, die
ihn im r vor Menelaos rettet; und dieses Verhältnis zu Aphrodite scheint
aus dem ihr günstigen Urteil des Paris abgeleitet zu sein, obwohl die Umkehrung nicht völlig ausgeschlossen werden kann.
Aber beides, Urteil und Raub, ist Stoff der späteren Kyprien, der also
(wenigstens der Raub) schon vor Erfindung des Euphorbos (und vor dem r)
besungen worden ist.
Konsequenzen ergeben sich auch, mit Wahrscheinlichkeit, für die
Einordnung der Jugendgeschichte des Paris im epischen Kyklos. Die Rückkehr
S. Anm. 12.
Dass Homer die Unverwundbarkeit Achills nicht mehr erwähnt, entspricht seiner
Art, auf Märchenhaftes, Unwahrscheinliches zu verzichten (vgl. R.v. Scheliha 237).
25 Dieses Motiv war bis jetzt für Paris seit Pindar bezeugt, der im 8. Päan den
Traum der Hekabe von dem Unglückskind, das sie erwartet, erwähnt (vgl. B. Snell,
Eurip. Alexandros 57.63 1). Jetzt erweist sich, dass es schon vor der Erfindung des Euphorbos zur Parislegende gehörte, also Generationen bevor es, z.B., in die Jugendgeschichte
des Kyros eindringen konnte. Vgl. auch G. Binder, Beitr. Kl. Phi!. 10, 1964, Die Aussetzung des Königskindes.
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Hugo Mühlestein
des Paris von den Weiden des Ida und sein Sieg bei den Kampfspielen
gehören zwar sagenchronologisch zwischen das Parisurteil und die Fahrt zum
Raub der Helena, also in das Geschehen, das die Kyprien erzählten. Aber
wenigstens im Auszug des Proklos fehlt gerade dieses Stück in den Kyprien.
Jetzt deutet die Imitation n 808-811, unmittelbar vor dem Angriff gegen
Patroklos, darauf, dass Homer die Jugend des Paris und seinen Sieg bei den
Kampfspielen an der entsprechenden Stelle der Aithiopis, vor dem Schuss
auf Achilleus, erzählt fand; und dort erhöhte es den Gegner des Achilleus,
ihn zum «Besten der Troer» zu erheben, wie sein Abbild Euphorbos es
verrät (vgl. oben Ziff. 8 und 14); dort war es sinnvoll und poetisch richtig,
nicht aber beim Raub der Helena.
Es gibt die beiden Parischaraktere, den Sieger und den Feigling. Für
den Tod des Achilleus wird der Sieger vorgeschickt, aber vor dem übergewaltigen weicht er sogleich wieder zurück. Diesen Zwiespältigen hat Homer vor
Augen, wenn er Hektor im Z « sich seinen Rächer holen lässt» 26, Hektor,
der zu Paris sagt (522f.): {fA.Xt(.16~ feTen - &.)"J...a. EXW\I (.1E1}tEt~.
Es soll noch nachgetragen werden, was der schon zitierte Euphorbosteller
auszusagen scheint ZI. Er ist in Rhodos gefunden worden, zeigt aber Einflüsse
aus der Argolis 28. Die dargestellte Szene weicht von unserem Text des P ab:
Menelaos und Hektor kämpfen um die Leiche des Euphorbos (die Namen
sind beigeschrieben), welche, nicht entwaffnet, Kopf gegen die Griechen, auf
der Seite des Menelaos liegt. Damit ist, nach Schefold 84, angedeutet, dass
Menelaos die Waffen bekommen wird. Anders im P, 84ff.: Dort eilt Hektor,
von ApolIon getrieben, herbei, während Menelaos sich anschickt, dem Euphorbos die Waffen abzunehmen (60.85); aber Menelaos wagt nicht, Hektor zu
bestehen. Nun hat die Iliasanalyse auf Grund starker Indizien wahrscheinlich
gemacht, dass unser Text nicht vor dem 6. Jahrhundert festgelegt worden
ist; der Euphorbosteller steht also, in dieser Sicht, zwischen HOPler und
unserem P. übrigens hat die Homerkritik in diesem Gesang, anders als
im n, grosse Teile dem Bearbeiter zugewiesen. Dieser scheint, für einmal,
auch verkürzt zu haben, nämlich den Menelaos um die Waffen des Euphorbos
(91; 108 \lExp6v meint Patroklos) und um den Ruhm, dem Hektor erfolgreich
entgegengetreten zu sein. Jedenfalls erwartete man noch bis P 89 den Zusammenstoss zwischen Hektor und Menelaos, wie der Maler ihn darstellte 29.
Statt dessen folgt der Rückzug des Menelaos, eingeleitet durch einen mühsaVon der Mühll 127.
Brit. Mus. Cat. No. A 749; K. Schefold, Frühgr. Sagenbilder, 1964, 84 (Taf. 75);
Friis Johansen 77ff. (mit Fig. 18).279.
28 Friis Johansen 79f.
29 Bethe II 320.
26
ZI
Euphorbos und der Tod des Patroklos
89
men Rechtfertigungsmonolog, 91-105, und von Euphorbos und seinen Waffen
ist nicht mehr die Rede. Offenbar hat der Redaktor den Zusammenstoss
Menelaos-Hektor und die Gewinnung der Euphorboswaffen durch Menelaos
bei Homer vorgefunden - die Szene stand einer Aristie des Menelaos wohl
an - , aber in seine Fassung nicht aufgenommen. Warum? Vielleicht mit
Rücksicht auf H 94ff. (104f.!), wo dem Menelaos jede Aussicht auf Erfolg
gegen Hektor abgesprochen wird.
Der Teller stimmt also mit dem überein, was man in unserem Text
vermisst 30, und dazu passt noch ein Drittes: Im Heraheiligtum von Argos
wurde der Schild gezeigt, den Menelaos dem Euphorbos abgenommen hatte 31;
also nach der älteren Version und unvereinbar mit P 91ff.
Zum Schluss ein Wort über die spätere Ausgestaltung des Euphorbos:
Sein Angriff zusammen mit ApolIon im TI bewirkt, dass er in der Folge als
dem ApolIon zugehörig aufgefasst wird. Das gilt schon für den Redaktor
unseres Iliastextes. Deshalb macht er einen andern Panthoiden, Pulydamas,
seine eigene Schöpfung 32, zum Seher (l: 250) und lässt ihn von ApolIon
beschützen (0 52lf.), sieht wohl auch schon, wie die spätere Sage, den Vater,
Panthoos, als Apollonpriester (das ist aus der gleichen Stelle mit Wahrscheinlichkeit zu erschliessen) und gibt dem Euphorbos eine Mutter mit dem Namen
Phrontis (P 40): Das bedeutet 'kluge Fürsorge' und ist doch wohl durch
den Gott eingegeben, dessen Orakel den Menschen die schweren Entscheidungen abnahm 33.
Das war das Bild des Euphorbos im Athen des Peisistratos, dessen
Enkel dem pythischen ApolIon einen Altar geweiht hat 34, und zur Zeit
des Pyth-agoras, der bekanntlich behauptet haben soll, in einer früheren
Inkarnation jener Euphorbos gewesen zu sein. Der apollinisch Gewordene
stand ihm schon deshalb nahe 35, doch war das für ihn kein genügender Grund,
sich für seine Präexistenz im Kreis der Heroen gerade den Euphorbos auszuwählen; da gab es prominentere Kandidaten mit Beziehungen zu ApolIon
30 Vgl. Schefold 84: «Unser Maler folgt einer überlieferung, die älter ist als
unsere Ilias.»
31 Pausanias 2, 17, 3.
32 Von der Mühll 2059 und passim mit Recht.
33 Vgl. R. Schottlaender, Zs. f. philos. Forsch. 10, 1956, 345. - Das apollinische
Wesen des Euphorbos kann allerdings auch schon seinem Schöpfer vorgeschwebt haben,
indem ja bereits das Vorbild, Paris, als Bogenschütze dem Gott glich. Vollends der
Dichter von <J> 448f. hatte die Gleichung vollzogen, wenn er den Gott auf dem Ida die
Herden des Troerkönigs hüten lässt (freie Erfindung oder Tradition?).
34 Thukydides 6, 54; IG J2 761.
35 Vgl. K. Kerenyi, Pythagoras und Orpheus, 19503, 19; W. Burkert, Weish. u.
Wissensch., 1962, 117. - Auch dem Pythagoras hat die Legende eine Mutter mit apollinischem Namen gegeben, Pythais.
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Hugo Mühlestein
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genug, innerhalb von Troias Mauern und ausserhalb. Vielmehr tat, auch
hier. der Name seine Wirkung: Pythagoras bezog Eu-phorbos auf die rechte
Lebensführung nach seinen Diätvorschriften 36.
* * *
Gewiss, das Ende der Patroklie, mit der kläglichen Rolle Hektors, ist
künstlerisch unbefriedigend. Aber es hat sich aus der Kumulierung zweier
Vorbilder de Patroklos so ergeben. Und nun erklärt dieser doppelte Ursprung
des Helden auch noch eine andere Seltsamkeit, nämlich die Anstoss erregende
Art und Weise, wie ApolIon, der Gott, eingreift, wenn er dem Patroklos die
Waffen vom Leibe schlägt (793-804). Warum diese Entwaffnung? Weil es
Achills Waffen sind (64.129-144)! Also trifft der Gott nur gerade die achilleische Komponente in Patroklos, noch ganz wie der gleiche ApolIon in der
Vorlage ja nur an Achills, nicht auch an des Antilochos Tod beteiligt war.
So ist die Verleihung der Waffen ein sinnfälliger Ausdruck für die EinsWerdung des Freundes mit dem Freund, Achills mit seinem alter ego. Das
ist Homers Werk; aber ebenso hält es, in einer andern Welt, Jonathan mit
David, «denn er hatte ihn lieb wie sein eigen Herz. Und Jonathan zog aus
seinen Rock, den er anhatte, und gab ihn David, dazu seinen Mantel, sein
Schwert, seinen Bogen und seinen Gürtel. » (1. amuel 18,3.4)
Basel, den 5. März 1971.
36 So erwogen von P. Corssen, Rh. Mus. 67, 1912, 22; «he who eats the right
food» erklärt O. Skutsch, Class. Phi!. 54, 1959, 114.- Den Anspruch des Pythagoras,
Euphorbos gewesen zu sein, erst der Pythagoraslegende zuzuschreiben, besteht kein Grund.