Entwicklung der Fankultur in der Bundesrepublik

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Entwicklung der Fankultur in der Bundesrepublik
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Universität Bremen
Fachbereich 09/ Studiengang Kulturwissenschaft
Magisterarbeit
„Solidarität, Zusammenhalt und Engagement“ –
Die Ultrabewegung in Deutschland
Eine explorative Interviewstudie zu einer neuen Fußballfankultur
Vorgelegt von:
Sven Langner
Matrikelnr.: 1219828
1. Gutachterin:
PD Dr. Dorle Dracklé
2. Gutachter:
Dr. Frank Nolte
Bremen, den 14.7.2005
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Inhaltsverzeichnis
Einleitung.............................................................................................................S.1
1. Fußballfans......................................................................................................S.4
1.1 Entwicklung der Fankultur in der Bundesrepublik.........................................S.4
1.2 Gängige Kategorisierungen von Fußballfans..................................................S.6
1.2.1 Ausdifferenzierung der Fanszenerie nach Heitmeyer und Peter.................S.6
1.2.2 Ausdifferenzierung der Fanszenerie durch Ordnungsinstanzen..................S.7
2. Ultras................................................................................................................S.8
2.1 Die italienische Ultrabewegung......................................................................S.8
2.2 Die deutsche Ultrabewegung........................................................................S.11
2.2.1 Selbstdarstellung und Auftreten.................................................................S.11
2.2.2 Öffentliche Wahrnehmung.........................................................................S.13
2.2.3 Die Sicht der Vereine.................................................................................S.15
2.2.4 Polizeiliche Wahrnehmung........................................................................S.15
3. Entwicklungen im modernen Fußball contra Faninteressen....................S.17
3.1 Fortschreitende Kommerzialisierung............................................................S.17
3.1.1 Der Einfluss des Fernsehens......................................................................S.17
3.1.2 Die „Eventisierung“ des Fußballs.............................................................S.18
3.1.3 „Versitzplatzung“ der Stadien...................................................................S.19
3.1.4 Ausverkauf von Tradition..........................................................................S.20
3.2 Einschränkungen durch „Sicherheitsaspekte“..............................................S.21
3.2.1 Fantrennung...............................................................................................S.21
3.2.2 Das Vorgehen der Polizei..........................................................................S.22
3.2.3 Überwachung.............................................................................................S.23
3.2.4 Stadionverbote............................................................................................S.24
iii
4. Die Interviews mit zwei Mitgliedern von Ultragruppen...........................S.26
4.1 Die Methodik................................................................................................S.26
4.2 Auswahl der Interviewpartner.......................................................................S.27
4.3 Die Interviewpartner.....................................................................................S.27
4.3.1 Das Interview mit Orhan (29), Eastside Bremen `97................................S.27
4.3.1 Das Interview mit Bo (23), Ultra` Sankt Pauli..........................................S.28
4.4 Gegenüberstellung der Aussagen unter ausgewählten Themenkategorien...S.28
4.4.1 Die untersuchten Ultragruppierungen.......................................................S.28
4.4.2 Das Wirken der Gruppen...........................................................................S.32
4.4.3 Beziehungen zu anderen Fangruppen........................................................S.35
4.4.4 Problemschwerpunkte und Ideologien der Gruppen.................................S.43
5. Schlussbetrachtungen...................................................................................S.59
5.1 Auslöser für die Entstehung einer neuen Fankultur......................................S.59
5.2 Die neuen Facetten der Ultrabewegung........................................................S.60
5.3 Das Gefahrenpotential der Ultrabewegung...................................................S.62
5.4 Über das Politische im „Unpolitischen“...................................................... S.63
Schluss................................................................................................................S.65
Literaturliste......................................................................................................S.66
1
Einleitung
Sie nennen sich „Commando Cannstadt“, „Filmstadt Inferno“, „Phönix Sons“
oder einfach „Ultras Frankfurt“. In jedem Stadion des deutschen Profifußballs und
immer mehr auch in den unteren Ligen bereichern sog. Ultragruppierungen1 mit
farbenfrohen Kurvenshows und lauten Gesängen die Fanblöcke. Entstanden die
ersten Gruppen Mitte der neunziger Jahre, so sind sie mittlerweile ein fester,
vielerorts gar der einflussreichste, Bestandteil aller relevanten deutschen
Fanszenen.
Vorbildhaft für diese neuen Fangruppen scheint die italienische Ultrabewegung zu
sein, deren Ursprung sich bereits in den späten Sechziger Jahren ausmachen lässt.
Obwohl die dortige Szene einem stetigen Wandel unterlag, stellt sie bis heute die
größte und einflussreichste Fanbewegung im italienischen Fußball dar. Allerdings
gilt die Bewegung in Italien aufgrund ihres Gewaltpotentials und einer extremen
Politisierung als äußerst gefährlich und problematisch.
Die deutsche Ultra-Szene orientiert sich rein äußerlich stark an ihrem italienischen
Vorbild. Zwar spricht sich der Großteil der hiesigen Bewegung gegen die
Anwendung von Gewalt sowie gegen das Hereintragen von politischen Themen
ins Stadion aus, trotzdem haben die Gruppen mit geringer Akzeptanz bei Vereinen
und Publikum sowie starker Repression durch Polizei und Ordnungsdienste zu
kämpfen.
Mit verantwortlich für den Umstand, dass die Ultragruppen oftmals mit Gewalt
und Hooliganismus in Verbindung gebracht werden, könnte meines Erachtens
nach die weitgehende Unerforschtheit dieser Szene sein. Außer einigen Aufsätzen
und Zeitungsartikeln existiert meines Wissens nach keine eigenständige Literatur
zum Thema. Da ich selber regelmäßig Fußballspiele im Stadion besuche, lag es
für mich nahe eine eigenständige Forschung in diesem Bereich zu betreiben.
Als Vorbereitung auf das Thema habe ich an drei Podiumsdiskussionen
teilgenommen. Die erste wurde vom Bündnis Aktiver Fußballfans veranstaltet und
stand unter dem Motto „Football with(out) politics: BAFF2 und Ultras
diskutieren“. Die zweite wurde von den „Ultra` Sankt Pauli“ organisiert. Das
Thema dieser Veranstaltung lautete „Ultras beim FC St.Pauli – Geschichte,
1
Der Begriff „Ultras“ wird in verschiedenen Publikationen mit der Bezeichnung „Extremfans“
übersetzt.
2
„Bündnis aktiver Fußballfans“
2
Anspruch,
Gegenwart“.
Die
letzte
Podiumsdiskussion
zur
Problematik
„Stadionverbote – was tun?“ fand auf Initiative mehrerer beim FC St. Pauli
beheimateter Fangruppen statt. Außerdem habe ich innerhalb der Szenen, der von
mir untersuchten Gruppen teilnehmende Beobachtungen durchgeführt, die ich
aufgrund des begrenzten Rahmens dieser Arbeit allerdings nicht darstellen kann,
die mir jedoch hinsichtlich der von mir gewählten Forschungsmethode eine große
Hilfe waren.
Als Methode schien mir das offene leitfadengestützte Interview sinnvoll, da es mir
aufgrund der relativ offensichtlichen Heterogenität der Szene nicht um die
Erhebung „harter Fakten“ ging, sondern eher um das Erkennen von Stimmungen,
Tendenzen,
Entwicklungen
und
Problemlagen
innerhalb
dieser
neuen
Fanbewegung.
Ich möchte in der vorliegenden Arbeit beleuchten, wo die Ursachen für die
Entstehung dieser neuen Jugendkultur liegen und in wie fern sie sich von der
herkömmlichen Fußballfankultur unterscheidet. Wofür stehen die Gruppen, wie
inszenieren sie sich, welche Philosophie steckt hinter dem „Ultra-Sein“? Was sind
die zentralen Themen und Forderungen der Ultras, wo sehen sie Probleme? Und
vor allem: Geht von ihnen tatsächlich eine Gefahr aus?
Die vorliegende Arbeit ist in fünf Teilbereiche gegliedert. Im ersten Abschnitt
möchte ich einen kurzen Überblick über die deutsche Fanszene bis zur Gründung
der Ultragruppierungen geben, da sich natürlich einige ihre Wurzeln in den schon
vorhandenen Strukturen finden. Im zweiten Teil soll es um die Ultrabewegung an
sich gehen. Hier stelle ich zuerst die italienische Ultraszene vor, da diese in
gewisser Hinsicht Vorbildcharakter für ihr deutsches Pendant besitzt. Danach
gehe ich näher auf die deutsche Szene ein, wobei die Schwerpunkte auf deren
Selbstdarstellung und der Wahrnehmung der Gruppen durch Dritte liegen soll. Im
anschließenden Abschnitt der Arbeit stelle ich jene aktuellen Entwicklungen im
modernen Fußball dar, welche nach Meinung der Ultraszene konträr zu den
Interessen der Fans verlaufen. Der vierte Teil befasst sich ausführlich mit den
Interviews mit den Vertretern der beiden untersuchten Gruppen. Nachdem ich
dort kurz auf die Methodik und die Interviewpartner eingehe, stelle ich
ausführlich deren Aussagen zu von mir gewählten Themenschwerpunkten dar. Im
abschließenden Abschnitt werde ich versuchen, aus den vorher gewonnen
3
Erkenntnissen und den Ergebnissen der Interviews Schlüsse in Bezug auf die
Fragestellung zu ziehen.
Ich verwende in dieser Arbeit ausschließlich die männliche Form. Dies soll weder
diskriminierend sein, noch bedeuten, dass es keine Frauen in der Fußballfanszene
gibt. Es dient ausschließlich der besseren Lesbarkeit.
Abschließend möchte ich mich noch bei meinen beiden Interviewpartnern Orhan
und Bo3 bedanken, ohne die diese Untersuchung nicht möglich gewesen wäre.
Ebenso geht ein Dank an Thomas Hafke vom Bremer Fanprojekt, der mir bei der
Auswahl meines ersten Interviewpartners geholfen hat und mir bezüglich der
Methodik einige hilfreiche Tipps geben konnte.
3
Name geändert
4
1. Fußballfans
1.1 Entwicklung der Fankultur in der Bundesrepublik
Als der Braunschweiger Lehrer Konrad Koch 1874 das Fußballspiel in
Deutschland einführte, handelte es sich hierbei zunächst um ein Schulspiel,
welches einzig von wenigen privilegierten Gymnasiasten betrieben wurde. Es
dauerte jedoch nicht lange bis sich das Spiel auch unter Jugendlichen auf der
Straße durchsetzte, wo fortan noch arg wilde aber emotional geführte Matches
ausgetragen wurden. Es war der TSV Eintracht Braunschweig, der zwanzig Jahre
nach der Einführung des Fußballs in Deutschland als erster Fußballverein auch
Erwachsenen das Spielen ermöglichte. Zum Leben wurde der Fußball jedoch erst
erweckt, als um die Jahrhundertwende auch die Arbeiter diesen Sport für sich
entdeckten, worauf die Fußballvereine wie Pilze aus dem Boden schossen (vgl.
Becker/Pilz, 1988: 16).
Parallel dazu entwickelte sich nicht nur auf dem Spielfeld sondern auch bei den
Zuschauern rund um die Sportplätze eine nicht geahnte Begeisterung: 1931 bspw.
säumten über 70.000 Menschen beim Freundschaftsspiel zwischen Schalke 04
und Fortuna Düsseldorf nicht nur die Ränge, sondern standen teilweise direkt am
Spielfeldrand und saßen sogar auf den Toren. Laut Pilz und Becker, steckte hinter
dieser Begeisterung damals „die eindeutige soziale Zuordnung der Vereine
(Arbeiter- gegen Bonzenvereine) und vor allem die lebensgeschichtliche
Verbundenheit mit dem Verein“ (ebd.: 18ff). So waren die Fußballspiele jener
Zeit regelrechte „Klassenkämpfe“(ebd.).
Eine eigenständige jugendliche Fankultur bildete sich erst mit der Gründung der
Bundesliga im Jahre 1963 heraus. Nach dem die Stadien anlässlich der WM `74
einschneidende bauliche Veränderungen erfahren hatten, fanden die jungen
Anhänger ihren Platz in der Folge in den Kurvenbereichen, wo sie sich auch bis
heute noch verorten (Giesenbauer, 2000: 118). In dieser Phase begannen die Fans
nach britischem Vorbild durch rhythmisches Klatschen und das Absingen eigener
Lieder ihr Team zu unterstützen. Auch optisch identifizierte man sich nun mit
seinem Club: Zum obligatorischen Schal in den Vereinsfarben kamen nun Fahnen
und die sog. Kutte, eine Jeansweste, welche von den jungen Fans mit
Fußballaufnähern dekoriert wurde (ebd.). Organisiert waren diese sog. Kuttenfans,
5
welche bis in die Mitte der 90er Jahre die Meinungsführer in den Kurven bleiben
sollten, hauptsächlich in Fanclubs.
Als Gegengewicht zu den absolut fußballzentrierten „Kutten“ gruppierten sich in
den 80er Jahren bei nahezu jedem Proficlub der Republik die Hooligans, welche
den Fußball als Bühne für gewalttätige Auseinandersetzungen nutzten (ebd.: 119).
Obwohl nur eine Minderheit innerhalb der Fanszene, erfreuten sich die „Hools“
größtmöglicher Aufmerksamkeit durch Medien und Öffentlichkeit. Heutzutage
spielen sie allerdings nach Aussagen diverser Experten nur noch eine sehr kleine
bis gar keine Rolle in der deutschen Fanszene.
Die Gründe hierfür liegen laut BAFF nicht zuletzt in der Entstehung der
deutschen Ultrabewegung gegen Ende der 90er Jahre, welche insgesamt eine
„positivere Fankultur“ in den Kurven etabliert hat und gerade auf junge Menschen
einen attraktiveren Anziehungspunkt darstellt, „als die doch eher als tumb und
überholt angesehenen Hooligans und Kutten“ (BAFF, 2004: 166). So bescheinigt
auch Scheidle, dass „sich seit 1998 das Bild der deutschen Fußballfanszene
sichtbar gewandelt“ hat: „Neben den bereits existierenden Fangruppen (Hooligans
und Fanclubs) prägen seit dem auch in Deutschland verschiedene Ultragruppen
die Stimmungslage in den Fankurven zwischen München und Hamburg“
(Scheidle, 2002: 96). Diese neuen Gruppierungen haben sich von der englischen
Fanszene als Vorbild abgewendet und orientieren sich zumindest auf den ersten
Blick an der südeuropäischen und hier vor allem italienischen Ultraszene.
Nicht vergessen werden sollte an dieser Stelle die kritische Fanszene, die sich
1993 mit dem „Bündnis antifaschistischer Fußballfans“ ein Gesicht gab (vgl.
Aschenbeck, 1998:169ff). Seinerzeit aus dem Zusammenschluss von Fanclubs
und Faninitiativen aus über zehn Städten entstanden, schrieb sich „BAFF“ in
erster Linie den Kampf gegen rechtsradikale Umtriebe in den Stadien auf die
Fahne, wollte jedoch auch darüber hinaus für die Interessen der Fußballfans
eintreten. Um dieses auch nach außen hin zu dokumentieren entschied man sich
im Dezember 1995 für eine Umbenennung in „Bündnis aktiver Fußballfans“.
BAFF setzte sich ein gegen Rassismus und Diskriminierung, ausufernde
Kommerzialisierung sowie für den Erhalt von Stehplätzen in den Stadien und
mehr Rechte für die Fans. In der Folge entstanden mehrere neue Initiativen, wie
z.B. „Pro 15:30“ oder „Pro-Fans“ die ihrerseits Teile dieser Forderungen
6
übernahmen und in einigen Bereichen recht beachtliche Erfolge verbuchen
konnten (vgl. www.pro15:30.de, www.profans.de).
1.2 Gängige Kategorisierungen von Fußballfans
1.2.1 Ausdifferenzierung der Fanszenerie nach Heitmeyer und Peter
Wilhelm Heitmeyer und Jörg-Ingo Peter teilten 1988 das Fußballpublikum in drei
Kategorien ein, die im wissenschaftlichen Diskurs bis heute ihre Gültigkeit
erhalten haben:
1. „Der konsumorientierte Fan“: Dieser hält sich in der Regel nicht in den
Fankurven, sondern auf den Tribünen des Stadions auf. Er besucht die Spiele
meistens alleine oder in wechselnden Kleingruppen. Der größte Teil seines
sozialen Lebens und seines Umfeldes spielt sich nicht im Fußballzusammenhang
ab und der Fußball wird von ihm nur als ein Hobby unter vielen betrachtet. Die
Leistung der Mannschaft ist für ihn das entscheidende Kriterium für den
Stadionbesuch. Stimmt diese nicht, bleibt der konsumorientierte Fan dem Stadion
fern.
2. „Der fußballzentrierte Fan“: Auch für ihn spielt die Leistung der Mannschaft
eine entscheidende Rolle. Allerdings kann eine schwache Leistung oder gar ein
Abstieg ihn nicht davon abhalten, sein Team trotzdem weiter zu unterstützen, er
bleibt auch in schlechten Zeiten treu. Das Fußballumfeld hat für ihn eine hohe
soziale Anerkennungsrelevanz. Er ist stark gruppenorientiert, oftmals Mitglied
eines Fanclubs und besucht die Spiele somit nicht alleine. Im Stadion ist er direkt
in der Fankurve anzutreffen.
3. „Der erlebnisorientierte Fan“: Die sportliche Bedeutung des Spiels ist für ihn
ambivalent. Es wird mit seinem gesamten „Drumherum“ als Spektakel
empfunden. Somit ist der Fußball selbst austauschbar, da eher der Kontakt zu
anderen Fans und oftmals auch das Suchen von gewalttätigen Situationen im
Vordergrund steht. Das Umfeld hat auch für ihn eine hohe soziale
Anerkennungsrelevanz, wobei die Mitgliedschaft in organisierten Fanclubs nicht
seine Sache ist. Im Stadion hält sich der erlebnisorientierte Fan in jenen Bereichen
auf, „wo etwas los ist“ (vgl. Heitmeyer/Peter, 1988:32).
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1.2.2 Ausdifferenzierung der Fanszenerie durch Ordnungsinstanzen
Auch die Sicherheitsorgane und hier vor allem die Polizei nehmen seit 1991 eine
Einteilung der Fans in drei verschiedene Kategorien vor (vgl. LKA NRW, 2003).
Diese Kategorisierung erfolgt allerdings lediglich unter dem Aspekt des
vermeintlichen Gefahrenpotentials der einzelnen Gruppen:
Kategorie A: Der friedliche Fan
Kategorie B: Der gewaltbereite/-geneigte Fan
Kategorie C: Der gewaltsuchende Fan
Dieses Vorgehen der Polizei scheint mir äußerst kritikwürdig zu sein. Durch diese
Einteilung werden einzelne Personen sowie ganze Gruppen im Vorfeld
stigmatisiert und in der Folge einer besonderen Beobachtung und Behandlung
ausgesetzt.
8
2. Ultras
2.1 Die italienische Ultrabewegung
Im Folgenden möchte ich einen kurzen Überblick über die Entstehung und
Entwicklung der Ultraszene in ihrem Ursprungsland geben.
Die Wurzeln der Ultras finden sich im Italien der späten sechziger Jahre in den
linksgerichteten
Stundentenprotesten,
sowie
im
„heißen
Herbst“
der
Arbeiterbewegung 1969. Fasziniert durch diese Phänomene beschlossen
jugendliche Fußballfans die Kurven der Stadien zu nutzen, um ihre ablehnende
Haltung gegen die fortschreitende soziale Ungerechtigkeit im Land darzustellen
(vgl. Scheidle, 2002: 90ff).
Die erste organisierte Ultragruppierung waren die 1968 gegründeten „Fossa dei
leoni“ (Löwengrube) vom AC Mailand (vgl. Balestri/Podaliri, 1994). In der Folge
entstanden zunächst verstärkt in Norditalien, aber bald darauf überall im ganzen
Land, ähnliche Gruppen, wobei die Bezeichnung „Ultras“ 1971 zum ersten Mal
auf einem Transparent in der Kurve von Sampdoria Genua auftauchte. Diese
Bezeichnung wurde bald von der gesamten neu entstandenen Jugendkultur
aufgegriffen, um sich so auch sprachlich von den herkömmlichen Fußballfans
(„Tifosi“) abzugrenzen (vgl. Falk, 2004: 98ff).
Der Kern dieser neu entstandenen Gruppen bestand zumeist aus Cliquen
Gleichaltriger (in der Regel zwischen 15 und 20 Jahren), die aus dem gleichen
Stadtteil stammten oder die selbe Schule besuchten. Für Falk bestand die
Faszination dieser Gruppen vor allem in ihrer extremen politischen Einstellung, in
der Kameradschaft, im Zusammenhalt sowie in der Auflehnung gegen die
traditionellen Autoritäten. Aufgrund dieser Faszination übten die Gruppen auf
Jugendliche eine magische Anziehungskraft aus und wuchsen derartig schnell,
dass die traditionellen Fanclubs bald aus den Kurvenbereichen der Stadien
verdrängt wurden.
Die Ultras „markierten“ ihr „Territorium“ mit Zaunfahnen und Transparenten,
welche den Gruppennamen oder das Gruppenbanner zeigten. Wichtigstes
Accessoir der einzelnen Mitglieder war der Schal in den Farben des Vereins. Ein
sog. „Kapo“ (Anführer) gab mit Hilfe eines Megaphons die Gesänge vor. Im
Laufe der Zeit kamen die Verwendung von pyrotechnischen Artikeln und das
9
Organisieren von Kurvenchoreographien als Mittel der Selbstdarstellung, aber
auch als Wettbewerbsgegenstand mit anderen Gruppen hinzu. So wurde die
lautstarke und farbenprächtige Unterstützung der Mannschaft bald genauso
wichtig wie das eigentliche Spiel (ebd.).
Die meisten jungen Fußballfans solidarisierten sich zunächst mit den Idealen der
sozialistischen Bewegung und des linken Widerstandes. Ihre Affinität zur
politischen Protestbewegung stellten die Ultras oftmals schon bei der Wahl ihrer
Namen zur Schau: So gab es die „Brigate Rosso Nere“ (Rot-Schwarze Brigaden),
die „Fedayn delle Roma“ (bezieht sich auf Guerillagruppe der PLO) oder die
Gruppe „il Coletiva Viola“ (in Anlehnung an die 68er-Bewegung). Doch auch der
Einsatz von Spruchbändern, Doppelhaltern und Megaphonen im Stadion, zeigte
die Nähe der Szene zur damaligen politischen Demonstrationskultur. Zudem
hielten Lieder der Arbeiterbewegung sowie des antifaschistischen Widerstandes
Einzug in die Fankurven der Stadien (vgl. Falk, 2002: 90ff).
Doch schon zu Beginn der siebziger Jahre formierten sich auch Gruppen, die
rechtes Gesinnungsgut in die Stadien brachten. Zu nennen wären hier z.B. die
„Boys“ von Inter Mailand, welche von der „Fronte della Gioventù“ der
Jugendorganisation der neofaschistischen MSI beherrscht wurde, oder die
„Eagles“ von Lazio Rom, die den herrschaftlichen Adler des Faschismus als ihr
Symbol verwendeten (vgl. Balestri/Podaliri, 1994).
Kurze Zeit nach der Etablierung der Ultragruppen entwickelten sich auch die
ersten Rivalitäten und Allianzen zwischen den selbigen. Hierfür gab es eine Reihe
von Faktoren und Einflüssen. So konnten regionale oder innerstädtische
Konflikte, alte Rivalitäten oder Freundschaften aus der „Vor-Ultrazeit“ und
letztendlich auch die politische Einstellung der Gruppen für große Sympathien,
aber auch erbitterten Hass zwischen den Anhängern sorgen. In Folge dieser
starken Rivalitäten kam es zu einem sprunghaften Anstieg der Gewalt innerhalb
der Fußballstadien (ebd.). Die Behörden reagierten mit einer massiven
Verstärkung der Polizeipräsenz, was jedoch lediglich zu einer Verlagerung der
Gewalttätigkeiten
auf
das
Stadionumfeld
führte.
Die
Brutalität
der
Auseinandersetzungen nahm im Laufe der Jahre ständig zu. Vermehrt wurde nun
auch mit Waffen und Leuchtspurmunition gekämpft. Ihren tragischen Höhepunkt
erreichte die Gewalt im Jahre 1979, als der Lazio Rom-Fan Vicenzo Papparelli
durch Leuchtspurmunition tödlich getroffen wurde (vgl. Scheidle, 2002: 94).
10
Doch auch in den Achtziger Jahren nahmen die Gewalttätigkeiten weiter zu. Seit
1982 sind mittlerweile elf Fans bei Auseinandersetzungen ums Leben gekommen,
darunter drei durch massive Übergriffe seitens der Polizei.
Parallel dazu war eine Entpolitisierung sowie eine innere Aufspaltung der Szene
zu verzeichnen. Scheidle beschreibt zum Ende der 80er Jahre einen
fortschreitenden Verlust der Hegemonie in den Kurven. So drohte eine Spaltung
der Ultras in folgende Gruppen:
„- diejenigen, die sich über eine latente Gewaltbereitschaft definieren,
-
diejenigen, die sich nach wie vor politisch positionieren,
-
und diejenigen, die sich ausschließlich als Fans ihrer Mannschaft verstehen
und diese durch positive Stimmung im Stadion unterstützen wollen“ (ebd.:
95).
Hierzu fügt Scheidle jedoch zwei wesentliche Punkte an: Zum einen ist es bei der
Betrachtung der Gewalttätigkeiten äußerst wichtig zu wissen, dass in Italien die
Hooligans nicht als eigenständige Gruppen agierten und gesehen wurden,
sondern sich selber als Teil der Ultras verstanden. Außerdem sagt Scheidle, dass
der größte Teil der italienischen Ultraszene sich weder als gewaltbereit noch als
politisch motiviert betrachtet. Hieraus ergibt sich meiner Ansicht nach vor allem
hinsichtlich der Gewaltproblematik ein völlig neuer Aspekt: Man begeht einen
kapitalen Fehler, wenn im Rahmen der dargestellten Problematik von den Ultras
als homogene Masse ausgegangen wird. Viel mehr sollte man die einzelnen
Strömungen isoliert voneinander betrachten.
Interessant sind auch die Folgen der fortschreitenden Entpolitisierung im Laufe
der 80er Jahre, welche als Resultat einer Entpolitisierung der italienischen
Gesellschaft zu verstehen ist. Zu jener Zeit erlitt die Linke in Italien schmerzhafte
Niederlagen und rückte immer weiter von ihrem radikalen Kurs ab, wodurch sie
mehr und mehr an Einfluss verlor. In der Folge fiel es den Menschen immer
schwerer sich mit ihrer Politik zu identifizieren: „Zugleich ist die linke
Massenkultur in der Bevölkerung weggebrochen; und für viele Jugendliche
wurden Parolen wie ´machen wir die Grenzen dicht` populär“ (Balestri, in taz,
1.2.2001). So hatte diese Entwicklung in den Fankurven zur Folge, dass diese
sich zwar anfänglich entpolitisierten, damit aber ein perfektes Agitationsfeld für
rechte Organisationen und Fangruppen darstellten, welches diese auch geschickt
zu nutzen wussten.
11
So kam es, dass sich nach 20 Jahren Ultra in den Kurven ein Generationswechsel
vollzogen hatte, in Folge dessen Gruppen mit einer neofaschistischen Ideologie
zu den Meinungsführern der italienischen Fanszene aufgestiegen waren.
Rassistische Symbole und Sprechchöre waren in den Stadien nun an der
Tagesordnung.
Gegenwärtig stellt sich die Situation in der italienischen Ultraszene dergestalt
dar, dass nur wenige linkspolitisch orientierte Gruppen überlebt haben (bei
Vereinen wie Terni, Bergamo, Livorno, Empoli, Ancona). Ein Teil der Szene gibt
sich (zumindest offiziell) unpolitisch, doch laut Scheidle hat sich mittlerweile
„die profaschistische Politik in den Stadien durchgesetzt“ (Scheidle, 2002: 100).
So waren Mitte der neunziger Jahre 40 rechtsradikale Ultragruppen in den
Kurven bekannt.
Mittlerweile ist zu beobachten, dass die neofaschistische „Forza Nuova“-Partei,
welche als Speerspitze des italienischen Rechtsextremismus gilt äußerst
erfolgreich
mit
einigen
großen
und
einflussreichen
Ultragruppen
zusammenarbeitet. So profitieren beide Seiten von der Zusammenarbeit, denn
einige der Gruppierungen sind mittlerweile aufgrund ihrer Mitgliederstärke
(teilweise bis zu 15.000), der Umsätze beim Merchandising und nicht zuletzt
durch großzügige Unterstützung durch Vereine und Politik selbst zu einem
beängstigenden Machtfaktor angewachsen (ebd.: 100ff).
Nach Schätzungen gibt es in Italien derzeit ca. 300.000 Ultras.
2.2 Die deutsche Ultrabewegung
2.2.1 Selbstdarstellung und Auftreten
Ultragruppierungen nutzen zur Selbstdarstellung viele verschiedene Plattformen,
wie z.B. eigene Fanzines oder auch selbstgestaltete Aufkleber, anhand derer sich
nach
Spieltagen
teilweise
ganze
Reiserouten
verschiedener
Gruppen
nachvollziehen lassen. Am wichtigsten scheint hier aber das Internet zu sein: Fast
alle Gruppen haben mittlerweile einen Auftritt im Netz und nutzen diesen, um
ihre Aktionen im Stadion zu dokumentieren aber auch um ihre Gruppe und ihr
Selbstverständnis zu präsentieren. Gemeinsamkeiten lassen sich hier viele finden.
Zum einem ist die zunehmende Kommerzialisierung des Fußballs Thema unter
12
allen Gruppierungen und auch die Repression durch Ordnungskräfte, Polizei und
Stadionverbote wird nahezu überall beklagt. Ebenso ist die Frage nach dem
Einbringen politischer Themen in den Fußballzusammenhang, obwohl nahezu
überall negativ beschieden, noch vielfach ein Diskussionspunkt4.
Viele Gruppen berufen sich im Internet auf das „Ultra-Manifest“ aus Italien,
welches sich deutlich gegen die Kommerzialisierung im Profifußball wendet, und
zusätzlich folgende Regeln aufstellt: „Ultras sollten: 1. Jeden unnötigen Kontakt
oder Hilfe durch die Vereine verweigern. 2. Jede Hilfe durch die Polizei
verweigern. 3. Untereinander besser zusammenarbeiten. 4. In Eigenorganisation
zu Auswärtsspielen reisen. 5. Mit den Ultras anderer Vereine zusammenarbeiten,
um die Ware TV-Fußball unattraktiver zu machen. 6. Sich nicht von Autoritäten
unterdrücken
lassen
und
an
Spielen
unbedingt
Präsenz
zeigen“
(www.asromaultras.it/manifesto.html#german).
Die Präsenz im Stadion ist der am leichtesten wahrnehmbare Teil des Auftretens
der Gruppen. Hier sind sie in ihrem Element, hier verdichtet sich ihre Präsentation
auf das Wesentliche. Auffällig ist, dass die stimmliche Unterstützung der
Mannschaft nicht mehr so stark vom Spielverlauf oder Spielstand abhängig zu
sein scheint wie das in früheren Jahren der Fall war: „Für die Ultras hat neben
dem sportlichen Erfolg der Mannschaft auch ihre eigene Performance immens an
Bedeutung gewonnen. Sie sehen sich im Wettstreit mit den anderen UltraGruppen, wer die beste Show hinlegt. Mindestens so oft wie auf das Feld wird
jetzt auch zur anderen Stadionseite geschaut und begutachtet, was dort geboten
wird“ (Gabriel, 2004: 190). Die Koordinierung des „Supports“5 wird in der Regel
von einem „Einpeitscher“ mit Hilfe eines Megaphons geregelt. Der optische Teil
der Präsentation im Stadion zeichnet sich vor allem durch organisierte
Choreographien zum Einlaufen der Mannschaft aus. Darüber hinaus werden
Transparente mit Symbolen oder Botschaften hochgehalten oder als Zaunfahnen
an eben jenem befestigt. Auffällig ist, dass sich bei der Wahl der Symbole neben
den obligatorischen Gruppenbannern oftmals einer linksliberalen Metaphorik
bedient wird (ebd.: 191). So sind die Zeichentrickfiguren der antiautoritären
Zeichentrickserien „die Simpsons“ und „South Park“ ebenso beliebte Motive, wie
das Konterfei Che Guevaras, ein Hanfblatt oder die Farben des Afrikanischen
4
Die meines Wissens nach einzigen größeren Gruppen, die hierbei Ausnahmen bilden, sind
„Ultra` Sankt Pauli“ und „Filmstadtinferno“ aus Babelsberg.
5
Unterstützung der Mannschaft
13
Kontinents. Auch konkrete Botschaften, bspw. an die gegnerischen Fans („Das
Feuer im Pott sind wir! Die öden Bonzen, das seid ihr!“), an die eigene
Mannschaft („Endspurt“), an den Verein („Kommt P.W., sagen wir adé!“) oder
auch die an allgemeine Fußballöffentlichkeit („Gegen den modernen Fußball“)6,
werden gerne mittels beschrifteter Tapetenbahnen präsentiert. Diese Transparente
sind somit ein sinnvoller Indikator für das aktuelle Meinungs- und Stimmungsbild
der Szene.
Im Mai 2002 gab es zudem eine Demonstration in Berlin, bei der knapp 3000
Fans verschiedener Vereine, unter ihnen zahlreiche Ultras, auf die Probleme der
aktiven Fanszene aufmerksam machen wollten. Auf einem großen Banner stand
da
zu
lesen:
„Wir
leisten
Widerstand
gegen
die
Konsum-
und
Kommerzmaschinerie der Vereine, Konzerne und Medien und scheißen auf deren
Doppelmoral und Scheinheiligkeit – einerseits mit uns Fans werben und uns
andererseits schikanieren und kriminalisieren! Wir sind gegen die Kaputtmacher
der Fankultur, gegen die Kaputtmacher des Fußballs!“ (vgl. Phönix aus der Asche
Nr.9, 2002/03). Allerdings bleibt festzuhalten, dass diese Aktion in den Medien
kaum
Beachtung
fand,
vielleicht
weil
die
befürchteten
gewalttätigen
Auseinandersetzungen ausblieben, wie BAFF vermutet (vgl. Baff, 2004).
2.2.2 Öffentliche Wahrnehmung
Obwohl mittlerweile die Kurvenbilder in den Stadien der gesamten Republik
maßgeblich
prägend,
tauchen
die
Ultragruppierungen
im
öffentlichen
Meinungsbild bis heute nicht auf oder werden fälschlicherweise mit
Hooligangruppen gleichgesetzt.
Maßgeblich mitbestimmend ist hier meines Erachtens die Berichterstattung
seitens der Presse, die nach langer Zeit des Ignorierens des Phänomens reißerisch
und unsachlich mit dem Thema umgeht. Als Beispielhaft mag hier ein Artikel
namens „Ultra-Fans – Auf den Spuren der Hooligans“ gelten, der am 20.1.2005
bei Spiegel Online zu lesen war: „Der Trend ist eindeutig: Immer mehr
Fußballfans sehen ihren Sport durch Kommerzialisierung in Gefahr und laufen zu
Ultra-Gruppierungen über. Häufig kommt es dabei zu Konflikten mit Vereinen
und Polizei. Vor allem die steigende Gewaltbereitschaft bereitet Sorgen - gerade
6
Alle Beispiele aus: Stadionweltmagazin Nr.3, 2004
14
im Hinblick auf die WM 2006 in Deutschland“ (Kröner, 2005). Diese
Vorgehensweise der Medien deckt sich mit der Einschätzung Aschenbecks
(Aschenbeck, 1998: 94ff) und der des BAFF, die eine generelle Fokussierung der
medialen Berichterstattung über Fußballfans auf Gewalt- und Problemaspekte
feststellen: „Für Presse, Funk und Fernsehen existieren Fans nahezu
ausschließlich als Randalierer, Säufer und Neonazis – eben als Problemgruppe“
(Baff, 2004: 174).
Auch im Fernsehen wird sehr ambivalent mit dem Phänomen umgegangen.
Betrachtet man bspw. musikunterlegte Trailer als Werbung für bestimmte
Fußballsendungen, sieht man mit hoher Wahrscheinlichkeit Fankurven, die in
Rauch gehüllt und von bengalischen Feuern erleuchtet sind. Dieses wird vom
Fernsehen als „tolle Atmosphäre“ und „pure Emotion“ verkauft. Wird jedoch
während einer Liveübertragung im Fanblock mit Pyrotechnik gearbeitet, bemühen
sich die Kommentatoren in aller Regel schnell zu versichern, dieses seien
“Radaubrüder, Krawallmacher“ aber „keine Fußballfans“ (Meister, 20004: 71).
Allerdings bleibt auch festzustellen, dass die beiden populärsten deutschen
Sportzeitschriften in der letzten Zeit versucht haben, sich dem Thema auf
differenzierte Weise zu nähern. So warf das „Sportbild Sonderheft Fanreport“ die
Frage auf: „Wer sind eigentlich die Ultras?“ Und ließ hierfür den Fanbeauftragten
des FC Bayern („früher selbst Extrem-Fan“) zu Wort kommen: „Die wollen mit
ausgefallenen Aktionen die Stimmung verbessern (...) ein klein wenig
Selbstdarstellung ist sicher auch dabei (...) das sind junge Leute (...) von denen
geht keine ernsthafte Bedrohung aus, vielleicht braucht die Polizei noch etwas,
um zu realisieren, dass sie oft mit Kanonen auf Spatzen schießt“ (Dresslein, 2004:
25). Und auch das Kicker-Sportmagazin führte ein Interview mit drei Vertretern
verschiedener deutscher Ultragruppen, in welchem diese ihr Anliegen und ihre
Probleme („Der Kommerz, die Polizeiwillkür, die uns zu schaffen macht, die
öffentliche Darstellung“) darlegen konnten (vgl. Lußem, von Nocks, von Imhoff,
2004).
Trotzdem sind die Ultras und ihre Fankultur im öffentlichen Meinungsbild noch
lange nicht angekommen. Als ich in meinem Bekanntenkreis über das Vorhaben
meiner Examensarbeit sprach, konnte ich dieses nachdrücklich feststellen – Man
beschied mir, dass es sehr mutig von mir sei, mich „mit diesen Hooligans zum
Interview zu treffen“.
15
2.2.3 Die Sicht der Vereine
Vielerorts ist eine ambivalente Haltung der Vereine ihren Ultragruppierungen
gegenüber zu beobachten. Natürlich sind die Choreographien und die gute
Stimmung, welche die Ultras produzieren, grundsätzlich gern gesehen. So hat
Bayernmanager Hoeneß z.B. sogar die Choreographie der Münchener Ultras zum
Champions-League-Finale 2001 als Bild über seinem Schreibtisch hängen (vgl.
Biermann, 2003). Auf der anderen Seite stellen die Gruppierungen aus Sicht der
Clubs auch eine Bedrohung dar, da sie sich auf allen Ebenen äußerst kritisch mit
dem Verein auseinandersetzen.
Vor diesem Hintergrund ist vielleicht das Vorgehen des FC Bayern zu erklären,
der im Jahre 2003 versucht hat drei ultraorientierte Fanclubs mit mehreren
hundert Mitgliedern aus dem Stadion zu verbannen. Ihnen wurde Beteiligung an
Ausschreitungen und Sachbeschädigung vorgeworfen sowie eine rechtsradikale
Gesinnung unterstellt (ebd.). Aus diesen Gründen sollten sie keine Dauerkarten
mehr erhalten. Die Beschuldigten wiesen die Vorwürfe allerdings zurück. Dem
FC Bayern gelang es in der Folge auch nicht Beweise vorzubringen, so dass der
Versuch die Gruppen aus dem Stadion zu drängen fehlschlug.
Ein weiteres Beispiel ereignete sich kürzlich in Hannover. Dort protestierten
Mitglieder einer Ultragruppierung mittels eines Transparents gegen die
ausufernde Eröffnungsshow der AWDarena. Nachdem der Ordnungsdienst den
Fans androhte, sie aus dem Stadion zu entfernen, wenn das Plakat nicht
verschwinden würde, setzten diese ihren Protest vor dem V.I.P.-Bereich des
Stadions fort. Kurze Zeit später erschien die Polizei, kesselte die jungen Fans ein
und nahm deren Personalien auf. Ein betroffener wirft dem Verein vor: „Unsere
Vereinsliebe wird in diesen Momenten jedoch auf eine harte Probe gestellt. In den
Augen des Vorstands und der Geschäftsführer ist das höchste Ziel unseres Vereins
(oder des Wirtschaftsunternehmens) die Vergrößerung des Kapitals. Doch die
soziale Bedeutung des Vereins für die Stadt und vor allem für uns Jugendliche ist
den Oberen völlig egal“ (Kößler, 2005).
2.2.4 Polizeiliche Wahrnehmung
Im ZIS – Jahresbericht Fußball 2002/03 des LKA NRW wird unter Punkt 3
(„Störerlage“) nicht nur die gängige Kategorisierung der Zuschauer (A,B und C;
16
vgl. 1.1.2) bestätigt, sondern auch auf das vermehrte Aufkommen von
Ultragruppen eingegangen:
„Ergänzend dazu berichten zahlreiche Polizeibehörden über das nunmehr seit vier
Spielzeiten festzustellende, vermehrte Auftreten von Angehörigen sog. „Ultra“Gruppierungen in den Anhängerschaften nahezu aller Vereine der Bundesliga wie
auch der 2. Bundesliga, die sich nach dem Vorbild vergleichbarer Grupen in
Italien zum Ziel gesetzt haben, durch so genannte „choreographische Aktionen“ –
insbesondere auch durch das Abbrennen pyrotechnischer Gegenstände – eine
„südländische“ Atmosphäre in den Stadien zu erzeugen.
Häufig findet das Zünden von Pyrotechnik im Sichtschutz übergroßer, teilweise
den ganzen Fanblock überspannenden Fahnen und Transparente statt, wodurch
u.a. Videoüberwachungsmaßnahmen der Sicherheitskräfte unterlaufen werden.
Durch die entstehende starke Rauchentwicklung kommt es regelmäßig zu
erheblichen Belästigungen und Gesundheitsschädigungen, von denen auch eine
Vielzahl unbeteiligter Stadionbesucher betroffen ist.
Die überwiegende Mehrzahl der zuvor genannten Angehörigen der „Ultra“Gruppierungen ist zwischen 16 und 23 Jahre alt und wird von den berichtenden
Polizeibehörden mehrheitlich (noch) in die Kategorie A, aufgrund entsprechender
Verhaltensweisen und anlassbezogener Vorkommnisse teilweise mit deutlicher
Tendenz in die Kategorie B und vereinzelt bereits in die Kategorie C eingestuft.
So wird insbesondere über eine Steigerung der Aggressivität von Angehörigen der
„Ultra“-Gruppierungen sowie eine Solidarisierung gegenüber Mitarbeitern der
Ordnungsdienste und Einsatzkräften der Polizei berichtet, wenn diese gegenüber
Mitgliedern der jeweiligen Gruppe einschreiten. Einzelne Aktionen geschlossener
Gruppen aus dem Bereich der „Ultras“ deuten darauf hin, dass bei einigen
Mitgliedern
klare
Tendenzen
zu
einer
Entwicklung
hooligantypischer
Verhaltensweisen erkennbar sind“ (vgl. LKA NRW, 2003: 2ff).
Hierzu ist anzumerken, dass Kenner der Fanszene den Sachverhalt komplett
anders einschätzen. Laut Biermann „spielt Hooliganismus, von vereinzelten
Ausbrüchen abgesehen, in Deutschland keine Rolle mehr. Trotzdem sind die
Sicherheitskonzepte noch immer auf den gewalttätigen Fan der achtziger und
frühen neunziger Jahre ausgerichtet“ (Biermann, 2003). Und der Gladbacher
Fanbeauftragte Weinmann fordert: „Der ganze Apparat müsste eigentlich
abgebaut werden“ (ebd.).
17
3. Entwicklungen im modernen Fußballs contra Faninteressen
3.1 Fortschreitende Kommerzialisierung
Der weltweite Profifußball ist im Laufe der letzten Jahre zu einem
Milliardengeschäft mutiert. Hiervon blieb natürlich auch der deutsche Fußball
nicht verschont. Vor allem der Blick der Verantwortlichen auf den Fußball hat
sich geändert. Bayernvorstandsmitglied Rummenigge spricht offen von der „Ware
Fußball“, welche „produziert“ wird (vgl. Jünger, 2004: 37) und um diese Ware
gewinnbringend
zu
verkaufen,
wurden
neue
(zahlungskräftigere)
Publikumsschichten erschlossen: „Während die Bundesliga verstärkt auf neue
Klientel setzt, gerät eine andere in den Hintergrund: Der gute alte
Schlachtenbummler (...) Den Klubs ist es gelungen, neues Potential zu
interessieren und zu aktivieren.“ (Richter, 2004: 12). Die Leidtragenden dieser
Entwicklung sind somit die Fans, wobei ich mich hier auf die nach
Heitmeyerscher Definition „fußballzentrierten“ Fans beziehe, welche sich (sofern
noch vorhanden) zu größten Teilen in den (billigen) Stehplatzbereichen der
Stadien wiederfinden. Es droht hier eindeutig eine Verdrängung der Fankultur
(vgl. Kos, 2000: 87ff). Im Folgenden werde ich näher auf die hierfür
hauptverantwortlichen Faktoren eingehen.
3.1.1 Der Einfluss des Fernsehens
Hauptverantwortlich
für
die
„turbokapitalistische“
(Jünger,
2004:
37)
Entwicklung des Profifußballs ist meiner Ansicht nach das Fernsehen, welches
riesige Summen in den Fußball pumpt und darüber hinaus die ausufernde
Vermarktung des selbigen erst ermöglicht. Musste der FC St. Pauli für die erste
Liveübertragung eines Fußballspiels in Deutschland am 26. Dezember 1952 noch
Geld an den übertragenden NWDR bezahlen, so machen die TV-Gelder
heutzutage den größten Teil der Einnahmen eines Proficlubs aus. Insgesamt erhält
die DFL7, welche für die Verteilung dieser Gelder zuständig ist, derzeit ca. 300
Millionen
7
Euro
für
den
Verkauf
der
Übertragungsrechte
„Deutsche Fußball Liga“: Eine selbstständige Abspaltung des DFB. Veranstalter der beiden
Bundesligen.
(vgl.
18
www.netzeitung.de). Laut Bayernmanager Hoeneß sollte der Erlös in den
nächsten Jahren jedoch sogar auf über 500 Millionen Euro ansteigen, was auch
DFB8-Präsident Zwanziger für realistisch erachtet (vgl. www.ish.com). Aus
diesem Umstand resultiert eine erhebliche Abhängigkeit der Vereine vom
Fernsehen. Bereits jetzt machen bei einigen Bundesligisten die Gelder für die
Übertragungsrechte schon mehr als die Hälfte des Gesamtumsatzes aus, wodurch
die Wichtigkeit der Zuschauereinnahmen für die Vereine immer weiter abnimmt
(vgl. Schubert, 2003: 84). Aus diesem Grund wird das Fernsehen von der Liga
und den Vereinen hofiert, während die Fans in den Stadien oftmals das Nachsehen
haben. So werden nach den Wünschen des Fernsehens bspw. zwei
Bundesligapartien am Sonntagabend ausgetragen, eine Zweitligabegegnung findet
sogar montagabends statt. Somit wird vor allem den Fans der Gastmannschaften
der Besuch dieser Spiele erheblich erschwert. Außerdem wird seit einiger Zeit
über die Einführung einer „zusätzlichen Halbzeit“ oder von sog. Auszeiten
diskutiert, die auf der einen Seite das Spiel seines ursprünglichen Charakters
beraubten, auf der anderen Seite dem Fernsehen jedoch die Schaltung zusätzlicher
Werbeblöcke ermöglichen würde (vgl. Aschenbeck, 1998: 32ff).
3.1.2 Die „Eventisierung“ des Fußballs
Im Jahr 2000 fand eine Podiumsdiskussion namens „Vom Fan zum Kunden –
über die schleichende Verdrängung einer Jugendsubkultur“9 statt, auf der
Vertreter diverser Fanprojekte, Fangruppen und der Medien über die durch den
Titel der Veranstaltung hinreichend erklärte Problematik debattierten. Ein
wesentlicher Teil der Kritik bestand in der zunehmenden „Eventisierung“ des
modernen Fußballsports.
Die Teilnehmer beklagten, dass die Vereine es offensichtlich für notwendig
erachten, die neu gewonnen Publikumsschichten mit einem zusätzlichen
Unterhaltungsprogramm zu bedienen. Ein Teilnehmer: „Ich würde das, was
momentan passiert als „Emotiotainment“ bezeichnen. Da gibt es dann
Einpeitscher, die animieren sollen und über Videoleinwand allen gezeigt werden“
(Kos, 2000: 93). Somit werden die Fans einiger, ursprünglich von ihnen
8
9
Deutscher Fußball Bund
Dokumentiert in: Kos, 2000: 87ff
19
übernommenen Aufgaben beraubt, welche dann auch noch zusätzlich mit
zahlreichen Werbebotschaften verquickt werden (vgl. Ehlers, 2004). Ein anderer
Teilnehmer bekräftigt dieses: „Die Stadionsprecher geben nicht mehr nur
Informationen weiter sondern werden zu Animateuren. Auch das ist etwas, was
mir fürchterlich stinkt“ (vgl. Kos, 2000: 94). Dass es nicht der Anhang in der
Kurve ist, für den diese Show gemacht wird, bestätigt er im Folgenden: „Wenn
ich mich auf den Stehplätzen umschaue, wie die Fans reagieren, dann ist das nicht
mit Verständnis sondern es ist eine absolute Verärgerung da und oft auch eine
Desillusionierung“ (ebd.: 94ff). Den Fans wird mit diesen Erscheinungen
außerdem die Möglichkeit genommen, sich wie früher üblich vor dem Spiel
„einzusingen“ oder sich Gesangs- oder Sprechchorduelle mit dem gegnerischen
Fanblock zu liefern. Als Folge machen viele eine gewisse Apathie aus, die sich in
den Kurven breit macht: „Ich finde, dass sich dieser Diebstahl noch auf einer
anderen Ebene anspielt, und das ist die Ebene der Inszenierung. Das Fußballspiel
an sich wurde zu ganz, ganz großen Teilen nicht nur von den 22 Akteuren auf
dem Rasen gestaltet, sondern von denen, die drum herum saßen und ganz viel mit
ihrer Mannschaft verbunden haben, die ganz spontane Aktionen gemacht haben,
die die Mannschaft unterstützt haben, die die Inszenierung des gesamten Spieltags
zu verantworten hatten. Und wenn ich heute im Stadion bin, die Cheerleader auf
den Platz kommen, vor meinem Block stehen und mir sagen, wann und wie ich
anzufeuern habe, ärgere ich mich. Ich finde das einen respektlosen Umgang mit
mir“ (ebd.: 94).
3.1.3 „Versitzplatzung“ der Stadien
Im Hinblick auf die 2006 anstehende Fußball-WM in Deutschland, jedoch auch
als Folge der oben beschriebenen „Eventisierung“ des Fußballs entstehen überall
in der Republik neue Fußballstadien, mittlerweile meistens „Arenen“ genannt
(man denke an die „Eventisierung“). Dies mag auf den ersten Blick auch den Fans
in der Kurve zu gute kommen, die von den überdachten Tribünen, den besseren
Sichtverhältnissen und den neuen sanitären und logistischen Einrichtungen
profitieren. Allerdings ist im Zuge der Stadionneubauten und –Modernisierungen
der Anteil der Stehplätze rapide gesunken. Zwar muss man sagen, dass in
Deutschland vor allem durch den Einsatz örtlicher Fangruppen, Fanprojekte,
20
BAFF und „Pro-Fans“ im Vergleich zu anderen europäischen Ländern die Zahl
der Stehplätze in den meisten Stadien immer noch relativ hoch ist. Jedoch ist die
Kapazität, vor allem in den Gästeblöcken, keinesfalls als ausreichend zu
bezeichnen. Die negativen Folgen sind vielschichtig: Zum einen sind die in den
letzten Jahren massiv angestiegenen Preise für Sitzplatztickets für viele
Besuchergruppen kaum zu bezahlen. So wird Nicht- oder Geringverdienern,
Familien mit mehreren Kindern und vor allem Jugendlichen der Zutritt ins
Stadion erheblich erschwert oder gar unmöglich gemacht (vgl. Kos: 94).
Außerdem verliert laut Dembowski der Fanblock, den er als „traditioneller Ort
von Fankultur, ein differenziertes Gebilde mit historisch gewachsenen, festen
Standorten für bestimmte Fan- und Zuschauergruppen“ (Dembowski, 2004: 74)
bezeichnet, durch die Versitzplatzung seinen Status als Ort der sozialen
Begegnung. Durch die feste Zuweisung von Plätzen wird die Bewegungsfreiheit
der Einzelnen eingeschränkt, so dass ein „Umhergehen und Leute Treffen“ (ebd.:
75) nicht mehr praktiziert werden kann.
Bei internationalen Vereinspartien sowie Welt- und Europameisterschaften sind
Stehplätze mittlerweile aus „fadenscheinigen Sicherheitsbedenken“ (Ehlers 2004:
50) - es gibt laut Dembowski bis heute keine Studie, die eine bessere Sicherheit
durch Sitzplätze belegt (vgl. Dembowski, 2004:75) - komplett verboten und es
steht zu befürchten, dass dieses Schicksal in absehbarer Zeit den weltweiten
kommerzialisierten Fußball heimsuchen wird.
3.1.4 Ausverkauf von Tradition
Seit
einigen
Jahren
ist
im
Profifußball
im
Zuge
der
allgemeinen
Kommerzialisierung eine steigende Bereitschaft der Vereine zum Ausverkauf von
- den Fans seit jeher sehr wichtigen - Traditionen zu verzeichnen.
Ein sehr prägnantes Beispiel stellte in dieser Beziehung der VfL Bochum dar, der
in der Saison 1998/99 nicht mehr in den traditionellen Trikotfarben Blau und
Weiß auflief, sondern in einem regenbogenfarbenen Dress, dass doch sehr dem
Logo des Hauptsponsors ähnelte (vgl. Kicker Sonderheft, 1998: 105). Auch
Werder Bremen, welches sich seit der Umwandlung der Fußballabteilung in eine
KG nicht mehr „SV Werder“ nennen darf, spielt seit zwei Saisons mit auffälligen
orangen Applikationen auf den ehemals grün-weißen Trikots – rein aus
21
marketingstrategischen Überlegungen, wie man in der Bremer Ultraszene
vermutet (vgl. Inside Eastside, Ausg. 13).
Allein sieben derzeitige Bundesligaclubs wechselten oder „verschönerten“ ihr
traditionelles Vereinswappen aus eben diesen Gründen, wobei selbiges der
Borussia Dortmund AG nicht einmal mehr gehört – da im „September 2000
Markenrechte am Vereinsnamen und am Vereinsemblem im Rahmen einer
"Sicherheitsübereignung"
an
den
Gerling-Konzern
verpfändet
wurden“
(Hennecke, 2005). Ebenfalls sieben Bundesligisten brachen bislang das Tabu des
Verkaufs des Stadionnamens und diskutiert wird diese Möglichkeit neue Gelder
zu erschließen sicherlich bei allen Vereinen. Diese Beispiele ließen sich beliebig
für alle Proficlubs fortsetzen, sollen allerdings nur die derzeitigen Tendenzen
verdeutlichen.
3.2 Einschränkungen durch „Sicherheitsaspekte“
In der Fanszene mehren sich seit Jahren die Klagen über unfaire und schlechte
Behandlung der Fans durch die Vereine, die Ordnungsdienste und die Polizei. Die
offiziellen Seiten rechtfertigen ihr Vorgehen mit dem Hinweis, Fußballfans
stellten ein Gefahrenpotential dar, dem durch vielfältige Sicherheitsvorkehrungen
entgegengewirkt werden müsse. Im Jahre 2004 veröffentlichte BAFF ein Buch
mit dem Titel „Die 100 `schönsten´ Schikanen gegen Fußballfans – Repression
und Willkür rund ums Stadion“, in dem exemplarisch auf einige der Missstände
aufmerksam gemacht wird.
3.2.1 Fantrennung
Im Zuge einer Sicherheitsdebatte wurden gegen Ende der 90er Jahre die Zäune die
das Publikum vom Innenraum trennen in den meisten Stadien entfernt. Löblich.
Allerdings galt dies in den meisten Stadien nur für die Zäune vor den Tribünen,
diejenigen vor den Fanblöcken blieben in der Regel erhalten, oder wurden nur
etwas „entschärft“. Sogar in die komplett gegenteilige Richtung scheint sich die
Situation jedoch für die jeweiligen Gästeblöcke zu entwickeln. Als vorbildlich in
dieser Hinsicht wird gerne die neu errichtete „Arena auf Schalke“ genannt. Bei
22
einem Besuch des Stadions konnte ich erleben, wie dort den Gästefans der
Kontakt zu den Schalkefans unmöglich gemacht wird: So werden die Gästefans
mit dem Bus direkt vor den Eingang gefahren und dann durch einen „Löwengang“
direkt in den Block geleitet, welcher komplett von Plexiglas umschlossen ist Nicht nur kein schönes Gefühl so eingesperrt zu werden, auch unter
Sicherheitsaspekten bedenklich: „Doch was passiert bei einer Massenpanik, etwa
in der „Arena auf Sch*lke“? Vollautomatische Drehtore, durch die nur eine
Person passt, mögen beim Einlass kontrollierbarer sein, aber bei einer Panik und
Flucht können sie eine Todesfalle sein. Gleiches gilt für den schmalen Gang vom
Eingang zum Gästeblock, der knickt zwischendurch ab, führt durch einen kleinen
Tunnel und dann eine Treppe hinauf, um dann vor einer Glastür zu
enden“(www.profans.de).
Werden doch bei internationalen Turnieren immer gerne Bilder von „sich
verbrüdernden Fans“ verschiedener Nationen gezeigt, so sieht die Realität im
deutschen Fußball ganz anders aus. Eine Kontaktaufnahme mit Fans der
gegnerischen Mannschaft ist nicht erwünscht: Unzählige beispiele aus „Die 100
´schönsten` Schikanen gegen Fußballfans“ dokumentieren, dass es gegenwärtig
für die Polizei fast Standard zu sein scheint, die ankommenden Gästefans
einzukesseln und zum Stadion oder Zug zu verfrachten und ihnen jegliches Recht
auf freie Bewegung in der Stadt zu entziehen (vgl. Baff, 2004a).
3.2.2 Das Vorgehen der Polizei
Glaubt man unzähligen Erfahrungsberichten in Fanzines, im Internet oder in
Publikationen, scheinen ungerechtfertigte, gewalttätige Übergriffe von Polizisten
im Umfeld von Fußballspielen an der Tagesordnung zu sein.
Neben der schon erwähnten Publikation „Die 100 `schönsten´ Schikanen gegen
Fußballfans“, widmet sich sogar die als recht polizeifreundliche und im Umgang
mit vermeintlichen Fußballrowdies nicht unbedingt als zimperlich bekannte
Bildzeitung in ihrer Sonderausgabe „Sportbild – Fanreport“ diesem Thema. Dies
ist ein klares Indiz dafür, dass hier eine Problemsituation gegeben ist. Bei meinen
Recherchen musste ich feststellen, dass man zu diesem Thema eine eigene
Examensarbeit anfertigen könnte, deswegen möchte ich hier nur kurz die
betreffenden
Schlagzeilen
der
angesprochenen
Zeitschrift
(in
ihrem
23
„unnachahmlichen Stil“) wiedergeben: „Jetzt reicht`s! Polizeihund beißt Kind;
Fan nach Polizeiprügel auf Intensivstation – Hirnblutung; Zwölf unschuldige Fans
stundenlang in Zelle eingesperrt; Polizist schlägt Teenager die Zähne aus“
(„Faninspektor“, 2004: S.12).
Darüber hinaus scheint es nach einschlägigen Berichten unter den bei
Fußballspielen eingesetzten Beamten schon seit langer Zeit Usus zu sein, bei
Anfragen weder Namen noch Dienstnummer herauszugeben, wozu sie eigentlich
per Gesetz verpflichtet wären (vgl. z.B. Farin/Hauswald, 1998; Baff, 2004a;
www.stpauli-forum.de). Eine Verfolgung von Fehlverhalten der Polizei wird
dadurch erheblich erschwert.
BAFF beklagt sich auch über zunehmende unangemessene Polizeigewalt oftmals
unter Einsatz von Schlagstock und Pfefferspray und stellt folgende These auf:
„Für die Polizei stellt der regelmäßig wiederkehrende Einsatz gegen Fans ein
wunderbares Experimentier- und Trainingsfeld für den Einsatz in großen
Menschmengen dar. (...) So kann z.B. das Vorgehen bei politischen
Demonstrationen
an
Fußballfans
getestet
werden.
`Wandernde
Kessel´,
Videoüberwachung, die Arbeit der Beweissicherungseinheiten – nahezu alle
Techniken für den Polizeialltag...“ (Baff, 2004: 168).
3.2.3 Überwachung
Neben der oben beschriebenen Einbüßung der Bewegungsfreiheit müssen Fans
noch einige weiteren Einschränkungen ihrer Grundrechte hinnehmen. Berichteten
Dieter
Bott
und
Gerold
Hartmann
erstmals
1986
von
neuen
Überwachungskameras, welche in den Stadien installiert werden sollten
(Bott/Hartmann, 1986), so sind diese mittlerweile eine Auflage für die Vereine,
um eine Lizenz für die Bundesliga zu erhalten. Damit die Videoüberwachung
auch lückenlos durchgeführt werden kann, ist den Gästefans oftmals das
Mitbringen von großen Fahnen, Doppelhaltern und Transparenten untersagt, da
befürchtet wird, man könnte im Schutze dieser Elemente z.B. pyrotechnische
Artikel entzünden (vgl. Gabriel, 2004). So kann es passieren, dass der reisende
Fußballfan den gesamten Tag abgefilmt und überwacht wird: Bei der Abreise im
Heimatort, der Ankunft im Zielort, auf dem Weg zum Stadion, im Stadion und
schließlich noch einmal den ganzen Weg zurück (vgl. Baff, 2004a: 9).
24
Vor dem Einlass ins Stadion muss der Fan sich einer Leibesvisitation unterziehen,
wobei hier eindeutig zu beobachten ist, dass diese Kontrollen vor den Eingängen
zu den Stehplatzbereichen deutlich penibler durchgeführt werden als vor den
teureren Bereichen des Stadions. Hat man diese Kontrollen passiert, wird die
Eintrittskarte kontrolliert. In den WM-Stadien geschieht dieses mittels eines
Strichcodes auf dem Ticket. Da man, um an Karten für dieses Turnier zu
gelangen, seine persönlichen Daten angeben muss, kann man so im wahrsten
Sinne des Wortes „auf Schritt und Tritt“ überwacht werden. Dass diese
Kartenvergabepraxis auch für den deutschen Profifußball bald Realität wird, steht
zu befürchten, da die notwendige Technik mittlerweile schon vielerorts vorhanden
ist.
3.2.4 .Stadionverbote
Um Vergehen von Fans im Rahmen von Fußballspielen zu sanktionieren, hat der
DFB das Mittel des Stadionverbots entwickelt. In den „Richtlinien zur
einheitlichen Festsetzung und Verwaltung von Stadionverboten“ ist geregelt, dass
der DFB und die Vereine der ersten drei Ligen in Deutschland sich gegenseitig
das Hausrecht zuschreiben und somit in der Lage sind, bundesweite
Stadionverbote auszusprechen (vgl. Arbeitsgruppe Nationales Konzept Sport und
Sicherheit, 1992). Die Dauer des ausgesprochenen Verbots kann je nach Sachlage
ein, drei oder fünf Jahre betragen, wobei 66% der Stadionverbote für drei Jahre
ausgesprochen werden. Besonders problematisch ist aus meiner Sicht, dass ein
Verbot sogar ausgesprochen werden kann, „ohne dass ein Ermittlungs- oder
sonstiges
Verfahren
eingeleitet
wurde,
bei
Personalienfeststellungen,
Platzverweisen und Ingewahrsamnahmen unter Verhinderung anlassbezogener
Straftaten gemäß Abs. 3, wenn Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass die
Person zukünftig solche Taten begehen oder sich an diesen beteiligen wird“ (ebd.:
25). Hier werden Sanktionen für nicht begangene Taten ausgesprochen, was nach
meinem Rechtsempfinden nicht möglich sein darf, da die Unschuldsvermutung
außer Kraft gesetzt wird. Im Folgenden soll ein exemplarischer Vorfall für die
Erteilung eines bundesweiten Stadionverbots dargestellt werden. Es handelt sich
hierbei natürlich um ein extremes Beispiel, aber grundsätzlich nicht um einen
25
Einzelfall. Es soll aufzeigen, wie willkürlich diese Entscheidungen oftmals gefällt
werden:
„Pressemitteilung des Commando Cannstatt: Bereits vor einigen Monaten nach
dem Spiel des VfB Stuttgart im April 2004 in Freiburg hagelte es zwei
unberechtigte Stadionverbote gegen zwei Mitglieder des Commando Cannstatt.
Die Fans des VfB Stuttgart fuhren mit dem Zug zum Spiel des VfB nach Freiburg.
Am Bahnhof angekommen wollten die Fans bei schönem Wetter zu Fuß zum
Stadion laufen. Die Polizei hinderte die Fans kurz hinter dem Bahnhof am
Weiterlaufen. Dabei schlug ein Polizist dem 16-jährigen VfB-Fan Vincent
Schlecker grundlos mit der Faust ins Gesicht bis diesem Blut aus dem Mund lief.
Der Polizist schlug dem Fan dabei zwei Zähne im Unterkiefer aus. Der Vater des
Fans erstattete Anzeige gegen den Polizisten und bekam daraufhin als „Dank“
vom SC Freiburg ein zweijähriges bundesweites Stadionverbot ausgesprochen,
obwohl der Vater überhaupt nicht bei dem Spiel war. Fassungslosigkeit. Der
Vater teilte dies der Polizei mit, woraufhin das Stadionverbot umgehend auf den
Sohn übertragen wurde“ (www.cc97.de).
Bis hierher wurden Hintergrund und Problemfelder der neuen Fanbewegung
dargestellt. Im Folgenden möchte ich versuchen, mit Hilfe der Interviews einen
tieferen Einblick in die Belange der Szene zu geben.
26
4. Die Interviews mit zwei Mitgliedern von Ultragruppen
4.1 Die Methodik
Um gezielt bestimmte Themenkomplexe, die sich aus der Fragestellung ergeben,
in den Interviews beantwortet zu wissen, erschien mir das leitfadengestützte
offene Interview als Forschungsmethode sinnvoll. Das Interview sollte
Gesprächscharakter besitzen und themenspezifisch möglichst von meinem
jeweiligen Gegenüber strukturiert werden. Ich achtete darauf, den Gesprächsfluss
nicht zu unterbrechen und Fragen als weitgefasste Erzählaufforderungen zu
formulieren, um keine zu kurzen Antworten zu erhalten oder suggestiv
beeinflussend zu wirken.
Die auf Tonband aufgezeichneten Interviews, welche beide ungefähr zwei
Stunden
lang
waren,
transkribierte
ich
vollständig,
wobei
ich
auch
paralinguistische Phänomene wie Pausen, Lachen oder spezielle Betonungen
berücksichtigte. In der folgenden Auswertung der Interviews sind zum besseren
Verständnis folgende Transkriptionsnotationen von Bedeutung:
-
prosodische Zäsur
--
kurze Pause
---
längere Pause bis vier Sekunden
.
Markierung einer fallenden Intonation (Satzende)
Kursiv
emphatische Betonung eines Wortes
Unterstreichung
Besonders sorgfältige Betonung eines Wortes
[]
Ergänzungen des Verfassers
Nach der Transkription der Interviews fertigte ich Verlaufsprotokolle an, in denen
ich das Gesagte nach Themen segmentierte, wodurch ich mir einen guten
Überblick über das Material verschaffte. Danach entwickelte ich ein
Kategoriensystem im Wechsel zwischen Fragestellung und Material in Anlehnung
an die qualitative Inhaltsanalyse nach Mayring (vgl. Mayring zit. nach Lamnek,
1995: 207ff). Somit bildete ich aus den Thematisierungen meiner Interviewpartner
Kategorien, die für die Beantwortung der Fragestellung (siehe Einleitung) relevant
waren.
27
4.2 Auswahl der Interviewpartner
Bei der Auswahl der Interviewpartner waren mir folgende Faktoren besonders
wichtig: Zum einem sollten die Gesprächspartner eine möglichst lange
Gruppenzugehörigkeit aufweisen, um genug über die Historie der Gruppen sowie
viele Erlebnisse mit der Gruppe berichten zu können. Zum anderen sollten sie
innerhalb der Szene eine ausreichend wichtige Rolle spielen, um auch über
vertiefendes Hintergrundwissen zu verfügen. Zuletzt sollten die Interviewten
meiner Anfrage gerne folgen, da die von mir gewählte Interviewform natürlich
auch ein beiderseitiges Interesse verlangt.
Den Kontakt zu Orhan stellte ich über den Bremer Fanbeauftragten Thomas
Hafke her, der mir Orhan als geeigneten Gesprächspartner empfahl. Nach einem
ersten kurzen Vorgespräch am Telefon verabredeten wir einen Termin in einem
Cafe.
Bo wurde mir auf Anfrage am Rande eines St. Pauli-Spiels von anderen
Gruppenmitgliedern empfohlen. Per E-Mail machten wir einen Termin in einem
Raum der Hamburger Universität aus.
4.3 Die Interviewpartner
4.3.1 Das Interview mit Orhan (29), Eastside Bremen `97
Orhan ist ein halbes Jahr nach der Gründung im Jahre 1997 in die Eastside (ES)
eingetreten. 1982 war er mit seinem Bruder das erste Mal bei Werder Bremen im
Stadion. Ab 1986 besuchte er mehr oder weniger regelmäßig zusammen mit
Freunden die Spiele. Seit 1991 hat er nach eigener Aussage kaum ein Heimspiel
verpasst.
Mitte der neunziger Jahre sah er das erste Mal Bilder von italienischen Fankurven
und überlegte sich zusammen mit einigen Bekannten, ob Teile des dort Gebotenen
nicht auch in Bremen zu realisieren seien, da die dortige Fanszene zu diesem
Zeitpunkt „mehr als tot“ und die Kurve „eine der schlechtesten in Deutschland“
war. Der Wunsch, diesen Zustand zu verbessern, und bereits bestehende Kontakte
zu den Gründungsmitgliedern stellten die ausschlaggebenden Faktoren für den
Beitritt Orhans zur Eastside dar.
28
Orhan setzte die Schwerpunkte im Interview auf die Themen Kommerzialisierung
im Profifußball, Repression gegen Fußballfans sowie Politik im Stadion. Er legt
großen Wert auf eine vernünftige Außendarstellung und ein positives Image der
Gruppe.
4.3.2 Das Interview mit Bo (23), Ultra` Sankt Pauli
Bo ist Gründungsmitglied der Gruppe Ultra` Sankt Pauli (USP). Er besuchte als
Kind zahlreiche unterklassige Fußballspiele mit seinem Vater, der ihn dann 1989
zum ersten Mal mit zum FC St. Pauli nahm. Bo verfolgte danach immer öfter die
Spiele am Millerntor, ehe er sich 1993 seine erste Dauerkarte kaufte.
Die Fanszene beobachtete er nach eigener Aussage schon immer mit regem
Interesse, konnte aber auf Grund seines jungen Alters damals noch keinen
richtigen Zugang zum Innercircle finden. Sein Wirken innerhalb der Szene würde
Bo ab 1996/97 als aktiv bezeichnen. Kurz nach der Gründung im Jahre 1999 trat
er in den gerade expandierenden, ultraorientierten Fanclub „Carpe Diem“ ein,
welcher später eine tragende Säule der 2001 gegründeten „Ultra` Sankt Pauli“
darstellen sollte.
Bo legte im Interview gesteigerten Wert auf die Betonung der (links)-politischen
Ausrichtung der Gruppe. Darüber hinaus äußert er harsche Kritik an der
Vereinspolitik sowie der starken Repression seitens der Polizei, der er seine
Gruppierung ausgesetzt sieht.
4.4 Gegenüberstellung der Aussagen unter ausgewählten Themenkategorien
4.4.1 Die untersuchten Ultragruppierungen
Zeitpunkte und Umstände der Gründung sowie ursprüngliche Ziele der Gruppen
Die Gruppe „Eastside `97“ aus Bremen wurde bereits im Jahre 1997 gegründet.
Die „Ultra` Sankt Pauli“ aus Hamburg sind dagegen noch eine relativ junge
Gruppierung – ihre Gründung datiert aus dem Jahre 2001. Entstanden ist sie
allerdings aus dem Zusammenschluss mehrerer bereits existenter Fangruppen.
Den zahlenmäßig größten Anteil stellte hierbei die Gruppe „Carpe Diem“, welche
bereits seit 1999 ein eingetragener Fanclub beim FC St. Pauli ist. Bo erzählt, dass
29
es seinerzeit die „Diskussion gab, USP gar nicht zu gründen“, da sich Carpe Diem
sowieso „absolut auf der Ultraschiene“ bewegte und man sich angesichts der
überall in der Republik neu entstehenden Gruppen („Ultras Frankfurt - Ultras
Düsseldorf - Ultras Bochum – überall gibt`s Ultras“) überlegte, „ob das denn
überhaupt Ultras heißen muss“. Man entschied sich dann jedoch trotzdem zur
Gründung der neuen Ultragruppe, da diese als übergeordnete Gruppierung,
losgelöst von klassischen Fanclubstrukturen agieren sollte, weil der herkömmliche
Fanclub laut Bo „immer diese Strukturen mit sich bringt - dass man sich denkt –
ach die Leute kennen sich alle – wie komm ich da rein“. So wollte man offener
für alle Interessierten sein. Zudem konnten sich auf diese Weise auch Mitglieder
anderer Fanclubs problemlos den Ultra` Sankt Pauli anschließen, ohne jedoch
ihren ursprünglichen Fanclub verlassen zu müssen.
Ziel der Gründung war es, eine Gruppe für Leute anzubieten, die sich im
Zusammenschluss für die Unterstützung der Mannschaft mehr als die meisten
Teile der Zuschauerschaft engagieren wollten. Man wollte neue und längere
Lieder singen und dazu optische Effekte in den Fanblock bringen, um die
Stimmung im Stadion zu verbessern.
Ähnlich beschreibt es Orhan für die Eastside aus Bremen. Auch hier hatte man die
Absicht, die Stimmung im Stadion wieder zu verbessern, welche seiner
Einschätzung nach seit Anfang der neunziger Jahre als äußerst schlecht
einzustufen war: Zum Zeitpunkt der Entstehung der Gruppe war „optisch wie
akustisch ehrlich überhaupt nichts geboten“. Als Inspiration für ihn und seine
Freunde dienten damals „Bilder - die wir aus Italien gesehen haben.“ Die Anfänge
der Eastside beschreibt er aufgrund der „festgefahrenen - ja quasi brachliegenden“
Fanszene als sehr mühsam. Anfangs beschränkte man sich auf einfache optische
Aktionen und verteilte Flugzettel an die anderen Fans in der Kurve, was diese mit
den ausgeteilten Materialien zu tun hätten. Nach und nach sammelte die Gruppe
so eigene Erfahrungen. Ein Gründungsmitglied stellte bald Kontakte ins Ausland
her, durch die ein weiterer Zugewinn an Know-how verbucht werden konnte.
Die Struktur der Gruppen
Beide Gruppierungen, die Eastside Bremen sowie Ultra` Sankt Pauli, existieren
nicht als eingetragene Fanclubs im herkömmlichen Sinne, sondern fungieren
30
lediglich als eine Art Dachverband. Somit sind Teile der Mitglieder zusätzlich
oder immer noch Mitglieder in anderen klassischen Fanclubs.
Die Mitgliederstärke beider Gruppen in absoluten Zahlen zu betrachten würde
einer zuverlässigen Aussagekraft entbehren. So berichtet Orhan zwar von ca. 200
Mitgliedern aktuell, schränkt jedoch gleich darauf ein, dass der Kreis der Aktiven
nur mit maximal 20 – 30 Personen zu beziffern sei. Er erklärt diese Diskrepanz
mit der Tatsache, dass viele Mitglieder nicht im Bremer Stadtgebiet wohnen,
sondern aus dem Umland oder von weiter entfernt stammen. Diesen Umstand
betrachtet er als einen großen Schwachpunkt der Gruppe. Um dem
entgegenzuwirken, setzt er in der Zukunft auf eine weitere Expansion der
Eastside. Den Anteil aktiver weiblicher Mitglieder schätzt Orhan auf fünf bis
sieben Personen.
Bo schätzt die Mitgliederzahl der Ultra` Sankt Pauli momentan auf 130 – 150.
Eine genaue Zahl kann er aufgrund des speziellen Mitgliedersystems nicht
nennen. Zu Beginn jeder Saison laufen die Mitgliedsausweise aus und müssen neu
erworben werden. Auf diese Weise schätzt er, würden bis zum Saisonende an die
150 – 160 Mitgliedsausweise abgesetzt. Zusätzlich zu diesen zahlenden
Mitgliedern sieht er jedoch auch einen „Umkreis von bestimmt noch mal 100
Leuten - die man erreicht - die man mobilisieren kann und die im Prinzip zu der
Gruppe dazu zählen“. Zu den wöchentlichen Treffen kommen teilweise über 50
Leute, was er äußerst positiv bewertet („so was erreicht auch kaum ein
Erstligist“). Weibliche Mitglieder gibt es zu Bos Bedauern „recht wenig“. Es gebe
zwar „viele Mädchen - die im Umfeld von unserem USP-Block stehen und die
auch immer mitmachen“, diese seien jedoch meistens Freundinnen von
Mitgliedern und haben selber keinen Mitgliedsausweis.
Für die Zukunft prognostiziert er ein weiteres Anwachsen der Gruppe und stellt
erfreut fest, dass gerade an jüngeren Leuten ein reger Zulauf zu verzeichnen ist.
Auch Orhan berichtet von einigen „Jüngeren - die in den letzten Jahren
dazugekommen sind“ und merkt an, dass das Durchschnittsalter der Eastside im
Vergleich zu anderen Gruppen als relativ niedrig anzusiedeln ist. Er sieht diesen
Umstand jedoch sowohl mit einem lachenden, als auch mit einem weinenden
Auge. Zwar seien die jungen Leute äußerst aktiv, jedoch sei es „halt immer
schlecht - wenn du dann da stehst und hast nur fünfzehn- sechzehnjährige - die
halt wirklich noch gar nichts mitgemacht haben“. Viele Mitglieder unterstützten
31
zwar bereitwillig alle Aktionen, trauten sich jedoch nicht, eigene Initiative in
ausreichendem Maße einzubringen. Es mangelt der Gruppe seiner Meinung nach
an Leuten, „die auch `n bisschen was lenken können“. Er wünscht sich mehr
„führende Köpfe“.
Entscheidungen werden laut Orhan im Gegensatz zu früheren Zeiten gemeinsam
getroffen. In der Vergangenheit hat einer der Mitbegründer, welcher auch viel von
seinem privaten Geld in die Gruppe investierte, „viel im Alleingang gemacht“,
was zahlreichen Mitgliedern nicht gefiel und in der Konsequenz viele Austritte
zur Folge hatte. Heute können und sollen alle Teilnehmer der montäglichen
Arbeitstreffen wichtige Entscheidungen gemeinsam fällen. Ebenso versucht man
organisatorische Aufgaben auf möglichst viele Schultern zu verteilen. Auf diese
Weise hofft Orhan, werde sich „auch endlich mal ein vernünftiges Wir-Gefühl“
entwickeln. Jedoch kommt es durchaus auch zu Problemen innerhalb der
Hierarchie der Gruppe. So berichtet Orhan, wurde der langjährige Vorsänger zum
Ende der Saison abgelöst, da man das Gefühl hatte, bei diesem sei etwas „der Reiz
raus gewesen“. Nachdem dieser auch nicht mehr die Mehrzahl der Auswärtsspiele
besuchte und sein dortiger Vertreter von der Kurve gut angenommen wurde,
beschloss man diesen auch bei den Heimspielen mit der Aufgabe zu betrauen. Der
abgelöste Vorsänger war darauf hin jedoch „ein bisschen Eingeschnappt“ und
obendrein der Ansicht, „dass ihm die Leute in den Rücken gefallen sind“.
Bo erzählt, dass die Struktur von USP der linken Szene nachempfunden ist. Es
gibt somit keinen „Capo oder so was – oder jemanden der nun bestimmt wo`s
langgeht“. Jeden Mittwoch trifft sich die Gruppe und beschließt gemeinsam die
kommenden Aktionen. Hierarchien existieren nur „dergestalt, dass sich natürlich
Engagement lohnt“. Wer beispielsweise „eine Tapete10 malt - kann dann auch
entscheiden - was letztendlich draufsteht“. Dieses funktioniert laut Bo sehr gut, da
die Aktiven sowieso wissen, was „gerade auch Konsens in der Gruppe“ ist und
diesen auch berücksichtigen. Hierin unterscheiden sich seiner Meinung nach die
Ultrà Sankt Pauli von anderen deutschen Ultragruppen erheblich. Als Beispiel
führt er die Ultras Frankfurt an, welche ein Führungskollektiv haben, in dem
einige wenige die Richtung der Gruppe vorgeben. So etwas sei „bei USP
undenkbar“.
10
Transparent/ Spruchband mit einer Botschaft
32
Die Finanzierung der Aktionen der Gruppen erfolgt übereinstimmend durch
Mitgliedsbeiträge,
Spenden
sowie
den
Verkauf
von
Fotos
und
Merchandiseartikeln. Orhan berichtet zusätzlich von kleinen Summen, die bei der
Organisation von Busfahrten überbleiben. Beide Interviewpartner betonen die
besondere Wichtigkeit der finanziellen Unabhängigkeit ihrer Gruppierung vom
Verein.
4.4.2 Das Wirken der Gruppen
Aktivitäten rund um die Spieltage
Beide Interviewpartner berichten, dass sie mit ihren Gruppen neben den Spielen
der Profis auch die Spiele der zweiten Mannschaft besuchen.
Bo beschreibt den Ablauf an einem Spieltag kurz und knapp. Große Teile der
Gruppe treffen sich bereits einige Zeit vor dem Spiel. Treffpunkte sind hierbei das
Stadion, sowie in erster Linie der „Fanladen“11, der auch für die Gruppentreffen
unter der Woche genutzt wird und von Bo als „Begegnungsstätte“ bezeichnet
wird. Von dort aus wird das Equipment, welches auf den Rängen zum Einsatz
kommen soll (z.B. Doppelhalter und Fahnen) gemeinsam zum Stadion
transportiert. Dort trifft man immer schon recht früh ein, um sich um andere
wichtige Abläufe vor dem Spiel zu kümmern. Es werden Spenden gesammelt und
vor jedem Heimspiel ein Flyer („Gegengerade“) im Fanblock verteilt, der die Fans
mit den neuesten Informationen aus der Szene versorgt. Dazu erscheint ebenfalls
zu jedem Heimspiel ein gruppeneigenes Fanzine („Gazzetta d´Ultra“), welches
rund ums Stadion per Handverkauf unter die Leute gebracht wird. Außerdem
betreiben die Ultras einen Stand unter der Tribüne, „wo man sich informieren
kann über USP“ und an dem auch die Merchandiseartikel verkauft werden. Bo
weist darauf hin, dass es aber vor allem auch wichtig sei, dass zahlreiche
Mitglieder schon zeitig im Block stehen, um somit der gesamten Gruppe ihren
angestammten Platz freizuhalten.
11
Das Fanprojekt des FC St. Pauli
33
Seit Beginn der aktuellen Saison werden in Zusammenarbeit mit dem
Flüchtlingsrat Hamburg zu jedem Heimspiel fünf Asylbewerber oder Flüchtlinge
eingeladen, die dann zusammen mit den Ultra` Sankt Pauli die Spiele besuchen.
Zur Aktivität seiner Gruppierung während der neunzig Minuten äußert sich Bo
nur knapp: „Ja - sonst versuchen wir dann halt da unsere Sache zu machen –
unsere Mannschaft zu unterstützen so gut es eben geht.“ Die Unterstützung erfolgt
nach seinen Erzählungen hauptsächlich durch lautes Singen und „`n bisschen
Alarm machen“.
Orhan nennt nur einige einzelne Beispiele der Aktionen seiner Gruppe im Stadion.
Dabei geht er vor allem auf den Entwicklungsverlauf des Dargebotenen über die
Jahre ein. Er erzählt von den ersten Choreographien, für die Bahnen aus Italien
bestellt wurden und kleine Papierschnipsel in tagelanger Arbeit selbst hergestellt
und in kleine Beutel verpackt wurden. Diese Aktionen waren sehr einfach
gehalten und bezogen sich in erster Linie auf Muster in den Vereinsfarben. Später
gab es Choreographien mit hoch gehaltenen Papptafeln, die jedoch auf Grund
gewisser spezifischer Eigenschaften der Architektur des Weserstadion nicht so gut
funktionieren wie z.B. Doppelhalter und große Blockfahnen. „Schwierigere
Sachen“, so schätzt Orhan, „machen wir jetzt seit zwei - drei Jahren“.
Die akustische Unterstützung der Mannschaft während des Spiels wird immer von
einem Vorsänger geleitet. Dieser wählt die Gesänge und Anfeuerungsrufe nach
seinem Gusto aus, wobei Orhan anmerkt, dass gewisse Lieder immer zu einem
bestimmten Zeitpunkt angestimmt werden, da diese sich bewährt haben, die
Motivationslage der Kurve weiter zu steigern. Der Vorsänger nimmt darüber
hinaus auch bereitwillig vorgeschlagene Songs aus der Fankurve auf.
Die
Texte
und
Melodien
der
vorgetragenen
Gesänge
entstehen
auf
unterschiedlichste Art und Weise: „Manche kommen halt im Suff oder so spontan
– oder man hört halt `n Lied (...) aus Italien, wo `ne geile Melodie drauf ist und
dichtet (...) sich selber (...) `n eigenen Text drauf.“
Orhan ist der Meinung, mit der Anfeuerung die Spieler zusätzlich zu motivieren,
was er dadurch bestätigt sieht, dass diese bei mäßiger Stimmung oftmals
auffordernde Gesten in Richtung Fankurve machen.
34
Einsatz von Pyrotechnik
Als beliebter Beitrag zu einer guten Stimmung und einer gelungenen Kurvenshow
gilt unter Ultragruppierungen das Abbrennen von bengalischen Feuern, welches
allerdings im Rahmen von Spielen der ersten bis dritten Liga hierzulande
untersagt ist.
Deshalb, berichtet Orhan, verzichte die Eastside „schon seit Jahren“ bei
Heimspielen auf den Einsatz von Pyrotechnik. Werder Bremen würde ansonsten
mit hohen Geldstrafen durch die DFL belegt werden, was auf keinen Fall im
Interesse der Gruppe läge. Außerdem befürchtet er, der Verein würde der Eastside
in Folge solcher Verstöße die Durchführung von Choreographien verbieten. Bei
Auswärtsspielen gilt dieses „selbstauferlegten Zündelverbot“ jedoch nicht, da in
diesem Falle der gastgebende Verein verantwortlich gemacht wird und Werder
keine Strafe zu erwarten hat. Orhan persönlich hält trotzdem auch hier den Einsatz
von „Bengalos“ für „sinnlos“. Seiner Ansicht nach spielt diese Thematik
mittlerweile keine allzu große Rolle mehr: „am Anfang der Geschichte (...) da
haben eigentlich alle Gruppen um die Wette gezündelt – macht heute aber
eigentlich kaum noch jemand“.
Trotzdem scheint auch für ihn eine solche Aktion durchaus einen besonderen Reiz
zu haben. Begeistert und im Detail berichtet er über eine Pyroshow zum 100.
Geburtstag des SV Werder, bei welcher der Verein beim DFB eine
Sondergenehmigung für das Abbrennen von Bengalischen Fackeln im Stadion
erwirkt hatte. Damals durfte die Eastside vor Spielbeginn 100 Bengalos auf dem
Spielfeld zünden: „Was wir auch sehr gut fanden alle.“
Eine große Rolle spielt die Thematik für Bo von den Ultra` Sankt Pauli. Um
„keinen größeren Ärger zu provozieren“ entschied man sich in der Vergangenheit
auch hier, bei Spielen der ersten Mannschaft auf den Einsatz von Pyrotechnik zu
verzichten. Allerdings denkt Bo, dass man „in Zukunft wieder drüber diskutieren
muss - weil Pyrotechnik bei USP gerade auch bei jüngeren Leuten auf jeden Fall
ein Thema ist - und das wird man nicht ewig deckeln können.“ So kann er sich
vorstellen, dass die Verzichtsentscheidung mittelfristig wieder aufgehoben wird.
35
Außerfußballerische Aktivitäten der Gruppen
Aktivitäten die über den Rahmen der Fußballspiele hinausgehen, werden von
Orhan kaum angesprochen. Viele Eastsidemitglieder haben zwar noch gute
Kontakte zu den Ultras von Rot-Weiß Essen, diese beschränken sich jedoch zu
seinem Bedauern momentan auf vereinzelte gegenseitige Spielbesuche. Lediglich
die Untergruppierung „Cercle d`Amis“ (CDA) trifft sich abseits von
Fußballspielen oftmals mit den Ultras vom FC St. Pauli und vom SV Babelsberg,
um gemeinsam zu feiern oder politische Demos zu besuchen. Ursache für den
Mangel an außerfußballerischen Aktivitäten ist mit Sicherheit die bereits
angesprochene Problematik der vielen „nicht-bremer“ Eastsidemitglieder, sowie
der daraus resultierende kleine Anteil an wirklich aktiven Mitgliedern.
Deutlich lebendiger wirken da die Ultra` Sankt Pauli. Bo erzählt, dass die
Kontakte der Gruppenmitglieder untereinander weit über den Fußballrahmen
hinausreichen: „Also - das ist weit mehr als nur die Spiele der ersten
Fußballmannschaft zu besuchen.“ Er berichtet, dass innerhalb der Gruppe viele
Freundschaften bestehen und „dass man sich auch unter der Woche so sieht – dass
man Kontakt hält – dass man telefoniert“. Es werden gemeinsame Aktionen wie
der Besuch von Demos, Plakatieren im Stadtteil oder gemeinschaftliches Fußball
spielen veranstaltet. Ebenso berichtet er von gemeinsamen Feiern mit den
befreundeten Gruppen aus Bremen und Babelsberg.
4.4.3 Beziehungen zu anderen Fangruppen
Unterschiede zu herkömmlichen Fangruppierungen
Auf die Frage nach entscheidenden Unterschieden zur Masse der herkömmlichen
Gruppierungen im Stadion antwortet Bo kurz und knapp mit einem Lachen: „Wir
singen“. Ergänzend fügt er hinzu, dass große Teile der St. Pauli-Fans dieses auch
gerne von sich behaupten, damit seiner Einschätzung nach aber von der Realität
weit entfernt sind. Er berichtet über einen kürzlichen Versuch von 20 USPMitgliedern in einem anderen Bereich des Stadions die Menge zur Unterstützung
der Mannschaft zu motivieren: „Die sind in der Halbzeit da frustriert
36
weggegangen - weil da wirklich von den 1000 Leuten die da stehen nicht einer ein
einziges Mal irgendwas mitgemacht hat.“
Orhan ordnet das Verhalten eines großen Teils der Kurvenbesucher der Vor-UltraZeit folgendermaßen ein: „Die Kutten von damals (...) die sind ja am Wochenende
– ja - wir treffen uns in der Kneipe - gehen dann ins Stadion - grölen `n bisschen
rum oder lassen`s auch bleiben. (...) Die Leute sind halt alle ins Stadion gegangen
- haben zwei drei Lieder gesungen - waren dann aber auch relativ ruhig – es
wurde überhaupt nichts bewegt in der Sache.“
Viele „Leute die nicht viel Einblick in die aktive Fanszene haben“ unterscheiden
sich darüber hinaus dadurch von der Eastside, dass sie der Kritik der Gruppe an
der zunehmenden Kommerzialisierung nicht teilen: „...einige sagen (...) wir sind
ja nur die ewigen Stänkerer und dumme Traditionalisten.“ Aus diesen
unterschiedlichen Einstellungen zu bestimmten Fragen ergibt sich somit ein
gewisses Konfliktpotential zu anderen Stadionbesuchern.
Konflikte mit anderen Fans des Vereins
Orhan kritisiert einen großen Teil der Werderfans, da diese seiner Ansicht nach
eine „man-kann-doch-nichts-kritisieren-was-der-Verein-macht-Einstellung“ an
den Tag legen. Diese Leute sind für ihn „eher Konsumenten statt Fans“.
Außerdem hat er kein Verständnis für Zuschauer, die betrunken im Stadion stehen
und „keinen Ton mehr raus kriegen“ oder womöglich während des ganzen Spiels
am Bierstand stehen. Doch auch die außenstehenden Fans üben, vor allem im
Internet (Werder-Forum), Kritik an der Eastside. Deren Choreographien sind zwar
bei allen Teilen des Publikums hoch geschätzt, doch wird den Ultras neben einem
Hang zur Selbstdarstellerei vor allem vorgeworfen, sie würden mit ihrem
Megafon die Stimmung im Stadion „diktieren“ wollen. Orhan versucht auf dieser
Plattform, entgegen dem Rat einiger anderer Gruppenmitglieder, solche Vorwürfe
sachlich zu entkräften. Er vermutet, dass viele Nicht-Eastside-Mitglieder neidisch
auf die Sonderrechte der Gruppe sind, hofft aber trotzdem, dass das Verhältnis in
Zukunft besser wird, „da es auch mehr Spaß macht - wenn der Rest der Kurve
mitmacht“. Zu diesem Zweck gehe man im Stadion auf die anderen
Kurvenbesucher zu: Die Gruppe will sich ab der neuen Saison zentraler in der
Kurve positionieren, um mehr Fans zum Mitsingen der Lieder animieren zu
37
können. Dies wurde laut Orhan auch auf Wunsch vieler außenstehender Fans
initiiert. Er bezweifelt allerdings, ob diese Maßnahme den gewünschten Erfolg
mit sich bringt, da viele Besucher („Nörgler“) in Bremen „gerne ihr eigenes Ding“
machen und sogar kritisieren, die Eastside würde „zuviel Stimmung machen“, was
seiner Ansicht nach gar nicht möglich ist. Er erzählt, dass die meisten anderen
Stadionbesucher überhaupt nicht singen würden und die Einstellung seiner
Gruppe nicht nachvollziehen können. Seine diesbezüglichen Eindrücke während
des Pokalendspiels bestätigen das: „Du hast da `n Block von 120 Leuten - die wir
da irgendwie waren (...) und drum herum sitzt alles (...) und kuckt einen an - als
würden wir vom Mars kommen.“ Es kommt sogar vor, dass andere Zuschauer
supportende Fans bitten sich etwas zu mäßigen. Seiner Meinung nach sollten
Zuschauer mit einer solchen Einstellung lieber „ins Theater gehen“. Zusätzlich
stört ihn die hohe Erwartungshaltung der meisten Fans in Bremen. Er berichtet,
dass das Publikum hier schnell zu pfeifen beginnt, sobald das Spiel der
Mannschaft mal zu wünschen übrig lässt. Für diese Einstellung hat Orhan
keinerlei Verständnis. Ebenso beklagt er, dass sich im Zuge der gegenwärtigen
Erfolge von Werder Bremen eine Menge Leute als Fans zu erkennen geben, die in
schlechten Zeiten nicht zum Verein stehen: „So viele die mit Fußball gar nichts zu
tun haben - rennen jetzt rum und schimpfen sich Werderfan - (...) wenn wir die
Meisterschaft verzockt hätten - hätten sie nur gesagt `ja - ich hab`s doch
gewusst´.“
Trotz dieser zahlreichen Konflikte versucht die Gruppe immer wieder mit
außenstehenden Fans zwecks Austausch in Kontakt zu treten: „Wir haben schon
oft gesagt - wenn einer Ideen hat – meldet euch mal oder kommt zu den Treffen.“
Meistens sei der Zuspruch für solche Aktionen allerdings gleich null, oder im
Ergebnis äußerst unbefriedigend. Trotzdem hofft Orhan, dass man mit der Zeit
eine gemeinsame Ebene finden kann, oder dass die Eastside zumindest in der
Lage sein wird „dem Rest der Kurve mehr von unserem Fan-Dasein und unserer
Auffassung von Unterstützung vermitteln können – das es halt `n bisschen mehr
gibt (...) als sich nur `n Schal (...) `n Trikot kaufen und dann bin ich der
Werderfan.“
Beim FC St. Pauli haben Außenstehende die Möglichkeit, sich über das Fanzine
„Gazzetta d`Ultra“ über Vorgänge und Einstellungen innerhalb der Ultra` Sankt
Pauli zu informieren. Mit einer Auflage von 450 Exemplaren pro Heimspiel
38
werden viele gruppenexterne Stadionbesucher erreicht. Trotzdem gibt es auch hier
einige unterschiedliche Auffassungen, vor allem was die Unterstützung der
Mannschaft anbelangt.
Bo kritisiert an weiten Teilen der Stadionbesucher deren mangelhaften
stimmlichen Support des Teams während der Spiele. Dieser sei seiner Ansicht
nach noch bis vor 7-9 Jahren das „Credo“ im Stadion gewesen und seit dem
immer mehr eingeschlafen. Seiner Gruppe sei hingegen immer noch daran
gelegen die Mannschaft neunzig Minuten anzufeuern („unsern Job erledigen“),
wobei dieses unabhängig vom jeweiligen Spielstand geschehen müsse. Anhänger,
die das Team nur bei guten Leistungen anfeuern, haben für ihn ein „pervertiertes
Selbstverständnis als Fan“. Die einzige Kritik die Bo an dieser angestrebten
permanenten Unterstützung zulässt, ist der Vorwurf, die Gruppe würde zu viele
„hingedudelte Lalala-Gesänge“ initiieren. Er bestätigt, dass es in entscheidenden
Spielsituationen vielleicht besser wäre, mehr „pushende - reißerische Gesänge“
anzustimmen. Allerdings fügt er an, dass jede Form der akustischen Unterstützung
einen solchen Effekt hätte, wenn sich nur genügend Leute daran beteiligen
würden. Deswegen ist dieses seiner Meinung nach eher ein „Problem der Leute dass sie nicht mitmachen - als unser Problem - dass die Leute nicht mitmachen.“
Trotzdem versuche die Gruppe immer wieder durch das Singen von älteren, den
meisten Leuten geläufigen Liedern möglichst breite Massen zum Mitsingen zu
animieren, was jedoch nur selten gelingt. Was Bo daran ärgert, ist die mangelnde
selbstkritische Haltung großer Teile des Publikums: „Es ist schon verwunderlich wie das Selbstverständnis mit dem was wirklich ist auseinanderdriftet – die Leute
denken ja - sie sind die größten Supporters (...) aber haben irgendwie `ne
Nettounterstützungszeit von drei Minuten pro Spiel“. Selbst Teile der aktiven
Fanszene seien von dieser lethargischen Einstellung betroffen. Trotzdem hegt Bo
gegen die anderen Stadionbesucher „keinen Groll“: „Das sind alles liebe nette
Leute (...) aber für Support der Mannschaft und zum Stimmung machen sind sie
nicht zu gebrauchen“. Resignierend stellt er fest: „Also viele Leute hab ich halt
aufgegeben - dass man mit denen noch was erreichen kann“
Umgekehrt wird jedoch auch von Außenstehenden Kritik an den Ultra` Sankt
Pauli geübt. Als beliebte Plattform hierfür erweist sich das St.Pauli-Forum im
Internet. Diese Beiträge werden von Bo aufgrund der Anonymität und
Unsachlichkeit allerdings „nicht ernst“ genommen. Im Stadion bleibe es
39
gegenwärtig meist bei „Anfeindungen auf der verbalen Ebene“, wohingegen kurz
nach der Gründung die Aggressionen gegen die neue sich in den Vordergrund
drängende Gruppe deutlicher zu spüren war: „In der Anfangszeit war das so - dass
da einige Leute gar nicht mit klar kamen – das ist aber doch sehr selten
geworden.“ So wurde der Vorsänger in der Anfangszeit beispielsweise des öfteren
gezielt mit vollen Bierbechern beworfen, was heute so gut wie gar nicht mehr
vorkommt. Kürzlich gab es ein paar kleine Unstimmigkeiten mit Zuschauern, die
sich durch das neu errichtete Podest für den Vorsänger in ihrer Sicht
beeinträchtigt fühlten, doch insgesamt sei laut Bo schon eine klare
Akzeptanzsteigerung des Publikums gegenüber USP zu verzeichnen. Trotzdem
resümiert er etwas pessimistisch: „Ich hoffe das man vielleicht irgendwann noch
mal zusammen kommt – das man wirklich mit der ganzen Kurve was erreichen
kann – aber ich sehe das im Moment in weite Ferne gerückt.“
Verhältnis zu anderen Ultragruppierungen
Bo legt großen Wert auf die Tatsache, dass sich seine Gruppe in wesentlichen
Punkten von anderen deutschen Ultragruppierungen unterscheidet. Er berichtet,
dass die Ultra` Sankt Pauli „einen ganz eigenen Stil haben (...) der in Deutschland
sehr wenig verbreitet ist“. Das beginne mit der Kleidung: Bo hat den Eindruck,
dass vor allem in der Gründungsphase vieler Gruppen durch das Kopieren eines
„Hooloutfits“ versucht wurde, „möglichst gefährlich auszusehen“, was bei USP
nie der Fall war. Des weiteren unterscheide man sich durch eine grundlegend
andere Gruppenstruktur, sowie durch eine bejahende Haltung zum Thema Politik
im Stadion, was von den meisten anderen Gruppen strikt abgelehnt wird.
So habe man auch nur ausgewählte Kontakte zu Gruppen, die in dieser Frage mit
der eigenen Einstellung übereinstimmen. Da gibt es zum einen eine „richtig gute
Freundschaft“ zu einer Gruppe aus Babelsberg und „gute Kontakte“ zur Bremer
Gruppe „Cercle d`Amis“ („zur Eastside überhaupt nicht“). Mit diesen finden
regelmäßige gegenseitige Spielbesuche sowie außerfußballerische Aktivitäten
(Demos, Partys) statt. Darüber hinaus gäbe es gewisse Gruppen, „die man
akzeptiert
-
tendenziell
vielleicht
auch
sympathisiert...“.
In
diesem
Zusammenhang nennt Bo die „Schickeria“ vom FC Bayern, die „Ultras
Frankfurt“, sowie Gruppen vom NAC Breda (Holland) und von Celtic Glasgow
40
(Schottland). Bei diesen Beispielen beschränkt sich die Verbindung jedoch auf
einzelne private Kontakte, die nicht für die ganze Gruppe stehen.
Auch Orhan berichtet von guten Kontakten Einzelner zu anderen Gruppierungen,
beispielsweise zu Anhängern des VfL Bochum. In der Gründungszeit profitierte
die Gruppe zudem von Kontakten zu ausländischen Gruppierungen. Zu jener Zeit
fanden auch zwei Ultrafeste in Stuttgart und Bremen statt, an denen 400-500
Leute aus über zwanzig Vereinen teilnahmen, was zu seinem Bedauern „heute
leider nicht mehr möglich“ wäre, da es jetzt „voll uncool ist - irgendwen zu
mögen“. Damals gab es noch eine szeneinterne Solidarität, die heute nicht mehr
existiert, da sich die Gruppen „mehr und mehr zerstreiten“.
Trotzdem pflegt ein Großteil der Gruppe immer noch eine Freundschaft mit den
Ultras von Rot-Weiß Essen, mit denen es auch zu gegenseitigen Spielbesuchen
kommt. Allerdings ist diese Beziehung zu Orhans bedauern „in den letzten
Monaten ein bisschen abgeflaut.“ Gemeinsame Feiern, wie in der Vergangenheit
öfter üblich, finden derzeit nicht mehr statt.
Allgemein beschreibt er das Verhältnis zu Ultragruppen anderer Vereine als „zwar
kein aktives Miteinander - aber relativ gutes Nebeneinander“. Anschaulich wird
diese Einstellung an der Tatsache, dass sich die Eastside beim Verein immer dafür
stark macht, die Gästefans im Stadion mit möglichst wenig Einschränkungen zu
belegen. Denn gerade die Rivalität macht für Orhan auch „den Reiz des Fußballs“
aus. Spruchband- und Gesangsduelle mit anderen Gruppen, sowie volle
Gästekurven sind für ihn das Salz in der Suppe: „Es ist langweilig im Stadion zu
stehen - wo du keinen gegnerischen Fanblock hast.“
Auch Orhan erzählt vom Kontakt des CDAs zu den Ultra` Sankt Pauli. Dieser
werde in der Eastside zwar durchaus toleriert, stoße jedoch bei den meisten auf
kein Interesse, da „das alles zu politisch orientiert“ sei. Außerdem „mögen viele
Pauli halt auch nicht.“
Das kann Bo bestätigen. Für ihn gilt St. Pauli „als meistgehasste Fanszene nach
Bayern in Deutschland“. Daraus resultierend ergibt sich, dass USP von vielen
Gruppen als ungeliebte Rivalen gesehen werden. So würden die Spiele gegen St.
Pauli von oftmals von gegnerischen Anhängern zu höchst bedeutungsvollen
Matches hochstilisiert, was Bo jedoch nicht interessiert: „Die ganzen Sachen, wo
das nun `n Hass geben soll – da können wir nur drüber schmunzeln.“ Für ihn
existieren derzeit nur zwei „Feindschaften in Anführungszeichen“. Da ist zum
41
einen die Rivalität zum Lokalkonkurrenten Hamburger SV, die Bo als
„bestimmend“ bezeichnet. Zum anderen ist man bei USP neuerdings auf die
Ultras vom Wuppertaler SV nicht gut zu sprechen, von denen man kürzlich nach
einem Auswärtsspiel „aus dem Hinterhalt mit Flaschen angegriffen“ wurde, wobei
es auch einige Verletzte gab. Solche Gewaltausbrüche seien jedoch nicht an der
Tagesordnung. Zwar stehen die Gruppen für ihn alle in einer Konkurrenzsituation,
was sich jedoch in der Regel darauf beschränkt, „dass man versucht seine Kurve
besser darzustellen - als die des Gegners.“
Darüber hinaus ist seit einiger Zeit das Klauen des gegnerischen Banners „der
absolute Volkssport geworden unter Ultragruppen“. Zu diesem sog. Fahnenklau
hat Bo folgende Meinung: „Bei uns wird es halt so gesehen: Wenn sich das lohnt
`ne Fahne zu klauen – also wenn das `ne Fahne ist die man gerne haben will –
dann werden auf jeden Fall Leute auch versuchen so `ne Fahne zu kriegen“.
Wichtig scheint ihm jedoch, dass es bei dem begehrten Objekt um die Banner
einer Gruppe handelt, zu der USP eine Beziehung hat. Ein wahlloses „Abrippen“
von Fahnen, wie es seiner Meinung nach im Osten gehandhabt wird, hält er
hingegen für „sinnlos“. Er berichtet von einem kürzlichen Zwischenfall mit den
„Ultras Frankfurt“: Von diesen wurde im Rahmen eines Testspiels eine
Schwenkfahne erobert, welche jedoch nach dem Spiel wieder zurückgegeben
werden sollte, da man der Meinung war, dass es keine Verbindung zu Frankfurt
gibt, die diese Aktion sinnvoll erscheinen ließe. Jedoch sei das Objekt dann
„angeblich nicht angekommen“ bei seinem Besitzer, weswegen man nun
„Knatsch“ mit den Ultras Frankfurt habe, die ihrerseits nun reagieren wollen.
Generell sieht Bo den Fahnenklau als „sportlichen Wettkampf“, der seiner
Auskunft nach schon seit 40 Jahren ein Element von Fankultur sei. Wichtig ist
ihm hierbei aber vor allem, dass das begehrte Objekt nicht in Überzahl oder mir
roher Gewalt entwendet wird, sondern mit „List und Taktik“, andernfalls sei es für
ihn „keine Trophäe“. Deswegen sei es auch entscheidend, dass keine
„stinknormalen Fanclubfahnen“ geklaut werden, sondern nur solche von
rivalisierenden Ultragruppen.
Orhan hat zu diesem Thema eine völlig andere Einstellung. Fahnenklau, dessen
Ursprünge er in Italien und vor allem Polen ortet, empfindet er als „albern“. Er
betont, dass es bei solchen Aktionen immer wieder auch zu körperlichen
Auseinandersetzungen komme, „da sich das natürlich keiner freiwillig abnehmen
42
lässt.“ Er stellt klar, dass man das eigene Banner, auf welches viele Gruppen
„scharf“ sind, auf jeden Fall verteidigt. Die Eastside selber werde sich jedoch
nicht an diesem „Modegag“ beteiligen: „Wir selber haben gesagt – wir lassen`s.
(...) Das ist für mich nicht mein Ziel die größte Prollgruppe zu haben. (...) Wir
gehen da nicht mit und werden auch gar nicht erst versuchen anderen Leuten die
Fahnen zu zocken. (...) Ist reine Selbstdarstellung. (...) Wenn ich so was einmal
mache- dann lade ich die anderen quasi auch ein das bei uns zu versuchen. (...)
Wenn du irgendwo allein auf dem Bahnhof stehst und die kommen dann da vorbei
und dann kriegst du halt auf`s Maul – muss nicht unbedingt sein.“
Die Rolle von Gewalt in der Ultraszene
Bo
erzählt,
dass
seine
Gruppe
in
der
Regel
keine
körperlichen
Auseinandersetzungen mit anderen Fans suche. Eine Ausnahme bestehe allerdings
in der Situation, „wenn da wirklich irgendwo mal Nazis sind“. Allerdings sei er
mit seiner Gruppe schon Angriffen gegnerischer Fans ausgesetzt gewesen. Zu
Beginn der Saison wurden Mitglieder seiner Gruppe nach einem Spiel in
Wuppertal von den dortigen Ultras mit Flaschen angegriffen und verletzt.
Er räumt ein, dass „Gewalt auf jeden Fall ein Element von Ultrabewegung“ sei.
Dafür gäbe es seiner Meinung nach zwei Gründe. Zum einen nennt er die große
Identifikation der Gruppen mit ihrem Verein, zum anderen könne es bedingt durch
die Tatsache, „dass man als geschlossener Mob auftritt“, immer wieder passieren,
„dass man aneinander rasselt“. Solche Situationen könnten im Umfeld von
Fußballspielen, immer wieder passieren, werden jedoch von ihm nicht als allzu
problematisch eingestuft: „Wo es nun `ne gewisse Vorgeschichte gibt - wird (...)
es auch immer wieder vorkommen - dass auch Ultragruppen bei solchen Spielen
die Konfrontation suchen - aber dass (...) `n Aufleben der Hooliganszene durch
Ultrabewegung passiert - seh ich persönlich überhaupt nicht.“ Seiner Meinung
nach sei keine Radikalisierung der Gewalt zu beobachten. Das liege zum einen
daran, dass die Gruppen mehr und mehr Zulauf von jüngeren Mitgliedern
bekommen, und zum anderen glaubt er, dass „die Zeit - wo Ultra nun darin
bestand - sich möglichst hart darzustellen einfach vorbei ist“.
Orhan schätzt die Lage etwas anders ein. Seiner Meinung nach nimmt das
Gewaltpotential zu. Als Ursache hierfür nennt er das Aussterben der
43
Hooliganszene.
Nach
deren
Niedergang
seien
die
Ultragruppen
ein
„Anziehungspunkt (..) für viele, die halt gerne nur rumprollen und rumpöbeln“.
Allerdings schränkt er im weiteren Verlauf seine Einschätzung dahingehend ein,
dass es nur einzelne seien, die sich „als Freizeitchaoten versuchen“, wohingegen
ein Gleichsetzen von Ultragruppen mit Hooligans „Blödsinn“ sei. Er berichtet
allerdings, dass beim Fahnenklau oftmals körperliche Auseinandersetzungen nicht
ausbleiben. Außerdem gebe es seiner Einschätzung nach vor allem im Osten
Gruppen, „die überfallen sich auch an Nicht-Spieltagen (...) und hauen sich auf`s
Maul – das finde ich einfach nur krank. Diejenigen machen alles kaputt - was die
anderen halt versuchen mit Pro-Fans und so wieder aufzubauen.“ Solche Gruppen,
„die versuchen sich über Gewalt zu präsentieren“, werden seiner Einschätzung
nach bis 2006 durch die starke Repression „von der Bildfläche verschwunden“
sein.
Im Internet kommuniziert er auch aktiv mit Leuten, die Gewaltbereitschaft an den
Tag legen und versucht diese von seiner Einstellung zu überzeugen: „Ich hab
neulich mit einem aus Basel im Internet diskutiert - der meinte `wenn sich zwei
Gruppen begegnen - dann müssen mindestens Flaschen fliegen´ - ich sag
`hoffentlich kommst du mal irgendwann zu der Einsicht - dass das halt nicht
unbedingt sein muss – aber hoffentlich nicht erst durch `n schlimmen
Zwischenfall - dass du oder `n guter Freund von dir im Krankenhaus liegt.´“
Welche Erfahrung auch Orhan in seiner Gruppe bestätigt, ist die geringe
Gewaltbereitschaft gerade bei jüngeren Mitgliedern, die in der Eastside in großer
Zahl vertreten sind. Er fasst zusammen, dass seine Gruppe bemüht sei, sich aus
gewalttätigen Situationen rauszuhalten.
4.4.4 Die Problemschwerpunkte und Ideologien der Gruppen
Sicht auf zunehmende Kommerzialisierung des Profifußballs
Orhan steht der zunehmenden Kommerzialisierung und Eventisierung im
Profifußball äußerst kritisch gegenüber. Er steht dem seit einigen Jahren
anhaltenden Boom der Bundesliga eindeutig mit negativen Gefühlen gegenüber.
Am heftigsten beklagt er den Wandel in der Zuschauerstruktur: Weg vom typisch
44
proletarischen Publikum („das war so`n bisschen der Pöbel“) hin zu Familien aus
der Mittelschicht und zu Businesskunden: „Die wollen halt `n gut betuchtes
Publikum haben - was viel zahlt – und die Leute kommen. (...) Die Haupttribüne
besteht doch bald nur noch aus Sesseln – die sind fünf Minuten vor der Halbzeit
doch schon leer - weil die alle am Kaviarstand stehen.“ Orhan beklagt sich über
Publikumsanimation durch Cheerleader oder Einkaufsmöglichkeiten im Stadion,
weil diese Sachen für ihn nichts mit Fußball zu tun haben und einzig und allein
unter kommerziellen Gesichtspunkten betrieben würden. Leicht resignierend
erkennt er aber auch, dass dieser Trend wohl nicht mehr aufzuhalten sei, da die
Masse der Stadionbesucher auf diese Form von Unterhaltungsprogramm gar nicht
verzichten wolle: „Aber das ganz wegkriegen – das kannst du eh nicht mehr (...)
dafür stehen die Leute halt nicht mehr.“
Bo nimmt zum Thema Kommerzialisierung nur mit Bezug auf den eigenen Verein
Stellung. Ihn stören vor allem „diese ganzen Werbekampagnen – die ganze
Ausrichtung des Vereins – wie der Verein sich präsentiert“. Ganz besonders seine
Gruppe sieht er vom FC St. Pauli kommerziell ausgebeutet: „Alles was dieser
Verein vermarktet und macht ist im Prinzip das - was USP macht – die Stimmung
- die Spruchbänder...“
Auch Orhan stört sich sehr an der Verkaufsstrategie von Werder Bremen. Er
prangert hier vor allem den Ausverkauf der Vereinsfarben an. So trägt die
Mannschaft seit Beginn der abgelaufenen Saison statt der traditionellen
Vereinsfarben Grün und Weiß ein Dress in den Farben Grün und Orange. Laut
Orhan dient die neue Farbgebung einzig und allein der Steigerung des Absatzes,
für ihn stehen jedoch ideelle Werte höher als Mehreinnahmen für seinen
Fußballverein: „Grün-Orange das sagt mir nichts – das ist einfach nur `ne Farbe
die dazu genommen worden ist um halt die Verkaufszahlen zu steigern -- was
leider auch geklappt hat.“ Er klagt: „Ein bisschen Tradition sollte man schon
weiterführen – ist eh alles so kommerziell geworden und da sollte man nicht auch
noch die Vereinsfarben verschachern“. Für beide Gruppen trübt also diese
Haltung ihrer Vereine das Verhältnis zum Club schon erheblich.
45
Haltung zum Verein
Wie im letzten Abschnitt schon zu bemerken war, äußern beide Interviewpartner
starke Kritik an der Politik ihrer Vereine. Orhan betont, dass seine Gruppe sich
zur Vereinspolitik „eigentlich immer äußert“. Oftmals geschehe dieses in Form
von Spruchbändern, worauf der Club durchaus auch „ein bisschen angesäuert
reagiert“. Er ist der Meinung, dass sich der Verein Fans wünsche, die kritiklos
konsumieren. Trotzdem ist es ihm wichtig, dass man sich seine eigene Meinung
nicht verbieten lässt. Die geäußerte Kritik richtet sich in aller Regel im Kern
immer gegen überschweifendes Kommerzstreben des Vereins. So prangert Orhan
neben dem eben erwähnten „Ausverkauf“ der Vereinsfarben zum Beispiel eine
Aktion an, bei der der Club zum Pokalfinale Werderfahnen mit dem Logo eines
Sponsors an die Fans verteilt hat: „Hol Ab lacht sich ins Fäustchen (...) für die ist
das natürlich `n toller Werbegag.“ Eben zu diesem Spiel lief auch der
Kartenvorverkauf durch den Verein sehr „merkwürdig“ ab: Da es deutlich mehr
Vorbestellungen als tatsächlich Karten für die Begegnung gab, sollte ein
Losverfahren über die Vergabe der begehrten Tickets entscheiden. Allerdings hat
laut Orhan niemand aus der Eastside eine Karte erhalten, der nicht auch zusätzlich
die Fahrt mit dem Sonderzug gebucht hatte. Vielsagend bemerkt er: „Den
Sonderzug organisiert Werder (...) und verdient da halt dann dementsprechend
dran.“ Auch zum bevorstehenden Transfer des Stürmerstars Miroslav Klose hatte
ein Teil der Eastside arge Bedenken. Es wurde ein Transparent mit dem Aufdruck
„Klose – Nein danke“ im Stadion präsentiert.
Aufgrund der bisweilen geäußerten Kritik kommt es auch manchmal zu
Konflikten mit dem Club. So, berichtet Orhan, hatte man zur Überreichung der
Meisterschale durch den Ligavorsitzenden Werner Hackmann ein Plakat mit der
Aufschrift „Hackmann halt`s Maul“ vorbereitet, da dieser ebenfalls Mitglied beim
Erzrivalen Hamburger Sportverein ist. Darauf hin drohte Werder Bremen mit dem
Abstellen der Mikrofonanlage der Eastside, falls das Plakat nicht verschwinden
würde, da ein solches Verhalten „ja dem sauberen Image des Vereins schaden“
würde. Doch auch diese Drohung konnte die Eastside nicht von ihrer
„Meinungsäußerung“ abhalten.
Ebenso wurde nach einer vom CDA organisierten Choreographie der
entsprechenden Gruppe mitgeteilt, dass sie ihr Emblem („ein schwarzes
46
Männchen mit `ner Zwille“), welches im Rahmen dieser Kurvenshow auf Fahnen
und Doppelhaltern zu sehen war, in Zukunft nicht mehr im Stadion zeigen dürfen.
Auch dieses kann Orhan nicht nachvollziehen („albern“) und vermutet das dem
Verein das Symbol „irgendwie zu radikal“ gewesen sei.
Trotzdem würde Orhan das Verhältnis seiner Gruppe zum Club nicht als schlecht
einstufen. Seiner Meinung nach sei der Verein der Eastside gegenüber „eigentlich
relativ tolerant“. Es würden ansonsten kaum Aktionen oder Equipment im Stadion
verboten, was bei anderen Vereinen keine Selbstverständlichkeit sei. Davon
profitieren im gleichen Maße auch die Gästefans, was laut Orhan ebenso ein
Verdienst seiner Gruppe sei, da diese sich dem Verein gegenüber immer für eine
diesbezügliche Chancengleichheit stark gemacht hat. Insgesamt betrachtet erfahre
die Eastside letztendlich eine gute Unterstützung durch Werder Bremen. Die
Gruppe habe sogar einen eigenen Schlüssel für das Stadion, um dort z.B. Fahnen
zu basteln oder Choreographien vorzubereiten. Für gewisse Ereignisse
(Pokalendspiel) habe der Club auch schon mal finanzielle Hilfe angeboten, die
jedoch bis auf eine Ausnahme (Vereinsjubiläum) immer abgelehnt wurde, damit
es nicht „das nächste mal wenn du Kritik übst heißt – hier – haltet die Klappe, wir
haben euch Geld gegeben“. So werde also äußerster Wert auf eine gewisse
Unabhängigkeit gelegt. Man möchte sich keines falls „vor`n Karren spannen
lassen“, wie das Beispiel einer von Verein und Sponsor organisierten
Choreographie belegt, bei der die Gruppe auf Anfrage ihre Mitarbeit verweigerte.
Um das gute Verhältnis zum Verein jedoch nicht zu sehr zu trüben, bemühe sich
die Eastside ihrerseits, durch gewisse Verhaltensweisen Schaden vom Club
fernzuhalten. So existiere beispielsweise „seit Jahren“ ein freiwilliger Verzicht auf
das Abrennen Pyrotechnischer Gegenstände bei Heimspielen: „Weil wir uns
gesagt haben - warum sollen wir uns da mit dem Verein anlegen (...) dann dürfen
halt dann keine Choreos mehr machen (...) und es kann auch nicht der Sinn sein dem Verein hohe Geldstrafen durch die DFL zu bescheren.“
Zur Mitgliedschaft im SV Werder hat Orhan keine klare Meinung. Er erzählt, dass
im Gegensatz zu anderen Ultragruppierungen (z.B. „Commando Cannstadt“) eine
Mitgliedschaft im Verein für Eastsidemitglieder nicht verpflichtend sei. Trotzdem
seien einige im Verein, er selber jedoch nicht.
Auch bei den Ultra` Sankt Pauli ist eine Vereinsmitgliedschaft keineswegs
verpflichtend: „Wenn jemand sagt - du ich kann mir das nicht leisten - dann ist
47
das auch okay.“ Trotzdem besitzt dieses Thema für Bo äußerste Priorität. Er
erzählt, bei USP laute „die Maxime (...) `rein in den Verein´“. Somit seien
zahlreiche USP-Mitglieder grundsätzlich auch Vereinsmitglieder, vor allem in der
„Abteilung Fördernder Mitglieder“ (AFM). Zweck dieser Mitgliedschaft sei
jedoch keinesfalls die Finanzierung des Clubs, sondern die Möglichkeit der
Einflussnahme,
insbesondere
durch
das
Stimmrecht
auf
der
Jahreshauptversammlung und bei anderen Abstimmungen. Bo spricht davon, dass
es ein nicht zu unterschätzender Machfaktor sei, wenn man „mal `ne Gruppe hat
von 80-90 Leuten - die geschlossen für oder gegen was stimmen - bei 800-900
Leuten - die die Jahreshauptversammlung besuchen“.
Insgesamt beschreibt Bo im Gegensatz zu Orhan das Verhältnis zum Club als
„sehr schlecht“. Früher sei es mal sehr gut, wenn auch distanziert gewesen, dann
jedoch mit der Wahl Corny Littmanns zum Präsidenten ging es rapide bergab.
Hier nennt er vor allem die gegen USP-Mitglieder ausgesprochenen
Stadionverbote und die „ganzen Werbekampagnen - die ganze Ausrichtung des
Vereins – wie der Verein sich präsentiert“ als die Hauptgründe für den heute
bestehenden massiven Konflikt. Damit und auch durch den Abgang vieler
„korrekter Leute“ haben Vorstand und Pressesprecher „viel Sympathie
eingebüßt“. Lediglich das Verhältnis zum Organisationsleiter sei laut Bo bis heute
immer noch sehr gut, da „man auf einer Ebene funkt“. Allerdings räumt er ein,
dass seitens des Vereins die Akzeptanz durchaus noch vorhanden sei. So wäre es
zum Beispiel kein Problem, einen Termin mit dem Stadionsprecher zu
bekommen. Und auch wenn man mit dem Präsidenten sprechen wollte, „dann
spreche ich in naher Zukunft auch mit dem“. Hierzu fügt er an, dass die meisten
Mitglieder auf solch ein Treffen mit Offiziellen mittlerweile gar keinen Wert
mehr legen würden. Allerdings hegt er die Hoffnung, dass in naher Zukunft ein
neuer Vorstand kommen wird und somit die Akzeptanz der Ultra` Sankt Pauli
beim Verein wieder steigt. Denn ausreichend gewürdigt sieht er seine Gruppe
durchaus nicht: „Das alles was dieser Verein vermarktet (...) - ist im Prinzip das was USP macht – die Stimmung - die Spruchbänder (...) – dafür muss ich sagen
haben wir ´ne ausgesprochen schlechte Lobby im Verein.“
Probleme bei der Mitnahme von Materialien ins Stadion gibt es beim FC St. Pauli
nicht. Ebenso toleriert der Verein den USP-Stand sowie das Verteilen von Flyern
48
im Stadion. Darüber hinausgehende Unterstützung, speziell finanzieller Natur,
lehnt man auch bei Ultra` Sankt Pauli kategorisch ab.
Verhältnis zu Spielern und Mannschaft
Bo berichtet, dass zum Zeitpunkt des Interviews das Verhältnis zwischen
Mannschaft und Fanszene am Tiefpunkt sei. Ursache hierfür ist die sportliche
Misere, die in der kürzlich erlittenen Derbyniederlage gegen die Amateure des
Hamburger SV ihren vorläufigen Höhepunkt fand. Auch wird die mangelnde
Identifikation der Spieler mit dem Verein und dem Stadtteil beklagt: Allgemein
sei „das Credo vorherrschend - `was interessieren mich die Spieler - (...) das sind
Angestellte - (...) die spielen jetzt `ne Saison hier und spielen dann wieder `ne
Saison woanders´ - also Identifikation fällt schon schwer“. Er erzählt von einem
vom Verein organisierten Stadtteilrundgang der Mannschaft und fügt bissig an:
„Das wird für viele Leute das einzige mal sein - dass sie durch den Stadtteil
schlendern - es sei denn - auf dem Kiez saufen gehen“. Für Bo legen die Spieler
eine „Söldnermentalität“ an den Tag. Allerdings schraubt er seine Ansprüche an
sie aber auch dahingehend herunter, dass es ihn durchaus schon zufrieden stellt,
„wenn da ´n paar korrekte und `n paar nette Söldner bei sind“.
Es würde ihn äußerst freuen, wenn die Spieler sich auch mal mit den Fans treffen
und austauschen würden, wenn sie interessiert an der Fanszene wären und die
Aktionen der Fans würdigen würden. Hierbei wäre es Bo vor allem wichtig, dass
das Engagement von den Spielern selber ausgeht: „alles andere ist für mich
wertlos - (...) also - wenn ich schon höre die Mannschaft wird beordert (...) zu
`ner Videopräsentation zu kommen (...) und stehen da und kucken auf die Uhr dann denk ich mir –ohne Groll- aber dann sollen die Leute sich doch verpissen.“
An vom Verein organisierten Treffen der Spieler mit den Fans nimmt Bo daher
auch nicht mehr teil.
Schließlich hebt er jedoch einige Spieler positiv heraus, vor allem „Spieler - die
schon länger bei St. Pauli sind“. Dabei ist der sportliche Wert für das Team
zweitrangig (u. a. der Ersatztorwart!). Mit diesen Spielern sei „der Kontakt auch
wirklich was wert“. Trotzdem schränkt er ein: „Aber nun per se zu sagen - das
sind meine Helden - weil sie jetzt für den FC St. Pauli spielen – ich glaub das
sieht keiner im USP-Umfeld so.“
49
Eine Idolisierung der Spieler findet auch bei der Eastside nicht statt. Auch Orhan
klagt über mangelnde Identifikation mit dem Verein und mangelndes Interesse der
Spieler an den Fans. Er bezeichnet das Verhalten der meisten Profis als „mehr als
armselig“ und „arrogant“. Zum einen störe es ihn, dass die Spieler nach einigen
Spielen nicht an den Zaun zu den Fans kommen. Er meint, dies wäre vor allem für
die jüngeren Anhänger ein tolles Erlebnis. Außerdem wünscht er sich, dass die
Spieler mal Interesse für die Aktionen seiner Gruppe zeigen oder sogar mal ein
persönliches Lob dafür aussprechen würden.
Er stellt die Frage, wie man sich als Fan mit Spielern wie Topstar Ailton
identifizieren soll, die nur aus finanziellen Gründen den Verein wechseln. Am
liebsten seien ihm Spieler wie Ismael und vor allem Nelson Valdez, weil diese
„halt alles geben oder halt wirklich auch mal in die Kurve kommen - die Leute
abklatschen oder auch wirklich mal versuchen mit den Fans zu reden“. Letzterer
ist bei der Eastside auch deswegen besonders beliebt, weil der Kontakt zum
Spieler schon aus dessen Zeit in der Amateurmannschaft besteht, zu deren
Spielern der Kontakt deutlich besser ist: „Mit denen haben wir auch schon mal `n
Bierchen getrunken und die haben uns zum Grillen eingeladen (...) auch wenn
man die auf der Straße trifft – einige begrüßen dich“. Im Gegensatz zu „den
Herren Profis“, die Orhan aber auf der anderen Seite auch verstehen kann, denn
„den ganzen Tag will einer was von einem“. Trotzdem meint er, die Spieler
sollten „schon wissen - wo die Leute sind - die wirklich jeden Scheiß... – die
hinterherfahren - sehr viel Zeit und Geld auch opfern - um halt für den Club und
für die Mannschaft was zu bewegen“.
Orhan berichtet, dass einige Eastsidemitglieder sogar den Abstieg der
Profimannschaft in Kauf nehmen würden, damit mehr junge Spieler aus den
eigenen Reihen im Kader stehen würden. Diese Haltung bezeichnet er persönlich
jedoch als „totalen Blödsinn“.
Repression durch Ordnungsdienst, Polizei und Stadionverbote
Der Ordnungsdienst, eigentlich für Sicherheitsaspekte im und ums Weserstadion
zuständig, überprüft auf Anweisung des Vereins die Transparente und
Spruchbänder der Eastside auf beleidigenden Inhalt. Das Verhältnis zu diesen
Ordnern beschreibt Orhan als problematisch. Er berichtet von diversen Schikanen,
50
welche seine Gruppe regelmäßig über sich ergehen lassen muss: „Die provozieren
einen halt (...) und kapieren eigentlich immer noch nicht - was wir da eigentlich
machen.“ Werden zum Beispiel Choreographien vorbereitet, so werde man „ewig
wieder nach seiner Arbeitskarte gefragt - obwohl man da schon zehn mal rein und
raus gerannt ist“. Gerade auch bei den Spielen der Amateure seien immer wieder
Leute dabei, die „versuchen einen wirklich immer anzupissen - quasi
anzumachen“. Kürzlich bei der Meisterfeier im Stadion eskalierte die Situation,
als der Ordnungsdienst einige Leute, welche die Zäune zum Innenraum
überstiegen hatten, mit grober Gewalt angriff. Nach diesen Vorfällen habe der
Verein jedoch der Sicherheitsfirma „die gelbe Karte gezeigt“, weswegen Orhan
nun hofft, dass sich das Verhältnis in der Zukunft verbessert.
Beim FC St. Pauli haben die Ultras mit dem Ordnungsdienst bei Heimspielen „bis
auf wenige Ausnahmen keine Probleme“. Bei Auswärtsspielen, so berichtet Bo,
sei dieses je nach Stadt und Ordnungsdienst unterschiedlich: „Das kann sein - dass
man total korrekte Ordner trifft - andererseits kann man auch auf den letzten
Kotzbrocken da treffen.“ Insgesamt wird dieses Thema von ihm jedoch nicht
großartig problematisiert.
Anders sieht es da beim Verhältnis der Gruppe zur Polizei aus. Bo bezeichnet
dieses als „momentan sehr schlecht“. Er räumt zwar ein, „dass aller Ärger - der im
Umfeld des FC St. Pauli passiert (...) von den Skinheads oder USP ausgeht (...)
kann man ja auch ehrlich sein.“ Allerdings beschränke sich dieser „Ärger“ auf
Sachen, „wo die Bullen sich drüber ärgern – über Spruchbänder - über Aktivitäten
- über Aufforderungen - über Darstellungen und Berichte und so was.“ Die
Repression als Antwort darauf, empfindet er als zu stark und unangemessen:
„Alles was wir machen wird auf Schritt und Tritt verfolgt durch zivile Ermittler teilweise kommen die zu unseren Spielen vom Verfassungsschutz.“ Die Ursache
hierfür sieht er zum einen in der Tatsache begründet, „dass man als Gruppe
auftritt“ und zum anderen in der politischen Ausrichtung der Ultra` Sankt Pauli,
der „Verstrickung mit der linksradikalen Szene in Hamburg“. Seiner Meinung
nach habe allerdings „dieser Staat `n Problem - wenn der so `ne Gruppe
Fußballfans vom Verfassungsschutz beobachten lässt“. Lachend fügt er hinzu:
„Ich seh` die Gefahr für die Verfassung der Bundesrepublik Deutschland also als
nicht so extrem an – um das mal `n bisschen polemisch auszudrücken“.
51
Bo erzählt, dass es bei der Hamburger Polizei zwei Beamte gebe, die sich
ausschließlich mit den Ultra` Sankt Pauli beschäftigen. Diese machen ihre Arbeit
seiner Ansicht nach äußerst schlecht. Beispielhaft hierfür sei die Vermutung der
Behörde, die Gruppe würde beim Derby gegen den HSV eine große Aktion mit
bengalischen Feuern veranstalten, was via Polizeifunk mitgehört werden konnte.
Dabei publiziere USP schon seit zwei Jahren einen Verzicht von Pyrotechnik bei
den Spielen der ersten Mannschaft. Bo dazu: „Also ich denke mal - wer sich jeden
Tag damit beschäftigt - der könnte das schon wissen. (...) [das] ist nur ein Beispiel
für so Dinge - wo ich mir eigentlich denke - also machen die ihren Job gar nicht oder wie schlecht?“
Teilweise würden Leute von zivilen Polizisten vom Stadion bis zu ihrer
Privatwohnung begleitet und „Personalien werden gesammelt - wie das
Eichhörnchen Nüsse im Herbst“. Mitglieder der Gruppe werden sehr stark
stigmatisiert. Bo berichtet von Gruppenmitgliedern, welche auf Demonstrationen
in Gewahrsam genommen wurden, „und wurden dann durchsucht und als dann
der USP-Ausweis aus`m Portemonnaie gezogen wurde - hieß es dann ´ach so alles klar - weiß ich Bescheid - schick den mal da hinten hin`“. Er sieht seine
Gruppierung auch stärker im Fadenkreuz der Polizei als andere, vergleichbare
Gruppen in Deutschland: „Ich glaube Ultras Fürth machen das selbe und haben
nicht `n Zehntel soviel Repression.“
Er berichtet, dass das Ziel der Polizei bei all diesen Aktionen die Zerstörung der
Gruppe sei: „Die Polizei hat sogar mal in `ner Sicherheitsbesprechung gegenüber
dem Verein geäußert - dass sie USP auch wirklich kaputt machen wollen – das die
dann auch lieber jetzt `ne Gruppe mit 100 Leuten kaputt machen und zerschlagen
- als in drei Jahren vielleicht `ne Gruppe mit 300 Leuten - mit denen man dann mit
polizeilichen Mitteln nicht mehr Herr werden kann.“
Bo kann die gegen die Gruppe gerichteten Maßnahmen nicht nachvollziehen.
Seiner Ansicht nach stehen die Ultra` Sankt Pauli bei den Behörden in einem
völlig falschen Licht. Er berichtet, dass einige Gruppenmitglieder bei der Polizei
als C-Fans (gewaltsuchend) geführt werden, was aber nicht im geringsten der
Realität entspreche. Zu diesem Umstand stellt er zwei Thesen auf. Entweder
machen die Beamten ihre Arbeit so schlecht, dass sie zu solchen (falschen)
Ergebnissen gelangen – oder aber „das ist Taktik von denen - dass die falsche
Infos rausgeben“. Um das Bild der Gruppe ins richtige Licht zu rücken appelliert
52
er: „Das ist einfach auch was ich auch dann gerne mal publizieren möchte - auch
an die Polizei -- bei uns in der Gruppe - unter all diesen hundert Leuten - da ist
keiner C - da geht keiner zum Fußball um sich zu hauen oder so – (...) wie das von
der Polizei dargestellt wird - das ist einfach nicht wahr.“
Orhan sieht das Verhältnis seiner Gruppe zur Polizei als nicht ganz so
problematisch
an.
Allerdings
unterscheidet
er
hierbei
zwischen
den
verschiedenartigen Vorgehensweisen der Polizei bei Heim- und Auswärtsspielen.
Mit der Bremer Polizei sei der Kontakt in Ordnung: „Unsere szenekundigen
Beamten - die kennen uns alle und wir sie – die sind alle ganz okay - da gibt`s halt
auch wieder viel negativere Beispiele aus anderen Städten.“ Anderenorts, so fährt
er fort, würden die Ultragruppen oftmals von der Polizei schikaniert (z.B. würden
Busse gefilzt), in Bremen liefe das jedoch „auf `ner relativ fairen Basis ab“. Er
berichtet, dass man mit den szenekundigen Beamten auf Auswärtsfahrten sogar
„relativ gut quatschen“ könne, unterstreicht aber, dass eine Kooperation mit
diesen absolut nicht besteht: „Man darf nicht vergessen - das sind den ganzen Tag
Polizisten (...) dass man denen nicht zu viel erzählt“. Außerdem scheint ihm die
Präsenz der SKB´s12 auch nicht wirklich angenehm oder notwendig zu sein: „Den
ganzen Tag die Leute – ich brauch keinen Aufpasser an der Hand.“
Recht heftig kritisiert Orhan hingegen das Auftreten der Polizei bei
Auswärtsspielen, wobei er gerade in Nordrhein-Westfalen, Bayern und Hannover
schlechte Erfahrungen gemacht hat. Oftmals fühlt er sich bei Auswärtsfahrten von
der Polizei unfair behandelt: „Auswärts wirst du oft schikaniert oder so und musst
halt sehen - dass du dich nicht von jedem Arschloch so provozieren lässt – viele
legen`s nur drauf an halt ihre Quoten für Verhaftungen hochzutreiben – gerade
viele Jüngere meinen dann gerne bei der Polizei sie können den Rambo spielen.“
Eine weitergehende These für den Hintergrund dieser Vorgehensweise hat er
auch: „Ich persönlich bin der Meinung - dass es sowieso im Hinblick auf die WM
– dass der Innenminister irgendwie `ne Quote vorgegeben hat - so und so viele
Leute müsst ihr aus dem Verkehr ziehen – und die versuchen`s halt mit allen
Mitteln zu erfüllen. Da werden Leute verhaftet - wegen Lächerlichkeiten in die
Datei Gewalttäter Sport aufgenommen“ Als Fußballfan fühlt Orhan sich oftmals
„wie ein Schwerverbrecher“: „Ist schon zum Kotzen - wenn du auswärts irgendwo
ankommst - steigst aus dem Bus und da steht schon so `ne Horde Grüne quasi mit
12
Szenekundige Beamte
53
gezückten Knüppeln – das ist für mich provozieren – obwohl noch keiner was
gemacht hat - alle fröhlich aus dem Bus steigen“. Er berichtet von Spielen, bei
denen die Polizei mit Pferden die Gruppe zusammen hielt und wo seiner
Einschätzung nach auf jedes angereiste Eastsidemitglied ein Polizist kam. Dieses
empfindet er als vollkommen unangemessen und fühlt sich in vielen Situationen
als Fußballfan seiner Grundrechte beraubt: „Wer möchte schon irgendwo
ankommen und gleich wie der letzte Asi behandelt werden. Ich mein jeder hat
irgendwo auch seine Grundrechte - und wenn du da in irgend ein Loch gesperrt
wirst oder am Bahnsteig festgehalten - willst mal auf die Toilette gehen und die
sagen du darfst nicht – das ist für mich dann schon irgendwo ziemlich krass“
Dazu komme der Umstand, dass laut Orhan mit den Beamten auch keine
vernünftige
Kommunikation
möglich
sei.
Dabei
denkt
er,
das
viele
Auseinandersetzungen durch ein besonneneres Auftreten der Polizei zu
verhindern wären.
Da dieses in der Realität aber nicht passiert, müssen die Ultragruppierungen mit
den Konsequenzen der Repression leben. Die Härteste ist das Stadionverbot, von
dem Mitglieder beider Gruppen aktuell betroffen sind. Wie reagieren die Ultras
auf dieses Bedrohungsszenario?
Orhan erzählt von Bremer Fußballfans, welche an Randale beteiligt waren und
deshalb mit Stadionverboten belegt wurden. Seiner Ansicht nach dürfe man sich
in diesem Falle über die Sanktionen auch nicht beschweren. Er erwartet, dass
Gruppen, die gewalttätige Auseinandersetzungen suchen, auf die Weise bis zur
WM 2006 von der Bildfläche verschwinden werden. Er persönlich möchte auf
keinen Fall ein Stadionverbot riskieren und versucht sich auch dementsprechend
zu verhalten, obwohl dieses durch häufige Provokationen seitens der Polizei nicht
immer allzu einfach sei. Trotzdem ist er der Meinung, dass man sich als
Fußballfan nicht alles gefallen lassen dürfe und sich somit in einem gewissen
Rahmen auch gegen Schikanen von Polizei und Ordnungsdienst zur Wehr setzen
sollte.
Um die Situation zu entspannen, legt er großen Wert darauf, das Image der
Gruppe in der Öffentlichkeit zu verbessern: „Dass uns halt nicht jeder als
Randalebrüder sieht (...) leider versuchen einige sich auch als Freizeitchaoten –
aber ich seh es anders und die meisten von uns auch – wir kämpfen (...) für`n
positiveres Image von aktiven Fußballfans.“
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Auch bei den Ultra` Sankt Pauli reagiert man auf die repressiven Maßnahmen
mit verschiedenen Mitteln. Zum einen versuche man „möglichst wenig Anlass zu
geben - wo`s nicht unbedingt nötig ist“. Dazu zählt der Verzicht des Einsatzes von
Pyrotechnik bei den Spielen der ersten Mannschaft oder aber auch der Verzicht
des „Herumlungerns“ vor dem Ausgang der Gästekurve nach Spielende. Neben
dieser „defensiven“ Taktik sei es laut Bo aber ebenso wichtig, „das man auch
eigene offensive Punkte setzen muss, um nicht zum absoluten Opfer zu werden
von Repression“. Dazu zählt er beispielsweise ein geschlossenes Auftreten der
Gruppe, sowie das „Verhindern - dass da einzelne Leute rausgegriffen werden“.
Zudem werden den derzeit mit Stadionverboten belegten Mitgliedern die Fahrten
zu den Auswärtsspielen bezahlt, damit diese trotzdem vor Ort sind, ohne jedoch
ins Stadion zu gehen. Dies scheint die Polizei bei ihrer Arbeit auch zu stören:
„Das nervt die ganz gehörig - weil das Stadionverbot ist ja für die eigentlich das
einzige Mittel (...) die wollen damit die Leute aus der Szene rausdrängen.“
Keinesfalls ist man bei den Ultra` Sankt Pauli zu einer Kooperation mit den in
ihrem Umfeld operierenden zivilen Polizeibeamten bereit, darüber besteht in der
Gruppe große Einigkeit.
Einstellung zum Thema „Politik im Stadion?“
Bo spricht sich eindeutig für das Einbringen politischer Themen in den
Fußballkontext aus, da für ihn der Fußball „generell nicht unpolitisch“ ist. Und so
stellt er auch gleich zu Beginn klar: „Eine linke Orientierung ist wirklich ganz
stark manifestiert in der Gruppe (...) dieses football without politics, das ja die
allermeisten Gruppen vertreten -- [ist etwas] womit wir nun überhaupt nichts
anfangen können.“ Er kritisiert diese Einstellung der meisten anderen
Ultragruppen: „Alles in dieser Gesellschaft was man macht ist in meinen Augen
politisch – und die größte Farce ist es ja dann – diese ganzen Gruppen, die sich als
unpolitisch bezeichnen sind in meinen Augen (...) nach rechts sehr viel offener als
nach links.“ Für ihn ist eine Gruppe, die eine solche Meinung vertritt,
unakzeptabel. Eine Gruppierung, „wo auch Faschisten oder Rechte drin sind - mit
so `ner Gruppe will ich auch nichts zu tun haben - das würd ich auch ganz schwer
nur als meine Gruppe akzeptieren.“ Politisches Wirken im Stadion ist für ihn aber
auch mehr, als die reine Ablehnung von Faschisten im Fußballumfeld. Er bringt
55
an dieser Stelle auch gesellschaftliche Fragen mit ins Spiel: „Die ganze
Gesellschaft entpolitisiert sich – und das der einzige Freiraum - den man im
Prinzip noch hat – die Fankurve – alles überwacht - alles reglementiert in der
Gesellschaft und dann so `ne Sache noch zu verschenken - in dem man sagt – ja,
wir sind ja so unpolitisch – ist in meinen Augen der komplett falsche Weg.“
Bei den Ultra` Sankt Pauli werde daher nicht nur über Politik geredet, sondern
auch aktiv politisch gehandelt. Das beginnt bei den Strukturen der Gruppe, die Bo
als „der linken Szene nachempfunden“ beschreibt. Darüber hinaus veranstaltet
USP aber auch Aktionen. Es wird gemeinsam an politischen Demos
teilgenommen oder im Stadtteil plakatiert. Außerdem läuft seit Beginn der Saison,
wie bereits erwähnt, eine Aktion zur Unterstützung von Flüchtlingen: „Zu jedem
Spiel [werden] in Zusammenarbeit mit dem Flüchtlingsrat Hamburg fünf
Asylbewerber oder fünf Flüchtlinge (...) eingeladen – (...) um einfach `n
Kontrastpunkt zu setzen gegenüber der doch als rassistisch zu bezeichnenden
Ausländerpolitik in diesem Land.“
Trotz allem politischen Engagements ist es Bo wichtig zu betonen, dass dies nur
einen Teil des eigenen Selbstverständnisses ausmache: „Es ist ja nicht so - dass
wir nun `ne politische Jugendgruppe wären - die dann auch mal zum Fußball
gehen – sondern wir sind in erster Linie ganz klar St. Pauli-Fans - die halt nur ihre
politische Orientierung oder das - was sie für gut befinden nun nicht am
Stadioneingang lassen wollen – sondern auf solche Themen (...) im Rahmen des
Fußballstadions aufmerksam machen wollen – und es ist ja nun auch nicht so dass wir da nur politisch Missionieren - sondern es ist halt ein Teil unseres
Auftretens“.
Die Wurzeln dieser starken Politisierung der Fanszene des FC St. Pauli sieht Bo
schon weit zurückliegend: „Es ist ja nun so - dass St. Pauli generell `ne recht
politisierte Fanszene [hatte] – und wenn man nun in so `ne Fanszene hineinwächst
oder auch Nachwuchs generiert (...) ist es ganz natürlich - dass man selber auch
politisiert wird – und wenn man in der Fanszene mitmachen will - nimmt man ja
die Werte dieser Fanszene irgendwo auch an.“
Auch ihre Freunde suchen sich die Ultra` Sankt Pauli nach deren politischer
Couleur aus. Auf die befreundete Gruppe aus Babelsberg wurde man aufmerksam,
weil „die auch `ne richtig linke Kurve haben“ und die befreundeten Cercle d`Amis
aus Bremen „verstehen sich auch als linke Fußballfans“.
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Den Cercle d`Amis , beschreibt Orhan als „Untergruppierung“ der Eastside,
welche im eigenen Fanlager zwar toleriert werde („die sollen ihre Kontakte nach
St. Pauli pflegen - wenn sie sich so sehen“), aber er „und die meisten anderen“
Eastsidemitglieder sind „der Auffassung - Politik gehört nicht ins Fußballstadion“
und mögen deswegen den „FC St. Pauli und seine Fangemeinde“ auch nicht
besonders. Er befürwortet sogar die Zensur von Spruchbändern mit politischer
Aussage, weil „das gehört halt nicht dahin.“ Er erzählt: „Ich kann`s halt nicht
nachvollziehen - wenn beim Pokalspiel Werder gegen St. Pauli Transparente
hochgehalten werden – hier wegen dieser Bambulesiedlung da – so was hat für
mich mit Fußball nichts zu tun und gehört für mich nicht ins Stadion (...) St. Pauli
die in jede Scheiße Politik einfließen lassen“.
Seiner Meinung nach zieht eine stark politisierte Fanszene problematische
Gegenreaktionen an. Er berichtet von seinem letzten Besuch in Essen, als dort der
FC St. Pauli zu Gast war: „Die ziehen dann halt rechtes Gesocks mit an (...) was
da an Faschos rumgetigert ist die mit Rot-Weiß gar nichts zu tun haben.“ Er
folgert: „Wer so drauf besteht - dass man das Eine vertritt – der muss sich nicht
wundern wenn er mit dem Anderen konfrontiert wird.“ Darüber hinaus habe er
auch beobachtet, dass „da auch wieder haufenweise Punks rumstanden - die auch
mit St. Pauli selber nichts am H[ut haben] – die da nur hingehen – wir sind links
wir gehen zu St. Pauli.“
Für Orhan spielt die politische Gesinnung eines Menschen keine Rolle, solange
er diese nicht im Fußballkontext auslebt: „Es ist halt so dass wir auch ein zwei
Leute haben die halt irgendwo rechts denken – und da gibt`s halt untereinander
keine Probleme – deswegen sagen wir auch eigentlich immer alle – Politik hat im
Stadion sowohl von der einen als von der anderen Seite einfach nichts zu suchen.“
Deswegen verhält sich die Eastside „politisch eigentlich völlig neutral.“ Um den
Erfolg dieser Strategie zu verdeutlichen, erzählt er folgende Anekdote: „das war
ein Bild für die Götter – vor zwei Jahren oder so – da saß Hubert13 mit einem von
uns da - der ist halt bei der JN14 – die saßen zusammen haben schön einen gekifft
und (lacht) das war`s – das ist für mich Toleranz – zu sagen – okay hier ist
Fußball der Rest interessiert hier nicht.“
Aus diesem Grund lehnt Orhan es auch ab, die Vorbilder aus den italienischen
Fankurven in jeder Hinsicht zu kopieren: „So `ne Kurve wie in Livorno oder
13
14
CDA-Mitglied, Name geändert
„Junge Nationaldemokraten“ – Jugendorganisation der NPD
57
Bergamo die halt ganz stark links sind – oder Inter Mailand die total rechts sind
möchte ich bei uns nie erleben.“
Eine antirassistische Einstellung ist für Orhan allerdings auch „keine politische –
die ist für mich selbstverständlich – für mich macht sich einer der rechts ist total
lächerlich wenn er hier im Stadion steht und Ailton ein Tor schießt und er ist der
erste der seine Hand hinhält – klatsch mich ab“. Wenn Rassisten sich offen im
Fußballkontext ausleben, befürwortet Orhan ein Einschreiten gegen diese
Umtriebe. Er berichtet, wie man auf einer Zugfahrt zwei Nazis, die rechte Parolen
skandierten zum Schweigen gebracht hat und erzählt, dass „auch im Weserstadion
einige [rechte Skinheads] den Ausgang gezeigt bekommen“. Seiner Ansicht nach
ist das Verschwinden rechter Parolen in deutschen Stadien auch ein Verdienst der
verschiedenen Ultragruppierungen: „Urwaldgeräusche und so hörst du hier nicht
mehr (...) da achten eigentlich fast alle [Ultragruppen] drauf dass das nicht mehr
vorkommt.“ Allerdings: „Einige meinen dann sie müssten`s übertreiben und
machen dann so einen auf pseudo-links – das nervt.“
Bo hingegen zeigt zum Ende des Interviews noch einmal deutlich auf, dass hinter
der politischen Attitüde seiner Gruppe deutlich mehr steckt, als eine bloße Form
der
Darstellung
aus
Imagegründen:
„Gerade
um
diesen
Bogen
zur
gesellschaftlichen Entwicklung noch mal zu spannen – wenn ich mir jetzt diese
Gesellschaft ankucke – dieses individualistische – kuck mal jetzt Hartz IV an –
das ist der größte Einschnitt in soziale Belange (...) seit Gründung der
Bundesrepublik – und was passiert? (...) diese Gesellschaft ist einfach so satt und
so zufrieden – da bin ich froh dass man vielleicht über Fankurve über Ultra noch
was anbieten kann was ankommt gegen Gamecube und mit der teuren Jacke
rumprollen oder Saufen – und wenn ich dann sehe dass acht bis vierzehnjährige
(...) was machen für ihre Kurve oder für ihre Gruppe dann find ich das einfach
verdammt toll – und dann denk ich das ist vielleicht der richtige Weg dieser
Entpolitisierung der Gesellschaft dieser Ellbogenmentalität
bisschen was an
Solidarität Zusammenhalt und Engagement entgegenzusetzen weil ich bin mir
auch sicher dass die Leute die da jetzt aktiv werden auch in zehn Jahren noch auf
Demos gehen werden – und wenn nur einer von den hundert irgendwann wirklich
mal politisch aktiv wird - dann hat sich diese ganze Politisierung gelohnt.“
58
Zukunftsaussichten
Beide Interviewpartner sehen das Bestehen einiger deutscher Ultragruppierungen
bis zur WM 2006 durch die starke Repression und das unkluge Verhalten dieser
Gruppen gefährdet. Für die Zukunft der eigenen Gruppen setzen beide
grundsätzlich auf eine Expansion, um bessere und größere Aktionen durchführen
zu können. Allerdings meinen Bo und Orhan unisono, dass das Anwachsen der
Gruppen im überschaubaren Rahmen bleiben müsse, da man ansonsten viele
Mitläufer anziehen würde. Außerdem liefe man Gefahr, dass der interne
Zusammenhalt leidet.
Für Orhan ist es wichtig, dass die Eastside „sich weiterentwickelt“ und
„gefestigter“ wird. Für ihn ist es ein Ziel, mit der Gruppe etwas zu schaffen, das
Generationen von Fußballfans überdauern kann: „Das wir auch in vielen Jahren
immer noch bestehen werden – vielleicht wenn unsereins schon auf der Tribüne
sitzt dass da immer noch `n großer Kern in der Kurve stehen wird der halt mit der
Fahne da noch steht“ Um dieses zu erreichen, müssten jedoch viele Fans, für die
der Fußball bislang lediglich ein „Wochenendvergnügen“ wie „Skaten oder
HipHop“ darstellt, überzeugt werden, dass man mehr investieren muss. Dann, so
glaubt Orhan, könne sich „wirklich so `ne richtige Jugendkultur daraus entwickeln
wie es halt in Italien und teilweise anderswo halt auch ist – dass das ganze da so
`ne richtige eigene Kultur ist.“ Er glaubt, dass das „Potential an Aktiven da
draußen“ durchaus vorhanden sei. Würde es gelingen dieses zu aktivieren, wäre es
kein Problem „locker auf 500 Mitglieder zu kommen.“
Auch Bo sieht die Bewegung generell auf dem Vormarsch und derzeit an dem
entscheidenden Punkt, „wo aus diesem Spaßguerillading – wir sind jetzt Ultras“
etwas Ernstzunehmendes „mit ganz viel an Infrastruktur entstanden ist“. Und so
glaubt er, „wenn man sich das bewahrt und `n bisschen taktisch vorgeht (...) und
sich in den nächsten zehn Jahren weiterentwickeln wird (...) wird das viele gute
Kurven geben (...) die so wie in Italien oder Frankreich sind die man auch nicht
mehr so einfach kaputt macht.“ Und so teilt Bo Orhans Hoffnung, dass „Ultra auf
jeden Fall was [sein kann] was die Fankultur in Deutschland beherrschen wird.“
59
5. Schlussbetrachtungen
5.1 Auslöser für die Entstehung einer neuen Fankultur
Die Interviews haben gezeigt, dass die Gründe für die Entstehung der Szene
vielschichtig sind. Hauptsächlich bekräftigen beide Interviewpartner jedoch, dass
das ursprüngliche Anliegen ihrer Gruppen die Verbesserung der Atmosphäre im
Stadion war. Orhan sieht die Ursache für den bis zur Gründung seiner Gruppe
stetig
zu
verzeichnenden
Stimmungsverfall
eindeutig
im
Wandel
der
Zuschauerstruktur begründet. Er bestätigt damit nicht nur die Beobachtungen des
Kicker Sportmagazins (s. 2.2.1), sondern auch die Einschätzung des
Marktforschers Hartmut Zastrow, der von einer „Entproletarisierung“ des
Fußballs spricht (vgl. Zastrow, 2005).
Die Fanszenen lagen nach Einschätzung der beiden Interviewpartner gegen Ende
der neunziger Jahre brach und bedurften einer Wiederbelebung durch neue
Elemente. Für Orhan waren die Bilder italienischer Gruppen hinsichtlich der
Unterstützung der Mannschaft vorbildhaft. Er bestätigt in dieser Hinsicht Gabriels
Einschätzung, dass „ohne die Übertragungen der privaten Sportsender aus Italien
(...) die deutschen Ultras wahrlich nicht denkbar“ seien (Gabriel, 2004: 183). Um
die Stimmung in den Stadien wieder zu verbessern, erachteten beide ein Mehr an
Engagement im Stadion als notwendig. Für sie sollte Fußball mehr sein, als nur
im Stadion zu stehen und „zu saufen“. Orhan spricht darüber hinaus von der
Erkenntnis „nicht länger nur ein Konsument sein“ zu wollen. Mit dieser Reaktion
auf die immer weitreichendere Kommerzialisierung des Fußballs bestätigt er auch
Ehlers These: „Wo bleibt da die Lust, wo die Leidenschaft, fragen zu recht viele
Fans. Vor allem die jüngeren schließen sich Ultra-Bewegungen an“ (Ehlers, 2004:
51).
Die neuen Gruppen wollten vor allem den akustischen, aber auch den optischen
Support ihrer Teams organisieren, wobei auch die anderen Zuschauer in der
Kurve zum Mitmachen motiviert werden sollten.
Die Gründung der neuen Gruppen schien notwendig zu sein, um die Strukturen
der damaligen Fanszene aufzubrechen. So sind die Ultragruppierungen keine
offiziell eingetragenen Fanclubs im herkömmlichen Sinne, da diese meistens
60
relativ geschlossene Einheiten bildeten, wie Bo berichtet. Durch die neue offene
Struktur der Gruppen waren diese sehr viel attraktiver für potentielle neue (vor
allem auch wieder jüngere) Mitglieder, was ein schnelles Anwachsen der Gruppen
begünstigte und somit für „frisches Blut“ und neue Ideen für die Fanszene sorgte.
Beide Interviewpartner sprechen von der Fankurve als „Freiraum“, den man sich
erhalten will. Somit sollen die Ultragruppierungen ein Beitrag zum Erhalt einer
lebendigen Fankultur sein.
5.2 Die neuen Facetten der Ultrabewegung
Die
Interviews
zeigen,
dass
die
Unterschiede
zwischen
Ultras
und
„herkömmlichen“ Fußballfans prägnant und mannigfaltig sind. So ist z.B. nicht
nur die Art des optischen und teilweise auch des akustischen Supports („neue
Gesänge, längere Gesänge...“) während des Spiels neu, sondern auch der
Anspruch, den die Ultras in dieser Hinsicht an sich selber stellen. Durch diese
Herangehensweise ist eine neuartige Form der Konkurrenzsituation mit
gegnerischen Gruppen entstanden, mit denen man sich nun gegenseitig im
Wettbewerb um die Frage „Wer hat die beste Kurve?“ sieht. Um auf diesem
Terrain das Beste zu geben wird von allen Mitgliedern der neuen Gruppen großer
Einsatz verlangt. Ein übermäßiger Alkoholkonsum, wie er in der Vergangenheit
oft im Zusammenhang mit Besuchern der Fankurve in Verbindung gebracht
wurde, ist dabei eher hinderlich. Und so äußern sich auch beide Interviewpartner
relativ verständnislos zu übermäßig alkoholisierten Fans im Stadion.
Überhaupt kann man festhalten, dass die „Ultramanie“ (Falk, 2004: 98) ein
Vielfaches mehr an zeitlichem und finanziellem Engagement beansprucht, als das
beim Gros der bisherigen Anhängerschaften der Fall war - obwohl es sicherlich
bei fast jedem Club ein paar Gruppen von „Allesfahrern“ gibt, die kein Spiel
verpassen. Allerdings hat es in der Vorultrazeit mit Sicherheit niemals so große
Gruppen gegeben, die ihrer Mannschaft regelmäßig überallhin folgen und darüber
hinaus auch unter der Woche soviel Zeit in ihre Leidenschaft investieren.
Trotzdem ist die Sicht auf
Verein und Mannschaft eine deutlich kritischere
geworden. Wurden die eigenen Spieler in der Vergangenheit von den Fans noch
heroisiert (vgl. Brändle/Koller, 2002), so bestätigen beide Interviewpartner, dass
61
die Kicker von ihren Gruppen heutzutage keinesfalls mehr als Idole
wahrgenommen werden. Beide sind sich einig, dass der Grund hierfür in der
„Söldnermentalität“ der Spieler liegt, die sich bei der Wahl ihres Vereines in
erster Linie nach finanziellen Interessen entscheiden. Dies verhindert eine
wirkliche Identifikation mit dem Club und den Fans.
Auch die Politik der Vereine wird kritisch hinterfragt. Sehr deutlich wird dieses
am Beispiel Orhans, der erzählt, dass einige Gruppenmitglieder ein Transparent
gegen die Verpflichtung des deutschen Nationalspielers Klose angefertigt hatten.
Hier war sicherlich nicht die angezweifelte sportliche Leistungsfähigkeit des
potentiellen Neuzugangs ausschlaggebend für die Ablehnung, sondern die
Befürchtung der Fans, dieser Transfer könnte aufgrund seines für Werder Bremen
ungewöhnlich großen finanziellen Volumens das Ende der bis dahin als
verhältnismäßig bescheiden geltenden Vereinspolitik markieren.
Auch Bo hadert mit der Politik seines Clubs. Er fühlt sich von seinem Verein
ausgenutzt, da dieser die von seiner Gruppe erzeugte Stimmung so aggressiv
vermarktet.
Rein äußerlich lässt sich diese kritische Distanz schon an der Tatsache erkennen,
dass die meisten Mitglieder von Ultragruppen das Tragen von offiziellem
Vereinsmerchandise ablehnen (vgl. Bremer, 2003: 94). Diese Entwicklung, die
ich hier nur auszugsweise darstellen kann, führt laut Ehlers dazu, dass die
„Fangruppen inzwischen identitätsstiftender sind, als die Liebe zum Verein“
(Ehlers, 2004: 51).
Die Erkenntnisse zeigen, dass sich die Ultras in Heitmeyers und Peters Modell
einer Kategorisierung von Fußballfans (vgl. 1.2.1) nicht mehr so eindeutig
einordnen lassen. Zwar passen sie in den meisten Punkten noch in das Schema des
„fußballzentrierten Fans“, doch scheint die Wichtigkeit der sportlichen Erfolge
des Teams eher in den Hintergrund zu rücken. Die neunzig Minuten sind nicht
mehr alles. Ebenso wichtig scheint die eigene Szene und das Gruppenerlebnis zu
sein. Diese Sichtweise entspringt meiner Ansicht nach zum einen aus dem
Umstand, dass die personelle Fluktuation in modernen Fußballvereinen (Spieler,
Trainer, Vorstand) deutlich höher ist als in den Fanszenen. Zum anderen sind es
auch eben diese Fans, die versuchen, die letzten traditionellen Werte
aufrechtzuerhalten. Auf dieser Grundlage scheint sich das Credo „der Verein, das
sind wir!“ durchgesetzt zu haben.
62
5.3 Das Gefahrenpotential der Ultrabewegung
Aus den bisherigen Erkenntnissen ging hervor, dass die Ultrabewegung von
Seiten der Sicherheitsbehörden und weiten Teilen der Presse in erster Linie als
potentielle Gefahr wahrgenommen und dargestellt wird.
Die Interviewpartner erzählen unisono, dass ihre Gruppen keine gewalttätigen
Auseinandersetzungen suchen. Trotzdem bestätigen beide, dass diese innerhalb
der Ultraszene durchaus vorkommen. Sie sehen diesen Umstand aber nicht als
Gefahr an. Bo ist der Meinung, dass es bedingt durch die große Identifikation mit
dem Verein und dadurch, dass „man als geschlossener Mob auftritt“, durchaus zu
Auseinandersetzungen kommen kann, dieses ist jedoch nicht als neues Phänomen
der Ultrabewegung zu bewerten. Orhan stellt zwar eine Tendenz der Szene in
Richtung steigender Gewaltbereitschaft fest, doch ist er auch der Ansicht, dass es
nur Einzelne sind, „die sich als Freizeitchaoten“ versuchen.
Dass die Szene trotzdem als gefährlich dargestellt wird, mag seine Ursache in den
Interessen der jeweiligen Beobachter haben. Die Vereine z.B. könnten die neue
Bewegung als Bedrohung wahrnehmen, da diese in bisher nicht gekannter Form
an ihnen Kritik üben. Die Presse berichtet, wie oben bereits beschrieben, gerne
über randalierende, gefährliche Fußballfans, da diese sich als Thema hervorragend
verkaufen
lassen.
Und
die
Polizei
letztendlich
hat
zu
Zeiten
der
Hooliganproblematik einen Apparat geschaffen, der natürlich nach dem
Verschwinden des Problems weiter aufrecht erhalten werden will wie auch Bo
vermutet.
Pelzer belegt unter Rückgriff auf den „labeling approach“, dass Fußballfans
weitreichender Stigmatisierung von verschiedner Seite ausgesetzt sind (vgl.
Pelzer, 2004). Mit Hilfe des labeling approach (Keckeisen, 1976) und
insbesondere der Theorie der Konstruktion sozialer Probleme (vgl. Schetsche,
1996; Lamnek, 1994) kann aufgezeigt werden, dass Zuschreibungen an eine
Gruppe sowie gesellschaftliche Reaktionen, die daraus folgen, die Gruppe
etikettieren, bewerten und möglicher Weise auch stigmatisieren. Wenn die
Gruppe im Laufe der Zeit die ihr zugeschriebenen Eigenschaften mehr und mehr
tatsächlich annimmt und sich dementsprechend verhält, kommt es zu quasi
„selbsterfüllenden Prophezeiungen“ (Watzlawick, 1994, 91ff) und ein soziales
Problem ist geschaffen. Die Etikettierung (das label) „gewaltbereite Ultras“, das,
63
wie gezeigt werden konnte, tatsächlich eine Zuschreibung darstellt, kann somit
möglicherweise dazu führen, dass sich ein noch nicht existentes Problem
wahrhaftig konstruiert und dies kann meines Erachtens nicht im Sinne der
Gesellschaft sein.
Reith von den Ultras Frankfurt sieht auch in den äußeren Umständen, denen die
Gruppen ausgesetzt sind ein großes Problem: „Den Fans würden immer mehr
Freiräume genommen, die es früher gegeben habe. So entstünden Konflikte mit
der Ordnungsmacht, die einseitig wahrgenommen würden. «Ultras sind immer die
Buhmänner, die passen für eine saubere WM nicht ins Stadion. Sie leiden unter
Repressionen, die eigentlich für Hooligans bestimmt waren»“ (Fritschi, 2004).
Oft wird von gewalttätigen Ultragruppen als eine Gefahr im Hinblick auf die in
Deutschland stattfindende WM 2006 ausgegangen (vgl. z.B. Kröner, 2005). Diese
Annahme ist aus meiner Sicht überhaupt nicht nachvollziehbar. So zeigten beide
Interviewpartner keinerlei Interesse, mit ihren Gruppen während dieser
Veranstaltung in Erscheinung zu treten. Das dieses nahe in der gesamten Szene so
gesehen wird bestätigt Grau, von den Ultras Nürnberg: „Ich erwarte keine
Stimmung, insbesondere nicht von den Deutschen. Wenn man mal von Szenen
wie München, Schalke oder Hamburg absieht, interessiert die Nationalelf ja auch
die wenigsten“ (vgl. Stadionwelt Nr.3: 16).
5.4 Über das Politische im „Unpolitischen“
Wie bereits erwähnt, spricht sich der allergrößte Teil der deutschen Ultraszene
vehement gegen das Einbringen politischer Inhalte im Stadion aus. Was auf den
ersten Blick nachvollziehbar erscheint (diverse Jugendkulturen sind im Prinzip
unpolitisch), wirft auf den zweiten Blick die Frage auf, warum dann dieser
Umstand immer so krampfhaft betont werden muss.
Die Abgrenzung zum italienischen Vorbild spielt hier meiner Ansicht nach keine
Rolle. Allerdings weiß jeder Mensch, der ab und zu mit offenen Augen und Ohren
ein Fußballstadion betritt, dass Rassismus, Sexismus, Antisemitismus und diverse
andere Formen der Diskriminierung hier durchaus noch an der Tagesordnung
sind. Eventuell versuchen sich einige Gruppen, welche die Losung „Keine Politik
im Stadion“ vertreten, der Verantwortung des Einschreitens gegen solche
64
Umtriebe zu entziehen. Vielleicht ist auch einfach die Ablehnung linker
politischer Ideen bei vielen Ultragruppierungen, genauso wie in weiten Teilen der
Gesellschaft, noch zu stark manifestiert. Denn eines scheint mir im Laufe dieser
Arbeit klar geworden zu sein: Obwohl sie es immer wieder abstreitet - Die
Ultrabewegung
ist
hochgradig
politisch.
Und
ihre
Themen
-
gegen
Kommerzialisierung (im Bezug auf Fußball wird das kapitalistische System quasi
komplett abgelehnt), gegen die Einschränkung persönlicher Freiheiten, für mehr
Freiräume, für mehr Solidarität -, sind klassische Felder der Linken. Auch die
Annahme Orhans, die Ultraszene sei mit dafür verantwortlich, dass rassistische
Pöbeleien von den Rängen in den letzten Jahren stark zurückgegangen sind, lässt
nicht darauf schließen, dass es sich um eine gänzlich unpolitische Bewegung
handelt.
Letztendlich jedoch muss jede einzelne Gruppe selber entscheiden, wie sie sich zu
diesem Thema verhält, denn, wie auch Bo bestätigt: „In erster Linie sind wir
Fußballfans.“ Und als solche sind sie sicherlich nicht für revolutionäre
gesellschaftliche Umwälzungen zuständig.
65
Schluss
Eine neue Jugendkultur ist entstanden. In erstaunlich kurzer Zeit hat sie sich in der
gesamten Republik ausgebreitet. Allerdings: „Wer glaubt, mit den Ultras hätte die
Spaßgesellschaft ein zweites Mal Einzug in die deutschen Fußballstadien
gehalten, der sieht sich getäuscht“ analysiert Bremer die Situation treffend
(Bremer, 2003: 93). Obwohl sie in den Stadien feiern, singen und eine tolle
Stimmung erzeugen, sind die Ultras viel mehr als eine Partyszene: Sie sind
Fußballfans und zugleich eine neue Protestbewegung. Und als solche, bläst ihr aus
verschiedenen Richtungen ein starker Wind entgegen.
Gewiss, die Ultraszene ist mit Sicherheit nicht unproblematisch. Doch alles in
allem muss man ihr bescheinigen, dass sie es geschafft hat eine positivere
Fankultur in den Kurven zu etablieren. Ich finde es äußerst begrüßenswert, dass es
eine neue Jugendkultur solchen Ausmaßes gibt, welche selbstverantwortlich ihre
Freiräume erhalten und nutzen möchte und die darüber hinaus keine Angst davor
hat, die bestehenden Verhältnisse kritisch zu hinterfragen.
Meiner Ansicht nach sind diese Werte, die in der Ultraszene dominieren,
durchweg als positiv zu betrachten. Sie sind auch in vielen anderen
gesellschaftlichen Zusammenhängen von großer Relevanz. Nicht zuletzt deshalb
sollte die Bewegung nicht diskreditiert und in ihrer Entwicklung behindert
werden. Sie verdient vielmehr eine größere Aufmerksamkeit und Förderung. Ich
hoffe, diese Arbeit konnte einen kleinen Beitrag dazu leisten. Weitere
Forschungen sind meines Erachtens jedoch sehr wünschenswert.
Abschließend möchte ich mich meinen beiden Interviewpartnern anschließen,
welche die Szene insgesamt auf einem guten Weg sehen. Wenn alle Seiten
behutsam mit dem neuen Phänomen umgehen, dann steht die Ultrabewegung vor
einer positiven Zukunft.
66
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