Entwicklung der Fankultur in der Bundesrepublik
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Entwicklung der Fankultur in der Bundesrepublik
i Universität Bremen Fachbereich 09/ Studiengang Kulturwissenschaft Magisterarbeit „Solidarität, Zusammenhalt und Engagement“ – Die Ultrabewegung in Deutschland Eine explorative Interviewstudie zu einer neuen Fußballfankultur Vorgelegt von: Sven Langner Matrikelnr.: 1219828 1. Gutachterin: PD Dr. Dorle Dracklé 2. Gutachter: Dr. Frank Nolte Bremen, den 14.7.2005 ii Inhaltsverzeichnis Einleitung.............................................................................................................S.1 1. Fußballfans......................................................................................................S.4 1.1 Entwicklung der Fankultur in der Bundesrepublik.........................................S.4 1.2 Gängige Kategorisierungen von Fußballfans..................................................S.6 1.2.1 Ausdifferenzierung der Fanszenerie nach Heitmeyer und Peter.................S.6 1.2.2 Ausdifferenzierung der Fanszenerie durch Ordnungsinstanzen..................S.7 2. Ultras................................................................................................................S.8 2.1 Die italienische Ultrabewegung......................................................................S.8 2.2 Die deutsche Ultrabewegung........................................................................S.11 2.2.1 Selbstdarstellung und Auftreten.................................................................S.11 2.2.2 Öffentliche Wahrnehmung.........................................................................S.13 2.2.3 Die Sicht der Vereine.................................................................................S.15 2.2.4 Polizeiliche Wahrnehmung........................................................................S.15 3. Entwicklungen im modernen Fußball contra Faninteressen....................S.17 3.1 Fortschreitende Kommerzialisierung............................................................S.17 3.1.1 Der Einfluss des Fernsehens......................................................................S.17 3.1.2 Die „Eventisierung“ des Fußballs.............................................................S.18 3.1.3 „Versitzplatzung“ der Stadien...................................................................S.19 3.1.4 Ausverkauf von Tradition..........................................................................S.20 3.2 Einschränkungen durch „Sicherheitsaspekte“..............................................S.21 3.2.1 Fantrennung...............................................................................................S.21 3.2.2 Das Vorgehen der Polizei..........................................................................S.22 3.2.3 Überwachung.............................................................................................S.23 3.2.4 Stadionverbote............................................................................................S.24 iii 4. Die Interviews mit zwei Mitgliedern von Ultragruppen...........................S.26 4.1 Die Methodik................................................................................................S.26 4.2 Auswahl der Interviewpartner.......................................................................S.27 4.3 Die Interviewpartner.....................................................................................S.27 4.3.1 Das Interview mit Orhan (29), Eastside Bremen `97................................S.27 4.3.1 Das Interview mit Bo (23), Ultra` Sankt Pauli..........................................S.28 4.4 Gegenüberstellung der Aussagen unter ausgewählten Themenkategorien...S.28 4.4.1 Die untersuchten Ultragruppierungen.......................................................S.28 4.4.2 Das Wirken der Gruppen...........................................................................S.32 4.4.3 Beziehungen zu anderen Fangruppen........................................................S.35 4.4.4 Problemschwerpunkte und Ideologien der Gruppen.................................S.43 5. Schlussbetrachtungen...................................................................................S.59 5.1 Auslöser für die Entstehung einer neuen Fankultur......................................S.59 5.2 Die neuen Facetten der Ultrabewegung........................................................S.60 5.3 Das Gefahrenpotential der Ultrabewegung...................................................S.62 5.4 Über das Politische im „Unpolitischen“...................................................... S.63 Schluss................................................................................................................S.65 Literaturliste......................................................................................................S.66 1 Einleitung Sie nennen sich „Commando Cannstadt“, „Filmstadt Inferno“, „Phönix Sons“ oder einfach „Ultras Frankfurt“. In jedem Stadion des deutschen Profifußballs und immer mehr auch in den unteren Ligen bereichern sog. Ultragruppierungen1 mit farbenfrohen Kurvenshows und lauten Gesängen die Fanblöcke. Entstanden die ersten Gruppen Mitte der neunziger Jahre, so sind sie mittlerweile ein fester, vielerorts gar der einflussreichste, Bestandteil aller relevanten deutschen Fanszenen. Vorbildhaft für diese neuen Fangruppen scheint die italienische Ultrabewegung zu sein, deren Ursprung sich bereits in den späten Sechziger Jahren ausmachen lässt. Obwohl die dortige Szene einem stetigen Wandel unterlag, stellt sie bis heute die größte und einflussreichste Fanbewegung im italienischen Fußball dar. Allerdings gilt die Bewegung in Italien aufgrund ihres Gewaltpotentials und einer extremen Politisierung als äußerst gefährlich und problematisch. Die deutsche Ultra-Szene orientiert sich rein äußerlich stark an ihrem italienischen Vorbild. Zwar spricht sich der Großteil der hiesigen Bewegung gegen die Anwendung von Gewalt sowie gegen das Hereintragen von politischen Themen ins Stadion aus, trotzdem haben die Gruppen mit geringer Akzeptanz bei Vereinen und Publikum sowie starker Repression durch Polizei und Ordnungsdienste zu kämpfen. Mit verantwortlich für den Umstand, dass die Ultragruppen oftmals mit Gewalt und Hooliganismus in Verbindung gebracht werden, könnte meines Erachtens nach die weitgehende Unerforschtheit dieser Szene sein. Außer einigen Aufsätzen und Zeitungsartikeln existiert meines Wissens nach keine eigenständige Literatur zum Thema. Da ich selber regelmäßig Fußballspiele im Stadion besuche, lag es für mich nahe eine eigenständige Forschung in diesem Bereich zu betreiben. Als Vorbereitung auf das Thema habe ich an drei Podiumsdiskussionen teilgenommen. Die erste wurde vom Bündnis Aktiver Fußballfans veranstaltet und stand unter dem Motto „Football with(out) politics: BAFF2 und Ultras diskutieren“. Die zweite wurde von den „Ultra` Sankt Pauli“ organisiert. Das Thema dieser Veranstaltung lautete „Ultras beim FC St.Pauli – Geschichte, 1 Der Begriff „Ultras“ wird in verschiedenen Publikationen mit der Bezeichnung „Extremfans“ übersetzt. 2 „Bündnis aktiver Fußballfans“ 2 Anspruch, Gegenwart“. Die letzte Podiumsdiskussion zur Problematik „Stadionverbote – was tun?“ fand auf Initiative mehrerer beim FC St. Pauli beheimateter Fangruppen statt. Außerdem habe ich innerhalb der Szenen, der von mir untersuchten Gruppen teilnehmende Beobachtungen durchgeführt, die ich aufgrund des begrenzten Rahmens dieser Arbeit allerdings nicht darstellen kann, die mir jedoch hinsichtlich der von mir gewählten Forschungsmethode eine große Hilfe waren. Als Methode schien mir das offene leitfadengestützte Interview sinnvoll, da es mir aufgrund der relativ offensichtlichen Heterogenität der Szene nicht um die Erhebung „harter Fakten“ ging, sondern eher um das Erkennen von Stimmungen, Tendenzen, Entwicklungen und Problemlagen innerhalb dieser neuen Fanbewegung. Ich möchte in der vorliegenden Arbeit beleuchten, wo die Ursachen für die Entstehung dieser neuen Jugendkultur liegen und in wie fern sie sich von der herkömmlichen Fußballfankultur unterscheidet. Wofür stehen die Gruppen, wie inszenieren sie sich, welche Philosophie steckt hinter dem „Ultra-Sein“? Was sind die zentralen Themen und Forderungen der Ultras, wo sehen sie Probleme? Und vor allem: Geht von ihnen tatsächlich eine Gefahr aus? Die vorliegende Arbeit ist in fünf Teilbereiche gegliedert. Im ersten Abschnitt möchte ich einen kurzen Überblick über die deutsche Fanszene bis zur Gründung der Ultragruppierungen geben, da sich natürlich einige ihre Wurzeln in den schon vorhandenen Strukturen finden. Im zweiten Teil soll es um die Ultrabewegung an sich gehen. Hier stelle ich zuerst die italienische Ultraszene vor, da diese in gewisser Hinsicht Vorbildcharakter für ihr deutsches Pendant besitzt. Danach gehe ich näher auf die deutsche Szene ein, wobei die Schwerpunkte auf deren Selbstdarstellung und der Wahrnehmung der Gruppen durch Dritte liegen soll. Im anschließenden Abschnitt der Arbeit stelle ich jene aktuellen Entwicklungen im modernen Fußball dar, welche nach Meinung der Ultraszene konträr zu den Interessen der Fans verlaufen. Der vierte Teil befasst sich ausführlich mit den Interviews mit den Vertretern der beiden untersuchten Gruppen. Nachdem ich dort kurz auf die Methodik und die Interviewpartner eingehe, stelle ich ausführlich deren Aussagen zu von mir gewählten Themenschwerpunkten dar. Im abschließenden Abschnitt werde ich versuchen, aus den vorher gewonnen 3 Erkenntnissen und den Ergebnissen der Interviews Schlüsse in Bezug auf die Fragestellung zu ziehen. Ich verwende in dieser Arbeit ausschließlich die männliche Form. Dies soll weder diskriminierend sein, noch bedeuten, dass es keine Frauen in der Fußballfanszene gibt. Es dient ausschließlich der besseren Lesbarkeit. Abschließend möchte ich mich noch bei meinen beiden Interviewpartnern Orhan und Bo3 bedanken, ohne die diese Untersuchung nicht möglich gewesen wäre. Ebenso geht ein Dank an Thomas Hafke vom Bremer Fanprojekt, der mir bei der Auswahl meines ersten Interviewpartners geholfen hat und mir bezüglich der Methodik einige hilfreiche Tipps geben konnte. 3 Name geändert 4 1. Fußballfans 1.1 Entwicklung der Fankultur in der Bundesrepublik Als der Braunschweiger Lehrer Konrad Koch 1874 das Fußballspiel in Deutschland einführte, handelte es sich hierbei zunächst um ein Schulspiel, welches einzig von wenigen privilegierten Gymnasiasten betrieben wurde. Es dauerte jedoch nicht lange bis sich das Spiel auch unter Jugendlichen auf der Straße durchsetzte, wo fortan noch arg wilde aber emotional geführte Matches ausgetragen wurden. Es war der TSV Eintracht Braunschweig, der zwanzig Jahre nach der Einführung des Fußballs in Deutschland als erster Fußballverein auch Erwachsenen das Spielen ermöglichte. Zum Leben wurde der Fußball jedoch erst erweckt, als um die Jahrhundertwende auch die Arbeiter diesen Sport für sich entdeckten, worauf die Fußballvereine wie Pilze aus dem Boden schossen (vgl. Becker/Pilz, 1988: 16). Parallel dazu entwickelte sich nicht nur auf dem Spielfeld sondern auch bei den Zuschauern rund um die Sportplätze eine nicht geahnte Begeisterung: 1931 bspw. säumten über 70.000 Menschen beim Freundschaftsspiel zwischen Schalke 04 und Fortuna Düsseldorf nicht nur die Ränge, sondern standen teilweise direkt am Spielfeldrand und saßen sogar auf den Toren. Laut Pilz und Becker, steckte hinter dieser Begeisterung damals „die eindeutige soziale Zuordnung der Vereine (Arbeiter- gegen Bonzenvereine) und vor allem die lebensgeschichtliche Verbundenheit mit dem Verein“ (ebd.: 18ff). So waren die Fußballspiele jener Zeit regelrechte „Klassenkämpfe“(ebd.). Eine eigenständige jugendliche Fankultur bildete sich erst mit der Gründung der Bundesliga im Jahre 1963 heraus. Nach dem die Stadien anlässlich der WM `74 einschneidende bauliche Veränderungen erfahren hatten, fanden die jungen Anhänger ihren Platz in der Folge in den Kurvenbereichen, wo sie sich auch bis heute noch verorten (Giesenbauer, 2000: 118). In dieser Phase begannen die Fans nach britischem Vorbild durch rhythmisches Klatschen und das Absingen eigener Lieder ihr Team zu unterstützen. Auch optisch identifizierte man sich nun mit seinem Club: Zum obligatorischen Schal in den Vereinsfarben kamen nun Fahnen und die sog. Kutte, eine Jeansweste, welche von den jungen Fans mit Fußballaufnähern dekoriert wurde (ebd.). Organisiert waren diese sog. Kuttenfans, 5 welche bis in die Mitte der 90er Jahre die Meinungsführer in den Kurven bleiben sollten, hauptsächlich in Fanclubs. Als Gegengewicht zu den absolut fußballzentrierten „Kutten“ gruppierten sich in den 80er Jahren bei nahezu jedem Proficlub der Republik die Hooligans, welche den Fußball als Bühne für gewalttätige Auseinandersetzungen nutzten (ebd.: 119). Obwohl nur eine Minderheit innerhalb der Fanszene, erfreuten sich die „Hools“ größtmöglicher Aufmerksamkeit durch Medien und Öffentlichkeit. Heutzutage spielen sie allerdings nach Aussagen diverser Experten nur noch eine sehr kleine bis gar keine Rolle in der deutschen Fanszene. Die Gründe hierfür liegen laut BAFF nicht zuletzt in der Entstehung der deutschen Ultrabewegung gegen Ende der 90er Jahre, welche insgesamt eine „positivere Fankultur“ in den Kurven etabliert hat und gerade auf junge Menschen einen attraktiveren Anziehungspunkt darstellt, „als die doch eher als tumb und überholt angesehenen Hooligans und Kutten“ (BAFF, 2004: 166). So bescheinigt auch Scheidle, dass „sich seit 1998 das Bild der deutschen Fußballfanszene sichtbar gewandelt“ hat: „Neben den bereits existierenden Fangruppen (Hooligans und Fanclubs) prägen seit dem auch in Deutschland verschiedene Ultragruppen die Stimmungslage in den Fankurven zwischen München und Hamburg“ (Scheidle, 2002: 96). Diese neuen Gruppierungen haben sich von der englischen Fanszene als Vorbild abgewendet und orientieren sich zumindest auf den ersten Blick an der südeuropäischen und hier vor allem italienischen Ultraszene. Nicht vergessen werden sollte an dieser Stelle die kritische Fanszene, die sich 1993 mit dem „Bündnis antifaschistischer Fußballfans“ ein Gesicht gab (vgl. Aschenbeck, 1998:169ff). Seinerzeit aus dem Zusammenschluss von Fanclubs und Faninitiativen aus über zehn Städten entstanden, schrieb sich „BAFF“ in erster Linie den Kampf gegen rechtsradikale Umtriebe in den Stadien auf die Fahne, wollte jedoch auch darüber hinaus für die Interessen der Fußballfans eintreten. Um dieses auch nach außen hin zu dokumentieren entschied man sich im Dezember 1995 für eine Umbenennung in „Bündnis aktiver Fußballfans“. BAFF setzte sich ein gegen Rassismus und Diskriminierung, ausufernde Kommerzialisierung sowie für den Erhalt von Stehplätzen in den Stadien und mehr Rechte für die Fans. In der Folge entstanden mehrere neue Initiativen, wie z.B. „Pro 15:30“ oder „Pro-Fans“ die ihrerseits Teile dieser Forderungen 6 übernahmen und in einigen Bereichen recht beachtliche Erfolge verbuchen konnten (vgl. www.pro15:30.de, www.profans.de). 1.2 Gängige Kategorisierungen von Fußballfans 1.2.1 Ausdifferenzierung der Fanszenerie nach Heitmeyer und Peter Wilhelm Heitmeyer und Jörg-Ingo Peter teilten 1988 das Fußballpublikum in drei Kategorien ein, die im wissenschaftlichen Diskurs bis heute ihre Gültigkeit erhalten haben: 1. „Der konsumorientierte Fan“: Dieser hält sich in der Regel nicht in den Fankurven, sondern auf den Tribünen des Stadions auf. Er besucht die Spiele meistens alleine oder in wechselnden Kleingruppen. Der größte Teil seines sozialen Lebens und seines Umfeldes spielt sich nicht im Fußballzusammenhang ab und der Fußball wird von ihm nur als ein Hobby unter vielen betrachtet. Die Leistung der Mannschaft ist für ihn das entscheidende Kriterium für den Stadionbesuch. Stimmt diese nicht, bleibt der konsumorientierte Fan dem Stadion fern. 2. „Der fußballzentrierte Fan“: Auch für ihn spielt die Leistung der Mannschaft eine entscheidende Rolle. Allerdings kann eine schwache Leistung oder gar ein Abstieg ihn nicht davon abhalten, sein Team trotzdem weiter zu unterstützen, er bleibt auch in schlechten Zeiten treu. Das Fußballumfeld hat für ihn eine hohe soziale Anerkennungsrelevanz. Er ist stark gruppenorientiert, oftmals Mitglied eines Fanclubs und besucht die Spiele somit nicht alleine. Im Stadion ist er direkt in der Fankurve anzutreffen. 3. „Der erlebnisorientierte Fan“: Die sportliche Bedeutung des Spiels ist für ihn ambivalent. Es wird mit seinem gesamten „Drumherum“ als Spektakel empfunden. Somit ist der Fußball selbst austauschbar, da eher der Kontakt zu anderen Fans und oftmals auch das Suchen von gewalttätigen Situationen im Vordergrund steht. Das Umfeld hat auch für ihn eine hohe soziale Anerkennungsrelevanz, wobei die Mitgliedschaft in organisierten Fanclubs nicht seine Sache ist. Im Stadion hält sich der erlebnisorientierte Fan in jenen Bereichen auf, „wo etwas los ist“ (vgl. Heitmeyer/Peter, 1988:32). 7 1.2.2 Ausdifferenzierung der Fanszenerie durch Ordnungsinstanzen Auch die Sicherheitsorgane und hier vor allem die Polizei nehmen seit 1991 eine Einteilung der Fans in drei verschiedene Kategorien vor (vgl. LKA NRW, 2003). Diese Kategorisierung erfolgt allerdings lediglich unter dem Aspekt des vermeintlichen Gefahrenpotentials der einzelnen Gruppen: Kategorie A: Der friedliche Fan Kategorie B: Der gewaltbereite/-geneigte Fan Kategorie C: Der gewaltsuchende Fan Dieses Vorgehen der Polizei scheint mir äußerst kritikwürdig zu sein. Durch diese Einteilung werden einzelne Personen sowie ganze Gruppen im Vorfeld stigmatisiert und in der Folge einer besonderen Beobachtung und Behandlung ausgesetzt. 8 2. Ultras 2.1 Die italienische Ultrabewegung Im Folgenden möchte ich einen kurzen Überblick über die Entstehung und Entwicklung der Ultraszene in ihrem Ursprungsland geben. Die Wurzeln der Ultras finden sich im Italien der späten sechziger Jahre in den linksgerichteten Stundentenprotesten, sowie im „heißen Herbst“ der Arbeiterbewegung 1969. Fasziniert durch diese Phänomene beschlossen jugendliche Fußballfans die Kurven der Stadien zu nutzen, um ihre ablehnende Haltung gegen die fortschreitende soziale Ungerechtigkeit im Land darzustellen (vgl. Scheidle, 2002: 90ff). Die erste organisierte Ultragruppierung waren die 1968 gegründeten „Fossa dei leoni“ (Löwengrube) vom AC Mailand (vgl. Balestri/Podaliri, 1994). In der Folge entstanden zunächst verstärkt in Norditalien, aber bald darauf überall im ganzen Land, ähnliche Gruppen, wobei die Bezeichnung „Ultras“ 1971 zum ersten Mal auf einem Transparent in der Kurve von Sampdoria Genua auftauchte. Diese Bezeichnung wurde bald von der gesamten neu entstandenen Jugendkultur aufgegriffen, um sich so auch sprachlich von den herkömmlichen Fußballfans („Tifosi“) abzugrenzen (vgl. Falk, 2004: 98ff). Der Kern dieser neu entstandenen Gruppen bestand zumeist aus Cliquen Gleichaltriger (in der Regel zwischen 15 und 20 Jahren), die aus dem gleichen Stadtteil stammten oder die selbe Schule besuchten. Für Falk bestand die Faszination dieser Gruppen vor allem in ihrer extremen politischen Einstellung, in der Kameradschaft, im Zusammenhalt sowie in der Auflehnung gegen die traditionellen Autoritäten. Aufgrund dieser Faszination übten die Gruppen auf Jugendliche eine magische Anziehungskraft aus und wuchsen derartig schnell, dass die traditionellen Fanclubs bald aus den Kurvenbereichen der Stadien verdrängt wurden. Die Ultras „markierten“ ihr „Territorium“ mit Zaunfahnen und Transparenten, welche den Gruppennamen oder das Gruppenbanner zeigten. Wichtigstes Accessoir der einzelnen Mitglieder war der Schal in den Farben des Vereins. Ein sog. „Kapo“ (Anführer) gab mit Hilfe eines Megaphons die Gesänge vor. Im Laufe der Zeit kamen die Verwendung von pyrotechnischen Artikeln und das 9 Organisieren von Kurvenchoreographien als Mittel der Selbstdarstellung, aber auch als Wettbewerbsgegenstand mit anderen Gruppen hinzu. So wurde die lautstarke und farbenprächtige Unterstützung der Mannschaft bald genauso wichtig wie das eigentliche Spiel (ebd.). Die meisten jungen Fußballfans solidarisierten sich zunächst mit den Idealen der sozialistischen Bewegung und des linken Widerstandes. Ihre Affinität zur politischen Protestbewegung stellten die Ultras oftmals schon bei der Wahl ihrer Namen zur Schau: So gab es die „Brigate Rosso Nere“ (Rot-Schwarze Brigaden), die „Fedayn delle Roma“ (bezieht sich auf Guerillagruppe der PLO) oder die Gruppe „il Coletiva Viola“ (in Anlehnung an die 68er-Bewegung). Doch auch der Einsatz von Spruchbändern, Doppelhaltern und Megaphonen im Stadion, zeigte die Nähe der Szene zur damaligen politischen Demonstrationskultur. Zudem hielten Lieder der Arbeiterbewegung sowie des antifaschistischen Widerstandes Einzug in die Fankurven der Stadien (vgl. Falk, 2002: 90ff). Doch schon zu Beginn der siebziger Jahre formierten sich auch Gruppen, die rechtes Gesinnungsgut in die Stadien brachten. Zu nennen wären hier z.B. die „Boys“ von Inter Mailand, welche von der „Fronte della Gioventù“ der Jugendorganisation der neofaschistischen MSI beherrscht wurde, oder die „Eagles“ von Lazio Rom, die den herrschaftlichen Adler des Faschismus als ihr Symbol verwendeten (vgl. Balestri/Podaliri, 1994). Kurze Zeit nach der Etablierung der Ultragruppen entwickelten sich auch die ersten Rivalitäten und Allianzen zwischen den selbigen. Hierfür gab es eine Reihe von Faktoren und Einflüssen. So konnten regionale oder innerstädtische Konflikte, alte Rivalitäten oder Freundschaften aus der „Vor-Ultrazeit“ und letztendlich auch die politische Einstellung der Gruppen für große Sympathien, aber auch erbitterten Hass zwischen den Anhängern sorgen. In Folge dieser starken Rivalitäten kam es zu einem sprunghaften Anstieg der Gewalt innerhalb der Fußballstadien (ebd.). Die Behörden reagierten mit einer massiven Verstärkung der Polizeipräsenz, was jedoch lediglich zu einer Verlagerung der Gewalttätigkeiten auf das Stadionumfeld führte. Die Brutalität der Auseinandersetzungen nahm im Laufe der Jahre ständig zu. Vermehrt wurde nun auch mit Waffen und Leuchtspurmunition gekämpft. Ihren tragischen Höhepunkt erreichte die Gewalt im Jahre 1979, als der Lazio Rom-Fan Vicenzo Papparelli durch Leuchtspurmunition tödlich getroffen wurde (vgl. Scheidle, 2002: 94). 10 Doch auch in den Achtziger Jahren nahmen die Gewalttätigkeiten weiter zu. Seit 1982 sind mittlerweile elf Fans bei Auseinandersetzungen ums Leben gekommen, darunter drei durch massive Übergriffe seitens der Polizei. Parallel dazu war eine Entpolitisierung sowie eine innere Aufspaltung der Szene zu verzeichnen. Scheidle beschreibt zum Ende der 80er Jahre einen fortschreitenden Verlust der Hegemonie in den Kurven. So drohte eine Spaltung der Ultras in folgende Gruppen: „- diejenigen, die sich über eine latente Gewaltbereitschaft definieren, - diejenigen, die sich nach wie vor politisch positionieren, - und diejenigen, die sich ausschließlich als Fans ihrer Mannschaft verstehen und diese durch positive Stimmung im Stadion unterstützen wollen“ (ebd.: 95). Hierzu fügt Scheidle jedoch zwei wesentliche Punkte an: Zum einen ist es bei der Betrachtung der Gewalttätigkeiten äußerst wichtig zu wissen, dass in Italien die Hooligans nicht als eigenständige Gruppen agierten und gesehen wurden, sondern sich selber als Teil der Ultras verstanden. Außerdem sagt Scheidle, dass der größte Teil der italienischen Ultraszene sich weder als gewaltbereit noch als politisch motiviert betrachtet. Hieraus ergibt sich meiner Ansicht nach vor allem hinsichtlich der Gewaltproblematik ein völlig neuer Aspekt: Man begeht einen kapitalen Fehler, wenn im Rahmen der dargestellten Problematik von den Ultras als homogene Masse ausgegangen wird. Viel mehr sollte man die einzelnen Strömungen isoliert voneinander betrachten. Interessant sind auch die Folgen der fortschreitenden Entpolitisierung im Laufe der 80er Jahre, welche als Resultat einer Entpolitisierung der italienischen Gesellschaft zu verstehen ist. Zu jener Zeit erlitt die Linke in Italien schmerzhafte Niederlagen und rückte immer weiter von ihrem radikalen Kurs ab, wodurch sie mehr und mehr an Einfluss verlor. In der Folge fiel es den Menschen immer schwerer sich mit ihrer Politik zu identifizieren: „Zugleich ist die linke Massenkultur in der Bevölkerung weggebrochen; und für viele Jugendliche wurden Parolen wie ´machen wir die Grenzen dicht` populär“ (Balestri, in taz, 1.2.2001). So hatte diese Entwicklung in den Fankurven zur Folge, dass diese sich zwar anfänglich entpolitisierten, damit aber ein perfektes Agitationsfeld für rechte Organisationen und Fangruppen darstellten, welches diese auch geschickt zu nutzen wussten. 11 So kam es, dass sich nach 20 Jahren Ultra in den Kurven ein Generationswechsel vollzogen hatte, in Folge dessen Gruppen mit einer neofaschistischen Ideologie zu den Meinungsführern der italienischen Fanszene aufgestiegen waren. Rassistische Symbole und Sprechchöre waren in den Stadien nun an der Tagesordnung. Gegenwärtig stellt sich die Situation in der italienischen Ultraszene dergestalt dar, dass nur wenige linkspolitisch orientierte Gruppen überlebt haben (bei Vereinen wie Terni, Bergamo, Livorno, Empoli, Ancona). Ein Teil der Szene gibt sich (zumindest offiziell) unpolitisch, doch laut Scheidle hat sich mittlerweile „die profaschistische Politik in den Stadien durchgesetzt“ (Scheidle, 2002: 100). So waren Mitte der neunziger Jahre 40 rechtsradikale Ultragruppen in den Kurven bekannt. Mittlerweile ist zu beobachten, dass die neofaschistische „Forza Nuova“-Partei, welche als Speerspitze des italienischen Rechtsextremismus gilt äußerst erfolgreich mit einigen großen und einflussreichen Ultragruppen zusammenarbeitet. So profitieren beide Seiten von der Zusammenarbeit, denn einige der Gruppierungen sind mittlerweile aufgrund ihrer Mitgliederstärke (teilweise bis zu 15.000), der Umsätze beim Merchandising und nicht zuletzt durch großzügige Unterstützung durch Vereine und Politik selbst zu einem beängstigenden Machtfaktor angewachsen (ebd.: 100ff). Nach Schätzungen gibt es in Italien derzeit ca. 300.000 Ultras. 2.2 Die deutsche Ultrabewegung 2.2.1 Selbstdarstellung und Auftreten Ultragruppierungen nutzen zur Selbstdarstellung viele verschiedene Plattformen, wie z.B. eigene Fanzines oder auch selbstgestaltete Aufkleber, anhand derer sich nach Spieltagen teilweise ganze Reiserouten verschiedener Gruppen nachvollziehen lassen. Am wichtigsten scheint hier aber das Internet zu sein: Fast alle Gruppen haben mittlerweile einen Auftritt im Netz und nutzen diesen, um ihre Aktionen im Stadion zu dokumentieren aber auch um ihre Gruppe und ihr Selbstverständnis zu präsentieren. Gemeinsamkeiten lassen sich hier viele finden. Zum einem ist die zunehmende Kommerzialisierung des Fußballs Thema unter 12 allen Gruppierungen und auch die Repression durch Ordnungskräfte, Polizei und Stadionverbote wird nahezu überall beklagt. Ebenso ist die Frage nach dem Einbringen politischer Themen in den Fußballzusammenhang, obwohl nahezu überall negativ beschieden, noch vielfach ein Diskussionspunkt4. Viele Gruppen berufen sich im Internet auf das „Ultra-Manifest“ aus Italien, welches sich deutlich gegen die Kommerzialisierung im Profifußball wendet, und zusätzlich folgende Regeln aufstellt: „Ultras sollten: 1. Jeden unnötigen Kontakt oder Hilfe durch die Vereine verweigern. 2. Jede Hilfe durch die Polizei verweigern. 3. Untereinander besser zusammenarbeiten. 4. In Eigenorganisation zu Auswärtsspielen reisen. 5. Mit den Ultras anderer Vereine zusammenarbeiten, um die Ware TV-Fußball unattraktiver zu machen. 6. Sich nicht von Autoritäten unterdrücken lassen und an Spielen unbedingt Präsenz zeigen“ (www.asromaultras.it/manifesto.html#german). Die Präsenz im Stadion ist der am leichtesten wahrnehmbare Teil des Auftretens der Gruppen. Hier sind sie in ihrem Element, hier verdichtet sich ihre Präsentation auf das Wesentliche. Auffällig ist, dass die stimmliche Unterstützung der Mannschaft nicht mehr so stark vom Spielverlauf oder Spielstand abhängig zu sein scheint wie das in früheren Jahren der Fall war: „Für die Ultras hat neben dem sportlichen Erfolg der Mannschaft auch ihre eigene Performance immens an Bedeutung gewonnen. Sie sehen sich im Wettstreit mit den anderen UltraGruppen, wer die beste Show hinlegt. Mindestens so oft wie auf das Feld wird jetzt auch zur anderen Stadionseite geschaut und begutachtet, was dort geboten wird“ (Gabriel, 2004: 190). Die Koordinierung des „Supports“5 wird in der Regel von einem „Einpeitscher“ mit Hilfe eines Megaphons geregelt. Der optische Teil der Präsentation im Stadion zeichnet sich vor allem durch organisierte Choreographien zum Einlaufen der Mannschaft aus. Darüber hinaus werden Transparente mit Symbolen oder Botschaften hochgehalten oder als Zaunfahnen an eben jenem befestigt. Auffällig ist, dass sich bei der Wahl der Symbole neben den obligatorischen Gruppenbannern oftmals einer linksliberalen Metaphorik bedient wird (ebd.: 191). So sind die Zeichentrickfiguren der antiautoritären Zeichentrickserien „die Simpsons“ und „South Park“ ebenso beliebte Motive, wie das Konterfei Che Guevaras, ein Hanfblatt oder die Farben des Afrikanischen 4 Die meines Wissens nach einzigen größeren Gruppen, die hierbei Ausnahmen bilden, sind „Ultra` Sankt Pauli“ und „Filmstadtinferno“ aus Babelsberg. 5 Unterstützung der Mannschaft 13 Kontinents. Auch konkrete Botschaften, bspw. an die gegnerischen Fans („Das Feuer im Pott sind wir! Die öden Bonzen, das seid ihr!“), an die eigene Mannschaft („Endspurt“), an den Verein („Kommt P.W., sagen wir adé!“) oder auch die an allgemeine Fußballöffentlichkeit („Gegen den modernen Fußball“)6, werden gerne mittels beschrifteter Tapetenbahnen präsentiert. Diese Transparente sind somit ein sinnvoller Indikator für das aktuelle Meinungs- und Stimmungsbild der Szene. Im Mai 2002 gab es zudem eine Demonstration in Berlin, bei der knapp 3000 Fans verschiedener Vereine, unter ihnen zahlreiche Ultras, auf die Probleme der aktiven Fanszene aufmerksam machen wollten. Auf einem großen Banner stand da zu lesen: „Wir leisten Widerstand gegen die Konsum- und Kommerzmaschinerie der Vereine, Konzerne und Medien und scheißen auf deren Doppelmoral und Scheinheiligkeit – einerseits mit uns Fans werben und uns andererseits schikanieren und kriminalisieren! Wir sind gegen die Kaputtmacher der Fankultur, gegen die Kaputtmacher des Fußballs!“ (vgl. Phönix aus der Asche Nr.9, 2002/03). Allerdings bleibt festzuhalten, dass diese Aktion in den Medien kaum Beachtung fand, vielleicht weil die befürchteten gewalttätigen Auseinandersetzungen ausblieben, wie BAFF vermutet (vgl. Baff, 2004). 2.2.2 Öffentliche Wahrnehmung Obwohl mittlerweile die Kurvenbilder in den Stadien der gesamten Republik maßgeblich prägend, tauchen die Ultragruppierungen im öffentlichen Meinungsbild bis heute nicht auf oder werden fälschlicherweise mit Hooligangruppen gleichgesetzt. Maßgeblich mitbestimmend ist hier meines Erachtens die Berichterstattung seitens der Presse, die nach langer Zeit des Ignorierens des Phänomens reißerisch und unsachlich mit dem Thema umgeht. Als Beispielhaft mag hier ein Artikel namens „Ultra-Fans – Auf den Spuren der Hooligans“ gelten, der am 20.1.2005 bei Spiegel Online zu lesen war: „Der Trend ist eindeutig: Immer mehr Fußballfans sehen ihren Sport durch Kommerzialisierung in Gefahr und laufen zu Ultra-Gruppierungen über. Häufig kommt es dabei zu Konflikten mit Vereinen und Polizei. Vor allem die steigende Gewaltbereitschaft bereitet Sorgen - gerade 6 Alle Beispiele aus: Stadionweltmagazin Nr.3, 2004 14 im Hinblick auf die WM 2006 in Deutschland“ (Kröner, 2005). Diese Vorgehensweise der Medien deckt sich mit der Einschätzung Aschenbecks (Aschenbeck, 1998: 94ff) und der des BAFF, die eine generelle Fokussierung der medialen Berichterstattung über Fußballfans auf Gewalt- und Problemaspekte feststellen: „Für Presse, Funk und Fernsehen existieren Fans nahezu ausschließlich als Randalierer, Säufer und Neonazis – eben als Problemgruppe“ (Baff, 2004: 174). Auch im Fernsehen wird sehr ambivalent mit dem Phänomen umgegangen. Betrachtet man bspw. musikunterlegte Trailer als Werbung für bestimmte Fußballsendungen, sieht man mit hoher Wahrscheinlichkeit Fankurven, die in Rauch gehüllt und von bengalischen Feuern erleuchtet sind. Dieses wird vom Fernsehen als „tolle Atmosphäre“ und „pure Emotion“ verkauft. Wird jedoch während einer Liveübertragung im Fanblock mit Pyrotechnik gearbeitet, bemühen sich die Kommentatoren in aller Regel schnell zu versichern, dieses seien “Radaubrüder, Krawallmacher“ aber „keine Fußballfans“ (Meister, 20004: 71). Allerdings bleibt auch festzustellen, dass die beiden populärsten deutschen Sportzeitschriften in der letzten Zeit versucht haben, sich dem Thema auf differenzierte Weise zu nähern. So warf das „Sportbild Sonderheft Fanreport“ die Frage auf: „Wer sind eigentlich die Ultras?“ Und ließ hierfür den Fanbeauftragten des FC Bayern („früher selbst Extrem-Fan“) zu Wort kommen: „Die wollen mit ausgefallenen Aktionen die Stimmung verbessern (...) ein klein wenig Selbstdarstellung ist sicher auch dabei (...) das sind junge Leute (...) von denen geht keine ernsthafte Bedrohung aus, vielleicht braucht die Polizei noch etwas, um zu realisieren, dass sie oft mit Kanonen auf Spatzen schießt“ (Dresslein, 2004: 25). Und auch das Kicker-Sportmagazin führte ein Interview mit drei Vertretern verschiedener deutscher Ultragruppen, in welchem diese ihr Anliegen und ihre Probleme („Der Kommerz, die Polizeiwillkür, die uns zu schaffen macht, die öffentliche Darstellung“) darlegen konnten (vgl. Lußem, von Nocks, von Imhoff, 2004). Trotzdem sind die Ultras und ihre Fankultur im öffentlichen Meinungsbild noch lange nicht angekommen. Als ich in meinem Bekanntenkreis über das Vorhaben meiner Examensarbeit sprach, konnte ich dieses nachdrücklich feststellen – Man beschied mir, dass es sehr mutig von mir sei, mich „mit diesen Hooligans zum Interview zu treffen“. 15 2.2.3 Die Sicht der Vereine Vielerorts ist eine ambivalente Haltung der Vereine ihren Ultragruppierungen gegenüber zu beobachten. Natürlich sind die Choreographien und die gute Stimmung, welche die Ultras produzieren, grundsätzlich gern gesehen. So hat Bayernmanager Hoeneß z.B. sogar die Choreographie der Münchener Ultras zum Champions-League-Finale 2001 als Bild über seinem Schreibtisch hängen (vgl. Biermann, 2003). Auf der anderen Seite stellen die Gruppierungen aus Sicht der Clubs auch eine Bedrohung dar, da sie sich auf allen Ebenen äußerst kritisch mit dem Verein auseinandersetzen. Vor diesem Hintergrund ist vielleicht das Vorgehen des FC Bayern zu erklären, der im Jahre 2003 versucht hat drei ultraorientierte Fanclubs mit mehreren hundert Mitgliedern aus dem Stadion zu verbannen. Ihnen wurde Beteiligung an Ausschreitungen und Sachbeschädigung vorgeworfen sowie eine rechtsradikale Gesinnung unterstellt (ebd.). Aus diesen Gründen sollten sie keine Dauerkarten mehr erhalten. Die Beschuldigten wiesen die Vorwürfe allerdings zurück. Dem FC Bayern gelang es in der Folge auch nicht Beweise vorzubringen, so dass der Versuch die Gruppen aus dem Stadion zu drängen fehlschlug. Ein weiteres Beispiel ereignete sich kürzlich in Hannover. Dort protestierten Mitglieder einer Ultragruppierung mittels eines Transparents gegen die ausufernde Eröffnungsshow der AWDarena. Nachdem der Ordnungsdienst den Fans androhte, sie aus dem Stadion zu entfernen, wenn das Plakat nicht verschwinden würde, setzten diese ihren Protest vor dem V.I.P.-Bereich des Stadions fort. Kurze Zeit später erschien die Polizei, kesselte die jungen Fans ein und nahm deren Personalien auf. Ein betroffener wirft dem Verein vor: „Unsere Vereinsliebe wird in diesen Momenten jedoch auf eine harte Probe gestellt. In den Augen des Vorstands und der Geschäftsführer ist das höchste Ziel unseres Vereins (oder des Wirtschaftsunternehmens) die Vergrößerung des Kapitals. Doch die soziale Bedeutung des Vereins für die Stadt und vor allem für uns Jugendliche ist den Oberen völlig egal“ (Kößler, 2005). 2.2.4 Polizeiliche Wahrnehmung Im ZIS – Jahresbericht Fußball 2002/03 des LKA NRW wird unter Punkt 3 („Störerlage“) nicht nur die gängige Kategorisierung der Zuschauer (A,B und C; 16 vgl. 1.1.2) bestätigt, sondern auch auf das vermehrte Aufkommen von Ultragruppen eingegangen: „Ergänzend dazu berichten zahlreiche Polizeibehörden über das nunmehr seit vier Spielzeiten festzustellende, vermehrte Auftreten von Angehörigen sog. „Ultra“Gruppierungen in den Anhängerschaften nahezu aller Vereine der Bundesliga wie auch der 2. Bundesliga, die sich nach dem Vorbild vergleichbarer Grupen in Italien zum Ziel gesetzt haben, durch so genannte „choreographische Aktionen“ – insbesondere auch durch das Abbrennen pyrotechnischer Gegenstände – eine „südländische“ Atmosphäre in den Stadien zu erzeugen. Häufig findet das Zünden von Pyrotechnik im Sichtschutz übergroßer, teilweise den ganzen Fanblock überspannenden Fahnen und Transparente statt, wodurch u.a. Videoüberwachungsmaßnahmen der Sicherheitskräfte unterlaufen werden. Durch die entstehende starke Rauchentwicklung kommt es regelmäßig zu erheblichen Belästigungen und Gesundheitsschädigungen, von denen auch eine Vielzahl unbeteiligter Stadionbesucher betroffen ist. Die überwiegende Mehrzahl der zuvor genannten Angehörigen der „Ultra“Gruppierungen ist zwischen 16 und 23 Jahre alt und wird von den berichtenden Polizeibehörden mehrheitlich (noch) in die Kategorie A, aufgrund entsprechender Verhaltensweisen und anlassbezogener Vorkommnisse teilweise mit deutlicher Tendenz in die Kategorie B und vereinzelt bereits in die Kategorie C eingestuft. So wird insbesondere über eine Steigerung der Aggressivität von Angehörigen der „Ultra“-Gruppierungen sowie eine Solidarisierung gegenüber Mitarbeitern der Ordnungsdienste und Einsatzkräften der Polizei berichtet, wenn diese gegenüber Mitgliedern der jeweiligen Gruppe einschreiten. Einzelne Aktionen geschlossener Gruppen aus dem Bereich der „Ultras“ deuten darauf hin, dass bei einigen Mitgliedern klare Tendenzen zu einer Entwicklung hooligantypischer Verhaltensweisen erkennbar sind“ (vgl. LKA NRW, 2003: 2ff). Hierzu ist anzumerken, dass Kenner der Fanszene den Sachverhalt komplett anders einschätzen. Laut Biermann „spielt Hooliganismus, von vereinzelten Ausbrüchen abgesehen, in Deutschland keine Rolle mehr. Trotzdem sind die Sicherheitskonzepte noch immer auf den gewalttätigen Fan der achtziger und frühen neunziger Jahre ausgerichtet“ (Biermann, 2003). Und der Gladbacher Fanbeauftragte Weinmann fordert: „Der ganze Apparat müsste eigentlich abgebaut werden“ (ebd.). 17 3. Entwicklungen im modernen Fußballs contra Faninteressen 3.1 Fortschreitende Kommerzialisierung Der weltweite Profifußball ist im Laufe der letzten Jahre zu einem Milliardengeschäft mutiert. Hiervon blieb natürlich auch der deutsche Fußball nicht verschont. Vor allem der Blick der Verantwortlichen auf den Fußball hat sich geändert. Bayernvorstandsmitglied Rummenigge spricht offen von der „Ware Fußball“, welche „produziert“ wird (vgl. Jünger, 2004: 37) und um diese Ware gewinnbringend zu verkaufen, wurden neue (zahlungskräftigere) Publikumsschichten erschlossen: „Während die Bundesliga verstärkt auf neue Klientel setzt, gerät eine andere in den Hintergrund: Der gute alte Schlachtenbummler (...) Den Klubs ist es gelungen, neues Potential zu interessieren und zu aktivieren.“ (Richter, 2004: 12). Die Leidtragenden dieser Entwicklung sind somit die Fans, wobei ich mich hier auf die nach Heitmeyerscher Definition „fußballzentrierten“ Fans beziehe, welche sich (sofern noch vorhanden) zu größten Teilen in den (billigen) Stehplatzbereichen der Stadien wiederfinden. Es droht hier eindeutig eine Verdrängung der Fankultur (vgl. Kos, 2000: 87ff). Im Folgenden werde ich näher auf die hierfür hauptverantwortlichen Faktoren eingehen. 3.1.1 Der Einfluss des Fernsehens Hauptverantwortlich für die „turbokapitalistische“ (Jünger, 2004: 37) Entwicklung des Profifußballs ist meiner Ansicht nach das Fernsehen, welches riesige Summen in den Fußball pumpt und darüber hinaus die ausufernde Vermarktung des selbigen erst ermöglicht. Musste der FC St. Pauli für die erste Liveübertragung eines Fußballspiels in Deutschland am 26. Dezember 1952 noch Geld an den übertragenden NWDR bezahlen, so machen die TV-Gelder heutzutage den größten Teil der Einnahmen eines Proficlubs aus. Insgesamt erhält die DFL7, welche für die Verteilung dieser Gelder zuständig ist, derzeit ca. 300 Millionen 7 Euro für den Verkauf der Übertragungsrechte „Deutsche Fußball Liga“: Eine selbstständige Abspaltung des DFB. Veranstalter der beiden Bundesligen. (vgl. 18 www.netzeitung.de). Laut Bayernmanager Hoeneß sollte der Erlös in den nächsten Jahren jedoch sogar auf über 500 Millionen Euro ansteigen, was auch DFB8-Präsident Zwanziger für realistisch erachtet (vgl. www.ish.com). Aus diesem Umstand resultiert eine erhebliche Abhängigkeit der Vereine vom Fernsehen. Bereits jetzt machen bei einigen Bundesligisten die Gelder für die Übertragungsrechte schon mehr als die Hälfte des Gesamtumsatzes aus, wodurch die Wichtigkeit der Zuschauereinnahmen für die Vereine immer weiter abnimmt (vgl. Schubert, 2003: 84). Aus diesem Grund wird das Fernsehen von der Liga und den Vereinen hofiert, während die Fans in den Stadien oftmals das Nachsehen haben. So werden nach den Wünschen des Fernsehens bspw. zwei Bundesligapartien am Sonntagabend ausgetragen, eine Zweitligabegegnung findet sogar montagabends statt. Somit wird vor allem den Fans der Gastmannschaften der Besuch dieser Spiele erheblich erschwert. Außerdem wird seit einiger Zeit über die Einführung einer „zusätzlichen Halbzeit“ oder von sog. Auszeiten diskutiert, die auf der einen Seite das Spiel seines ursprünglichen Charakters beraubten, auf der anderen Seite dem Fernsehen jedoch die Schaltung zusätzlicher Werbeblöcke ermöglichen würde (vgl. Aschenbeck, 1998: 32ff). 3.1.2 Die „Eventisierung“ des Fußballs Im Jahr 2000 fand eine Podiumsdiskussion namens „Vom Fan zum Kunden – über die schleichende Verdrängung einer Jugendsubkultur“9 statt, auf der Vertreter diverser Fanprojekte, Fangruppen und der Medien über die durch den Titel der Veranstaltung hinreichend erklärte Problematik debattierten. Ein wesentlicher Teil der Kritik bestand in der zunehmenden „Eventisierung“ des modernen Fußballsports. Die Teilnehmer beklagten, dass die Vereine es offensichtlich für notwendig erachten, die neu gewonnen Publikumsschichten mit einem zusätzlichen Unterhaltungsprogramm zu bedienen. Ein Teilnehmer: „Ich würde das, was momentan passiert als „Emotiotainment“ bezeichnen. Da gibt es dann Einpeitscher, die animieren sollen und über Videoleinwand allen gezeigt werden“ (Kos, 2000: 93). Somit werden die Fans einiger, ursprünglich von ihnen 8 9 Deutscher Fußball Bund Dokumentiert in: Kos, 2000: 87ff 19 übernommenen Aufgaben beraubt, welche dann auch noch zusätzlich mit zahlreichen Werbebotschaften verquickt werden (vgl. Ehlers, 2004). Ein anderer Teilnehmer bekräftigt dieses: „Die Stadionsprecher geben nicht mehr nur Informationen weiter sondern werden zu Animateuren. Auch das ist etwas, was mir fürchterlich stinkt“ (vgl. Kos, 2000: 94). Dass es nicht der Anhang in der Kurve ist, für den diese Show gemacht wird, bestätigt er im Folgenden: „Wenn ich mich auf den Stehplätzen umschaue, wie die Fans reagieren, dann ist das nicht mit Verständnis sondern es ist eine absolute Verärgerung da und oft auch eine Desillusionierung“ (ebd.: 94ff). Den Fans wird mit diesen Erscheinungen außerdem die Möglichkeit genommen, sich wie früher üblich vor dem Spiel „einzusingen“ oder sich Gesangs- oder Sprechchorduelle mit dem gegnerischen Fanblock zu liefern. Als Folge machen viele eine gewisse Apathie aus, die sich in den Kurven breit macht: „Ich finde, dass sich dieser Diebstahl noch auf einer anderen Ebene anspielt, und das ist die Ebene der Inszenierung. Das Fußballspiel an sich wurde zu ganz, ganz großen Teilen nicht nur von den 22 Akteuren auf dem Rasen gestaltet, sondern von denen, die drum herum saßen und ganz viel mit ihrer Mannschaft verbunden haben, die ganz spontane Aktionen gemacht haben, die die Mannschaft unterstützt haben, die die Inszenierung des gesamten Spieltags zu verantworten hatten. Und wenn ich heute im Stadion bin, die Cheerleader auf den Platz kommen, vor meinem Block stehen und mir sagen, wann und wie ich anzufeuern habe, ärgere ich mich. Ich finde das einen respektlosen Umgang mit mir“ (ebd.: 94). 3.1.3 „Versitzplatzung“ der Stadien Im Hinblick auf die 2006 anstehende Fußball-WM in Deutschland, jedoch auch als Folge der oben beschriebenen „Eventisierung“ des Fußballs entstehen überall in der Republik neue Fußballstadien, mittlerweile meistens „Arenen“ genannt (man denke an die „Eventisierung“). Dies mag auf den ersten Blick auch den Fans in der Kurve zu gute kommen, die von den überdachten Tribünen, den besseren Sichtverhältnissen und den neuen sanitären und logistischen Einrichtungen profitieren. Allerdings ist im Zuge der Stadionneubauten und –Modernisierungen der Anteil der Stehplätze rapide gesunken. Zwar muss man sagen, dass in Deutschland vor allem durch den Einsatz örtlicher Fangruppen, Fanprojekte, 20 BAFF und „Pro-Fans“ im Vergleich zu anderen europäischen Ländern die Zahl der Stehplätze in den meisten Stadien immer noch relativ hoch ist. Jedoch ist die Kapazität, vor allem in den Gästeblöcken, keinesfalls als ausreichend zu bezeichnen. Die negativen Folgen sind vielschichtig: Zum einen sind die in den letzten Jahren massiv angestiegenen Preise für Sitzplatztickets für viele Besuchergruppen kaum zu bezahlen. So wird Nicht- oder Geringverdienern, Familien mit mehreren Kindern und vor allem Jugendlichen der Zutritt ins Stadion erheblich erschwert oder gar unmöglich gemacht (vgl. Kos: 94). Außerdem verliert laut Dembowski der Fanblock, den er als „traditioneller Ort von Fankultur, ein differenziertes Gebilde mit historisch gewachsenen, festen Standorten für bestimmte Fan- und Zuschauergruppen“ (Dembowski, 2004: 74) bezeichnet, durch die Versitzplatzung seinen Status als Ort der sozialen Begegnung. Durch die feste Zuweisung von Plätzen wird die Bewegungsfreiheit der Einzelnen eingeschränkt, so dass ein „Umhergehen und Leute Treffen“ (ebd.: 75) nicht mehr praktiziert werden kann. Bei internationalen Vereinspartien sowie Welt- und Europameisterschaften sind Stehplätze mittlerweile aus „fadenscheinigen Sicherheitsbedenken“ (Ehlers 2004: 50) - es gibt laut Dembowski bis heute keine Studie, die eine bessere Sicherheit durch Sitzplätze belegt (vgl. Dembowski, 2004:75) - komplett verboten und es steht zu befürchten, dass dieses Schicksal in absehbarer Zeit den weltweiten kommerzialisierten Fußball heimsuchen wird. 3.1.4 Ausverkauf von Tradition Seit einigen Jahren ist im Profifußball im Zuge der allgemeinen Kommerzialisierung eine steigende Bereitschaft der Vereine zum Ausverkauf von - den Fans seit jeher sehr wichtigen - Traditionen zu verzeichnen. Ein sehr prägnantes Beispiel stellte in dieser Beziehung der VfL Bochum dar, der in der Saison 1998/99 nicht mehr in den traditionellen Trikotfarben Blau und Weiß auflief, sondern in einem regenbogenfarbenen Dress, dass doch sehr dem Logo des Hauptsponsors ähnelte (vgl. Kicker Sonderheft, 1998: 105). Auch Werder Bremen, welches sich seit der Umwandlung der Fußballabteilung in eine KG nicht mehr „SV Werder“ nennen darf, spielt seit zwei Saisons mit auffälligen orangen Applikationen auf den ehemals grün-weißen Trikots – rein aus 21 marketingstrategischen Überlegungen, wie man in der Bremer Ultraszene vermutet (vgl. Inside Eastside, Ausg. 13). Allein sieben derzeitige Bundesligaclubs wechselten oder „verschönerten“ ihr traditionelles Vereinswappen aus eben diesen Gründen, wobei selbiges der Borussia Dortmund AG nicht einmal mehr gehört – da im „September 2000 Markenrechte am Vereinsnamen und am Vereinsemblem im Rahmen einer "Sicherheitsübereignung" an den Gerling-Konzern verpfändet wurden“ (Hennecke, 2005). Ebenfalls sieben Bundesligisten brachen bislang das Tabu des Verkaufs des Stadionnamens und diskutiert wird diese Möglichkeit neue Gelder zu erschließen sicherlich bei allen Vereinen. Diese Beispiele ließen sich beliebig für alle Proficlubs fortsetzen, sollen allerdings nur die derzeitigen Tendenzen verdeutlichen. 3.2 Einschränkungen durch „Sicherheitsaspekte“ In der Fanszene mehren sich seit Jahren die Klagen über unfaire und schlechte Behandlung der Fans durch die Vereine, die Ordnungsdienste und die Polizei. Die offiziellen Seiten rechtfertigen ihr Vorgehen mit dem Hinweis, Fußballfans stellten ein Gefahrenpotential dar, dem durch vielfältige Sicherheitsvorkehrungen entgegengewirkt werden müsse. Im Jahre 2004 veröffentlichte BAFF ein Buch mit dem Titel „Die 100 `schönsten´ Schikanen gegen Fußballfans – Repression und Willkür rund ums Stadion“, in dem exemplarisch auf einige der Missstände aufmerksam gemacht wird. 3.2.1 Fantrennung Im Zuge einer Sicherheitsdebatte wurden gegen Ende der 90er Jahre die Zäune die das Publikum vom Innenraum trennen in den meisten Stadien entfernt. Löblich. Allerdings galt dies in den meisten Stadien nur für die Zäune vor den Tribünen, diejenigen vor den Fanblöcken blieben in der Regel erhalten, oder wurden nur etwas „entschärft“. Sogar in die komplett gegenteilige Richtung scheint sich die Situation jedoch für die jeweiligen Gästeblöcke zu entwickeln. Als vorbildlich in dieser Hinsicht wird gerne die neu errichtete „Arena auf Schalke“ genannt. Bei 22 einem Besuch des Stadions konnte ich erleben, wie dort den Gästefans der Kontakt zu den Schalkefans unmöglich gemacht wird: So werden die Gästefans mit dem Bus direkt vor den Eingang gefahren und dann durch einen „Löwengang“ direkt in den Block geleitet, welcher komplett von Plexiglas umschlossen ist Nicht nur kein schönes Gefühl so eingesperrt zu werden, auch unter Sicherheitsaspekten bedenklich: „Doch was passiert bei einer Massenpanik, etwa in der „Arena auf Sch*lke“? Vollautomatische Drehtore, durch die nur eine Person passt, mögen beim Einlass kontrollierbarer sein, aber bei einer Panik und Flucht können sie eine Todesfalle sein. Gleiches gilt für den schmalen Gang vom Eingang zum Gästeblock, der knickt zwischendurch ab, führt durch einen kleinen Tunnel und dann eine Treppe hinauf, um dann vor einer Glastür zu enden“(www.profans.de). Werden doch bei internationalen Turnieren immer gerne Bilder von „sich verbrüdernden Fans“ verschiedener Nationen gezeigt, so sieht die Realität im deutschen Fußball ganz anders aus. Eine Kontaktaufnahme mit Fans der gegnerischen Mannschaft ist nicht erwünscht: Unzählige beispiele aus „Die 100 ´schönsten` Schikanen gegen Fußballfans“ dokumentieren, dass es gegenwärtig für die Polizei fast Standard zu sein scheint, die ankommenden Gästefans einzukesseln und zum Stadion oder Zug zu verfrachten und ihnen jegliches Recht auf freie Bewegung in der Stadt zu entziehen (vgl. Baff, 2004a). 3.2.2 Das Vorgehen der Polizei Glaubt man unzähligen Erfahrungsberichten in Fanzines, im Internet oder in Publikationen, scheinen ungerechtfertigte, gewalttätige Übergriffe von Polizisten im Umfeld von Fußballspielen an der Tagesordnung zu sein. Neben der schon erwähnten Publikation „Die 100 `schönsten´ Schikanen gegen Fußballfans“, widmet sich sogar die als recht polizeifreundliche und im Umgang mit vermeintlichen Fußballrowdies nicht unbedingt als zimperlich bekannte Bildzeitung in ihrer Sonderausgabe „Sportbild – Fanreport“ diesem Thema. Dies ist ein klares Indiz dafür, dass hier eine Problemsituation gegeben ist. Bei meinen Recherchen musste ich feststellen, dass man zu diesem Thema eine eigene Examensarbeit anfertigen könnte, deswegen möchte ich hier nur kurz die betreffenden Schlagzeilen der angesprochenen Zeitschrift (in ihrem 23 „unnachahmlichen Stil“) wiedergeben: „Jetzt reicht`s! Polizeihund beißt Kind; Fan nach Polizeiprügel auf Intensivstation – Hirnblutung; Zwölf unschuldige Fans stundenlang in Zelle eingesperrt; Polizist schlägt Teenager die Zähne aus“ („Faninspektor“, 2004: S.12). Darüber hinaus scheint es nach einschlägigen Berichten unter den bei Fußballspielen eingesetzten Beamten schon seit langer Zeit Usus zu sein, bei Anfragen weder Namen noch Dienstnummer herauszugeben, wozu sie eigentlich per Gesetz verpflichtet wären (vgl. z.B. Farin/Hauswald, 1998; Baff, 2004a; www.stpauli-forum.de). Eine Verfolgung von Fehlverhalten der Polizei wird dadurch erheblich erschwert. BAFF beklagt sich auch über zunehmende unangemessene Polizeigewalt oftmals unter Einsatz von Schlagstock und Pfefferspray und stellt folgende These auf: „Für die Polizei stellt der regelmäßig wiederkehrende Einsatz gegen Fans ein wunderbares Experimentier- und Trainingsfeld für den Einsatz in großen Menschmengen dar. (...) So kann z.B. das Vorgehen bei politischen Demonstrationen an Fußballfans getestet werden. `Wandernde Kessel´, Videoüberwachung, die Arbeit der Beweissicherungseinheiten – nahezu alle Techniken für den Polizeialltag...“ (Baff, 2004: 168). 3.2.3 Überwachung Neben der oben beschriebenen Einbüßung der Bewegungsfreiheit müssen Fans noch einige weiteren Einschränkungen ihrer Grundrechte hinnehmen. Berichteten Dieter Bott und Gerold Hartmann erstmals 1986 von neuen Überwachungskameras, welche in den Stadien installiert werden sollten (Bott/Hartmann, 1986), so sind diese mittlerweile eine Auflage für die Vereine, um eine Lizenz für die Bundesliga zu erhalten. Damit die Videoüberwachung auch lückenlos durchgeführt werden kann, ist den Gästefans oftmals das Mitbringen von großen Fahnen, Doppelhaltern und Transparenten untersagt, da befürchtet wird, man könnte im Schutze dieser Elemente z.B. pyrotechnische Artikel entzünden (vgl. Gabriel, 2004). So kann es passieren, dass der reisende Fußballfan den gesamten Tag abgefilmt und überwacht wird: Bei der Abreise im Heimatort, der Ankunft im Zielort, auf dem Weg zum Stadion, im Stadion und schließlich noch einmal den ganzen Weg zurück (vgl. Baff, 2004a: 9). 24 Vor dem Einlass ins Stadion muss der Fan sich einer Leibesvisitation unterziehen, wobei hier eindeutig zu beobachten ist, dass diese Kontrollen vor den Eingängen zu den Stehplatzbereichen deutlich penibler durchgeführt werden als vor den teureren Bereichen des Stadions. Hat man diese Kontrollen passiert, wird die Eintrittskarte kontrolliert. In den WM-Stadien geschieht dieses mittels eines Strichcodes auf dem Ticket. Da man, um an Karten für dieses Turnier zu gelangen, seine persönlichen Daten angeben muss, kann man so im wahrsten Sinne des Wortes „auf Schritt und Tritt“ überwacht werden. Dass diese Kartenvergabepraxis auch für den deutschen Profifußball bald Realität wird, steht zu befürchten, da die notwendige Technik mittlerweile schon vielerorts vorhanden ist. 3.2.4 .Stadionverbote Um Vergehen von Fans im Rahmen von Fußballspielen zu sanktionieren, hat der DFB das Mittel des Stadionverbots entwickelt. In den „Richtlinien zur einheitlichen Festsetzung und Verwaltung von Stadionverboten“ ist geregelt, dass der DFB und die Vereine der ersten drei Ligen in Deutschland sich gegenseitig das Hausrecht zuschreiben und somit in der Lage sind, bundesweite Stadionverbote auszusprechen (vgl. Arbeitsgruppe Nationales Konzept Sport und Sicherheit, 1992). Die Dauer des ausgesprochenen Verbots kann je nach Sachlage ein, drei oder fünf Jahre betragen, wobei 66% der Stadionverbote für drei Jahre ausgesprochen werden. Besonders problematisch ist aus meiner Sicht, dass ein Verbot sogar ausgesprochen werden kann, „ohne dass ein Ermittlungs- oder sonstiges Verfahren eingeleitet wurde, bei Personalienfeststellungen, Platzverweisen und Ingewahrsamnahmen unter Verhinderung anlassbezogener Straftaten gemäß Abs. 3, wenn Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass die Person zukünftig solche Taten begehen oder sich an diesen beteiligen wird“ (ebd.: 25). Hier werden Sanktionen für nicht begangene Taten ausgesprochen, was nach meinem Rechtsempfinden nicht möglich sein darf, da die Unschuldsvermutung außer Kraft gesetzt wird. Im Folgenden soll ein exemplarischer Vorfall für die Erteilung eines bundesweiten Stadionverbots dargestellt werden. Es handelt sich hierbei natürlich um ein extremes Beispiel, aber grundsätzlich nicht um einen 25 Einzelfall. Es soll aufzeigen, wie willkürlich diese Entscheidungen oftmals gefällt werden: „Pressemitteilung des Commando Cannstatt: Bereits vor einigen Monaten nach dem Spiel des VfB Stuttgart im April 2004 in Freiburg hagelte es zwei unberechtigte Stadionverbote gegen zwei Mitglieder des Commando Cannstatt. Die Fans des VfB Stuttgart fuhren mit dem Zug zum Spiel des VfB nach Freiburg. Am Bahnhof angekommen wollten die Fans bei schönem Wetter zu Fuß zum Stadion laufen. Die Polizei hinderte die Fans kurz hinter dem Bahnhof am Weiterlaufen. Dabei schlug ein Polizist dem 16-jährigen VfB-Fan Vincent Schlecker grundlos mit der Faust ins Gesicht bis diesem Blut aus dem Mund lief. Der Polizist schlug dem Fan dabei zwei Zähne im Unterkiefer aus. Der Vater des Fans erstattete Anzeige gegen den Polizisten und bekam daraufhin als „Dank“ vom SC Freiburg ein zweijähriges bundesweites Stadionverbot ausgesprochen, obwohl der Vater überhaupt nicht bei dem Spiel war. Fassungslosigkeit. Der Vater teilte dies der Polizei mit, woraufhin das Stadionverbot umgehend auf den Sohn übertragen wurde“ (www.cc97.de). Bis hierher wurden Hintergrund und Problemfelder der neuen Fanbewegung dargestellt. Im Folgenden möchte ich versuchen, mit Hilfe der Interviews einen tieferen Einblick in die Belange der Szene zu geben. 26 4. Die Interviews mit zwei Mitgliedern von Ultragruppen 4.1 Die Methodik Um gezielt bestimmte Themenkomplexe, die sich aus der Fragestellung ergeben, in den Interviews beantwortet zu wissen, erschien mir das leitfadengestützte offene Interview als Forschungsmethode sinnvoll. Das Interview sollte Gesprächscharakter besitzen und themenspezifisch möglichst von meinem jeweiligen Gegenüber strukturiert werden. Ich achtete darauf, den Gesprächsfluss nicht zu unterbrechen und Fragen als weitgefasste Erzählaufforderungen zu formulieren, um keine zu kurzen Antworten zu erhalten oder suggestiv beeinflussend zu wirken. Die auf Tonband aufgezeichneten Interviews, welche beide ungefähr zwei Stunden lang waren, transkribierte ich vollständig, wobei ich auch paralinguistische Phänomene wie Pausen, Lachen oder spezielle Betonungen berücksichtigte. In der folgenden Auswertung der Interviews sind zum besseren Verständnis folgende Transkriptionsnotationen von Bedeutung: - prosodische Zäsur -- kurze Pause --- längere Pause bis vier Sekunden . Markierung einer fallenden Intonation (Satzende) Kursiv emphatische Betonung eines Wortes Unterstreichung Besonders sorgfältige Betonung eines Wortes [] Ergänzungen des Verfassers Nach der Transkription der Interviews fertigte ich Verlaufsprotokolle an, in denen ich das Gesagte nach Themen segmentierte, wodurch ich mir einen guten Überblick über das Material verschaffte. Danach entwickelte ich ein Kategoriensystem im Wechsel zwischen Fragestellung und Material in Anlehnung an die qualitative Inhaltsanalyse nach Mayring (vgl. Mayring zit. nach Lamnek, 1995: 207ff). Somit bildete ich aus den Thematisierungen meiner Interviewpartner Kategorien, die für die Beantwortung der Fragestellung (siehe Einleitung) relevant waren. 27 4.2 Auswahl der Interviewpartner Bei der Auswahl der Interviewpartner waren mir folgende Faktoren besonders wichtig: Zum einem sollten die Gesprächspartner eine möglichst lange Gruppenzugehörigkeit aufweisen, um genug über die Historie der Gruppen sowie viele Erlebnisse mit der Gruppe berichten zu können. Zum anderen sollten sie innerhalb der Szene eine ausreichend wichtige Rolle spielen, um auch über vertiefendes Hintergrundwissen zu verfügen. Zuletzt sollten die Interviewten meiner Anfrage gerne folgen, da die von mir gewählte Interviewform natürlich auch ein beiderseitiges Interesse verlangt. Den Kontakt zu Orhan stellte ich über den Bremer Fanbeauftragten Thomas Hafke her, der mir Orhan als geeigneten Gesprächspartner empfahl. Nach einem ersten kurzen Vorgespräch am Telefon verabredeten wir einen Termin in einem Cafe. Bo wurde mir auf Anfrage am Rande eines St. Pauli-Spiels von anderen Gruppenmitgliedern empfohlen. Per E-Mail machten wir einen Termin in einem Raum der Hamburger Universität aus. 4.3 Die Interviewpartner 4.3.1 Das Interview mit Orhan (29), Eastside Bremen `97 Orhan ist ein halbes Jahr nach der Gründung im Jahre 1997 in die Eastside (ES) eingetreten. 1982 war er mit seinem Bruder das erste Mal bei Werder Bremen im Stadion. Ab 1986 besuchte er mehr oder weniger regelmäßig zusammen mit Freunden die Spiele. Seit 1991 hat er nach eigener Aussage kaum ein Heimspiel verpasst. Mitte der neunziger Jahre sah er das erste Mal Bilder von italienischen Fankurven und überlegte sich zusammen mit einigen Bekannten, ob Teile des dort Gebotenen nicht auch in Bremen zu realisieren seien, da die dortige Fanszene zu diesem Zeitpunkt „mehr als tot“ und die Kurve „eine der schlechtesten in Deutschland“ war. Der Wunsch, diesen Zustand zu verbessern, und bereits bestehende Kontakte zu den Gründungsmitgliedern stellten die ausschlaggebenden Faktoren für den Beitritt Orhans zur Eastside dar. 28 Orhan setzte die Schwerpunkte im Interview auf die Themen Kommerzialisierung im Profifußball, Repression gegen Fußballfans sowie Politik im Stadion. Er legt großen Wert auf eine vernünftige Außendarstellung und ein positives Image der Gruppe. 4.3.2 Das Interview mit Bo (23), Ultra` Sankt Pauli Bo ist Gründungsmitglied der Gruppe Ultra` Sankt Pauli (USP). Er besuchte als Kind zahlreiche unterklassige Fußballspiele mit seinem Vater, der ihn dann 1989 zum ersten Mal mit zum FC St. Pauli nahm. Bo verfolgte danach immer öfter die Spiele am Millerntor, ehe er sich 1993 seine erste Dauerkarte kaufte. Die Fanszene beobachtete er nach eigener Aussage schon immer mit regem Interesse, konnte aber auf Grund seines jungen Alters damals noch keinen richtigen Zugang zum Innercircle finden. Sein Wirken innerhalb der Szene würde Bo ab 1996/97 als aktiv bezeichnen. Kurz nach der Gründung im Jahre 1999 trat er in den gerade expandierenden, ultraorientierten Fanclub „Carpe Diem“ ein, welcher später eine tragende Säule der 2001 gegründeten „Ultra` Sankt Pauli“ darstellen sollte. Bo legte im Interview gesteigerten Wert auf die Betonung der (links)-politischen Ausrichtung der Gruppe. Darüber hinaus äußert er harsche Kritik an der Vereinspolitik sowie der starken Repression seitens der Polizei, der er seine Gruppierung ausgesetzt sieht. 4.4 Gegenüberstellung der Aussagen unter ausgewählten Themenkategorien 4.4.1 Die untersuchten Ultragruppierungen Zeitpunkte und Umstände der Gründung sowie ursprüngliche Ziele der Gruppen Die Gruppe „Eastside `97“ aus Bremen wurde bereits im Jahre 1997 gegründet. Die „Ultra` Sankt Pauli“ aus Hamburg sind dagegen noch eine relativ junge Gruppierung – ihre Gründung datiert aus dem Jahre 2001. Entstanden ist sie allerdings aus dem Zusammenschluss mehrerer bereits existenter Fangruppen. Den zahlenmäßig größten Anteil stellte hierbei die Gruppe „Carpe Diem“, welche bereits seit 1999 ein eingetragener Fanclub beim FC St. Pauli ist. Bo erzählt, dass 29 es seinerzeit die „Diskussion gab, USP gar nicht zu gründen“, da sich Carpe Diem sowieso „absolut auf der Ultraschiene“ bewegte und man sich angesichts der überall in der Republik neu entstehenden Gruppen („Ultras Frankfurt - Ultras Düsseldorf - Ultras Bochum – überall gibt`s Ultras“) überlegte, „ob das denn überhaupt Ultras heißen muss“. Man entschied sich dann jedoch trotzdem zur Gründung der neuen Ultragruppe, da diese als übergeordnete Gruppierung, losgelöst von klassischen Fanclubstrukturen agieren sollte, weil der herkömmliche Fanclub laut Bo „immer diese Strukturen mit sich bringt - dass man sich denkt – ach die Leute kennen sich alle – wie komm ich da rein“. So wollte man offener für alle Interessierten sein. Zudem konnten sich auf diese Weise auch Mitglieder anderer Fanclubs problemlos den Ultra` Sankt Pauli anschließen, ohne jedoch ihren ursprünglichen Fanclub verlassen zu müssen. Ziel der Gründung war es, eine Gruppe für Leute anzubieten, die sich im Zusammenschluss für die Unterstützung der Mannschaft mehr als die meisten Teile der Zuschauerschaft engagieren wollten. Man wollte neue und längere Lieder singen und dazu optische Effekte in den Fanblock bringen, um die Stimmung im Stadion zu verbessern. Ähnlich beschreibt es Orhan für die Eastside aus Bremen. Auch hier hatte man die Absicht, die Stimmung im Stadion wieder zu verbessern, welche seiner Einschätzung nach seit Anfang der neunziger Jahre als äußerst schlecht einzustufen war: Zum Zeitpunkt der Entstehung der Gruppe war „optisch wie akustisch ehrlich überhaupt nichts geboten“. Als Inspiration für ihn und seine Freunde dienten damals „Bilder - die wir aus Italien gesehen haben.“ Die Anfänge der Eastside beschreibt er aufgrund der „festgefahrenen - ja quasi brachliegenden“ Fanszene als sehr mühsam. Anfangs beschränkte man sich auf einfache optische Aktionen und verteilte Flugzettel an die anderen Fans in der Kurve, was diese mit den ausgeteilten Materialien zu tun hätten. Nach und nach sammelte die Gruppe so eigene Erfahrungen. Ein Gründungsmitglied stellte bald Kontakte ins Ausland her, durch die ein weiterer Zugewinn an Know-how verbucht werden konnte. Die Struktur der Gruppen Beide Gruppierungen, die Eastside Bremen sowie Ultra` Sankt Pauli, existieren nicht als eingetragene Fanclubs im herkömmlichen Sinne, sondern fungieren 30 lediglich als eine Art Dachverband. Somit sind Teile der Mitglieder zusätzlich oder immer noch Mitglieder in anderen klassischen Fanclubs. Die Mitgliederstärke beider Gruppen in absoluten Zahlen zu betrachten würde einer zuverlässigen Aussagekraft entbehren. So berichtet Orhan zwar von ca. 200 Mitgliedern aktuell, schränkt jedoch gleich darauf ein, dass der Kreis der Aktiven nur mit maximal 20 – 30 Personen zu beziffern sei. Er erklärt diese Diskrepanz mit der Tatsache, dass viele Mitglieder nicht im Bremer Stadtgebiet wohnen, sondern aus dem Umland oder von weiter entfernt stammen. Diesen Umstand betrachtet er als einen großen Schwachpunkt der Gruppe. Um dem entgegenzuwirken, setzt er in der Zukunft auf eine weitere Expansion der Eastside. Den Anteil aktiver weiblicher Mitglieder schätzt Orhan auf fünf bis sieben Personen. Bo schätzt die Mitgliederzahl der Ultra` Sankt Pauli momentan auf 130 – 150. Eine genaue Zahl kann er aufgrund des speziellen Mitgliedersystems nicht nennen. Zu Beginn jeder Saison laufen die Mitgliedsausweise aus und müssen neu erworben werden. Auf diese Weise schätzt er, würden bis zum Saisonende an die 150 – 160 Mitgliedsausweise abgesetzt. Zusätzlich zu diesen zahlenden Mitgliedern sieht er jedoch auch einen „Umkreis von bestimmt noch mal 100 Leuten - die man erreicht - die man mobilisieren kann und die im Prinzip zu der Gruppe dazu zählen“. Zu den wöchentlichen Treffen kommen teilweise über 50 Leute, was er äußerst positiv bewertet („so was erreicht auch kaum ein Erstligist“). Weibliche Mitglieder gibt es zu Bos Bedauern „recht wenig“. Es gebe zwar „viele Mädchen - die im Umfeld von unserem USP-Block stehen und die auch immer mitmachen“, diese seien jedoch meistens Freundinnen von Mitgliedern und haben selber keinen Mitgliedsausweis. Für die Zukunft prognostiziert er ein weiteres Anwachsen der Gruppe und stellt erfreut fest, dass gerade an jüngeren Leuten ein reger Zulauf zu verzeichnen ist. Auch Orhan berichtet von einigen „Jüngeren - die in den letzten Jahren dazugekommen sind“ und merkt an, dass das Durchschnittsalter der Eastside im Vergleich zu anderen Gruppen als relativ niedrig anzusiedeln ist. Er sieht diesen Umstand jedoch sowohl mit einem lachenden, als auch mit einem weinenden Auge. Zwar seien die jungen Leute äußerst aktiv, jedoch sei es „halt immer schlecht - wenn du dann da stehst und hast nur fünfzehn- sechzehnjährige - die halt wirklich noch gar nichts mitgemacht haben“. Viele Mitglieder unterstützten 31 zwar bereitwillig alle Aktionen, trauten sich jedoch nicht, eigene Initiative in ausreichendem Maße einzubringen. Es mangelt der Gruppe seiner Meinung nach an Leuten, „die auch `n bisschen was lenken können“. Er wünscht sich mehr „führende Köpfe“. Entscheidungen werden laut Orhan im Gegensatz zu früheren Zeiten gemeinsam getroffen. In der Vergangenheit hat einer der Mitbegründer, welcher auch viel von seinem privaten Geld in die Gruppe investierte, „viel im Alleingang gemacht“, was zahlreichen Mitgliedern nicht gefiel und in der Konsequenz viele Austritte zur Folge hatte. Heute können und sollen alle Teilnehmer der montäglichen Arbeitstreffen wichtige Entscheidungen gemeinsam fällen. Ebenso versucht man organisatorische Aufgaben auf möglichst viele Schultern zu verteilen. Auf diese Weise hofft Orhan, werde sich „auch endlich mal ein vernünftiges Wir-Gefühl“ entwickeln. Jedoch kommt es durchaus auch zu Problemen innerhalb der Hierarchie der Gruppe. So berichtet Orhan, wurde der langjährige Vorsänger zum Ende der Saison abgelöst, da man das Gefühl hatte, bei diesem sei etwas „der Reiz raus gewesen“. Nachdem dieser auch nicht mehr die Mehrzahl der Auswärtsspiele besuchte und sein dortiger Vertreter von der Kurve gut angenommen wurde, beschloss man diesen auch bei den Heimspielen mit der Aufgabe zu betrauen. Der abgelöste Vorsänger war darauf hin jedoch „ein bisschen Eingeschnappt“ und obendrein der Ansicht, „dass ihm die Leute in den Rücken gefallen sind“. Bo erzählt, dass die Struktur von USP der linken Szene nachempfunden ist. Es gibt somit keinen „Capo oder so was – oder jemanden der nun bestimmt wo`s langgeht“. Jeden Mittwoch trifft sich die Gruppe und beschließt gemeinsam die kommenden Aktionen. Hierarchien existieren nur „dergestalt, dass sich natürlich Engagement lohnt“. Wer beispielsweise „eine Tapete10 malt - kann dann auch entscheiden - was letztendlich draufsteht“. Dieses funktioniert laut Bo sehr gut, da die Aktiven sowieso wissen, was „gerade auch Konsens in der Gruppe“ ist und diesen auch berücksichtigen. Hierin unterscheiden sich seiner Meinung nach die Ultrà Sankt Pauli von anderen deutschen Ultragruppen erheblich. Als Beispiel führt er die Ultras Frankfurt an, welche ein Führungskollektiv haben, in dem einige wenige die Richtung der Gruppe vorgeben. So etwas sei „bei USP undenkbar“. 10 Transparent/ Spruchband mit einer Botschaft 32 Die Finanzierung der Aktionen der Gruppen erfolgt übereinstimmend durch Mitgliedsbeiträge, Spenden sowie den Verkauf von Fotos und Merchandiseartikeln. Orhan berichtet zusätzlich von kleinen Summen, die bei der Organisation von Busfahrten überbleiben. Beide Interviewpartner betonen die besondere Wichtigkeit der finanziellen Unabhängigkeit ihrer Gruppierung vom Verein. 4.4.2 Das Wirken der Gruppen Aktivitäten rund um die Spieltage Beide Interviewpartner berichten, dass sie mit ihren Gruppen neben den Spielen der Profis auch die Spiele der zweiten Mannschaft besuchen. Bo beschreibt den Ablauf an einem Spieltag kurz und knapp. Große Teile der Gruppe treffen sich bereits einige Zeit vor dem Spiel. Treffpunkte sind hierbei das Stadion, sowie in erster Linie der „Fanladen“11, der auch für die Gruppentreffen unter der Woche genutzt wird und von Bo als „Begegnungsstätte“ bezeichnet wird. Von dort aus wird das Equipment, welches auf den Rängen zum Einsatz kommen soll (z.B. Doppelhalter und Fahnen) gemeinsam zum Stadion transportiert. Dort trifft man immer schon recht früh ein, um sich um andere wichtige Abläufe vor dem Spiel zu kümmern. Es werden Spenden gesammelt und vor jedem Heimspiel ein Flyer („Gegengerade“) im Fanblock verteilt, der die Fans mit den neuesten Informationen aus der Szene versorgt. Dazu erscheint ebenfalls zu jedem Heimspiel ein gruppeneigenes Fanzine („Gazzetta d´Ultra“), welches rund ums Stadion per Handverkauf unter die Leute gebracht wird. Außerdem betreiben die Ultras einen Stand unter der Tribüne, „wo man sich informieren kann über USP“ und an dem auch die Merchandiseartikel verkauft werden. Bo weist darauf hin, dass es aber vor allem auch wichtig sei, dass zahlreiche Mitglieder schon zeitig im Block stehen, um somit der gesamten Gruppe ihren angestammten Platz freizuhalten. 11 Das Fanprojekt des FC St. Pauli 33 Seit Beginn der aktuellen Saison werden in Zusammenarbeit mit dem Flüchtlingsrat Hamburg zu jedem Heimspiel fünf Asylbewerber oder Flüchtlinge eingeladen, die dann zusammen mit den Ultra` Sankt Pauli die Spiele besuchen. Zur Aktivität seiner Gruppierung während der neunzig Minuten äußert sich Bo nur knapp: „Ja - sonst versuchen wir dann halt da unsere Sache zu machen – unsere Mannschaft zu unterstützen so gut es eben geht.“ Die Unterstützung erfolgt nach seinen Erzählungen hauptsächlich durch lautes Singen und „`n bisschen Alarm machen“. Orhan nennt nur einige einzelne Beispiele der Aktionen seiner Gruppe im Stadion. Dabei geht er vor allem auf den Entwicklungsverlauf des Dargebotenen über die Jahre ein. Er erzählt von den ersten Choreographien, für die Bahnen aus Italien bestellt wurden und kleine Papierschnipsel in tagelanger Arbeit selbst hergestellt und in kleine Beutel verpackt wurden. Diese Aktionen waren sehr einfach gehalten und bezogen sich in erster Linie auf Muster in den Vereinsfarben. Später gab es Choreographien mit hoch gehaltenen Papptafeln, die jedoch auf Grund gewisser spezifischer Eigenschaften der Architektur des Weserstadion nicht so gut funktionieren wie z.B. Doppelhalter und große Blockfahnen. „Schwierigere Sachen“, so schätzt Orhan, „machen wir jetzt seit zwei - drei Jahren“. Die akustische Unterstützung der Mannschaft während des Spiels wird immer von einem Vorsänger geleitet. Dieser wählt die Gesänge und Anfeuerungsrufe nach seinem Gusto aus, wobei Orhan anmerkt, dass gewisse Lieder immer zu einem bestimmten Zeitpunkt angestimmt werden, da diese sich bewährt haben, die Motivationslage der Kurve weiter zu steigern. Der Vorsänger nimmt darüber hinaus auch bereitwillig vorgeschlagene Songs aus der Fankurve auf. Die Texte und Melodien der vorgetragenen Gesänge entstehen auf unterschiedlichste Art und Weise: „Manche kommen halt im Suff oder so spontan – oder man hört halt `n Lied (...) aus Italien, wo `ne geile Melodie drauf ist und dichtet (...) sich selber (...) `n eigenen Text drauf.“ Orhan ist der Meinung, mit der Anfeuerung die Spieler zusätzlich zu motivieren, was er dadurch bestätigt sieht, dass diese bei mäßiger Stimmung oftmals auffordernde Gesten in Richtung Fankurve machen. 34 Einsatz von Pyrotechnik Als beliebter Beitrag zu einer guten Stimmung und einer gelungenen Kurvenshow gilt unter Ultragruppierungen das Abbrennen von bengalischen Feuern, welches allerdings im Rahmen von Spielen der ersten bis dritten Liga hierzulande untersagt ist. Deshalb, berichtet Orhan, verzichte die Eastside „schon seit Jahren“ bei Heimspielen auf den Einsatz von Pyrotechnik. Werder Bremen würde ansonsten mit hohen Geldstrafen durch die DFL belegt werden, was auf keinen Fall im Interesse der Gruppe läge. Außerdem befürchtet er, der Verein würde der Eastside in Folge solcher Verstöße die Durchführung von Choreographien verbieten. Bei Auswärtsspielen gilt dieses „selbstauferlegten Zündelverbot“ jedoch nicht, da in diesem Falle der gastgebende Verein verantwortlich gemacht wird und Werder keine Strafe zu erwarten hat. Orhan persönlich hält trotzdem auch hier den Einsatz von „Bengalos“ für „sinnlos“. Seiner Ansicht nach spielt diese Thematik mittlerweile keine allzu große Rolle mehr: „am Anfang der Geschichte (...) da haben eigentlich alle Gruppen um die Wette gezündelt – macht heute aber eigentlich kaum noch jemand“. Trotzdem scheint auch für ihn eine solche Aktion durchaus einen besonderen Reiz zu haben. Begeistert und im Detail berichtet er über eine Pyroshow zum 100. Geburtstag des SV Werder, bei welcher der Verein beim DFB eine Sondergenehmigung für das Abbrennen von Bengalischen Fackeln im Stadion erwirkt hatte. Damals durfte die Eastside vor Spielbeginn 100 Bengalos auf dem Spielfeld zünden: „Was wir auch sehr gut fanden alle.“ Eine große Rolle spielt die Thematik für Bo von den Ultra` Sankt Pauli. Um „keinen größeren Ärger zu provozieren“ entschied man sich in der Vergangenheit auch hier, bei Spielen der ersten Mannschaft auf den Einsatz von Pyrotechnik zu verzichten. Allerdings denkt Bo, dass man „in Zukunft wieder drüber diskutieren muss - weil Pyrotechnik bei USP gerade auch bei jüngeren Leuten auf jeden Fall ein Thema ist - und das wird man nicht ewig deckeln können.“ So kann er sich vorstellen, dass die Verzichtsentscheidung mittelfristig wieder aufgehoben wird. 35 Außerfußballerische Aktivitäten der Gruppen Aktivitäten die über den Rahmen der Fußballspiele hinausgehen, werden von Orhan kaum angesprochen. Viele Eastsidemitglieder haben zwar noch gute Kontakte zu den Ultras von Rot-Weiß Essen, diese beschränken sich jedoch zu seinem Bedauern momentan auf vereinzelte gegenseitige Spielbesuche. Lediglich die Untergruppierung „Cercle d`Amis“ (CDA) trifft sich abseits von Fußballspielen oftmals mit den Ultras vom FC St. Pauli und vom SV Babelsberg, um gemeinsam zu feiern oder politische Demos zu besuchen. Ursache für den Mangel an außerfußballerischen Aktivitäten ist mit Sicherheit die bereits angesprochene Problematik der vielen „nicht-bremer“ Eastsidemitglieder, sowie der daraus resultierende kleine Anteil an wirklich aktiven Mitgliedern. Deutlich lebendiger wirken da die Ultra` Sankt Pauli. Bo erzählt, dass die Kontakte der Gruppenmitglieder untereinander weit über den Fußballrahmen hinausreichen: „Also - das ist weit mehr als nur die Spiele der ersten Fußballmannschaft zu besuchen.“ Er berichtet, dass innerhalb der Gruppe viele Freundschaften bestehen und „dass man sich auch unter der Woche so sieht – dass man Kontakt hält – dass man telefoniert“. Es werden gemeinsame Aktionen wie der Besuch von Demos, Plakatieren im Stadtteil oder gemeinschaftliches Fußball spielen veranstaltet. Ebenso berichtet er von gemeinsamen Feiern mit den befreundeten Gruppen aus Bremen und Babelsberg. 4.4.3 Beziehungen zu anderen Fangruppen Unterschiede zu herkömmlichen Fangruppierungen Auf die Frage nach entscheidenden Unterschieden zur Masse der herkömmlichen Gruppierungen im Stadion antwortet Bo kurz und knapp mit einem Lachen: „Wir singen“. Ergänzend fügt er hinzu, dass große Teile der St. Pauli-Fans dieses auch gerne von sich behaupten, damit seiner Einschätzung nach aber von der Realität weit entfernt sind. Er berichtet über einen kürzlichen Versuch von 20 USPMitgliedern in einem anderen Bereich des Stadions die Menge zur Unterstützung der Mannschaft zu motivieren: „Die sind in der Halbzeit da frustriert 36 weggegangen - weil da wirklich von den 1000 Leuten die da stehen nicht einer ein einziges Mal irgendwas mitgemacht hat.“ Orhan ordnet das Verhalten eines großen Teils der Kurvenbesucher der Vor-UltraZeit folgendermaßen ein: „Die Kutten von damals (...) die sind ja am Wochenende – ja - wir treffen uns in der Kneipe - gehen dann ins Stadion - grölen `n bisschen rum oder lassen`s auch bleiben. (...) Die Leute sind halt alle ins Stadion gegangen - haben zwei drei Lieder gesungen - waren dann aber auch relativ ruhig – es wurde überhaupt nichts bewegt in der Sache.“ Viele „Leute die nicht viel Einblick in die aktive Fanszene haben“ unterscheiden sich darüber hinaus dadurch von der Eastside, dass sie der Kritik der Gruppe an der zunehmenden Kommerzialisierung nicht teilen: „...einige sagen (...) wir sind ja nur die ewigen Stänkerer und dumme Traditionalisten.“ Aus diesen unterschiedlichen Einstellungen zu bestimmten Fragen ergibt sich somit ein gewisses Konfliktpotential zu anderen Stadionbesuchern. Konflikte mit anderen Fans des Vereins Orhan kritisiert einen großen Teil der Werderfans, da diese seiner Ansicht nach eine „man-kann-doch-nichts-kritisieren-was-der-Verein-macht-Einstellung“ an den Tag legen. Diese Leute sind für ihn „eher Konsumenten statt Fans“. Außerdem hat er kein Verständnis für Zuschauer, die betrunken im Stadion stehen und „keinen Ton mehr raus kriegen“ oder womöglich während des ganzen Spiels am Bierstand stehen. Doch auch die außenstehenden Fans üben, vor allem im Internet (Werder-Forum), Kritik an der Eastside. Deren Choreographien sind zwar bei allen Teilen des Publikums hoch geschätzt, doch wird den Ultras neben einem Hang zur Selbstdarstellerei vor allem vorgeworfen, sie würden mit ihrem Megafon die Stimmung im Stadion „diktieren“ wollen. Orhan versucht auf dieser Plattform, entgegen dem Rat einiger anderer Gruppenmitglieder, solche Vorwürfe sachlich zu entkräften. Er vermutet, dass viele Nicht-Eastside-Mitglieder neidisch auf die Sonderrechte der Gruppe sind, hofft aber trotzdem, dass das Verhältnis in Zukunft besser wird, „da es auch mehr Spaß macht - wenn der Rest der Kurve mitmacht“. Zu diesem Zweck gehe man im Stadion auf die anderen Kurvenbesucher zu: Die Gruppe will sich ab der neuen Saison zentraler in der Kurve positionieren, um mehr Fans zum Mitsingen der Lieder animieren zu 37 können. Dies wurde laut Orhan auch auf Wunsch vieler außenstehender Fans initiiert. Er bezweifelt allerdings, ob diese Maßnahme den gewünschten Erfolg mit sich bringt, da viele Besucher („Nörgler“) in Bremen „gerne ihr eigenes Ding“ machen und sogar kritisieren, die Eastside würde „zuviel Stimmung machen“, was seiner Ansicht nach gar nicht möglich ist. Er erzählt, dass die meisten anderen Stadionbesucher überhaupt nicht singen würden und die Einstellung seiner Gruppe nicht nachvollziehen können. Seine diesbezüglichen Eindrücke während des Pokalendspiels bestätigen das: „Du hast da `n Block von 120 Leuten - die wir da irgendwie waren (...) und drum herum sitzt alles (...) und kuckt einen an - als würden wir vom Mars kommen.“ Es kommt sogar vor, dass andere Zuschauer supportende Fans bitten sich etwas zu mäßigen. Seiner Meinung nach sollten Zuschauer mit einer solchen Einstellung lieber „ins Theater gehen“. Zusätzlich stört ihn die hohe Erwartungshaltung der meisten Fans in Bremen. Er berichtet, dass das Publikum hier schnell zu pfeifen beginnt, sobald das Spiel der Mannschaft mal zu wünschen übrig lässt. Für diese Einstellung hat Orhan keinerlei Verständnis. Ebenso beklagt er, dass sich im Zuge der gegenwärtigen Erfolge von Werder Bremen eine Menge Leute als Fans zu erkennen geben, die in schlechten Zeiten nicht zum Verein stehen: „So viele die mit Fußball gar nichts zu tun haben - rennen jetzt rum und schimpfen sich Werderfan - (...) wenn wir die Meisterschaft verzockt hätten - hätten sie nur gesagt `ja - ich hab`s doch gewusst´.“ Trotz dieser zahlreichen Konflikte versucht die Gruppe immer wieder mit außenstehenden Fans zwecks Austausch in Kontakt zu treten: „Wir haben schon oft gesagt - wenn einer Ideen hat – meldet euch mal oder kommt zu den Treffen.“ Meistens sei der Zuspruch für solche Aktionen allerdings gleich null, oder im Ergebnis äußerst unbefriedigend. Trotzdem hofft Orhan, dass man mit der Zeit eine gemeinsame Ebene finden kann, oder dass die Eastside zumindest in der Lage sein wird „dem Rest der Kurve mehr von unserem Fan-Dasein und unserer Auffassung von Unterstützung vermitteln können – das es halt `n bisschen mehr gibt (...) als sich nur `n Schal (...) `n Trikot kaufen und dann bin ich der Werderfan.“ Beim FC St. Pauli haben Außenstehende die Möglichkeit, sich über das Fanzine „Gazzetta d`Ultra“ über Vorgänge und Einstellungen innerhalb der Ultra` Sankt Pauli zu informieren. Mit einer Auflage von 450 Exemplaren pro Heimspiel 38 werden viele gruppenexterne Stadionbesucher erreicht. Trotzdem gibt es auch hier einige unterschiedliche Auffassungen, vor allem was die Unterstützung der Mannschaft anbelangt. Bo kritisiert an weiten Teilen der Stadionbesucher deren mangelhaften stimmlichen Support des Teams während der Spiele. Dieser sei seiner Ansicht nach noch bis vor 7-9 Jahren das „Credo“ im Stadion gewesen und seit dem immer mehr eingeschlafen. Seiner Gruppe sei hingegen immer noch daran gelegen die Mannschaft neunzig Minuten anzufeuern („unsern Job erledigen“), wobei dieses unabhängig vom jeweiligen Spielstand geschehen müsse. Anhänger, die das Team nur bei guten Leistungen anfeuern, haben für ihn ein „pervertiertes Selbstverständnis als Fan“. Die einzige Kritik die Bo an dieser angestrebten permanenten Unterstützung zulässt, ist der Vorwurf, die Gruppe würde zu viele „hingedudelte Lalala-Gesänge“ initiieren. Er bestätigt, dass es in entscheidenden Spielsituationen vielleicht besser wäre, mehr „pushende - reißerische Gesänge“ anzustimmen. Allerdings fügt er an, dass jede Form der akustischen Unterstützung einen solchen Effekt hätte, wenn sich nur genügend Leute daran beteiligen würden. Deswegen ist dieses seiner Meinung nach eher ein „Problem der Leute dass sie nicht mitmachen - als unser Problem - dass die Leute nicht mitmachen.“ Trotzdem versuche die Gruppe immer wieder durch das Singen von älteren, den meisten Leuten geläufigen Liedern möglichst breite Massen zum Mitsingen zu animieren, was jedoch nur selten gelingt. Was Bo daran ärgert, ist die mangelnde selbstkritische Haltung großer Teile des Publikums: „Es ist schon verwunderlich wie das Selbstverständnis mit dem was wirklich ist auseinanderdriftet – die Leute denken ja - sie sind die größten Supporters (...) aber haben irgendwie `ne Nettounterstützungszeit von drei Minuten pro Spiel“. Selbst Teile der aktiven Fanszene seien von dieser lethargischen Einstellung betroffen. Trotzdem hegt Bo gegen die anderen Stadionbesucher „keinen Groll“: „Das sind alles liebe nette Leute (...) aber für Support der Mannschaft und zum Stimmung machen sind sie nicht zu gebrauchen“. Resignierend stellt er fest: „Also viele Leute hab ich halt aufgegeben - dass man mit denen noch was erreichen kann“ Umgekehrt wird jedoch auch von Außenstehenden Kritik an den Ultra` Sankt Pauli geübt. Als beliebte Plattform hierfür erweist sich das St.Pauli-Forum im Internet. Diese Beiträge werden von Bo aufgrund der Anonymität und Unsachlichkeit allerdings „nicht ernst“ genommen. Im Stadion bleibe es 39 gegenwärtig meist bei „Anfeindungen auf der verbalen Ebene“, wohingegen kurz nach der Gründung die Aggressionen gegen die neue sich in den Vordergrund drängende Gruppe deutlicher zu spüren war: „In der Anfangszeit war das so - dass da einige Leute gar nicht mit klar kamen – das ist aber doch sehr selten geworden.“ So wurde der Vorsänger in der Anfangszeit beispielsweise des öfteren gezielt mit vollen Bierbechern beworfen, was heute so gut wie gar nicht mehr vorkommt. Kürzlich gab es ein paar kleine Unstimmigkeiten mit Zuschauern, die sich durch das neu errichtete Podest für den Vorsänger in ihrer Sicht beeinträchtigt fühlten, doch insgesamt sei laut Bo schon eine klare Akzeptanzsteigerung des Publikums gegenüber USP zu verzeichnen. Trotzdem resümiert er etwas pessimistisch: „Ich hoffe das man vielleicht irgendwann noch mal zusammen kommt – das man wirklich mit der ganzen Kurve was erreichen kann – aber ich sehe das im Moment in weite Ferne gerückt.“ Verhältnis zu anderen Ultragruppierungen Bo legt großen Wert auf die Tatsache, dass sich seine Gruppe in wesentlichen Punkten von anderen deutschen Ultragruppierungen unterscheidet. Er berichtet, dass die Ultra` Sankt Pauli „einen ganz eigenen Stil haben (...) der in Deutschland sehr wenig verbreitet ist“. Das beginne mit der Kleidung: Bo hat den Eindruck, dass vor allem in der Gründungsphase vieler Gruppen durch das Kopieren eines „Hooloutfits“ versucht wurde, „möglichst gefährlich auszusehen“, was bei USP nie der Fall war. Des weiteren unterscheide man sich durch eine grundlegend andere Gruppenstruktur, sowie durch eine bejahende Haltung zum Thema Politik im Stadion, was von den meisten anderen Gruppen strikt abgelehnt wird. So habe man auch nur ausgewählte Kontakte zu Gruppen, die in dieser Frage mit der eigenen Einstellung übereinstimmen. Da gibt es zum einen eine „richtig gute Freundschaft“ zu einer Gruppe aus Babelsberg und „gute Kontakte“ zur Bremer Gruppe „Cercle d`Amis“ („zur Eastside überhaupt nicht“). Mit diesen finden regelmäßige gegenseitige Spielbesuche sowie außerfußballerische Aktivitäten (Demos, Partys) statt. Darüber hinaus gäbe es gewisse Gruppen, „die man akzeptiert - tendenziell vielleicht auch sympathisiert...“. In diesem Zusammenhang nennt Bo die „Schickeria“ vom FC Bayern, die „Ultras Frankfurt“, sowie Gruppen vom NAC Breda (Holland) und von Celtic Glasgow 40 (Schottland). Bei diesen Beispielen beschränkt sich die Verbindung jedoch auf einzelne private Kontakte, die nicht für die ganze Gruppe stehen. Auch Orhan berichtet von guten Kontakten Einzelner zu anderen Gruppierungen, beispielsweise zu Anhängern des VfL Bochum. In der Gründungszeit profitierte die Gruppe zudem von Kontakten zu ausländischen Gruppierungen. Zu jener Zeit fanden auch zwei Ultrafeste in Stuttgart und Bremen statt, an denen 400-500 Leute aus über zwanzig Vereinen teilnahmen, was zu seinem Bedauern „heute leider nicht mehr möglich“ wäre, da es jetzt „voll uncool ist - irgendwen zu mögen“. Damals gab es noch eine szeneinterne Solidarität, die heute nicht mehr existiert, da sich die Gruppen „mehr und mehr zerstreiten“. Trotzdem pflegt ein Großteil der Gruppe immer noch eine Freundschaft mit den Ultras von Rot-Weiß Essen, mit denen es auch zu gegenseitigen Spielbesuchen kommt. Allerdings ist diese Beziehung zu Orhans bedauern „in den letzten Monaten ein bisschen abgeflaut.“ Gemeinsame Feiern, wie in der Vergangenheit öfter üblich, finden derzeit nicht mehr statt. Allgemein beschreibt er das Verhältnis zu Ultragruppen anderer Vereine als „zwar kein aktives Miteinander - aber relativ gutes Nebeneinander“. Anschaulich wird diese Einstellung an der Tatsache, dass sich die Eastside beim Verein immer dafür stark macht, die Gästefans im Stadion mit möglichst wenig Einschränkungen zu belegen. Denn gerade die Rivalität macht für Orhan auch „den Reiz des Fußballs“ aus. Spruchband- und Gesangsduelle mit anderen Gruppen, sowie volle Gästekurven sind für ihn das Salz in der Suppe: „Es ist langweilig im Stadion zu stehen - wo du keinen gegnerischen Fanblock hast.“ Auch Orhan erzählt vom Kontakt des CDAs zu den Ultra` Sankt Pauli. Dieser werde in der Eastside zwar durchaus toleriert, stoße jedoch bei den meisten auf kein Interesse, da „das alles zu politisch orientiert“ sei. Außerdem „mögen viele Pauli halt auch nicht.“ Das kann Bo bestätigen. Für ihn gilt St. Pauli „als meistgehasste Fanszene nach Bayern in Deutschland“. Daraus resultierend ergibt sich, dass USP von vielen Gruppen als ungeliebte Rivalen gesehen werden. So würden die Spiele gegen St. Pauli von oftmals von gegnerischen Anhängern zu höchst bedeutungsvollen Matches hochstilisiert, was Bo jedoch nicht interessiert: „Die ganzen Sachen, wo das nun `n Hass geben soll – da können wir nur drüber schmunzeln.“ Für ihn existieren derzeit nur zwei „Feindschaften in Anführungszeichen“. Da ist zum 41 einen die Rivalität zum Lokalkonkurrenten Hamburger SV, die Bo als „bestimmend“ bezeichnet. Zum anderen ist man bei USP neuerdings auf die Ultras vom Wuppertaler SV nicht gut zu sprechen, von denen man kürzlich nach einem Auswärtsspiel „aus dem Hinterhalt mit Flaschen angegriffen“ wurde, wobei es auch einige Verletzte gab. Solche Gewaltausbrüche seien jedoch nicht an der Tagesordnung. Zwar stehen die Gruppen für ihn alle in einer Konkurrenzsituation, was sich jedoch in der Regel darauf beschränkt, „dass man versucht seine Kurve besser darzustellen - als die des Gegners.“ Darüber hinaus ist seit einiger Zeit das Klauen des gegnerischen Banners „der absolute Volkssport geworden unter Ultragruppen“. Zu diesem sog. Fahnenklau hat Bo folgende Meinung: „Bei uns wird es halt so gesehen: Wenn sich das lohnt `ne Fahne zu klauen – also wenn das `ne Fahne ist die man gerne haben will – dann werden auf jeden Fall Leute auch versuchen so `ne Fahne zu kriegen“. Wichtig scheint ihm jedoch, dass es bei dem begehrten Objekt um die Banner einer Gruppe handelt, zu der USP eine Beziehung hat. Ein wahlloses „Abrippen“ von Fahnen, wie es seiner Meinung nach im Osten gehandhabt wird, hält er hingegen für „sinnlos“. Er berichtet von einem kürzlichen Zwischenfall mit den „Ultras Frankfurt“: Von diesen wurde im Rahmen eines Testspiels eine Schwenkfahne erobert, welche jedoch nach dem Spiel wieder zurückgegeben werden sollte, da man der Meinung war, dass es keine Verbindung zu Frankfurt gibt, die diese Aktion sinnvoll erscheinen ließe. Jedoch sei das Objekt dann „angeblich nicht angekommen“ bei seinem Besitzer, weswegen man nun „Knatsch“ mit den Ultras Frankfurt habe, die ihrerseits nun reagieren wollen. Generell sieht Bo den Fahnenklau als „sportlichen Wettkampf“, der seiner Auskunft nach schon seit 40 Jahren ein Element von Fankultur sei. Wichtig ist ihm hierbei aber vor allem, dass das begehrte Objekt nicht in Überzahl oder mir roher Gewalt entwendet wird, sondern mit „List und Taktik“, andernfalls sei es für ihn „keine Trophäe“. Deswegen sei es auch entscheidend, dass keine „stinknormalen Fanclubfahnen“ geklaut werden, sondern nur solche von rivalisierenden Ultragruppen. Orhan hat zu diesem Thema eine völlig andere Einstellung. Fahnenklau, dessen Ursprünge er in Italien und vor allem Polen ortet, empfindet er als „albern“. Er betont, dass es bei solchen Aktionen immer wieder auch zu körperlichen Auseinandersetzungen komme, „da sich das natürlich keiner freiwillig abnehmen 42 lässt.“ Er stellt klar, dass man das eigene Banner, auf welches viele Gruppen „scharf“ sind, auf jeden Fall verteidigt. Die Eastside selber werde sich jedoch nicht an diesem „Modegag“ beteiligen: „Wir selber haben gesagt – wir lassen`s. (...) Das ist für mich nicht mein Ziel die größte Prollgruppe zu haben. (...) Wir gehen da nicht mit und werden auch gar nicht erst versuchen anderen Leuten die Fahnen zu zocken. (...) Ist reine Selbstdarstellung. (...) Wenn ich so was einmal mache- dann lade ich die anderen quasi auch ein das bei uns zu versuchen. (...) Wenn du irgendwo allein auf dem Bahnhof stehst und die kommen dann da vorbei und dann kriegst du halt auf`s Maul – muss nicht unbedingt sein.“ Die Rolle von Gewalt in der Ultraszene Bo erzählt, dass seine Gruppe in der Regel keine körperlichen Auseinandersetzungen mit anderen Fans suche. Eine Ausnahme bestehe allerdings in der Situation, „wenn da wirklich irgendwo mal Nazis sind“. Allerdings sei er mit seiner Gruppe schon Angriffen gegnerischer Fans ausgesetzt gewesen. Zu Beginn der Saison wurden Mitglieder seiner Gruppe nach einem Spiel in Wuppertal von den dortigen Ultras mit Flaschen angegriffen und verletzt. Er räumt ein, dass „Gewalt auf jeden Fall ein Element von Ultrabewegung“ sei. Dafür gäbe es seiner Meinung nach zwei Gründe. Zum einen nennt er die große Identifikation der Gruppen mit ihrem Verein, zum anderen könne es bedingt durch die Tatsache, „dass man als geschlossener Mob auftritt“, immer wieder passieren, „dass man aneinander rasselt“. Solche Situationen könnten im Umfeld von Fußballspielen, immer wieder passieren, werden jedoch von ihm nicht als allzu problematisch eingestuft: „Wo es nun `ne gewisse Vorgeschichte gibt - wird (...) es auch immer wieder vorkommen - dass auch Ultragruppen bei solchen Spielen die Konfrontation suchen - aber dass (...) `n Aufleben der Hooliganszene durch Ultrabewegung passiert - seh ich persönlich überhaupt nicht.“ Seiner Meinung nach sei keine Radikalisierung der Gewalt zu beobachten. Das liege zum einen daran, dass die Gruppen mehr und mehr Zulauf von jüngeren Mitgliedern bekommen, und zum anderen glaubt er, dass „die Zeit - wo Ultra nun darin bestand - sich möglichst hart darzustellen einfach vorbei ist“. Orhan schätzt die Lage etwas anders ein. Seiner Meinung nach nimmt das Gewaltpotential zu. Als Ursache hierfür nennt er das Aussterben der 43 Hooliganszene. Nach deren Niedergang seien die Ultragruppen ein „Anziehungspunkt (..) für viele, die halt gerne nur rumprollen und rumpöbeln“. Allerdings schränkt er im weiteren Verlauf seine Einschätzung dahingehend ein, dass es nur einzelne seien, die sich „als Freizeitchaoten versuchen“, wohingegen ein Gleichsetzen von Ultragruppen mit Hooligans „Blödsinn“ sei. Er berichtet allerdings, dass beim Fahnenklau oftmals körperliche Auseinandersetzungen nicht ausbleiben. Außerdem gebe es seiner Einschätzung nach vor allem im Osten Gruppen, „die überfallen sich auch an Nicht-Spieltagen (...) und hauen sich auf`s Maul – das finde ich einfach nur krank. Diejenigen machen alles kaputt - was die anderen halt versuchen mit Pro-Fans und so wieder aufzubauen.“ Solche Gruppen, „die versuchen sich über Gewalt zu präsentieren“, werden seiner Einschätzung nach bis 2006 durch die starke Repression „von der Bildfläche verschwunden“ sein. Im Internet kommuniziert er auch aktiv mit Leuten, die Gewaltbereitschaft an den Tag legen und versucht diese von seiner Einstellung zu überzeugen: „Ich hab neulich mit einem aus Basel im Internet diskutiert - der meinte `wenn sich zwei Gruppen begegnen - dann müssen mindestens Flaschen fliegen´ - ich sag `hoffentlich kommst du mal irgendwann zu der Einsicht - dass das halt nicht unbedingt sein muss – aber hoffentlich nicht erst durch `n schlimmen Zwischenfall - dass du oder `n guter Freund von dir im Krankenhaus liegt.´“ Welche Erfahrung auch Orhan in seiner Gruppe bestätigt, ist die geringe Gewaltbereitschaft gerade bei jüngeren Mitgliedern, die in der Eastside in großer Zahl vertreten sind. Er fasst zusammen, dass seine Gruppe bemüht sei, sich aus gewalttätigen Situationen rauszuhalten. 4.4.4 Die Problemschwerpunkte und Ideologien der Gruppen Sicht auf zunehmende Kommerzialisierung des Profifußballs Orhan steht der zunehmenden Kommerzialisierung und Eventisierung im Profifußball äußerst kritisch gegenüber. Er steht dem seit einigen Jahren anhaltenden Boom der Bundesliga eindeutig mit negativen Gefühlen gegenüber. Am heftigsten beklagt er den Wandel in der Zuschauerstruktur: Weg vom typisch 44 proletarischen Publikum („das war so`n bisschen der Pöbel“) hin zu Familien aus der Mittelschicht und zu Businesskunden: „Die wollen halt `n gut betuchtes Publikum haben - was viel zahlt – und die Leute kommen. (...) Die Haupttribüne besteht doch bald nur noch aus Sesseln – die sind fünf Minuten vor der Halbzeit doch schon leer - weil die alle am Kaviarstand stehen.“ Orhan beklagt sich über Publikumsanimation durch Cheerleader oder Einkaufsmöglichkeiten im Stadion, weil diese Sachen für ihn nichts mit Fußball zu tun haben und einzig und allein unter kommerziellen Gesichtspunkten betrieben würden. Leicht resignierend erkennt er aber auch, dass dieser Trend wohl nicht mehr aufzuhalten sei, da die Masse der Stadionbesucher auf diese Form von Unterhaltungsprogramm gar nicht verzichten wolle: „Aber das ganz wegkriegen – das kannst du eh nicht mehr (...) dafür stehen die Leute halt nicht mehr.“ Bo nimmt zum Thema Kommerzialisierung nur mit Bezug auf den eigenen Verein Stellung. Ihn stören vor allem „diese ganzen Werbekampagnen – die ganze Ausrichtung des Vereins – wie der Verein sich präsentiert“. Ganz besonders seine Gruppe sieht er vom FC St. Pauli kommerziell ausgebeutet: „Alles was dieser Verein vermarktet und macht ist im Prinzip das - was USP macht – die Stimmung - die Spruchbänder...“ Auch Orhan stört sich sehr an der Verkaufsstrategie von Werder Bremen. Er prangert hier vor allem den Ausverkauf der Vereinsfarben an. So trägt die Mannschaft seit Beginn der abgelaufenen Saison statt der traditionellen Vereinsfarben Grün und Weiß ein Dress in den Farben Grün und Orange. Laut Orhan dient die neue Farbgebung einzig und allein der Steigerung des Absatzes, für ihn stehen jedoch ideelle Werte höher als Mehreinnahmen für seinen Fußballverein: „Grün-Orange das sagt mir nichts – das ist einfach nur `ne Farbe die dazu genommen worden ist um halt die Verkaufszahlen zu steigern -- was leider auch geklappt hat.“ Er klagt: „Ein bisschen Tradition sollte man schon weiterführen – ist eh alles so kommerziell geworden und da sollte man nicht auch noch die Vereinsfarben verschachern“. Für beide Gruppen trübt also diese Haltung ihrer Vereine das Verhältnis zum Club schon erheblich. 45 Haltung zum Verein Wie im letzten Abschnitt schon zu bemerken war, äußern beide Interviewpartner starke Kritik an der Politik ihrer Vereine. Orhan betont, dass seine Gruppe sich zur Vereinspolitik „eigentlich immer äußert“. Oftmals geschehe dieses in Form von Spruchbändern, worauf der Club durchaus auch „ein bisschen angesäuert reagiert“. Er ist der Meinung, dass sich der Verein Fans wünsche, die kritiklos konsumieren. Trotzdem ist es ihm wichtig, dass man sich seine eigene Meinung nicht verbieten lässt. Die geäußerte Kritik richtet sich in aller Regel im Kern immer gegen überschweifendes Kommerzstreben des Vereins. So prangert Orhan neben dem eben erwähnten „Ausverkauf“ der Vereinsfarben zum Beispiel eine Aktion an, bei der der Club zum Pokalfinale Werderfahnen mit dem Logo eines Sponsors an die Fans verteilt hat: „Hol Ab lacht sich ins Fäustchen (...) für die ist das natürlich `n toller Werbegag.“ Eben zu diesem Spiel lief auch der Kartenvorverkauf durch den Verein sehr „merkwürdig“ ab: Da es deutlich mehr Vorbestellungen als tatsächlich Karten für die Begegnung gab, sollte ein Losverfahren über die Vergabe der begehrten Tickets entscheiden. Allerdings hat laut Orhan niemand aus der Eastside eine Karte erhalten, der nicht auch zusätzlich die Fahrt mit dem Sonderzug gebucht hatte. Vielsagend bemerkt er: „Den Sonderzug organisiert Werder (...) und verdient da halt dann dementsprechend dran.“ Auch zum bevorstehenden Transfer des Stürmerstars Miroslav Klose hatte ein Teil der Eastside arge Bedenken. Es wurde ein Transparent mit dem Aufdruck „Klose – Nein danke“ im Stadion präsentiert. Aufgrund der bisweilen geäußerten Kritik kommt es auch manchmal zu Konflikten mit dem Club. So, berichtet Orhan, hatte man zur Überreichung der Meisterschale durch den Ligavorsitzenden Werner Hackmann ein Plakat mit der Aufschrift „Hackmann halt`s Maul“ vorbereitet, da dieser ebenfalls Mitglied beim Erzrivalen Hamburger Sportverein ist. Darauf hin drohte Werder Bremen mit dem Abstellen der Mikrofonanlage der Eastside, falls das Plakat nicht verschwinden würde, da ein solches Verhalten „ja dem sauberen Image des Vereins schaden“ würde. Doch auch diese Drohung konnte die Eastside nicht von ihrer „Meinungsäußerung“ abhalten. Ebenso wurde nach einer vom CDA organisierten Choreographie der entsprechenden Gruppe mitgeteilt, dass sie ihr Emblem („ein schwarzes 46 Männchen mit `ner Zwille“), welches im Rahmen dieser Kurvenshow auf Fahnen und Doppelhaltern zu sehen war, in Zukunft nicht mehr im Stadion zeigen dürfen. Auch dieses kann Orhan nicht nachvollziehen („albern“) und vermutet das dem Verein das Symbol „irgendwie zu radikal“ gewesen sei. Trotzdem würde Orhan das Verhältnis seiner Gruppe zum Club nicht als schlecht einstufen. Seiner Meinung nach sei der Verein der Eastside gegenüber „eigentlich relativ tolerant“. Es würden ansonsten kaum Aktionen oder Equipment im Stadion verboten, was bei anderen Vereinen keine Selbstverständlichkeit sei. Davon profitieren im gleichen Maße auch die Gästefans, was laut Orhan ebenso ein Verdienst seiner Gruppe sei, da diese sich dem Verein gegenüber immer für eine diesbezügliche Chancengleichheit stark gemacht hat. Insgesamt betrachtet erfahre die Eastside letztendlich eine gute Unterstützung durch Werder Bremen. Die Gruppe habe sogar einen eigenen Schlüssel für das Stadion, um dort z.B. Fahnen zu basteln oder Choreographien vorzubereiten. Für gewisse Ereignisse (Pokalendspiel) habe der Club auch schon mal finanzielle Hilfe angeboten, die jedoch bis auf eine Ausnahme (Vereinsjubiläum) immer abgelehnt wurde, damit es nicht „das nächste mal wenn du Kritik übst heißt – hier – haltet die Klappe, wir haben euch Geld gegeben“. So werde also äußerster Wert auf eine gewisse Unabhängigkeit gelegt. Man möchte sich keines falls „vor`n Karren spannen lassen“, wie das Beispiel einer von Verein und Sponsor organisierten Choreographie belegt, bei der die Gruppe auf Anfrage ihre Mitarbeit verweigerte. Um das gute Verhältnis zum Verein jedoch nicht zu sehr zu trüben, bemühe sich die Eastside ihrerseits, durch gewisse Verhaltensweisen Schaden vom Club fernzuhalten. So existiere beispielsweise „seit Jahren“ ein freiwilliger Verzicht auf das Abrennen Pyrotechnischer Gegenstände bei Heimspielen: „Weil wir uns gesagt haben - warum sollen wir uns da mit dem Verein anlegen (...) dann dürfen halt dann keine Choreos mehr machen (...) und es kann auch nicht der Sinn sein dem Verein hohe Geldstrafen durch die DFL zu bescheren.“ Zur Mitgliedschaft im SV Werder hat Orhan keine klare Meinung. Er erzählt, dass im Gegensatz zu anderen Ultragruppierungen (z.B. „Commando Cannstadt“) eine Mitgliedschaft im Verein für Eastsidemitglieder nicht verpflichtend sei. Trotzdem seien einige im Verein, er selber jedoch nicht. Auch bei den Ultra` Sankt Pauli ist eine Vereinsmitgliedschaft keineswegs verpflichtend: „Wenn jemand sagt - du ich kann mir das nicht leisten - dann ist 47 das auch okay.“ Trotzdem besitzt dieses Thema für Bo äußerste Priorität. Er erzählt, bei USP laute „die Maxime (...) `rein in den Verein´“. Somit seien zahlreiche USP-Mitglieder grundsätzlich auch Vereinsmitglieder, vor allem in der „Abteilung Fördernder Mitglieder“ (AFM). Zweck dieser Mitgliedschaft sei jedoch keinesfalls die Finanzierung des Clubs, sondern die Möglichkeit der Einflussnahme, insbesondere durch das Stimmrecht auf der Jahreshauptversammlung und bei anderen Abstimmungen. Bo spricht davon, dass es ein nicht zu unterschätzender Machfaktor sei, wenn man „mal `ne Gruppe hat von 80-90 Leuten - die geschlossen für oder gegen was stimmen - bei 800-900 Leuten - die die Jahreshauptversammlung besuchen“. Insgesamt beschreibt Bo im Gegensatz zu Orhan das Verhältnis zum Club als „sehr schlecht“. Früher sei es mal sehr gut, wenn auch distanziert gewesen, dann jedoch mit der Wahl Corny Littmanns zum Präsidenten ging es rapide bergab. Hier nennt er vor allem die gegen USP-Mitglieder ausgesprochenen Stadionverbote und die „ganzen Werbekampagnen - die ganze Ausrichtung des Vereins – wie der Verein sich präsentiert“ als die Hauptgründe für den heute bestehenden massiven Konflikt. Damit und auch durch den Abgang vieler „korrekter Leute“ haben Vorstand und Pressesprecher „viel Sympathie eingebüßt“. Lediglich das Verhältnis zum Organisationsleiter sei laut Bo bis heute immer noch sehr gut, da „man auf einer Ebene funkt“. Allerdings räumt er ein, dass seitens des Vereins die Akzeptanz durchaus noch vorhanden sei. So wäre es zum Beispiel kein Problem, einen Termin mit dem Stadionsprecher zu bekommen. Und auch wenn man mit dem Präsidenten sprechen wollte, „dann spreche ich in naher Zukunft auch mit dem“. Hierzu fügt er an, dass die meisten Mitglieder auf solch ein Treffen mit Offiziellen mittlerweile gar keinen Wert mehr legen würden. Allerdings hegt er die Hoffnung, dass in naher Zukunft ein neuer Vorstand kommen wird und somit die Akzeptanz der Ultra` Sankt Pauli beim Verein wieder steigt. Denn ausreichend gewürdigt sieht er seine Gruppe durchaus nicht: „Das alles was dieser Verein vermarktet (...) - ist im Prinzip das was USP macht – die Stimmung - die Spruchbänder (...) – dafür muss ich sagen haben wir ´ne ausgesprochen schlechte Lobby im Verein.“ Probleme bei der Mitnahme von Materialien ins Stadion gibt es beim FC St. Pauli nicht. Ebenso toleriert der Verein den USP-Stand sowie das Verteilen von Flyern 48 im Stadion. Darüber hinausgehende Unterstützung, speziell finanzieller Natur, lehnt man auch bei Ultra` Sankt Pauli kategorisch ab. Verhältnis zu Spielern und Mannschaft Bo berichtet, dass zum Zeitpunkt des Interviews das Verhältnis zwischen Mannschaft und Fanszene am Tiefpunkt sei. Ursache hierfür ist die sportliche Misere, die in der kürzlich erlittenen Derbyniederlage gegen die Amateure des Hamburger SV ihren vorläufigen Höhepunkt fand. Auch wird die mangelnde Identifikation der Spieler mit dem Verein und dem Stadtteil beklagt: Allgemein sei „das Credo vorherrschend - `was interessieren mich die Spieler - (...) das sind Angestellte - (...) die spielen jetzt `ne Saison hier und spielen dann wieder `ne Saison woanders´ - also Identifikation fällt schon schwer“. Er erzählt von einem vom Verein organisierten Stadtteilrundgang der Mannschaft und fügt bissig an: „Das wird für viele Leute das einzige mal sein - dass sie durch den Stadtteil schlendern - es sei denn - auf dem Kiez saufen gehen“. Für Bo legen die Spieler eine „Söldnermentalität“ an den Tag. Allerdings schraubt er seine Ansprüche an sie aber auch dahingehend herunter, dass es ihn durchaus schon zufrieden stellt, „wenn da ´n paar korrekte und `n paar nette Söldner bei sind“. Es würde ihn äußerst freuen, wenn die Spieler sich auch mal mit den Fans treffen und austauschen würden, wenn sie interessiert an der Fanszene wären und die Aktionen der Fans würdigen würden. Hierbei wäre es Bo vor allem wichtig, dass das Engagement von den Spielern selber ausgeht: „alles andere ist für mich wertlos - (...) also - wenn ich schon höre die Mannschaft wird beordert (...) zu `ner Videopräsentation zu kommen (...) und stehen da und kucken auf die Uhr dann denk ich mir –ohne Groll- aber dann sollen die Leute sich doch verpissen.“ An vom Verein organisierten Treffen der Spieler mit den Fans nimmt Bo daher auch nicht mehr teil. Schließlich hebt er jedoch einige Spieler positiv heraus, vor allem „Spieler - die schon länger bei St. Pauli sind“. Dabei ist der sportliche Wert für das Team zweitrangig (u. a. der Ersatztorwart!). Mit diesen Spielern sei „der Kontakt auch wirklich was wert“. Trotzdem schränkt er ein: „Aber nun per se zu sagen - das sind meine Helden - weil sie jetzt für den FC St. Pauli spielen – ich glaub das sieht keiner im USP-Umfeld so.“ 49 Eine Idolisierung der Spieler findet auch bei der Eastside nicht statt. Auch Orhan klagt über mangelnde Identifikation mit dem Verein und mangelndes Interesse der Spieler an den Fans. Er bezeichnet das Verhalten der meisten Profis als „mehr als armselig“ und „arrogant“. Zum einen störe es ihn, dass die Spieler nach einigen Spielen nicht an den Zaun zu den Fans kommen. Er meint, dies wäre vor allem für die jüngeren Anhänger ein tolles Erlebnis. Außerdem wünscht er sich, dass die Spieler mal Interesse für die Aktionen seiner Gruppe zeigen oder sogar mal ein persönliches Lob dafür aussprechen würden. Er stellt die Frage, wie man sich als Fan mit Spielern wie Topstar Ailton identifizieren soll, die nur aus finanziellen Gründen den Verein wechseln. Am liebsten seien ihm Spieler wie Ismael und vor allem Nelson Valdez, weil diese „halt alles geben oder halt wirklich auch mal in die Kurve kommen - die Leute abklatschen oder auch wirklich mal versuchen mit den Fans zu reden“. Letzterer ist bei der Eastside auch deswegen besonders beliebt, weil der Kontakt zum Spieler schon aus dessen Zeit in der Amateurmannschaft besteht, zu deren Spielern der Kontakt deutlich besser ist: „Mit denen haben wir auch schon mal `n Bierchen getrunken und die haben uns zum Grillen eingeladen (...) auch wenn man die auf der Straße trifft – einige begrüßen dich“. Im Gegensatz zu „den Herren Profis“, die Orhan aber auf der anderen Seite auch verstehen kann, denn „den ganzen Tag will einer was von einem“. Trotzdem meint er, die Spieler sollten „schon wissen - wo die Leute sind - die wirklich jeden Scheiß... – die hinterherfahren - sehr viel Zeit und Geld auch opfern - um halt für den Club und für die Mannschaft was zu bewegen“. Orhan berichtet, dass einige Eastsidemitglieder sogar den Abstieg der Profimannschaft in Kauf nehmen würden, damit mehr junge Spieler aus den eigenen Reihen im Kader stehen würden. Diese Haltung bezeichnet er persönlich jedoch als „totalen Blödsinn“. Repression durch Ordnungsdienst, Polizei und Stadionverbote Der Ordnungsdienst, eigentlich für Sicherheitsaspekte im und ums Weserstadion zuständig, überprüft auf Anweisung des Vereins die Transparente und Spruchbänder der Eastside auf beleidigenden Inhalt. Das Verhältnis zu diesen Ordnern beschreibt Orhan als problematisch. Er berichtet von diversen Schikanen, 50 welche seine Gruppe regelmäßig über sich ergehen lassen muss: „Die provozieren einen halt (...) und kapieren eigentlich immer noch nicht - was wir da eigentlich machen.“ Werden zum Beispiel Choreographien vorbereitet, so werde man „ewig wieder nach seiner Arbeitskarte gefragt - obwohl man da schon zehn mal rein und raus gerannt ist“. Gerade auch bei den Spielen der Amateure seien immer wieder Leute dabei, die „versuchen einen wirklich immer anzupissen - quasi anzumachen“. Kürzlich bei der Meisterfeier im Stadion eskalierte die Situation, als der Ordnungsdienst einige Leute, welche die Zäune zum Innenraum überstiegen hatten, mit grober Gewalt angriff. Nach diesen Vorfällen habe der Verein jedoch der Sicherheitsfirma „die gelbe Karte gezeigt“, weswegen Orhan nun hofft, dass sich das Verhältnis in der Zukunft verbessert. Beim FC St. Pauli haben die Ultras mit dem Ordnungsdienst bei Heimspielen „bis auf wenige Ausnahmen keine Probleme“. Bei Auswärtsspielen, so berichtet Bo, sei dieses je nach Stadt und Ordnungsdienst unterschiedlich: „Das kann sein - dass man total korrekte Ordner trifft - andererseits kann man auch auf den letzten Kotzbrocken da treffen.“ Insgesamt wird dieses Thema von ihm jedoch nicht großartig problematisiert. Anders sieht es da beim Verhältnis der Gruppe zur Polizei aus. Bo bezeichnet dieses als „momentan sehr schlecht“. Er räumt zwar ein, „dass aller Ärger - der im Umfeld des FC St. Pauli passiert (...) von den Skinheads oder USP ausgeht (...) kann man ja auch ehrlich sein.“ Allerdings beschränke sich dieser „Ärger“ auf Sachen, „wo die Bullen sich drüber ärgern – über Spruchbänder - über Aktivitäten - über Aufforderungen - über Darstellungen und Berichte und so was.“ Die Repression als Antwort darauf, empfindet er als zu stark und unangemessen: „Alles was wir machen wird auf Schritt und Tritt verfolgt durch zivile Ermittler teilweise kommen die zu unseren Spielen vom Verfassungsschutz.“ Die Ursache hierfür sieht er zum einen in der Tatsache begründet, „dass man als Gruppe auftritt“ und zum anderen in der politischen Ausrichtung der Ultra` Sankt Pauli, der „Verstrickung mit der linksradikalen Szene in Hamburg“. Seiner Meinung nach habe allerdings „dieser Staat `n Problem - wenn der so `ne Gruppe Fußballfans vom Verfassungsschutz beobachten lässt“. Lachend fügt er hinzu: „Ich seh` die Gefahr für die Verfassung der Bundesrepublik Deutschland also als nicht so extrem an – um das mal `n bisschen polemisch auszudrücken“. 51 Bo erzählt, dass es bei der Hamburger Polizei zwei Beamte gebe, die sich ausschließlich mit den Ultra` Sankt Pauli beschäftigen. Diese machen ihre Arbeit seiner Ansicht nach äußerst schlecht. Beispielhaft hierfür sei die Vermutung der Behörde, die Gruppe würde beim Derby gegen den HSV eine große Aktion mit bengalischen Feuern veranstalten, was via Polizeifunk mitgehört werden konnte. Dabei publiziere USP schon seit zwei Jahren einen Verzicht von Pyrotechnik bei den Spielen der ersten Mannschaft. Bo dazu: „Also ich denke mal - wer sich jeden Tag damit beschäftigt - der könnte das schon wissen. (...) [das] ist nur ein Beispiel für so Dinge - wo ich mir eigentlich denke - also machen die ihren Job gar nicht oder wie schlecht?“ Teilweise würden Leute von zivilen Polizisten vom Stadion bis zu ihrer Privatwohnung begleitet und „Personalien werden gesammelt - wie das Eichhörnchen Nüsse im Herbst“. Mitglieder der Gruppe werden sehr stark stigmatisiert. Bo berichtet von Gruppenmitgliedern, welche auf Demonstrationen in Gewahrsam genommen wurden, „und wurden dann durchsucht und als dann der USP-Ausweis aus`m Portemonnaie gezogen wurde - hieß es dann ´ach so alles klar - weiß ich Bescheid - schick den mal da hinten hin`“. Er sieht seine Gruppierung auch stärker im Fadenkreuz der Polizei als andere, vergleichbare Gruppen in Deutschland: „Ich glaube Ultras Fürth machen das selbe und haben nicht `n Zehntel soviel Repression.“ Er berichtet, dass das Ziel der Polizei bei all diesen Aktionen die Zerstörung der Gruppe sei: „Die Polizei hat sogar mal in `ner Sicherheitsbesprechung gegenüber dem Verein geäußert - dass sie USP auch wirklich kaputt machen wollen – das die dann auch lieber jetzt `ne Gruppe mit 100 Leuten kaputt machen und zerschlagen - als in drei Jahren vielleicht `ne Gruppe mit 300 Leuten - mit denen man dann mit polizeilichen Mitteln nicht mehr Herr werden kann.“ Bo kann die gegen die Gruppe gerichteten Maßnahmen nicht nachvollziehen. Seiner Ansicht nach stehen die Ultra` Sankt Pauli bei den Behörden in einem völlig falschen Licht. Er berichtet, dass einige Gruppenmitglieder bei der Polizei als C-Fans (gewaltsuchend) geführt werden, was aber nicht im geringsten der Realität entspreche. Zu diesem Umstand stellt er zwei Thesen auf. Entweder machen die Beamten ihre Arbeit so schlecht, dass sie zu solchen (falschen) Ergebnissen gelangen – oder aber „das ist Taktik von denen - dass die falsche Infos rausgeben“. Um das Bild der Gruppe ins richtige Licht zu rücken appelliert 52 er: „Das ist einfach auch was ich auch dann gerne mal publizieren möchte - auch an die Polizei -- bei uns in der Gruppe - unter all diesen hundert Leuten - da ist keiner C - da geht keiner zum Fußball um sich zu hauen oder so – (...) wie das von der Polizei dargestellt wird - das ist einfach nicht wahr.“ Orhan sieht das Verhältnis seiner Gruppe zur Polizei als nicht ganz so problematisch an. Allerdings unterscheidet er hierbei zwischen den verschiedenartigen Vorgehensweisen der Polizei bei Heim- und Auswärtsspielen. Mit der Bremer Polizei sei der Kontakt in Ordnung: „Unsere szenekundigen Beamten - die kennen uns alle und wir sie – die sind alle ganz okay - da gibt`s halt auch wieder viel negativere Beispiele aus anderen Städten.“ Anderenorts, so fährt er fort, würden die Ultragruppen oftmals von der Polizei schikaniert (z.B. würden Busse gefilzt), in Bremen liefe das jedoch „auf `ner relativ fairen Basis ab“. Er berichtet, dass man mit den szenekundigen Beamten auf Auswärtsfahrten sogar „relativ gut quatschen“ könne, unterstreicht aber, dass eine Kooperation mit diesen absolut nicht besteht: „Man darf nicht vergessen - das sind den ganzen Tag Polizisten (...) dass man denen nicht zu viel erzählt“. Außerdem scheint ihm die Präsenz der SKB´s12 auch nicht wirklich angenehm oder notwendig zu sein: „Den ganzen Tag die Leute – ich brauch keinen Aufpasser an der Hand.“ Recht heftig kritisiert Orhan hingegen das Auftreten der Polizei bei Auswärtsspielen, wobei er gerade in Nordrhein-Westfalen, Bayern und Hannover schlechte Erfahrungen gemacht hat. Oftmals fühlt er sich bei Auswärtsfahrten von der Polizei unfair behandelt: „Auswärts wirst du oft schikaniert oder so und musst halt sehen - dass du dich nicht von jedem Arschloch so provozieren lässt – viele legen`s nur drauf an halt ihre Quoten für Verhaftungen hochzutreiben – gerade viele Jüngere meinen dann gerne bei der Polizei sie können den Rambo spielen.“ Eine weitergehende These für den Hintergrund dieser Vorgehensweise hat er auch: „Ich persönlich bin der Meinung - dass es sowieso im Hinblick auf die WM – dass der Innenminister irgendwie `ne Quote vorgegeben hat - so und so viele Leute müsst ihr aus dem Verkehr ziehen – und die versuchen`s halt mit allen Mitteln zu erfüllen. Da werden Leute verhaftet - wegen Lächerlichkeiten in die Datei Gewalttäter Sport aufgenommen“ Als Fußballfan fühlt Orhan sich oftmals „wie ein Schwerverbrecher“: „Ist schon zum Kotzen - wenn du auswärts irgendwo ankommst - steigst aus dem Bus und da steht schon so `ne Horde Grüne quasi mit 12 Szenekundige Beamte 53 gezückten Knüppeln – das ist für mich provozieren – obwohl noch keiner was gemacht hat - alle fröhlich aus dem Bus steigen“. Er berichtet von Spielen, bei denen die Polizei mit Pferden die Gruppe zusammen hielt und wo seiner Einschätzung nach auf jedes angereiste Eastsidemitglied ein Polizist kam. Dieses empfindet er als vollkommen unangemessen und fühlt sich in vielen Situationen als Fußballfan seiner Grundrechte beraubt: „Wer möchte schon irgendwo ankommen und gleich wie der letzte Asi behandelt werden. Ich mein jeder hat irgendwo auch seine Grundrechte - und wenn du da in irgend ein Loch gesperrt wirst oder am Bahnsteig festgehalten - willst mal auf die Toilette gehen und die sagen du darfst nicht – das ist für mich dann schon irgendwo ziemlich krass“ Dazu komme der Umstand, dass laut Orhan mit den Beamten auch keine vernünftige Kommunikation möglich sei. Dabei denkt er, das viele Auseinandersetzungen durch ein besonneneres Auftreten der Polizei zu verhindern wären. Da dieses in der Realität aber nicht passiert, müssen die Ultragruppierungen mit den Konsequenzen der Repression leben. Die Härteste ist das Stadionverbot, von dem Mitglieder beider Gruppen aktuell betroffen sind. Wie reagieren die Ultras auf dieses Bedrohungsszenario? Orhan erzählt von Bremer Fußballfans, welche an Randale beteiligt waren und deshalb mit Stadionverboten belegt wurden. Seiner Ansicht nach dürfe man sich in diesem Falle über die Sanktionen auch nicht beschweren. Er erwartet, dass Gruppen, die gewalttätige Auseinandersetzungen suchen, auf die Weise bis zur WM 2006 von der Bildfläche verschwinden werden. Er persönlich möchte auf keinen Fall ein Stadionverbot riskieren und versucht sich auch dementsprechend zu verhalten, obwohl dieses durch häufige Provokationen seitens der Polizei nicht immer allzu einfach sei. Trotzdem ist er der Meinung, dass man sich als Fußballfan nicht alles gefallen lassen dürfe und sich somit in einem gewissen Rahmen auch gegen Schikanen von Polizei und Ordnungsdienst zur Wehr setzen sollte. Um die Situation zu entspannen, legt er großen Wert darauf, das Image der Gruppe in der Öffentlichkeit zu verbessern: „Dass uns halt nicht jeder als Randalebrüder sieht (...) leider versuchen einige sich auch als Freizeitchaoten – aber ich seh es anders und die meisten von uns auch – wir kämpfen (...) für`n positiveres Image von aktiven Fußballfans.“ 54 Auch bei den Ultra` Sankt Pauli reagiert man auf die repressiven Maßnahmen mit verschiedenen Mitteln. Zum einen versuche man „möglichst wenig Anlass zu geben - wo`s nicht unbedingt nötig ist“. Dazu zählt der Verzicht des Einsatzes von Pyrotechnik bei den Spielen der ersten Mannschaft oder aber auch der Verzicht des „Herumlungerns“ vor dem Ausgang der Gästekurve nach Spielende. Neben dieser „defensiven“ Taktik sei es laut Bo aber ebenso wichtig, „das man auch eigene offensive Punkte setzen muss, um nicht zum absoluten Opfer zu werden von Repression“. Dazu zählt er beispielsweise ein geschlossenes Auftreten der Gruppe, sowie das „Verhindern - dass da einzelne Leute rausgegriffen werden“. Zudem werden den derzeit mit Stadionverboten belegten Mitgliedern die Fahrten zu den Auswärtsspielen bezahlt, damit diese trotzdem vor Ort sind, ohne jedoch ins Stadion zu gehen. Dies scheint die Polizei bei ihrer Arbeit auch zu stören: „Das nervt die ganz gehörig - weil das Stadionverbot ist ja für die eigentlich das einzige Mittel (...) die wollen damit die Leute aus der Szene rausdrängen.“ Keinesfalls ist man bei den Ultra` Sankt Pauli zu einer Kooperation mit den in ihrem Umfeld operierenden zivilen Polizeibeamten bereit, darüber besteht in der Gruppe große Einigkeit. Einstellung zum Thema „Politik im Stadion?“ Bo spricht sich eindeutig für das Einbringen politischer Themen in den Fußballkontext aus, da für ihn der Fußball „generell nicht unpolitisch“ ist. Und so stellt er auch gleich zu Beginn klar: „Eine linke Orientierung ist wirklich ganz stark manifestiert in der Gruppe (...) dieses football without politics, das ja die allermeisten Gruppen vertreten -- [ist etwas] womit wir nun überhaupt nichts anfangen können.“ Er kritisiert diese Einstellung der meisten anderen Ultragruppen: „Alles in dieser Gesellschaft was man macht ist in meinen Augen politisch – und die größte Farce ist es ja dann – diese ganzen Gruppen, die sich als unpolitisch bezeichnen sind in meinen Augen (...) nach rechts sehr viel offener als nach links.“ Für ihn ist eine Gruppe, die eine solche Meinung vertritt, unakzeptabel. Eine Gruppierung, „wo auch Faschisten oder Rechte drin sind - mit so `ner Gruppe will ich auch nichts zu tun haben - das würd ich auch ganz schwer nur als meine Gruppe akzeptieren.“ Politisches Wirken im Stadion ist für ihn aber auch mehr, als die reine Ablehnung von Faschisten im Fußballumfeld. Er bringt 55 an dieser Stelle auch gesellschaftliche Fragen mit ins Spiel: „Die ganze Gesellschaft entpolitisiert sich – und das der einzige Freiraum - den man im Prinzip noch hat – die Fankurve – alles überwacht - alles reglementiert in der Gesellschaft und dann so `ne Sache noch zu verschenken - in dem man sagt – ja, wir sind ja so unpolitisch – ist in meinen Augen der komplett falsche Weg.“ Bei den Ultra` Sankt Pauli werde daher nicht nur über Politik geredet, sondern auch aktiv politisch gehandelt. Das beginnt bei den Strukturen der Gruppe, die Bo als „der linken Szene nachempfunden“ beschreibt. Darüber hinaus veranstaltet USP aber auch Aktionen. Es wird gemeinsam an politischen Demos teilgenommen oder im Stadtteil plakatiert. Außerdem läuft seit Beginn der Saison, wie bereits erwähnt, eine Aktion zur Unterstützung von Flüchtlingen: „Zu jedem Spiel [werden] in Zusammenarbeit mit dem Flüchtlingsrat Hamburg fünf Asylbewerber oder fünf Flüchtlinge (...) eingeladen – (...) um einfach `n Kontrastpunkt zu setzen gegenüber der doch als rassistisch zu bezeichnenden Ausländerpolitik in diesem Land.“ Trotz allem politischen Engagements ist es Bo wichtig zu betonen, dass dies nur einen Teil des eigenen Selbstverständnisses ausmache: „Es ist ja nicht so - dass wir nun `ne politische Jugendgruppe wären - die dann auch mal zum Fußball gehen – sondern wir sind in erster Linie ganz klar St. Pauli-Fans - die halt nur ihre politische Orientierung oder das - was sie für gut befinden nun nicht am Stadioneingang lassen wollen – sondern auf solche Themen (...) im Rahmen des Fußballstadions aufmerksam machen wollen – und es ist ja nun auch nicht so dass wir da nur politisch Missionieren - sondern es ist halt ein Teil unseres Auftretens“. Die Wurzeln dieser starken Politisierung der Fanszene des FC St. Pauli sieht Bo schon weit zurückliegend: „Es ist ja nun so - dass St. Pauli generell `ne recht politisierte Fanszene [hatte] – und wenn man nun in so `ne Fanszene hineinwächst oder auch Nachwuchs generiert (...) ist es ganz natürlich - dass man selber auch politisiert wird – und wenn man in der Fanszene mitmachen will - nimmt man ja die Werte dieser Fanszene irgendwo auch an.“ Auch ihre Freunde suchen sich die Ultra` Sankt Pauli nach deren politischer Couleur aus. Auf die befreundete Gruppe aus Babelsberg wurde man aufmerksam, weil „die auch `ne richtig linke Kurve haben“ und die befreundeten Cercle d`Amis aus Bremen „verstehen sich auch als linke Fußballfans“. 56 Den Cercle d`Amis , beschreibt Orhan als „Untergruppierung“ der Eastside, welche im eigenen Fanlager zwar toleriert werde („die sollen ihre Kontakte nach St. Pauli pflegen - wenn sie sich so sehen“), aber er „und die meisten anderen“ Eastsidemitglieder sind „der Auffassung - Politik gehört nicht ins Fußballstadion“ und mögen deswegen den „FC St. Pauli und seine Fangemeinde“ auch nicht besonders. Er befürwortet sogar die Zensur von Spruchbändern mit politischer Aussage, weil „das gehört halt nicht dahin.“ Er erzählt: „Ich kann`s halt nicht nachvollziehen - wenn beim Pokalspiel Werder gegen St. Pauli Transparente hochgehalten werden – hier wegen dieser Bambulesiedlung da – so was hat für mich mit Fußball nichts zu tun und gehört für mich nicht ins Stadion (...) St. Pauli die in jede Scheiße Politik einfließen lassen“. Seiner Meinung nach zieht eine stark politisierte Fanszene problematische Gegenreaktionen an. Er berichtet von seinem letzten Besuch in Essen, als dort der FC St. Pauli zu Gast war: „Die ziehen dann halt rechtes Gesocks mit an (...) was da an Faschos rumgetigert ist die mit Rot-Weiß gar nichts zu tun haben.“ Er folgert: „Wer so drauf besteht - dass man das Eine vertritt – der muss sich nicht wundern wenn er mit dem Anderen konfrontiert wird.“ Darüber hinaus habe er auch beobachtet, dass „da auch wieder haufenweise Punks rumstanden - die auch mit St. Pauli selber nichts am H[ut haben] – die da nur hingehen – wir sind links wir gehen zu St. Pauli.“ Für Orhan spielt die politische Gesinnung eines Menschen keine Rolle, solange er diese nicht im Fußballkontext auslebt: „Es ist halt so dass wir auch ein zwei Leute haben die halt irgendwo rechts denken – und da gibt`s halt untereinander keine Probleme – deswegen sagen wir auch eigentlich immer alle – Politik hat im Stadion sowohl von der einen als von der anderen Seite einfach nichts zu suchen.“ Deswegen verhält sich die Eastside „politisch eigentlich völlig neutral.“ Um den Erfolg dieser Strategie zu verdeutlichen, erzählt er folgende Anekdote: „das war ein Bild für die Götter – vor zwei Jahren oder so – da saß Hubert13 mit einem von uns da - der ist halt bei der JN14 – die saßen zusammen haben schön einen gekifft und (lacht) das war`s – das ist für mich Toleranz – zu sagen – okay hier ist Fußball der Rest interessiert hier nicht.“ Aus diesem Grund lehnt Orhan es auch ab, die Vorbilder aus den italienischen Fankurven in jeder Hinsicht zu kopieren: „So `ne Kurve wie in Livorno oder 13 14 CDA-Mitglied, Name geändert „Junge Nationaldemokraten“ – Jugendorganisation der NPD 57 Bergamo die halt ganz stark links sind – oder Inter Mailand die total rechts sind möchte ich bei uns nie erleben.“ Eine antirassistische Einstellung ist für Orhan allerdings auch „keine politische – die ist für mich selbstverständlich – für mich macht sich einer der rechts ist total lächerlich wenn er hier im Stadion steht und Ailton ein Tor schießt und er ist der erste der seine Hand hinhält – klatsch mich ab“. Wenn Rassisten sich offen im Fußballkontext ausleben, befürwortet Orhan ein Einschreiten gegen diese Umtriebe. Er berichtet, wie man auf einer Zugfahrt zwei Nazis, die rechte Parolen skandierten zum Schweigen gebracht hat und erzählt, dass „auch im Weserstadion einige [rechte Skinheads] den Ausgang gezeigt bekommen“. Seiner Ansicht nach ist das Verschwinden rechter Parolen in deutschen Stadien auch ein Verdienst der verschiedenen Ultragruppierungen: „Urwaldgeräusche und so hörst du hier nicht mehr (...) da achten eigentlich fast alle [Ultragruppen] drauf dass das nicht mehr vorkommt.“ Allerdings: „Einige meinen dann sie müssten`s übertreiben und machen dann so einen auf pseudo-links – das nervt.“ Bo hingegen zeigt zum Ende des Interviews noch einmal deutlich auf, dass hinter der politischen Attitüde seiner Gruppe deutlich mehr steckt, als eine bloße Form der Darstellung aus Imagegründen: „Gerade um diesen Bogen zur gesellschaftlichen Entwicklung noch mal zu spannen – wenn ich mir jetzt diese Gesellschaft ankucke – dieses individualistische – kuck mal jetzt Hartz IV an – das ist der größte Einschnitt in soziale Belange (...) seit Gründung der Bundesrepublik – und was passiert? (...) diese Gesellschaft ist einfach so satt und so zufrieden – da bin ich froh dass man vielleicht über Fankurve über Ultra noch was anbieten kann was ankommt gegen Gamecube und mit der teuren Jacke rumprollen oder Saufen – und wenn ich dann sehe dass acht bis vierzehnjährige (...) was machen für ihre Kurve oder für ihre Gruppe dann find ich das einfach verdammt toll – und dann denk ich das ist vielleicht der richtige Weg dieser Entpolitisierung der Gesellschaft dieser Ellbogenmentalität bisschen was an Solidarität Zusammenhalt und Engagement entgegenzusetzen weil ich bin mir auch sicher dass die Leute die da jetzt aktiv werden auch in zehn Jahren noch auf Demos gehen werden – und wenn nur einer von den hundert irgendwann wirklich mal politisch aktiv wird - dann hat sich diese ganze Politisierung gelohnt.“ 58 Zukunftsaussichten Beide Interviewpartner sehen das Bestehen einiger deutscher Ultragruppierungen bis zur WM 2006 durch die starke Repression und das unkluge Verhalten dieser Gruppen gefährdet. Für die Zukunft der eigenen Gruppen setzen beide grundsätzlich auf eine Expansion, um bessere und größere Aktionen durchführen zu können. Allerdings meinen Bo und Orhan unisono, dass das Anwachsen der Gruppen im überschaubaren Rahmen bleiben müsse, da man ansonsten viele Mitläufer anziehen würde. Außerdem liefe man Gefahr, dass der interne Zusammenhalt leidet. Für Orhan ist es wichtig, dass die Eastside „sich weiterentwickelt“ und „gefestigter“ wird. Für ihn ist es ein Ziel, mit der Gruppe etwas zu schaffen, das Generationen von Fußballfans überdauern kann: „Das wir auch in vielen Jahren immer noch bestehen werden – vielleicht wenn unsereins schon auf der Tribüne sitzt dass da immer noch `n großer Kern in der Kurve stehen wird der halt mit der Fahne da noch steht“ Um dieses zu erreichen, müssten jedoch viele Fans, für die der Fußball bislang lediglich ein „Wochenendvergnügen“ wie „Skaten oder HipHop“ darstellt, überzeugt werden, dass man mehr investieren muss. Dann, so glaubt Orhan, könne sich „wirklich so `ne richtige Jugendkultur daraus entwickeln wie es halt in Italien und teilweise anderswo halt auch ist – dass das ganze da so `ne richtige eigene Kultur ist.“ Er glaubt, dass das „Potential an Aktiven da draußen“ durchaus vorhanden sei. Würde es gelingen dieses zu aktivieren, wäre es kein Problem „locker auf 500 Mitglieder zu kommen.“ Auch Bo sieht die Bewegung generell auf dem Vormarsch und derzeit an dem entscheidenden Punkt, „wo aus diesem Spaßguerillading – wir sind jetzt Ultras“ etwas Ernstzunehmendes „mit ganz viel an Infrastruktur entstanden ist“. Und so glaubt er, „wenn man sich das bewahrt und `n bisschen taktisch vorgeht (...) und sich in den nächsten zehn Jahren weiterentwickeln wird (...) wird das viele gute Kurven geben (...) die so wie in Italien oder Frankreich sind die man auch nicht mehr so einfach kaputt macht.“ Und so teilt Bo Orhans Hoffnung, dass „Ultra auf jeden Fall was [sein kann] was die Fankultur in Deutschland beherrschen wird.“ 59 5. Schlussbetrachtungen 5.1 Auslöser für die Entstehung einer neuen Fankultur Die Interviews haben gezeigt, dass die Gründe für die Entstehung der Szene vielschichtig sind. Hauptsächlich bekräftigen beide Interviewpartner jedoch, dass das ursprüngliche Anliegen ihrer Gruppen die Verbesserung der Atmosphäre im Stadion war. Orhan sieht die Ursache für den bis zur Gründung seiner Gruppe stetig zu verzeichnenden Stimmungsverfall eindeutig im Wandel der Zuschauerstruktur begründet. Er bestätigt damit nicht nur die Beobachtungen des Kicker Sportmagazins (s. 2.2.1), sondern auch die Einschätzung des Marktforschers Hartmut Zastrow, der von einer „Entproletarisierung“ des Fußballs spricht (vgl. Zastrow, 2005). Die Fanszenen lagen nach Einschätzung der beiden Interviewpartner gegen Ende der neunziger Jahre brach und bedurften einer Wiederbelebung durch neue Elemente. Für Orhan waren die Bilder italienischer Gruppen hinsichtlich der Unterstützung der Mannschaft vorbildhaft. Er bestätigt in dieser Hinsicht Gabriels Einschätzung, dass „ohne die Übertragungen der privaten Sportsender aus Italien (...) die deutschen Ultras wahrlich nicht denkbar“ seien (Gabriel, 2004: 183). Um die Stimmung in den Stadien wieder zu verbessern, erachteten beide ein Mehr an Engagement im Stadion als notwendig. Für sie sollte Fußball mehr sein, als nur im Stadion zu stehen und „zu saufen“. Orhan spricht darüber hinaus von der Erkenntnis „nicht länger nur ein Konsument sein“ zu wollen. Mit dieser Reaktion auf die immer weitreichendere Kommerzialisierung des Fußballs bestätigt er auch Ehlers These: „Wo bleibt da die Lust, wo die Leidenschaft, fragen zu recht viele Fans. Vor allem die jüngeren schließen sich Ultra-Bewegungen an“ (Ehlers, 2004: 51). Die neuen Gruppen wollten vor allem den akustischen, aber auch den optischen Support ihrer Teams organisieren, wobei auch die anderen Zuschauer in der Kurve zum Mitmachen motiviert werden sollten. Die Gründung der neuen Gruppen schien notwendig zu sein, um die Strukturen der damaligen Fanszene aufzubrechen. So sind die Ultragruppierungen keine offiziell eingetragenen Fanclubs im herkömmlichen Sinne, da diese meistens 60 relativ geschlossene Einheiten bildeten, wie Bo berichtet. Durch die neue offene Struktur der Gruppen waren diese sehr viel attraktiver für potentielle neue (vor allem auch wieder jüngere) Mitglieder, was ein schnelles Anwachsen der Gruppen begünstigte und somit für „frisches Blut“ und neue Ideen für die Fanszene sorgte. Beide Interviewpartner sprechen von der Fankurve als „Freiraum“, den man sich erhalten will. Somit sollen die Ultragruppierungen ein Beitrag zum Erhalt einer lebendigen Fankultur sein. 5.2 Die neuen Facetten der Ultrabewegung Die Interviews zeigen, dass die Unterschiede zwischen Ultras und „herkömmlichen“ Fußballfans prägnant und mannigfaltig sind. So ist z.B. nicht nur die Art des optischen und teilweise auch des akustischen Supports („neue Gesänge, längere Gesänge...“) während des Spiels neu, sondern auch der Anspruch, den die Ultras in dieser Hinsicht an sich selber stellen. Durch diese Herangehensweise ist eine neuartige Form der Konkurrenzsituation mit gegnerischen Gruppen entstanden, mit denen man sich nun gegenseitig im Wettbewerb um die Frage „Wer hat die beste Kurve?“ sieht. Um auf diesem Terrain das Beste zu geben wird von allen Mitgliedern der neuen Gruppen großer Einsatz verlangt. Ein übermäßiger Alkoholkonsum, wie er in der Vergangenheit oft im Zusammenhang mit Besuchern der Fankurve in Verbindung gebracht wurde, ist dabei eher hinderlich. Und so äußern sich auch beide Interviewpartner relativ verständnislos zu übermäßig alkoholisierten Fans im Stadion. Überhaupt kann man festhalten, dass die „Ultramanie“ (Falk, 2004: 98) ein Vielfaches mehr an zeitlichem und finanziellem Engagement beansprucht, als das beim Gros der bisherigen Anhängerschaften der Fall war - obwohl es sicherlich bei fast jedem Club ein paar Gruppen von „Allesfahrern“ gibt, die kein Spiel verpassen. Allerdings hat es in der Vorultrazeit mit Sicherheit niemals so große Gruppen gegeben, die ihrer Mannschaft regelmäßig überallhin folgen und darüber hinaus auch unter der Woche soviel Zeit in ihre Leidenschaft investieren. Trotzdem ist die Sicht auf Verein und Mannschaft eine deutlich kritischere geworden. Wurden die eigenen Spieler in der Vergangenheit von den Fans noch heroisiert (vgl. Brändle/Koller, 2002), so bestätigen beide Interviewpartner, dass 61 die Kicker von ihren Gruppen heutzutage keinesfalls mehr als Idole wahrgenommen werden. Beide sind sich einig, dass der Grund hierfür in der „Söldnermentalität“ der Spieler liegt, die sich bei der Wahl ihres Vereines in erster Linie nach finanziellen Interessen entscheiden. Dies verhindert eine wirkliche Identifikation mit dem Club und den Fans. Auch die Politik der Vereine wird kritisch hinterfragt. Sehr deutlich wird dieses am Beispiel Orhans, der erzählt, dass einige Gruppenmitglieder ein Transparent gegen die Verpflichtung des deutschen Nationalspielers Klose angefertigt hatten. Hier war sicherlich nicht die angezweifelte sportliche Leistungsfähigkeit des potentiellen Neuzugangs ausschlaggebend für die Ablehnung, sondern die Befürchtung der Fans, dieser Transfer könnte aufgrund seines für Werder Bremen ungewöhnlich großen finanziellen Volumens das Ende der bis dahin als verhältnismäßig bescheiden geltenden Vereinspolitik markieren. Auch Bo hadert mit der Politik seines Clubs. Er fühlt sich von seinem Verein ausgenutzt, da dieser die von seiner Gruppe erzeugte Stimmung so aggressiv vermarktet. Rein äußerlich lässt sich diese kritische Distanz schon an der Tatsache erkennen, dass die meisten Mitglieder von Ultragruppen das Tragen von offiziellem Vereinsmerchandise ablehnen (vgl. Bremer, 2003: 94). Diese Entwicklung, die ich hier nur auszugsweise darstellen kann, führt laut Ehlers dazu, dass die „Fangruppen inzwischen identitätsstiftender sind, als die Liebe zum Verein“ (Ehlers, 2004: 51). Die Erkenntnisse zeigen, dass sich die Ultras in Heitmeyers und Peters Modell einer Kategorisierung von Fußballfans (vgl. 1.2.1) nicht mehr so eindeutig einordnen lassen. Zwar passen sie in den meisten Punkten noch in das Schema des „fußballzentrierten Fans“, doch scheint die Wichtigkeit der sportlichen Erfolge des Teams eher in den Hintergrund zu rücken. Die neunzig Minuten sind nicht mehr alles. Ebenso wichtig scheint die eigene Szene und das Gruppenerlebnis zu sein. Diese Sichtweise entspringt meiner Ansicht nach zum einen aus dem Umstand, dass die personelle Fluktuation in modernen Fußballvereinen (Spieler, Trainer, Vorstand) deutlich höher ist als in den Fanszenen. Zum anderen sind es auch eben diese Fans, die versuchen, die letzten traditionellen Werte aufrechtzuerhalten. Auf dieser Grundlage scheint sich das Credo „der Verein, das sind wir!“ durchgesetzt zu haben. 62 5.3 Das Gefahrenpotential der Ultrabewegung Aus den bisherigen Erkenntnissen ging hervor, dass die Ultrabewegung von Seiten der Sicherheitsbehörden und weiten Teilen der Presse in erster Linie als potentielle Gefahr wahrgenommen und dargestellt wird. Die Interviewpartner erzählen unisono, dass ihre Gruppen keine gewalttätigen Auseinandersetzungen suchen. Trotzdem bestätigen beide, dass diese innerhalb der Ultraszene durchaus vorkommen. Sie sehen diesen Umstand aber nicht als Gefahr an. Bo ist der Meinung, dass es bedingt durch die große Identifikation mit dem Verein und dadurch, dass „man als geschlossener Mob auftritt“, durchaus zu Auseinandersetzungen kommen kann, dieses ist jedoch nicht als neues Phänomen der Ultrabewegung zu bewerten. Orhan stellt zwar eine Tendenz der Szene in Richtung steigender Gewaltbereitschaft fest, doch ist er auch der Ansicht, dass es nur Einzelne sind, „die sich als Freizeitchaoten“ versuchen. Dass die Szene trotzdem als gefährlich dargestellt wird, mag seine Ursache in den Interessen der jeweiligen Beobachter haben. Die Vereine z.B. könnten die neue Bewegung als Bedrohung wahrnehmen, da diese in bisher nicht gekannter Form an ihnen Kritik üben. Die Presse berichtet, wie oben bereits beschrieben, gerne über randalierende, gefährliche Fußballfans, da diese sich als Thema hervorragend verkaufen lassen. Und die Polizei letztendlich hat zu Zeiten der Hooliganproblematik einen Apparat geschaffen, der natürlich nach dem Verschwinden des Problems weiter aufrecht erhalten werden will wie auch Bo vermutet. Pelzer belegt unter Rückgriff auf den „labeling approach“, dass Fußballfans weitreichender Stigmatisierung von verschiedner Seite ausgesetzt sind (vgl. Pelzer, 2004). Mit Hilfe des labeling approach (Keckeisen, 1976) und insbesondere der Theorie der Konstruktion sozialer Probleme (vgl. Schetsche, 1996; Lamnek, 1994) kann aufgezeigt werden, dass Zuschreibungen an eine Gruppe sowie gesellschaftliche Reaktionen, die daraus folgen, die Gruppe etikettieren, bewerten und möglicher Weise auch stigmatisieren. Wenn die Gruppe im Laufe der Zeit die ihr zugeschriebenen Eigenschaften mehr und mehr tatsächlich annimmt und sich dementsprechend verhält, kommt es zu quasi „selbsterfüllenden Prophezeiungen“ (Watzlawick, 1994, 91ff) und ein soziales Problem ist geschaffen. Die Etikettierung (das label) „gewaltbereite Ultras“, das, 63 wie gezeigt werden konnte, tatsächlich eine Zuschreibung darstellt, kann somit möglicherweise dazu führen, dass sich ein noch nicht existentes Problem wahrhaftig konstruiert und dies kann meines Erachtens nicht im Sinne der Gesellschaft sein. Reith von den Ultras Frankfurt sieht auch in den äußeren Umständen, denen die Gruppen ausgesetzt sind ein großes Problem: „Den Fans würden immer mehr Freiräume genommen, die es früher gegeben habe. So entstünden Konflikte mit der Ordnungsmacht, die einseitig wahrgenommen würden. «Ultras sind immer die Buhmänner, die passen für eine saubere WM nicht ins Stadion. Sie leiden unter Repressionen, die eigentlich für Hooligans bestimmt waren»“ (Fritschi, 2004). Oft wird von gewalttätigen Ultragruppen als eine Gefahr im Hinblick auf die in Deutschland stattfindende WM 2006 ausgegangen (vgl. z.B. Kröner, 2005). Diese Annahme ist aus meiner Sicht überhaupt nicht nachvollziehbar. So zeigten beide Interviewpartner keinerlei Interesse, mit ihren Gruppen während dieser Veranstaltung in Erscheinung zu treten. Das dieses nahe in der gesamten Szene so gesehen wird bestätigt Grau, von den Ultras Nürnberg: „Ich erwarte keine Stimmung, insbesondere nicht von den Deutschen. Wenn man mal von Szenen wie München, Schalke oder Hamburg absieht, interessiert die Nationalelf ja auch die wenigsten“ (vgl. Stadionwelt Nr.3: 16). 5.4 Über das Politische im „Unpolitischen“ Wie bereits erwähnt, spricht sich der allergrößte Teil der deutschen Ultraszene vehement gegen das Einbringen politischer Inhalte im Stadion aus. Was auf den ersten Blick nachvollziehbar erscheint (diverse Jugendkulturen sind im Prinzip unpolitisch), wirft auf den zweiten Blick die Frage auf, warum dann dieser Umstand immer so krampfhaft betont werden muss. Die Abgrenzung zum italienischen Vorbild spielt hier meiner Ansicht nach keine Rolle. Allerdings weiß jeder Mensch, der ab und zu mit offenen Augen und Ohren ein Fußballstadion betritt, dass Rassismus, Sexismus, Antisemitismus und diverse andere Formen der Diskriminierung hier durchaus noch an der Tagesordnung sind. Eventuell versuchen sich einige Gruppen, welche die Losung „Keine Politik im Stadion“ vertreten, der Verantwortung des Einschreitens gegen solche 64 Umtriebe zu entziehen. Vielleicht ist auch einfach die Ablehnung linker politischer Ideen bei vielen Ultragruppierungen, genauso wie in weiten Teilen der Gesellschaft, noch zu stark manifestiert. Denn eines scheint mir im Laufe dieser Arbeit klar geworden zu sein: Obwohl sie es immer wieder abstreitet - Die Ultrabewegung ist hochgradig politisch. Und ihre Themen - gegen Kommerzialisierung (im Bezug auf Fußball wird das kapitalistische System quasi komplett abgelehnt), gegen die Einschränkung persönlicher Freiheiten, für mehr Freiräume, für mehr Solidarität -, sind klassische Felder der Linken. Auch die Annahme Orhans, die Ultraszene sei mit dafür verantwortlich, dass rassistische Pöbeleien von den Rängen in den letzten Jahren stark zurückgegangen sind, lässt nicht darauf schließen, dass es sich um eine gänzlich unpolitische Bewegung handelt. Letztendlich jedoch muss jede einzelne Gruppe selber entscheiden, wie sie sich zu diesem Thema verhält, denn, wie auch Bo bestätigt: „In erster Linie sind wir Fußballfans.“ Und als solche sind sie sicherlich nicht für revolutionäre gesellschaftliche Umwälzungen zuständig. 65 Schluss Eine neue Jugendkultur ist entstanden. In erstaunlich kurzer Zeit hat sie sich in der gesamten Republik ausgebreitet. Allerdings: „Wer glaubt, mit den Ultras hätte die Spaßgesellschaft ein zweites Mal Einzug in die deutschen Fußballstadien gehalten, der sieht sich getäuscht“ analysiert Bremer die Situation treffend (Bremer, 2003: 93). Obwohl sie in den Stadien feiern, singen und eine tolle Stimmung erzeugen, sind die Ultras viel mehr als eine Partyszene: Sie sind Fußballfans und zugleich eine neue Protestbewegung. Und als solche, bläst ihr aus verschiedenen Richtungen ein starker Wind entgegen. Gewiss, die Ultraszene ist mit Sicherheit nicht unproblematisch. Doch alles in allem muss man ihr bescheinigen, dass sie es geschafft hat eine positivere Fankultur in den Kurven zu etablieren. Ich finde es äußerst begrüßenswert, dass es eine neue Jugendkultur solchen Ausmaßes gibt, welche selbstverantwortlich ihre Freiräume erhalten und nutzen möchte und die darüber hinaus keine Angst davor hat, die bestehenden Verhältnisse kritisch zu hinterfragen. Meiner Ansicht nach sind diese Werte, die in der Ultraszene dominieren, durchweg als positiv zu betrachten. Sie sind auch in vielen anderen gesellschaftlichen Zusammenhängen von großer Relevanz. Nicht zuletzt deshalb sollte die Bewegung nicht diskreditiert und in ihrer Entwicklung behindert werden. Sie verdient vielmehr eine größere Aufmerksamkeit und Förderung. Ich hoffe, diese Arbeit konnte einen kleinen Beitrag dazu leisten. Weitere Forschungen sind meines Erachtens jedoch sehr wünschenswert. Abschließend möchte ich mich meinen beiden Interviewpartnern anschließen, welche die Szene insgesamt auf einem guten Weg sehen. Wenn alle Seiten behutsam mit dem neuen Phänomen umgehen, dann steht die Ultrabewegung vor einer positiven Zukunft. 66 Literaturliste Arbeitsgruppe Nationales Konzept Sport und Sicherheit: Richtlinien zur Einheitlichen Festsetzung und Verwaltung von Stadionverboten, 1992 Aschenbeck, Arndt: Fußballfans im Abseits. Agon Sportverlag, Kassel, 1998 Balestri, Carlo/ Podaliri, Carlo: Italien – kurze Geschichte der „Ultra“-Fankultur und ihre Beziehung zur Politik. In: Der Übersteiger Nr. 9 & 10, 1994, S.8-10 Becker, Peter/ Pilz, Gunter A.: Die Welt der Fans. 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Trotzdem 67 Dembowski, Gerd: Sitzen ist immer noch für`n Arsch- Wie Stadien zu Arenen werden. In: Bündnis aktiver Fußballfans (Hrsg.): Ballbesitz ist Diebstahl – Fußballfans zwischen Kultur und Kommerz, Verlag die Werkstatt, Göttingen, 2004, S.74-79 Dresslein, Detlef: Wer sind eigentlich die Ultras? In: Sportbild Sonderheft Fanreport, 2004, S.25-26 Ehlers, Christian: Profisport Fußball – Verraten und verkauft. In: Bündnis aktiver Fußballfans (Hrsg.): Ballbesitz ist Diebstahl – Fußballfans zwischen Kultur und Kommerz, Verlag die Werkstatt, Göttingen, 2004, S.50-59 Falk, Phillip: Ultramanie. In: Britta Schmidt-Lauber (Hg.): FC St. Pauli – Zur Ethnographie eines Vereins. Lit Verlag, Münster, 2004, S.98-115) „Faninspektor, Der“: Jetzt reicht`s! In: Sportbild Sonderheft Fanreport, 2004, S.12-14 Farin, Klaus/ Hauswald, Harald: Die dritte Halbzeit – Hooligans in Berlin-Ost. Verlag Thomas Tilsner, Bad Tölz, 1998 Fritschi, Stefan: Die sich verändernde Fankultur birgt Konfliktpotential. 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