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aktuell 10. Jahrgang Inhalt Editorial Editorial: Schlachtruf der Jahrtausendwende Schlachtruf der Jahrtausendwende 1 ____________________________________________ Bericht aus den Institutionen: Kommission: TTIP schützt Daseinsvorsorge/ Neubeginn für den sozialen Dialog in Europa/ Für und wider eine europäische Armee/ Sonderberater für Verteidigungspolitik/ Schlecht auf europäische Investitionsoffensive vorbereitet/ Konsultation zur Kapitalmarktunion/ Unterstützung für entlassene Arbeitnehmer/ EU-Parlament: Ausgaben besser kontrollieren/ Zukunft der EBI/ Auf dem Weg zum gläsernen Fluggast?/ Fortschrittsberichte zu Balkanstaaten/ Europäische Staatsanwaltschaft/ Justizbarometer: Europäische Justiz wird effizienter 2-7 ____________________________________________ dbb in Europa: gggg Abend im Zeichen der Wirtschaft/ 22. Europäischer TTIP: dbb unterstützt Bürgerdialoge/ TTIP berührt auch den Arbeitsschutz/ EU-Recht soll Betriebsrenten fördern, nicht gefährden/ Investitionen in Verkehrssicherheit und Infrastruktur 8-11 ____________________________________________ Neues von der CESI: „Goldstandardklausel“ für TiSA/ Gewalt gegen Frauen bekämpfen – Gender Pay Gap schließen/ CESI-Kommissionen diskutieren Arbeitsprogramm/ Spanischdeutsches Gewerkschaftsabkommen – Schutz für mobile Arbeitnehmer 12/13 ____________________________________________ Bürger und Verbraucher: Waldorfkindergarten 14 ____________________________________________ Ausblick: Steuerwettbewerb oder Steuerharmonisierung? Termine 15-18 ____________________________________________ Einblick: Gespräch mit Markus Ferber, Mitglied des Europäischen Parlaments ____________________________________________ Impressum: dbb beamtenbund und tarifunion Friedrichstr. 169/170 10117 Berlin Tel.: +49 (0)30/4081-40 Fax: +49 (0)30/4081-4999 ViSdP Christian Moos, Thomas Syberg Für die Inhalte der in den dbb europathemen gelinkten Internetseiten übernimmt die Redaktion keine Verantwortung. Kontakt/ Abonnement: europathemen@dbb.de 19-21 März 2015 Die Privatisierungswelle, die in den 1990er Jahren in ganz Kontinentaleuropa eingesetzt hatte, war gerade abgeebbt, da brach die Weltfinanzkrise aus. Bereits seit Mitte der 1990er Jahre sind die Investitionsquoten in Europa rückläufig. Diese Entwicklung hat sich seit 2008 verschärft. Neuinvestitionen in öffentliche Infrastruktur unterbleiben ebenso wie Erhaltungsinvestitionen in bestehende Dienstleistungen und Netze. Seit den frühen Nullerjahren ist es en vogue, wichtige Bestandteile der sozialen Sicherheit in die private Vorsorgeverantwortung der Bürger zu verlagern. Diese Trends sind trotz unterschiedlicher Reformtiefen in den einzelnen Mitgliedstaaten überall in Europa zu beobachten. Deutschland mag dabei – Riester und Rürup – eine Vorreiterrolle spielen. Jedenfalls scheint in immer mehr Lebensbereichen eine ultraliberale Modeparole zu gelten, der Schlachtruf der Jahrtausendwende: Privat vor Staat. Der Investitionsplan der Europäischen Kommission setzt genau da an, nicht einmal aus ideologischen Gründen, sondern aus purer Not. Denn die öffentlichen Kassen der meisten EU-Staaten lassen keinen Spielraum für die so dringend nötigen Investitionen. Dass dabei auch die Steuermoral eine Rolle spielt, zeigt die Luxemburg-Leaks Affäre. Die Frage, wie die Wirtschaft wieder wachsen kann, beschäftigt ganz Europa. Investitionen sind der Schlüssel, sagt die Kommission zu Recht. Allein, der öffentlichen Hand fehlen die Mittel. Selbst in Deutschland, das so hohe Steuereinnahmen verzeichnet wie nie zuvor, scheint das Geld im eigentlich erforderlichen Umfang zu fehlen. Vielen seiner Nachbarn geht es noch viel schlechter, da dort die Steuereinnahmen weiter rückläufig sind und die Verschuldung nach den Kriterien des Stabilitätspakts zu hoch ist. Der Investitionsplan der EU-Kommission führt nun wieder zur Losung „Privat vor Staat“ oder besser: „Privat mit staatlichen Bürgschaften“. Die erhoffte Anlockung privater Investoren mit dem europäischen Fonds, den die Europäische Investitionsbank und die Mitgliedstaaten mittelbar oder unmittelbar tragen, führt zwangsläufig nicht nur zu privaten Investitionen in die Infrastruktur, sondern auch zu neuen Privatisierungen. Mittlerweile ist klar, dass das alles auch mit Steuermoral zusammenhängt. Denn eine Reihe von EU-Staaten lockt Privatanleger und Unternehmen mit Steuernachlässen am Rande der Legalität. Die Luxemburg-Leaks Affäre hat offengelegt, was eigentlich längst bekannt war: In Europa findet ein unsozialer Steuersenkungswettbewerb statt. Wenn Investitionsquoten sinken und öffentliche Infrastruktur verkommt, mag das auch daran liegen. Die Zukunft gewinnt man so nicht. Die Redaktion wünscht viel Freude beim Lesen. 10. Jahrgang aktuell Bericht aus den Institutionen Kommission: TTIP schützt Daseinsvorsorge März 2015 sierungs- oder Schutzniveau habe. „Auch der Sorge dass sogenannte ‚neue Dienstleistungen‘ in einer Negativliste automatisch von Liberalisierungsverpflichtungen umfasst werden, wird durch entsprechende Vorbehalte Rechnung getragen.“ Auch die so genannte Sperrklinkenklausel, die „ratchet“ Klausel, gebe keinen Anlass zur Besorgnis. Die Klausel gelte ausdrücklich nicht für die von der public utilities Klausel erfassten Bereiche und auch nicht für die sektorspezifischen Ausnahmen. Kritiker des Abkommens zweifeln aber die Gültigkeit dieser Prognosen und Thesen an. Die Generaldirektion Handel der Europäischen Kommission hat Anfang März ein Papier zum Schutz der Daseinsvorsorge im transatlantischen Freihandelsabkommen (TTIP) veröffentlicht. Darin heißt es, die Kommission nehme die Sorgen von Kommunen, Gewerkschaften, Verbänden und Zivilgesellschaft sehr ernst, das Abkommen könne die Daseinsvorsorge gefährden. EU - Handelskommissarin Cecilia Malmström habe wiederholt betont, die Daseinsvorsorge in Handelsabkommen schützen zu wollen. Der besondere Rang der Dienstleistungen der Daseinsvorsorge werde durch die europäischen Verträge geschützt. „Diese vertraglichen Vorgaben binden die EU und ihre Mitgliedstaaten auch im Hinblick auf den Abschluss von Handelsabkommen“, so die Kommission. Zweifel, ob die Daseinsvorsorge tatsächlich „durch alle Handelsabkommen unberührt“ bleibt, bestehen fort. Das TTIP-Abkommen wird laut Kommission eine so genannte „public utilities“ Klausel beinhalten. Diese erlaube es, öffentliche Monopole zu unterhalten oder privaten Betreibern ausschließliche Rechte zu gewähren. Dies gelte für alle staatlichen Ebenen, auch die Kommunen. Zudem werde eine Vielzahl von Sektoren explizit genannt. Diese Auflistung sei aber nicht abschließend. Wörtlich heißt es: „Von dieser Klausel sind Sektoren wie Gesundheit, Bildung, soziale Dienste oder Wasserversorgung betroffen, aber auch zum Beispiel der öffentliche Nahverkehr oder die Abfallbeseitigung.“ Von dieser Klausel ausgenommen seien lediglich die Sektoren Telekommunikation und Computerdienstleistungen. EU-Handelskommissarin Cecilia Malmström ist überzeugt vom Nutzen des Abkommens © Europäische Kommission, 2015 Neubeginn für den sozialen Dialog in Europa Am 5. März fand in Brüssel auf Einladung der Europäischen Kommission eine hochrangige Konferenz der europäischen Sozialpartner statt. Die Kommission will den sozialen Dialog auf europäischer Ebene stärken und vertiefen, um den wirtschaftlichen und sozialen Herausforderungen besser begegnen zu können. Der für den sozialen Dialog zuständige Vizepräsident der Kommission, Valdis Dombrovskis, erklärte, Arbeitgeber und Arbeitnehmer müssten in die Gestaltung der europäischen Politik einbezogen werden. „Dies wird zunehmend wichtiger: nicht zuletzt angesichts des Mandats der Kommission für die EU-Wirtschaftspolitik und die Herausforderung, zu einer nachhaltigen und gerechten Konsolidierung des Wiederaufschwungs der europäischen Wirtschaft beizutragen.“ Marianne Thyssen, Kommissarin für Beschäftigung, Soziales, Qualifikationen und Arbeitskräftemobilität ergänzte: „Ist der soziale Dialog stark, so ist die Wirtschaft wettbewerbsfähiger und sozial belastbarer.“ An der Konferenz nahmen auch Sozialpolitiker des Europäischen Parlaments teil. Weitere sektorspezifische Ausnahmen gestatteten es den Staaten ausdrücklich, Unternehmen von außerhalb der EU den Zugang zum Markt zu verwehren. Dieser besondere Schutz gelte für staatlich finanzierte oder geförderte Gesundheitsversorgung und soziale Dienste wie – nicht abschließend – Krankenhäuser, Rettungsdienste oder Pflege- und Seniorenheime. Explizit ausgenommen sei aber auch die staatlich finanzierte oder geförderte Bildung, ebenso wie die Wasserwirtschaft. Sicherheits- und Qualitätsstandards blieben von dem TTIP-Abkommen ebenso unberührt wie Universaldienstverpflichtungen. „Dienstleistungen und Dienstleister können außerdem weiter subventioniert werden, ohne gleichzeitig ausländische Anbieter subventionieren zu müssen. Dies folgt aus dem umfassenden Ausschluss von Subventionen von den Dienstleistungs- und Investitionskapiteln der EU Handelsabkommen.“ Die Sicherungen gälten unabhängig von Positiv- oder Negativlisten. Dies sei bloß eine technische Frage, die keinerlei Auswirkung auf das Liberali- -2- 10. Jahrgang aktuell Bericht aus den Institutionen Für und wider eine europäische Armee März 2015 gemeinsamer europäischer Streitkräfte. Der Vorsitzende der EVP-Fraktion, der CSU-Politiker Manfred Weber, sagte der Süddeutschen Zeitung, besonders kleinere Staaten könnten sich eigenständige Armeen nicht mehr leisten. Insbesondere das Vereinigte Königreich kann aber einer europäischen Armee nichts abgewinnen. Am 11. März stellte sich laut EurActiv auch die polnische Regierung gegen den Vorschlag. Die NATO sei der bessere Garant für Europas Sicherheit, soll der polnische Außenminister Grzegorz Schetyna im polnischen Radio gesagt haben. Europa brauche eine Armee, sagte EU - Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker in der Welt am Sonntag vom 8. März. Angesichts der russischen Bedrohung müsse die gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik vertieft werden. Es gelte Europas Werte zu verteidigen. Die Bundesregierung, vor allem Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen, wie auch Parlamentarier der großen Koalition unterstützten den Vorstoß des Luxemburgers. Jedoch kritisierten nicht nur deutsche Oppositionspolitiker den Vorstoß. Er komme zur Unzeit, hieß es auch in Regierungskreisen, weil er gegen Russland gerichtet sei. Die Gefahr, die heute wieder von Russland ausgeht, eint die Europäer nicht. Die polnische Regierung, die freilich nicht im Verdacht steht, die vom neoimperialen Gebaren Russlands ausgehende Gefahr zu unterschätzen, will keine europäische Armee. Warschau will stattdessen die NATO gestärkt sehen, betrachtet den amerikanischen Schutz als Grundlage seiner Sicherheit, nicht visionäre europäische Strukturen. Vladimir Putin jedenfalls kann trotz massiver NATO Manöver an seinen Grenzen weitgehend ungestört damit fortfahren, die Europäer zu spalten. Juncker begründete seinen Vorstoß tatsächlich mit der ost-westlichen Krise. Die Europäische Union brauche eine gemeinsame Armee, um die Sicherheit ihrer Mitglieder wie auch die ihrer Nachbarn zu gewährleisten, so Juncker gegenüber der Welt am Sonntag. Es gelte, Russland den glaubwürdigen Eindruck zu vermitteln, „dass wir es ernst meinen mit der Verteidigung der Werte der Europäischen Union“. Auch Bundesverteidigungsministerin Ursula von der Leyen hat die Forderung nach einer europäischen Armee erhoben. Nun erklärte sie: „Unsere Zukunft als Europäer wird irgendwann eine europäische Armee sein.“ Die Zeit für diese Vision sei gekommen, sagte auch von der Leyens Parteifreund, der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses im Deutschen Bundestag, Norbert Röttgen. Aber nicht nur die CDU gab Juncker Rückenwind. Berliner Unterstützung für den Kommissionspräsidenten kam auch vom sozialdemokratischen Koalitionspartner. Der verteidigungspolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, Rainer Arnold, verwies auch auf die nicht mehr tragfähigen Kosten eigenständiger nationaler Streitkräfte. Spaltet oder eint er Europa? © Europäische Kommission, 2015 Sonderberater für Verteidigungspolitik Der Krieg in der Ukraine wirkt sich stark auf Europas Sicherheitsarchitektur aus. Die militärischen Kapazitäten Europas, vor allem die Koordination der nationalen Streitkräfte und ihre effektive Einsatzfähigkeit, gelten als nicht mehr ausreichend. Die neue EU-Kommission sieht in einer stärkeren Integration der europäischen Verteidigungskapazitäten eine prioritäre Aufgabe. Deshalb ernannte Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker am 17. Februar den vormaligen Binnenmarktkommissar Michel Barnier zum Sonderberater für die europäische Verteidigungs- und Sicherheitspolitik. Der Franzose soll Juncker dabei helfen, die Weichen für eine überzeugendere europäische Verteidigung zu stellen. Die Idee einer europäischen Armee ist nicht nur eine Brüsseler Kopfgeburt. Die Bundestagsabgeordneten Roderich Kiesewetter (CDU) und Dietmar Nietan (SPD) gingen in einem bereits vor Junckers Interview verfassten gemeinsamen Papier so weit, die Schaffung einer europäischen Armee und einen Verteidigungsausschuss für das Europäische Parlament zu fordern. Auch Politiker des Europäischen Parlaments unterstützen die Idee Juncker erklärte zur Berufung Barniers, Europa sei zwar in erster Linie eine Soft Power. „Aber auch die stärkste Soft Power kann langfristig nicht ohne ein Mindestmaß an integrierten Verteidigungskapazitäten auskommen.“ -3- aktuell 10. Jahrgang Barnier sei mit seiner großen Erfahrung auch in Fragen der äußeren Sicherheit der richtige Mann, ihn und die Hohe Vertreterin für Außenpolitik, Federica Mogherini, zu beraten. Barnier soll Juncker zunächst bei der Vorbereitung auf die Beratungen der Staats- und Regierungschefs im Europäischen Rat über die europäische Verteidigungspolitik unterstützen. Für Deutschland, das sich inmitten des europäischen Krisengeschehens als Stabilitätsanker sieht und auch von außen so wahrgenommen wird, weisen wichtige Fundamentaldaten nach unten. Die Stiftung zitiert Daten des Statistischen Bundesamts, wonach der öffentliche Kapitalstock in Deutschland seit Jahren sinkt. Die Nettoinvestitionen reichen demnach nicht mehr zum Erhalt des Bestandes an öffentlicher Infrastruktur. Auch die Investitionspolitik, für lange Zeit ‚unantastbares Reservat mitgliedstaatlicher Souveränität‘, werde immer stärker Teil einer europäischen und internationalen Debatte, heißt es in dem Policy Brief. So wird der IWF zitiert, der mit Blick auf die Ungleichgewichte der Leistungsbilanzen in der Währungsunion seit mehreren Jahren höhere öffentliche Investitionen in Deutschland fordert. Die Europäische Kommission argumentiere ähnlich: „Mit ihrem neuen Investitionsprogramm erhebt sie die Konzertierung der öffentlichen Investitionstätigkeit der Mitgliedstaaten zu einem grundlegenden Bestandteil ihrer Krisenbekämpfungsstrategie.“ Die Konturen einer neuen europäischen Fiscal Governance würden sichtbar. Michel Barnier gehörte der EU-Kommission unter Romano Prodi von 1999 bis 2004 und 2010 bis 2014 unter José Manuel Barroso an. Als Binnenmarktkommissar befasste Barnier sich mit der Entwicklung der europäischen Verteidigungsmärkte. Bereits 2001 führte er als Präsidiumsmitglied des Europäischen Konvents die Arbeitsgruppe Verteidigung. 2004 und 2005 war der konservative Politiker französischer Außenminister. Barnier erhält für seine neue Berateraufgabe nach Angaben der Kommission keine Vergütung. Bericht aus den Institutionen März 2015 Schlecht auf europäische Investitionsoffensive vorbereitet In einem aktuellen Policy Brief der BertelsmannStiftung wird Deutschland kritisiert, nicht vorbereitet zu sein auf eine Steigerung öffentlicher Investitionen. Die Autoren, Henrik Scheller von der Universität Potsdam und Henrik Brinkmann von der BertelsmannStiftung, betrachten Deutschland im Lichte der „Investitionsoffensive für Europa“, des so genannten JunckerPlans. Der neue Kommissionspräsident, Jean-Claude Juncker, hatte Ende vergangenen Jahres angekündigt, mit Hilfe öffentlicher Bürgschaften bis 2017 rund 315 Milliarden Euro für strategische Investitionen mobilisieren zu wollen. Die Bertelsmann-Studie befindet nun, es fehlten in Deutschland wesentliche rechtliche und institutionelle Voraussetzungen für eine zielführende Koordination zwischen Bund, Ländern und Kommunen. Eine Debatte um Zukunftsinvestitionen, bei der die rechtlichen und föderalen Herausforderungen nicht aus dem Blick geraten dürfen, sei überfällig. Deutschland sei insbesondere wegen des in wichtigen öffentlichen Bereichen bestehenden Kooperationsverbots zwischen Bund und Ländern schlecht aufgestellt. Eine planvolle Investitionsförderung sei in Deutschland durch die Föderalismusreform erschwert worden, so die Autoren. Sie verweisen auf die „gigantischen Investitionserfordernisse“ im Bereich der digitalen Breitbandversorgung oder auch der Energieinfrastruktur. „Eine ebenenübergreifende Koordination und Kooperation von Bund, Ländern und Gemeinden ist dabei unerlässlich. Allerdings sieht die Finanzverfassung des Grundgesetzes (noch) keine Instrumente vor, die eine volumenmäßig derart umfangreiche Infrastrukturfinanzierung unter Beteiligung privater Träger erlauben würde.“ Die Studie kritisiert auch die vernachlässigte Instandhaltung der bestehenden öffentlichen Infrastruktur. Es bestehe die Gefahr eines exponentiellen Kostenanstiegs. Die öffentliche Infrastruktur leidet in Europa an fehlenden Investitionen © panimoni - Fotolia.com -4- aktuell 10. Jahrgang Konsultation zur Kapitalmarktunion Offen ist, inwieweit die Kommission damit auch das Ziel der Förderung öffentlich-privater Partnerschaften (ÖPP) oder auch neuer Privatisierungen verfolgt. Die EU-Kommission will die Rahmenbedingungen für grenzübergreifende Investitionen erleichtern. Ein „voll funktionsfähiger“ Kapitalbinnenmarkt soll entstehen. Eine der vier europäischen Grundfreiheiten ist die des freien Kapitalverkehrs. Brüssel sieht hier offenbar noch bedeutende Hemmnisse, die es nun beseitigen will. Investitionen in Unternehmen schaffen Arbeitsplätze. Die Kommission sieht demnach in Investitionserleichterungen ein geeignetes Mittel zur Bekämpfung der Wirtschafts- und Sozialkrise in Europa. Bericht aus den Institutionen März 2015 Unterstützung für entlassene Arbeitnehmer Der Europäische Fonds für die Anpassung an die Globalisierung (EGF) soll Arbeitnehmern helfen, die „infolge von Veränderungen des Welthandelsgefüges (zum Beispiel Schließung eines großen Unternehmens oder Verlagerung einer Produktionsstätte außerhalb der EU) ihren Arbeitsplatz verloren haben“. Rat und EUParlament stimmten Hilfen aus diesem Fonds nun für Arbeitnehmer in Belgien, Polen und Deutschland zu. Die insgesamt 6,3 Millionen Euro kommen somit auch 476 ehemaligen Mitarbeitern von Aleo Solar und zwei Tochterunternehmen zu Gute, die in Folge des Konkurses des brandenburgischen Unternehmens arbeitslos geworden waren. Am 18. Februar leitete die Kommission mit einem Grünbuch eine dreimonatige öffentliche Konsultation zur so genannten Kapitalmarktunion ein. Sie stellt einen messbaren Mehrwert in Aussicht: „Würden die EURisikokapitalmärkte eine ähnliche Tiefe aufweisen wie in den USA, wären zwischen 2008 und 2013 sage und schreibe 90 Milliarden Euro für die Unternehmensfinanzierung verfügbar gewesen“, so die Kommission. Mit der Kapitalmarktunion möchte sie Hürden zwischen Unternehmen oder Projekten mit Finanzierungsbedarf und Anlegern beseitigen. Brüssel stellt die Gründung von mehr neuen Unternehmen und Wachstumsperspektiven für die bereits bestehenden in Aussicht. Parlament: EU-Ausgaben besser kontrollieren Der Haushaltskontrollausschuss des EU-Parlaments fordert, unsachgemäß eingesetzte oder veruntreute EUMittel verstärkt in den Haushalt zurückzuführen. Auch ein besserer Schutz von Whistleblowern, die auf Unregelmäßigkeiten hinweisen, wird gefordert. Zudem sollen die Ausgaben von vornherein besser kontrolliert werden. Auch wenn der finanzielle Schaden etwas zurückgegangen sei, gebe es einen deutlichen Anstieg von Betrugsfällen und Fehlern bei der Mittelverwendung. Die Parlamentarier fordern die Mitgliedstaaten, die für 80 Prozent der Ausgaben verantwortlich sind, und die Kommission auf, eine bessere Ursachenforschung zu betreiben. Außerdem soll die Kommission offenlegen, wie viel Geld sie 2013 von den Mitgliedstaaten zurückholen konnte, solche Daten existierten bislang nicht. Ein weiteres Problem sei, dass Mitgliedstaaten häufig inkorrekte Projekte durch neue ersetzten, ohne angemessen Ursachenforschung zu betreiben. Das müsse sich ändern. EU-Kommissar Jyrki Katainen (rechts) während eines Arbeitsbesuchs am 12. März in Paris, hier mit dem französischen Wirtschaftsminister Emmanuel Macron © Europäische Kommission, 2015 Der für Arbeitsplätze, Wachstum, Investitionen und Wettbewerbsfähigkeit zuständige Vizepräsident der Kommission, Jyrki Katainen, sagte in der Pressekonferenz zur Veröffentlichung des Grünbuchs: „Die Kapitalmarktunion ist die erste strukturelle Initiative der Kommission im Rahmen der Investitionsoffensive.“ Sie werde dazu beitragen, dass der Investitionsplan JeanClaude Junckers sich dauerhaft positiv auswirkt. „Die Kapitalmarktunion soll Finanzmittel frei machen, die zwar ausreichend vorhanden aber zurzeit gebunden sind, und sie in den Dienst der europäischen Unternehmen, besonders der KMU, stellen“, erklärte Katainen. Zukunft der Europäischen Bürgerinitiative Seit dem Vertrag von Lissabon gibt es die Europäische Bürgerinitiative. EU-Bürger können die EU-Kommission auffordern, zu einem bestimmten Politikbereich eine Initiative zu prüfen. Und es gibt durchaus Erfolge zu vermelden: drei Bürgerinitiativen schafften das notwendige Quorum, zwei wurden bereits von der Europäischen Kommission beantwortet. Allerdings scheiterten fast 50 Initiativen, entweder an zu wenig Unterschriften oder weil sie die Zulassungskriterien nicht erfüllten. -5- 10. Jahrgang aktuell In den vergangenen Monaten ist die Zahl neuer Initiativen zudem stark gesunken. Die anfängliche Euphorie ist also längst verflogen. Das Europäische Parlament diskutiert nun, wie die Bürgerinitiative reformiert und weiterentwickelt werden kann. Seit dem 1. März sollen das Handgepäck vor Flügen noch stärker kontrolliert, technische Geräte wie etwa Computer aufwendiger überprüft werden. Das schreibt eine neue Durchführungsverordnung vor, in der davor gewarnt wird, „dass Terroristen weiterhin versuchen, neue Verstecke für unkonventionelle Spreng- und Brandvorrichtungen (USBV) zu entwickeln, um die geltenden Sicherheitsmaßnahmen im Luftverkehr in Bezug auf Handgepäckkontrollen zu unterlaufen.“ Die aufwendigeren Kontrollen werden zu den bereits existierenden wie etwa das Flüssigkeitsverbot an Bord hinzukommen. Die Vorsitzende des institutionellen Ausschusses des EU-Parlaments, die polnische EVP-Abgeordnete Danuta Hübner, forderte in einer Pressekonferenz am 26. Februar im Anschluss an eine Anhörung zur Bürgerinitiative deutliche Verbesserungen. „Die Europäische Bürgerinitiative ist ein Meilenstein partizipativer Demokratie, aber die Defizite in ihrer Umsetzung und in ihren Folgemaßnahmen könnten ihr Potential verschwenden.“ Die neue Realität, dass EU-Bürger auf gleicher Augenhöhe mit dem Parlament und dem Rat agieren und die Kommission um eine Initiative bitten könnten, sei von vielen noch nicht aufgenommen worden. Bericht aus den Institutionen März 2015 „Das ist in der Tat eine kopernikanische Revolution in der europäischen Institutionslandschaft. Die Europäische Bürgerinitiative, als machtvolles Instrument intensivierter direkter Demokratie, hat das Potential ein Grundpfeiler einer wahrhaftig partizipativen und inklusiven Union zu werden”, so Hübner. Die EU habe die Chance, damit auf Bedenken der jungen Generation zu Lebensqualität und Nachhaltigkeit einzugehen. „Die Menschen wollen wissen, wofür ihr Europa da ist“, so die Ausschussvorsitzende. „Partizipative Demokratie würde Europas Fähigkeit verbessern, den verschiedenen Erwartungen gerecht zu werden.“ Digitaler Durchblick © Igor Mojzes - Fotolia.com Ebenfalls mehr Sicherheit ist das Ziel des Vorschlags zur Fluggastdatenspeicherung. Künftig sollen Name, Adresse, Telefonnummer, Reisedaten, Kreditkartendetails, Reiseroute, Ticket und Gepäck- und Zahlungsinformationen über einen längeren Zeitraum gespeichert werden. Die Reisewege und mögliche Kontakte und Hintermänner von Terroristen und Kriminellen könnten so besser offengelegt werden, so die Befürworter. Die Gegner bemängeln, dass durch die Speicherung dieser Daten von jedem Reisenden Bewegungsprofile erstellt werden könnten, unabhängig von einer möglichen Straftat. Die EU-Parlamentarier haben sich darauf geeinigt, bis Ende des Jahres einen Vorschlag vorzulegen. Auf dem Weg zum gläsernen Fluggast? Hunderte Menschen packen ihre Laptops aus, kleine Fläschchen in Klarsichttüten werden in große Boxen gelegt, häufig müssen auch die Schuhe noch auf das Sicherheitsband gepackt werden. Diese Prozedur ist sehr zeitaufwendig und nicht wenige der Wartenden sind genervt. An vielen Flughäfen Europas ist dieses Bild mittlerweile Alltag. Wer eine Flugreise antreten will, muss viel Zeit und Geduld für Sicherheitsüberprüfungen mitbringen, die in den vergangenen 15 Jahren regelmäßig verschärft wurden. Nach den Anschlägen in Paris und Kopenhagen ist die Gefahr einzelner, zu allem entschlossener Täter wieder stärker in das öffentliche Bewusstsein zurückgekehrt und viele Menschen sind vor diesem Hintergrund bereit, aufwendige Sicherheitsüberprüfungen über sich ergehen zu lassen. Eine neue Verordnung für Handgepäckkontrollen soll nun für mehr Sicherheit sorgen und das EU-Parlament diskutiert erneut einen Vorschlag zur Fluggastdatenspeicherung, der 2013 ursprünglich abgelehnt worden war. Fortschrittsberichte zu Balkanstaaten Die früher zu Jugoslawien gehörenden Staaten Serbien, Montenegro, Kosovo und Mazedonien streben alle engere Beziehungen zur Europäischen Union an. Allerdings gibt es vor einer möglichen Aufnahme in die Union großen Reformbedarf vor allem in den Bereichen Rechtsstaatlichkeit, Korruption, Antidiskriminierung. Auch die Polarisierung der Politik entspricht nicht immer europäischen Standards. Mitte März diskutierte das Europäische Parlament über die aktuellen Fortschrittsberichte zu den einzelnen Ländern. -6- 10. Jahrgang aktuell EU-Barometer: europäische Justiz wird effizienter Die Resolution zu Kosovo fand die geringste Unterstützung der eingebrachten Länderberichte. Kosovo ist kein offizieller EU-Beitrittskandidat. Seine Staatlichkeit wird derzeit von fünf EU-Mitgliedern - Griechenland, Rumänien, der Slowakei, Spanien und Zypern – nicht anerkannt. Die EU-Parlamentarier begrüßten die Rückkehr zu normalem Regierungshandeln, nachdem zuvor ein politisches Patt sechs Monate lang Reformen in Kosovo verhindert hatte. Die serbische Regierung hingegen wurde ausdrücklich für ihren proeuropäischen Kurs gelobt, aber auch aufgefordert, mehr innenpolitische Reformen voranzutreiben und die Außenpolitik stärker mit der EU zu koordinieren. Serbien führt seit einem Jahr Beitrittsgespräche. In diesem Zusammenhang würdigten die EU-Abgeordneten zudem die Rückkehr zu hochrangigen Gesprächen zwischen Serbien und Kosovo und drängten auf die endgültige Herstellung von normalen zwischenstaatlichen Beziehungen. Bericht aus den Institutionen März 2015 Bereits zum dritten Mal hat die EU-Kommission die Fortschritte in den Justizsystemen in den Mitgliedstaaten untersucht. Die Ergebnisse des EU-Justizbarometers 2015 wurden am 9. März in Brüssel vorgestellt. Der Tenor war verhalten positiv. Zwar gebe es einige Fortschritte mit Blick auf die Effizienz. Es müssten sich aber sichtbare Erfolge als Ergebnis der laufenden Justizreformen erst noch einstellen. Die einzelnen Mitgliedstaaten unterscheiden sich teilweise deutlich in der Qualität ihrer Justizsysteme. EU-Justizkommissarin Vĕra Jourová verwies bei der Vorstellung des Barometers auf die Bedeutung guter Justizsysteme: „Ein leistungsfähiges Justizsystem ist ein Grundpfeiler der Demokratie. Justizreformen spielen eine entscheidende Rolle bei der Stärkung der gemeinsamen Werte der Union und der Schaffung eines investitionsfreundlichen Umfelds, das wir für ein nachhaltiges Wachstum brauchen.“ Die meisten Mitgliedstaaten reformierten gegenwärtig ihre Justiz, so Jourová. Eine leistungsfähigere Justiz erhöhe das Vertrauen der Mitgliedstaaten untereinander. „Wir wissen, dass Justizreformen Zeit brauchen, bis sie Ergebnisse hervorbringen, aber wir sehen einige ermutigende Anzeichen im neuen Justizbarometer. Ich bin zuversichtlich, dass die Mitgliedstaaten die Reformen mit Entschlossenheit und Engagement fortführen werden“, so die Kommissarin. Montenegro führt bereits seit drei Jahren Beitrittsgespräche mit der Europäischen Union und erste Kapitel konnten inzwischen geschlossen werden. Die EU - Parlamentarier sehen das Land derzeit auf einer Spitzenposition in der Region bei den Bemühungen, sich europäischen Standards anzunähern. Mit Bezug auf Mazedonien fordern die Parlamentarier eine Aufnahme von Beitrittsgesprächen. Dies scheiterte bislang hauptsächlich am Namensstreit mit Griechenland. Dieser Konflikt müsse vor einem Beitritt des Landes zur Europäischen Union abschließend geklärt werden, dürfe aber kein Hindernis zur Aufnahme von Gesprächen sein. Eine weitere Verschiebung könne der Glaubwürdigkeit der Europäischen Union schaden. Im Justizbarometer werden aktuelle Trends aufgezeigt. So gebe es große Bemühungen um eine stärkere Nutzung von Informations- und Kommunikationstechnologien im Justizwesen. Allerdings seien hier einige Mitgliedsländer bereits deutlich weiter fortgeschritten als andere, die somit einen großen Nachholbedarf hätten. Positiv sei, dass mehr als 20 Prozent der Richter an Fortbildungsmaßnahmen zum EU-Recht oder zum Recht anderer Mitgliedstaaten teilnähmen. Zu bemängeln sei hingegen, dass es nach wie vor kein ausgewogenes Geschlechterverhältnis im Gerichtswesen gebe. Vor allem in höheren Instanzen gebe es nach wie vor deutlich mehr Richter als Richterinnen. Europäische Staatsanwaltschaft Der Vorschlag für eine Europäische Staatsanwaltschaft wird konkreter. Mitte März stimmte der Innenausschuss des EU-Parlaments über einen Zwischenbericht ab, und die nationalen Justizminister diskutierten im Rat ebenfalls über die neu zu schaffende Institution. Der EU entsteht jährlich ein Schaden zwischen 500 Millionen und drei Milliarden Euro durch veruntreute oder absichtlich falsch eingesetzte EU-Fördermittel. Einigkeit herrscht darüber, dass eine europäische Staatsanwaltschaft, deren Wirkungskreis auf Straftaten im Zusammenhang mit Fördermitteln beschränkt wäre, möglichst transparent besetzt werden muss. Vor allem das EU-Parlament möchte das Benennungsverfahren weitestgehend unabhängig von nationalem Einfluss gestalten. Auch bei der Kompetenzverteilung zwischen europäischer Staatsanwaltschaft und nationalen Behörden gibt es noch unterschiedliche Positionen. Moderne Justizsysteme für Europa © Alex White - Fotolia.com -7- aktuell 10. Jahrgang 22. Europäischer Abend im Zeichen der Wirtschaft Transatlantisches Freihandelsabkommen TTIP: dbb unterstützt Bürgerdialoge Seit 2008 steht Europas Wirtschaft stark unter Beschuss. Ganzen Staaten droht der Bankrott, die Arbeitslosenzahlen steigen auf ungekannte Höchststände, stark betroffen ist die Jugend Europas. Die Union droht zwischen Norden und Süden zu zerreißen. Die finanz- und wirtschaftspolitischen Versäumnisse bei der Einführung der gemeinsamen Währung führen zu immer neuen Verwerfungen. Daher lautet der Titel des 22. Europäischen Abends, der am 16. März 2015 ab 18.30 Uhr im dbb forum berlin stattfindet: "Europas Wirtschaft – Risse im Fundament?“. dbb in Europa März 2015 Wenige Fakten, unzählige Meinungen. So wirkt bisweilen die öffentliche Diskussion zum transatlantischen Freihandelsabkommen TTIP. Bis vor Kurzem war nicht einmal das Verhandlungsmandat der Kommission bekannt. Trotzdem oder vielleicht auch gerade deshalb wurde wohl nie zuvor so emotional und mit so großer Beteiligung über ein multilaterales Handelsabkommen diskutiert. Teils verdichtet sich die Debatte auf Schlagwörter – Chlorhühnchen! –, die allerdings an den tatsächlichen Herausforderungen vorbeigehen. Die Europa-Union Deutschland ruft seit Ende 2014 unter dem Slogan „TTIP – Wir müssen reden!“ zu Bürgerdialogen auf, um die Diskussion zu versachlichen. Der dbb ist als Partner dabei. EU-Kommissar Günther Oettinger und Matthias Machnig, Staatssekretär im Bundeswirtschaftsministerium, werden in ihren Impulsvorträgen auf die aktuelle wirtschaftliche Situation Europas eingehen und mögliche Entwicklungen beleuchten. Unter der Moderation von Anette Rollmann diskutieren hierzu anschließend Marion von Haaren (Korrespondentin im ARD-Hauptstadtstudio), Andreas Kluth, The Economist, Richard Kühnel (Vertreter der Europäischen Kommission in Deutschland), Linn Selle (Preisträgerin „Frau Europas 2014“) und Ulrich Silberbach (stellvertretender dbb Bundesvorsitzender). Seit Herbst 2014 können Bürgerinnen und Bürger bei den Bürgerdialogen im offenen Austausch mit Experten und Interessensvertretern über die Vor- und Nachteile von TTIP diskutieren. Die überparteiliche EuropaUnion als Veranstalterin will, so heißt es in der Beschreibung der Veranstaltung, „eine faire und sachliche inhaltliche Auseinandersetzung“ mit TTIP ermöglichen. Sowohl Kritiker als auch Befürworter kommen gleichermaßen zu Wort und können ihre Argumente präsentieren. Den bisherigen Bürgerdialogen in Kiel, Nürnberg, Leverkusen und Pforzheim folgen weitere Veranstaltungen am 19. März in Hannover und am 12. Mai in Dortmund. Darüber hinaus sind mehrere Termine in Planung. Risse in Europa © Giordano Aita - Fotolia Der Europäische Abend ist eine Kooperationsveranstaltung von Europa-Union Deutschland, dbb beamtenbund und tarifunion, dem Bundesnetzwerk Bürgerschaftliches Engagement sowie der Vertretung der Europäischen Kommission in Deutschland. Anmeldungen sind per Email unter europathemen@dbb.de möglich. Bereits im Vorfeld können Sie die die Themen online diskutieren: Bei twitter unter dem Hashtag #EURAbend oder auf der Plattform Publixphere. dbb Vize Ulrich Silberbach © dbb, 2015 „Chancen und Risiken liegen bei TTIP nah beieinander. Mehr Transparenz würde den teils hitzig geführten öffentlichen Diskussionen gut tun“, erläutert der stellvertretende dbb Bundesvorsitzende Ulrich Silberbach mit Blick auf den bisherigen Verhandlungsverlauf. Ein besserer Einblick in die zur Diskussion stehenden Themen sei notwendig. Auch der dbb spricht sich klar -8- aktuell 10. Jahrgang für vertrauensbildende Maßnahmen für den weiteren Verlauf der Verhandlungen aus: „Wir bedauern die fehlende Transparenz. Sie herzustellen mag in internationalen Verhandlungen kompliziert sein. Demokratische Legitimation geht aber nicht ohne Transparenz“, bekräftigt Silberbach. Das sei notwendig, um die Debatte besser auf Grundlage von Fakten führen zu können. Klar sprechen sich Silberbach und Benker gegen die Einführung von neuen Schiedsverfahren aus. Der dbb Vize sagt dazu: „Wir haben unabhängige Gerichte in der EU und den USA und einen klar geregelten Rechtsstaat. Wozu bedarf es dieser Schiedsgerichte?“ Silberbach warnt außerdem davor, TTIP könne sich zu sehr am Ideal der freien und unregulierten Märkte orientieren. „Was freie und ungezügelte Märkte anrichten können, in denen staatliche Regulierung nicht ausreichend greift, hat die Wirtschafts- und Finanzkrise gezeigt.“ Einen wichtigen Beitrag zur Transparenz leisteten die europäischen Staats- und Regierungschefs im Herbst 2014, als sie der Offenlegung des Verhandlungsmandats der Europäischen Kommission zustimmten. Zuvor waren die Dokumente allerdings bereits teilweise an die Öffentlichkeit gelangt. Einzelne konkrete Zwischenergebnisse aus den Verhandlungen werden hingegen nicht systematisch veröffentlicht. dbb in Europa März 2015 TTIP berührt auch den Arbeitsschutz Hans-Ulrich Benra, Fachvorstand Beamtenpolitik des dbb äußerte sich nach einer Fachkonferenz der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung zum transatlantischen Freihandelsabkommen besorgt über dessen mögliche Folgen für den Arbeitsschutz. „Wir müssen nicht nur sehr darauf achten, dass öffentliche Dienstleistungen tatsächlich von der Anwendung des Abkommens ausgenommen werden. Auch unsere Arbeitsschutzstandards dürfen sich nicht verschlechtern.“ Der dbb Vize fordert daher, dass schon vor dem Ende der Verhandlungen einige besonders kritische Fragen beantwortet werden müssten. „Aus kommunaler Sicht besteht dringender Klärungsbedarf, ob das Abkommen die Organisationsfreiheiten von Kommunen beispielsweise in der Ver- und Entsorgung aushöhlt. Leistungen der Daseinsvorsorge darf TTIP nicht infrage stellen.“ „TTIP – Wir müssen reden“ in Leverkusen dbb Vize Hans-Ulrich Benra © EUD, 2015 © dbb, 2015 Der stellvertretende Vorsitzende des bayerischen Beamtenbunds (BBB), Hermann Benker, sprach sich während eines Bürgerdialogs in Nürnberg im Dezember zudem für große Vorsicht bei den Verhandlungen aus: „Sozial-, Gesundheits- und Umweltstandards müssen sich am Gemeinwohl orientieren und von demokratisch gewählten Gremien legitimiert werden. Diese Regularien dürfen keinesfalls durch internationale Verträge ausgehebelt werden, ebenso wenig wie Arbeitnehmerrechte.“ Position des dbb sei weiterhin, mitzugestalten und sich nicht der Diskussion zu verweigern. Dennoch dürften keine roten Linien überschritten werden. Gefahrenstoffe würden in den USA und in der EU unterschiedlich klassifiziert, so der stellvertretende dbb Bundesvorsitzende. „Viele Arbeitnehmer kommen mit Gefahrenstoffen in Berührung. Das gilt besonders auch für den öffentlichen Dienst. Unter anderem Feuerwehr, Polizei und Zoll sind da klar betroffen. Wenn bei öffentlichen Ausschreibungen amerikanischen und damit anderen Zulassungsvoraussetzungen unterliegenden Schutzausrüstungen der Vorzug gegeben wird, kann das, wenn wir unterschiedliche Systeme vermengen, zu einem Sicherheitsproblem für die Bediensteten auf beiden Seiten des Atlantiks werden“, so Benra. „Die Anforderungen an die Zertifizierung von -9- aktuell 10. Jahrgang Berufskleidung und Schutzausrüstung müssen weiterhin nach unseren hohen europäischen Standards geregelt werden.“ und des europäischen Marktes, die füreinander geöffnet werden sollen wie zum Beispiel die Automobilindustrie und der Maschinenbau, können hier eindeutig benannt werden. Öffentliche Dienstleistungen wären in einer Positivliste nicht enthalten und damit unzweideutig nicht vom Anwendungsbereich des TTIP erfasst. Benra fordert zudem, dass öffentliche Dienstleistungen auch jenseits des Kerns hoheitlicher Aufgaben vom Anwendungsbereich des Abkommens ausgenommen werden. „Dabei reichen mir die vagen und interpretationsfähigen Festlegungen nicht aus, die bisher bekannt geworden sind.“ Beispielsweise sollen öffentlich finanzierte Dienstleistungen ausgenommen sein; die gesetzliche Unfallversicherung wird aber durch Arbeitgeberbeiträge finanziert und nicht öffentlich. „Unser System der gesetzlichen Sozialversicherung darf nicht für privaten Wettbewerb geöffnet werden“, sagte Benra. dbb in Europa März 2015 EU-Recht soll Betriebsrenten fördern, nicht gefährden „Die betriebliche Altersversorgung darf nicht unattraktiv gemacht werden“, warnte die Bundesgeschäftsführerin der Gewerkschaft der Sozialversicherung (GdS), Siglinde Hasse am 24. Februar 2015 in Berlin. Die stellvertretende Vorsitzende der Kommission für Beschäftigung und Soziales der CESI treibt die Sorge um, die EU-Kommission könnte gut Gemeintes zum Schaden der Zusatzversorgung in Deutschland beschließen. Hasse hat kein Problem mit einer besseren Übertragbarkeit von Rentenansprüchen im Rahmen der europäischen Arbeitnehmerfreizügigkeit. Kritisch sieht sie neue Bürokratielasten durch europäische Regulierung. Siglinde Hasse setzt sich dafür ein, dass das System der betrieblichen Altersversorgung in Deutschland nicht in Frage gestellt wird. Genau das könnte aber geschehen, wenn Regeln, die heute für Finanzdienstleister der Versicherungswirtschaft gelten, auf die Zusatzversorgung angewandt werden. „Es darf nicht zu einer Anwendung von Solvency II auf die Betriebsrenten kommen“, fordert Hasse. Europa und die USA – Ein Markt? © meshmerize - Fotolia.com Benra fordert zudem, dass öffentliche Dienstleistungen auch jenseits des Kerns hoheitlicher Aufgaben vom Anwendungsbereich des Abkommens ausgenommen werden. „Dabei reichen mir die vagen und interpretationsfähigen Festlegungen nicht aus, die bisher bekannt geworden sind.“ Beispielsweise sollen öffentlich finanzierte Dienstleistungen ausgenommen sein; die gesetzliche Unfallversicherung wird aber durch Arbeitgeberbeiträge finanziert und nicht öffentlich. „Unser System der gesetzlichen Sozialversicherung darf nicht für privaten Wettbewerb geöffnet werden“, sagte Benra. Der dbb Vize spricht sich gegen die in TTIP vorgesehene Negativliste aus. Darin sollen abschließend alle Bereiche aufgelistet werden, für die das Abkommen nicht gilt. „Wir können nicht ausschließen, dass dabei etwas übersehen wird. Außerdem ist es durchaus möglich, dass der Gesetzgeber in der Zukunft neue öffentliche Aufgaben definiert. Die wären dann aber, da wir sie heute noch nicht kennen, nicht von der Negativliste erfasst.“ Der dbb spreche sich daher für eine Positivliste aus. „Die Bereiche des amerikanischen Gewerkschaftliche Sozialrechtsexpertin Siglinde Hasse © CESI, 2015 Solvency II beschreibt ein Gesetzespaket der EU Kommission, das die Versicherungswirtschaft einer strengeren Aufsicht unterwirft und höhere Eigenkapitalanforderungen stellt. Solvency II soll zum 1. Januar 2016 in Kraft treten. Hasse sagt dazu: „Es ist auch aus Arbeitnehmersicht sinnvoll, wenn die EU etwas für die Stabilität von Versicherern tut. Betriebsrenten sind -10- 10. Jahrgang aktuell aber keine Versicherungen. Für diese gelten in vielen Mitgliedstaaten andere, bereits wirksame Sicherungsmechanismen.“ Kommission will die Zahl der jährlichen Verkehrstoten von 31.500 im Jahr 2010 auf unter 16.000 bis zum Ende des Jahrzehnts halbieren. Das wird nur mit einer gemeinsamen europäischen Anstrengung gehen. Die bisherigen Fortschritte sind vielversprechend, doch ein Selbstläufer ist diese Entwicklung nicht.“ Eines der wirksamsten Mittel gegen unverantwortliches Verhalten der Verkehrsteilnehmenden sei noch immer die regelmäßige Kontrolle durch Polizeikräfte vor Ort. „Doch die Krise hat zu Personalabbau in vielen Mitgliedstaaten geführt. Mehr Sicherheit gibt es aber nicht zum Nulltarif.“ Deshalb müsse wieder mehr in den öffentlichen Dienst investiert werden, so die stellvertretende dbb Bundesvorsitzende. Die Sozialrechtsexpertin versteht den Wunsch einiger EU-Staaten, die dortigen Betriebsrenten sicherer zu machen. „Dieses nachvollziehbare Anliegen sollte aber in den betroffenen Mitgliedstaaten gelöst werden, die keine funktionierenden Pensionssicherungsvereine oder vergleichbare Einrichtungen haben. Das kann gerne mit europäischer Unterstützung geschehen. Es darf aber nicht dazu führen, dass sichere Betriebsrenten in anderen EU-Staaten zu teuer werden.“ dbb in Europa März 2015 In Anbetracht des demografischen Wandels seien Betriebsrenten eine wichtige Ergänzung der Alterssicherung. „Wir haben aus meiner Sicht inzwischen ohnedies zu wenige Betriebsrentenzusagen in Deutschland. Die Kommission kann sich gerne dafür einsetzen, dass Arbeitgeber, vor allem im Dienstleistungssektor, verstärkt auch Betriebsrenten anbieten. Sie sollte aber bewährte Strukturen bewahren helfen und sie nicht mit übereifrigen Gesetzesvorhaben gefährden“, so Hasse. 2013 hatte das Europäische Parlament sich erfolgreich mit einer Resolution gegen höhere Eigenkapitalanforderungen an Betriebsrenten durchgesetzt. Der zuständige Binnenmarktkommissar zog seine Initiative zu einer Anwendung von Solvency II auf Betriebsrenten zurück. Ob die EU-Kommission das Vorhaben jedoch bereits gänzlich ad acta gelegt hat, ist noch offen. dbb Vize Kirsten Lühmann © dbb, 2015 „Moderne Verkehrsüberwachung wie etwa die Section Control, der Einsatz von verbesserter Technik in Fahrzeugen und verbesserte Kontrollinstrumente für die Verkehrspolizei – es gibt viele erfolgsversprechende technische Neuerungen. Diese treffen allerdings häufig noch auf Hürden in der bisherigen Gesetzeslage, weil entsprechende Anwendungen bis vor kurzem nicht denkbar und somit auch nicht vorgesehen waren“, sagte Lühmann. Hier sei künftig größere Flexibilität geboten. Zudem seien auch mehr Investitionen in die Verkehrsinfrastruktur dringend notwendig. „In einigen Ländern wird zu wenig in Straßen, Brücken und insgesamt in den Erhalt von Verkehrswegen investiert.“ Deutschland habe in den vergangenen Monaten erste wichtige Schritte gegen den Investitionsstau gemacht, müsse diesen Weg aber weitergehen. „Wenn nicht schnell gehandelt wird, könnten neue Gefahren für Verkehrsteilnehmende entstehen.“ Investitionen in Verkehrssicherheit und Infrastruktur 26.200 Menschen kamen 2013 auf Europas Straßen ums Leben. „Das sind 72 Tote jeden Tag. Auch wenn die Zahl in den vergangenen Jahren deutlich gesunken ist, sie ist immer noch viel zu hoch. Jedes Opfer ist eines zu viel“, so die stellvertretende dbb Bundesvorsitzende Kirsten Lühmann, die am 24. Februar anlässlich des 18. Europäischen Polizeikongresses in Berlin für die Deutsche Polizeigewerkschaft (DPolG) ein Panel zur Verkehrssicherheit leitete. „Die Verkehrsteilnehmenden müssen zu einer größeren Regelkonformität gebracht werden. Es reicht aber nicht aus, auf plötzliche Einsicht zu hoffen. Eine sinnvolle Kombination aus neuer Technik und Einsatzkräften auf den Straßen ist vielversprechender“, erklärte Lühmann, die seit einem Jahr verkehrspolitische Sprecherin der SPD-Bundestagsfraktion ist. Ausdrücklich lobte Lühmann die erklärte Absicht der neuen EU-Verkehrskommissarin Violeta Bulc, Verkehrssicherheit zu einer Top-Priorität zu machen. „Die -11- aktuell 10. Jahrgang Heeger fordert „Goldstandardklausel“ für TiSA Ein Kompromiss könne eine sogenannte Goldstandardklausel sein, „eine Klausel, die so weit wie möglich öffentliche Dienste vom Anwendungsbereich von TiSA ausschließt.“ Eine solche, vermutlich nicht unumstrittene Klausel, würde ein deutliches politisches Signal senden. Zwar könne sicher nicht jeder Einfluss des Abkommens auf öffentliche Dienste ausgeschlossen werden, eine Schutzklausel würde aber bestimmte Grundwerte festschreiben. Sie solle sich auf die Werte der öffentlichen Dienstleistungen beziehen und die absolut unbestrittene Rolle der nationalen, regionalen und lokalen Behörden bei der Definition, der Bereitstellung und Organisation dieser Dienste unterstreichen, so dass TiSA in keinster Weise als Rechtfertigung für weitere Liberalisierung und Privatisierung in diesem Sektor dienen könnte, so Heeger. Die CESI setzt sich zusammen mit der Social Platform dafür ein, dass öffentliche Dienste vom Geltungsbereich des Abkommens über den Handel mit Dienstleistungen (TiSA) ausgenommen werden, über das gegenwärtig verhandelt wird. In einem Gastbeitrag für euractiv.com fordert CESI-Generalsekretär Klaus Heeger, dass durch eine sogenannte „Goldstandardklausel“ alle entsprechenden Dienste pauschal ausgenommen werden. Dies sei notwendig, um mit TiSA nicht einen neuen Rechtfertigungsgrund für Liberalisierung und Privatisierung zu schaffen. Neues von der CESI März 2015 „Freihandel ist, war und wird immer in einem angespannten Verhältnis zu öffentlichen Dienstleistungen stehen” schreibt Heeger. Per Definition seien sie Monopole und nicht den Gesetzen des freien Marktes unterworfen. „Aber wir sollten eins niemals vergessen: öffentliche Dienstleistungen garantieren, dass Gemeingüter geteilt werden und das diese nicht einfach aus der Summe individueller – ökonomischer - Interessen bestehen“, so der CESI-Generalsekretär weiter. „Die Bereitstellung dieser Dienste ist eine öffentliche Verpflichtung, die Maßnahmen der öffentlichen Hand erfordert. Zugegebenermaßen keine schwerwiegenden und übermäßig bürokratischen, aber eindeutig einen Eingriff frei von der bloßen Logik des wirtschaftlichen Nutzens.“ TiSA müsse auch diesen Schutz garantieren. Gewalt gegen Frauen bekämpfen – Gender Pay Gap schließen Die Vorsitzende des CESI-Frauenrechtsausschusses FEMM und stellvertretende dbb Bundesvorsitzende Kirsten Lühmann hat mit Blick auf den internationalen Frauentag am 8. März Überlegungen der neuen EU Kommission begrüßt, einen Vorstoß zum Beitritt der Europäischen Union zur „Istanbul-Konvention“ zu unternehmen. Allerdings sei das Abkommen „Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt“ noch nicht von allen EU-Mitgliedstaaten unterzeichnet worden und erst in einem Drittel der Staaten ratifiziert: „Das muss sich dringend ändern“, so Lühmann. Die neue EU-Kommission wolle Gewalt gegen Frauen und sogenannte „harmful practices“ - schädliche „traditionelle“ Praktiken wie zum Beispiel Genitalverstümmelungen, Zwangsheirat und Ehrenmorde verstärkt bekämpfen, so Lühmann. „CESI unterstützt die Kommission in diesem Vorhaben und ruft auch die Mitgliedstaaten auf, zu prüfen, was darüber hinaus zum Schutz von Frauen unternommen werden kann.“ CESI-Generalsekretär Klaus Heeger Eine Studie der europäischen Grundrechteagentur von 2014 habe ein ernüchterndes Ergebnis für die Situation von Frauen in den 28 EU-Mitgliedstaaten ergeben. Eine von drei Frauen habe demnach seit ihrem 15. Lebensjahr körperliche und/oder sexuelle Gewalt erfahren, 20 Prozent seien gestalkt worden und die Hälfte aller Frauen sei mit einer oder mehreren Formen der sexuellen Belästigung konfrontiert worden. „Das sind absolut inakzeptable Zustände, die nicht hingenommen werden dürfen“, fordert die FEMM-Vorsitzende. © CESI, 2015 Große Sorgfalt sei notwendig, um sicherzustellen, dass die öffentlichen Dienste vom Anwendungsbereich des Abkommens im Interesse der Allgemeinheit ausgeschlossen würden. Der Weg dahin sei aber nicht leicht: „Wir befinden uns in einem Dilemma: Einerseits können wir uns nicht von der Welt isolieren, andererseits wollen wir sicherstellen, dass unsere Sozialmodelle und unsere gemeinsame Daseinsvorsorge, die wir uns mühsam über Jahrhunderte erworben haben, nicht in Dogmen der Liberalisierung und Globalisierung ertrinken.“ Bezüglich der Benachteiligung von Frauen im Berufsleben erklärte Lühmann: „Der Internationale Frauentag ist auch in Europa keine Alibiveranstaltung für politisch -12- 10. Jahrgang aktuell ‚Überkorrekte‘. Vielmehr gibt es nach wie vor ernstzunehmende Probleme. Frauen verdienen im Schnitt immer noch über 16 Prozent weniger als Männer. Frauen in den Führungsetagen von großen Unternehmen sind nach wie vor meist eine Minderheit oder gar nicht zu finden. Auch im Privatleben sind Frauen häufig durch deutlich mehr Aufgaben gefordert als ihre männlichen Partner.“ nicht nur in Sonntagsreden versprochen werden, es müssen auch Taten folgen“, forderte Lühmann. Ähnlich sei die Situation auch beim demografischen Wandel, so die SOC-Vizepräsidentin und GdS - Geschäftsführerin Siglinde Hasse. Bereits seit den 1970er Jahren gebe es in vielen EU-Mitgliedsländern weniger Geburten als Sterbefälle. „Seitdem wird immer wieder gemahnt, es müsse mehr passieren, die Gesellschaft müsse sich dieser Herausforderung stellen, aber passiert ist viel zu wenig.“ Die Entwicklung durch Zuwanderung aus stark von der Krise getroffenen Ländern in wirtschaftlich stärkere sei keine dauerhafte Lösung. „Diese Menschen haben in ihren Herkunftsländern keine wirtschaftliche Grundlage mehr und nutzen deshalb die Chancen der Mobilität in Europa. Individuell ist diese Entscheidung gut nachvollziehbar. Allerdings müssen auch für die Länder, die sie verlassen, Lösungen gefunden werden. Denn auch hier werden qualifizierte Arbeitnehmer auf Dauer fehlen, der Wegzug junger, qualifizierter Menschen verschärft dieses Problem. Die EU-Mitgliedsländer dürfen sich nicht gegenseitig kannibalisieren“, warnte Hasse. „Make it happen“ („Lass es geschehen“) lautet das Motto der Vereinten Nationen zum diesjährigen internationalen Frauentag. Seit über 100 Jahren wird dieser Tag mittlerweile begangen, seit 1977 rufen die Vereinten Nationen weltweit zu Veranstaltungen am 8. März auf. Auch dieses Jahr setzen sich viele tausend Menschen weltweit in Aktionen und Kundgebungen für gleiche Rechte und Chancen für Frauen ein. In Deutschland lautet das Motto wie schon in den Vorjahren, „Heute für Morgen ein Zeichen setzen!“ Neues von der CESI März 2015 CESI-Kommissionen diskutieren EU-Arbeitsprogramm Weniger Initiativen, dafür mit klarem europäischem Mehrwert. Unter dieses Motto hat die neue Europäische Kommission ihre Arbeitsweise für die kommenden Jahre gestellt. Die Auswirkungen dieses deutlichen Paradigmenwechsels auf die Sozialpolitik der Union diskutierten am 10. März die Mitglieder der CESI - Fachkommission Soziales (SOC) und Frauenrechte (FEMM). Angesichts der Krise in vielen südeuropäischen Staaten und der vergleichsweise stabilen wirtschaftlichen Lage in Nordeuropa stand vor allem das Thema Mobilität im Mittelpunkt. Auch die angekündigte neue Gleichstellungsstrategie der Europäischen Kommission wurde von den Gewerkschaften diskutiert. Spanisch-deutsches Gewerkschaftsabkommen Schutz für mobile Arbeitnehmer Am 10. März vereinbarten die beiden CESI - Mitgliedsgewerkschaften dbb und SATSE eine gegenseitige Unterstützung ihrer Mitglieder. Die stellvertretende dbb Bundesvorsitzende Kirsten Lühmann und Jorge Andrada Serrano, Generalsekretär der spanischen Gewerkschaft für Krankenhauspersonal SATSE, unterzeichneten eine Absichtserklärung „zugunsten von mobilen Arbeitnehmern im Gesundheitssektor“. Diese sollen vor allem mit Informationen zu den spezifischen Arbeitsbedingungen im jeweils anderen Land versorgt werden. In den kommenden Monaten sollen nun konkrete bilaterale Vereinbarungen geschlossen werden, die spezifische Unterstützungsmöglichkeiten benennen. Ausdrücklich begrüßte die Präsidentin der FEMM Kommission, die stellvertretende dbb Bundesvorsitzende Kirsten Lühmann, dass die EU - Gleichstellungskommissarin Jourová sowohl eine europäische Quotenregelung als auch bessere Maßnahmen zum Schutz von Frauen gegen Gewalt durchsetzen wolle. „CESI wird die Kommissarin bei diesen Vorhaben unterstützen“, so Lühmann. Ein großer Fehler sei hingegen die geplante Rücknahme der geplanten Reform der Mutterschutzrichtlinie: „Der Rat blockiert hier eine sinnvolle Änderung der Mutterschutzvorschriften. Die Erhöhung von derzeit 14 auf mindestens 18 Wochen wäre ein wichtiger Schritt zum Gesundheitsschutz von Müttern gewesen. Die dagegen vorgebrachten Argumente waren scheinheilig und hatten nichts mit berechtigtem Gesundheitsschutz zu tun.“ Sie rief die EU-Kommission auf, sich weiterhin für eine Umsetzung des Vorschlags einzusetzen. „Auch die CESI wird weiterhin für einen besseren Schutz werben. Fortschritt für Frauen darf Seit Ausbruch der Wirtschaftskrise und aufgrund der damit einhergehenden stark steigenden Arbeitslosenzahlen vor allem in Südeuropa haben tausende Menschen, darunter viele qualifizierte Fachkräfte, ihre Heimat verlassen, um in anderen EU-Staaten zu arbeiten. Eben diese Übergänge sind aber mit vielen Herausforderungen verbunden. Häufig unterscheiden sich nicht nur die arbeitsrechtlichen Bestimmungen, auch kulturelle und organisatorische Unterschiede können den beruflichen Neustart in einem anderen Land erschweren. In solchen Situationen sollen nun die befreundeten Gewerkschaften die erste Anlaufstelle bieten. -13- 10. Jahrgang aktuell Bürger und Verbraucher Kartenzahlung: Gebühren schwinden März 2015 lich großen Investitionsbedarf gebe, würden die hierfür vorgesehenen EU-Mittel nicht ausgeschöpft. Der europäische Regelungsrahmen soll insgesamt sicherstellen, dass für Mensch und Natur ausreichend sauberes Wasser zur Verfügung steht und in Wirtschaftszweigen wie Landwirtschaft, Aquakultur und Tourismus kein Wassermangel eintritt. Mittlerweile gebe es in diesem Sektor beinahe 500.000 Arbeitsplätze, mehr könnten bei einer besseren Wasserpolitik noch geschaffen werden. 43,5 Prozent der bargeldlosen Transaktionen in Europa werden mittlerweile mit einer Karte getätigt. 26,5 Prozent per Überweisung und nur noch jede 25. Transaktion erfolgt per Scheck. Derzeit können allerdings bei Kartenzahlung noch spürbare Gebühren hinzukommen. Das Europäische Parlament stimmte am 11. März einer Verordnung zu, durch die europäische Verbraucher künftig bis zu 730 Millionen Euro sparen können. Noch größer ist nach Angaben des Parlaments die Einsparung für Händler, die schon jetzt den größeren Teil der Gebühren tragen müssen. Ihnen könnten Kosten von sechs Milliarden Euro jährlich erspart bleiben. Erreicht werden die Einsparungen durch eine Deckelung der möglichen Gebühren für Transaktionen mit Debit- und Kreditkarten. Nach Ablauf einer Fünfjahresfrist wird die Obergrenze nochmals herabgesetzt. Die EU hofft damit nicht nur, transparentere, fairere und günstigere Zahlungssysteme zu etablieren, sondern auch den Weg zu neuen, innovativen Zahlungsmöglichkeiten weiter zu ebnen. Masern zurück in Europa Die Weltgesundheitsorganisation hatte für 2015 das Ziel ausgegeben, Masern in Europa vollständig zu eliminieren. Bis Ende Februar wurden allerdings aus verschiedensten Ländern der europäischen Region (dazu zählen bei der WHO allerdings unter anderem auch Länder wie Kirgisistan und Kasachstan) knapp 23.000 neue Fälle gemeldet. Auch in Deutschland hat es einen neuen Ausbruch mit deutlich über tausend Fällen gegeben. „Wenn wir uns vergegenwärtigen, dass wir in der Europäischen Region in den vergangenen beiden Jahrzehnten eine Verringerung der Zahl der Masernfälle um 96 Prozent verzeichnen konnten und dass wir nur einen Schritt von der Eliminierung der Krankheit entfernt sind, dann können uns diese Zahlen nur schockieren. Wir müssen gemeinsam ohne weitere Verzögerung auf diese Entwicklung reagieren und die bestehenden Impflücken schließen“, erklärte Zsuzsanna Jakab, WHORegionaldirektorin für Europa. „Es kann nicht hingenommen werden, dass nach den Anstrengungen der letzten 50 Jahre zur Schaffung sicherer und wirksamer Impfstoffe die Masern weiterhin Menschenleben, Geld und Zeit kosten.“ Neben dem mangelnden Zugang zu Impfungen seien allerdings auch Eltern für die neue Ausbreitung verantwortlich, die eine Impfung ihrer Kinder gegen Masern ablehnen. Roaming bleibt in der Leitung Das Europäische Parlament machte 2014 allen europäischen Verbrauchern große Hoffnung auf ein endgültiges Ende von Roaminggebühren beim Mobiltelefonieren aus dem europäischen Ausland. In den vergangenen Jahren waren die Gebühren schon drastisch gesenkt worden, nun sollten sie bis Ende 2015 vollständig verschwinden, so ein Beschluss der Abgeordneten. Doch der EU-Rat macht diesem Vorhaben nun einen Strich durch die (Telefon)rechnung. Zwar sollen die Gebühren durch einen neuen Preismechanismus weiter begrenzt werden, allerdings werden sie nicht abgeschafft. Bis 2018 soll die Kommission prüfen, ob weitere Schritte ergriffen werden sollen. Verbraucher sollen künftig zwar bis zu einer, noch nicht endgültig definierten Grenze, gebührenfrei aus dem Ausland telefonieren und das Internet nutzen können. Ist das festgelegte Volumen allerdings überschritten, greift wieder das Roaming. Die Mitgliedstaaten kommen damit den Mobilfunkanbietern entgegen, die sich, wenig überraschend, gegen die Abschaffung der Gebühren ausgesprochen hatten. Mitgliedstaaten ohne solide Wasserpolitik Die Europäische Kommission kritisiert die Mitgliedstaaten, die aus ihrer Sicht nicht alle Ressourcen für eine gute Wasserpolitik nutzten. Zwar sei das Leitungswasser in der EU sauber und die Bürger könnten unbesorgt in tausenden Küstengebieten, Flüssen und Seen in der EU schwimmen. Dennoch werde 2015 ein zentrales Ziel der EU-Wasserpolitik – ein guter ökologischer Zustand bei fast der Hälfte der EU-Oberflächengewässer vermutlich nicht erreicht werden. Obwohl es einen offensicht- Mit Herz und Hand, aber … © thingamajiggs - Fotolia.com -14- 10. Jahrgang aktuell Steuerwettbewerb oder Steuerharmonisierung? wettbewerb ist wieder zu einem Thema geworden. Ob es alsbald wieder zu den Akten gelegt wird, oder ob die EU-Staaten sich auf eine gemeinsame Politik der Steuerharmonisierung einigen werden, bleibt einstweilen eine offene Frage. von Christian Moos Ausblick März 2015 Ein neuer Sonderausschuss des Europäischen Parlaments untersucht die Praxis der Steuervermeidung durch Großunternehmen in Europa. Die „LuxemburgLeaks“ Affäre, ein irreführender Begriff, wie der langjährige EU-Abgeordnete Markus Ferber im Gespräch mit den dbb europathemen sagt, hat den Stein ins Rollen gebracht. Christ- und Sozialdemokraten wollten keinen Untersuchungsausschuss. Schließlich gehe es nicht allein um Luxemburg. Das Großherzogtum stelle keine Ausnahme in Europa dar. Das Problem des unfairen Steuerwettbewerbs müsse insgesamt betrachtet werden, so die Linie der beiden Fraktionen. Multinationale Konzerne nutzen seit vielen Jahren den Steuerwettbewerb innerhalb der EU, um ihre Gewinne faktisch weitgehend steuerfrei zu stellen. Dabei spielen Vorabsprachen von Politik und Multis eine große Rolle. Das Europäische Parlament will die Sachlage analysieren, um Fehlentwicklungen gesetzgeberisch entgegenwirken zu können. Die bisherigen Versuche, dem Problem auf EUEbene beizukommen, seien unzureichend, urteilt die Deutsche Steuer-Gewerkschaft (DSTG). Neben der Frage der Steuergerechtigkeit stellt sich vor allem die nach der Finanzierung des Gemeinwesens, wenn die finanzstärksten Steuersubjekte sich der Besteuerung weitgehend entziehen. Dabei gibt es Lösungsansätze. Wunderschöne Golfanlagen © Jonny Wilkinson - Fotolia.com Aufklärung ja, Untersuchung nein Der Sonderausschuss des Europäischen Parlaments soll zwar nicht die speziell gegenüber Luxemburg und dem langjährigen Premier- und Finanzminister Jean-Claude Juncker erhobenen Vorwürfe untersuchen. Er ist bewusst von Christ- und Sozialdemokraten nicht als Untersuchungsausschuss eingerichtet worden. Markus Ferber spricht gleichwohl von Aufklärung: „Jetzt gibt es ein gewisses Momentum, das wir nutzen müssen, um Druck auf die Regierungen der Mitgliedstaaten auszuüben und zu einem zügigen Ende des unfairen Steuerwettbewerbs zu kommen“, so der CSU-Politiker am 12. Februar anlässlich der Einsetzung des Ausschusses, dem er für die EVP-Fraktion angehört. Lebensqualität „Neben wunderschönen Golfanlagen und einer beachtlichen Infrastruktur bietet die Insel vor allem eine ungezwungene Lebensqualität“, schreibt ein Auswandererportal über die Kanalinsel Jersey. Dass es nicht unbedingt Menschen sind, die auf die kleine Insel im Ärmelkanal gelockt werden sollen, sondern ihr Geld, macht der Einstieg in den Werbetext unverhohlen deutlich: „Kaum jemand mit größerem Vermögen und kaum eine britische Bank hat kein Konto auf Jersey.“ Noch zielstrebiger auf den Punkt bringt es die Regierungsseite Jerseys im Web: gov.je bietet nach nur einem Klick Steuertipps für jeden Steuervermeider. Jersey freilich gehört mit seiner Hauptstadt Saint Helier und seinen 90.000 Einwohnern nicht zur Europäischen Union. 45 Parlamentarier arbeiten in diesem Sonderausschuss. Sie wollen eine Reihe von Steuerentscheiden für multinationale Konzerne unter die Lupe nehmen. Dazu zählen in Luxemburg Amazon und Fiat, Apple in Irland und Starbucks in Belgien und den Niederlanden. Diese Steuerentscheide legen noch vor der Gewinnlegung eine Steuerschuld fest, die erheblich unter dem Satz liegt, der eigentlich entrichtet werden müsste. Diese Vorabsprachen mit Unternehmen werden als „tax rulings“ bezeichnet. Die EU-Kommission geht davon aus, dass einige EU-Staaten dieses Verfahren nutzen, um die Steuerlast von Großunternehmen zu mindern. Hinter der Gewährung dieser Steuervorteile steht ein knallharter Standortwettbewerb. „Geschätzt 1.000 Milliarden Euro verliert die Europäische Union jährlich durch Steuerbetrug“, heißt es in einer am 17. Februar veröffentlichen Pressemitteilung des Europäischen Parlaments. Die EU-Kommission erklärte tags darauf: „Für Präsident Juncker ist die Bekämpfung von Steuerflucht und Steuervermeidung ein vorrangiges politisches Ziel.“ Die Kommission jedenfalls will noch im März ein Maßnahmenpaket gegen Steuerhinterziehung vorlegen. Aber auch in der EU selbst herrscht ein für die öffentlichen Finanzen der Mitgliedstaaten desaströser Steuerwettbewerb. Eine ganze Reihe von EU-Staaten umwirbt Unternehmen mit mehr oder minder legalen Steuersparmodellen. Die Affäre um die Steuerpolitik des Großherzogtums Luxemburgs hat wenig wirklich Neues ans Licht gebracht, dafür aber gleißend helles Licht auf die Schattenwelt geworfen, in der bestimmte Unternehmen und Wohlhabende mit Gout für „Lebensqualität“ unterwegs sind. Der schon seit vielen Jahren weitgehend ergebnislos diskutierte europäische Steuer- -15- aktuell 10. Jahrgang Ausblick Kein Mangel an Ideen und Erkenntnissen März 2015 siven Steuerwettbewerb leisteten. „Diese europarechtswidrige Subventionierung von Großkonzernen muss umgehend abgestelllt werden“, so die Forderung von Eigenthaler. Die so genannten „tax rulings“ richteten sich gegen mittelständische Unternehmen, die ehrlich ihre Steuern zahlten und somit einen Wettbewerbsnachteil gegenüber den Großkonzernen hätten. Zudem entgingen allein dem deutschen Fiskus jährlich bis zu 20 Milliarden Euro. Die DSTG fordert seit vielen Jahren ein effektives Austrocknen von Steueroasen. Konkret auf die „Luxemburg-Leaks“ Affäre angesprochen, sagte Eigenthaler dem Handelsblatt: „Dieses legale, aber nicht legitime Vorgehen animiert zusätzlich andere Staaten in Europa wie die Niederlande und Irland, solches nachzuahmen.“ Juncker bezeichnet Eigenthaler als befangen. Da der frühere Luxemburger Regierungschef an der Spitze der Kommission stehe, erwarte er nicht viel von einer beihilferechtlichen Prüfung der großherzogtümlichen Steuerabsprachen. Als die „Luxemburg-Leaks“ Affäre im November 2014 hochkochte, machte die EU-Kommission einen scheinbar weitreichenden Vorschlag. Die 28 EU-Staaten sollten einander über solche Steuerentscheide informieren, erklärte Juncker vor dem Europäischen Parlament. Claus Hecking wies jedoch in der ZEIT online darauf hin, dass sie durch eine einschlägige Richtlinie schon seit 1977 dazu verpflichtet seien, es jedoch bis dato nicht täten. Während der Sonderausschuss sich an dem politisch heiklen Thema abarbeitet und die Kommission ein Maßnahmenpaket vorbereitet, gibt es längst Lösungsvorschläge. Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) veröffentlichte bereits am 16. September 2014 Vorschläge, die es Unternehmen erschweren sollen, Briefkastenfirmen in Steueroasen für die Vermeidung ihrer Steuerpflicht zu nutzen. Die Verlagerung von Gewinnen in Steueroasen soll gestoppt werden. Überhaupt arbeitet die OECD seit vielen Jahren an dem Thema. Einen Mangel an Ideen und Erkenntnissen scheint es nicht zu geben. Vielmehr hakt es bei der Umsetzung. Der Bundesvorsitzende der Deutschen Steuer Gewerkschaft (DSTG), Thomas Eigenthaler, sagt zu diesen OECD-Vorschlägen, die Worte höre er gerne. Noch lieber sähe er aber darauf folgende Taten. Die DSTG bezeichnet Steueroasen als „Krebsgeschwür der internationalen Staatenwelt“. Nicht besonders viel vom angekündigten Maßnahmenpaket der Kommission erwartet auch der wirtschafts- und finanzpolitische Sprecher der Grünen im Europäischen Parlament, Sven Giegold. Am 18. Februar schrieb Giegold auf seiner Website, die Kommission sei im Kampf gegen Steuerdumping „halbherzig und zauderhaft“. Die Kommission halte am Prinzip des Steuerwettbewerbs ausdrücklich fest. „Auch eine gemeinsame europäische Bemessungsgrundlage für Unternehmensgewinne von Konzernen findet sich nicht im Text.“ Die Kommission weiche damit hinter die Ankündigungen von Jean-Claude Juncker unmittelbar nach dem Bekanntwerden des „LuxemburgLeaks“ Skandals zurück. Zufriedener ist Giegold mit der Aufklärungsarbeit des Parlaments. Nach der ersten Sitzung des Sonderausschusses am 26. Februar sagte er, der Ausschuss werde die Steueroasen auch bezüglich etwaiger Hintermänner aggressiv unter die Lupe nehmen. Dass die einheitliche Bemessungsgrundlage für Unternehmenssteuern beziehungsweise eine Angleichung der Körperschaftsteuer sich nicht im Kommissionstext findet, kann kaum verwundern. Auch im Rat stößt die Idee auf großen Widerstand. Bereits im Sommer 2013 hatte etwa Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble nach einem Brüsseler Ministertreffen erklärt, die EU-Länder sollten nicht mehr wie bisher mit niedrigen Steuern um Unternehmen konkurrieren. Es fehlt aber noch eine Handhabe, weil die Steuerpolitik in der Zuständigkeit der Mitgliedstaaten liegt. Daher hatte Schäuble eine Harmonisierung der Bemessungsgrundlagen für die Körperschaftsteuer auch als auf absehbare Zeit nicht realistisch bewertet. dbb Vize und DSTG-Chef: Thomas Eigenthaler © dbb, 2015 DSTG: Steueroasen austrocknen! Eigenthaler, der auch stellvertretender dbb Bundesvorsitzender ist, hat klare ordnungspolitische Vorstellungen: „Es kann nicht sein, dass sich Firmen durch undurchsichtige Gewinnverlagerungen über die Grenze künstlich arm rechnen und sich so einer Besteuerung nach ihrer Leistungsfähigkeit entziehen.“ Auch entspreche es nicht dem europäischen Gedanken, wenn sich die EU-Staaten untereinander einen aggres -16- aktuell 10. Jahrgang Ausblick Steuerharmonisierung = Sowjetunion? März 2015 ver Steuerwettbewerb sei kein Nachteil: „Es ist mit weniger Ineffizienz im öffentlichen Sektor, mit geringeren Staatsausgaben und mit einer reduzierten Steuerbelastung zu rechnen.“ In einer Publikation der liberalen Friedrich-Naumann-Stiftung schrieb Gérard Bökenkamp im April 2013, Vereinheitlichung schaffe schwerfällige und unflexible Systeme. „Wären große Einheiten effektiv, dann würde es die Sowjetunion noch geben.“ Einheitliche Steuersätze in Europa nähmen den einzelnen Ländern jeden Anreiz zu sparen und die Bürger zu entlasten. „Darum sollten Finanzentscheidungen so weit wie möglich auf den untersten Ebenen getroffen werden und nicht in der EU“, so der wirtschaftsliberale Autor. Kurz zuvor, im Frühjahr 2013, hatten Florian Steidl und Berthold U. Wigger vom Karlsruher Institut für Technologie (KIT) eine Studie über die Zukunft der Steuerpolitik in Europa veröffentlicht. Ein bemerkenswerter Kernbefund lautet, Steuerwettbewerb schwächt den Wettbewerb. „Das Steuersatzgefälle kann zu Verzerrungen bei Entscheidungen über grenzüberschreitende Investitionen und der Standortwahl führen. Eine effiziente Ressourcenallokation wird behindert und die Wettbewerbsfähigkeit von Unternehmen in der EU reduziert.“ Die beiden Ökonomen bilanzieren nüchtern: Steueraufkommen geht dann verloren und die Wohlfahrt für die Gesellschaft sinkt. „Diese Argumente sprechen für eine Abschwächung der Steuerkonkurrenz durch Absprachen der EU-Staaten.“ Die Steuersatzunterschiede und insbesondere die nicht harmonisierten Gewinnermittlungsvorschriften machten Reformen der Unternehmensbesteuerung notwendig. Steidl und Wigger betonen aber auch mit einer Reform einhergehende Schwierigkeiten. So wären etwa separate Gewerbesteuern problematisch, da diese nicht von der Harmonisierung erfasst würden. Insgesamt gebe es für die Frage, ob Steuerharmonisierung oder Steuerwettbewerb richtig seien, kein Patentrezept. „Vielmehr muss je nach Steuerart und Geltungsbereich das optimale Verhältnis von Harmonisierung und Wettbewerb neu abgewogen werden.“ Besonders zu berücksichtigen sei auch die Effizienz der jeweiligen nationalen Finanzverwaltung. Verstellter Blick Der Blick auf die weltweite Entwicklung der Unternehmensbesteuerung verstellt möglicherweise den Blick. Die Besteuerung von Unternehmensgewinnen sei nämlich in Europa deutlich stärker gefallen als irgendwo sonst auf der Welt, stellten Philipp Gerschel und Achim Kemmerling im März 2011 in einem wissenschaftlichen Beitrag im Journal of Common Market Studies fest. So seien die durchschnittlichen Unternehmenssteuersätze von 1997 bis 2007 von 38 auf 29 Prozent gesunken. Besonders stark ist der Rückgang demnach in den neuen mittel- und osteuropäischen EU-Mitgliedstaaten. Der Rückgang der Körperschaftsteuersätze sei überdurchschnittlich, was den innereuropäischen Steuerwettbewerb erheblich verschärfe. Ein bereits in den 1990er Jahren verabschiedeter Verhaltenskodex sei von den Mitgliedstaaten weitgehend ignoriert worden. Entsprechend lauteten auch schon die Befunde einer 2007 publizierten Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung. Darin wurde eine massive Verschiebung der Steuerlast von Kapital auf Arbeit und Konsum festgestellt, also höhere Lohn- und Verbrauchssteuern bei wegbrechenden Einnahmen aus der Unternehmensbesteuerung. Als Lösungsvorschläge diskutierte die Studie unter anderem die Konsolidierung der Steuerbemessungsgrundlagen und die Einführung eines europaweiten Mindeststeuersatzes bei Unternehmenssteuern. Dass Steuerwettbewerb legal ist, lässt jedoch auch die europäische Rechtsprechung erkennen. Denn in den meisten Verfahren entschied der Europäische Gerichtshof (EuGH) zugunsten der Unternehmen und nicht der öffentlichen Hand. So haben die Mitgliedstaaten beispielsweise zwischen 1998 und 2002 in 14 von 17 Fällen vor dem EuGH gegen die beklagten Unternehmen verloren. Der EuGH konzentriere sich allein auf die wirtschaftlichen Grundfreiheiten, nicht auf die Einnahmeerfordernisse der öffentlichen Hand, so Gerschel und Kemmerling in ihrer Untersuchung. „… dann würde es die Sowjetunion noch geben“ © daseugen - Fotolia.com Strikt gegen eine Steuerharmonisierung argumentierte der Ökonom und Regierungsberater Alfred Boss bereits vor über einem Jahrzehnt in einer Veröffentlichung des Instituts für Weltwirtschaft. Die Körperschaftsteuern seien weltweit in Relation zum Bruttoinlandsprodukt gestiegen. Es gebe keinen „race to the bottom“. Intensi- -17- 10. Jahrgang aktuell Kriminelle Energie Fuest schlussfolgert, dass eine Vereinheitlichung der Unternehmensbesteuerung in Europa nicht angezeigt ist: „Statt zu versuchen, den Steuerwettbewerb abzuschaffen, sollte man sich auf Regeln einigen, die einen fairen Wettbewerb ermöglichen.“ Diese müssten sicherstellen, dass Gewinne auch effektiv besteuert, Doppelbesteuerung aber vermieden wird. Immerhin spricht Fuest sich klar gegen die tax rulings aus. „Länder, die niedrige Steuersätze erheben, sollten diese Option allen Unternehmen in ihrem Land gewähren.“ Die vermittelnde ZEW-Position ist interessant. Denn eine solche Gleichbehandlung aller unternehmerischen Steuersubjekte auf dem jeweiligen steuerlichen Hoheitsgebiet würde allzu niedrige Steuersätze unwahrscheinlicher machen. Brigitte Unger, Direktorin des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts der Hans-Böckler-Stiftung, fordert ein Ende des innereuropäischen Steuerwettbewerbs. In einem Beitrag vom Juni 2013 sagte Unger, die Unternehmen entzögen sich systematisch ihrer Steuerpflicht. „Die Konstruktionen, die gewählt werden, bedürfen schon einiger Spitzfindigkeit wenn nicht gar krimineller Energie.“ Sie spricht von „verfilzten Netzwerken“ und betont, es könne nicht sein, dass die Allgemeinheit für Schäden von Kapitalgesellschaften haftet und diese nur Gewinne einstreichen und sich nicht mehr an der Finanzierung des Gemeinwesens beteiligen. Unger spricht sich für eine Kehrtwende in der europäischen Unternehmensbesteuerung aus. Die EU-Staaten müssten damit aufhören, sich gegenseitig „kaputt zu konkurrieren“. Ausblick März 2015 Der DSTG-Vorsitzende Thomas Eigenthaler weist darauf hin, dass europäische Steuerregeln möglich sind. Man sei in Europa bei der Harmonisierung der Mehrwertsteuer schon sehr weit gekommen. Dort habe sich „europäisches Denken“ breit gemacht habe. Anders bei der Körperschaftsteuer: „Bei der Gewinnbesteuerung wird derzeit noch rein national gedacht. Eine Vereinheitlichung der Gewinnermittlung und damit eine Angleichung der Steuerbemessungsgrundlagen ist deshalb dringend erforderlich.“ Auch bei den Steuersätzen müsse es im Sinne einer Harmonisierung zumindest zu einer Bandbreitenregelung kommen, um DumpingSteuersätze unmöglich zu machen. Auch müsse, so Eigenthaler, durchgehend ein sogenanntes „Countryby-Country-Reporting" eingeführt werden. Auf diese Weise würden Unternehmen der Öffentlichkeit zeigen, in welchem Land sie wie viel an Steuern bezahlen. „Eine solche Transparenz würde der verbreiteten Skepsis gegenüber der Steuermoral der Großunternehmen entgegen wirken“, so das Fazit des Vorsitzenden der Fachgewerkschaft des deutschen Finanzpersonals. Luc Frieden, Luxemburger Politiker und langjähriger Weltbank-Gouverneur, schrieb demgegenüber im Mai 2014 in „The European“, die EU brauche mehr Steuerwettbewerb. Frieden, der unter anderem Finanzminister des Großherzogtums war und inzwischen Berater des Vorstands der Deutschen Bank ist, erklärte, Steuerbetrug sei nur durch internationale Regeln wirksam zu bekämpfen. Würden internationale Steuerregeln nicht auf globalem Niveau eingeführt, entstünde besonders kleineren Staaten wie Luxemburg ein Wettbewerbsnachteil. „Viele Firmen haben Luxemburg auserwählt als bestmöglichen Standort ihres europäischen oder ihres weltweiten Hauptsitzes. Sie weisen in Luxemburg reelle Aktivität mit hohem Mehrwert auf. Die Besteuerung dieser Firmen in Luxemburg ist legal und legitim.“ Ein weltweites Steuerregime zur Voraussetzung für ein Ende des Steuerdumpings zu machen, bedeutet freilich im Kern, nichts gegen Steueroasen in Europa unternehmen zu wollen. Steuerwettbewerb mit Regeln Nicht alles, was legal ist, ist auch erwünscht, schrieb der Präsident des Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung, Clemens Fuest, Ende November 2014 in einer Stellungnahme zu „Luxemburgs Steuertricks“. Der Wirtschaftsprofessor, der inzwischen als Nachfolger Hans-Werner Sinns am ifo Institut gehandelt wird, warnte aber davor, „das Kind mit dem Bade auszuschütten“. Einheitliche europäische Körperschaftssteuersätze würden nicht reichen. Es müssten auch die Bemessungsgrundlagen harmonisiert werden. Das hätte in Deutschland etwa die Abschaffung der Gewerbesteuer zur Folge und würde bei Personengesellschaften auch die Einkommensteuer betreffen. Steuerwettbewerb verhindere auch eine zu hohe Unternehmensbesteuerung, die Arbeitsplätze in Europa vernichten würde. Termine -18- 18.03.2015 Podiumsdiskussion: TTIP - Monster, Megachance – oder einfach nützlich? Friedrich-Naumann-Stiftung; Deutsche Welle Mediensaal; Bonn; 19:00 Uhr 18.03.2015 Bundestag: EU-Ausschuss; Berlin 19.03.2015 Informationsveranstaltung: Europäische Jugendarbeitslosigkeit: Wie kommen wir aus der Krise? Schwarzkopf-Stiftung; Berlin; 18:00 Uhr 19.03.2014 Bürgerdialog: TTIP - Wir müssen reden! Akademie des Sports; Hannover; 18:30 Uhr 25.03.2015 Diskussion: Der Westliche Balkan: Gegeneinander oder miteinander in Richtung Europäische Union? Europa-Union; Deutscher Bundestag; Berlin; 18:00 Uhr 10. Jahrgang aktuell März 2015 Gespräch mit Markus Ferber, Mitglied des Sonderausschusses für Steuergerechtigkeit im Europäischen Parlament Der CSU-Politiker Markus Ferber ist Sprecher des Parlamentskreises Mittelstand und erster stellvertretender Vorsitzender des Ausschusses für Wirtschaft und Währung im Europäischen Parlament. Der 50jährige Augsburger gehört dem Europäischen Parlament seit 1994 an. Zuvor arbeitete der Diplom-Ingenieur für Elektrotechnik für Siemens in München und für Pfister in Augsburg. Von 1999 bis 2014 war er Vorsitzender der CSU-Europagruppe. 2005 wurde er zum Bezirksvorsitzenden der CSU Schwaben gewählt. Seit 2000 ist er Landesvorsitzender der Europa-Union Bayern. Markus Ferber ist Mitglied des im Februar eingesetzten Sonderausschusses im Europäischen Parlament zu Steuerabsprachen. Einblick © Markus Ferber, 2015 Europathemen: Worum ging es in der so genannten Luxleaks-Affäre? Ferber: Luxemburg hat in den vergangenen Jahren in mehreren hundert Fällen eine steuerliche Vorteilsbehandlung für einzelne Großunternehmen über so genannte Steuervorabsprachen – so genannte „Tax Rulings“ - gewährt. Durch diese Steuervorabsprachen haben viele Großunternehmen substantiell weniger Steuern gezahlt, als sie es sonst hätten tun müssen. Luxemburg ist aber keineswegs das einzige Land, welches solche wettbewerbsverzerrende Steuervorteile gewährt hat. Andere prominente Beispiele sind Irland, die Niederlande, Zypern, Österreich, Malta, die KanalInseln oder Gibraltar. Wir haben es hier also mit einem gesamteuropäischen Problem zu tun. Europathemen: War es Zufall, dass diese Geschichte genau zu dem Zeitpunkt hochkam, als die neue EUKommission vor ihrem Amtsantritt stand? Ferber: Ich persönlich glaube nicht, dass es Zufall war. Ich war aber durchaus überrascht, dass Luxemburg in den Fokus kam, obwohl die schlimmeren Fälle in anderen EU-Mitgliedstaaten zu finden sind. Nicht nur Luxemburg, zum Beispiel soll auch Belgien großen internationalen Konzernen unlautere Steuervorteile verschafft haben. Der Begriff „Luxleaks-Affäre“ ist also etwas irreführend. Europathemen: Wer hätte ein Interesse daran, JeanClaude Juncker zu schwächen? -19- Ferber: Es geht bei der Aufklärung nicht um die Person Jean-Claude Junckers. In Luxemburg gab es das System der Steuervorabsprachen über Jahrzehnte und unter jeder Regierungskonstellation. Deswegen geht es auch weniger darum, einzelnen Personen etwas nachzuweisen, als Aufklärung in der Sache zu betreiben. Und zwar nicht nur in Luxemburg, sondern eben europaweit. Europathemen: Wäre ein Untersuchungsausschuss nicht besser gewesen als nur ein Sonderausschuss? Ferber: Die Einsetzung des Sonderausschusses ist das richtige Signal zum richtigen Zeitpunkt. Wir haben in Europa ein großes Problem des unfairen Steuerwettbewerbs – das müssen wir dringend angehen. Es geht mir weniger darum, wie das Kind heißt, als dass wir zu tatsächlicher Aufklärung in der Sache kommen. Aber man muss auch wissen, dass ein Untersuchungsausschuss im Europäischen Parlament nicht die Rechte hat wie ein Untersuchungsausschuss im Deutschen Bundestag. Umso wichtiger ist es, dass wir die Instrumente, die wir jetzt mit dem Sonderausschuss an die Hand bekommen, voll ausnutzen. Europathemen: Was genau soll der Sonderausschuss erreichen? Ferber: Mit der Einsetzung des Sonderausschusses hat das Europäische Parlament ein klares Signal gesetzt, dass es an vorderster Front an der Aufklärung der in vielen Mitgliedstaaten zu findenden unfairen Steuerpraktiken mitwirken will. Das Thema des unfairen Steuerwettbewerbs bewegt die Menschen. aktuell 10. Jahrgang Niemand kann Verständnis dafür haben, wenn multinationalen Konzernen eine steuerliche Sonderbehandlung zuteil wird – das sorgt für ein Gefühl, dass es nicht fair zugeht in Europa. Und wenn das Gefühl vorherrscht, dass Europa einen solchen Rahmen für Steuertrickserei bietet und nichts dagegen tut, nagt das an der Legitimität der Europäischen Union. Jetzt gibt es ein gewisses Momentum, das wir nutzen müssen, um Druck auf die Regierungen der Mitgliedstaaten auszuüben, damit es zu tatsächlichen Änderungen an diesem System kommt. Grundlage dafür ist aber eine solide Aufklärung und Problemanalyse. Einblick Europathemen: Was heißt das konkret? Konkret sollen Praktiken im Bereich verbindlicher Steuervorabsprachen bis 1991 zurück untersucht werden. Außerdem geht es auch darum, die Regeln zu überarbeiten, nach denen die Europäische Kommission staatliche Beihilfen in den Mitgliedstaaten behandelt, sowie jene Vorschriften zu überprüfen, die bestimmen, wie transparent die Steuerabsprachen in den EU-Ländern sein dürfen. Der Ausschuss wird auch die nachteiligen Auswirkungen aggressiver Steuergestaltung auf die öffentlichen Finanzen ins Auge fassen und Empfehlungen für die Zukunft aussprechen und die Kommission zum Handeln auffordern. März 2015 Europathemen: Soll der Steuerwettbewerb in der Europäischen Union abgeschafft werden? Ferber: Nein. Wir wollen keine Einheitssteuer in Europa. Steuerwettbewerb an sich ist in Ordnung – Steuerwettbewerb, der mit unfairen Mitteln praktiziert wird, ist das Problem. Und letzteres wollen wir angehen. Denn es kann nicht sein, dass zu Lasten anderer in Europa Gewinnverlagerungen stattfinden. Europathemen: Wo genau ziehen Sie die Grenze zwischen Steuerwettbewerb und Steuerdumping? Ferber: Hier eine ganz klare Grenze zu ziehen, ist natürlich schwierig. Dessen bin ich mir auch bewusst. Da die EU keine Kompetenzen im Bereich der Steuerpolitik hat, bleibt es weitgehend den Mitgliedstaaten überlassen, den Kampf gegen Steuerbetrug zu intensivieren. Aber das Europäische Parlament hat hier in der Vergangenheit zahlreiche Vorschläge zur Verbesserung des Steuerwettbewerbs und für weniger Wettbewerbsverzerrung gemacht. Wir wollen eine einheitliche Bemessungsgrundlage für die Körperschaftssteuer. Es geht mir nicht um einheitliche Höhen der Unternehmenssteuern, sondern um eine einheitliche Berechnungsgrundlage in allen Mitgliedstaaten. Der Steuersatz soll auch künftig von jedem Land national entschieden werden. Bei der Finanztransaktionssteuer drängt das Parlament darauf, ein möglichst breites Spektrum von Finanzinstrumenten zur Anwendung zu bringen. Zugleich fordern wir aber Ausnahmen für den Handel mit KMU-Anteilen und für Pensionsfonds, um deren geringeren Spekulationsrisiken Rechnung zu tragen. Auch beim Thema Mehrwertsteuersystem haben wir als Parlament zahlreiche Verbesserungen vorangetrieben. Steuer- sowie Zolldaten können künftig leichter abgeglichen werden, um Mehrwertsteuerbetrug zu verringern. Markus Ferber: „Wenn das Gefühl vorherrscht, dass Europa einen solchen Rahmen für Steuertrickserei bietet und nichts dagegen tut, nagt das an der Legitimität der Europäischen Union“ © Markus Ferber, 2015 Europathemen: Das ist eine breite Palette. Reichen sechs Monate aus, all diese Ziele zu erreichen? Ferber: In sechs Monaten alles genau unter die Lupe zu nehmen, wird sicherlich nicht einfach. Aber das wird sich zeigen und hängt natürlich auch vom Kooperationswillen der Regierungen der Mitgliedstaaten ab. Im Zweifelsfall muss das Mandat des Sonderausschusses verlängert werden, bis wir konkrete Ergebnisse auf dem Tisch haben. -20- Multinationale Unternehmen sind inzwischen ziemlich gut darin, die nationalen Steuersysteme so gegeneinander auszuspielen, dass sie am Ende trotz hoher Gewinne kaum mehr Steuern zahlen – das schadet den öffentlichen Kassen massiv. Bestes Beispiel dafür ist die so genannte Mutter-Tochter-Richtlinie. Ursprünglich ist diese dazu gedacht gewesen, Doppelbesteuerung zu vermeiden. Viele Unternehmen haben den Sinn der Richtlinie aber inzwischen ins Gegenteil verkehrt, Doppelbesteuerung wollen wir verhindern, Doppel-Nicht-Besteuerung aber erst recht. Alle Mitgliedstaaten müssen jetzt beweisen, dass sie bei Steuertricksereien nicht länger wegsehen. Der Druck, die Revision der Mutter-Tochter-Richtlinie endlich zum Abschluss zu bringen und gleichzeitig Steuer- 10. Jahrgang aktuell deals abzustellen ist in den letzten Wochen massiv angestiegen. Inzwischen gibt es bei der MutterTochter-Richtlinie auch bereits Bewegung hin zu einer Anti-Missbrauchsklausel – das geht in die richtige Richtung. Mit dem Sonderausschuss werden wir den Druck nochmals erhöhen. Europathemen: Hat die Schuldenkrise der Staaten nicht auch mit zu niedriger Unternehmensbesteuerung zu tun? Ferber: Nicht ausschließlich. Wenn Steuern zu aggressiv optimiert werden, kaum Steuern gezahlt werden oder der Staat nicht in der Lage ist, Steuern einzutreiben, wirkt sich das natürlich negativ auf die Situation der öffentlichen Haushalte aus – ganz klar. Aber hinzu kommen noch andere Dinge wie etwa ein Mangel an Wettbewerbsfähigkeit in vielen Krisenstaaten und so etwas lässt sich nicht mit den Mitteln der Steuerpolitik lösen. März 2015 Europathemen: Muss die Wirtschafts- und Währungsunion um eine Fiskalunion ergänzt werden und wenn ja, wie soll diese aussehen? Ferber: Nein, die Europäischen Verträge und der Vertrag von Lissabon sind da ganz klar: Die Steuerhoheit muss bei den Mitgliedstaaten bleiben. Die EU hat in Steuerfragen vor allem eine Funktion: die Kooperation in diesem Bereich zu ermöglichen und zu erleichtern. Etwa beim Informationsaustausch in Steuerfragen oder eben der Schaffung einer einheitlichen Bemessungsgrundlage und einem Mehrwertsteuersystem, das weniger betrugsanfällig ist. Einblick Europathemen: Ganz konkret: Welche Steuern lassen sich in der EU harmonisieren? Ferber: Nochmal: Es geht nicht um Steuerharmonisierung. Das Europäische Parlament wirbt schon seit Jahren für eine einheitliche Bemessungsgrundlage bei der Unternehmensbesteuerung – das allein würde schon sehr helfen, dass Unternehmen die unterschiedlichen Steuersysteme der Mitgliedstaaten nicht mehr so leicht gegeneinander ausspielen können. Leider weigern sich die Regierungen der Mitgliedstaaten, das Thema anzupacken. Dann geht es um das Thema Mehrwertsteuersystem: In den letzten Jahren haben wir als Parlament zahlreiche Verbesserungen des Mehrwertsteuersystems vorangetrieben. Wir haben Maßnahmen eingeführt, um es unternehmensfreundlicher zu machen und um Betrug besser zu verhindern. Aber ich sehe hier immer noch Verbesserungsbedarf. Aber bei Lohn- und Einkommenssteuern sehe ich keine Notwendigkeit, weil hier nicht die Befürchtung von Steuerflucht besteht. Europathemen: Wenn es unterm Strich bei mannigfaltigen steuerlichen Gestaltungsmöglichkeiten der Nationalstaaten bleibt, wie soll dann eine nachhaltige, wettbewerbsfähige europäische Infrastruktur finanziert werden? Ferber: Den Zusammenhang sehe ich nicht. Soweit wird es nicht kommen und das ist auch nicht das Ziel. Es geht um unternehmensinterne Kreditfinanzierung, Gewinn- und Verlustverlagerung und Verhandelbarkeit von Steuerschulden. Das muss abgestellt werden und dann werden sich auch für die Infrastruktur und andere öffentliche Investitionen neue Spielräume ergeben. -21- Ferber: Der Begriff „Luxleaks-Affäre“ ist irreführend © Comugnero Silvana - Fotolia.com Europathemen: Kann der Euro ohne mehr fiskalischen Zusammenhalt und finanzielle Solidarität überleben? Ferber: Ja, definitiv. Die Instrumente der wirtschaftspolitischen Koordinierung, die in den vergangenen Jahren geschaffen wurden, reichen meines Erachtens in jedem Fall aus. Es kommt jetzt vielmehr darauf an, dass auch alle Mitgliedstaaten diese Spielregeln, die sie selbst mit beschlossen haben auch tatsächlich umsetzen, die Kommission das auch konsequent einfordert und im Zweifelsfall entschieden eingreift. In dieser Frage sehe ich eher ein Vollzugsproblem. Europathemen: Wird das Europäische Parlament den Sonderausschuss nutzen, um in Fragen der Steuerpolitik politisch in die Offensive zu gehen? Ferber: Unser Ziel ist es dazu beizutragen, dass sich am unfairen Steuerwettbewerb in der EU tatsächlich etwas ändert. Da wird das Parlament natürlich die Öffentlichkeit suchen und Druck auf die Mitgliedstaaten ausüben, offensichtliche Fehlentwicklungen anprangern und die Kommission zu weiteren Schritten auffordern.