kulturen des kleinen - Wilhelm Fink Verlag
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kulturen des kleinen - Wilhelm Fink Verlag
KULTUREN DES KLEINEN KULTUREN DES KLEINEN Mikroformate in Literatur, Kunst und Medien Herausgegeben von Sabiene Autsch, Claudia Öhlschläger und Leonie Süwolto Unter Mitarbeit von Tim Pickartz Wilhelm Fink Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Universität Paderborn und der Universitätsgesellschaft Paderborn e.V. Umschlagabbildung: Sabiene Autsch, „Seoul“ (Aus der Serie „Es geschieht“, mehrteilig), 2010, Mixed Media, 18 x 15 cm Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Dies betrifft auch die Vervielfältigung und Übertragung einzelner Textabschnitte, Zeichnungen oder Bilder durch alle Verfahren wie Speicherung und Übertragung auf Papier, Transparente, Filme, Bänder, Platten und andere Medien, soweit es nicht §§ 53 und 54 UrhG ausdrücklich gestatten. © 2014 Wilhelm Fink, Paderborn (Wilhelm Fink GmbH & Co. Verlags-KG, Jühenplatz 1, D-33098 Paderborn) Internet: www.fink.de Einbandgestaltung: Evelyn Ziegler, München Printed in Germany Herstellung: Ferdinand Schöningh GmbH & Co. KG, Paderborn ISBN 978-3-7705-5677-9 INHALTSVERZEICHNIS SABIENE AUTSCH/CLAUDIA ÖHLSCHLÄGER Das Kleine denken, schreiben, zeigen. Interdisziplinäre Perspektiven ..................................................................... 9 DAS KLEINE DENKEN … MAREN J ÄGER Die Kürzemaxime im 21. Jahrhundert vor dem Hintergrund der brevitas-Diskussion in der Antike ........................................................ 21 ANDREAS KÄUSER Theorie und Fragment. Zur Theorie, Geschichte und Poetik kleiner Prosaformate ........................ 41 CLAUDIA ÖHLSCHLÄGER „Feindialektik der Zeit“. Aspekte einer Epistemologie der kleinen Form in transnationaler Perspektive .................................................................................................. 57 DAS KLEINE SAMMELN, ARCHIVIEREN … J OSEPH IMORDE Nippes. Beheimatung in kleiner Form ..................................................................... 71 CORNELIA BLASBERG Spannungsverhältnisse. Kleine Formen in großen ............................................................................ 81 J ENS BIRKMEYER Kürze als Kritik der Zeit. Verdichtung und Verknappung in Alexander Kluges Erzählungen ............ 101 6 INHALTSVERZEICHNIS DAS KLEINE SCHREIBEN … J ENS HOBUS „Nun wieder diese kleine Prosa, diese Abweichungen und -zweigungen“. Zur Ethik und Ästhetik des Kleinen im Werk Robert Walsers .................... 121 SILKE HORSTKOTTE „Augenblicksbeobachtungen“: Kurze Blicke in Kafkas Tagebüchern ........................................................ 145 MATTHIAS THIELE Notizen. Zur Poetik, Politik und Genealogie der kleinen Prosaform ‚Aufzeichnung‘ ........................................................................................... 165 UND LÖSCHEN … LISA GOTTO TippEx. Kleine Korrekturen ........................................................................ 195 DAS KLEINE MODELLIEREN … JUTTA STRÖTER-BENDER Materialität und ästhetische Präsenz. Historische Architektur- und Landschaftsmodelle ..................................... 213 SABIENE AUTSCH Große Künstler – kleine Räume. Das Atelier als Pappmodell ........................................................................ 229 UND ZEIGEN … J ENS SCHRÖTER Sehr kurze Bewegungsbilder. Zu einer kleinen Form ................................................................................ 251 INHALTSVERZEICHNIS 7 MICHAEL NIEHAUS Stehende Figur. Mikro-Narration und Serialität im frühen Comic Strip ............................... 265 GUNNAR SCHMIDT Miniaturen in der Medienkunst. Über Bill Viola und Tony Oursler .............................................................. 283 DAS KLEINE SENDEN … ANETTE P ANKRATZ Britische Sitcoms als Medium der Selbstbeschreibung ............................... 301 UND TRANSFORMIEREN … MERLE TÖNNIES Anti-hegemoniale Strategien des Kleinen: Britische dokumentarische Farbfotografie als Kritik des Thatcherismus ............................................................................................. 321 MIRNA ZEMAN Häufung des Kleinen. Zur Struktur von Hypes ........................................... 335 AUTORINNEN UND AUTOREN ........................................................ 353 SABIENE AUTSCH/CLAUDIA ÖHLSCHLÄGER Das Kleine denken, schreiben, zeigen. Interdisziplinäre Perspektiven Vom 24. bis zum 26. April 2013 fand an der Universität Paderborn ein interdisziplinäres Symposion statt, das kleinen Formen und Formaten als Thema, Motiv und Darstellungsmodus in Literatur, Kunst und Medien Aufmerksamkeit schenkte. Die Beiträge des Symposions, die im vorliegenden Band größtenteils präsentiert und um einige weitere nachträglich ergänzt wurden, liefern wichtige Impulse für eine offenkundig aktuelle und für verschiedene Forschungskontexte relevante Fragestellung: Welche Funktion und welche Bedeutung übernehmen kleine Dinge, Materialien und Schreibweisen, kleine und kleinste Genres für die Konstitution von Mentalitäten und die Beschreibung moderner und postmoderner Kulturen?1 Phänomene des Kleinen (auch im Sinn von Kürze und Dichte), des Randständigen, Marginalen, Rudimentären, Mikroskopischen begegnen uns abhängig von den Kulturen, die wir historisch betrachten, schon seit vielen Jahrhunderten. Programmatische Äußerungen allerdings, theoretische Reflexionen und Standortbestimmungen, die kleine Phänomene, Formate und Formen aufwerten und ihnen eine besondere Signifikanz zusprechen, treten erst im Zuge von Modernisierungsprozessen seit der Frühen Neuzeit auf. Für diese Entwicklung sind zum einen naturwissenschaftliche Paradigmen der Weltbetrachtung verantwortlich: Hier kommt dem mikroskopischen Blick eine besondere Bedeutung zu.2 Zum anderen etabliert sich im späten 19. Jahrhundert in den Humanwissenschaften das, was Carlo Ginzburg „Indizienparadigma“ genannt hat:3 eine sich, wie Ginzburg am Beispiel der Kunstgeschichte, der Kriminalistik und der Psychoanalyse zeigt, herausbildende Epistemologie der Spurensuche, für die das kleinste Faktum, das De1 2 3 Solchen Fragen widmet sich explizit schon der Band von Marianne Schuller und Gunnar Schmidt Mikrologien: Literarische und philosophische Figuren des Kleinen, Bielefeld 2003. Kittler, Friedrich: Geschichte der optischen Medien. Berliner Vorlesung 1999, Berlin 2002. Ginzburg, Carlo: Spurensicherung. Die Wissenschaft auf der Suche nach sich selbst, aus dem Italienischen von Gisela Bonz und Karl F. Hauber, Berlin 2002, S. 17. Vgl. auch den eingeleiteten Paradigmenwechsel innerhalb der Geschichtswissenschaft und -betrachtung insbesondere durch die Annales Schule der 1930er Jahre und dann der Sozial-, Alltags- und Mentalitätsund Erfahrungsgeschichte. Stellvertretend s. Rüsen, Jörn: „Die kleine und die große Geschichte. Zum Zusammenhang von Autobiographie und Geschichtswissenschaft“, in: Calließ, Jörg (Hrsg.): Lebenslauf und Geschichte. Zur historischen Orientierung im Einigungsprozeß, Loccum 1993, ( = Loccumer Protokolle, Bd. 63/92), S. 53-66. Rüsen, Jörn, Jürgen Straub (Hrsg.): Die dunkle Spur der Vergangenheit. Psychoanalytische Zugänge zum Geschichtsbewusstsein, Frankfurt a. M. 1998. 10 SABIENE AUTSCH/CLAUDIA ÖHLSCHLÄGER tail wichtig werden.4 Im 20. und 21. Jahrhundert schließlich befördern mehrere Faktoren den Bedeutungszuwachs des Kleinen, sodass es legitim ist, von sich entwickelnden „Kulturen des Kleinen“ zu sprechen: Eine sich im Zuge alltags(pop-)kultureller Entwicklungen etablierende Trivialästhetik wertet subjektive Handlungsfelder und private Objektbereiche auf, die für Literatur, Kunst und Medien gleichermaßen bedeutend werden.5 Kleine Dinge, die in der Alltagspragmatik beheimatet sind, gewinnen ebenso an Relevanz wie eine ästhetische Modellierung des Kleinen, die mit oftmals sprunghaft sich vollziehenden Transformationsprozessen innerhalb der Wahrnehmungs-, Informationsund Kommunikationskultur korreliert. Folgende Leitfragen ergeben sich aus diesem ersten Befund: In welcher Weise disponieren Mikroformate unsere Wahrnehmungseinstellungen und Realitätsentwürfe, inwiefern prägen sie nicht nur spezifische Sehkulturen, Mentalitäten, Erfahrungs- und Erinnerungsentwürfe? Inwieweit bildet das Kleine, seine Darstellung und Verhandlung, neue sozio-ökonomische und kulturell-ästhetische Maßstäbe aus, die auf soziale Interaktionen zurückwirken oder möglicherweise neue Vorstellungen von Bildung, Leben und Wissen generieren? Globalisierung und Digitalisierung von Lebenswelten setzen Prozesse der Komplexitätssteigerung in Gang, die paradoxerweise Verfahren der Komplexitätsreduktion, der Zerkleinerung, Fragmentierung, Komprimierung und Hybridisierung auf den Plan rufen. Die Cultural Studies und die Visual Studies greifen solche Tendenzen auf und formulieren neue Standards wissenschaftlicher Wertigkeiten. Neuere und aktuelle kulturgeschichtliche Studien diskutieren beispielsweise Austauschbeziehungen zwischen Dingen und Menschen unter dem Aspekt performativer Transformationsprozesse und des Crossover.6 Und schließlich leben wir in einem Zeitalter der zunehmenden Dynamisierung und Ökonomisierung von Zeit, wobei die Spannbreite dieser Erfahrung vom Eindruck der Beschleunigung bis hin zu Phänomenen der ‚langen Dauer‘, vom modernen Augenblicksund Plötzlichkeitsdispositiv bis hin zu imaginär oder auch virtuell erlebten Situationen der Zeitdehnung reicht.7 Kleine Formen, die auf Kürze, Komprimierung und Konkretion abgestellt sind, reagieren auf solche Dynamisierungsprozesse, wobei sich auch hier Paradoxien erkennen lassen: Das, was formal der Flüchtigkeit des Augenblicks geschuldet ist und beschleunigtes Zeiterleben in ein entsprechendes Format bringt, erweist sich zugleich als kleines Archiv polychroner Zeiterfahrung: Vielleicht wurde die unumgängliche Differenz zwischen der Präsenz, der Gegenwärtigkeit des Augenblicks und seiner gleichzei4 5 6 7 Schäffner, Wolfgang, Sigrid Weigel, Thomas Macho (Hrsg.): Der liebe Gott steckt im Detail. Mikrostrukturen des Wissens, München 2003. Vgl. etwa Fiske, John: Understanding Popular Culture, London 2007. Vgl. in Anlehnung und in Fortführung von Überlegungen Bruno Latours Düllo, Thomas: Kultur als Transformation. Eine Kulturwissenschaft des Performativen und des Crossover, Bielefeld 2011. Vgl. etwa Rosa, Hartmut: Beschleunigung. Die Veränderung von Zeitstrukturen in der Moderne, Frankfurt a. M. 2005. DAS KLEINE DENKEN, SCHREIBEN, ZEIGEN 11 tigen Flüchtigkeit und Unverfügbarkeit nie deutlicher erlebt als im Zeitalter einer enormen Informationskumulation und -dichte sowie den technologisch scheinbar grenzenlos möglichen Zugriffen darauf. Der vorliegende Band bringt narrative, visuelle und mediale Mikroformate in eine spannungsreiche Konstellation. Der Fokus liegt unter Einbeziehung historischer Perspektiven auf dem 20. und 21. Jahrhundert. Dabei werden epochale Kontinuitäten, aber auch Diskontinuitäten berücksichtigt, strukturelle Parallelen und Differenzen herausgestellt, die Rückschlüsse auf das Ineinandergreifen von Kulturen und Lebenswelten, d.h. der Populär- bzw. Alltagskultur erlauben. Die Beiträge richten ihre Aufmerksamkeit auf verschiedene Facetten von „Kulturen des Kleinen“: Auf kleine Formen, die aus Akten der Zertrümmerung und Zersplitterung hervorgehen. So finden sich Informations- und Kommunikationsformate der Kürze in narrativen und visuellen wie objektbezogenen und installativen Mikroformaten, die etwa aus der Zerschlagung großer Sinneinheiten hervorgehen, Details fokussieren oder eine Um- bzw. eine Neuordnung von Fragmenten vornehmen. Solche Mikroformate, soweit ihnen die temporale Qualität der Kürze eignet, reagieren auf die Erfahrung von Zeitknappheit, auf den Wunsch nach umstandsloser Erfassung des Gegenstands und die Distribution von Wissen in komplex gewordenen Lebenswelten; nicht selten werden sie aber zu Indikatoren eines zunehmenden Bedürfnisses nach Entschleunigung: Sie sistieren den Augenblick im Vollzug seines Vergehens, sie schärfen den Blick für die Erscheinungsweise des Flüchtigen, Ephemeren und lenken die Aufmerksamkeit auf das Detail, auf das scheinbar Nebensächliche, Triviale, Unauffällige. Hier kommen Gesten und Praktiken des Kleinen ins Spiel, die künstlerische und mediale Produktionsprozesse begleiten und auszeichnen; Kulturtechniken des Kleinen, ein Gedächtnis der kleinen Dinge, die sich in Materialitäten und Mentalitäten niederschlagen und dort ihre Spuren hinterlassen; Erfahrungsdimensionen und „Erfahrungsreservoirs“ des Kleinen, wie sie sich beispielsweise in der Hinwendung zu privaten Dingen, in der Miniatur- und Modellbildung sowie in Musealisierungspraktiken artikulieren, in denen die Grenzen zwischen Öffentlichkeit und Privatheit, zwischen high culture und low culture, aber auch die zwischen konventioneller Kunstund Architekturbetrachtung und deren Infragestellung fließend werden. Eine Theorie des Kleinen lässt sich in einem definitorischen Sinn nicht formulieren. Die im vorliegenden Band versammelten Beiträge machen gleichwohl deutlich, dass sich methodische Leitfragen abzeichnen, die an Betrachtungen und Reflexionen über das Kleine gebunden sind: Zum einen bedarf es immer wieder neu der Klärung, inwiefern eine qualitative von einer quantitativen Funktionsbestimmung des Kleinen zu unterscheiden ist. So betrachtet die Mehrzahl der vorliegenden Beiträge das Kleine vorwiegend als inhaltliches Relevanzkriterium, das ungeachtet formaler Eigenschaften wie Reduktion, Konzentration und Verdichtung Verfahren der Entfaltung und Ausdehnung in Gang setzt. Die Bestandsaufnahme einer Phänomenologie des Kleinen zieht zunächst Deskriptionsverfahren nach sich, analytische Perspek- 12 SABIENE AUTSCH/CLAUDIA ÖHLSCHLÄGER tiven ergeben sich insbesondere dort, wo es um das Konkretions-, Verfremdungs- und Transformationspotential des Kleinen geht: Kleine Formen zeigen ihre Kontur, ihr Profil im Kontext; eine Mikrostruktur evoziert stets ihren Makrokosmos. So hat man beispielsweise Mikroerzählungen mit fractal patterns verglichen, insofern sich in ihnen Strukturen und Muster auffinden lassen bzw. abzeichnen, die wie im Fall der mise en abyme Verborgenes sichtbar machen, das Große im Kleinen unter anderen Vorzeichen figurieren.8 Da kleine Formen und Formate die Grenze zwischen Sagbarem und Zeigbarem thematisieren und ausloten, eignet ihnen eine oszillierende, konstellierende und kombinatorische Qualität, die eindimensionalen Lesarten widersteht und modellbildend werden kann: Der Modellcharakter kleiner Formen verwirklicht sich in der Eröffnung von Möglichkeitssinn, denn er suggeriert dort Präsenz, wo er diese abzieht, und stellt dort Verfügbarkeit in Aussicht, wo diese sich entzieht. Die in diesem Band publizierten Beiträge haben unterschiedliche Mikroformate und -formen zum Thema: Sie reichen in Entsprechung des gewählten interdisziplinären Spektrums von der Prosaminiatur zum Tagebuch, vom Fragment zur Notiz, von Architektur- und Landschaftsmodellen zur Atelierminiatur, von kleinen Dingen des Alltagsgebrauchs zu Bewegungsbildern und zum Comic Strip, von der Video-Installation zu Sitcoms im Fernsehen und schließlich zur Dokumentarfotografie. Kleinster gemeinsamer Nenner dabei ist die Adressierung an einen Betrachter bzw. Leser, wodurch Momente des Interaktiven und Partizipatorischen in den Blick geraten. Der Disparatheit dieser Mikroformate und den unterschiedlichen Kontexten, in denen sie auftauchen, mag es geschuldet sein, dass die Beiträge sich in ihrem Umfang voneinander unterscheiden; dennoch wird unabhängig von solcher Disparatheit deutlich, dass die Anordnung des Kleinen, sobald dieser erst einmal (künstlerische) oder reflexive Aufmerksamkeit zukommt, im Raum, in der Erzählung, in der medialen Präsentation, auf die Sichtbarmachung, auf das Zeigen der Kleinheit des Kleinen ausgerichtet ist: Sei es, dass Kleines sich erst als Teil einer Serie konstituiert, sei es, dass es in der deiktischen Praxis der Installation den Wert eines Signifikats erhält, oder als Teil des kulturellen Archivs Spuren bahnt, die zu ‚großen‘ Themen wie Krieg, Katastrophen, Völkermord führen, zu Themen und Kontexten, die offenbar erst durch eine Fokussierung des Nebensächlichen verhandelbar, erzählbar und darstellbar werden. Zum Format wird die kleine Form, so eine weiterführende Perspektivierung, wenn sich in ihr, wie beispielsweise in der Serie oder in der Installation, Prinzipien der Beschränkung und des Pluralismus in gleicher Weise abzeichnen. Maren Jäger eröffnet den Band mit ihrem Beitrag zur Kürzemaxime im 21. Jahrhundert vor dem Hintergrund der brevitas-Diskussion in der Antike. Sie nimmt zeitgenössische mediale und literarische Kurz- und Kürzestformate in 8 Ette, Ottmar (Hrsg.): Nanophilologie. Literarische Kurz- und Kürzestformen in der Romania, Tübingen 2008, S. 3. DAS KLEINE DENKEN, SCHREIBEN, ZEIGEN 13 den Blick und bestimmt diese vor dem Hintergrund der brevitas-Diskussion in den Rhetoriken der griechischen und römischen Antike. Kürze wird hier im historischen Rekurs nicht nur quantitativ, sondern vor allem qualitativ bestimmt, woraus die Verfasserin literatur- wie medientheoretische Perspektiven für die Gegenwart ableitet. Andreas Käuser betrachtet in seinem Beitrag Theorie und Fragment. Zur Theorie, Geschichte und Poetik kleiner Prosaformate kleine Formen im Kontext einer Theorie und Geschichte des Fragments, das um 1800 als Idee und Konzept des Ästhetischen eine Blütezeit erlebt. Das Fragment spiegele formalästhetisch die Glaubensfeste einer progressiven Moderne, indem es die Idee eines beständigen Werdens materialisiere. Der Verfasser entwickelt vor dem Hintergrund einer Bestandsaufnahme der Modernisierungsschübe um 1800, 1900 und 2000 ein Verständnis von kleinen Formen der Gegenwart, wobei er zeigen kann, dass diese im Zuge einer fortschreitenden Komplexitätsverdichtung durch Digitalisierungs- und Globalisierungsschübe Ansätze zu einer „kulturell-ästhetischen Gegenbewegung“ mit dem Fokus auf Subjekt und Individuum liefern. Claudia Öhlschläger untersucht in ihrem Beitrag „Feindialektik der Zeit“. Aspekte einer Epistemologie der kleinen Form in transnationaler Perspektive Formen der Zeitgestaltung in Prosaminiaturen unterschiedlicher nationaler Provenienz und Epochen. In Anlehnung an Roland Barthes’ theoretische Überlegungen zur Koinzidenz von kleiner Form und Augenblick kann die Verfasserin an epischen Kurzformen von Ernst Jünger, Robert Musil, Alain Robbe-Grillet, Annie Ernaux und David Lagmanovich zeigen, dass im transnationalen und historischen Vergleich eine Verschiebung literarischer Figurationen des Augenblicks zu beobachten ist, die vom Primat der Vergegenwärtigung hin zur Zerlegung des Realen führt. Epische Miniaturen präzisieren und konkretisieren die Erfahrung der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. Joseph Imorde beschreibt in seinem Beitrag Nippes. Beheimatung in kleiner Form inszenierte Bild- und Objektwelten des Privaten als einen Versuch der Transzendierung des Verhältnisses von Welt und Geschichte, das im Zeitalter des Medienkapitalismus aus der Balance geraten ist. Kitsch und Nippes, entfunktionalisierte dekorative Dinge, gelten dem Verfasser als sentimentale Erzählungen des ‚Selbst‘, als „Versprechen auf die Absicherung und sentimentale Verankerung je eigener Geschichtlichkeit“ in einer grundsätzlich unverstandenen Umgebung. Diese emotiven Selbsterzählungen sind jedoch genuin an ein empathisches Betrachter-Subjekt gebunden. Wo sie ihrer privathistorischen Erinnerungs- und Erzählfunktion enthoben sind, gerät ihre Objekthaftigkeit und Materialität ins Zentrum einer nun auch kunsthistorischen Aufmerksamkeit. Cornelia Blasbergs Beitrag Spannungsverhältnisse. Kleine Formen in großen diagnostiziert ein Desiderat zeitgenössischer Romantheorie angesichts einer Fülle gattungshybrider Romanformen. Ausgehend von der formalästhetischen Betrachtung der in Romanen enthaltenen literarischen Kleinformen, wie 14 SABIENE AUTSCH/CLAUDIA ÖHLSCHLÄGER sie beispielsweise bei Dieter Kühn, Uwe Timm und Peter Wawerzinek vorliegen, entwickelt die Verfasserin einige formtheoretische Überlegungen, die dieses Spannungsverhältnis nicht nur für eine Gattungstypologie moderner Romane fruchtbar machen, sondern auch neue Impulse für eine modelltheoretisch interessierte Literaturwissenschaft liefern. Jens Birkmeyer zeigt in seinem Beitrag Kürze als Kritik der Zeit. Verdichtung und Verknappung in Alexander Kluges Erzählungen, dass Kleinheit bei Kluge nicht aus einer Komprimierung und Atomisierung von Narrativen resultiert, sondern die Kürze eines Narrativs hier vielmehr als eine „Entfaltung der Zeitkerne und Zeitkonstellationen“ aufzufassen ist. Erzählungen bei Kluge seien als gedehnte Augenblicke, Momente und Ausschnitte zu betrachten, die die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen in eine Konstellation bringen, um auf diese Weise Wirklichkeit als Möglichkeitsreservoir vorzuführen. Jens Hobus fragt in seinem Beitrag „Nun wieder diese kleine Prosa, diese Abweichungen und -zweigungen“. Zur Ethik und Ästhetik des Kleinen im Werk Robert Walsers nach der Position der Kurzprosa Walsers im Literatursystem der Zeit. Sie lasse sich nicht allein in einem quantitativen Sinn, sondern auch in semantischer Hinsicht als klein bestimmen. Der Verfasser entwickelt die Argumentation einer Poetik und Ästhetik des Kleinen, die sich sowohl in Walsers Schreibweise wie in seinem Verhältnis zum Schreibmaterial niederschlägt. Ein besonderes Augenmerk gilt der von Walser elaborierten Paradoxie, über Gesten der Bescheidenheit und Verniedlichung eine Aufwertung des Kleinen in sozialer wie in ästhetischer Hinsicht zu erzielen und auf diese Weise kulturkritische Akzente zu setzen. Silke Horstkotte widmet sich in ihrem Beitrag „Augenblicksbeobachtungen“: Kurze Blicke in Kafkas Tagebüchern den Veränderungen deskriptiver Verfahren und der Wirklichkeitsreferenz von Literatur unter dem Einfluss beschleunigter Wahrnehmungsmuster der Moderne. Anhand der frühen Tagebuchaufzeichnungen Kafkas zum Medium des Kaiserpanoramas entwickelt Horstkotte ein Exempel für ein Deskriptionsverfahren, „das die Unruhe des Betrachters und die Flüchtigkeit seiner Erfahrung im Kontext eines rasanten medialen Wandels erfassen kann“. Kafkas poetische Aneignung solcher Wahrnehmungsmuster wird vor dem Hintergrund der prominenten Bildmedien seiner Zeit präzisiert. Matthias Thiele widmet sich in seinem Beitrag Notizen. Zur Poetik, Politik und Genealogie der kleinen Prosaform ‚Aufzeichnung‘ den Notaten namhafter Literaten wie Schnurre, Handke und Canetti u.a. Er untersucht nicht nur ihre quantitative Kleinheit, sondern rückt überdies ihre qualitative Kürze jenseits bzw. unterhalb eines Werkbegriffs ins Zentrum der Betrachtung. Der Verfasser beschreibt in einer kurzen Typologie literarischer Aufzeichnungen ihre Poetik, berücksichtigt aber auch die Politik der Notiz, die sich einerseits in ihrem subversiven Verhältnis zu Werteregimen und- hierarchien zeige, ferner aber auch in ihrer Tendenz zur Neufiguration des Sichtbaren. Ihre genealogischen Bedingungen unterzieht Matthias Thiele einer mediengeschichtlichen Revisi- DAS KLEINE DENKEN, SCHREIBEN, ZEIGEN 15 on. Während die Durchsetzung und Autonomisierung der Notiz bisher weitgehend im Kontext literarhistorischer Strömungen betrachtet wurde, stellt der Autor ihren Durchbruch in den 1970er Jahren in den Kontext medialer Entwicklungen. Hier kommt vor allem dem Fernsehen als prominentem Medium eine besondere Rolle zu. Am Beispiel von Werbekampagnen der Firma TippEx wendet sich Lisa Gotto in ihrem Beitrag TippEx. Kleine Korrekturen Formen und Verfahren des Löschens und Überschreibens zu, um den Blick von der Ganzheit des Textes abzulenken und stattdessen Prozesse der Störung während seiner Verfertigung in den Vordergrund zu stellen. Der Weg führt vom Großen zum Kleinen: Gefragt wird nach der epistemologischen Funktion kleiner Korrekturen, wie sie von Löschungsmedien des Typs TippEx induziert und medial fortgesetzt werden. Jutta Ströter-Bender diagnostiziert in ihrem Beitrag Materialität und ästhetische Präsenz. Historische Architektur- und Landschaftsmodelle eine gegenwärtige Aufmerksamkeit für architektonische Modelle in musealen Kontexten. Die Verfasserin kann zeigen, dass solche Modelle ungeachtet ihrer jeweiligen epochalen Bedeutung und zum Teil beachtlichen Größe als kleine Formate fungieren, da sie die Aufmerksamkeit auf die zum Teil ungewöhnliche Gestaltung und Materialität lenken und durch solche Praktiken der Verfremdung den herkömmlichen Funktionsbereich von Architekturen hinterfragen. Sabiene Autsch eröffnet in ihrem Beitrag Große Künstler – kleine Räume. Das Atelier als Pappmodell eine kunstgeschichtliche Perspektive auf das Künstleratelier und diskutiert seine Modellfunktion. In den Miniaturen von Joe Fig, die Meisterschaft und Genius von Künstlern wie Jackson Pollock zitieren, sieht die Verfasserin räumliche und semantische Konkretionen, die verborgene Zusammenhänge sichtbar machen. Die spezifisch materielle und haptische Eigenschaft dieser Miniaturen, insbesondere die daran gebundenen ästhetischen Praktiken, verleihe ihnen transformatorische Qualität. Im Sinne einer Erfahrungsarchitektur fungieren sie nicht allein als Vermittler eines im Wortsinn greifbaren kunsthistorischen Wissens. Sie eröffnen vielmehr ein implizites Verständnis von Wirklichkeitskonstruktionen, das in ihrer kleinteiligen und deutlich unperfekten Materialität sichtbar werde. Jens Schröter nimmt in seinem Beitrag Sehr kurze Bewegungsbilder. Zu einer kleinen Form diverse Sequenzbilder, wie sie etwa in Werbekontexten effektvoll genutzt werden, in den Blick. Diese sowohl im Hinblick auf ihre quantitative Kürze als auch hinsichtlich ihrer Marginalität kleinen medialen Formen, wie er am Beispiel der Holographie und insbesondere der lentikularen Sequenzbilder exemplarisch aufzeigt, erforderten aufgrund von Phänomenen der Skalierung und Körpertechnik eine Revision hergebrachter Medientheorien und Mediengeschichten, da sie als Desiderata solcher Geschichten auf die Begrenzungen und blinden Flecken der am Kunst- und Massenmediensystem orientierten Theorien aufmerksam machten. 16 SABIENE AUTSCH/CLAUDIA ÖHLSCHLÄGER Michael Niehaus wendet sich in seinem Aufsatz Stehende Figur. MikroNarration und Serialität im frühen Comic Strip dem Mikroformat des frühen Comic Strips zu. Dieser sei zunächst einmal durch seine Überschaubarkeit und seinen hohen Wiedererkennungswert, den Michael Niehaus im Kontext des Konzepts der stehenden Figur ermittelt, als klein zu qualifizieren. Der Verfasser liest die Comics der Massenpresse als Mikronarrative, die er zu ihrer seriellen Erscheinungsform ins Verhältnis setzt. Der Comic Strip sei eben auch deswegen für eine Theorie des kleinen Formats interessant, weil sich dessen mediale Rahmenbedingungen in ihm niederschlügen. Die Mikronarration richte sich nämlich an einem bestimmten Ort der Zeitung ein und habe damit Serialität immer schon zur Voraussetzung der Erzählung. Gunnar Schmidt führt in seinem Beitrag Miniaturen in der Medienkunst. Über Bill Viola und Tony Oursler vor, wie das Kleine in der Ästhetischen Theorie als Marginalie konstituiert und positioniert wird. Am Beispiel exemplarischer Video-Installationen von Bill Viola und Tony Oursler zeigt der Verfasser, wie Mikro-Projektionen, d.h. das Kleine in der Medienkunst durch kunsthistorische Bezüge, Verweise und Einschreibungen, ein geradezu widerständiges Potenzial ausbilden. Gunnar Schmidt demonstriert, wie das MikroBild dadurch „die Qualität eines rätselhaften Emblems annehmen“ kann, um dergestalt in seiner paradoxen minimierten Erscheinung zwischen Verfügbarkeit und Entzug zu einer visuellen Erprobung für das betrachtende Subjekt zu werden. Anette Pankratz identifiziert in ihrem Beitrag Britische Sitcoms als Medium der Selbstbeschreibung diese Fernsehformate in zweifacher Hinsicht als kleine Formen: Zum einen basieren sie auf Kürze, zum anderen gehören sie in qualitativer Hinsicht zum massenmedialen Unterhaltungsprogramm und gelten in diesem Kontext als trivialer und kurzweiliger Zeitvertreib. Die Verfasserin führt aus, dass gerade durch die Bedingungen ihrer Kleinheit wie Stereotypisierung oder Klischeehaftigkeit, Verknappung und Vereinfachung kulturelle Wissensbestände nicht nur abgerufen, sondern im Kleinformat vor allem konkretisiert werden. Die humoristische Darstellung evaluiert dabei Rahmen des Sag- und Zeigbaren und offeriert Sinnangebote, die nicht ernst genommen werden müssen, aber können. Gegenstand des Beitrags von Merle Tönnies Anti-hegemoniale Strategien des Kleinen: Britische dokumentarische Farbfotografie als Kritik des Thatcherismus ist die britische Dokumentarfotografie der 80er Jahre, die sich mit ihrer auffälligen Farbgebung an die alltagspopuläre Werbeästhetik der Zeit anlehnt. Die Verfasserin deutet die künstlerisch marginalisierten Fotografien vor dem Hintergrund von John Fiskes Theorie des Populären als kleine Formen, die mit ihren Bezugnahmen auf die Darstellungskonventionen des thatcheristischen Marketing-Apparates jedoch einen wichtigen Beitrag zu einer kritischen Umdeutung bekannter Motive geleistet haben, und auf diese Weise ihr subversives kulturdiagnostisches Potential ausbilden konnten. DAS KLEINE DENKEN, SCHREIBEN, ZEIGEN 17 Im Fokus von Mirna Zemans Beitrag Häufung des Kleinen. Zur Struktur von Hypes stehen zeitgenössische literarische Moden bzw. Hypes, wie z.B. die auf dem Buchmarkt sich etablierende Vampirmanie der letzten Jahre. Die Verfasserin deutet diese Hypes nicht etwa unter bereits beachteten Gesichtspunkten des Makrosystems Ökonomie, um die Relationen zwischen Hype und Markt oder Hype und Kapitalismus zu evaluieren. Vielmehr ist es Mirna Zeman daran gelegen, eine Mikroanalyse der Struktur von Hypes vorzuführen, bei der minimalistische Kategorien wie Wiederholung, Häufung, Zyklus, Serie und kleines Format argumentationsleitend sind. Positionen einer Kulturtheorie des ‚Minnimologischen‘ tragen dazu bei, Hypes als kleine Formate verstehbar zu machen, die in einen unablässigen Prozess der Generierung und des literarischen Transfers von Paratexten eingelassen sind. Für die Finanzierung der Tagung möchten wir der Paderborner Universitätsgesellschaft und der Universität Paderborn sehr herzlich danken. Leonie Süwolto und Tim Pickartz danken wir mit großem Nachdruck für ihr Engagement und ihre Sorgfalt bei der Einrichtung des Buchmanuskripts. Sabiene Autsch, Claudia Öhlschläger Paderborn, im Januar 2014 DAS KLEINE DENKEN … MAREN JÄGER Die Kürzemaxime im 21. Jahrhundert vor dem Hintergrund der brevitas-Diskussion in der Antike Vorüberlegungen „Tritt frisch auf, tu’s Maul auf, hör bald auf.“1 Was Luther vor einem halben Jahrtausend so einprägsam wie ruppig auf den Punkt brachte, wirkt heute aktueller denn je. Denn mit der Moderne ist Kürze zu dem kommunikativen Imperativ geworden. Kurze Botschaften und kleine literarische Formen erscheinen besonders konkurrenzfähig, ob als Newsline, Werbeslogan, Handy-Haiku, Slam-Text oder elevator pitch, ein Verkaufsgespräch, das nicht mehr Zeit als eine Fahrstuhlfahrt mit dem Kunden beanspruchen darf, um ihn von einem Produkt zu überzeugen.2 Eine SMS ist 160 Zeichen lang, ein durchschnittlicher DFG-Antrags-Abstract darf nicht mehr als 500 Worte umfassen; für Texte auf Websites, bei denen man den ganzen Text auf seinem Bildschirm erfassen können sollte, gilt eine Länge zwischen 1.000 und 2.000 Zeichen als ideal (in Zeiten des Smartphones darf man davon ausgehen, dass diese Vorgaben noch schrumpfen werden) – schließlich beträgt die Verweildauer auf einer Internetseite durchschnittlich ca. 40 Sekunden.3 Ein optimal verständlicher Satz hat (laut dpa) maximal neun Wörter, die Obergrenze der erwünschten Satzlänge sind 20, der erlaubten 30 Wörter.4 Weil der Einsatz von Fernsehwerbung nach Sekunden abgerechnet wird, dauerte ein TV-Spot 2011 im Schnitt 30 Sekunden; die Vorgabe für Marketingstrategen lautet: „möglichst viel positive Aufmerksamkeit […] in möglichst kurzer (Ausstrahlungs-)Zeit“ zu generie- 1 2 3 4 Luther, Martin: „Tischrede über die Predigt. Modo praedicandi Cordato“, in: ders.: Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe in 120 Bänden, Weimar 1883-2009, Bd. TR 4: Tischreden aus den Jahren 1538-1540, Weimar 1967 (11916), S. 692, 5171a. Vgl. Rupp, Thomas: In 40 Sekunden auf den Punkt. Von Sinn und Zweck eines Elevator Pitch. http://www.ihrwebvideo.de/EP/SR08-09ElevatorPitch.pdf [Zuletzt aufgerufen am 19.9.2013]. http://de.wikipedia.org/wiki/Verweildauer_(Internet) [Zuletzt aufgerufen am 19.9.2013]. Zur Veranschaulichung: die durchschnittliche Satzlänge der B ILD -Zeitung beträgt zwölf, die des Johannes-Evangeliums – und übrigens auch der Buddenbrooks – 17 Wörter. Bei Doktor Faustus sind es schon 31, bei Brochs Tod des Vergil bestürzende 92 Wörter. Vgl. Prestl, Marco: Textverständlichkeit und Textoptimierung. 4. Wie lang ist „kurz“ wirklich? http://www.marcoprestel.de/text14.html [Zuletzt aufgerufen am 19.9.2013]. 22 MAREN JÄGER ren. Die Wirkungsforschung hat gezeigt, dass die Wirksamkeit von Fernsehspots mit zunehmender Länge nur unterproportional wächst.“5 Ein weiteres prägnantes Beispiel für Kürze und Verkürzung ist die Maximallänge für Nachrichtenbeiträge. Sie beläuft sich bei der ARD auf 90 Sekunden, bei RTL auf 50. „Kurz“ heißt im TV das notorische Intervall von 30 Sekunden. Kommunikationswissenschaftler und Wahrnehmungspsychologen haben herausgefunden, dass die Aufmerksamkeit beim Konsum von Fernsehbildern ab einer Länge von 30 Sekunden rapide abnimmt, wenn sich auf der Bild- und Tonebene nicht viel verändert.6 Das gleichsam ‚klassische‘ Nachrichtenformat ist der Nachrichtenbeitrag mit einer Gesamtlänge von ca. 90 Sekunden – auch „Einsdreißiger“ genannt. Dieser besteht aus drei Teilen, beginnend mit einer Bild-Text-Kombination, die von einem Off-Sprecher kommentiert wird, darauf folgt ein O-Ton, dann wieder eine Bildfolge mit OffSprecher – jeweils mit einer Länge von je 30 Sekunden. Unter der veränderten Berichterstattung und den veränderten Rezeptionsgewohnheiten der Zuschauer, der Informationsflut und dem Zeitdruck in den Nachrichtenmagazinen ist ein bemerkenswerter Wandel der Formate zu verzeichnen: Immer öfter lässt sich beobachten, dass der klassische Einsdreißiger zwei O-Töne enthält, also vier neue Impulse innerhalb derselben Zeitspanne gesetzt werden. Was fast allen bislang genannten Beispielen gemeinsam ist: Die Kürzevorgaben der genannten Medienphänomene sind vor allem technische und quotenaffine, sprich: rein quantitative. Was Kürze ist, ist damit noch lange nicht gesagt. Ein gravierendes Problem scheint darin zu bestehen, dass der Imperativ der Kürze in heutigen Kommunikationszusammenhängen vor lauter vermeintlicher Selbstverständlichkeit kaum mehr eigens thematisiert wird, sondern in den jeweils neuesten Medienformaten gleichsam ‚naturalisiert‘ erscheint. So gewährt Twitter konstitutiv nur 140 Zeichen, obwohl die Speichertechnik, die früher als technische Grenze (und Entschuldigung) wirkte, inzwischen ohne weiteres mehr zuließe. Doch wenngleich das Kürzegebot in der Diskussion um jüngste Medienphänomene in seiner Omnipräsenz bisweilen gar nicht mehr explizit wird,7 bleibt es als Imperativ doch umso wirksamer. Es 5 6 7 http://de.wikipedia.org/wiki/Werbespot [Zuletzt aufgerufen am 19.9.2013]. Vgl. Henze, Christian: Apropos Werbefilm. Vom kommerziellen Umgang mit der Phantasie, Konstanz 2005, S. 135. Dass in dieser Hinsicht noch heute immer neue Paradigmenwechsel zu verzeichnen sind, belegt die Tatsache, dass Internetwerbespots meist wieder länger sind – hier wird nach Clicks abgerechnet, nicht nach Sekunden. Länger ist auch Kinowerbung, die – gleichsam als Vorfilm – narrativer angelegt ist als TV-Werbung. http://www.bmtd.de/30-sekunden [Zuletzt aufgerufen am 19.9.2013]. Vgl. z.B. Döring, Nicola: Sozialpsychologie des Internet. Die Bedeutung des Internet für Kommunikationsprozesse, Identitäten, soziale Beziehungen und Gruppen, 2. Aufl., Göttingen 2003 (12002); Ettenhuber, Andreas: Beschleunigung und Zäsuren im Fernsehprogramm. Wann schalten Zuschauer um? Baden-Baden 2010 (= Angewandte Medienforschung. Schriftenreihe für die Kommunikationswissenschaft; 48); Grimm, Rüdiger: Digitale Kommunikation, München 2005. Götz Großklaus dagegen begreift die Geschichte der Moderne scharfsich- DIE KÜRZEMAXIME IM 21. JAHRHUNDERT 23 ist, als ‚wüssten‘ inzwischen sowohl die Geräte als auch die Benutzer: Bei so vielen – immerfort wachsenden – Kommunikationsoptionen wird es zur Pflicht, sich kurz zu fassen. So erhält Kürze eine fast schon naturgesetzliche Qualität, der es geschuldet sein mag, dass sie kaum mehr einen eigenen Diskurs hervorbringt.8 Die omnipräsenten quantitativen Kürzevorgaben und ihre damit einhergehende Naturalisierung überdecken jedoch die fundamentalen qualitativen Aspekte, die Kürze immer auch (implizit oder explizit) eigen sind, also all jene Erscheinungen und Modi, in denen Kürze nicht primär an eine Zeichenzahl gebunden ist, sondern produktions-, werk- und wirkungsästhetisch konzeptualisiert wird, wo es also nicht auf Knappheit oder Schnelligkeit ankommt, sondern auf Verdichtung, Intensität, ja Epiphanie, und damit eher auf Komplexität anstelle von Simplizität.9 All dies ist mit rein quantitativen Bestimmungen überhaupt nicht sichtbar zu machen, im Gegenteil drohen diese paradoxerweise gerade im allgemeinen Strom des Kurzen unterzugehen. Ziel soll es hier deshalb sein, Ansätze dafür zu liefern, wie zwischen solchen qualitativen, emphatischen Momenten des Kurzen bzw. Kleinen einerseits, und der gegenwärtigen Praxis bzw. dem zugehörigen Diskurs des Bloß-nicht-zu-Langen andererseits, vermittelt werden könnte. Dazu bietet es sich an, in der Geschichte heuristisch zurückzuschreiten, nicht nur, um auf diesem Weg festzustellen, dass die Kürzediskussion ohnehin bedeutend älter ist, sondern auch – und dies ist ungleich wichtiger –, weil mit der Geschichte der Rhetorik und der Poetik eine Diskurstradition greifbar ist, in der quantitative und qualitative Elemente der Kürze seit jeher expliziert und auf unterschiedliche Art miteinander ins Verhältnis gesetzt wurden.10 8 9 10 tig als Geschichte der Kürzung von Intervallen, die „als Zwischenräume intensivierten Wahrnehmens und Nachdenkens zwischen Vergangenheit und Zukunft durch die Neuen Medien peu a peu schrumpfen und verschwinden“ (Großklaus, Götz: Medium und Intervall: Vom Buch zum Computer. http://www.hbs-hessen.de/archivseite/pol/gros.htm [Zuletzt aufgerufen am 19.9.2013]). In dieser Qualität findet sie ihre Objektivierung in den Erklärungsversuchen der Neurophysiologie bzw. Hirnforschung, die bislang meist quantitative Phänomene abzubilden vermögen: Ernst Pöppel ‚entdeckte‘ ein ‚Zeitfenster‘ mit einem Umfang von 30 Millisekunden als zeitliche Orientierungseinheit, in welcher Wahrnehmung erfolgt und simultan verarbeitet wird. Im 3-Sekunden-Rhythmus gibt es eine kurze Wahrnehmungszäsur, in der das Gehirn die Umgebung gewissermaßen auf ‚Updates‘ prüft. Informationseinheiten, die in das Dreisekundenfenster ‚passen‘, sind insofern klar im Vorteil. Vgl. Pöppel, Ernst: Grenzen des Bewußtseins, 2. Aufl., Frankfurt a. M. 2000 (11985). Vgl Eco, Umberto: „Forme semplici e forme breve“, in: L’espresso, LXVIII (2002), H. 14, S. 48: „il fatto che una forma sia breve (che è misura di durata temporale) no vuole direnecessariamente che sia semplice (che è misura di complessita semantica ed estetica“. Den Forschungsstand hinsichtlich der Einbettung von brevitas in das antike System der Rhetorik und die mustergültigen Exempla repräsentiert der ausgezeichnete und materialreiche Artikel von C./L.G. Kallendorf im Historischen Wörterbuch der Rhetorik, der brevitas durch die einschlägigen antiken Quellen verfolgt und ihre Systemstelle in der antiken Rhetorik markiert (Kallendorf, Craig William; Kallendorf, L. G.: „Art. ‚Brevitas‘“, in: Ueding, Gert (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 2, Tübingen 1994, Sp. 53-60). Ferner sind verein- 24 MAREN JÄGER Bevor jedoch gleichsam ab ovo der Fokus auf die antike Rhetorik (mit Aristoteles: die griechische, mit Cicero, der Rhetorica ad Herennium und Quintilian: die römische) als systematische Ausgangsbasis eines nicht von vornherein quantitativ limitierten Kürzediskurses gerichtet werden wird, um – geleitet von einem zugleich historischen und systematischen Interesse – einige Grundunterscheidungen von Kürze herauszuarbeiten, soll mit Platons Dialog Protagoras eine Kürze-Urszene ins Bewusstsein gerufen werden. Platon: Protagoras Eine Urszene nicht nur des kurzen Sprechens, sondern auch und besonders des Sprechens über Kürze stellt Platons Dialog Protagoras dar, in dem sich auch die erste Verwendung des Ausdrucks ‚lakonisch‘ findet. Sokrates spricht hier von einer brachylogia tis lakoniké/&)(#% !' #"*$!" (Pl. Pr. 343b), also einer Art lakonischer Kürze, als besonderer rhetorischer Begabung der Spartaner:11 Wenn sich jemand auch mit dem schlechtesten Lakedaimonier einläßt, er wird finden, daß dieser sich lange Zeit in seinen Reden ganz schlecht zeigt, hernach aber, wo es sich trifft im Gespräch, schießt er auf ihn ein tüchtiges, ganz kurzes 11 zelte Rückgriffe auf die rhetorische brevitas-Kategorie zur Erläuterung moderner Medienformate zu verzeichnen; etwa werden unter dem Schlagwort ‚Medienrhetorik‘ – ausgehend von der „Hypothese, dass […] Medien in ihrer Eigenschaft als Medien rhetorische Effekte entfalten“ (Knape, Joachim: „Medienrhetorik. Einleitung zu den Beiträgen“, in: ders.: Medienrhetorik, Tübingen 2005, S. 1-16, hier: S. 7) – Elemente aus dem System der antiken Rhetorik auf moderne Medienphänomene appliziert. Olaf Kramer („Rhetorik im virtuellen Raum. Das Internet in medialrhetorischer Perspektive“, in: Knape (Hrsg.): Medienrhetorik, S. 195210) etwa arbeitet so entlang der Theorie und Praxis der Web Usability und ihren drei Dimensionen page, content und site design [vgl. auch Nielsen, Jakob: Designing Web Usability, 5. Aufl., Indianapolis, IN 2000 (11998)] heraus, dass und wie das rhetorische brevitas-Gebot für die Gestaltung von Internethomepages maßgeblich wird. Derartige Verweise sind naheliegend und lokal fruchtbar, wären aber aus dem historischen Systemzusammenhang der Rhetorik heraus zu vertiefen. Frühe Beispiele des lakonischen Sprechens, die weithin Verbreitung erfuhren, sind bei Plutarch unter dem Titel „Apophthegmata Laconica“ (,+% μ "*$!") in den Moralia überliefert (entstanden im ersten Werkdrittel Plutarchs, also zwischen 70 und 100 n. Chr.); die Apophthegmata wurden in der Frühen Neuzeit etwa durch Erasmus von Rotterdams Übersetzung verbreitet und damit zum antiken Gattungsmuster für Spruchsammlungen wie etwa Julius Wilhelm Zincgrefs Apophthegmata, der Teutschen scharfsinnige kluge Sprüch (1626-1631). Vgl. Verweyen, Theodor: Apophthegma und Scherzrede. Die Geschichte einer einfachen Gattungsform und ihrer Entfaltung im 17. Jahrhundert, Bad Homburg 1970 (= Linguistica et Litteraria; 5). DIE KÜRZEMAXIME IM 21. JAHRHUNDERT 25 zusammengedrängtes Wort wie ein gewaltiger Bogenschütze, so daß, wer mit ihm spricht, nicht besser als ein Kind gegen ihn erscheint. (Pl. Pr. 342e)12 Interessanter noch ist indes eine Erwiderung des Sokrates auf den als „große Rede“ des Protagoras in die Literaturgeschichte eingegangenen Passus. In seiner Replik geriert sich Sokrates ironisch als typischer user mit begrenzter Zeit, Auffassungsgabe und Gedächtniskapazität: [D]a du mit einem Vergeßlichen zu tun hast, beschneide mir die Antworten und mache sie etwas kürzer, wenn ich dir anders folgen soll. Wie heißest du mich denn kurz antworten? Etwa kürzer soll ich dir antworten, sagte er, als nötig ist? – Keinesweges, sprach ich. – Alsoso viel als nötig ist. – O ja, sagte ich. – Soll ich dir also so viel antworten, als ich für nötig halte, oder so viel als du? – […] Willst du nun mit mir ein Gespräch führen, so bediene dich gegen mich der andern Art zu reden, der Kurzrednerei [&)(#%]. (Pl. Pr. 334d-335a)13 Bemerkenswert ist hier die frühe Formulierung des in der römischen Rhetorik seit Cicero topisch gewordenen ‚soviel wie nötig‘ in der Spielart: ‚nicht kürzer als nötig, so ausführlich wie nötig‘. Hier kommt also eine Forderung nach sachlicher Angemessenheit ins Spiel, eine Sachkürze, wobei obendrein je nach Aussagebedürfnis des Senders bzw. Rezeptionsbedürfnis des Empfängers unterschieden wird. Abb. 1: Vergleich von absoluter Kürze und Sachkürze. 12 13 Platon: „Protagoras“, in: ders.: Werke in acht Bänden. Griechisch und deutsch. Bd. I: Ion. Hippias II. Protagoras. Laches. Charmides. Euthyphron. Lysis. Hippias I. Alkibiades I, hrsg. v. Gunther Eigler, bearb. v. Heinz Hofmann, griech. Text v. Louis Bodin, dt. Übers. v. Friedrich Schleiermacher, Sonderausg. Darmstadt 1990, S. 83-217, hier: S. 169. Ebd., S. 149. 26 MAREN JÄGER Für den „Medienexperten“ Sokrates gilt die Fähigkeit, beliebig lang kenntnisreich über ein Thema zu sprechen, als Bedingung für die ungleich wichtigere Fähigkeit, kurz zu sprechen: Denn du, wie man von dir rühmt und du auch selbst sagst, verstehst beides, sowohl in langen Reden als in kurzen die Unterhaltung zu führen; denn du bist eben ein weiser Mann; ich aber weiß nun einmal mit diesen langen Reden gar nicht umzugehen […]. Also solltest du, der du beides kannst, uns nachgeben, damit eine Unterhaltung zustande käme. Nun aber du nicht willst und auch ich nicht länger Zeit habe und es nicht abwarten könnte, wenn du deine Reden so in die Länge zögest – denn ich muß anders wohin –, so gehe ich […]. (Pl. Pr. 335bd)14 Sokrates macht nun von einem Recht Gebrauch, das als letztes und radikales Mittel dem Rezipienten zu Gebot steht, wenn die Kürzemaxime nicht eingehalten wird: Er wendet sich zum Gehen, zieht also seinerseits eine Grenze. Conditio sine qua non für das Recht auf Zappen oder Weggehen ist natürlich, dass die Machtverhältnisse ausgeglichen sind wie hier und sie ein Aus- und Abschalten grundsätzlich zulassen. Kallías hält Sokrates jedoch zurück und versucht ihn zur Fortsetzung des Dialogs zu bewegen, worauf Sokrates entgegnet: Wünschest du also mich und den Protagaras zusammen zu hören, so bitte diesen, wie er mir vorher geantwortet hat in kurzen Worten und auf das, was ich fragte, so auch jetzt noch mir zu antworten; wo aber nicht, welches soll denn die Weise der Gespräche sein? Denn ich wenigstens habe immer geglaubt, dies wären zwei ganz verschiedene Dinge, Gespräch miteinander führen und Reden halten. (Pl. Pr. 336a-b)15 Sokrates nutzt diese Gelegenheit für einen poetologischen Diskurs über die Charakteristika des Gesprächs, die er von den Vorgaben einer fortlaufenden Rede dezidiert abgrenzt, ist doch das dialogische Muster strukturiert durch kurze Antworten, die sich ausschließlich auf das unmittelbar zuvor Gefragte beziehen. Auf Anraten des Hippias verständigt man sich auf die Zuhörerschaft als Kontrollinstanz, die die Einhaltung der gebotenen Kürze überwachen, mithin das „rechte Maß“ sicherstellen soll. Heute ist der brevitas-Wart mit allen Vorund Nachteilen im Regelfall: die Quote – also das Phantasma des objektivierten Publikumswillens. 14 15 Ebd., S. 151. Ebd., S. 151-153. DIE KÜRZEMAXIME IM 21. JAHRHUNDERT 27 Die Rhetorik des Aristoteles: angemessene Kürze als Impfstoff gegen sophistische Manipulation Auf dem Weg vom sokratischen brevitas-Disput zur systematischen Theoriebildung stellt Aristoteles gewissermaßen ein Zwischenglied dar. Das in Platons Protagoras formulierte Prinzip des Mittelwegs begegnet uns in der Rhetorik des Aristoteles wieder. Hier wird es eingeführt, um die Erzählung (diegesis) in der epideiktischen Redegattung zu bestimmen. (Kapitel III, 16) An dieser Systemstelle – nämlich als Stilqualität im Zusammenhang mit der Erzählung bzw. der Darstellung von Abläufen in der Zeit – wird brevitas auch in den folgenden Jahrhunderten rhetorischer Theoriebildung meist diskutiert werden. Aristoteles fordert nun gerade nicht kategorisch Kürze, sondern eine „angemessene“ Weise des Sprechens, die dem zugrundeliegenden Sachverhalt gerecht wird: 4. In unseren Tagen behauptet man lächerlicherweise, die Erzählung müsse kurz sein. Da kann man doch nur so antworten, wie jemand es einem Bäcker gegenüber auf die Frage, ob er einen spröden oder einen weichen Teig kneten solle [sic], „Was denn? Ist es unmöglich, ihn in der rechten Weise zu kneten? […] Die Korrektheit besteht hier jedenfalls weder in der raschen [noch] in der gedrängten, sondern in der angemessenen Weise des Sprechens.16 Neu ist hier allein die Systemstelle, an der brevitas künftig verortet ist; die Kategorie der Angemessenheit, die in der römischen Rhetorik unter das aptum subsumiert wird, fand sich ja bereits im Protagoras. Typisch für Aristoteles und in höchstem Maße charakteristisch für sein Rhetorikverständnis ist, dass er mittels brevitas die Affekterregung begrenzen will: 7. Ferner muß man Geschehnisse nur in solchem Umfang vortragen, daß ihre aktualisierende Darstellung nicht Mitleid und Entrüstung hervorrufen [sic].17 Kürze versteht Aristoteles mithin als Impfung gegen Manipulation, die Schlimmeres zu verhindern vermag, denn alles, was über die rechte Darlegung des Gegenstands hinausgeht, steht unter Sophistikverdacht und läuft damit dem aristotelischen Ideal einer dialektischen, sachorientierten Rhetorik zuwider. „Mitleid und Entrüstung“ hervorzurufen sei indes leider eine geläufige rhetorische Praxis seiner Zeit – und dem könne das Prinzip der Kürze (neben der Leitkategorie der Klarheit) Einhalt gebieten. 16 17 Aristoteles: Rhetorik. Übers., m. einer Bibliographie, Erläuterungen u. einem Nachwort v. Franz G. Sieveke, München 1980, S. 212-213. Quintilian wird sich auf diesen Passus später in seiner Institutio Oratoriae beziehen; vgl. Quintilianus, Marcus Fabius: Institutionis oratoriae. Libri XII. Ausbildung des Redners. Zwölf Bücher, hrsg. u. übers. v. Helmut Rahn, Erster Teil, Buch I-VI, Darmstadt 2006 (= Texte zur Forschung; 2), S. 450. Aristoteles: Rhetorik, S. 213. 28 MAREN JÄGER Rhetorik: Cicero, Rhetorica ad Herennium, Quintilian: Systemstelle, Definition, Simulation und Gefahren der Kürze In der römischen Rhetorik – sei es bei Cicero, in der anonymen Rhetorica ad Herennium oder bei Quintilian – wird Kürze zwar auch in der Figurenlehre (etwa bei figurae per detractionem wie Ellipse, Syllepse, Aposiopese u.ä.) verhandelt; eine feste Systemstelle wird brevitas, wie bereits bei Aristoteles gesehen, unter den virtutes narrationis zugewiesen.18 Da die für den Verlauf des Gerichtsprozesses – denn als Paradigma fungiert zuvorderst das genus iudicale – entscheidende argumentatio auf der narratio aufsetzt, gelten auch für letztere besondere Regeln: Sie muss kurz, klar (aperta/perspicuitas) und wahrscheinlich (probabilis/veri similis) sein, damit sie ihre vorrangig belehrende Dimension (docere) innerhalb der auf persuasio zielenden Rede entfalten kann.19 Bei Cicero heißt es in De Inventione (I 20 28) über die Darlegung des Sachverhalts in der Gerichtsrede (genus iudicale): Die Darlegung des Sachverhalts (narratio) müsse also „drei Eigenschaften besitzen: sie möge kurz, klar und glaubwürdig sein“ („ut brevis, ut aperta, ut probabilis sit“).20 Definiert wird Kürze – sei es bei Cicero, in der anonymen Rhetorica ad Herennium oder bei Quintilian – zwischen den Polen des ‚so viel wie mindestens nötig‘ einerseits und ‚nicht mehr als nötig‘ andererseits. Eine prägnante Definition von brevitas findet sich in De Inventione (I 22 32): 18 19 20 Brevitas gehörte also zunächst nicht in das System der vier virtutes dicendi (puritas, perspicuitas, aptum und ornatus), auch wenn sie dort mehr oder minder implizit (meist in Paarung mit der perspicuitas) auftritt. Erst die Stoiker verhandeln brevitas im 3. Jahrhundert n. Chr. als fünfte Stiltugend. Die Reihenfolge, in der die drei virtutes narrationis in den Rhetoriken aufscheinen, ist durchaus nicht einheitlich und hängt von der jeweiligen Funktionalisierung der brevitas ab: Wird sie als Voraussetzung der Klarheit betrachtet, insofern als es ihr aufgegeben ist, das attentum parare (Aufmerksamkeit) und docilem parare (Wissbergierde) des Publikums aufrechtzuerhalten (vgl. Lausberg, Heinrich: Handbuch der Literarischen Rhetorik, 4. Auflage, Stuttgart 2008 (11960), § 266, S. 151), die durch das exordium/prooemium geweckt wurden, so erscheint sie in der Aufzählung der virtutes vor der Klarheit – zumal im exordium i. d. R. dem Publikum ein brevitas-Versprechen gegeben wird, das es in der narratio einzulösen gilt (vgl. ebd.). Wird die Klarheit der Darstellung als Voraussetzung für das Verständnis der narratio angenommen, erscheint Kürze als Gedächtnisfunktion – und ist damit der perspicuitas nachgeordnet (so bei Cicero und Quintilian; bei Horaz indes finden sich beide Funktionalisierungen vereint, s. u.; vgl. ebd.). Cicero, Marcus Tullius: De inventione. Über die Auffindung des Stoffes. De optimo genere oratorum. Lateinisch – deutsch, hrsg. u. übers. v. Theodor Nüßlein, Darmstadt 1998 (= Sammlung Tusculum), S. 62-63. Vgl. auch Cicero, Marcus Tullius: De oratore. Über den Redner. Lateinisch – deutsch, hrsg. u. übers. v. Theodor Nüßlein, Düsseldorf 2007 (= Sammlung Tusculum), S. 166-167; Cicero, Marcus Tullius: Orator. Der Redner. Lateinisch – deutsch, hrsg. u. übers. v. Bernhard Kytzler, Düsseldorf, Zürich 1998 (= Sammlung Tusculum), S. 100-101 sowie die Rhetorica ad Herennium. Lateinisch – deutsch, hrsg. u. übers. v. Theodor Nüßlein, München 1994 (= Sammlung Tusculum), S. 22-23 und Quintilianus: Institutionis oratoriae, S. 448-449. DIE KÜRZEMAXIME IM 21. JAHRHUNDERT 29 Kürze liegt vor, wenn kein Wort außer dem notwendigen herangezogen wird. Diese ist in dieser Hinsicht deswegen nützlich, weil durch die Ereignisse selbst und durch die Arten des Falles, nicht durch Worte und nicht durch äußeren Schmuck das Gemüt des Zuhörers gefesselt werden soll. Brevitas est, cum nisi necessarium nullum assumitur verbum. Haec in hoc genere idcirco est utilis, quod rebus ipsis et partibus causae, non verbis neque extraneis ornamentis animus auditoris tenendus est.21 Das moralisch-psychologische Argument, das noch vom antisophistischsachorientierten Rhetorikideal des Aristoteles herrührt, verpflichtet Redner und Zuhörer auf die Sache selbst, und das heißt hier, im narratio-Kontext, die für den Fall konstitutiven Ereignisse. Kürze als wirksame Arznei gegen eine Blendung des Rezipienten durch rhetorischen Prunk – diese Auffassung Ciceros stellt einen weiteren konstitutiven Topos dar, den man aus der antiken Rhetorik bis weit hinein in die Kürzedebatte der Neuzeit verfolgen kann. Quantität wohnt gemeinhin die Tendenz inne, zu blenden, mangelnde Qualität zu verdecken. Die ausführlichsten und pointiertesten Ausführungen zur Kürze in der römischen Rhetorik stammen aus Quintilians Institutio Oratoria (IV 2, 43), wo die brevitas-Kategorie ebenfalls im Rahmen der narratio behandelt wird. Seine fundamentale brevitas-Definition bestimmt Kürze als ein ‚ne plus quam oporteat‘ – also in Abgrenzung von der vitia des Zuviel, wie es etwa durch Tautologien und Weitschweifigkeit entstehen könnte: Wir aber nehmen Kürze in dem Sinn: nicht, daß weniger, sondern daß nicht mehr gesagt wird als nötig […]. nos autem brevitatem in hoc ponimus, non ut minus, sed ne plus dicatur, quam oporteat […].22 Wie schon bei Cicero und – 400 Jahre zuvor – bei Aristoteles wird die Kürze also als eine angemessene Form des Sprechens klassifiziert, die den Mittelweg zwischen zwei Extremen wählt. Bezeichnenderweise wird die Verpflichtung auf ein „nicht mehr als nötig“ bei Quintilian stets flankiert von der Warnung vor einem Zuwenig: „non ut minus […] dicatur, quam oporteat“. Die Sorge, dass ‚zuwenig‘ gesagt werden könnte, dass in diesem Fall die Wahrscheinlichkeitsbelege auf der Strecke bleiben, durchdringt (fast) alle brevitas-spezifischen Überlegungen Quintilians. Wie jede Tugend an ihren Rändern dem Bösen ausgesetzt ist, sind auch die rhetorischen virtutes von je zwei vitia bedroht. Die Überschreitung der Grenzen der Kürze in Richtung zweier Extreme lässt sich in den Änderungskategorien als adiectio (zuviel) oder detractio (zuwenig) ausdrücken; das erste vitium, das Zuviel, erzeugt beim Zuhörer Langeweile und Überdruss (taedi21 22 Cicero: De inventione, S. 68-69. Quintilianus: Institutionis oratoriae, S. 452-453. 30 MAREN JÄGER um/fastidium), das zweite, das Zuwenig – also die übertriebene Kürze –, führt zu obscuritas, also zu Dunkelheit. Während Quintilian vor den Folgen unangemessener Kürze warnt, stellt für Cicero Weitschweifigkeit eine größere Gefahr für das Verständnis dar als Dunkelheit (obscuritas): Denn oft hat man eine Sache zu wenig verstanden mehr wegen der Weitschweifigkeit als wegen der Unklarheit der Darstellung des Sachverhaltes. nam saepe res parum est intellecta longitudine magis quam obscuritate narrationis. (I 20 29)23 Cicero fordert eine absolute Kürze der narratio, Quintilian eine relative, die dem Zuhörer, der Redesituation und den mehr oder minder komplexen Umständen des erzählten Falles Rechnung trägt. Quintilians Urteil fällt eindeutig aus: Bevor die Kürze auf Kosten der Verständlichkeit geht, muss eher ein Überschuss an Information in Kauf genommen werden, anstatt Essentielles fortzulassen. Seine Warnung lautet folgerichtig: lieber zu viel als zu wenig! Nicht weniger aber hat man sich in acht zu nehmen vor der Folge allzu einschneidender Kürzungen, der Dunkelheit, und es ist besser, die Erzählung bietet etwas zuviel als zuwenig; denn sagt man Überflüssiges, ist es lästig, streicht man Notwendiges, gefährlich. non minus autem cavenda erit, quae nimium corripientis omnia sequitur, obscuritas, satiusque aliquid narrationi superesse quam deesse; nam supervacua cum taedio dicuntur, necessaria cum periculo subtrahuntur. (IV 2, 44)24 Den Zuschauer zu langweilen ist misslich, sein Un- oder Missverständnis zu riskieren, ist unverzeihlich – obscuritas mithin verheerender als taedium. Man ahnt: als Online-Nachrichtenredakteur im 21. Jahrhundert könnte Quintilian nicht reüssieren. Bemerkenswert – und beinahe psychologisch avant la lettre – mutet die Hypothese Quintilians an, dass Kürze eine relative Größe sei und eine gefällig geschmückte Rede den Zuhörern kurzweiliger erscheine, d.h. als kürzer empfunden werde, dass also das delectare als eines der drei officia oratoris Kürze als Rezeptionseindruck vorzutäuschen vermag. Das ‚Soviel nötig‘ aber möchte ich nicht so nur verstanden wissen, als bezeichne es das, was zur Mitteilung genügt; denn die Kürze darf nicht ohne Schmuck sein, sonst wäre sie ungebildet; denn das Vergnügen hat die Gabe zu täuschen, und weniger lang erscheint, was unterhaltsam ist, wie eine schöne bequeme Reise, auch wenn die Strecke länger ist, weniger anstrengt als ein Abkürzungsweg durch rauhes, dürres Gelände. quantum opus est autem non ita solum accipi volo, quantum ad indicandum sufficit, quia non inornata debet esse brevitas, alioqui sit indocta; nam et fallit vo23 24 Cicero: De inventione, S. 62-63. Quintilianus: Institutionis oratoriae, S. 452-453.