In Lappland gibt`s, was bei uns längst Mangelware gewor
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In Lappland gibt`s, was bei uns längst Mangelware gewor
> ABENTEUER In Lappland gibt’s, was bei uns längst Mangelware geworden ist: Einsamkeit, viel Platz zum Atmen und wohltuende Leere. Hier schwingt sich der Kungsleden von Nord nach Süd. Für die einen ist das einer der schönsten Trekking-Pfade. Für Freerider ist es der längste Singletrail der Welt. FREERIDE 1/07 62 Schwedisch Lappland ist so groß wie Bayern und Baden-Würtemberg zusammen. Aber hier leben nur so viele Menschen wie in Freiburg. In Lappland ist Biken immer Freeriden. FREERIDE 1/07 63 >FREERIDEABENTEUER ABENTEUER Singletrail-Gekurve, bis der Arzt kommt. Doch hier kommt kein Arzt. Außer ein paar kauzigen Nordland-Trekkern trifft man auf dem 425 Kilometer langen Kungsleden niemanden. TEXT Dimitri Lehner FOTOS Franz Faltermaier W ir hören ein leises Klopfen. Als würde jemand mit den Fingerkuppen auf eine Tischplatte trommeln. Mit einem Mal explodiert das Geräusch und vor uns klebt ein Helikopter in der Luft. Zum Greifen nahe. Für Sekundenbruchteile erkennen wir den Piloten hinter der Windschutzsscheibe. Wummmmmmmm. Windböen schlagen uns ins Gesicht. Die Turbine heult auf, als der Heli senkrecht in den Himmel sticht, wendet und wieder zu uns zurückpendelt. „Der filmt uns“, schreit Stefan. Aus den Augenwinkeln kann ich tatsächlich den Kameramann erkennen. Er lehnt sich weit zur Türe hinaus. Wirklich hinschauen will ich nicht, denn mein Blick hangelt sich über eine handbreite Holzbohle in einem Meter Höhe. Der Vorderreifen folgt dem Blick, zittert über das schmale Brett. Meine Hände geben sanfte Lenkimpulse, während um mich rum die Luft brodelt. Jetzt nur nicht runterfallen. Unter mir gluckert schwarzes Moorwasser. Der Heli schießt über mich hinweg, meine Regenjacke knattert in den Windböen, dann verschwindet er hinter der Bergflanke und Stille erobert das Tal zurück. Wir sind wieder alleine, mitten in Lappland, balancieren über Holzbohlen auf Schwedens schönstem Wanderpfad. Kungsleden, „der Königsweg“ – so heißt Schwedens Stolz – ist angeblich einer der schönsten FREERIDE 1/07 64 IN LAPPLAND IST EUROPA NOCH WILD. „FJÄLL“ NENNEN DIE SCHWEDEN IHRE NORDISCHE EINSAMKEIT. Trekkingpfade der Welt. Er sollte uns von Abisko nördlich des Polarkreises nach Süden führen, durch „Europas letzte Wildnis“, wie der Lappland-Reiseführer verspricht. Wildnis – deswegen sind wir hier. Wir suchen, was es bei uns nicht mehr gibt: unberührte Natur, einen Raum ohne Zäune, das Wilde. Denn egal, wohin man daheim flüchtet, die Zivilisation heftet sich einem an die Fersen. Selbst wenn man in ein entlegenes Alpental kriecht, immer brummt ein Motorsegler durch den Himmel, dröhnt eine Schnellstraße in der Ferne oder kreischen Stimmen durch den Wald. Sogar wenn man nachts um vier hinters Trafo-Häuschen pinkelt, kriegt man ein „Also, so geht’s nicht!“ zu hören. Regeln und Bestimmungen knebeln jeden Zentimeter Deutschland. Hier oben, am Polarkreis, soll das anders sein. Und jetzt bläst uns ein Helikopter vom Trail. Wildnis Lappland – eine Illusion? Wir warten auf einer Steinplatte unter hohem Himmel. Franz, Andi, Hannes und Tom schließen zu uns auf. „Habt ihr den Heli gesehen?“, ruft Stefan den Freunden entgegen. „War ja nicht zu übersehen und zu überhören“, kommt von Hannes zurück, der sich Schlammspritzer aus dem Gesicht reibt. „Anfangs wollte der Heli euch filmen“, sagt Stefan. „doch als er uns Style-Minister erspäht hat, ist er abgedreht. Konnte ja keiner mit ansehen, euer Gegurke.“ Selbst Hannes lacht, obwohl er bei der Heli-Attacke aus Schreck von den Holzbohlen gerutscht und in die Sumpfwiese gestürzt ist. Die Holzbohlen sind eine Besonderheit des Kungsleden. Immer wenn das Gelände für Wanderer unwegsam wird, führt der Trail über zwei handflächenbreite Holzbretter. Manchmal mehrere hundert Meter weit überbrückt der Pfad so Sümpfe, Steinfelder oder tosende Bäche. Für uns sind diese „schwedischen Northshore-Trails“ ein Riesenspaß. Außer man lenkt in den Spalt zwischen den Bohlen. Der ist nämlich gerade so breit, dass der Reifen hineinpasst und sich verkeilt. Eine Rolle vorwärts hat Hannes gerade hinter sich – für jeden von uns sollte der Kungsleden noch jede Menge > Als das Stichwort „Forellen“ fällt, zückt Franz sofort seine Teleskop-Angel. Andi dreht sich ein Zigarettchen, Tom sucht Heidelbeeren, Stefan legt sich zum Nickchen ins Gras, Hannes wäscht seine Füße im Bach (und verliert sein Minitool). Auch heute werden wir kaum 30 Kilometer schaffen. FREERIDE 1/07 65 > ABENTEUER Überschläge bereit halten. Auf dem Weg nach Süden kreuzt der Kungsleden keine Straßen und keine Ortschaften. Nur wenige bewirtschaftete Hütten liegen entlang des Trails verstreut – beliebte Zufluchtsorte für Wanderer. Auf den Holzbohlen summen die Reifen fast lautlos dahin. Erst unsere Begrüßung „Hej, hej“ – so macht man das auf Schwedisch – lässt die wenigen Wanderer, die wir treffen, überrascht herumkreiseln und ungläubig auf die Bikes starren. Stefan genießt den Überraschungsmoment und trompetet sein „Hej hej“ den Wanderern so kraftvoll in den Rücken, dass sie oft vor Schreck ins Moorwasser hüpfen. „Hier gilt das Jedermanns-Recht“, rechtfertigt Stephan sein Rüpelbenehmen. Das gibt es tatsächlich. Es regelt das Leben im rauhen Norden anstelle der Katalog-dicken Gesetzbücher bei uns, gestattet Lagerfeuer, wildes Zelten und Beerensammeln. Der Anstieg zum 1 160 Meter hohen Tjäktjapass zieht unsere Gruppe weit auseinander. Immer mehr Steinplatten schieben sich vor die Reifen. Das Gelände wird steiler. Absteigen, schieben, aufsteigen, fahren – in immer kürzerem Wechsel. Wind rauscht in den Ohren. In der Ferne tost ein Wasserfall über rabenschwarze Felsen, Woll- Irren hinter mir abhängen. Selbst die Steine scheinen aus ihrem Schlaf zu schrecken. Sie murren und grollen, rufen und singen. Manche bleiben auch stumm liegen, wenn ich drüber rolle. Stumm wie seit Tausenden von Jahren. Auch die Landschaft schlummert in Lappland einen Märchenschlaf – jung und unverändert über Jahrtausende. Der Downhill vom Pass ist die schönste Abfahrt bisher. Seen glitzern von unten, als seien sie mit Diamanten gefüllt. Leider fehlt die Muse für Panorama-Blicke, denn wie jede Abfahrt mutiert auch dieser Downhill zum Rennen. Ein kleiner Patzer, einmal nicht die Idealline getroffen oder zu früh die Bremse angetippt – und die Freunde ziehen vorbei. Jeder riskiert alles – als säße ihm der Teufel im Nacken. Stefan hilft auch gerne mit einem Rempler nach und plärrt: „JedermannsRecht“. Unglaublich, was die Bikes aushalten, denke ich und rase durch ein Feld von Steinbrocken, groß wie Kinderköpfe, manche spitz wie Haifischzähne. Mal schnellt der Lenker vor die Brust, dann reißt er die Arme in die Länge. Die Augen suchen nach einem Ausweg aus dem Labyrinth. Unten im Tal tauchen die vertrauten Holzbohlen auf. Die Erlösung vom Holterdipolter und den Verfolgern, denn auf den schmalen EIN HESSE MIT KNITTERGESICHT UND GAMASCHEN WILL WISSEN: IST BIKEN HIER ÜBERHAUPT ERLAUBT? blumen zittern verloren zwischen Steinbrocken, wenn Böen über den Pass fegen. Hannes, unser Orientierungsexperte, ist auf dem Kungsleden arbeitslos. Fast verärgert starrt der langhaarige Schwarzwälder auf die zahlreichen Wegmarkierungen. Seine Ersatzrolle in Schweden: Verlierer. Am vierten Tag hat er bereits Minitool, Handschuhe, Sonnenbrille und Badehose verloren. Und das, obwohl er akribisch alles verzurrt. Andi dagegen wirft seine Sachen in den Rucksack, als sei es ein Müllschlucker. Offene Sardinen-Dosen triefen, Schoko-Kekse schmieren, schweißige Socken feuchteln. Mit Wucht knallt er in den Pausen den Rucksack auf den Boden. Wenn es im Inneren dann klirrt und knackt, zuckt er nur mit den Achseln. Andi setzt andere Prioritäten. Er will mit seinem Freerider überall durchkommen, egal ob dicke Wackersteine den Trail verblocken oder Felsstufen senkrecht nach unten abbrechen: Wenn möglich will er der Schnellste sein und gut aussehen will er dabei auch. Sein Ehrgeiz peitscht ihn voran. Oben am Pass wird er nervös, denn Stefan und ich liegen vorne. Wir schieben die Bikes über die Kuppe und springen auf. Minuten vergehen und schon sitzt mir Andi mit wildem Gepoltere im Nacken. Wenn’s richtig steil wird, auch mein Rucksack. Jetzt ist es richtig steil. Steine klappern unter den Reifen und der Lenker zuckt in den Fäusten. Ich muss diesen FREERIDE 1/07 66 Brettern gibt es keine Chance zum Überholen. Bis dahin muss ich es schaffen. Die Nerven behalten, die schnellste Linie treffen, hoffen, dass diesmal der Hintermann patzt. Nochmal kräftig in die Pedale treten, der Rucksack kippt nach links, zieht nach rechts. Vorderrad hoch aufs Brett, Hinterrad entlasten, antreten. Geschafft. Die Reifen summen wieder übers Holz. Im nächsten Steinfeld verlassen mich die Kräfte, der Wille knickt und Andi zieht mit irrem Gejohle vorbei, später sogar Franz und das, obwohl er seinen schweren Fotorucksack trägt. Der blaue Himmel hat sich unterdessen eingetrübt. Wetterlaunen halten jeden Nordland-Reisenden auf Trab. Regen nieselt, Wolken wabern, huschen um Felswände, kriechen über dunkle Steinhaufen, als wir die Hütte Singi erreichen. Stefan betritt die Hütte als Erster. Ein Pärchen sitzt am Holztisch, schaut auf vom Postkarten-schreiben. „Von Abisko hierher mit dem Bike? Geht das überhaupt? Zu Fuß ist es uns schon schwer gefallen bei all den Steinen.“ – „Zu Fuß wäre es uns auch schwer gefallen“, sagt Stefan und kichert. Der Wind weht den Regen um die Hütte. Ein dicker Zwei-Meter-Mann mit Holzfällerbart und Entenschritt erwidert nicht einmal den Hej-hej-Gruß, schaut nur missmutig auf die Bikes. Ein Hesse mit Knittergesicht und Gamaschen will wissen, ob Biken auf dem Kungsleden überhaupt erlaubt > Northshore auf Schwedisch: Holzbretter führen über Sümpfe, Bäche und Steinfelder – oft mehrere hundert Meter. Tückisch: Manchmal passt der Reifen genau in den Spalt zwischen den Brettern. Jetzt fehlen nur noch Nils Holgerson und der Michel aus Lönneberga und die Chaostruppe ist perfekt. FREERIDE 1/07 67 > ABENTEUER sei. Komisches Volk, die Nordland-Trekker. Sollen wir bleiben oder weiter? Hannes ist für Bleiben und flirtet durchs Hüttenfenster mit einer blonden Klischee-Schwedin, deren XXLBusen über einem dampfenden Suppenteller schwebt. „Nee“, sagt Tom und schwingt sich aufs Bike. Wir brausen zurück in die Wildnis. Tom, Snowboardlehrer aus Oberstdorf, mag die Momente am liebsten, wenn wir weit weg sind. Wie einige Tage später in einem Seitental abseits des Kungsleden. Auf der Karte wird es „grüne Hölle“ genannt, denn in feuchten Sommern sollen hier Schwärme von Stechmücken den Himmel verdunkeln. Wir haben Glück: Der Sommer ist trocken, der Himmel blau. Schneebedeckte Berge leuchten in der Ferne. Einer davon ist Schwedens höchster, der Kebnekaise. Dort oben standen wir vor zwei Tagen, guckten runter in die grüne Hölle. Wir folgen dem Fluss auf einem kaum FREERIDE 1/07 68 sichtbaren Pfad. Die Reifen mahlen durch Sand, Birkenblätter schillern in der Sonne und der Fluss funkelt durch die Bäume. Tom atmet tief ein, füllt die Lungen mit Lapplandluft und ist glücklich. Erst gegen Mitternacht stellen wir die Zelte in Orange und Grün zwischen die Birken. Es wird schnell kalt und feucht, wenn die Mitternachtssonne für ein paar Stunden hinter den Bergen verschwindet. Wir rücken näher ans Lagerfeuer. Rauch säuselt in den klaren Himmel. Wir löffeln Beef Stroganov oder Jägereintopf aus Alutüten. Franz verteilt Marmeladenkekse als Nachtisch und wir erzählen Männergeschichten, wie man sie nur an Lagerfeuern erzählt: „Wusstet ihr, dass man mit einem fingerdicken Seil aus Spinnenfäden einen Jumbo im Flug stoppen könnte? Erinnert ihr euch an den verrückten Wanderer in Grönland? Tom, weißt du noch, als du am Mont Blanc in den gefährlichen Eistürmen zum Kacken musstest?“ Andi furzt, Franz pierct Toms Isomatte versehentlich mit dem Taschenmesser, Hannes sucht seine Fleecejacke („Oh Gott, hab ich die verloren?“) und Stefan grapscht den letzten Keks und schreit mir „Jedermanns-Recht“ ins Ohr, dass ich zusammenzucke. Dann kommt Ruhe in die Truppe. Birkenäste knistern im Feuer – wir starren in die orangerote Glut und beobachten, wie’s knackt und zischt. Franz schmaucht seine Pfeife und die ersten Moskitos surren durch den Abendhimmel. Da sitze ich also mit meinen Freunden am Lagerfeuer, in irgendeinem Tal in Lappland, dessen Namen ich nicht aussprechen kann. Höre den Wind rauschen, sehe die einsamen Berge und könnte meinen, wir seien die einzigen Menschen auf der Welt. Wildnis – hier in Lappland ist das keine Illusion. Fotos: Franz Faltermaier Die Marlboro-Männer haben Recht: „An open campfire, a hot cup of coffee and a good smoke – this is what makes a hard riding day go by.“ Nur unsere Mustangs muss man nicht anbinden. >>INFO KUNGSLEDEN/LAPPLAND Tundra-Landschaft mit Permafrostboden, der mit Heide, Gras und Krüppelbirken bewachsen ist. Entlang des Wegs: Sumpfgebiete, Seen, Flüsse, Berge (Höhen bis über 2 000 Meter). >> ANREISE Die SAS fliegt von vielen deutschen Flughäfen nach Kiruna in Lappland. >> WEITERE INFOS Im Internet findet Ihr eine Vielzahl von Info-Seiten über den Kungsleden, z.B. www.kungsleden.de `j <> < E C <l i fg E FIN auf dem Kungsleden erlaubt. Wir Freeridern um die 16 Kilo. Entweder bewirtschafteten Hütten oder bewegt dem Zelt. Ideal sind Leichtgewicht- 8 C9 C 8 E ; @EJ<C G G < KJ< FJ ; Mountainbikes sind fuhren mit leichten man übernachtet in sich ganz frei mit 8 BFC8 ? C 8E >> BIKEN/AUSRÜSTUNG \i J ILJ Ende Juni bis Mitte September. Tagsüber Temperaturen bis über 20 Grad. Nachts um den Gefrierpunkt. Mitternachtssonne: Im Sommer wird es nur einige Stunden dämmerig. j d\ Z_ \ >> REISEZEIT i[ Ef 9fkke%D\iYlj \e =@ EE C 8E ; >> LANDSCHAFT Zelte. Wir benützten das Vaude „Hogan Ultralight“ mit nur 1,4 kg. Als Nahrung verwendeten wir gefriergetrocknete Trekkingmahlzeiten (www.trekking-mahlzeiten.de). Die genaue Ausrüstungsliste gibt’s unter: www.bike-freeride.de E Lappland bezeichnet das frühere Siedlungsgebiet der Lappen. Es zieht sich von Norwegen über Schweden, Finnland bis nach Russland. Der Kungsleden (übersetzt: Königsweg) gehört zu den schönsten Trekkingrouten der Welt. Er startet in Abisko (Schweden) und schlängelt sich 425 Kilometer durch den schwedischen Bezirk Lappland (Fläche von der Größe Bayern und BadenWürtemberg bei nur 150 000 Einwohnern). J:? N <; < >> LAGE