alg ii ihr recht von az
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strassen|feger Ratgeber-Ausgabe 2009 1,50 Euro I I G AL T H C E R R IH Z A VON Kein Geld für einen Anwalt – kostenlose Rechtsberatung für Arme hre 15 Ja Gespräch mit dem Berliner Sozialrichter Michael Kanert Interview mit Heinrich Alt, Vorstandsmitglied der Bundesagentur für Arbeit Ein Verein stellt sich vor 2 strassen|feger Edito Ratgeberausgabe 2009 Quelle: wikimedia Edito Es ist immer eine politische Entscheidung, wieviel Lebensunterhalt dem Erwerbslosen zugestanden wird. Der Druck der vermeintlich leeren Kassen, unter dem 2004 die Hartzgesetze durchgepeischt wurden, die zu einem signifikanten Anstieg der Armut in Deutschland geführt haben, wurde von den riesigen Rettungspaketen für das systemrelevante Bankgeschäft Lügen gestraft bzw. hat gezeigt, dass uns Menschen keine Systemrelevanz zugestanden wird. Besonders in Berlin ist die Armut in den letzten Jahren augenfällig geworden, Pfandflaschensammler und Arbeitslose oder Rentner, die in Mülleimern nach Verwertbarem stöbern, gehören in manchen Bezirken schon zur alltäglichen Normalität. (Und dienen in der touristschen Hochsaison dem Berlinbesucher als Lokalkolorit, denn endlich kann Herr X und Frau Y aus Hintertupfing am Stammtisch erläutern, was mit „arm aber sexy“ gemeint ist.) Von der Verwaltung wird die Praxis der Statistikretouche weiter verfeinert, um zu verschleiern, wie groß der Anteil der Abgehängten in unserer Gesellschaft tatsächlich ist. Seit der Finanzkrise ist zwar vielen klar geworden, dass die ALG-II-Gesetzgebung einen anderen Hintergrund als den proklamierten hat, doch die dringend notwendige Solidarisierung aller (Lohn-)Abhängigen lässt auf sich warten. 2009 haben wir ein Superwahljahr, doch eine Umkehr in der Politik ist angesichts der Geiselfunktion, die die AlG-II-Bezieher (auf Rentner und Kinder will ich hier gar nicht eingehen) übernommen haben und die im Hinblick auf Lohnforderungen Erfolge für die „gebeutelte“ Wirtschaft zeitigt, nicht abzusehen. Diese Tatsache wirft natürlich die Frage auf, wem denn nun von Armut Betroffene in unserem Land am Wahltag ihr Vertrauen in Form eines Kreuzchens aussprechen sollten, nur ist an dieser Stelle nicht der Platz für derartige Erörterungen. Uns bleibt hier nur, die minimalen Rechte, die Erwerbslosen noch zugestanden werden, zu erläutern und zu deren Einforderung zu ermutigen. Bei kleinen Kindern, die etwas wollen, was sie gerade nicht bekommen sollen, sagt man schnell, dass sie Grenzen lernen müssen – die in diesem Heft zusammengestellten Texte wollen jedem Einzelnen den Rücken stärken, um dem Verwaltungsapparat die Grenzen zu zeigen, die der Gesetzgeber bzw. häufig die Gerichte (und dann nachträglich) gezogen haben. Den dazu nötigen Mut möchten wir allen Betroffenen geben. Und dann: Wenn Sie in Ihrem Bekanntenkreis Menschen mit Arbeit haben, geben Sie diesen Ratgeber leihweise an jene weiter. Die Unkenntnis über das Ausmaß der Beschneidung der Persönlichkeitsrechte durch „HIV“ ist immer noch erschreckend weit verbreitet. Eine regelmäßige Lektüre unseres strassenfeger kann hier übrigens auch Abhilfe schaffen! Lou strassen|feger Inhalt Ratgeberausgabe 2009 3 Inhalt Ihr Recht von A-Z Vorwort Antragstellung Antragsformular aufstockendes ALG II Beistand Bescheid Datenschutz eheähnliche Gemeinschaft Erlaß von Ansprüchen Ermessen Folgeantrag GEZ-Gebühren Haushaltsenergie Haushaltsgemeinschaft Jugendliche unter 25 Klassenfahrten Mehrbedarf Miete Mitwirkungspflichten Nebenkosten Ortsabwesenheit Rechtsschutz Beratungs- und Prozesskostenhilfe Widerspruch aufschiebende Wirkung einstweilige Anordnung Klage Untätigkeitsklage Überprüfungsantrag Sofortangebote Umzug Verpflegung Vorschuss Vorsorge für das Alter Literaturhinweise Anlaufstellen Klare Worte 4 5 6 6 7 7 8 10 11 12 12 12 13 13 14 15 16 17 19 21 21 22 23 23 23 24 24 25 25 26 26 29 29 30 31 31 Kochbuch zum Sparen Ungeklärte Mietobergrenzen Kinderarmut per Gesetz Menschenwürde ist antastbar Kein Geld für einen Anwalt? Umgang mit Arbeitslosen Hartz IV und Tier 32 33 34 35 36 37 41 Nachgefragt Beim Berliner Sozialgericht Interview mit dem Berliner Sozialrichter Michael Kanert 38 Bei der Bundesagentur für Arbeit Interview mit Vorstandsmitglied Heinrich Alt, verantwortlich für Grundsicherung 46 Aus der Arbeit unseres Vereins Ziele und Angebote Notübernachtung strassenfeger Kaffee Bankrott Selbstbauhaus EDV-Abteilung TrödelPoint Mitarbeit und Praktikum Spenden und Unterstützung 42 42 43 44 44 44 45 45 45 Schnittstelle von Wolfgang Mocker Impressum 50 51 4 strassen|feger Ihr Recht von A-Z Ratgeberausgabe 2009 Quelle: Mammon-Akademie Vorwort Liebe Leserinnen und Leser, Eine Frau heizt ihren Ofen mit Inflationsgeld (um 1924). Geld als Energieressource der Zukunft? Niemand kann sagen, wie viele Gerichtsprozesse allein wegen der Verpflegung geführt gabe des straßenfeger in der Hand. Die erste wurden. Die Verantwortlichen beklagen sich Ausgabe erschien im Mai 2007. Der Ratgeber jedenfalls, dass zu viele (angeblich nicht zu enthält zum Teil andere Schwerpunktthemen. gewinnende) Prozesse geführt werden. Dabei Hier spiegeln sich besonders viele Konflikte werden gerade im SGB II mehr als 50 Prozent mit der Arbeitslosenbehörde wider. Wie beim der Verfahren positiv entschieden. Das ist weit Thema Umzug. Es gibt Fälle, da mussten mehr als bei allen anderen Sozialgesetzen. Das Betroffene Privatkredite aufnehmen, obwohl heißt jedoch nicht, dass die anderen 50 Proder Umzug von der Behörde veranlasst wurde! zent negativ entschieden wurden. Weitere 20 Das Gesetz zwingt das Amt in diesen Fällen, bis 30 Prozent wurden eigentlich die mit positiv erledigt. Z.B. dem Umzug in der NICHT DIE NOT IST DAS SCHLIMMSTE, wurden durch UntäRegel anfallenden SONDERN DASS SIE ERTRAGEN WIRD! tigkeitsklagen die Kosten zu übernehDENN DAS HINNEHMEN VON ARMUT, Behörden tätig. men. WÄHREND ES REICHTUM GIBT, heute halten Sie die zweite Hartz-IV-Aus- für diese Zwecke erlauben, erst in diesem Maße möglich. Übrigens wurde der Einfall der „Heuschrecken“ – insbesondere im Immobilienmarkt – auch erst durch exorbitante Steuerermäßigungen für die Fonds attraktiv. Es gab auch keinen Grund für die Banken, anders zu handeln. Schließlich haben wir ein voll funktionierendes kapitalistisches Gesellschaftssystem; Gewinne werden privatisiert, Verluste sozialisiert, also von der Sozialgemeinschaft, den Steuerzahlern bezahlt. Deshalb nennt man das auch „soziale Marktwirtschaft“ und so funktioniert sie auch! Rechte und ihre Durchsetzung IST GEISTIGES VERSAGEN, Oder das Gericht In der Zwischenzeit Die Zeche werden die normalen Steuerzahler IST UNEMPFINDLICHKEIT DER SEELE stellte die aufschiehaben sich viele und die Armen zahlen. Wer von den Armen GEGEN DIE BELEIDIGUNG bende Wirkung fest, Gesetze und auch die jetzt auf das Grundgesetz Artikel 1 „Die Würde Erich Mühsam wozu man früher DH (Durchführungsdes Menschen ist unantastbar.“ hofft, dem sei keine Gerichte gesagt, dass diese Menschenwürde ein unbehinweise der BA = brauchte. Jedoch sind die steigenden FallBundesagentur für Arbeit) geändert. Leider stimmter Rechtsbegriff ist. Der wird erst durch zahlen der Gerichte ein willkommener Anlass, gingen die Änderungen mehrheitlich zu Lasten Gesetze wie z.B. das SGB II bestimmt. Ob es die Schuld bei den Armen abzuladen. Man will der Betroffenen. Das SGB II (Sozialgesetzbuch die Kürzungen mit Einführung des SGB II und wieder einmal Gerichtsgebühren einführen. II) wird deshalb von Kritikern immer wieder XII waren oder die im SGB II verankerte VerWir können nur hoffen, dass dieses Vorhaben mit „Strafgesetzbuch II“ übersetzt. weigerung jeglicher Zahlung ist; alles das ist auch dieses Mal u.a. an den Richtern scheitert, mit dem Grundgesetz anscheinend vereinbar. die immer wieder auf erhebliche verfassungsKlagen und Urteile Auch weitere direkte oder indirekte Kürzunrechtliche Bedenken hinweisen. Das Bundessozialgericht hat in verschiedenen gen werden es sein! Fällen ein wenig Klarheit gebracht. Positiv zu Gewinne und Verluste bewerten waren die Urteile gegen die AnrechAlso nutzen wir trotz dieser Angesichts der Finanzkrise WER GLAUBT, Aussichten die wenigen Rechte, nung von Verpflegung in Krankenhäusern u.ä., spielt Geld nur eine Rolle, wenn DASS LOHNVERZICHT die die Armen noch haben! Der sowie bei über 25-Jährigen im Elternhaus. es von unten nach oben ver- ARBEITSPLÄTZE Hartz-IV-Ratgeber soll eine schoben werden kann. Oben SCHAFFT, Die Zulassung von Verfassungsklagen gegen Hilfe dazu sein. Er kann jedoch angekommen, ist es dann kein DER GLAUBT AUCH, die Höhe der Regelleistungen der 6- bis 14nur einen kleinen Einblick in Problem. eine halbe Billion Euro DASS ZITRONENFALTER Jährigen bewirkte zumindest erst mal die ein paar Themen geben und soll innerhalb von ein paar Tagen ZITRONEN FALTEN! Erhöhung auf 251 Euro und zum 1.8.2009 ein Einstieg in diese Gesetze bereitzustellen: für die „noterstmals 100 Euro für den Schulbedarf. sein. Hier möchten wir den leidenden Banken“, die sich mit Lesern als weitere Hilfen unbefremdem und arbeitslosem Geld einfach mal Erschreckend sind die Urteile zur völligen, dingt den neuen „Leitfaden Alg II/Sozialhilfe“ verzockt haben. Sie haben sich mit ihren zeitlich unbegrenzten, Anrechnung von (siehe Literaturhinweise) und die Adresse hochriskanten Geldanlagen nicht strafbar Steuererstattungen als Einkommen und die www.tacheles-sozialhilfe.de ans Herz legen. gemacht! Im Gegenteil, denn dies wurde Verpflichtung, bei ausreichendem EinkomJette Stockfisch durch Gesetzesänderungen, die die Gründung men, für die Kinder der Partnerin in der von ausländischen Tochterfirmen der Banken Bedarfsgemeinschaft aufkommen zu müssen. strassen|feger Ihr Recht von A-Z Ratgeberausgabe 2009 5 Abkürzungsverzeichnis Merkzeichen G – Ein Vermerk auf einem Behindertenausweis. Es bedeutet gehbehindert und berechtigt wahlweise zur unentgeltlichen Beförderung im öffentlichen Personennahverkehr oder zur Kraftfahrzeugsteuerermäßigung von 50 Prozent. Merkzeichen aG – bedeutet außergewöhnlich gehbehindert. Foto: K.B. ABM – Arbeitsbeschaffungsmaßnahme Az – Aktenzeichen BA - Bundesanstalt für Arbeit BGB – Bürgerliches Gesetzbuch BGH – Bundesgerichtshof BSG – Bundessozialgericht BSHG - Bundessozialhilfegesetz BvR – Bundesverfassung BVerfG – Bundesverfassungsgericht BVerwG – Bundesverwaltungsgericht EA – Einstweilige Anordnung EAO – Erreichbarkeitsanordnung EWG – Europäische Wirtschaftsgemeinschaft FEG – Fortentwicklungsgesetz LSG – Landessozialgericht MAE – Mehraufwandsentschädigung OVG – Oberverwaltungsgericht PKH – Prozesskostenhilfe Rz. – Randziffer SGB – Sozialgesetzbuch WG – Wohngemeinschaft WSI - Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Institut ANTRAGSTELLUNG Der Antrag auf Arbeitslosengeld II sollte so früh wie möglich gestellt werden. Viele Menschen scheuen sich vor der Antragstellung, was menschlich verständlich ist, werden die Bezieher von Alg II doch immer wieder als Sozialschmarotzer und ähnliches bezeichnet. Wer möchte sich da schon freiwillig einreihen! In der Hoffnung, in der Zwischenzeit doch noch einen Job zu ergattern und somit dem Alg II zu entrinnen, verbrauchen viele Betroffene ihre Ersparnisse, um dann – ohne einen Cent in der Tasche – doch beim JobCenter zu landen. Häufig werden auch noch Schulden gemacht, und auch die Miete wird nicht bezahlt. Das ist blanker finanzieller Selbstmord. Denn dem JobCenter sind die Schulden egal. Im Kampf um die Mietschuldenübernahme hat schon so mancher seine Wohnung verloren! Pro Person dürfen 150 Euro pro Lebensjahr als Vermögen mit in die Arbeitslosigkeit gebracht werden. Zusätzlich noch 250 Euro pro Lebensjahr VORSORGE . Wer beim JobCenter erscheint, um einen Antrag zu stellen, wird oft mit dem ANTRAGSFORMULAR und der Auflage, mit dem ausgefüllten Antrag und den nötigen Unterlagen zu einem späteren Termin wiederzukommen, nach Hause geschickt. Das ist auch in Ordnung, wenn der Antrag den Datumsstempel des Antragstages trägt. Die häufige Praxis, den Antrag erst mit dem zweiten Termin zu datieren, ist rechtswidrig. Der Antrag gilt als gestellt, wenn man zum ersten Mal dort erscheint und den Antrag stellt. Niemand sollte sich mit einer mündlichen Ablehnung abfinden. Die ist schnell ausgesprochen. Es sollte immer auf einem schrift- lichen BESCHEID bestanden werden. Nicht selten hat sich dann plötzlich die Ablehnung erledigt. Auch kann man gegen einen schriftlichen BESCHEID besser WIDERSPRUCH einlegen. Gegen einen mündlichen Bescheid kann man zwar auch Widerspruch einlegen, doch besteht bei der mündlichen Erstbeantragung das Problem nachzuweisen, dass man überhaupt einen Antrag gestellt hat, und dass dieser mündlich abgelehnt wurde. Wenn beim Job Center keine Aktennotiz darüber existiert, hat man eigentlich nur Zeit verloren! Häufig warten Betroffene mit der Antragstellung, bis sie völlig pleite sind und nicht wissen, wie und wovon sie die nächsten Tage leben sollen. Dann ist ein VORSCHUSS fällig. 6 strassen|feger Ihr Recht von A-Z Ratgeberausgabe 2009 ANTRAGSFORMULAR Im Antragsformular gibt es ein paar Unklar- heiten und Fallen, die man vermeiden kann. Auf Seite 1 wird nach der Telefonnummer und E-Mail-Adresse gefragt. Diese Angaben sind freiwillig. Insbesondere die Angabe der Telefonnummer sollte man sich gut überlegen. In der Hoffnung auf eine bessere Vermittelbarkeit geben viele ihre Telefonnummer an. Man sollte jedoch auch bedenken, dass man sich mit dieser Art der Erreichbarkeit den Telefonterror eines übereifrigen Mitarbeiters einhandeln kann. Nicht zu übersehen sind die Kontrollanrufe von Call-Centern. Beides kann zu erheblichen Problemen bis hin zu Leistungskürzungen führen. Deshalb ist Betroffenen, auch wenn sie ein noch so reines Gewissen haben, von diesen Angaben abzuraten. Hier sind auch wichtige Hinweise zum DATENSCHUTZ zu beachten. den Freund einzutragen, ohne sich der möglichen auch finanziellen Folgen bewusst zu sein und ohne zu wissen, was der Unterschied zwischen verliebtem Zusammenleben und EHEÄHNLICHER GEMEINSCHAFT ist. Ein Paar ist eben nicht zwangsläufig eine eheähnliche Gemeinschaft. Bei der Spalte „Unterbringung in einer stationären Einrichtung“ sind Angaben zu machen, z. B., ob der Aufenthalt länger als sechs Monate dauern wird. Das ist für Antragsteller jedoch nur möglich, wenn sie genau wissen, wie lange sie im Krankenhaus o.ä. sein werden. Wissen sie das nicht, sollten sie die Aufenthaltsdauer auch nicht einfach schätzen. Dann muss von der Arbeitslosenbehörde eine Prognose erstellt werden. Diese Prognose entscheidet darüber, ob sie Alg-IIberechtigt sind oder in die Sozialhilfe abgeschoben werden können. Allerdings muss das JobCenter bis zum Einsetzen der Sozialhilfe Alg II zahlen. Unter „III. Persönliche Verhältnisse der mit dem Antragsteller in einem Haushalt lebenden weiteren Personen“ sind zu Personen, die nicht nur vorübergehend im Haushalt leben, Angaben zu machen. Bloße Mitglieder einer Wohngemeinschaft gehören hier nicht hin. Über sie brauchen überhaupt keine persönlichen Angaben gemacht zu werden. Lediglich über die Höhe der Mietzahlungen an anderer Stelle, wenn der Antragsteller sie an den Mitbewohner zahlt, oder als Angaben zum Einkommen, wenn der Antragsteller Mietzahlungen vom Mitbewohner erhält. An dieser Stelle sind Paare oft verunsichert, wo und wie sie denn ihren Freund eintragen müssen, wenn sie wissen, dass sie keine EHEÄHNLICHE GEMEINSCHAFT sind. Von Betroffenen, die kein Konto haben, wird der Nachweis verlangt, dass sie kein Konto eröffnen können. Dafür gibt es keine Verpflichtung. Wer die entstehenden Kosten einer Geldübermittlung ohne eigenes Konto nicht tragen will, kann die Barauszahlung verlangen. Unter „II. Persönliche Verhältnisse“ wird auch nach dem Partner in eheähnlicher Gemeinschaft gefragt. Hier machen viele Antragsteller den Fehler, ihre Freundin oder AUFSTOCKENDES ALG II Auch Erwerbstätige haben das Recht, einen Antrag auf Alg II zu stellen. Unter den üblichen Voraussetzungen (Vermögens- und Einkommensfreibeträge usw.) haben sie einen Rechtsanspruch auf aufstockendes Alg II. Insbesondere die steigende Zahl von Hungerlöhnen lässt die Zahl der Antragsteller stetig steigen. Hier geht es nicht nur um Minijobber, sondern mehr und mehr um Vollbeschäftigte, deren Lohn nicht zum Leben reicht. Es ist schwer, an dieser Stelle eine Aussage über die Bedürftigkeit zu machen. Als Grundlage einer Berechnung sollte der Bedarf dienen. Nebenstehend eine Übersicht der Berechnung in Kurzform und einem Beispiel. 359 Euro Regelleistung für Alleinstehende plus 360 Euro Miete sind 719 Euro Gesamtbedarf; dazu können noch verschiedene Formen von MEHRBEDARF kommen, die dann zum Bedarf addiert werden müssen. Zur Einkommensberechnung hier eine grobe Kurzform: Die ersten 100 Euro sind als Werbungskostenpauschale anrechnungsfrei, von 100 bis 800 Euro brutto sind 20 Prozent, also je 20 Euro von je 100 Euro anrechnungsfrei, von 800 bis 1.200 Euro brutto sind 10 Prozent, also 10 Euro von je 100 Euro anrechnungsfrei, von 1.200 bis 1.500 Euro brutto sind nur bei Erwerbstätigen mit Kindern noch 10 Prozent anrechnungsfrei. Bei einem Bruttoeinkommen von 1.000 Euro sind das also 100 Euro + 140 Euro (7 mal 20 Euro) + 20 Euro (2 mal 10 Euro) sind 260 Euro, die der Erwerbstätige zusätzlich zu seinem Bedarf vom Beispiel oben von 719 Euro behalten darf. Insgesamt 979 Euro. Zu beachten ist, dass bei Neuanträgen die tatsächliche MIETE übernommen werden muss. Ist die Miete 560 Euro hoch, so muss die Arbeitslosenbehörde die Miete erst einmal in voller Höhe zahlen. Damit verschiebt sich die Bedürftigkeitsgrenze zu unserem Beispiel um 200 Euro nach oben. Allerdings kann das JobCenter den Alg-II-Bezieher auffordern, seine Mietkosten zu senken. Dann muss es die volle Miete bis zu sechs Monaten und die Kosten für einen UMZUG zahlen. Ohne Umzug ist dann in der Regel nur noch die „angemessene“ Miete (in Berlin bei Alleinstehenden 378 Euro) zu übernehmen. strassen|feger Ihr Recht von A-Z Ratgeberausgabe 2009 7 BEISTAND Jeder hat das Recht, einen Beistand mit zur Behörde zu nehmen (§ 13 SGB X). Was der Beistand sagt, muss von der Behörde so behandelt werden, als hätte es der Betroffene selbst gesagt. Es sei denn, der Betroffene widerspricht dem sofort (§ 13 Abs.4 SGB X). Alg-IIBezieher machen von dieser Möglichkeit des Selbstschutzes gegenüber Behörden viel zu wenig Gebrauch. Dabei muss der Beistand nicht zwangsläufig bessere Rechtskenntnisse als der Betroffene haben. Es reicht oft schon, wenn der Beistand nur als Zeuge dem Gespräch beiwohnt. Der Sachbearbeiter, der bisher vielleicht herablassend oder sogar beleidigend war, verwandelt sich in Gegenwart eines Beistands zwar nicht in ein Schmusekätzchen, jedoch reicht es schon, wenn er einfach nur höflich ist und auf Fragen eine korrekte Antwort gibt. Das ist in den JobCentern leider nicht die Regel. Es passiert immer noch, dass die Sachbearbeiter einen Beistand nicht akzeptieren und mit der Begründung des „Datenschutzes“ des Raumes verweisen. Das sollte sich niemand gefallen lassen! Über seine Daten entscheidet in diesem Fall noch immer der Betroffene selbst. Leider sind die Sachbearbeiter nicht um den Datenschutz besorgt, wenn im selben Zimmer zwei Sachbearbeiter zur selben Zeit zwei Alg-II- Bezieher abfertigen. Dass die Alg-II-Bezieher zwangsläufig die Gespräche des Anderen mithören - das ist eine Verletzung des Datenschutzes. Der Bundesdatenschutzbeauftragte ist zu erreichen in 53117 Bonn, Husarenstr. 30, Tel. (01888) 77 99-0 oder (0228) 8 19 95-0, E-Mai:l poststelle@bfdi.bund.de, Webseite: http://www.bfdi.bund.de Kaum ein Bescheid ist so abgefasst, dass ein Bezieher von Alg II ihn nachvollziehen kann. In der Regel ist es sinnvoller, man lässt die Rechnung der JobCenter links liegen und macht seine eigene Aufstellung. Eine Aufstellung der verschiedenen Regelsätze ist in jedem Bescheid zu finden. Dazu wird die tatsächliche Miete mit Heizkosten gerechnet. Siehe Bedarfsberechnung unter AUFSTOCKENDES ALG II Dabei ist es unerheblich, ob die Heizung mit zur Miete gehört oder Abschläge dafür an Strom- oder Gasversorger gezahlt werden. Es kann hier zu Abzügen für Warmwasser oder Kochen kommen. Wer in seinem Bescheid irgendwelche Abzüge unter „Einkommen“ findet und kein Einkommen hat, sollte auf jeden Fall Widerspruch einlegen. Jedoch rechnen Kindergeld, Unterhalt und Unterhaltsvorschuss auch zum Einkommen. Die Widerspruchsfrist ist ein Monat. Danach ist der Bescheid rechtskräftig. Quelle: Archiv BESCHEID Oft ist es jedoch so, dass Betroffene erst Monate später durch Zufall von anderen Hartz-IV-Beziehern erfahren, dass sie zu wenig Geld erhalten. Z.B. wird gern der MEHRBEDARF für Alleinerziehende „vergessen“. Hier besteht nicht nur ein Anspruch darauf, den Mehrbedarf für die Zukunft zu erhalten, sondern auch darauf, den Mehrbedarf rück- wirkend zu erhalten. Anders als bei z.B. beim Mehrbedarf für Ernährung, der beantragt werden muss, da das JobCenter in der Regel davon keine Kenntnis hat, ist der Mehrbedarf für Alleinerziehende der Arbeitslosenbehörde bekannt, weil da Kinder zur Bedarfsgemeinschaft gehören. In diesen Fällen kann ein ÜBERPRÜFUNGSANTRAG gestellt werden. Solche grundlegenden Fehler treten nicht selten auf. Manchmal werden die Kinder der Antragsteller einfach vergessen, häufiger die Heizkosten, die an Gas- oder Stromversorger gezahlt werden müssen. 8 strassen|feger Ihr Recht von A-Z Ratgeberausgabe 2009 Quelle: flickr.com DATENSCHUTZ Die Berliner und Brandenburger Datenschutzbeauftragten haben den überarbeiteten „Ratgeber zu Hartz IV“ herausgegeben. Damit gibt es zumindest eine gewisse Rechtssicherheit, was die Behörden an Daten verlangen und einholen dürfen und was nicht. (Ratgeber als pdf unter www.datenschutz-berlin.de (>Ver öffentlichungen>Ratgeber)) Hausdurchsuchungen (verharmlosend Hausbesuche genannt) Immer wieder glauben die Arbeitslosenbehörden, das Recht zu haben, Hausdurchsuchungen nach Lust und Laune machen zu dürfen (z.B. bei Neuanträgen). Routinemäßige Hausdurchsuchungen ohne vorherige Indizien sind unzulässig! Nach Meinung der Datenschutzbeauftragten sind Hausdurchsuchungen nach § 20 SGB X in Verbindung mit § 21 Abs. 1 Nr. 4 SGB X zulässig. Sie sind jedoch nur zulässig, um BEREITS BEKANNTE INDIZIEN zu klären. Insbesondere finden Hausdurchsuchungen statt, um eine EHEÄHNLICHE GEMEINSCHAFT festzustellen. Dies ist jedoch nur bedingt möglich. In erster Linie lässt sich eine eheähnliche Gemeinschaft durch andere Informationen beurteilen; Abstammung der Kinder, gemeinsame Konten oder Versicherungen oder nachweisliche Zahlungen von anteiliger Miete, Strom- oder Telefonkosten. Die Formulierung der Datenschutzbeauftragten („Der Hausbesuch ist allenfalls geeignet, noch bestehende „Restzweifel“ auszuräumen.“) ist unbefriedigend. Die Behörden haben scheinbar immer „Restzweifel“! Stehen (meist zwei) Mitarbeiter vor der Tür, haben diese sich UNAUFGEFORDERT auszuweisen. Sie haben dem Betroffenen vor dem Betreten der Wohnung den GRUND zu nennen. Sie haben dem Betroffenen zu erklären, dass er den Zutritt verweigern kann, jedoch auch, dass es dann zur Kürzung oder Streichung der Leistung kommen kann. Die Zustimmung zum Betreten der Wohnung beinhaltet nicht die Durchsicht der Schränke. Hierfür bedarf es einer gesonderten Einwilligung, da niemand gezwungen werden kann, den Inhalt seiner Schränke zu zeigen. Wird die Zustimmung erteilt, ist lediglich ein kurzer Blick in die Schränke, nicht jedoch ein „Wühlen“ in dessen Inhalt erlaubt. Betroffene sollten eine Ab- oder Durchschrift des Prüfungsprotokolls verlangen. Darauf haben Betroffene ein Recht. Kontoauszüge Die Rechtsprechung zur Kontrolle der Armen hat sich im Laufe der Jahre erheblich verschärft. Früher war ein pauschales Verlangen nach den Kontoauszügen für Zeiten vor der Antragstellung in der Regel nicht erlaubt ler werden als potenzielle Betrüger angesehen, denen man generell erst einmal Sozialhilfemissbrauch unterstellt. Mit der erzwungenen Vorlage der Kontoauszüge können sie dann diesen Generalverdacht widerlegen. Kontoauszüge dürfen von der Arbeitslosenbehörde EINGESEHEN werden. Der Betroffene macht Kopien von seinen Kontoauszügen, schwärzt die Kopien entsprechend und legt sie dann dem Mitarbeiter vor. Bitte nie die Originale schwärzen! Die Neubeschaffung von Kontoauszügen lassen sich die Banken teuer bezahlen. Die Mitarbeiter haben in der Regel kein Recht, die Kontoauszüge bzw. deren Kopien zu den Akten zu nehmen! Die dürfen nur eingesehen werden! Die Mitarbeiter können sich dann Notizen machen, dass die Kontoauszüge für einen bestimmten Zeitraum vorlagen und keine Auffälligkeiten vorlagen. Mehr nicht. Übrigens, wenn Arbeitgeber sich von der Arbeitslosenbehörde Arbeitnehmer finanzieren lassen, müssen sie nur schriftliche Versicherungen abgeben, z.B. dass es sich um einen neuen Arbeitsplatz handelt. Nachweisen müssen sie das nicht! Überprüft wird dies in der Regel auch nicht. Wenn da gelogen wird, dass sich die Balken biegen, wird das jedoch nicht als Sozialhilfemissbrauch bezeichnet, hier nennt sich das „Mitnahmeeffekt“. Es gibt auch keinen Generalverdacht. Aber vor dem Gesetz sind ja alle gleich! Doch zurück zum BSG. Am 19.09.08 hat das Bundessozialgericht (BSG) unter dem Az. B 14 AS 45/07 R über die Vorlage von Kontoauszügen sein Urteil gefällt. Die Vorlage der Kontoauszüge für die letzten drei Monate vor Antragstellung und Folgeantragstellung gehört nach Ansicht des Gerichts zu den Mitwirkungspflichten nach § 60 SGB I. Es bedarf keines konkreten Verdachts. Man kann dies auch so interpretieren: Alg-II-Antragstel- 12 SGB X „besondere Arten personenbezogener Daten sind Angaben über die rassische und ethnische Herkunft, politische Meinungen, religiöse oder philosophische Überzeugungen, Gewerkschaftszugehörigkeit, Gesundheit und Sexualleben.“ Diese Daten dürfen auch nach Meinung des BSG geschwärzt werden. Klar ist, dass darunter Mitgliedsbeiträge für Parteien und Gewerkschaften gehören. Auch die von mir immer wieder angeführten Abos von Pornoheften dürften wohl, als zum Sexualleben gehörend, geschwärzt werden. Ebenso das Abo für die linke Zeitschrift „Konkret“ als zur politischen Meinung gehörend. Wer nach der Aufforderung zur Vorlage der Kontoauszüge und einer Fristsetzung samt Belehrung über die Folgen der fehlenden Mitwirkung dieser nicht nachkommt, dem kann nach § 66 SGB I die Leistung ganz oder teilweise versagt werden. Streiten kann man sich schon darüber, ob ein Abo des „Neuen Deutschland“ nur Zeitungsabo ist oder noch zur politischen Meinung gehört. Die sogenannten Frauenzeitschriften dürften zu den nicht zu schwärzenden Objekten zählen. Wenngleich zu überlegen ist, ob der Fanatismus, mit dem der Inhalt von manchen Frauen gelesen wird, nicht doch schon wieder religiöse Züge hat und somit geschwärzt werden dürfte. Das Gericht vertritt die Meinung, dass ALLE Daten zu Einnahmen ungeschwärzt sein müssen! Ohne Ausnahme! Ferner müssen auch alle Soll-Beträge ungeschwärzt bleiben. Einzige Ausnahmen von Schwärzung: § 67 Abs. Der politischen Entwicklung entsprechend wäre es folgerichtig, wenn das BSG in ein paar Jahren die dann flächendeckenden Hausdurchsuchungen der Arbeitslosenbehörden für rechtens erachtet. strassen|feger Ihr Recht von A-Z Ratgeberausgabe 2009 9 In der Regel ist es unzulässig (§ 60 Abs. 1 Nr. 3), Kopien von Bank- und Sparkassenkarten, Sparbüchern, vollständigen Vaterschaftsanerkennungen, Unterhaltstiteln und Scheidungsurteilen anzufertigen. Hier reicht es aus, die benötigten Einzelangaben zu vermerken. Der Personalausweis enthält Informationen, die nicht leistungsrelevant sind z.B. Größe, Augenfarbe, PA-Nummer. Diese nicht relevanten Angaben dürfen geschwärzt werden. Es ist auch unzulässig (§ 31 Abs. 5), den gesamten Mietvertrag zu kopieren. Untermieter sind in der Regel nicht verpflichtet, den Hauptmietvertrag des Wohnungsmieters vorzulegen. Nur in besonders begründeten Einzelfällen, wenn die Behörde Anhaltspunkte für einen Leistungsmissbrauch hat, kann dies verlangt werden. Montage: cs Weitere Unterlagen Die Voraussetzung für den Mehrbedarf wegen Schwangerschaft ab der zwölften Woche kann durch ein Attest, das auch den voraussichtlichen Geburtstermin beinhaltet, nachgewiesen werden. Ist dieses Attest nicht vorhanden, kann der Mutterpass VORGELEGT werden. Es ist unzulässig, den Ausweis als Kopie zur Akte zu nehmen, weil es umfangreiche, nicht leistungsrelevante Angaben enthält. Familienversicherung Antragsteller, die über eine Familienversicherung versichert sind, müssen nur Angaben zu demjenigen machen, über den sie versichert sind. Entbindung von der Schweigepflicht Zu den MITWIRKUNGSPFLICHTEN nach den Paragrafen 60-64 gehört NICHT die Pflicht, Ärzte von der Schweigepflicht zu entbinden. Eine Verpflichtung, Dritte von der Schweigepflicht zu entbinden, besteht nicht! Sie darf auch nicht durch die Drohung der Leistungskürzung oder -streichung, wie bei Hausdurchsuchungen, erzwungen werden. Weigert sich der Betroffene, diese Erklärung abzugeben, so hat der ärztliche Dienst die Leistungsvoraussetzungen durch eigene Untersuchungen zu ermitteln. Die Weigerung, solche Schweigepflichtsentbindungen abzugeben, ist jedoch nur sinnvoll, wenn die Behörden etwas erfahren wollen, das der Betroffene nicht wünscht, z.B. Feststellung psychischer Erkrankungen oder bei der „Zwangsverrentung“. Wird z. B. ein MEHRBEDARF wegen kostenaufwendiger Ernährung beantragt oder ist der Betroffene der Meinung, er sei nicht mehr uneingeschränkt erwerbsfähig, ist es sinnvoll, Dritte von der Schweigepflicht zu entbinden. Doch auch hier ist es in der Regel nicht nötig, alle möglichen Ärzte oder Krankenhäuser, in denen man zur Behandlung war oder ist, von der Schweigepflicht zu entbinden. Z.B. reicht bei Beantragung eines Mehrbedarfs in der Regel die Schweigepflichtentbindung des die Krankheit behandelnden Arztes oder Facharztes. Auch bei Wirbelsäulenerkrankungen benötigt die Behörde, bspw., keine Unterlagen des Psychiaters. Quelle: Filmszene „Brazil“ Allgemeines Noch immer sind die Betroffenen mit der Offenlegung ihrer Daten zu unvorsichtig! Der berechtigte Gedanke vieler, dass sie nichts zu verbergen hätten, ist ja sehr redlich, sollte jedoch nicht dazu beitragen, den Behörden die Anforderung und Speicherung unzulässiger Daten zu ermöglichen. Hätten die Betroffenen in den vergangenen Jahren der unbegründeten Datenerhebung bei Kontoauszügen oder Hausdurchsuchungen mehr Widerstand entgegengesetzt, wären diese wohl nicht so zur „Normalität“ geworden. Es ist nicht nur das Bedürfnis des Staates, seine Bürger, insbesondere seine Armen, zu kontrollieren, was zu erheblicher Ausweitung der Datenerhebung beigetragen hat. Hätten die Armen dies nicht so klaglos hingenommen, wäre es zumindest nicht in diesem Umfang dazu gekommen. Deshalb sollten Daten ÜBERALL UND GEGENÜBER JEDER BEHÖRDE nur nach der Devise herausgegeben werden: „So viel Daten wie nötig und so wenig Daten wie möglich.“ Der Zugriff auf persönlichste Daten ist von den Betroffenen praktisch in keiner Weise kontrollierbar! Auch, wenn es rein theoretisch (also per Gesetz) anders sein sollte. Niemand ist davor sicher, dass die Daten nicht an Unbefugte weitergegeben werden. Wie in den letzten Monaten mehrfach passiert, dass die Daten von Bankkunden, von Meldestellen oder Krankenkassen, plötzlich im Internet für jeden lesbar oder ohne Einwilligung an Dritte weitergegeben wurden. 10 strassen|feger Ihr Recht von A-Z Ratgeberausgabe 2009 EHEÄHNLICHE GEMEINSCHAFT Dieser Begriff hat schon zu Zeiten des BSHG zu massivem Streit zwischen Betroffenen und Behörden geführt. So versuchen die Gesetzgeber mit immer neuen Gesetzen, den Begriff der eheähnlichen Gemeinschaft (eäG) zu erweitern. So auch mit den Änderungen des Fortentwicklungsgesetzes (FEG), also den Änderungen zu den Änderungen des seit 01.01.05 geltenden SGB II. „Zur Bedarfsgemeinschaft gehören...der... Partner...oder...eine Person..., die mit dem erwerbsfähigen Hilfebedürftigen in einem gemeinsamem Haushalt so zusammenlebt, dass nach verständiger Würdigung der wechselseitige Wille anzunehmen ist, Verantwortung füreinander zu tragen und füreinander einzustehen.“ (§ 7 SGB II) eine eäG nicht. Ohne Haushalts- und Wirtschaftsgemeinschaft kein eheähnliches Verhältnis (LSG Hessen 24.07.2006, L7 86/06 ER). Ein reines Untermietverhältnis schließt eine Haushaltsgemeinschaft und damit eine eäG aus (LSG Ba-Wü 05.12.2005, L 8AS 3441/05 ER-B). „Ein „Wirtschaften aus einem Topf“, wie dies für eine Haushaltsgemeinschaft kennzeichnend ist, (kann) nicht angenommen werden..., wenn einer dem anderen Mietzins zahlen muss. Stellt ein Leistungsträger nach dem SGB II die Wirksamkeit eines (Unter-) Mietvertrages nicht in Frage, sondern gewährt er den Mietzins als Kosten der Unterkunft, kann er das Zusammenleben zweier Personen auch nicht als Haushaltsgemeinschaft werten.“ Vierte Voraussetzung ist die freiwillige Sicherung des gemeinsamen Lebensunterhalts vorrangig vor den eigenen Bedürfnissen. „Nur wenn sich die Partner einer Gemeinschaft so sehr füreinander verantwortlich fühlen, dass sie zunächst den gemeinsamen Lebensunterhalt sicherstellen, bevor sie ihr persönliches Einkommen zur Befriedigung eigener Bedürfnisse verwenden, ist ihre Lage mit derjenigen nicht dauernd getrennt lebender Ehegatten im Hinblick auf die verschärfte Bedürftigkeitsprüfung vergleichbar.“ So das Bundesverfassungsgericht. (BVerfG 17.11.1992 Az 1 BvL 8/87) Für eine Wirtschaftsgemeinschaft spricht u.a. die gemeinsame Verfügung über ein Auto oder ein gemeinsames Konto, eine gegenseitige Kontovollmacht oder die Befugnis, über Einkommen und Vermögen des Partners tatsächlich verfügen zu können. Ries immer: mehrere Jahre! Der Bundesgerichtshof urteilt, dass man frühestens nach zwei bis drei Jahren von einer eäG ausgehen könne (BGH 12.03.1997, NJW 1997,1851). Das Bundessozialgericht (BSG) hält eine dreijährige Dauer der Beziehung als Voraussetzung für eine eäG als gerechtfertigt. (29.04.1998,B 7 AL 56/97 R) Entgegen aller Rechtsprechung gibt es im SGB II die Zwangsvereheähnlichung nach einem Jahr! Auch wenn dies jetzt Gesetzestext ist: Es wird nicht rechtens – wenn die Betroffenen sich wehren! Ebenso muss ein langjähriges Zusammenleben vorliegen. Langjährig bedeutet nach Adam Mit dieser gesetzlichen Regelung wird die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts sowie einer Vielzahl von Sozialgerichten bewusst angegriffen. Einer WG wird häufig spätestens nach einem Jahr eine Bedarfsgemeinschaft unterstellt, da sich die Formulierung nicht nur auf „Partner“, sondern auch auf „Personen“ bezieht. Es wird versucht, eine Beweislastumkehr vorzunehmen, nicht die Behörde soll die eäG beweisen, sondern die Betroffenen sollen beweisen, dass eine solche nicht besteht. Hier hat das SG Freiburg in Bezug deutlich gemacht: „Das Zusammenleben in einer reinen Wohngemeinschaft über mehr als ein Jahr begründet die Vermutung der eheähnlichen Gemeinschaft nicht, es muss sich um eine Haushalts- und Wirtschaftsgemeinschaft handeln. Ist diese nicht bewiesen, bleibt die objektive Beweislast bei der Behörde.“ (21.07.06, S 9 AS 3120/06 ER) Erste Voraussetzung für eine eäG ist eine Wohngemeinschaft. Im Gegensatz zur Ehe setzt eine eäG „grundsätzlich“ eine WG voraus. (LSG Berlin- Brandenburg 21.06.2006- L 29 B 314/06 AS ER) Getrennte Wohnungen sprechen trotz einer Liebesbeziehung gegen eine eäG. (OVG Sachsen 29.06.2000) Zweite Voraussetzung für eine eäG ist eine Haushaltsgemeinschaft. Eine Ehe kann bestehen, ohne dass gemeinsam gewirtschaftet wird, Quelle: flickr.com „Ein wechselseitiger Wille, Verantwortung füreinander zu tragen und füreinander einzustehen, wird vermutet, wenn Partner 1. länger als ein Jahr zusammenleben, 2. mit einem gemeinsamen Kind zusammenleben, 3. Kinder oder Angehörige im Haushalt versorgen oder 4. befugt sind, über Einkommen oder Vermögen des anderen zu verfügen“ (§ 7 Abs. 3a SGB II) Dritte Voraussetzung für eine eäG ist eine Verantwortungs- und Einstehensgemeinschaft. Eine eäG liegt nur vor, wenn zwischen den Partnern so enge Bindungen bestehen, dass von ihnen ein gegenseitiges Einstehen in den Not- und Wechselfällen des Lebens erwartet werden kann. Eine solche Lebensgemeinschaft kann nur zwischen einem Mann und einer Frau bestehen. Sie muss auf Dauer angelegt sein, daneben keine weitere Lebensgemeinschaft gleicher Art zulassen und sich durch innere Bindungen auszeichnen, die ein gegenseitiges Einstehen der Partner füreinander begründen, also über die Beziehungen in einer reinen Haushalt- und Wirtschaftsgemeinschaft hinausgehen. (siehe BVerfG 02.09.2004 – 1 BvR 1962/04) In Bezug auf das damals anstehende SGB II entschied das BVerfG am 9.11. 2004, Az 1 BvR 684/98: „Der Begriff der Ehe kann nicht in dem Sinne erweiternd ausgelegt werden, dass er auch nichteheliche Lebensgemeinschaften erfasst. Dies gilt auch für nichteheliche Lebensgemeinschaften mit gemeinsamen Kindern.“ Durch Hausdurchsuchungen ist in der Regel keine eheähnliche Gemeinschaft feststellbar. Weder ein Doppelbett noch ein benutz- strassen|feger Ihr Recht von A-Z Ratgeberausgabe 2009 tes Doppelbett und auch keine überzählige Zahnbürste sind Beweise dafür. Die in der Regel zwangsläufigen Hausdurchsuchungen der Ämter, wenn Betroffene die Wohnung mit einem anderen Bewohner teilen, entsprechen nicht dem DATENSCHUTZ ! Besonders schwerwiegend sind die Folgen, wenn ein Partner Kinder mit in die Beziehung bringt und der andere Partner über ein höheres Einkommen verfügt. Das BSG hat es für diese Fälle als rechtens angesehen (B 14 AS 2/08 R vom 13.11.2008), dass der Partner mit Einkommen nicht nur für seine (in diesem Fall) Partnerin finanziell aufzukommen hat, was auch nicht strittig war, er muss auch die Kinder in vollem Umfang mitversorgen! Das Gericht hat den Partner nicht einmal die höheren Grenzen des Unterhaltsrechts zugebilligt. Solange der Partner freiwillig für die Kinder der Partnerin aufkommt, ist das alles kein Problem. Ist er jedoch nur bereit, finanziell für die Partnerin, jedoch nicht für ihre Kinder aufzukommen, hat die Mutter ein riesiges Problem. Da die Mutter von der Arbeitslosenbehörde kein Geld erhält, ist sie auf die Zahlungen des Partners angewiesen. Zahlt er nicht, kann sie ihn nicht auf Unterhalt verklagen! Im Unterhaltsrecht gibt es keine Unterhaltspflicht für Stiefkinder, schon gar nicht, wenn die Mutter nicht mit dem neuen Partner verheiratet ist. Das Gericht verlangt, dass die Mutter die Zuwendungen, die sie vom Partner erhält zuerst für die Kinder verwendet. Wie unmöglich das ist, soll ein Beispiel zeigen. Die Mutter erhält 164 Euro Kindergeld, sowie vom Partner für sich die anteilige Miete von 200 Euro und 350 Euro, insgesamt 714 Euro. Sie hat z.B. einen Sohn von 15 Jahren. Sie müsste für den Sohn, nach Ansicht des Gerichts, somit 387 Euro Unterhalt plus 200 Euro anteilige Miete, also 587 Euro, aufbringen. Von den restlichen 127 Euro kann sie nicht leben, geschweige denn ihren Mietanteil beisteuern. Bei zwei Kindern würde das Geld nicht einmal für die Kinder reichen, selbst wenn sie verhungern würde! Sie ist somit gezwungen, den Unterhalt an den Sohn zu kürzen, um selbst zu überleben. Tut sie das jedoch, ist das eine Sorgerechtsverletzung und ruft, wenn es bekannt wird, das Jugendamt auf den Plan! Das kann dann dazu führen, dass ihr das Kind weggenommen wird! Es ist zwar fraglich, ob es zu solch einer Situation kommen wird, denn diese Situation 11 wird unzweifelhaft zur Trennung führen. Das BSG hat in seinem Urteil die Zahlungspflicht des „Stiefvaters“ damit begründet, dass bei ausreichendem Einkommen Kosten nicht auf die Allgemeinheit abgewälzt werden könnten. Die Folge, wenn der „Stiefvater“ nicht zahlt, ist bei der Trennung, dass in deren Folge dieselbe Allgemeinheit nicht nur für die Kinder aufkommen muss, sondern auch noch für die Mutter, die vorher durch den Partner versorgt wurde! Eine Milchmädchenrechnung! Doch das ist nicht das Problem der Betroffenen. Das Problem ist, dass es Alleinerziehenden, die Alg II erhalten, unmöglich ist eine eäG einzugehen, wenn der Partner mehr verdient und nicht mit jedem Cent für die Kinder eines Fremden aufkommen will. Das BSG sieht in dieser Benachteiligung keine Verletzung des Grundgesetzes durch Art 2 Abs.1 „Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt.“ Da können Alleinerziehende dann frei entfaltet verhungern oder ihre Kinder im Heim besuchen! Jedoch wird wohl das Bundesverfassungsgericht diese Frage klären müssen. ERLASS VON ANSPRÜCHEN Es gibt im SGB II einen Paragrafen, der den Arbeitslosenbehörden das Recht einräumt, auf Forderungen zu verzichten. Dass die Betroffenen diesen Paragrafen nicht kennen, verwundert nicht. Doch dass es scheinbar keine Mitarbeiter gibt, die je davon gehört haben, ist einfach nicht glaubwürdig. Es handelt sich um den § 44, der nur aus einem kurzen Satz besteht: „Veränderung von Ansprüchen. Die Träger von Leistungen nach diesem Buch dürfen Ansprüche erlassen, wenn deren Einziehung nach Lage des Einzelfalles unbillig wäre.“ Eigentlich ist jede Kürzung der Regelsätze unbillig, weil schon die Höhe der Regelsätze menschenunwürdig ist, auch wenn das Bundessozialgericht anderes sagt. Das steht jedoch auf einem anderen Blatt. Es stellt sich die Frage, wann die Einziehung von Ansprüchen unbillig sein kann. Das kann auf Darlehen nach § 23 zutreffen. Deren Tilgung ist durch eine Aufrechnung in Höhe von bis zu 10 Prozent des Regelsatzes vorgesehen. Doch kann es sich ergeben, dass ein Darlehen für Leistungen bewilligt wurde, die regelmäßig oder fortwährend auftreten. Z.B. mussten Betroffene ihre Rechte auf Finanzierung des Umgangsrechts (hohe Fahrtkosten) mit ihren weit entfernt lebenden Kindern gerichtlich durchsetzen. Ebenso bei schwerer Neurodermitis befürworteten Gerichte die Finanzierung dieser ungewöhnlich hohen Kosten nach § 23, also auf Darlehensbasis. Da die genannten Darlehen jedoch so regelmäßig auftreten und der finanzielle Bedarf so hoch ist, dass es zu einer Dauertilgung von der Regelleistung käme, haben die Gerichte den Arbeitslosenbehörden nahegelegt, auf die Einziehung der Ansprüche nach § 44 SGB II zu verzichten. Es kann auch sein, dass Betroffene ihren defekten Kühlschrank auf Kredit durch einen energiesparenden Kühlschrank ersetzt haben. Danach gibt die Waschmaschine ihren Geist auf und es wird ein Darlehen nach §23 beantragt. Zusätzlich zur Kredittilgung kann kaum noch das Darlehen zurückgezahlt werden. Das wäre eine finanzielle Überforderung. Das können auch die Tilgung von Miet- schulden beim Vermieter oder Stromschulden, die Zahlung der Differenz von tatsächlicher zu angemessener Miete aus dem Regelsatz u.ä. sein. Kommt dann noch zusätzlich ein Darlehen über § 23 zur Tilgung, kann die Behörde die Ansprüche auf Rückzahlung des Darlehens erlassen. Ebenso kann das auf Kranke zutreffen, die zwar nicht so hohe Kosten haben, wie bei dem Neurodermitisbeispiel, wo jedoch schon ein Betrag von 20 bis 30 Euro monatlich zusätzlich aufgebracht werden muss. Alle diese Beispiele sollten in besonderem Maße gelten, wenn Kinder mit in der Bedarfsgemeinschaft leben. Doch könnten die Behörden auch auf Ansprüche verzichten, wenn z.B. durch Arbeitsaufnahme, die der Betroffene umgehend gemeldet hat, eine Überzahlung stattgefunden hat. Das sind alles Möglichkeiten. Die Arbeitslosenbehörde wird wohl freiwillig nicht auf Leistungen verzichten. Jedoch haben sie die Pflicht, ERMESSEN auszuüben. Für diese Entscheidungsausübung müssen die Mitarbeiter jedoch erst einmal einen Antrag auf den Erlass von Ansprüchen auf den Tisch bekommen! 12 strassen|feger Ihr Recht von A-Z Ratgeberausgabe 2009 ERMESSEN Es gibt Paragraphen, die zwingen Sach- bearbeiter genau so zu handeln, wie es im Gesetzestext z.B: im § 31 SGB II steht: „Das Arbeitslosengeld II wird... abgesenkt...“ Das Wort „wird“ ebenso wie, bspw., das Wort „soll“ geben den Mitarbeitern keinen Ermessensspielraum. Jedoch steht in vielen Paragraphen „kann“. Das bedeutet, der Mitarbeiter kann etwas bewilligen oder versagen. § 39 SGB I „Sind die Leistungsträger ermächtigt, bei der Entscheidung über Sozialleistungen nach ihrem Ermessen zu handeln, haben sie ihr Ermessen entsprechend dem Zweck der Ermächtigung auszuüben und die gesetzlichen Grenzen des Ermessens einzuhalten. Auf pflichtgemäße Ausübung des Ermessens besteht ein Anspruch.“ Der Sachbearbeiter hat kein Recht, entsprechende Anträge einfach abzulehnen. Es entscheidet nicht die Tageslaune oder der Sparzwang. Die Ausübung des Ermessens ist gerichtlich überprüfbar – wenn die Betroffenen vor Gericht ziehen! FOLGEANTRAG gen neu eingereicht werden. Wenn sich nichts verändert hat, müssen in der Regel auch keine Nachweise dafür, dass sich nichts verändert hat, vorgelegt werden. Lediglich beim Einkommen sind immer aktuelle Bescheinigungen mit dem Folgeantrag abzugeben. Wer zeitgleich mit dem Folgeantrag der Arbeitslosenbehörde irgendwelche Änderungen melden muss, dem sei der Rat gegeben, diese Änderungen nicht auf dem Folgeantrag anzugeben! Dieser Rat hat nichts mit Betrug zu tun. Es ist eine der leidigen Erfahrungen seit Bestehen von Hartz IV, dass Änderungsmeldungen auf dem Folgeantrag oft die Bearbeitungszeit unverhältnismäßig verlängern. Deshalb Änderungen entweder vor oder nach der Antragstellung melden. Wer Änderungen vor Antragstellung meldet (und wenn es nur einen Tag vorher ist), braucht sie nicht noch einmal im Folgeantrag zu melden. Auch wenn die Mitarbeiter der JobCenter über diesen Rat stocksauer sein dürften, so ist nicht dieser Tipp zu beanstanden, sondern die Erfahrungen, die zu diesem Tipp geführt haben! Leider hat die BA ihre Dienstanweisung geändert. Nun gibt es bei einem zu spät eingereichten Folgeantrag in der Regel kein Geld rückwirkend. Diese Möglichkeit, dass der Erstantrag nachwirkt, war zu kundenfreundlich. Ob die Gerichte diese neue Anweisung der BA als rechtskonform ansehen werden, ist zweifelhaft. Man sollte jedoch möglichst vier Wochen vor Ablauf des Bewilligungsabschnitts den Folgeantrag stellen, um Verzögerungen bei der Weiterbewilligung zu vermeiden. GEZ-GEBÜHREN Wer Alg II bezieht, hat in der Regel einen Abb: ARCHIV Im Folgeantrag müssen nicht alle Unterla- Anspruch auf die Befreiung von den GEZGebühren. Besonderheit: Im Gegensatz zu allen anderen Anträgen gilt die Gebührenbefreiung erst ab dem Folgemonat nach der Antragstellung! Man muss jetzt nicht mehr unbedingt den beglaubigten Bescheid mit vielen darin enthaltenen Daten, die die GEZ nichts angehen, einreichen. Zum Antragsformular gibt es jetzt ein Formblatt, das die Arbeitslosenbehörde ausfüllen muss und in dem nur die wenigen Daten enthalten sind, die die GEZ zur Gebührenbefreiung benötigt. strassen|feger Ihr Recht von A-Z Ratgeberausgabe 2009 13 HAUSHALTSENERGIE Jede Regelleistung zur Sicherung des In Berlin musste der rot-rote Senat erst mit mehreren Gerichtsverfahren darauf aufmerksam gemacht werden, dass die Energiepauschale im Regelsatz von über 27 Euro abgesenkt wurde und dass daraus resultierend auch die einzelnen Pauschalen für Warmwasser und zum Kochen gesunken sind. Jahrelang haben die Arbeitslosenbehörden auf Weisung des Senats noch immer 9 Euro für Warmwasser abgezogen. Im Bild die Abzugspauschalen nach der Regelsatzerhöhung zum 01.07.09. Abzugspauschalen Personengruppe Energiepauschale Anteil für Warmwasser Anteil für Kochenergie Bei Alleinstehenden, Alleinerziehenden und Haushaltvorständen 22,62 Euro 6,79 Euro 5,04 Euro Partner in der BG 20,35 Euro 6,11 Euro 4,54 Euro Kinder von 0 bis 6 Jahren 13,55 Euro 4,07 Euro 3,02 Euro Kinder von 6 bis 14 Jahren 15,81 Euro 4,75 Euro 3,53 Euro Jugendliche von 14 bis 25 Jahren 18,08 Euro 5,43 Euro 4,03 Euro Diese Abzüge dürfen nur vorgenommen werden, wenn tatsächlich in den Mietkosten (dazu zählen auch die Heizkosten) auch Kosten für Kochen oder Warmwasser enthalten sind. Beispiel: Erna und Paul zahlen Miete. Ihre Wohnung wird durch Gasetagenheizung beheizt. HAUSHALTSGEMEINSCHAFT § 9 Abs.5: „Leben Hilfebedürftige in Haushalts- gemeinschaft mit Verwandten oder Verschwägerten, so wird vermutet, dass sie von ihnen Leistungen erhalten, soweit dies nach deren Einkommen und Vermögen erwartet werden kann.“ Diese Vermutung kann durch einfache schriftliche Erklärung, dass der Hartz-IV-Berechtigte keine Leistungen von den Verwandten erhält, widerlegt werden. Zum Thema Haushaltsgemeinschaft hat sich das Bundesverfassungsgericht schon mit Beschluss vom 2.9.004 (1BvR 1962/04) wie folgt geäußert: „Bloße Mitglieder einer Wohngemeinschaft gehören auch nicht zu der `Haushaltsgemeinschaft´ nach § 9 Abs.5 SGB II, denn diese Regelung erfasst nur Verwandte oder Verschwägerte im Sinne der §§ 1589 f. BGB (vgl. BTDrucks 15/1516, S. 53). Aus diesen Gründen enthalten die angegriffenen Regelungen keine Auskunfts- pflichten über die persönlichen Verhältnisse eines bloßen Mitbewohners. Insbesondere muss der Hilfebedürftige keine derartigen Angaben zu Mit- oder Untermietern machen. Für die Zwecke der Grundsicherung für Arbeit reicht es aus, wenn er den von ihm getragenen Mietanteil benennt oder die Untermietzahlung als Einkommen angibt. Allerdings trägt er das rechtliche Risiko, das sich ergeben kann, wenn entgegen seinen Angaben doch eine eheähnliche Lebensgemeinschaft vorliegt.“ Quelle: flickr.com Lebensunterhalts enthält auch eine Pauschale für Haushaltsenergie. Bei der Regelleistung für einen Alleinstehenden von 359 Euro beträgt die Pauschale jetzt 22,62 Euro. Diese Summe beinhaltet Energie für die Warmwasserbereitung, das Kochen und für elektrische Geräte und Licht. Relevant wird dies, wenn irgendwelche Abzüge von Miete oder Heizkosten vorgenommen werden. Beispiel: Bei Wohnungen mit Fern- oder Zentralheizung wird häufig auch Warmwasser geliefert. Die Kosten für Warmwasser sind somit in der Gesamtmiete enthalten, welche die JobCenter übernehmen. Damit der Teil für die Bereitung von Warmwasser nicht zweimal gezahlt wird (einmal in der Regeleistung und einmal in der Miete), muss die Warmwasserpauschale einmal abgezogen werden. Das wird in der Regel bei der Miete getan. Mit Gas wird auch das Warmwasser bereitet und gekocht. Bei ihnen sind zweimal 6,11 Euro (12,22 Euro) für Warmwasser und zweimal 4,54 Euro (9,08 Euro) zum Kochen, gesamt also 21,30 Euro monatlich von den Abschlägen an den Gasversorger abzuziehen. 14 strassen|feger Ihr Recht von A-Z Ratgeberausgabe 2009 JUGENDLICHE unter 25 (oder U 25) Mit der Begründung, dass zu viele Jugend- Ziehen sie einfach aus der elterlichen Wohnung aus, wird ihnen keine Erstausstattung für die Wohnung gewährt, sie erhalten keine Mietkosten ersetzt (und das bis zum 25. Geburtstag), und sie erhalten immer den seit 01.07.06 um damals 69 Euro gekürzten Regelsatz eines Minderjährigen (seit 01.07.09 287 Euro). Im äußersten Fall erhält ein 18-Jähriger, der ohne Erlaubnis auszieht, volle sieben Jahre keinen Cent Miete. Auch nicht die Miete oder den Mietanteil, der bisher in der Elternwohnung übernommen wurde! Ob nicht zumindest der Mietanteil, der in der elterlichen Wohnung übernommen wurde, gezahlt werden muss, hat anscheinend noch kein Gericht entscheiden müssen, weil die jungen Erwachsenen dies wohl noch nicht eingeklagt haben. Jedoch gibt es auch Möglichkeiten, legal auszuziehen. § 22 Abs. 2a „... Der kommunale Träger ist zur Zusicherung verpflichtet, wenn 1. der Betroffene aus schwerwiegenden sozialen Gründen nicht auf die Wohnung der Eltern oder eines Elternteils verwiesen werden kann, 2. der Bezug der Unterkunft zur Eingliederung in den Arbeitsmarkt erforderlich ist oder 3. ein sonstiger ähnlich schwerwiegender Grund vorliegt.“ Schwerwiegende soziale Gründe können sein: unüberbrückbare Differenzen mit den Eltern, Suchterkrankungen der Eltern (SG Nürnberg vom 2.11.06 – S 19 AS 811/06 ER) wie auch der Jugendlichen selbst, wenn Eltern die Jugendlichen vor die Tür setzen, unzumutbare räumliche Unterbringung (SG Berlin vom 9.11.2007 – S 37 AS 8402/06) fortgesetzte Gängelei und Herabsetzung (VG Meiningen vom 27.4.2006 – 8 K 807/05 ME, SG Dortmund vom 5.10.2006 – S 48 AS 34/06 ER) Kein eigenes Zimmer zu haben, kann auch ein Grund zum Auszug sein. Foto: uk liche wegen des Bezugs von Hartz IV aus der elterlichen Wohnung ausgezogen seien und dies Missbrauch von Sozialleistungen wäre, wurden die Gesetze gegen die U 25 verschärft. Zahlen für diesen angeblichen Missbrauch wurden nie vorgelegt. Außerdem hatten sie bis 2006 das Recht auszuziehen. Sein Recht wahrzunehmen, ist kein Missbrauch. Jeder Steuerzahlende darf so viel steuerlich mindernd geltend machen, wie das Steuerrecht hergibt. Das ist kein Missbrauch. Nur bei den Armen wird es als Missbrauch bezeichnet, wenn sie ihre Rechte wahrnehmen. Deshalb dürfen die U 25 seit März 2006 nicht mehr ohne ausdrückliche Erlaubnis des JobCenters umziehen. An die schwerwiegenden sozialen Gründe nach § 22 Abs. 2a SGB II dürfen jedoch keine überzogenen Ansprüche gestellt werden. Denn diese Gründe knüpfen an den gleich lautenden § 64 Abs.1 SGB III an. Zu diesem Paragrafen hat das BSG schon am 02.06.2004 – B 7 AL 38/03 R festgestellt, dass die Vorschrift über Kürzungen existenzsichernder Leistungen massiv in die Lebensführung junger Volljähriger eingreift, weil die von hilfebedürftigen Eltern geforderte Einstandspflicht in drastischem Gegensatz zur Situation nicht hilfebedürftiger Eltern steht. Zur Vermeidung einer überzogenen Haftung armer Eltern sind daher die Ausführungen des BSG auch für die Auslegung nach § 22 Abs.2a Satz 2 Nr.1 SGB II heranzuziehen (LSG Hamburg vom 2.5.2006 – L 5 B 160/06 AS ER) Danach gelten folgende Maßstäbe: Schwerwiegende soziale Gründe können sowohl aus Sicht des jungen Volljährigen als auch aus Sicht der Eltern vorliegen. Auf ein Verschulden des jungen Volljährigen kommt es nicht an. Störungen im Eltern-Kind-Verhältnis sind schwerwiegend, wenn eine Besserung nicht zu erwarten ist. Liegen keine Anhaltspunkte für einen Auszug zur Erlangung höherer Alg-II-Ansprüche vor, ist die auf der Basis erheblicher persönlicher Differenzen in der Vergangenheit begründete übereinstimmende Erkenntnis von Eltern und jungem Volljährigen, dass ein weiteres Zusammenleben nicht möglich sei, zu respektieren. Dies trägt dem verfassungsrechtlichen Vorrecht der elterlichen Erziehung (Art. 6 Abs.2 GG) und dem Persönlichkeitsrecht der Betroffenen (Art. 2 Abs. 1 GG) Rechnung, so das BSG. Die Einschaltung des Jugendamts ist keine Voraussetzung für die Anerkennung schwerer sozialer Gründe. Solche Hilfeangebote können nicht einmal vom JobCenter erzwungen werden. Es kann sogar von einer Zusicherung abgesehen werden, wenn es dem Jugendlichen „aus wichtigem Grund nicht zumutbar war, die Zusicherung einzuholen.“ (§ 22 Abs. 2a Nr. 3 SGB II) Wer genau liest, wird bemerkt haben, dass immer vom Umzug geschrieben wird, nicht vom Auszug aus der elterlichen Wohnung. Vom Gesetzestext her soll jeder junge Erwachsene, der noch nicht 25 Jahre ist, vor jedem UMZUG die Erlaubnis des JobCenters einholen. Doch so war das im Gesetzgebungsverfahren nicht vorgesehen. In der Gesetzesbegründung steht, dass die Ursache angeblicher hoher Kosten von Hartz IV unter anderem der Erstbezug einer eigenen Wohnung junger Erwachsener sei. Doch der „Erstbezug“ aus strassen|feger Ihr Recht von A-Z Ratgeberausgabe 2009 der Gesetzesbegründung verwandelt sich einfach in einen Paragrafen, der alle Umzüge der U 25 ohne Genehmigung verbieten will. Aufgrund der Gesetzesbegründung ist dieses Umzugsverbot für junge Erwachsene, die eine Wohnung haben, nicht durchzusetzen. Ebenso nicht genehmigungspflichtig ist: 1. der Umzug von einem Elternteil zum anderen, 2. der Auszug der Eltern unter „Zurücklassung“ des Jugendlichen, 3. der Auszug junger Verheirateter, 4. der Auszug der U 25, die schwanger sind oder ein Kind bis zu sechs Jahren betreuen. Wie zu sehen ist, gibt es viele Gründe, einen Auszug zu genehmigen. Ich kenne jedoch nicht einen Umzugsantrag der U 25, den die Arbeitslosenbehörden von sich aus genehmigt haben! Wenn, dann musste die Erlaubnis erst über ein Gerichtsverfahren erzwungen werden. Selbstverständlich darf z.B. ein junger Erwachsener, der im elterlichen Haushalt lebt und seinen Lebensunterhalt selbst verdient, ohne Erlaubnis ausziehen! Ebenso bedarf es keiner Genehmigung, wenn die Eltern den Jugendlichen vor die Tür setzen. Doch selbst Obdachlosigkeit der jungen Erwachsenen ist für die Behörde scheinbar kein Grund, die Kosten für eine Wohnung zu übernehmen. Auch diese Jugendlichen wurden auf das Elternhaus verwiesen. Eigentlich sollen die JobCenter Obdachlosigkeit verhindern bzw. beenden! Eigentlich! Wenn Kosten mit dem Umzug verbunden sind, muss deren Übernahme vor dem Umzug beantragt werden. Auch in den Fällen, in denen eine Umzugserlaubnis nicht eingeholt werden muss. Mit einer Wohnung sind in der Regel 15 eine Kaution, die Mietkostenübernahmebescheinigung und die Erstausstattung verbunden. Die müssen wie bei jedem anderen AlgII-Bezieher vorher beantragt werden. Wer gern im „Hotel Mama“ bleiben möchte, soll das tun, sich von Mama bekochen, seine Wäsche waschen, sein Zimmer aufräumen lassen, kurz, immer schön am Rockzipfel von Mama hängen. So haben die JobCenter Euch gern: abhängig und billig! Toll! Wer gute Gründe hat, von zu Hause auszuziehen, der sollte auch bereit sein, für sein Recht zu kämpfen. Da die JobCenter wohl kaum einen Antrag auf Auszug genehmigen, ehe sie von den Gerichten dazu gezwungen werden, stellt Euch darauf ein, und lasst Euch nicht mit einem gekürzten Regelsatz und der Weigerung, die Miete zu zahlen, von den JobCentern in die Schuldenfalle treiben. KLASSENFAHRTEN Eine der wenigen einmaligen Beihilfen; die den Betroffenen mit Einführung von Hartz IV geblieben sind, sind die mehrtägigen Klassenfahrten (§ 23 Abs.3 Satz 1 Nr. 3) im Rahmen der schulrechtlichen Bestimmungen. Schulfonds oder andere Zuschüsse der Schulbehörde sind vorrangig zu beantragen. Bisher sind zwei Möglichkeiten bekannt, wie Sozialbehörden rechtswidrig gegen diese Anträge vorgehen: 1. Sie bezweifeln, dass die beantragte Klassenfahrt den schulrechtlichen Bestimmungen entspricht und lehnen den Antrag ab. 2. Sie pauschalieren die beantragte Summe und zahlen nur einen Teil der Kosten. Zu 1. Festzulegen, was den schulrechtlichen Bestimmungen entspricht, obliegt der Schule bzw. der Schulbehörde, jedoch nicht den Arbeitslosenbehörden. Wenn also die Schule bekannt gibt, dass sie eine mehrtägige Klassenfahrt im Rahmen der schulrechtlichen Bestimmungen macht, dann hat die Arbeitslosenbehörde das so zu akzeptieren. Zu 2. Einige JobCenter fühlen sich berufen, die Kosten als willkürlich begrenzten Zuschuss zu übernehmen, teilweise übernehmen sie dann ganz großzügig die restliche Summe, auf der sie die Betroffenen sitzen lassen, als rückzahlbares Darlehen. Beides ist rechtswidrig! Mehrtägige Klassenfahrten sind von Kürzungen durch Pauschalen ausgenommen, im Gegensatz zu den anderen einmaligen Beihilfen. Die Übernahme darf auch nicht abgelehnt werden, weil nur ein Teil der Klasse (z.B. bei Projektfahrten) fährt oder die Fahrt ins Ausland geht oder zum Ende der Schulzeit stattfindet. Zu den Fahrtkosten gehören auch während der Reise entstehende Kosten wie Eintrittsgelder, Leihgebühren usw. Den Klassenfahrten gleichgestellt können auch mehrtägige Fahrten eines Kindergartens sein. Lediglich das Taschengeld ist von den Eltern aus der Regelleistung zu übernehmen. Das Bundessozialgericht hat Ende 2008 zu diesem Thema unter dem Aktenzeichen B 14 AS 36/07 R die ALG-II-Behörde verpflichtet, die vollen Kosten der Klassenfahrt zu übernehmen. Damit hat sich hoffentlich auch die rechtswidrige Praxis der Berliner Arbeitslosenbehörden erledigt. Wurde schon für eine Klassenfahrt bezahlt, weil das JobCenter den Antrag abgelehnt oder gekürzt hat, kann ein ÜBERPRÜFUNGSANTRAG gestellt und das Geld zurückgefordert werden. 16 strassen|feger Ihr Recht von A-Z Ratgeberausgabe 2009 MEHRBEDARF Mehrbedarfszuschläge gibt es für bestimm- te Behinderte, für Schwangere, für Alleinerziehende und Kranke mit besonderen Diäten. Mehrbedarf in Höhe von 35 Prozent (Tabelle unten) für Behinderte (§ 21 Abs. 1 Nr. 4 SGB II): Den gibt es leider nur, wenn Sie Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben nach § 33 SGB IX, sowie sonstige Hilfen zur Erlangung eines geeigneten Platzes im Arbeitsleben oder Eingliederungshilfen nach § 54 Abs. 1 Satz 1 Nrn. 1-3 SGB XII von einem öffentlich-rechtlichen Träger nach § 6 Abs. 1 SGB IX tatsächlich erhalten. – Die BA verweigert Behinderten diesen Mehrbedarf neuerdings, wenn Erhalt oder Erlangen eines Arbeitsplatzes nur über Mobilitätshilfen, Beratung oder Vermittlung gefördert wird. Mehrbedarf in Höhe von 17 Prozent für behinderte Sozialgeldbezieher (& 28 Abs. 1 Nr. 4 SGB II), die einen entsprechenden Ausweis mit dem Merkzeichen G haben. Kindern unter 15 Jahren wird dieser Zuschlag jetzt ganz verweigert, da er angeblich volle Erwerbsminderung voraussetzt und Schulkinder dem Arbeitsmarkt sowieso nicht zur Verfügung stünden. Beide neuen Anweisungen widersprechen den bestehenden Gesetzen, die sich nicht geändert haben und bis heute keine solche Einschränkungen vorsehen. Den Betroffenen bleibt auch hier nur die Möglichkeit, gegen die Verweigerung des Mehrbedarfs mit WIDERSPRUCH und KLAGE vorzugehen. Mehrbedarf bei Alleinstehenden Prozent vom Regelsatz 351 Euro Regelsatz bis 30.06.2009 12 % 42 Euro 60 Euro 17 % 35 % 123 Euro 36 % 126 Euro Mehrbedarf in Höhe von 17 Prozent für Schwangere ab der 13. Schwangerschaftswoche (§ 21 Abs. 1 Nr.2 SGBII): Mehrbedarfszuschläge richten sich prozentual nach der Höhe der Regelleistung nach § 20 SGB II. Da diese verschieden hoch sein können, ergeben sich auch prozentual verschieden hohe Zuschläge. Mehrbedarf für Alleinerziehende in Höhe von 12-60 Prozent (§ 21 Abs.1 Nr.3 SGB II) 1. in Höhe von 36 Prozent, wenn sie mit einem Kind unter sieben Jahren oder mit zwei oder drei Kindern unter sechzehn Jahren zusammenleben (129,24 Euro) 2. in Höhe von 43,08 Euro für jedes Kind, wenn sich dadurch Regelsatz 359 Euro ein höherer Prozentsatz als nach ab 01.07.2009 Nr.1 ergibt. Höchstens jedoch 60 43 Euro Prozent (215,40 Euro) der Regel61 Euro leistung. 126 Euro 129 Euro Ernährungsbedingter Mehrbedarf Seit Jahrzehnten richteten sich die Ämter bei diesem Mehrbedarf mehr oder weniger nach den Empfehlungen des Deutschen Vereins (DV). In den letzten Jahren unterliefen die Ämter diese Vorgaben und beriefen sich teilweise auf den „Begutachtungsleitfaden“ des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe, der, man ahnt es, eine „Schmalspurdiät“ verteidigt. Nun ist der Deutsche Verein „eingeknickt“. Nach seinen Empfehlungen ist nun in der Regel für Vollkost und deren spezielle Formen kein Mehrbedarf mehr erforderlich. Es reicht nicht mehr, verzehrende (konsumierende) Erkrankungen wie z.B. Krebs, HIV/AIDS, Multiple Sklerose, Morbus Chrohn oder Colitis ulcerosa zu haben; sozusagen „ein bisschen Krebs“ reicht nicht. Jetzt wird nur bei erheblichen körperlichen Auswirkungen, schweren Verläufen oder gestörter Nährstoffausnahme zugebilligt, dass eventuell im Einzelfall ein erhöhter Ernährungsbedarf vorliegen kann! Das heißt, dass jemand mit „fortschreitendem/fortgeschrittenen Krebsleiden“ mit den Ämtern um die Anerkennung als Einzelfall kämpfen muss, wenn er einen Mehrbedarf haben will. Das dürfte mit ziemlicher Sicherheit fast ausschließlich vor Gericht landen, sollten diese Schwerkranken nebenbei noch dafür überflüssige Kräfte haben. Jetzt wissen wir wieder einmal, weshalb sich das Ganze „Fürsorgesystem“ nennt! Für solch „einfache“ Krankheiten wie z.B. Hyperlipidämie (Erhöhung der Blutfettwerte), Hyperurikämie (Erhöhung der Harnsäure im Blut), Gicht, Hypertonie (Bluthochdruck), kardiale und renale Ödeme, Diabetes mellitus (Zuckerkrankheit Typ I und II), Zwölffingerdarmgeschwür, Magengeschwür, Neurodermitis, Leberinsuffizienz, denen bisher ein Mehrbedarf zwischen 25 und 35 Euro zugebilligt wurde, „... ist in der Regel ein krankheitsbedingt erhöhter Ernährungsaufwand zu verneinen.“ (O-Ton DV) abschließend. Wenn für andere, nicht aufgeführte Erkrankungen (z.B. Rheuma, Allergien) ein erhöhter Ernährungsbedarf besteht, ist ein Antrag an die Behörde zu jeder Zeit möglich. Die kann sich nicht darauf berufen, dass die Krankheit nicht in den Empfehlungen des DV enthalten ist. Das Bundessozialgericht hat in seinem Urteil vom 27.02.2008 (B 14 7b AS 64/06) den Amtsermittlungsgrundsatz betont, der die Behörde im Einzelfall verpflichtet, selbst den Sachverhalt zu ermitteln Art der Krankenkost KrankenErkrankung kostzulage (§ 20 SGB X) und auch die für Betroffene günstigen Umstände Nierenversagen Eiweißdefinierte Kost 36 Euro zu berücksichtigen, sowie die EinNierenversagen mit holung medizinischer und/oder Hämodialysebehandlung Dialysekost 72 Euro ernährungswissenschaftlicher Stellungnahmen und Gutachten. Zöliakie/Sprue Glutenfreie Kost 72 Euro (§ 21 SGBX) In den Durchführungshinweisen zu § 21 ist für folgende Krankheiten ein Mehrbedarf vorgesehen: Der Höhe nach sind Abweichungen in besonders gelagerten Einzelfällen möglich. Ein krankheitsbedingter Mehrbedarf für kostenaufwendige Ernährung ist bei folgenden verzehrenden Krankheiten in der Regel nur bei schweren Verläufen oder dem Vorliegen besonderer Umstände zu bejahen: 36 Euro monatlich bei Colitis ulcerosa, HIV/ AIDS, Krebs (bösartiger Tumor), Leberversagen, Morbus Crohn, Multipler Sklerose. Es ist den Kranken jedoch zu empfehlen, möglichst selbst die erhöhten Kosten für die Ernährung nachzuweisen. Vielleicht helfen hier die Ernährungsberater von Krankenkassen, entsprechenden Vereinen oder Selbsthilfegruppen. Denn es ist zu befürchten, dass „unabhängige“ Gutachter, wenn sie denn eingeschaltet werden, gern die Meinung der Auftraggeber vertreten. Im Text wird immer wieder von beispielhaften Aufzählungen (z.B.) der Krankheiten ausgegangen. Das heißt, nur für diese Krankheiten gibt es diese Empfehlungen. Sie sind nicht Auf jeden Fall haben die neuen Empfehlungen zwei Dinge erreicht: Einsparungen in Millionenhöhe und eine weitere Beschäftigung der Sozialgerichte! strassen|feger Ihr Recht von A-Z Ratgeberausgabe 2009 17 MIETE – KOSTEN DER UNTERKUNFT „Laufende Leistungen für die Unterkunft und Heizung werden in Höhe der tatsächlichen Aufwendungen erbracht...“ (§ 22 Abs. 1. Satz 1 SGB II). Dieser Satz gilt für alle, die Hartz IV erstmals beantragen. Egal, wie hoch die Miete ist, die Arbeitslosenbehörde muss sie in voller Höhe übernehmen, wenn der Antragsteller „bedürftig“ ist. Ausnahmen gibt es für die Kosten von Garagen, Kabelgebühren u.ä., wenn sie aus dem Mietvertrag herausgenommen werden können. Sind sie Bestandteil des Mietvertrags, ohne dass man auf diese Leistungen verzichten kann, müssen sie in der Regel auch übernommen werden. Da in diesem Paragraphen nicht von Miete, sondern von Kosten der Unterkunft geschrieben wird, zählen dazu u.a. auch Kosten für Untermiete, Eigenheime, Stellplatzkosten für einen Wohnwagen (LSG Berlin-Brandenburg vom 12.10.2007), reale Unterbringungskosten bei Dritten, Kosten einer Obdachlosenunterkunft, einer Pension, eines Hotels, einer Gartenlaube (LSG BerlinBrandenburg vom 8.3.2006 – L 19 B 42/06 AS ER), auch die Wohnkosten in einem besetzten Haus. Also alle Kosten, die nachweislich für eine Unterkunft erbracht werden. heit anders festlegen. Von dieser Möglichkeit haben die Verantwortlichen auch sehr willkürlich Gebrauch gemacht, unter der Prämisse „Hauptsache billig“ wurden Mietobergrenzen festgelegt, die keiner gerichtlichen Überprüfung standhielten. Die Angemessenheit richtet sich nach dem Wohnstandard, insbesondere der Wohnfläche, bare Wohnungen am Wohnort des Hilfebedürftigen marktüblichen Wohnungsmieten abzustellen und auf dieser tatsächlichen Grundlage die sozialhilferechtlich maßgebliche Mietpreisspanne zu ermitteln ist.“ (BVerwG 28.04.05 – 5 C 15/04) Der örtliche Mietspiegel kann in diesem Sinne eine gute Vorlage sein. Berlin z.B. hat einen detaillierten Mietspiegel. Und was macht der Berliner Senat? Übrigens gelten bei Gartenlauben und Wohnwagen, die nicht gemietet, sondern Eigentum sind, die gleichen Bestimmungen wie bei Eigenheimen. Kosten für Wasser, Müllabfuhr, Reparaturen, Pacht des Grundstücks usw. müssen als Kosten der Unterkunft in der Regel übernommen werden. Foto: Dario Voraussetzung für die Übernahme der Kosten der Unterkunft ist in der Regel die tatsächliche Zahlung, nicht die Vorlage irgendeines Vertrages. Wer z.B. keinen Vertrag hat, jedoch durch Kontoauszüge nachweisen kann, dass Überweisungen für eine Unterkunft getätigt werden, hat in der Regel auch Anspruch auf Übernahme der Kosten. Der oben erwähnte Satz des §22 wird jedoch mit der Hinzufügung „...soweit diese angemessen sind“ beendet. Das heißt, dass es da Beschränkungen gibt. Diese Beschränkungen treten jedoch nicht sofort in Kraft. Die Arbeitslosenbehörde, die verpflichtet ist, die Kosten der Unterkunft in tatsächlicher Höhe zu übernehmen, kann einem Alg-II-Bezieher mitteilen, dass sie seine Miete für unangemessen hoch hält und ihn zur Senkung der Mietkosten mit einer Fristsetzung auffordern. Die Kosten können durch Untervermietung, UMZUG oder durch eigene Zahlung von Teilen der Miete gesenkt werden. Doch was ist angemessen? Für diesen Begriff gibt es keine feste Summe. Jedes Bundesland, jede Kommune kann die Angemessen- die den Betroffenen zugestanden wird, den Mietpreisen des Wohnungsmarktes und der persönlichen Situation des Erwerbsfähigen und seiner Bedarfs-oder Haushaltsgemeinschaft. Der Wohnstandard für Alg II-Bezieher richtet sich immer nach dem Wohnstandard am Ort. Wer in Dörfern oder Kleinstädten wohnt, in denen viele Wohnungen noch mit Ofenheizung und ohne Bad sind, kann auch nicht mehr verlangen. Wer jedoch in Gegenden wohnt, wo ein hoher Prozentsatz der Wohnungen mit Zentralheizung und Bad ausgestattet ist, wird schwerlich auf den kleinen Teil der Wohnungen ohne Bad verwiesen werden können. Die zugebilligte Wohnungsgröße soll sich an den Richtwerten der Wohngeldtabelle orientieren (z.B. 45-50 Quadratmeter für eine Person). Die Tabelle erhält man bei jedem Wohnungsamt. „Bei der Beurteilung der Angemessenheit der Mietaufwendungen... sind die örtlichen Verhältnisse zunächst insoweit maßgeblich, als auf die im unteren Bereich der für vergleich- Er legt eine Einheitsmietobergrenze pro Person fest, ohne den Mietspiegel, ohne auch nur die geringste Aussage treffen zu können, wie viele Wohnungen für Bezieher nach SGB II und XII in diesen Preislagen tatsächlich zur Verfügung stehen. Genau diese Vorgehensweise hat das Bundesverwaltungsgericht in seinem Urteil nicht gemeint. Für diese Praxis haben wir ja auch einen „rot-roten“ Senat. Maßgeblich soll im Prinzip der Quadratmeterpreis mal den zulässigen Quadratmetern sein. Innerhalb dieser Grenzen ist es einem Alg-IIBezieher möglich zu variieren. Z.B. ist Grundlage ein Quadratmeterpreis von sechs Euro und eine Wohnungsgröße von 50 Quadratmetern, so entspricht dies einer Miethöchstgrenze von 300 Euro. Es kann eine knapp 43 qm große Wohnung, jedoch mit Balkon und/oder Fahrstuhl, für sieben Euro pro Quadratmeter gemietet werden. Es kann aber auch, weil ein größeres Platzbedürfnis besteht, eine Wohnung mit 60 Quadratmetern und einem Quadratmeterpreis von fünf Euro gemietet werden. Wichtig ist, dass die 300 Euro Miethöchstgrenze nicht überschritten werden. strassen|feger Ihr Recht von A-Z Ratgeberausgabe 2009 Der persönlichen Situation entsprechend können Betroffenen auch größere Wohnungen zugebilligt werden, insbesondere bei: Pflegebedürftigkeit, Behinderten (z.B. Rollstuhlfahrer), Schwangeren, Alleinerziehenden, Selbstständigen (Büro, Werkstatt, Arbeitszimmer), häufigen und regelmäßigen Besuchen der leiblichen Kinder mit längerem Aufenthalt (SG Magdeburg, Urteil vom 28.10.2005 – S 28 AS 383/05), Haushalt mit Angehörigen der BG mit bedarfsdeckendem Einkommen (SG Oldenburg, Beschluss vom 31.10.2005 – S 47 AS 256/05 ER). Bei Alleinerziehenden zeichnet sich ab, dass ihnen mehr Wohnraum zugestanden werden kann als Paarhaushalten. Das BSG hat in seinem Urteil (18.06.2008 B 14/7b AS 44/06 R) nochmals einer Alleinerziehenden mehr Wohnraum zugebilligt. Ebenso hat das LSG Berlin-Brandenburg (29.07.2008 L 14 B 248/08 AS ER) einer Mutter mit Kind einen um 10 Prozent höheren Richtwert eines Zwei-Personen-Haushaltes zugesprochen. Zusätzlich zur angemessenen Miete geht es jedoch auch um angemessene Heizkosten. Hier sind die Versuche der Arbeitslosenbehörden, Heizkosten pauschal bei einer meist willkürli- feuchter Wände, zu kalten Hausfluren, Erdgeschoss- oder Dachwohnungen, ungedämmte Wohnungen, teure Heizungsarten (Strom), aber auch zusätzlicher Wärmebedarf von Kleinkindern, alten oder kranken Menschen, müssen berücksichtigt werden. Auch wenn sich die Heizkosten wegen eines besonders kalten Winter erhöht haben. Bei Kohleheizung gibt es z.B. in Berlin eine Begrenzung der Bewilligung nach Zentnern und Personenzahl und nicht nach Quadratmetern. Betroffene können, wenn der Kohlenvorrat zur Neige geht, zusätzliches „Kohlengeld“ beantragen. Hier hat auch wieder eine Einzelfallprüfung zu erfolgen. Es muss, insbesondere bei den oben genannten besonderen Umständen, nachbewilligt werden. Kein Betroffener darf auf eine ungeheizte Wohnung verwiesen werden. chen Summe zu begrenzen, dank der Gerichte kläglich gescheitert. Durchschnittswerte berechtigen die Arbeitslosenbehörden nicht, die tatsächlichen Heizkosten zu verweigern oder zukünftige Heizkostennachzahlungen abzulehnen. Tenor vieler Gerichte ist: Höhere Kosten sind zu übernehmen, bis das Amt die Ursache der Kostenerhöhung ermittelt hat (SG Kassel vom 9.3.2005 – S 21 AS 11/05 ER). Dabei ist immer der Einzelfall zu prüfen. Hohe Heizkosten wegen zusätzlicher Außenwände, In Berlin wurden die Mietobergrenze für EinPersonen-Haushalte von 360 Euro auf 378 Euro zum 01.03.2009 erhöht. Wenn der neue Mietspiegel (ca. Sommer 2009) erstellt ist, wollte der Senat die Mietobergrenzen für ALGII- und Sozialhilfebezieher überprüfen. Das ist bis heute nicht geschehen. Foto: cs 18 strassen|feger Ihr Recht von A-Z Ratgeberausgabe 2009 19 MITWIRKUNGSPFLICHTEN Fast jeder Alg-II-Bezieher wurde wohl schon auf seine Mitwirkungspflichten hingewiesen. In der Regel werden Forderungen nach irgendwelchen Unterlagen mit dem Hinweis auf die Mitwirkungspflichten versehen. Immer wieder überschreiten die Behörden ihre Kompetenzen und fordern Unterlagen, die sie nichts angehen oder deren Erbringung unmöglich ist. Ob es die Einkommensbescheinigungen irgendwelcher WG-Mitglieder sind oder die Bescheinigung, dass kein Einkommen erzielt wird, es sind dies alles Blüten hyperaktiver Datensammler bei den Arbeitslosenbehörden. Nur die Sterbeurkunde der Urgroßmutter samt Totenschein haben die Behörden wohl noch nicht verlangt. Doch ehe wir uns hier mit den Pflichten der Betroffenen befassen, sehen wir uns die Pflichten der Behörde an: Quelle: Archiv §20 SGB X Untersuchungsgrundsatz SGB I § 60 Angaben von Tatsachen „(1) Die Behörde ermittelt den Sachverhalt von Amts wegen. Sie bestimmt Art und Umfang der Ermittlungen; an das Vorbringen und an die Beweisanträge der Beteiligten ist sie nicht gebunden. Wer Sozialleistungen beantragt oder erhält, hat 1. alle Tatsachen anzugeben, die für die Leistung erheblich sind, und auf Verlangen des zuständigen Leistungsträgers der Erteilung der erforderlichen Auskünfte durch Dritte zuzustimmen, 2. Änderungen in den Verhältnissen, die für die Leistung erheblich sind oder über die im Zusammenhang mit der Leistung Erklärungen abgegeben worden sind, unverzüglich mitzuteilen, 3. Beweismittel zu bezeichnen und auf Verlangen des zuständigen Leistungsträgers Beweisurkunden vorzulegen oder ihrer Vorlage zuzustimmen.“ erwarten ist, dass sie seine Erwerbs- und Vermittlungsfähigkeit auf Dauer fördern oder erhalten werden. § 61 verpflichtet zum persönlichen Erscheinen, wenn die Behörde dies fordert. Diese Paragrafen sind den Mitarbeitern weitgehend geläufig. Was von den Arbeitslosenbehörden scheinbar völlig ignoriert wird, sind die gesetzlichen Grenzen der Mitwirkungspflichten. Die stehen gleich unter den Pflichten, im § 65 SGB I. (2) Die Behörde hat alle für den Einzelfall bedeutsamen, auch die für die Beteiligten günstigen Umstände zu berücksichtigen. (3) Die Behörde darf die Entgegennahme von Erklärungen oder Anträgen, die in ihren Zuständigkeitsbereich fallen, nicht deshalb verweigern, weil sie die Erklärung oder den Antrag in der Sache für unzulässig oder unbegründet hält.“ Wenn der Betroffene angibt, keiner Erwerbstätigkeit nachzugehen, dann haben die Mitarbeiter den Sachverhalt selbst zu ermitteln, wenn sie daran Zweifel haben, anstatt von dem Betroffenen unsinnige und unmögliche Nachweise der „Nichterwerbstätigkeit“ zu verlangen. Davon, dass die Mitarbeiter auch die für Betroffene günstigen Umstände zu berücksichtigen haben, dürften oder wollen diese oft nichts wissen. Doch kommen wir zu dem, was die Behörden von den Betroffenen verlangen dürfen. § 62 verpflichtet zu ärztlichen und psychologischen Untersuchungen, soweit diese für die Entscheidung über Leistungen erforderlich sind. §63 verpflichtet, sich einer Heilbehandlung zu unterziehen, wenn dadurch eine Besserung herbeigeführt oder eine Verschlechterung verhindert wird. § 64 verpflichtet zur Teilnahme an Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben, wenn zu Der Inhalt der §§ 60 bis 64 ist verkürzt wiedergegeben. § 60 Abs. 1 schreibt vor, dass die Angaben für die Leistung ERHEBLICH sein müssen. Die Adresse des Vermieters ist unerheblich. Seine Bankverbindung auch. DATENSCHUTZ Ausnahme; die Miete wird direkt an den Vermieter überwiesen. Daten der Eltern sind unerheblich, wenn kein Unterhalt gezahlt wird usw. Damit besteht auch keine Pflicht, diese Angaben zu machen. (1) „Die Mitwirkungspflichten nach § 60 bis 64 bestehen nicht, soweit 1. ihre Erfüllung nicht in einem angemessenen Verhältnis zu der in Anspruch genommenen Sozialleistung oder ihrer Erstattung steht oder 2. ihre Erfüllung dem Betroffenen aus einem wichtigen Grund nicht zugemutet werden 20 strassen|feger Ihr Recht von A-Z Ratgeberausgabe 2009 kann oder 3. der Leistungsträger sich durch einen geringeren Aufwand als der Antragsteller oder Leistungsberechtigte die erforderlichen Kenntnisse selbst beschaffen kann. sind im Rahmen der Amtshilfe (§§ 3-7 SGB X) zur Auskunft verpflichtet. 2) Behandlungen und Untersuchungen 1. bei denen im Einzelfall ein Schaden für Leben oder Gesundheit nicht nur mit hoher Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden kann, 2. die mit erheblichen Schmerzen verbunden sind oder 3. die einen erheblichen Eingriff in die körperliche Unversehrtheit bedeuten, können abgelehnt werden. § 67a Aufwendungsersatz (3) Angaben, die dem Antragsteller, dem Leistungsberechtigten oder ihnen nahe stehende Personen die Gefahr zuziehen würde, wegen einer Straftat oder einer Ordnungswidrigkeit verfolgt zu werden, können verweigert werden.“ Mit einem geringeren Aufwand kann sich der Mitarbeiter die Kenntnis z.B. des Bezugs von Kindergeld oder von Unterhaltsvorschuss per Telefon (mit Erlaubnis des Betroffenen) beschaffen. Auch die Bescheinigung bei Einkommensbeziehern, dass kein Wohngeld gezahlt wird, kann auf diese Weise zur Kenntnis gelangen, anstatt die Betroffenen durch sämtliche Behörden zu hetzen. Die Mitarbeiter sollten bei solchen und ähnlichen Anliegen aufgefordert werden, sich ihre Erkenntnisse selbst zu beschaffen. Die anderen Behörden „(1) Wer einem Verlangen des zuständigen Leistungsträgers nach den §§ 61 oder 62 nachkommt, kann auf Antrag Ersatz seiner notwendigen Auslagen und seines Verdienstausfalls in angemessenem Umfang erhalten....“ Das heißt: Werden Unterlagen verlangt, deren Beschaffung Geld kostet z.B. eine Bescheinigung, ein ärztliches Attest, Kostenvoranschläge usw., muss die Behörde die Kosten übernehmen, wenn dies VORHER beantragt wird. § 66 Folgen fehlender Mitwirkung Kommt jemand seinen Mitwirkungspflichten nicht nach und erschwert er damit die Aufklärung eines Sachverhalts ERHEBLICH und können dadurch die Voraussetzungen für eine Leistung nicht ermittelt werden, kann die Behörde die Leistung ganz oder teilweise versagen. Hat jemand z.B. den Nachweis für den Unterhaltsvorschuss nicht erbracht, kann die Leistung auch nur bis zur Höhe dieser Summe gekürzt werden, nicht die komplette Zahlung. Das wäre unverhältnismäßig. „(3) Sozialleistungen dürfen wegen fehlender Mitwirkung nur versagt oder entzogen werden, nachdem der Leistungsberechtigte auf diese Folgen schriftlich hingewiesen worden ist und seiner Mitwirkungspflicht nicht innerhalb einer ihm gesetzten Frist nachgekommen ist.“ Immer muss vorher eine angemessene Frist gesetzt werden und SCHRIFTLICH auf die Kürzung hingewiesen werden. Liegt eine Fristversäumnis nicht im Verschulden des Betroffenen z.B. weil der Arbeitgeber den Gehaltsnachweis nicht ausstellt, darf die Leistung nicht gekürzt oder versagt werden. Natürlich muss die Behörde vom Betroffenen darüber unterrichtet werden. § 67 „Wird die Mitwirkungspflicht nachgeholt und liegen die Leistungsvoraussetzungen vor, kann der Leistungsträger Sozialleistungen, die er nach § 66 versagt oder entzogen hat, nachträglich ganz oder teilweise erbringen.“ Das Wort „kann“ sagt aus, dass die Mitarbeiter nach eigenem ERMESSEN handeln dürfen. Bei Beziehern nach dem SGB II und SGB XII handelt es sich in der Regel um die Beseitigung von Notlagen. Damit gibt es keinen Ermessensspielraum. Die Leistung muss daher bei nachgeholter Mitwirkung nachgezahlt werden! strassen|feger Ihr Recht von A-Z Ratgeberausgabe 2009 21 NEBENKOSTENABRECHNUNG Aus der Nebenkostenabrechnung entste- hende Nachzahlungen gehören zu den Kosten der Unterkunft nach § 22 SGB II und müssen von der Arbeitslosenbehörde übernommen werden. (SG Hannover 03.03.2005 – S 51 SO 75/05 ER; SG Lüneburg 15.03.05 S 23 S 75/05 ER) Sie sind kein in der Regelleistung enthaltener Bedarf, der als Darlehen nach § 23 Abs. 1 vergeben wird! Die berechtigte Nachforderung an Nebenkosten muss die Arbeitslosenbehörde übernehmen. Dabei ist es unwichtig, ob der Abrechnungszeitraum vor oder im Bezug von Alg II liegt. Wichtig ist, dass die Forderung während des Bezugs von Alg II entsteht. Liegt die Forderung nach dem Bezug von Alg II, ist nicht mehr das JobCenter zuständig. Guthaben aus Nebenkostenabrechnungen mindern die Unterkunftskosten im Folgemonat um diese Summe. Foto: flickr.com ACHTUNG! FÜR ALLE MIETER WICHTIG! Eine Betriebskostenabrechnung muss nur beglichen werden, wenn sie innerhalb von zwölf Monaten nach dem Abrechnungszeitraum eingegangen ist. Danach sind Nachforderungen unwirksam. Wer eine eigentlich unwirksame Nachforderung bezahlt hat, kann sie nach einem Urteil des BGH vom 18.01.2006 – VIII ZR 94/05 bis zu drei Jahre zurückfordern. ORTSABWESENHEIT Ortsabwesenheit besteht, wenn ein Bezie- her von Regelleistungen nach dem SGB II werktags ohne Erlaubnis der Arbeitslosenbehörde länger als 24 Stunden seinen Briefkasten im Stich lässt. Ausnahmen davon gelten für die Wochenenden und Feiertage. Ebenfalls darf man sich per Antrag für 21 Kalendertage (!) Urlaub genehmigen lassen (möglichst schriftlich). Schon allein die Erreichbarkeit daran festzumachen, dass der Betroffene persönlich „an jedem Werktag an seinem Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt unter der von ihm benannten Anschrift durch Briefpost vom Träger der Grundsicherung für Arbeitssuchende erreicht werden kann“ macht den Zwangscharakter der EAO klar. Als gäbe es kein Telefon, Fax, Handy und kein Internet. Das Bestehen darauf, dass die Betroffenen täglich persönlich ihren Briefkasten besuchen müssen (BSG 09.02.06), könnte man als weltfremd sehen, wenn es nicht einen so schönen Sanktionstatbestand liefern würde! Was würde es schaden, wenn ein Nachbar täglich den Briefkasten leert und bei Bedarf den Betroffenen anruft? Vielleicht sogar per Handy. Schlachtentscheidend wäre doch eigentlich, dass der Betroffene unverzüglich handelt. Es würde ausreichen, wenn Sanktionen bei selbst verschuldeten Verzögerungen einsetzen. Doch dann hätte hat man die Leute nicht mehr so schön am Gängelband. ACHTUNG! Wer ortsabwesend „erwischt“ wird, verliert rückwirkend für diese Zeit seinen Anspruch auf Alg II. Für auf dem ersten Arbeitsmarkt sozialversicherungspflichtig Beschäftigte gilt dies nicht. 22 strassen|feger Ihr Recht von A-Z Ratgeberausgabe 2009 RECHTSSCHUTZ Jeder Betroffene hat das Recht, sich gegen falsche Bescheide, egal, ob es sich um den laufenden Bezug, einmalige Beihilfen oder Aufhebungs- oder Erstattungsbescheide handelt, zu wehren. Nur wenige Betroffene jedoch wehren sich. Dazu sind verschiedene Voraussetzungen nötig: ein abgeschlossenes Jurastudium – na gut, war ein Scherz. Doch Fakt ist, dass sich nur wenige Betroffene in den unübersichtlichen, teilweise widersprüchlichen und sich ständig ändernden komplexen Gesetzestexten des SGB II auch nur ansatzweise auskennen. Hinzu kommen die Durchführungshinweise der BA, aber auch die Urteile und Beschlüsse der Gerichte. Betroffene dürften eigentlich nie auf die Richtigkeit der Bescheide vertrauen! Dazu müssen die Betroffenen noch den Mut und die Kraft haben, sich mit Widersprüchen und Klagen auseinander zu setzen. Wege zum zum Recht Nur wenige Betroffene bemerken Fehler im Bescheid. Von ihnen legt nur ein kleiner Teil Widerspruch ein. Die Hürde zur Klage schaffen dann noch einmal weniger Betroffene, weil sie Angst haben, sich mit den Arbeitslosenbehörden anzulegen, weil sie nicht an einen Sieg glauben oder weil ihnen einfach die Kraft dafür fehlt. Hinzu kommen von den Gerichten abgelehnte Beratungsoder Prozesskostenhilfe und die Suche nach einem Anwalt, der vom SGB II mehr als nur eine Ahnung hat. Frage der Zeit, dass dieses Argument keinen Gesetzgeber mehr von solchen Ungerechtigkeiten abhält. Nutzen wir also die Rechte, solange wir sie noch haben! Wer sich wehren will, der sollte nicht sofort an Klage und Gericht denken. Nicht immer ist es sinnvoll, gleich mit Widersprüchen und Klagen zu arbeiten. Manchmal schafft der „kurze Weg“ auch in kurzer Zeit ein akzeptables Ergebnis. Der Instanzenweg ist der aufwendigere, längere und belastendere Weg. Es ist nicht selten, dass es verschiedene Beanstandungen zu beseitigen gilt. Dazu mehrere Gerichtsverfahren anzufangen, während es zumindest den Versuch wert ist, die Dinge mit einem Gespräch oder einem kurzen Schreiben zu klären, wäre unsinnig. Auch besteht die Gefahr, wenn man nur verbissen über die Gerichte verhandelt, irgendwann eine Frist zu versäumen, den Überblick zu verlieren oder unter der hohen Belastung zusammenzubrechen. Damit ist niemandem geholfen außer den Arbeitslosenbehörden, denn ihre teils willkürlichen Bescheide werden dann rechtskräftig. Gespräch und/oder Widerspruch Wurde bei einem Bescheid eindeutig etwas vergessen, z.B. die Heizkosten, sollte auf jeden Fall versucht werden, die Sache persönlich zu klären. Manchmal hilft allein schon der Vorgesetzte gegen das „Vergessen“ oder auch, weil der ein paar Stunden Schulung mehr hatte als der Sachbearbeiter. Leider gibt es JobCenter, die sich gegen den Besuch der Betroffenen wie Banken gegen Räuber absichern. Mit jeder Menge Sicherheitspersonal, das den direkten Kontakt möglichst verhindern soll. Wenn außer in Notfällen nur noch langfristige Termine vergeben werden, können Betroffene nur noch mit einem kurzen Schreiben auf Fehler hinweisen. Keinesfalls sollte die Monatsfrist für den Widerspruch aus den Augen verloren werden. Zum Rechtsschutz gehören u.a. der Widerspruch, der Überprüfungsantrag nach § 44 SGB X, die einstweilige Anordnung, die Klage und u.U. die Berufung. ACHTUNG!! Wer ohne Anwalt vor Gericht zieht, sollte beachten, dass bei Klagen u.ä. Änderungen eingetreten sind. Es wird nicht mehr davon ausgegangen, dass der Vertreter der Bedarfsgemeinschaft (an den auch die Bescheide gerichtet sind) automatisch bei Gericht auch die anderen Mitglieder vertritt. Wird bei Klagen, Einstweiligem Rechtsschutz o.ä. für mehrere Personen vor Gericht gezogen, muss jede betroffene Person namentlich aufgeführt werden. Weitere Sanktionen und Einschränkungen werden folgen. Seit Jahren arbeiten die Regierungen daran, für Sozialgerichte Gebühren einzuführen. Bisher haben in erster Linie die Richter mit dem Verweis auf die Verfassung Gebühren verhindern können. Jedoch ist es nur eine Standbild eines Ritters mit gezücktem Richtschwert. Rolandsfiguren wurden im Mittelalter als Zeichen bürgerlicher Unabhängigkeit, der Eigenständigkeit der Stadt und damit der Freiheit errichtet. Die hier abgebildete über fünf Meter hohe Statue, eine Kopie des Roland von Brandenburg aus dem 15. Jahrhundert, steht vor dem Berliner Märkischen Museum. Quelle: wikipedia Dennoch brechen die Sozialgerichte trotz zahlreicher neuer Richterstellen unter der Klageflut fast zusammen. Jährlich steigen die Zahlen der Akten. Um vorauszusehen, dass die Zahlen noch weiter steigen, muss man kein Prophet sein. Allein die Änderungen der Durchführungshinweise zum MEHRBEDARF für Ernährung und für Behinderte führen zu weiteren Prozessen. Klagt eine BG mit zwei Kindern (z.B. wegen Mietkosten), kann in der Klage zum Beispiel geschrieben werden: „... klagen wir, Fritz und Erna Müller, auch als gesetzliche Vertreter unserer Kinder Laura und Egon Müller...“ Alle Volljährigen, die die Klage betrifft, müssen sie auch unterschreiben. Für Alleinstehende ändert sich deshalb nichts. Ebenso verhält es sich, wenn es sich um Leistungen für nur ein Mitglied der Bedarfsgemeinschaft handelt – z.B. bei Sanktionen nach § 31 oder Mehrbedarf. strassen|feger Ihr Recht von A-Z Ratgeberausgabe 2009 23 Beratungs- und Prozesskostenhilfe (PKH) Alg-II-Bezieher, die Zweifel haben, ob ihr Bescheid richtig ist, können ihn bei einer Sozialberatungsstelle überprüfen lassen. Sie können auch beim zuständigen Gericht einen Beratungsschein beantragen. Voraussetzungen dazu sind, dass sie keine Rechtsschutzversicherung oder andere Mitgliedschaften haben, die solche Kosten übernehmen, und dass sie Vermögen nur innerhalb der Sozialhilfegrenzen besitzen. Das Bundesverfassungsgericht hat entschieden (I BvR 1517/08), dass die Praxis der Ablehnung von Beratungshilfekosten durch die Sozialgerichte mit dem Verweis auf behördliche Beratung des SGB II-Leistungsträgers verfassungs- widrig ist. Es ist zumindest zu hoffen, dass sich die verfassungswidrige Praxis der Gerichte damit erledigt hat. Wo das nicht der Fall ist, sollte auf das Urteil verwiesen werden. Mit dem Beratungsschein kann ein Anwalt (möglichst ein Fachanwalt für Sozialrecht mit SGB-II-Kenntnissen) den Bescheid prüfen und ggf. Widerspruch einlegen. Der Anwalt kann 10 Euro Selbstbeteiligung von seinem Klienten verlangen, muss es aber nicht. Für die Klageerhebung durch einen Anwalt benötigen Betroffene Prozesskostenhilfe. Die kann der Anwalt, der schon den Beratungsschein erhielt, beantragen oder der Betroffene beim Gericht. Die Voraussetzungen sind auch hier wie oben beschrieben und betreffen auch die hinreichende Aussicht auf Erfolg. Liegen die Voraussetzungen vor, ist der Anwalt kostenlos. Wird Prozesskostenhilfe abgelehnt, weil angeblich keine Aussicht auf Erfolg besteht, kann gegen diese Entscheidung geklagt werden. Also wird praktisch ein Prozess um die Prozesskostenhilfe geführt. Das „vereinfacht“ die Sache für Betroffene natürlich ungemein. Widerspruch In der Regel richtet sich ein Widerspruch gegen einen Bescheid. Dieser Bescheid muss nicht zwingend schriftlich sein. Auch eine mündliche Ablehnung kann ein Verwaltungsakt, also ein Bescheid sein. Bei schriftlichen Bescheiden, die im Briefkasten landen, beginnt die Widerspruchsfrist von einem Monat erst mit dem Tag, an dem die Post eingegangen ist. Sie kann in Extremfällen mehrere Wochen nach der Datierung des Bescheids erfolgen. Deshalb sollte der Erhalt immer notiert werden (Briefumschlag aufheben). „...im Zweifel hat die Behörde den Zugang des Verwaltungsaktes und den Zeitpunkt des Zugangs nachzuweisen.“ § 37 Abs.2 SGB X. Nicht selten erfahren Betroffene durch Zufall, dass ihr Bescheid falsch sein könnte. Ist die Widerspruchsfrist fast um, sollte nicht erst nach einer Beratungsstelle oder einem Anwalt gesucht werden. Wer in Zeitnot ist, kann an Stelle der Begründung schreiben: „Die Begründung des Widerspruchs wird nachgereicht.“ Dann sollte die Begründung jedoch auch nachgeholt werden, spätestens, wenn man sich schlau gemacht hat. ist zur Protokollierung verpflichtet. (§ 84 Abs. 1 Satz 1 SGG, Sozialgerichtsgesetz) Auf jeden Fall sollte das Geschriebene dann sorgfältig überprüft werden, ehe es unterschrieben wird. Die Kopie für sich selbst nicht vergessen! Jedoch ist dieses Vorgehen nur für Betroffene, die sich gut auskennen, geeignet. Enthält der Bescheid eine Widerspruchsbelehrung, muss der Widerspruch innerhalb eines Monats bei der Behörde eingegangen sein. Ohne Widerspruchsbelehrung beträgt die Frist ein Jahr. Jedoch ist es in der Regel wenig sinnvoll, solche Fristen auszuschöpfen. Der Widerspruch kann jedoch auch mündlich beim SGB-II-Träger vorgebracht werden. Der Aufschiebende Wirkung In der heutigen Sozialhilfe haben Wider- sprüche noch immer aufschiebende Wirkung. In der früheren Sozialhilfe und der Arbeitslosenhilfe galt das auch. „Aufschiebende Wirkung“ bedeutet, dass die Behörde, die mit einem Bescheid etwas durchsetzen will (z.B. eine Kürzung der Regelleistung), durch Widerspruch und Klage daran gehindert wird. Das Amt muss sein Anliegen aufschieben, bis der Rechtsstreit beendet ist. Bei Hartz-IV-Beziehern entfällt die aufschiebende Wirkung bei Widersprüchen und Klagen gegen einen Bescheid, der eine bereits bewilligte Leistung entzieht oder kürzt (§ 39 SGB II). Natürlich nur aus reiner Fürsorgepflicht werden den Betroffenen immer mehr Rechte genommen: Sie müssen erst einmal wissen, dass es die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung gibt, um sie dann zusammen mit dem Widerspruch beantragen zu können. Wer nicht warten kann, sollte sofort beim Sozialgericht einen einstweiligen Rechtsschutz auf Anordnung bzw. zur Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung beantragen. Ist doch klar, weiß doch jeder – oder etwa doch nicht? Auch hierfür ist wieder ein Anwalt anzuraten. 24 strassen|feger Ihr Recht von A-Z Ratgeberausgabe 2009 Einstweilige Anordnung Neben dem Widerspruch und der Klage gibt es bei dringenden Notlagen den einstweiligen Rechtsschutz (ER), auch einstweilige Anordnung (EA) genannt , die man nur beantragen kann, „...wenn sie zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint...“ Zuerst muss in der Regel der Widerspruch eingereicht sein, dann kann eine EA beantragt werden. Der ER ist ein Eilverfahren. Es kann z.B. beantragt werden, wenn • trotz Mittellosigkeit kein Alg II gezahlt wird, • ohne Krankenversicherung dringend ein Arzt aufgesucht werden muss, • dringend benötigte Dinge (z.B. ein Bett) bei Erstausstattung verweigert werden, • wegen Mietrückständen die fristlose Kündigung drohen könnte, • Stromsperre droht. Leider lassen auch die massenhaften Eilverfahren noch keine klare Richtung erkennen, wo die Bagatellgrenze liegt. Das Hessische LSG (Beschluss vom 7.11.2005 – L 9 AS 66/05 ER) hält 1,38 Euro Monatsbetrag für zu gering für die Eilbedürftigkeit; das LSG Niedersachsen-Bremen (Beschluss vom 10.2.2006 – L 9 AS 1/06 ER) hält selbst 8,14 Euro je Monat noch für zu gering. Kann jedoch im Eilverfahren abschließend entschieden werden, so kann der Betrag auch geringer sein. Wie beim Widerspruch kann man auch bei den Sozialgerichten seine Anträge in der Rechtsantragsstelle zur Niederschrift geben. Voraussetzung für den Antrag auf eine EA ist in der Regel der Widerspruch. Erst Widerspruch einlegen, dann EA beantragen! Zu beachten ist auch, dass eine EA nicht das Hauptsacheverfahren ersetzt; deshalb muss in der Regel, unabhängig von der beantragten EA, auf den Widerspruchsbescheid reagiert werden. Ist der ablehnend, muss neben der EA innerhalb eines Monats Klage beim Gericht erhoben werden! Die EA versucht im Prinzip, das zu erwartende Ergebnis der Klage vorwegzunehmen. Das Hauptverfahren ist in der Regel aber die Klage. Klage Es gibt verschiedene Arten von Klagen. Die Anfechtungsklage, die Feststellungsklage, die Leistungsklage und die Verpflichtungsklage. Für den Kläger ist es nicht wichtig, diese einordnen und benennen zu können. Das ist Sache der Gerichte, zumal eine Klage oftmals verschiedene dieser Klagearten enthält. In der Regel kommt es nach einem halben bis zwei Jahren zu einer Verhandlung. Jedoch können Richter auch ohne Verhandlung entscheiden. Man kann eine mündliche Verhandlung beantragen. Hat man dann noch wichtige Tatsachen oder Ansichten vorzutragen, sollte man darauf achten, dass sie auch ins Protokoll der Verhandlung aufgenommen werden. Oft enden Prozesse mit einem Vergleich. Richter streben diese Form der Erledigung eines Prozesses gern an, weil er ihnen weniger Arbeit macht als die ausführliche Begründung eines Urteils. Ohne Anwalt ist es oft schwierig zu beurteilen, ob es richtiger ist, sich auf einen Vergleich einzulassen oder auf ein Urteil, in der Hoffnung, dass es positiv ausfällt, zu bestehen. Man sollte sich auf einen Vergleich nur einlassen, wenn man während der Verhandlung den Eindruck gewinnt, dass man nicht mehr erreichen kann. Wer jedoch ein positives Urteil erreicht hat, sollte es bitte an info@tacheles-sozialhilfe.de schicken. Wer eine EA ohne Hilfe eines Anwalts beantragen will, sollte mit möglichst vielen Unterlagen seine Angaben belegen können. Es ist wenig sinnvoll, eine EA anzustreben und dann die Richter zu zwingen, wegen wichtiger Unterlagen mit zusätzlichem Schriftverkehr die Zeit unnötig zu vertrödeln. Personalausweis, Alg-II-Bescheid (falls vorhanden), der letzte Kontoauszug (falls es ein Konto gibt) und eine Kopie des Widerspruchs sind die Mindestausstattung, mit der man bei Gericht auftauchen sollte – bei einfachen Fällen. Eidesstattliche Versicherungen von Personen, die etwas bezeugen können, was man selbst nicht mit Unterlagen beweisen kann, sind sinnvoll. Auch wenn die Sozialgerichte gehalten sind, keine überspannten Anforderungen an die Glaubhaftmachung der EA zu stellen, sollte dies Betroffene nicht verleiten, vorhandene erforderliche Unterlagen nicht vorzulegen. strassen|feger Ihr Recht von A-Z Ratgeberausgabe 2009 25 Untätigkeitsklage Während Alg-II-Bezieher sofort zu sprin- gen haben, wenn die Arbeitslosenbehörde pfeift, darf diese sich per Gesetz erst einmal sechs Monate Zeit lassen, um einen Antrag zu bearbeiten, ehe ein Betroffener das Gericht mit einer Untätigkeitsklage (§ 88 Abs. 1 SGG) bemühen darf. Monate zur Bearbeitung ausnutzen. Erfolgt danach keine Reaktion, dann sollte die Untätigkeitsklage aber auch tatsächlich eingereicht werden. Diese Zeit zu warten, haben jedoch die wenigsten Betroffenen. nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen.“ nehmen und einen neuen, richtigen Bescheid auszustellen. Sozialleistungen werden dann rückwirkend bis zu einem Zeitraum von vier Jahren erbracht (Abs. 4). Dabei ist es unerheblich, ob die Behörde den Fehler selbst entdeckt hat (leider absolute Ausnahmefälle), oder ob sie von einem Betroffenen dazu aufgefordert wird, den Bescheid zu überprüfen. Foto: Peter Woelck Bei Widersprüchen muss die Behörde „ganz fix“ sein. Sie hat dann nur drei Monate für die Bearbeitung Zeit, um Untätigkeitsklagen zu verhindern. In der Regel sollte man sich schon vorher um seine Angelegenheiten kümmern. Es ist auch wenig sinnvoll, auf diesen Klageweg zu vertrauen. Solche Klagen, wenn sie sich nicht während des Klageverfahrens durch „Tätigkeit“ der Behörde erledigen, dauern schon mal ein bis zwei Jahre. Behörden sollte unter Fristsetzung mit einer Untätigkeitsklage gedroht werden, wenn sie die drei bzw. sechs Überprüfungsantrag Wer einen Bescheid erhalten hat und auf dessen Richtigkeit vertraut und deshalb keinen WIDERSPRUCH eingelegt hat, für den gibt es noch die Möglichkeit, einen Überprüfungsantrag zu stellen. Oft stellt sich in Gesprächen unter Betroffenen heraus, dass es verschiedene Bescheide bei gleichen Voraussetzungen gibt. Z.B. wird einer Alleinerziehenden ein MEHRBEDARF zuerkannt, und die andere alleinerziehende Mutter geht leer aus. Ist ein Bescheid älter als ein Monat, kann dagegen kein Widerspruch eingelegt werden. Das SGB X sieht jedoch die Möglichkeit vor, einen Überprüfungsantrag zu stellen: „§ 44 Rücknahme eines rechtswidrigen nicht begünstigenden Verwaltungsaktes. Soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei Erlass eines Verwaltungsaktes das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht oder Beiträge zu Unrecht erhoben worden sind, ist der Verwaltungsakt, auch Das heißt: Hat eine Behörde einen Fehler gemacht und dadurch einen Betroffenen in einem Bescheid (Verwaltungsakt) benachteiligt, hat sie den falschen Bescheid zurückzu- Allgemeine Rechtsberatung Jeden Montag von 11 bis 15 Uhr im Kaffee Bankrott bei mob e.V. Prenzlauer Allee 87, 10405 Berlin Rechtsanwältin Simone Krauskopf Bei Bedürftigkeit wird von der Rechtsanwältin ein Beratungsschein beantragt. Bitte entsprechende Nachweise mitbringen (z. B. ALG-II-Bescheid)! 26 strassen|feger Ihr Recht von A-Z Ratgeberausgabe 2009 SOFORTANGEBOTE Auch wenn die Bezeichnung „Sofortange- bote“ die Vorstellung erweckt, sie würden „sofort“ erfolgen, ist dem nicht so. Zumindest, wenn wir von den Paragrafen des SGB II ausgehen. Und eben darum geht es; um das, was die Paragrafen aussagen. Der Begriff „Sofortangebote“ wurde nicht als Spitzname von den Betroffenen erfunden, sondern von den politisch Verantwortlichen bewusst gewählt und als besonders schnelle „Hilfsangebote“ gepriesen. Praktische Anwendung erfahren sie im Wortsinn immer wieder von den Mitarbeitern der Arbeitslosenbehörden. Will ein Antragsteller seinen Erstantrag auf ALG II stellen, wird teilweise versucht, die Antragstellung damit zu verhindern, dass erst bestimmte „Angebote“ abgearbeitet werden sollen. In der Regel sind es irgendwelche Ein-Euro-Jobs, die die Betroffenen antreten sollen. Manchmal wird die Antragsannahme völlig verweigert, manchmal wird die Bearbeitung des Antrags erst in Aussicht gestellt, wenn der Betroffene die Bedingungen der „Sofortangebote“ erfüllt hat. Beides ist gesetzwidrig. Sehen wir uns die Gesetze an: „Sofortangebote“ sind in § 3 Abs. 2 und § 15a im SGB II vorgesehen. § 3 bezieht sich auf Jugendliche unter 25 Jahre (U 25). „Erwerbsfähige Hilfebedürftige, die das 25. Lebensjahr noch nicht vollendet haben, sind unverzüglich nach Antragstellung auf Leistungen nach diesem Buch in eine Arbeit, eine Ausbildung oder eine Arbeitsgelegenheit zu vermitteln...“ „§ 15a Sofortangebot. Erwerbsfähige Personen, die innerhalb der letzten zwei Jahre laufende Geldleistungen, die zur Sicherung des Lebensunterhalts dienen, weder nach diesem Buch noch nach dem Dritten Buch bezogen haben, sollen bei der Beantragung von Leistungen nach diesem Buch unverzüglich Leistungen zur Eingliederung in Arbeit angeboten werden.“ Dieser Paragraf gilt für Erwachsene über 25. In § 3 heißt es „nach Antragstellung“ und in § 15a „bei Antragstellung“. Erst ist der Antrag zu stellen und dann sind „unverzüglich“ die betreffenden Angebote zu unterbreiten. Die BA hat im August 2008 eine neue Weisung herausgegeben, in der angeordnet wird, dass den U 25 VOR oder innerhalb einer Woche nach Antragstellung eine Erstberatung mit Profiling und Feststellung der Betreuungsstufe überverholfen werden soll. Die U 25 sollen dann innerhalb von drei Wochen eine EGV abschließen, und danach soll ihnen innerhalb von vier Wochen eine Arbeit, Ausbildung, Ausbildungsvorbereitung, Weiterbildung oder Arbeitsgelegenheit „angeboten“ werden. Das sind in der Regel Ein-Euro-Jobs oder Trainingsmaßnahmen. Solche Leistungen zur Eingliederung sind in der Regel völlig sinnlose Maßnahmen und dienen lediglich dem Zweck, „die Bereitschaft des Hilfesuchenden zur Arbeitsaufnahme zu prüfen“ (Begründung des Gesetzentwurfs). ten kann eine Konzentration der Mittel auf die wirklich Bedürftigen erreicht werden.“ Mit anderen Worten: Hochschulabsolventen, arbeitslos gewordene Minijobber oder aus anderen prekären Arbeitsverhältnissen Gekündigte, gescheiterte Selbstständige, Frauen nach Erziehungsphasen oder in Frauenhäusern sind nicht bedürftig, wenn sie von der Arbeitslosenbehörde Hilfen erwarten, die ihrer individuellen Lebenslage entsprechen und sie wirklich weiterbringen! Ihnen auch nur eine Minute Zeit zu lassen, selbst Arbeit zu suchen, bevor ihnen „irgendwas“ aufgezwungen wird, ist bei solchen Ansichten nicht vorgesehen! Um es noch einmal deutlich zu machen: Mit diesen meist unsinnigen Zwangsmaßnahmen verfällt der Antrag auf Alg II nicht! Die Verweigerung der Antragsannahme ist gesetzwidrig! Auch wenn die BA andere Anweisungen gibt. Noch gelten die Gesetze. Es besteht ein Rechtsanspruch auf Entgegennahme und Bearbeitung des Antrags trotz „Sofortangeboten“! Bearbeitung heißt jedoch auch Zahlung von Alg II, wenn die Vermögensfreigrenzen nicht überschritten werden, oder wenn keine zumutbare Arbeit vermittelt werden kann, die bedarfsdeckend ist. Bei Ablehnung von zumutbaren (!!!) „Sofortangeboten“ kann höchstens die Leistung nach § 31 gekürzt werden. Eine sofortige Streichung der Leistungen ist im Gesetz nicht vorgesehen!!! Man kann das auch „Hilfe durch Abschrekkung“ nennen. Oder wie der SPD-Experte Brandner formulierte: „Mit solchen Schrit- UMZUG Jeder Alg-II-Bezieher hat das Recht umzu- ziehen. Auch ohne die vorherige Erlaubnis des JobCenters einzuholen. Im § 22 Abs. 2 SGB II steht zwar: „Vor Abschluss eines Vertrages über eine neue Unterkunft soll der erwerbsfähige Hilfebedürftige die Zusicherung... für die neue Unterkunft einholen.“ Jedoch ist die Folge dieser „Sollvorschrift“ nicht, dass die Miete für die neue Wohnung vom Amt einfach verweigert werden kann, sondern dass das Amt eventuell Teile der neuen Miete nicht übernehmen muss! Auch darf in der Regel die neue Miete nicht höher sein als die alte und vom Amt keine Kosten, die mit dem Umzug zusammenhängen, beantragt werden. Wenn z.B. die erste Nebenkostenabrechnung in der neuen Woh- nung sehr hoch ist und sich herausstellt, dass der Vermieter die Nebenkosten unverhältnismäßig niedrig angesetzt hat, um eine geringere Miete vorzutäuschen, können erhebliche Probleme mit der Übernahme der Nebenkostennachzahlung und der daraus entstehenden höheren Miete entstehen. Problematisch kann auch der Umzug von einem Bundesland ins andere sein. Die Miete der alten Wohnung kann z.B. in Frankfurt im angemessenen Rahmen liegen, die gleiche Miete kann jedoch schon über den Grenzen der für Berlin gültigen Angemessenheit liegen. Deshalb ist anzuraten, die Zusicherung zur Übernahme der Mietkosten beim JobCenter einzuholen. Damit werden einfach diese Risi- ken ausgeschlossen. Erteilt das Amt die Zusicherung, kann es auch Wohnungsbeschaffungskosten übernehmen. Diese Einschränkungen gelten nicht für WGBewohner, Untermieter oder Bewohner von Wohnwagen, Gartenlauben o.ä. Wollen diese Menschen eine eigene Wohnung beziehen, ist das ein vom JobCenter zu genehmigender Umzug. Ist ein Umzug erforderlich, sollte immer die Einwilligung der Behörde eingeholt werden. Dann gilt nicht die Höhe der alten Miete, sondern die angemessene Miete als zu übernehmen. Auch werden dann mit dem Umzug verbundene Kosten übernommen. strassen|feger Ihr Recht von A-Z 27 Foto: Andreas Düllick Ratgeberausgabe 2009 Erforderlich ist ein Umzug, wenn • das JobCenter ihn durch eine Mietsenkungsaufforderung veranlasst hat, • berufliche Gründe vorliegen; weiter Anfahrtsweg, neuer Arbeitsplatz an einem anderen Ort, wenn an einem anderen Ort eher Arbeit gefunden werden kann, • ein rechtskräftiges Räumungsurteil vorliegt, • die Wohnung zu klein ist; unter 35 qm für eine Person, (HessLSG vom 12.3.2007 – L 9 AS 260/06), 1,5 Zimmer (52qm) für Eltern mit Kleinkind (LSG Berlin-Bandenburg vom 25.6.2007 – 10 B 854/07 AS ER), • das Wohnumfeld unzumutbar ist, z.B. drohende Gewalt Dritter, erhebliche Verwahrlosung, Lärmbelästigung (LSG Berlin-Brandenburg 6.6.2007 – L 28 B 676/07 AS ER und 31.3.2008 – L 29 B 296/08 AS ER), • Baumängel bestehen (z.B. Feuchtigkeit), die der Vermieter nicht oder nicht in vertretbarer Zeit beseitigt, • die Wohnung von Schimmel befallen ist, der gesundheitsgefährdende Ausmaße hat. Im Streitfall muss das Amt den Sachverhalt klären (§ 20 SGB X Untersuchungsgrundsatz). Es kann z.B. einen Mieterverein beauftragen oder ein medizinisches Sachverständigengutachten einholen und bezahlen (§21 SGB X Beweismittel), • bei Kohleöfen das Kohlenschleppen schwer fällt, • sanitäre Verhältnisse unzumutbar schlecht sind (SG Berlin vom 4.11.2005 – S 37 AS 10013/05 ER), • sich Eheleute oder Paare trennen • oder zusammenziehen wollen... Die Aufzählung ist nicht abschließend; es können auch andere Gründe vorliegen. Zu den notwendigen Umzugskosten gehören z.B. Kosten für Umzugskartons, Transport, Versicherungen, Benzin, LKW-Miete, Verpflegung der Umzugshelfer bei Selbsthilfeumzug. Wer zu alt oder zu krank ist oder keine Umzugshelfer hat, bei dem können die Kosten einer Spedition übernommen werden. Weitere Wohnungsbeschaffungskosten: • Zeitungsannoncen, • Fahrtkosten, • Maklergebühren, • Übernahme von Doppelmieten, jedoch nur, wenn sie nicht vermeidbar sind (z.B. bei 28 strassen|feger Ihr Recht von A-Z langer, intensiver Wohnungssuche oder notwendigen Renovierungsarbeiten), • Renovierungen (sind nicht in der Regelleistung enthalten), • Abstandszahlungen, • Kosten für die Ummeldung Post/Telefon, • Genossenschaftsanteile, • Kautionen. Einige Wohnungsbeschaffungskosten können schon beim Antrag der Umzugsgenehmigung bzw. nach der Mietkostensenkungsaufforderung durch das Amt beantragt werden, z.B. Annoncen, Fahrtkosten, Abschlussrenovierungen, für die Ummeldung von Post und Telefon, Genossenschaftsanteile und Kautionen, die Klärung, ob Umzugskosten nur in Selbsthilfe oder durch eine Spedition übernommen werden. Das Problem dabei ist, dass diese Anträge sehr oft entweder nicht bearbeitet oder einfach abgelehnt werden. Ohne zu wissen, ob die Kosten übernommen werden bzw. bei Ablehnung der Kosten können sich Betroffene keine Wohnung suchen. Wobei die Kosten für die Ummeldung von Post und Telefon noch die geringsten Probleme sind. Auch hier bleibt in der Regel nur der Gang zum Gericht – wegen des Antrags auf EINSTWEILIGE ANORDNUNG . Schon mit der Prüfung der Angemessenheit der neuen Wohnung scheinen sich manche Arbeitslosenbehörden so schwer zu tun, dass es Wochen in Anspruch nimmt und die Woh- Ratgeberausgabe 2009 nungen dann meist schon längst vergeben sind. Wenn die Ämter dann gleichzeitig den Umzugsgrund und die Wohnungsbeschaffungskosten prüfen, sind sie in der Regel völlig überfordert. Nicht selten werden nur die Mietkosten übernommen. Auf allen anderen Kosten bleiben die Betroffenen sitzen. Entweder stürzen die sich dann in Schulden oder sie können die neue Wohnung nicht anmieten. Auch hier ist wieder EINSTWEILIGE ANORDNUNG möglich. Eigentlich ist die Behörde zur Zusicherung der Wohnungsbeschaffungskosten spätestens dann verpflichtet, wenn sie die Übernahme der Mietkosten zusichert und es ein erforderlicher Umzug ist oder der Umzug von ihr veranlasst wurde (LSG Berlin-Brandenburg vom 05.02.08 L 10 B 2193/07 AS ER). Die Kaution ist bei Umzügen immer wieder ein Problem. Sie soll übernommen werden, „wenn der Umzug durch den kommunalen Träger veranlasst oder aus anderen Gründen notwendig ist und ohne die Zusicherung eine Unterkunft in einem angemessenen Zeitraum nicht gefunden werden kann.“ (§ 22 Abs. 3 Satz 2) Die pauschale Verweigerung der Kaution durch die Mitarbeiter ist rechtswidrig, wird aber gern praktiziert, weil sie so erfolgreich und billig ist. Auch der pauschale Hinweis, es gäbe genug Wohnraum ohne Kaution, ist rechtswidrig. Die Behörden haben zu prüfen, ob es genug Wohnungen zu Hartz-IV-Mieten gibt, ob genug Wohnungen frei sind, ob diese überhaupt an Alg-II-Bezieher vermietet werden und ob von diesen genug Wohnungen ohne Kaution vermietet werden. Erst wenn alle diese Punkte positiv sind, dürfte die Kaution verweigert werden. Für verschuldete Wohnungssuchende verschärft sich die Wohnungssuche durch die negative Schufa-Auskunft nochmals, da sie deshalb oft keine Wohnung bekommen. Für Berlin dürften alle vier Punkte negativ zu beantworten sein. Wird die Kaution übernommen, wird sie als Darlehen nach § 22 Abs.3 gewährt. Darlehen heißt in diesem Fall, dass sich die Arbeitslosenbehörde dem Vermieter gegenüber die Kaution sichert. Ziehen die Alg-II-Bezieher aus der Wohnung aus, geht die Kaution somit direkt an das JobCenter zurück. Darlehen heißt ausnahmsweise nicht, dass Betroffene sie aus ihrer Regelleistung zurückzahlen müssen! Die Anwendung des § 23 Abs.1 ist rechtswidrig. Wer zu einem solchen Darlehensvertrag veranlasst wurde, sollte ihn sofort kündigen und die gezahlten Beträge zurückfordern. Wird oder wurde das Darlehen einfach von der Regelleistung einbehalten, sollte gegen die Einbehaltung vorgegangen werden. Wenn das nicht klappt, sollten die Gerichte bemüht werden. strassen|feger Ihr Recht von A-Z Ratgeberausgabe 2009 29 VERPFLEGUNG Bereitgestellte Verpflegung in Kranken- häusern, Schulen, Kitas usw., sowie der Naturalunterhalt, den Eltern für über 25-jährige „Kinder“ zu Hause bereitstellen, dürfen rückwirkend zum 1.1.2008 nicht mehr auf die Regelleistung angerechnet werden. Wem seit diesem Zeitpunkt doch Verpflegung angerechnet wurde, sollte sein Geld zurückfordern, entweder schriftlich formlos oder als ÜBERPRÜFUNGSANTRAG : Ab 01.01.09 gilt eine neue Berechnung von bereitgestellter Verpflegung vom Arbeitgeber. Die Arbeitslosenverordnung wurde wie folgt geändert: § 2 Abs. 5 „Bei der Berechnung des Einkommens ist der Wert der vom Arbeitgeber bereitgestellten Vollverpflegung mit täglich 1 Prozent der nach § 20 des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch maßgebenden monatlichen Regelleistung anzusetzen. Wird Teilverpflegung bereitgestellt, entfallen auf das Frühstück ein Anteil von 20 Prozent und auf das Mittag- und Abendessen Anteile von je 40 Prozent des sich aus Satz 1 ergebenen Betrages.“ Foto: Klaus Linke Da es verschieden hohe Regelsätze gibt, sind auch verschieden hohe Beträge anrechenbar. Da kann es passieren, dass bei zwei Kollegen, die dieselbe Vollverpflegung erhalten, völlig verschiedene Summen täglich angerechnet werden. VORSCHUSS Oft werden die Betroffenen bei der ANTRAG- STELLUNG mit ihrem Antrag einfach wieder nach Hause geschickt. Es geht hier um die, die bei der Arbeitslosenbehörde ohne Geld aufschlagen, und wenn sie noch ein Konto haben, da nichts drauf ist. Absolut nichts mehr zum Leben zu haben, nennt man Mittellosigkeit. – Gern werden auch diese Antragsteller ohne weiteres wieder nach Hause geschickt. Unbelastet von solchen Nebensächlichkeiten wie dem § 17 SGB I, der vorschreibt: Die „Leistungsträger sind verpflichtet, darauf hinzuwirken, dass jeder Berechtigte die ihm zustehenden Sozialleistungen in zeitgemäßer Weise, umfassend und zügig erhält...“ gammeln die Arbeitslosenbehörden so vor sich hin. In der Regel stehen Betroffene den völlig gleichgültigen Mitarbeitern hilflos gegenüber, ohne Geld und ohne Rechtskenntnisse. Hier ist der Hin- weis auf § 42 SGB I Abs.1 wichtig. „Besteht ein Anspruch auf Geldleistungen dem Grunde nach und ist zur Feststellung seiner Höhe voraussichtlich längere Zeit erforderlich, kann der zuständige Leistungsträger Vorschüsse zahlen, deren Höhe er nach pflichtgemäßem ERMESSEN* bestimmt. Er hat Vorschüsse nach Satz 1 zu zahlen, wenn der Berechtigte es beantragt; die Vorschusszahlung beginnt spätestens nach Ablauf eines Kalendermonats nach Eingang des Antrags.“ Das heißt: Jeder Sachbearbeiter ist verpflichtet, Berechtigten einen Vorschuss zu zahlen, wenn diese ihn beantragen, insbesondere wenn sie vortragen, dass sie mittellos sind und sofort Geld zum Überleben benötigen. Dies ist ein Antrag im Sinne des § 17 SGB I. Das pflichtgemäße Ermessen erstreckt sich hier auch nicht darauf, ob der Bearbeiter Lust hat zu zahlen, sondern das Ermessen reduziert sich hier auf Null, weil es bei Mittellosigkeit keine Alternative zum sofortigen Vorschuss gibt! Weigert sich der Bearbeiter bei Mittellosigkeit, einen Vorschuss zu zahlen, sollte gleich dessen Vorgesetzter angesprochen werden: mit Verweis auf § 17 SGB I. Hat auch der keine Lust, dem Gesetz zu folgen, ist es hilfreich, mit der Beantragung einer einstweiligen Anordnung beim Sozialgericht zu drohen. Geht der Vorgesetzte selbstherrlich nicht darauf ein, bleibt nur der Gang zu Gericht. Es ist rechtswidrig, doch wird es immer wieder praktiziert, Betroffene auf Suppenküchen, Tafeln o.ä. zu verweisen. Bei Bedürftigkeit der Betroffenen gibt es noch einen Rechtsanspruch auf Alg II und nicht den Verweis auf Suppenküchen und Tafeln. Ebenso ist ein Verweis auf einen Bankkredit nicht zumutbar. 30 strassen|feger Ihr Recht von A-Z Ratgeberausgabe 2009 VORSORGE für das Alter Die sogenannte Riesterrente ist bis zum jährlichen Höchstbetrag staatlicher Förderung (ab 2008 in Höhe von 2.100 Euro) geschützt. Anderes zur Altersvorsorge angespartes Vermögen darf bestimmte Höchstgrenzen nicht überschreiten. Es muss so angelegt werden, dass es nicht vor Erreichung des Rentenalters angegriffen werden kann. Im August 2006 wurden diese Beträge von 200 Euro auf 250 Euro pro Lebensjahr erhöht. Der Höchstbetrag liegt jetzt bei 16.750 Euro für nach dem 31.12.1963 Geborene. Die Gesetzgeber feierten die Erhöhung als weiteren „Fortschritt“ zur Absicherung des Alters. Doch war dies kein Geschenk aus irgendwelchen Sozialkassen! Die Zeche durften die Alg-II-Bezieher selbst zahlen. Ihnen wurden im gleichen Zuge die Vermögensfreibeträge zur freien Verfügung von 200 Euro auf 150 Euro gekürzt! standards haben! Von welchem Lebensstandard ist denn hier eigentlich die Rede? Wenn Minijobber keinen Ehe- oder Lebensgefährten haben, dann ist ihr Lebensstandard Hartz IV! Mit sinkenden Reallöhnen ist für immer mehr Erwerbstätige der Lebensstandard Hartz IV! kein zusätzliches Einkommen für sie, sondern genau dieses Geld steckt sich Vater Staat in die Tasche, indem es angerechnet wird. Die private Altersvorsorge mindert die Sozialleistungen! Pech gehabt! Bist du arm, bleibst du arm. Dafür sorgen schon die Gesetze. Was passiert denn mit der Altersvorsorge, wenn Hungerlöhner, Minijobber, Alg-IIBezieher und andere Arme in Rente gehen? In der Regel wird ihre Rente weit unter dem Existenzminimum liegen. Also fallen sie mit Rentenbeginn entweder in die Sozialhilfe oder die Grundsicherung im Alter. Dann ist ihre sauer angesparte Altersvorsorge jedoch Jeder, der nicht zu den Besserverdienenden zählt, sollte es sich ernsthaft überlegen, ob es für ihn wirklich sinnvoll ist, sein Einkommen mit irgendwelcher Altersvorsorge zu mindern. Abgesehen von der Gefahr, sein Geld an windige Betrüger zu verlieren, wird das Risiko, mit sinkenden Renten allein für den Staat gespart zu haben, immer größer. Immer wieder wird den Leuten gebetsmühlenartig vorgekaut, dass sie für ihr Alter vorsorgen müssen, um ihre Rente damit aufbessern zu können. Sogar Minijobber werden dazu ermutigt, von ihren Minilöhnen für das Alter vorzusorgen. Schließlich sollen sie ja keine allzu großen Einbußen ihres Lebens- Foto: Peter Woelck strassen|feger SERVICE Ratgeberausgabe 2009 31 LITERATURHINWEISE Leitfaden Alg II/Sozialhilfe von A-Z Stand 01.10.2008, 10 Euro inklusive Versandkosten, Bestellung unter 1) Kommentar: DER betroffenenorientierte Ratgeber für den Alltag mit der Arbeitslosenbehörde. Verständlich und so einfach wie möglich geschrieben und für jeden Laien und Neuling empfehlenswert. Leitfaden zum Arbeitslosengeld II Stand 01.04.2009, 15 Euro plus Versandkosten, Bestellung unter 2) Kommentar: Hervorragender Leitfaden für Betroffene und Berater, die sich schon möglichst mit Paragrafen und Verordnungen befasst haben. Leitfaden für Arbeitslose Rechtsratgeber zum SGB III Stand 13.02.2009, 15 Euro plus Versandkosten, Bestellung unter 2) Kommentar: Ein Klassiker für Arbeitslosengeld-I-Bezieher Sozialhilfe für Behinderte und Pflegebedürftige von A-Z Stand März 2005, 5 Euro inklusive Versandkosten, Bestellung unter 1) Durchführungshinweise der Bundesagentur für Arbeit für die Anwendung des SGB II Erläuterungen und Informationen für Betroffene, Berater und Behörden Stand 1/2009, 23 Euro plus Porto, erscheint im Juni 2009 neu, Bestellung unter 2) Kommentar: Als Alleinliteratur ungeeignet. Nur zusammen mit Ratgebern zu benutzen, da Teile der Gesetzestexte und somit der Durchführungshinweise mit anderen Gesetzen oder mit Urteilen oberster Gerichte kollidieren. Um Mitarbeitern der JobCenter geeignete Passagen unter die Nase zu halten, jedoch sehr geeignet. Zeitschrift „info also“ Die einzige juristische Fachzeitschrift für Arbeitslosen- und Sozialhilferecht. Sie verbindet Fachwissen mit praktischer Hilfe. Erscheint zweimonatlich, Jahresabo 42 Euro, Probeexemplar kostenlos und unverbindlich: Frau Hohmann, Tel. 07221/2104-39 oder Bestellung: Nomos Verlagsgesellschaft mbh & Co.KG, Waldseestraße 3-5, Postfach: 10 03 10, 76530 Baden-Baden, Telefon: 07221 / 2104 – 0, Fax: 07221 / 2104 – 27, Email: nomos@nomos.de Arbeitslosenzeitung quer „Pflichtzeitung“ für Alg-I- und -II-Bezieher, erscheint zweimonatlich, Jahresabo 12,50 Euro, Bestellung: PF 1363 Oldenburg, 26003 Oldenburg, Tel. 0441-955 84 49, Fax 0441/955 84 43; Email: quer.infos@web.de weitere Informationen: Nebensache Mensch, Arbeitslosigkeit in Deutschland Rainer Roth, 15 Euro, Bestellung unter 1) Weshalb Menschen zur Ware Arbeit verkommen sind und immer mehr überflüssig werden. Sozialhilfemissbrauch, Wer missbraucht hier wen? Rainer Roth, Band 9, 2004, 5,80 Euro plus Versandkosten, Bestellung unter 1) Über den Lohn am Ende des Monats Eine Umfrage unter Erwerbstätigen Rainer Roth, 5 Euro Bestellung unter 1) Über den Monat am Ende des Geldes Umfrage unter Sozialhilfebeziehern Rainer Roth, 3,50 Euro, Bestellung unter 1) Bestelladressen: 1) DVS, Schuhmannstraße 51, 60325 Frankfurt/Main; Fax: 069/74 01 69; Email: d.v.s.@t-online.de 2) Fachhochschulverlag, Kleiststraße 10, Gebäude 1, 60318 Frankfurt/Main, www.fhverlag.de, Tel.: 069/1533-2820, 069/1533-2840; Email: bestellung@fhverlag.de Anlaufstellen bei Meinungsverschiedenheiten mit den JobCentern in Berlin-Brandenburg Regionale Anlaufstelle: Bundesagentur für Arbeit Regionaldirektion Berlin-Brandenburg (Früher: Landesarbeitsamt) Friedrichstraße 34 10969 Berlin Email: Berlin-Brandenburg@arbeitsagentur.de Fax: 030–5555 99 49 99 Die Regionaldirektion ist die direkte vorgesetzte Dienststelle für alle Geschäftstellen der Arbeitsagenturen und JobCenter. Die überegionale Anlaufstelle in Nürnberg: Bundesagentur für Arbeit BA Service-Haus Kundenreaktionsmanagement Regensburger Straße 104 90478 Nürnberg Telefax: 0911–1798 21 23 Und nicht zu vergessen das betreffende Ministerium: Bundesministerium für Arbeit und Soziales Wilhelmstraße 49 10117 Berlin Petitionen Jeder Bürger hat das Recht, Eingaben (Petitionen) an den Gesetzgeber zu richten. Sie sind an keine besondere Form gebunden. Es empfiehlt sich jedoch, möglichst sachlich und detailliert (Aktenzeichen, Kopien des Schriftverkehrs) sein Anliegen zu schildern. Dies können Streitigkeiten mit Behörden, Änderung bei Gesetzen und ähnliches sein. Ausnahme bilden hier lediglich anhängige Gerichtsverfahren. Abgeordnetenhaus von Berlin Petitionsausschuss Niederkirchnerstraße 5 10111 Berlin oder Deutscher Bundestag Petitionsausschuss Platz der Republik 10111 Berlin 32 strassen|feger Klare Worte Ratgeberausgabe 2009 Uwe Glinka, Kurt Meier: Das Sparkochbuch. Günstig und ausgewogen ernähren nach dem Regelsatz HARZ IV Ein zweifelhaftes Buch für den kleinen Geldbeutel. Von Günther Jauch bei stern-TV als „eine Superidee“ gepriesen, die Rezepte über eine Million Mal heruntergeladen, von einem deutschen Hollywoodproduzenten für eine Kochshow ins Auge gefasst: Uwe Glinka und Kurt Meier, die beiden Hartz-IV-Empfänger aus dem Norden, haben mit ihrem Kochbuch eine Erfolgslawine losgetreten, die dafür sorgen dürfte, dass wenigstens sie sich in Kürze keine Sorgen mehr machen müssen, ob man von 4,33 Euro pro Person ausreichen essen kann. Was medial gefeiert als Rezeptbuch für kleine Geldbeutel daherkommt, sind alte Rezepte, die Glinka und Meier auf ihre Anfrage hin von Landfrauenvereinen geschickt bekamen und auswerteten. Mit Einkaufslisten bewaffnet, zogen sie dann los zu den Discountern und kauften ein. So billig, dass viele der für zwei Personen entworfenen Tagespläne sogar unter dem Regelsatz bleiben. So gut, so katastrophal. Zunächst: Ja, man kann 425 g Obstsalat zum Frühstück für 0,55 Euro bekommen – der ist dann bis zum Erbrechen gezuckert. Ja, es gibt vier Brötchen für insgesamt 0,68 Euro beim Discounter – die abgepackten Knautschbrötchen, von denen man nicht wissen möchte, was sie alles außer Mehl noch enthalten. Denn dass Hersteller auch bei teureren Produkten bereits kräftig an den hochwertigen Zutaten sparen und diese – von uns unbemerkt – durch Ersatzstoffe, Aromen und Chemie ersetzen, ist mittlerweile bekannt. (Quelle: http://www.berlinonline.de/berliner-zeitung/archiv/.bin/dump.fcgi/2009/0711/tagesthema/0083/index.html) Bei 200 g Schweinegulasch für 1,20 Euro hört der Spaß dann völlig auf. Wir erinnern uns an Nikolaus Geyrhalters Film „Unser täglich Brot“: Den Schweinen, von denen dieses billige Fleisch kommt, wird als kleinen Ferkeln zunächst einmal bei vollem Bewusstsein der Ringelschwanz abgeschnitten und sie werden, wenn männlich, ohne Betäubung kastriert. Gefüttert mit verschiedenen Hormoncocktails, setzen sie möglichst schnell Fett an, versorgt von weiteren Medikamenten, damit sie nicht am Stress vorzeitig sterben. Das dürfen sie dann in Panik auf den Laufbändern der Schlachthöfe. Lecker! Und so gesund! Zumindest bestätigte das die Ernährungsberaterin von stern-TV. Menschen arbeiten in diesen Fleischproduktionsstätten ohne Tarifvertrag und für oft weniger als fünf Euro die Stunde. Deutschland gilt mittlerweile als Billiglohnland der Nahrungsmittelindustrie (Quelle: http://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/81/481551/text/). Und damit sauer k / g Konzept & Gestaltung schließt sich der Kreis: Billiglöhne=Billigfleisch – kein Grund also, den Regelsatz zu erhöhen. Das Rezeptbuch für den kleinen Geldbeutel verschließt auch vor anderen Problemen die Augen: Was ist mit Kindern, für die weniger als 4,33 Euro veranschlagt werden, die aber Schulbrote, ein warmes Mittagessen, Obst nach sportlichen Betätigung usw. benötigen? Was ist mit all den Leuten, die nicht mehr die Kraft zum Kochen, Spülen, Aufräumen haben, weil sie durch HARTZ IV bereits krank geworden sind – psychisch oder physisch? Was ist mit denen, die nicht so gut zu Fuß sind, dass sie stundenlang von einem Discounter zum anderen laufen können? Oder mit jenen, die gar keinen Discounter in Lauf- und Schleppweite haben? Was ist mit den gestiegenen Energie-, Wasser-, Spülmittelkosten, die in der Rezeptberechnung nicht berücksichtigt sind? Was ist mit den vielen Allergikern, die nicht als solche anerkannt sind, die aber trotzdem z.B. Süßstoffe, Aromen, Konservierungsstoffe, Farbstoffe, Sojazusätze nicht vertragen und die daher nicht einfach alles kaufen können? Was ist mit all jenen, die durchaus arbeiten, deren Arbeit aber weniger bringt als der Hartz-IV-Satz? Wann gehen die Preise vergleichen? Egal, das Buch hat Erfolg. Wahrscheinlich aus zwei Gründen: Zum einen wurde es mit Günther Jauch von einem Mann gepusht, den viele seit seiner IQ-Show für besonders intelligent halten. Zum anderen hat das Buch etwas, was auch viele Menschen an Diätbüchern anzieht: Die Möglichkeit der scheinbaren Kontrolle. Denn was ist beruhigender, als sich von einem Buch sagen zu lassen, dass das Frühstück nur 90 Cent gekostet hat?! Man kauft sich mit dieser Broschüre nicht nur ein Rezeptbuch. Man kauft sich die Absolution, auch als Hartz-IV-Empfänger kein ganzer Versager zu sein. Denn immerhin kann man sich dann stolz mit den Autoren in eine Reihe stellen und denken: „Wie heisst es so schön: Aus der Not eine Tugend machen.“ (S. 6) Guten Appetit! Ghattas Plakate Anzeigen Flyer Zeitung Brochuren/Kataloge carsten sauer telefon: 030/44 16 507 email: sauer_kg@yahoo.de strassen|feger Bonus-Material Ratgeberausgabe 2009 Klare Worte 33 Ganz schön mutig Der rot-rote Senat verkündet stolz die „Anpassung“ der Mietobergrenzen an die Entwicklung der Mietpreise. Doch für viele betroffene Hartz-IV-Bezieher bringt diese Erhöhung überhaupt nichts. Am 1. März 2009 ist sie in Kraft getreten: die neue Ausführungsvorschrift Wohnen des Senats von Berlin. Für diesen phänomenalen Wurf hat sich die Berliner Sozialsenatorin Heidi Knaake-Werner (Linke) so richtig ins Zeug gelegt, um die Hartz-IV- oder Sozialhilfe-Betroffenen aus dem Tal der Misere herauszuholen. Doch was da herausgekommen ist und seit 1. März mit der AV Wohnen in Kraft getreten ist, entbehrt wirklich jedweder Verbesserung in Sachen menschenwürdiger Mietobergrenzen für Hartz-IV- und Sozialhilfebezieher, die sich doch die Sozialsenatorin so gerne auf die Fahnen geschrieben hat. Erst waren es die großen Versprechungen und Ankündigungen, dann wurde sie immer kleinlauter, bis letztendlich nur eine Erhöhung der Mietobergrenze für Ein-Personen-Haushalte von 360 auf 378 Euro herauskam. „Es wird eine völlig neue Ausführungsverordnung Wohnen geben“ verkündete sie noch großspurig am 11. Juli 2007 während einer Tagung der „Beratergruppe zur Fortschreibung des Obdachlosenrahmenplans und Wohnungslosenpolitik in Berlin“. Grund für diese hoffnungsvoll stimmenden Worte von Heidi Knaake- Werner: An diesem Tag wurde der derzeit gültige Mietspiegel veröffentlicht. Und da sich seit Einführung von Hartz IV im Jahre 2005 Veränderungen auf dem Arbeitsund Wohnungsmarkt in einem solchen Umfang ergeben hätten, kann eine „kleinteilige Anpassung“, wie die Sozialsenatorin erklärte, nicht angemessen sein. Ab 1. März 2009 sind nach der AV Wohnen die Mietobergrenzen um sage und schreibe 18 Euro gestiegen – von 360 auf jetzt 378 bruttowarm. Mehr war mit dem Koalitionspartner SPD leider nicht zu machen, erklärt Frau KnaakeWerner. Aber dennoch: „der Senat reagiert mit der Erhöhung auf die Mietpreisentwicklung, wonach insbesondere die Mieten für die kleinen Wohnungen angestiegen sind“, wie es in einer Erklärung der linken Sozialsenatorin heißt. Dass bei den anderen Haushalten die Mieten in den letzten Jahren ebenso angestiegen sind, haben SPD und Linke schlichtweg vergessen. Und so bleiben die Mietobergrenzen für Zwei-Personen-Haushalte bei 444 Euro, für Drei-Personen-Haushalte bei 542 Euro, für Vier-Personen-Haushalte bei 619 Euro und Fünf-Personen-Haushalte bei 705 Euro unverändert. Dabei wäre eine deutliche Anhebung auch der anderen Personenhaushalte, bei denen die Mietsteigerungen weit mehr als diese lächerlichen 18 Euro bei den Ein-Personen-Haushalten betragen, dringend notwendig, um den tatsächlichen Bedarf der explodierenden Mietpreissteigerung zu decken. Schon bei Einführung der Angemessen- heitskriterien im Juli 2005 waren die Mietobergrenzen für Alg-II- und Sozialhilfebezieher längst überholt. Denn Grundlage waren die Zahlen der Wohnungsmarktdaten von 2004. Und 2007, als die Preise auf dem Wohnungsmarkt enorm stiegen, gerade bei den Hartz IV-tauglichen Wohnungen (10,2 Prozent), sah der Senat keine Veranlassung, die Mietobergrenzen zu erhöhen. Die jetzige „Anpassung“ der Mietobergrenzen, auch nur für die EinPersonen-Haushalte muss man weiterhin als Ignorieren der Mietpreissteigerung seitens des Senats betrachten. So werden sich auch weiterhin die Alg-II- und Sozialhilfeempfänger die für sie zu teuren Mieten vom ihrem Regelsatz absparen müssen. Dass das von diesem defizitären Regelsatz utopisch ist, wissen die Hilfeleistungsbezieher. Sie machen dann halt Mietschulden – auf die Gefahr hin, in die Obdachlosigkeit zu rutschen. Dass die neue AV-Wohnen völlig unzureichend ist, hat unter anderen die Berliner Mietergemeinschaft erklärt. Und die rechnet schon mal vor, dass bereits heute auf jede Wohnung für einen Ein-PersonenHaushalt nach der Mietobergrenze mindestens schon zwei Nachfrager kommen. Und der im Sommer 2009 erscheinende Mietspiegel wird Foto: uk diesen Trend mit ziemlicher Sicherheit bestätigen. Für diesen Trend gesorgt hat zum einen der jetzige Stillstand des Sozialwohnungsbaus und zum anderen die Aufwertung und Sanierung vorhandener Wohnungen, die zu einer Abnahme des Angebots gerade in den unteren Preisklassen gesorgt hat. So ist wohl trotz dieser grandiosen Anhebung mit einer drastischen Zunahme von Zwangsumzügen zu rechnen, kritisiert nicht nur der DGB die neue AV Wohnen, sondern auch die Berliner Kampagne gegen Zwangsumzüge. Denn Berlin ist der Forderung des Bundesrechnungshofes nachgekommen, die Einjahresfrist der vollen Mietübernahme auf ein halbes Jahr zu kürzen. Und jetzt könnten sogar Quadratmetergrößen einer Wohnung durch den neu eingeführten Punkt „unzumutbar beengter Wohnverhältnisse“ der AV Wohnen ein Hintertürchen für die Entscheidung der JobCenter, ob jemanden umziehen muss oder nicht, sein. Martyn R. (www.gegen-zwangsumzuege.de, Notruftelefon 0800-27 27 27 8) 34 strassen|feger Klare Worte Ratgeberausgabe 2009 Hartz-IV-Gesetze nehmen Kinderarmut in Kauf Über die strukturelle Ausgrenzung von Kindern Was haben Kinder und Jugendliche, die per Gesetz nicht arbeitslos oder arbeitssuchend sein können, in den Karteien der JobCenter zu suchen? Die SGB-II-Gesetze, die die Regelsätze auch für Kinder festlegen, orientieren sich am Bedarf eines Singlehaushalts der unteren Einkommensschicht. Sie gestehen dem Nachwuchs in Hartz-IV-Familien, der, wie alle Kinder vor allem eines unweigerlich tut, nämlich wachsen, noch nicht mal die nötige Bekleidungspauschalen zu: alle halben Jahre das größere und der Witterung angepaßte Paar Schuhe usw. Foto: Lou Aber die Ungerichtigkeit ist weitreichender: Nach einem Rechtsgutachten von Frau Prof. Dr. jur. Anne Lenze, die an der Hochschule Darmstadt Sozialrecht lehrt, steht Kindern armer Eltern nur der Bedarf des sächlichen Existenzminimums zu. Würde man für sie auch einen Betrag förderung präsentiert werden, enthalten nicht unerhebliche Summen, die von der Sache her in andere Kategorien fallen, z.B. Ausgaben für Schulen (45,3 Milliarden), die durch die Schulpflicht jedem unausweichlich aufgezwungen werden und die man keinesfalls als familienpolitische Maßnahmen deklarieren kann, ja nicht einmal der große Posten des Kindergeldes von 30,9 Mrd. Euro kann hier voll geltend gemacht werden, besteht er doch zu zwei Dritteln aus der Rückerstattung der verfassungsrechtlich verbotenen Besteuerung* des kindlichen Existenzminimums (und ist daher ebenfalls keine Sozialleistung, erst recht nicht eine, die Politiker nach Gutdünken in andere, angeblich Familien zugute kommende Töpfe investieren können wie den Ausbau von Krippenplätzen). Die Mehrwertsteuererhöhung und die Energieabgabe trifft zudem Familien in größerem Ausmaß als Singles, die weniger Verbrauchsgüter benötigen und sich Anschaffungen besser einteilen können. für Betreuung und Erziehung – wie er besserverdienenden Familien durch den Steuerfreibetrag (aktuell 6024 Euro im Jahr) zusteht – dazurechnen, stünde den Kindern ein Satz von 502 Euro im Monat zu. Der Gesetzgeber nimmt also die Kinderarmut, die mittlerweile schon jedes zweite Kind in Deutschland (einem der reichsten Länder der Welt) betrifft, in Kauf, um die Eltern zur Annahme jeglicher Arbeit zu zwingen. Kinder als Geiseln Gerade die Familien, die nicht in der Lage sind, aus eigenen Mitteln die Kosten für soziales Miteinander wie Vereinsbeiträge, Sprachförderung, Internetkurse, den Internetzugang zu Hause, den Schulen ab der siebenten Klasse als Lernwerkzeug voraussetzen, oder den Nachhilfeunterricht zu tragen, werden so von der persönlichen Entwicklungsförderung ihres Nachwuches strukturell ausgeschlossen. Frau Lenze hat in einem Rechtsgutachten, das sie 2008 für die gewerkschaftsnahe Hans-Böckler-Stiftung verfaßte, die Frage untersucht, ob es dem Grundsatz der Gleichbehandlung verfassungsgemäß ist, dass die auf Grundsicherung angewiesenen Kinder von diesen Möglichkeiten der Bildung abgekoppelt werden, und kommt zu dem Schluß, dass auch die Besonderheit der Sozialgesetzgebung keine Rechtfertigung dieser Mißstände erlaubt. An anderer Stelle weist Frau Lenze daraufhin, dass es in unserem Land mit der Familienförderung, trotz anderslautender Erklärungen von den Parteien, nicht weit her ist. Die Milliardenbeträge, die als Familien- Kein Wunder, dass Menschen und gemeinnützige Organisationen den Markt der Not sehen; zunehmend warten sie mit Betreuungsangeboten für Hartz-IV-Kids auf. Die Berichte, die die dort beschäftigten SozialpädagogInnen der Öffentlichkeit über den teilweise erschreckenden Zustand der Kinder zukommen lassen, nutzen die Medien, um die verzweifelten und deprimierten Eltern, die keinen Ausweg aus ihrer Lage sehen und zum Teil deshalb unter psychischen Problemen leiden, zu diffamieren. Der Druck, unter dem diese Erwachsenen gerade zu Weihnachten – der Hochzeit des Konsums – stehen, ist extrem belastend! Aber auch den Rest des Jahres wird die familiäre Kultur nicht gestärkt, wenn die Kinder außer Haus beköstigt und betreut werden müssen, weil daheim das Geld fehlt. Aus der Politik kommen zudem zynische Vorschläge zur Einführung von Bezugsscheinen, anstatt der längst fälligen Diskussion über die Ausgliederung der Kinder aus der Zuständigkeit des SGB II – Frau Lenze hält das Kinder- und Jugendhilfegesetz für den passenderen Ort – und die Erhöhung der kindlichen Regelsätze auf den tatsächlichen Bedarf des inklusiven Existenzminimums. Tatsächlich könnte eine Verfassungsklage in Karlsruhe die ungerechten Gesetze und ihre fatalen Folgen schneller beenden, denn das politische Brimborium um Familie ist hohles Gewäsch, wie man an der gesetzlich sanktionierten Benachteiligung erkennt! Lou (* Hier ist die Mehrwertsteuer auf Kinderkleider, -schuhe, -nahrung usw.gemeint.) strassen|feger Klare Worte Ratgeberausgabe 2009 35 Die Würde des Menschen ist antastbar – durch Hartz IV Illustration: Jürgen H. „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ So bestimmt es der erste Artikel des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland. Und auf diesen Sachverhalt zielen letztlich alle im Grundgesetz verankerten Grundrechte ab. Die gesellschaftliche Realität aber ist eine andere. Die Würde mehrerer Millionen Menschen in Deutschland ist angetastet und die Grundrechte sind zumindest teilweise aufgehoben durch das ‚Vierte Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt’, besser bekannt als Hartz IV. Zwar räumt das deutsche Grundgesetz durchaus die Möglichkeit ein, dass „ein Grundrecht durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes“ eingeschränkt werden kann. Gleichzeitig hat der Gesetzgeber aber festgelegt, dass in einem solchen Falle „das Gesetz das Grundrecht unter Angabe des Artikels nennen“ muss, und hinzugefügt, dass „in keinem Falle ein Grundrecht in seinem Wesensgehalt angetastet werden“ darf. Hartz IV verstößt gegen beide Grundsätze. Es schränkt Grundrechte nicht nur ein, ohne dies im Gesetzestext zu vermerken, es berührt diese Rechte auch in ihrem Kern. Aufschlussreich ist dabei die Tatsache, dass mit der Missachtung eigentlich unveräußerlicher Grundrechte das selbstformulierte Hauptziel von Hartz IV, nämlich „die Eigenverantwortung von erwerbsfähigen Hilfebedürftigen“ stärken zu wollen, als bloße Phrase entlarvt wird. Dies hehre Anliegen wird solange in sein Gegenteil verkehrt bleiben, solange Beziehern von Arbeitslosengeld II jeglicher Freiraum für eigenverantwortliches Handeln verwehrt ist. Wie können ALG-II-Empfänger in Eigenverantwortung handeln, wenn sie in völliger Abhängigkeit von den Entscheidungen der zuständigen Behörde gehalten werden? Wenn sie um die Erlaubnis für die selbstverständlichsten Dinge des alltäglichen Lebens bitten und betteln müssen? Wenn sie etwa für Reisen die vorherige Zustimmung eines Sachbearbeiters einholen müssen, auch bei Wohnungswechsel eine solche Zustimmung voraussetzt wird und ihnen jede Art der Arbeit zugemutet werden kann? Dies sind nur einige Beispiele, die zeigen, wie Hartz IV die Würde erwachsener Menschen verletzt und sie auf das Selbstbestimmungsni- veau kleiner Kinder hinabzwingt. Sie zeigen aber auch, dass Hartz IV genau diejenigen Grundgesetzartikel aushöhlt, die die Freiheit eines jeden Einzelnen ins Zentrum einer gerechten Sozialordnung stellen und diese Freiheit als unveräußerliches Gut schützen wollen. „Alle Deutschen genießen Freizügigkeit im ganzen Bundesgebiet“ und „haben das Recht, Beruf, Arbeitsplatz und Ausbildungsstätte frei zu wählen“, heißt es in unserem Grundgesetz. Aber Freiheit, so scheint es, ist das, was Hartz IV den Menschen gerade nicht zugestehen will. Ist das nun zynisch oder bloß dumm? Wo doch Freiheit die entscheidende Voraussetzung ist für eigenverantwortliches Handeln, das zu befördern sich die Reformer ehemals auf die Fahnen geschrieben hatten. Ruft man sich drei der größten Köpfe hinter den HartzReformen in Erinnerung – Gerhard Schröder, Wolfgang Clement und Peter Hartz – fällt die Antwort einigermaßen leicht. Ist Zynismus doch mehr als nur bornierte Ignoranz gegenüber gesellschaftlichen Problemlagen. Und da die Väter von Hartz IV ihre eigene Verantwortung schon immer mit Eigennutz verwechselt haben, ist es nicht nur für einige von ihnen persönlich dumm gelaufen. Auch ihre Reformen haben – wie eine aktuelle Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung feststellt – bislang zu keiner positiven Entwicklung am Arbeitsmarkt geführt. Wir dürfen uns nicht wundern, wenn sich ganz im Gegenteil die gesellschaftlichen Schieflagen seither noch verstärkt haben. Denn nur wer die Idee eines freien und selbstbestimmten Menschen ins Zentrum politischen Handelns stellt, kann Rahmenbedingungen schaffen, die die drängenden Probleme einer Gesellschaft lösen helfen. Hartz IV kann dies nicht. Deshalb: Weg damit! Jürgen Haunss Quellen: Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland (im Text zitiert aus den Artikeln 1, 11, 12, 19 GG) Viertes Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt, Artikel 1, Sozialgesetzbuch (SGB), Zweites Buch (II), Grundsicherung für Arbeitssuchende (im Text insbesondere Bezug genommen auf die Paragrafen 1, 7, 10, 22 SGB II) 36 strassen|feger Klare Worte Ratgeberausgabe 2009 Kein Geld für einen Anwalt Kostenlose Rechtsberatung bei mob e.V.* „Vor einer Woche bekam ich einen Bescheid vom JobCenter. Die ziehen mir neun Euro für die Warmwasserpauschale ab. Das sind im Jahr 108 Euro, die ich weniger bekomme.“ „Bei mir wurde der Mehrbedarf für kostenaufwendige Ernährung gestrichen.“ „Mir wird Einkommen angerechnet, was ich gar nicht verdiene.“ „Das JobCenter bearbeitet meinen Antrag nicht. Ich habe kein Geld, um die Miete zu zahlen.“ „Ich soll umziehen, weil die Wohnung zu teuer ist.“ „Obwohl wir bloß in einer Wohngemeinschaft leben, werden wir als Bedarfsgemeinschaft berechnet.“ Die Liste der Äußerungen lässt sich beliebig und variantenreich fortsetzen. Eines haben die Aussagen gemeinsam: Sie stammen alle von Alg-IIEmpfängern, die kein Geld haben, um einen Anwalt zu bezahlen, der ihnen hilft, ihre Rechte durchzusetzen. Betroffene es noch nicht selbst getan hat, Widerspruch ein. Gleichzeitig wird Akteneinsicht beantragt. Das JobCenter stellt dem Anwalt die Akte zur Verfügung. Häufig ergeben sich aus der Akte konkrete Anhaltspunkte für die Rechtswidrigkeit eines Bescheides und der Widerspruch kann detailliert begründet werden. Der Widerspruch wird vom JobCenter bearbeitet und dann irgendwann auch beschieden. Manche Widerspruchsbescheide lassen monatelang auf sich warten. Kommt es für den Betroffenen zu einer existenziell untragbaren Situation, weil das Geld für die Miete fehlt und keine Lebensmittel mehr gekauft werden können, muss der Anwalt beim Sozialgericht den Erlass einer einstweiligen Anordnung beantragen. Wird diesem Antrag durch das Sozialgericht entsprochen, ist das JobCenter bis zur Entscheidung über den Widerspruch erst einmal dazu verpflichtet, die Leistungen zu zahlen. Wird der Widerspruch abgelehnt, bleibt nur noch die Klageerhebung vor dem Sozialgericht. Auch hier kann der Betroffene seine Klage selbst einreichen. Das Sozialgericht verfügt über eine Rechtsantragsstelle. Die Foto: Guido Fahrendholz Wenn nämlich gegen die Bescheide der JobCenter nicht vorgegangen wird, erlangen sie rechtliche Bestandskraft, sind in der Regel unanfechtbar und man kann, so falsch sie auch sein mögen, kaum noch etwas unternehmen. Gegen einen Bescheid vom JobCenter muss innerhalb von vier Wochen nach Zugang des Bescheides Widerspruch eingelegt werden. Diesen Widerspruch kann jeder selbst einlegen. Der Widerspruch muss begründet werden. Ist der Sachverhalt kompliziert, muss die Begründung diesem Umstand Rechnung tragen. In solchen Fällen geht es eigentlich nicht ohne anwaltliche Hilfe. Jeder Betroffene kann sich einen Anwalt suchen – auch wenn er weiß, dass kein Geld da ist, die anwaltliche Dienstleistung zu bezahlen. Hier kommt die Beratungshilfe zum Tragen. Simone in ihrem Anwaltsbüro Beratungshilfe wird auf Antrag gewährt, wenn der Antragsteller monatlich nicht mehr als 380 Euro nach Abzug der Miete zur Verfügung hat. Jeder Alg-II-Empfänger fällt mit seinem Regelsatz unter diese Grenze. Die Beratungshilfescheine stellt das zuständige Amtsgericht des Wohnortes aus. Die Möglichkeit, über den Anwalt nachträglich Beratungshilfe zu beantragen, gibt es auch. Um aber auf der sicheren Seite zu sein, sollte der Ratsuchende bereits mit einem bewilligten Beratungshilfeschein beim Anwalt seiner Wahl aufkreuzen. Der Anwalt erhält für die Bearbeitung eines Beratungshilfemandats sein Geld von der Staatskasse. Dieser Betrag liegt weit unter dem, was der Anwalt dem Klienten nach der üblichen anwaltlichen Vergütung in Rechnung stellen könnte. Aus diesem Grunde werden Beratungshilfemandate von einigen Anwälten gar nicht angenommen. Der Ratsuchende zahlt lediglich einen Anteil von zehn Euro. Selbst diese zehn Euro darf der Anwalt bei Bedürftigkeit erlassen. Der Ratsuchende muss sich also auf die Suche nach einem Anwalt machen, der seinen Widerspruch vor dem JobCenter auf der Basis der Beratungshilfe vertritt. Ist der Anwalt gefunden, legt dieser, wenn der Aufgabe der Mitarbeiter ist es, nicht anwaltlich vertretenen Klägern bei der Klageformulierung und Klageerhebung behilflich zu sein. Für viele Betroffene ist aber die Hemmschwelle, selbst gegen die Behörde JobCenter vorzugehen beziehungsweise gar Klage beim Sozialgericht zu erheben, sehr hoch. Die Hemmschwelle, anwaltlichen Rat zu suchen, ist ebenfalls nicht zu unterschätzen. Die Betroffenen sollten aber in jedem Fall den Versuch unternehmen, einen Anwalt zu finden. Es gibt Anwälte, die bereit sind, auf Beratungshilfebasis Mandate zu übernehmen. Über die Internetplattform von „Tacheles“ wird man fündig. Und zehn Euro für eine anwaltliche Vertretung dürften auch für einen Alg-II-Bezieher erschwinglich sein. Simone Krauskopf, Rechtsanwältin * kostenlos nur für Bezieher von Alg II, Sozialhilfe, Grundsicherung (GSi) und andere Arme Beachten Sie die Anzeige auf Seite 25! strassen|feger Klare Worte Ratgeberausgabe 2009 37 Über den Umgang mit arbeitslosen Menschen Drei Beispiele für das Verhalten des JobCenters gegenüber Arbeitslosen Die Abhängigkeit von einem JobCenter kann jungen, unsicheren oder labilen Menschen zum Verhängnis werden. Nicht wenige gehen traumatisiert aus einer Behandlung durch das JobCenter hervor. Drei Beispiele möchte ich schildern. Das erste betraf mich selbst und steht für das Auflaufenlassen als Taktik: Da mein Sohn die Grundschule wechseln musste, suchte ich eine Wohnung in der Nähe des zukünftigen Lernortes in Berlin-Pankow. Wegen der vereinbarten SchulProbezeit von sechs Monaten, meldete ich mich bei einem jungen Paar, das seine Wohnung für ein halbes Jahr untervermietete, um Australien zu bereisen. Für diese Wohnung auf Zeit stellte mir das JobCenter Berlin-Kreuzberg eine Mietübernahmebescheinigung aus und übernahm die erste Miete. Dann war Pankow zuständig. Dort verschwand ein Teil meiner Unterlagen. Hernach wurden mir Mietzahlungen verweigert, da keine Untermieterlaubnis vorläge. Die Hauptmieter waren unerreichbar, die Hausverwaltung zwar informiert, konnte mir aber keine offizielle Bescheinigung ausstellen. Sie telefonisch zu befragen, lag nicht im Interesse des JobCenters. Ich saß in der Falle: Fände ich eine neue Bleibe, verlören die Hauptmieter meinetwegen ihre Wohnung – wenn nicht noch mehr! Bliebe ich, bestand immerhin eine Chance, das drohende Unheil abzuwenden. Im JobCenter begegnete mir eisige Kälte. Der Sachbearbeiter redete nicht mit mir, ließ mich sitzen. Was ich noch wolle? Ich ging zum Jugendamt, Sozialamt, zur SPD und Sozialberatung und von dort mit einem Antrag auf Einstweilige Verfügung zum Sozialgericht. Ich verbrachte unruhige Nächte, brach ungewollt in Tränen aus, schämte mich und konnte kaum an etwas anderes denken, als ich – Gott sei Dank! – im vierten Monat ohne Mietzahlungen Recht bekam. Der zweite Fall schildert eine Hetz-Taktik am Beispiel einer schüchternen Bekannten mit akademischem Abschluss. Sie hatte während ihrer Arbeitssuche vom JobCenter Berlin-Neukölln in den ersten neun Monaten keinerlei Vermittlungsvorschläge erhalten, aber sollte stattdessen eine Eingliederungsvereinbarung unterschreiben, in der sie sich verpflichtete, „an allen Maßnahmen teilzunehmen“. Während sie sich ohnehin um Arbeit bemühte, schickte sie ihrer Fallmanagerin schriftlich ihre Einwände - und dass noch keine Versuche erfolgt wären, sie auf den ersten Arbeitsmarkt zu vermitteln. Statt einer Antwort wurden ihr drei Ein-Euro-Jobs gleichzeitig zugewiesen, die weder ihre angegebenen Fähig- und Fertigkeiten berücksichtigten, noch ihr beruflich nützlich wären. Das bat sie schriftlich zu bedenken. Nach einem ersten Vorstellungstermin teilte der Träger dem JobCenter mit, sie sei für die Tätigkeit ungeeignet. Des ungeachtet, landeten in den darauffolgenden Wochen drei Kürzungsbescheide um je 30 Prozent im Briefkasten meiner Bekannten. Drei Kürzungen um 30 Prozent bedeuteten 90 Prozent Minderung – also nur noch zehn Prozent der Leistung. Ohne Rückhalt durch andere wäre sie verzweifelt. Ihr Widerspruch wurde vom JobCenter abgelehnt. Erst das Sozialgericht gab ihr Recht. Alle Sanktionsbescheide wurden aufgehoben. Das dritte Beispiel schildert Demütigungen, die das Selbstverständnis eines arbeitslosen Bauzeichners verwundeten. Nachdem die Fallmanagerin im JobCenter Berlin-Mitte seine Unsicherheit entdeckt hatte, erlag sie der Versuchung, die finanzielle Abhängigkeit des Junggesellen auszunutzen. Durch hämische Unterstellungen drängte sie den 40-Jährigen in die Defensive und scheute nicht davor zurück, seine frühere Tätigkeit sowie seine derzeitigen Eigenbemühungen um Arbeit lächerlich erscheinen zu lassen. Seine Berichte über frühere Tätigkeiten oder zu jüngsten Bewerbungsterminen tat sie als unglaubwürdig ab. Je mehr sich der Bauzeichner bemühte, ihr die Richtigkeit seiner Angaben auch zu beweisen, desto hilfloser verstrickte er sich in Rechtfertigungen und Erklärungen. Die anmaßende Haltung der Sachbearbeiterin hatte zur Folge, dass er sich nicht mehr allein zu einem Termin mit ihr traute und um Hilfe bat. Als ich ihn deshalb zum nächsten Termin begleitete, nahm das Gespräch eine überraschende Wendung: Die Fallmanagerin hielt es für überflüssig, seine mitgebrachten Belege über die Art der bisherigen Berufsausübung zu prüfen, tat frühere Anschuldigungen als belanglos ab und stellte ihre Mithilfe bei der Vermittlung in Arbeit in Aussicht. Unter „Fördern und Fordern“ werden die finanziell Abhängigen bevormundet, missachtet, entmutigt, erpresst und in die Enge getrieben – und es trifft gerade den am härtesten, dem der nötige Rückhalt fehlt. Constanze strassen|feger Nachgefragt Ratgeberausgabe 2009 Foto: K.B. 38 Das Berliner Sozialgericht in der Invalidenstraße Wo ein Kläger ist, gibt es immer auch einen Richter Interview mit dem Berliner Sozialrichter Michael Kanert Obwohl sie berechtigte Zweifel an der Richtigkeit ihres Bescheides hegen, scheuen immer noch viele Menschen, die ALG II beziehen, den Klageweg, um zu ihrem Recht zu gelangen. Sie fürchten versteckte Sanktionen der zuständigen Mitarbeiter_innen ihres JobCenters. Deshalb waren wir zu Besuch im Berliner Sozialgericht und erfuhren: Etwa die Hälfte aller Klagenden bekommt Recht. Zwar spricht sich diese Tatsache nur langsam herum, doch die Zahl der Klagen steigt. Allein in Berlin werden jährlich Zehntausende eingereicht. Für den strassenfeger sprach Dinah Persch mit dem Berliner Sozialrichter Michael Kanert (Jahrgang 1963). strassenfeger: Wie arbeitet das Sozialgericht? Michael Kanert: Das Sozialgericht kontrolliert die meisten Behörden des Sozialstaates. Die JobCenter, die gesetzliche Rentenversicherung, die gesetzliche Krankenversicherung, die Berufsgenossenschaft und die Pflegeversicherung. All dies sind Behörden, die dazu da sind, dass soziale Ansprüche gehört und verwirklicht werden. Diese Behörden sind an Regeln, Gesetze und Verordnungen gebunden und der Bürger kann, wenn er der Meinung ist, dass diese Behörden die Gesetze verletzt haben, das Sozialgericht anrufen und dann überprüfen wir diesen Fall. sf: Gab es einen persönlichen Auslöser, dass Sie Richter am Sozialgericht geworden sind? M.K.: Eigentlich wollte ich gar kein Richter am Sozialgericht werden, ich wollte ans Verwaltungsgericht, weil ich die Idee hatte, dass dort die spannenderen Entscheidungen getroffen werden. Dort war keine Stelle frei und ein Kollege riet mir: „Versuchen Sie es doch am Sozialgericht, da gibt es auch sehr spannende Fälle.“ Jetzt bin ich seit 14 Jahren hier. Früher wussten sehr wenige Leute, was wir hier machen. Das hat sich geändert, seit es Hartz IV gibt. sf: Wie hoch ist der prozentuale Anteil an Anträgen bezüglich des HartzIV-Gesetzes? M.K.: Zwei Drittel betreffen Hartz IV. Das ist das große Thema bei uns am Sozialgericht. Damit hatte ursprünglich niemand gerechnet. Als im Januar 2005 Hartz IV in Kraft trat, hatten wir 5,5 Richterstellen dafür eingeplant, inzwischen sind es zehn Mal so viele. Das war ein neues Rechtsgebiet; die Fälle hatten damals eine neue Farbe von Aktendeckeln bekommen: sie waren hellgrün. Nach ein paar Monaten sind uns diese Aktendeckel ausgegangen. Wenn man heute ins Archiv geht, sieht man unter den erledigten Fällen immer wieder Aktenstapel mit weißen Deckblättern. Da fehlten uns die grünen Deckel. Das zeigt, dass weder die Politik, noch die Justiz damit gerechnet hatten, was das für ein Ausmaß annehmen wird. sf: Was macht die anderen Anträge an das Sozialgericht aus? M.K.: Ganz viele Themen betreffen die Rentenversicherung. Wir hatten tausende Anfragen aus den USA, Israel aber beispielsweise auch aus Ungarn von Rentnern, die ihre Rentenansprüche einklagten. Dann hatten wir nach der Wiedervereinigung sehr viele Klagen von Rentnern aus der ehemaligen DDR, was nun mit ihren Ansprüchen passiert, die sie im Sozialsystem der DDR erworben hatten. Das hat uns auch jah- strassen|feger Nachgefragt Ratgeberausgabe 2009 relang beschäftigt. Doch das ist alles kein Vergleich zu dem, was jetzt vorherrschend ist. Das große Thema: Hartz IV. – Ein weiteres Thema ist die Pflegeversicherung. Wenn jemand zum Beispiel ein bestimmtes Medikament benötigt und die Krankenkasse nicht zahlen will, weil es ihrer Meinung nach zu teuer ist, kann der Patient hier klagen. Wir haben hier auch kuriose Fälle: Wenn jemand auf dem Weg zur Arbeit einen Unfall hat, aber er war noch schnell beim Bäcker, um ein Brot zu kaufen, und hatte dort einen Unfall, betrifft das dann auch die Berufsgenossenschaft? ein Jahr und bei komplizierten Rentenfällen kann es auch schon mal bis zu drei Jahren dauern, bis das Verfahren abgeschlossen werden kann. Das ist natürlich deutlich zu lang. sf: Inwiefern liegt die Überlastung bei den JobCentern? M.K.: Hartz IV hat einen enormen Verwaltungsaufwand hervorgebracht. Allein in Berlin sind es zwei Millionen Bescheide, die jährlich verschickt werden; bundesweit sind es über siebzehn Millionen Bescheide. Diese stellen jährlich einen ungeheuren Verwaltungsakt dar. Ursprüngliches Ziel der Reform war ja eine Vereinfachung des Verwaltungsaufwandes und die schnelle Rückführung des Arbeitslosen auf den ersten Arbeitsmarkt. Noch komplizierter ist die Berechnung von Leistungsbeziehern, die Leistung zusätzlich zu ihrem Gehalt auf dem ersten Arbeitsmarkt beziehen. sf: Wie hoch etwa ist die Anzahl der Klagen? M.K.: Im Vergleich zu den ersten Jahren hat sich die Anzahl der Klagen verdreifacht und die Tendenz geht nicht nach unten, sondern weiterhin nach oben. Die Menschen kommen mit einer konkreten Entscheidung der Behörde zu uns und sagen: „Diese Entscheidung ist falsch.“ Darunter sind teilweise schwierige Berechnungsfragen; in den JobCentern arbeiten zum Teil Menschen, die erst vor kurzem durch einen Zeitarbeitsvertrag an diese komplizierte Materie geraten sind. Sie sind oft auch vom Computerprogramm überfordert, das bei schwierigen Berechnungen durch Umgehungslösungen ausgetrickst werden muss. So kommt es häufig vor, dass die Richter während der Verhandlung die eigentliche Sachbearbeitung und Berechnung machen müssen. sf: Wie viele der 2008 eingereichten Klagen konnten abschließend verhandelt werden? M.K.: Es wurden in Berlin im vergangenen Jahr etwa 30.000 Klagen eingereicht, davon waren etwa 20.000 Hartz-IV-Fälle. Über etwa 16.000 Fälle im Bereich Hartz IV konnten wir noch nicht entscheiden, obwohl die Anzahl der Hartz-IV-Richter verzehnfacht worden ist. Es werden auch noch vierzig neue Stellen geschaffen, aber bis dahin werden Richter aus anderen Bereichen, wie zum Beispiel der Rentenversicherung, abgezogen. Das bedeutet, dass jetzt auch Kläger aus anderen Bereichen länger auf ihr Gerichtsverfahren warten müssen. Allerdings schaffen wir es in existenziellen Notfällen innerhalb von wenigen Tagen zu entscheiden. In den übrigen Fällen dauert es auch bei Hartz IV inzwischen über Foto: Dinah sf: Welche Erfahrungen machen Sie als Richter mit der Hartz-IV-Sozialreform? M.K.: Hartz IV war eine sehr große Sozialreform, weil zwei Systeme zusammengelegt wurden und praktisch die Verwaltung im Zusammenhang mit Massenarbeitslosigkeit ganz neu aufgebaut wurde. Damit sollte auch ein System der Leistung aufgebaut werden. Deshalb ist es auch eine Reform mit erheblichen Auswirkungen, immerhin Sozialrichter Michael Kanert sind in Deutschland sieben Millionen Menschen Bezieher von Hartz-IV-Leistungen, allein in Berlin ist es jeder vierte oder fünfte Erwachsene. Hier bei uns geht es ja nicht um die politische Bewertung von Hartz IV. Die steht nicht zur Überprüfung im Gerichtssaal. Auch wenn anfangs einige Leistungsbezieher der Meinung waren, das Gericht müsse jetzt alle Entscheidungen der Sozialreform aufheben, so ist die politische Bewertung in einer Demokratie Sache des Parlaments. Die Regeln zu machen, ist Aufgabe des Parlaments und die Regeln einzuhalten, ist eine Sache der Gerichte. Bei genau dieser gesetzlichen Umsetzung passieren enorm viele Fehler. Fast jede zweite Entscheidung der JobCenter müssen wir beanstanden. Diese enorm hohe Zahl an Gerichtsverhandlungen hatten wir einfach nicht erwartet. 39 sf: Aber Hartz IV hat ja genau das Gegenteil hervorgebracht... M.K.: Erst einmal muss man sich fragen: Gibt es überhaupt genug Stellen für alle Leistungsbezieher? Die andere Frage ist: Ist denn eine praktischen Umsetzung dieses Ziels möglich? Das ist natürlich ein Ziel, das der Staat erreichen will, doch die bisherigen Behörden konnten das nicht. Sie waren falsch strukturiert. Ziel war, dass alle Leistungen aus einer Hand kommen. Doch jetzt sind es mehr Hände geworden als vorher und in der derzeitigen Struktur ist es sogar verfassungswidrig. Niemand – weder Bund, noch die Kommunen – können eine klare Verantwortung übernehmen. Das Verfassungsgericht hat aus diesem Grund entschieden, dass bis 2010 diese Situation geklärt werden muss. sf: Sehr viele Bescheide sind falsch, aber die Leistungsempfänger klagen nicht, sondern winken bei Minimalbeträgen ab. M.K.: Das können wir hier nicht sagen, aber die Behörde sagt uns, dass es etwa ein Prozent sind, die klagen. Natürlich können wir nicht sagen, Die Zeitung auf’s Ohr! strassen|feger radio Jeden Mittwoch um 20:00 Uhr. im Offenen Kanal Berlin auf 92,6 MHz im Berliner Kabelnetz und 97,2 MHz über Antenne oder www.okb.de (livestream) strassen|feger Nachgefragt Ratgeberausgabe 2009 Foto: Dinah 40 dass die übrigen 99 Prozent richtig sind; wir können aber auch nicht sagen, dass von den restlichen Bescheiden jeder zweite falsch ist. sf: Warum gibt es bundesweit keine einheitliche Mietobergrenze für Leistungsbezieher? sf: Wie oft endet ein Verfahren positiv für den Kläger? M.K.: Im Gesetz steht dazu gar nichts. Da heißt es, die Kosten für die Unterkunft werden gezahlt, soweit diese Kosten angemessen sind. Das ist eine nichtssagende Formulierung. Wir Richter fordern hier eine klarere Regel, die die Politik machen muss. Dennoch wird man bundesweit keinen einheitlichen Mietpreis machen können, da die Mietpreise zu unterschiedlich sind. Da es keine übergreifende politische Entscheidung gibt, hat die Senatsverwaltung für Soziales von Berlin gesagt: „Wir lösen das Problem intern.“ So steht hier in der AV Wohnen, dass die Miete für einen Alleinstehenden bis zu 360 Euro übernommen wird; das wurde aber nun angehoben auf 378 Euro. Doch das ist eine verwaltungsinterne Entscheidung, die für die Gerichte nicht bindend ist. M.K.: Jedes zweite Verfahren geht zu Gunsten des Klägers aus, wobei man sagen muss, dass 85 Prozent aller Verfahren ohne Urteil verhandelt werden. Zum einen passiert es durchaus, dass der Kläger sagt: „Das hätte man mir nur richtig erklären müssen.“ Jetzt weiß der Kläger, dass er keinen Anspruch vor Gericht hatte, den er durchsetzen wollte. Dann nimmt er die Klage zurück. Zum anderen passiert es auch, dass die Behörde sagt: Ja, wir haben hier einen Fehler gemacht“ und ihre Entscheidung korrigiert. So kommt das Endergebnis von etwa Halb und Halb zustande. sf: Stimmt es, dass in Zukunft bei einer Klageeinreichung ein Pauschalbetrag von 10 Euro gezahlt werden soll? M.K.: Das ist eine der Ideen, die in der politischen Welt kursieren. Aber das ist im Moment kein Gesetz, auch wenn es Politiker gibt, die es für richtig hielten. Doch diese haben so ein bestimmtes Bild von den potenziellen Klägern im Kopf – nämlich dass das Recht auf kostenlose Rechtsentscheide missbraucht würde. Wir können das aber nicht bestätigen. Denn wenn jeder Zweite, der hier klagt, Erfolg hat, ist es auf jeden Fall so, dass die Kläger einen berechtigten Anlass haben. Die Kläger können, wenn sie einen Anwalt nutzen, auch Prozesskostenhilfe beantragen. Denn auch für bedürftige Menschen soll vor Gericht Chancengleichheit bestehen. sf: Würde jetzt aber eine bundeseinheitliche Entscheidung getroffen, führte das doch automatisch zur Ghettoisierung? M.K.: Genau diese Frage bleibt eine politische Frage, denn es ist eine grundlegende Regel des Sozialstaats, dass politische Fragen im Parlament entschieden werden müssen. Dieser Entscheid liegt nicht bei den Gerichten. Massenarbeitslosigkeit und Leben am Existenzminimum sind keine Verwaltungsprobleme, sondern ganz grundsätzliche und bringen Probleme mit sich, die auch nicht durch die Verwaltungsreform gelöst werden. sf: Dankeschön, dass Sie sich die Zeit genommen haben! strassen|feger Ratgeberausgabe 2009 Klare Worte 41 Hartz IV und Tier Eine Bestandsaufnahme für Berlin Nicht nur in der Hauptstadt gibt es immer mehr Menschen, die von Leistungen wie Hartz IV oder Sozialhilfe ihren Alltag bestreiten müssen. Auch Menschen, die trotz Rente oder Job unter dem Armutsniveau in Deutschland leben, haben mitunter Schwierigkeiten, sich adäquat selbst zu versorgen. Nicht wenige Menschen leben außerdem gänzlich ohne regelmäßiges Einkommen auf der Straße. Ein geringes Einkommen reicht häufig nicht aus, um den monatlichen Bedarf an Nahrungsmitteln, laufenden Kosten wie die Telefonrechnung oder Sonderausgaben, die mitunter überraschend anfallen, zu decken. Besonders schwierig wird’s, wenn neben Mensch noch Hund, Katze oder Meerschweinchen versorgt werden wollen. Wer arm ist, der ist nicht selten einsam. Wir leben heute in einer Gesellschaft, in der fast alles seinen Preis hat, und auch wenn es Sozialtickets oder Ermäßigungsprogramme gibt – das Geld bleibt knapp und das macht eine Teilhabe am sozialen und kulturellen Leben nicht leichter. Ein Haustier kann helfen, aus der unfreiwilligen Einsamkeit auszubrechen. In Berlin ist das ähnlich: Ärzte, die sich um die Tiere von Menschen mit geringem Einkommen kümmern, ohne dafür die anfallenden Kosten zu verlangen, gibt es so gut wie gar nicht. Klik (Kontaktladen für Straßenkinder in Krisen), eine Berliner Hilfseinrichtung, arbeitet mit einer Tierärztin zusammen, die in die Einrichtung kommt und die Hunde von Straßenkindern grundversorgt. Das Projekt HundeDoc kümmert sich leider ausschließlich um die Tiere von Jugendlichen und jungen Erwachsenen in sozialpädagogischer Betreuung und steht demnach nicht allen offen. Nur: Hohe Arbeitslosenzahlen, die Einführung von Hartz IV und der unaufhaltsame Anstieg der Lebenshaltungskosten bringen immer mehr Haustierbesitzer in ein Dilemma: Das geliebte Haustier behalten und noch mehr Entbehrungen auf sich nehmen oder das Tier in ein Heim oder zu einem neuen Besitzer geben und selbst unglücklich sein? Tatsache ist, dass Hartz IV keine Zusatzleistungen für Tiere beinhaltet. Futtergeld oder die Kosten für den Tierarzt müssen von der Regelleistung bestritten werden. Das Sozialgericht Gießen hat dazu entschieden, dass „die Haltung von Haustieren ein reines Privatvergnügen“ – ein Hobby, nicht mehr – ist. Für Mensch gibt es Kleiderkammern, Sozialkaufhäuser und Essensausgaben, die es ihm gestatten, seine laufenden Kosten niedrig zu halten. Und was ist mit Tier? Das Problem wurde erkannt – in Berlin existieren inzwischen einige Initiativen, die Tierbesitzern unterstützend zu Seite stehen. Allen voran ist die Tiertafel zu nennen, die Ausgabestellen betreut, an denen Nahrungsmittel für Tiere ausgegeben werden, die in der Regel für drei bis vier Tage ausreichen. Darüber hinaus geben die Mitarbeiter der Tiertafel Tipps zur artgerechten und günstigen Fütterung und Haltung von Kanarienvogel und Konsorten. Eine tierärztliche Betreuung kann die Tiertafel nur in Ausnahmefällen organisieren. Wer Futter von der Tiertafel beziehen möchte, muss seine Bedürftigkeit nachweisen können - ein Bescheid über die Gewährung von Hartz IV oder Sozialhilfe oder der Rentenbescheid reicht aus. Die Ausgabestelle befindet sich in der Mörikestraße 15 in 12437 Berlin; Ausgabetag ist immer samstags zwischen 11 und 16 Uhr. Mit der tierärztlichen Versorgung von Hund und Katze ist es schwieriger: Jeder, der schon einmal mit seinem Tier zu einem Tierarzt gehen musste, weiß, dass die Kosten für Diagnose und Behandlung schnell in Bereiche gehen, die trotz aller Liebe wehtun. Tierärzte für Bedürftige sind deutschlandweit bisher Ausnahmen. Foto: K.B. Konsequenz: Die bundesdeutschen Tierheime sind seit der Einführung des SGB II geradezu mit Tieren von Hartz-IV-Empfängern überschwemmt worden. Nicht desto trotz bleibt der Gesetzgeber hart und sieht sich nicht dazu veranlasst, Tierbesitzern eine Möglichkeit zu eröffnen, die es ihnen erlaubt, ihr Tier zu behalten. Immerhin: Wer einen Hund besitzt, kann über einen Antrag beim Finanzamt eine Ermäßigung der anfallenden Hundesteuer erwirken. Dennoch: Ratenzahlungen sind möglich. Einige Tierärzte bieten diesen Weg der Tilgung der Behandlungskosten an. Hartz IV und Tier – keine einfache Kombination. Doch die Chancen, dass sich in Zukunft Selbsthilfeinitiativen gründen, die Menschen mit Haustieren in Notsituationen helfen, sind da. Trotzdem gilt: Sich ein Haustier anzuschaffen, sollte nicht ad hoc entschieden werden, besonders nicht, wenn man es sich eigentlich nicht leisten kann. Weder Mensch noch Tier wird damit ein Gefallen getan. Mandy Weitere Infos: www.tiertafel.de – Alle Informationen rund um die Tiertafel, ihre Leistungen und die deutschlandweiten Ausgabestellen. www.arbeitslosenselbsthilfe.org – Umfangreiches Forum zu vielen Problemen rund um Hartz IV, unter anderem auch zu Hundesteuer bei Hartz IV. http://www.klik-berlin.de/hundedoc.html – Überblick über die Arbeit des HundeDocs und die Bedingungen, die für eine kostenlose Behandlung erfüllt sein müssen. strassen|feger mob – obdachlose machen mobil e. V. Ausgangspunkte unserer Arbeit Der Anlass zur Gründung unseres Vereins besteht nach wie vor: Die anhaltende Armut signifikanter Teile der Bevölkerung, die sich in ihrer krassesten Form in der Wohnungslosigkeit zeigt. Trotz anderslautender Beteuerungen der Wohnungswirtschaft und von Teilen der Politik ist das Problem der akuten Wohnungsnot weiterhin gravierend. So sind in Berlin derzeit circa 7.000 bis 10.000 Personen ohne festen Wohnsitz. Sie leben in Heimen und Notunterkünften, ungesicherten Wohnverhältnissen oder halten sich auf der Straße auf. Seit 2004 steigt die Zahl der wohnungslosen Menschen in Berlin wieder an. Um diesen Personenkreis bei der Aufrechterhaltung eines menschenwürdigen Daseins und bei der Entwicklung eigener Perspek- tiven zu unterstützen, unterhält mob – obdachlose machen mobil e. V. in Berlin-Prenzlauer Berg verschiedene spezifische Projekte. Sie verfolgen in Organisation und Ausführung den Gedanken der Selbsthilfe, was bedeutet, dass die eigene Aktivität der Menschen besonders betont wird. Unter dem Dach des Vereins können sich die mitwirkenden Nutzer mit eigenen Projekten ansiedeln – bis hin zum Ausbau einer eigenen Wohnung. Ziele und Angebote „Ziel des Vereins ist die Verbesserung der Lebensumstände von gesellschaftlich Benachteiligten und Ausgegrenzten, insbesondere Obdachlose bzw. von Obdachlosigkeit bedrohte Menschen. Ihnen soll ermöglicht werden, sich für ihre eigenen Belange und Interessen einzusetzen, eigenverantwortlich Initiativen und Projekte aufzubauen und durchzuführen und so selbst eine Veränderung und Verbesserung ihrer Lebenslage herbeizuführen.“ (aus § 2 der Satzung von mob e. V.) Im Laufe der Jahre entwickelten wir folgende, für die Selbsthilfe von wohnungslosen und armen Menschen typische Arbeitsformen und Angebote: • die Straßenzeitung strassenfeger • der Selbsthilfetreffpunkt Kaffee Bankrott • die Notübernachtung • das Selbsthilfehaus in der Oderberger Straße 12 • das Projekt TrödelPoint Die Internetseite www.strassenfeger.org dient der Kommunikation mit der interessierten Öffentlichkeit und macht Vereinsarbeit für ein breites Publikum transparent. In regelmäßigen Abständen wird ein Newsletter herausgegeben. Notübernachtung Unsere ganzjährige Notübernachtung in der Prenzlauer Allee 87 ist entstanden, weil wir den Verkäuferinnen und Verkäufern der Straßenzeitung, die akut wohnungslos sind, einen Übernachtungsplatz anbieten wollen. Dieses Angebot ist aber grundsätzlich offen für alle, die einen Schlafplatz benötigen. Der Aufenthalt ist auf acht Wochen begrenzt, in Ausnahmefällen ist eine Verlängerung möglich. Die Notübernachtung bietet zehn Männern und sieben Frauen in getrennten Räumen Schlafplätze an. Hunde können nach Absprache mitgebracht werden. Im Winter können zur Not bis zu vier zusätzliche Betten für eine Nacht aufgebaut werden; wir möchten niemanden wegschicken. Weil der Verein mob e. V. sein Notübernachtungsangebot ohne staatliche Förderung und allein aufgrund eigener Initiative betreibt, erheben wir von allen Schläfern einen Unkostenbeitrag in Höhe von 1,50 Euro pro Nacht. Dafür bieten wir Folgendes an: • Wasch-/Duschmöglichkeiten (gratis Duschgel, Shampoo, Rasierzeug, Cremes, usw.) • Wäschewaschen / Trocknen • Nutzung der Kleiderkammer • Kostenloses Internet • Tagesangebote des Treffpunktes „Kaffee Bankrott“ • Beratung und Unterstützung bei Behörden • Hilfe bei der Wohnraumsuche strassenfeger – die Straßenzeitung (ISSN 1437 – 1928) Was tun, wenn das Geld knapp ist? Vielleicht den strassenfeger verkaufen? Der strassenfeger ist von Anfang an eine Zeitung gewesen, die allen offen stand, die mitmachen wollten. Deswegen ist die Verkäuferschaft auch bunt gemischt und international. Es sind Menschen dabei, die auf der Straße leben, süchtig sind und sonst kein anderes Einkommen haben. Andere leben in Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe, wieder andere waren einmal wohnungslos und leben jetzt mit Alg II in einer eigenen Wohnung. Wieder andere sind einfach nur arm und lange arbeitslos und wollen die Zeit bis zum nächsten Geld vom JobCenter überbrücken. Warum also nicht? Die Stadt ist groß und wer sich nicht gleich der eigenen Nachbarschaft als armer Mensch zu erkennen geben will, kann in einen anderen Stadtteil fahren. Natürlich braucht es ein wenig Übung, einen guten Verkaufsstandort zu finden, und auch Geduld, bis ein Stammplatz daraus geworden ist. Was also ist zu tun, um Verkäufer oder Verkäuferin zu werden? Die Anmeldung erfolgt im Treffpunkt Kaffee Bankrott in der Prenzlauer Allee 87 in 10405 Berlin (nähe S-Bahnhof Prenzlauer Allee) an der Theke. Das Kaffee ist täglich, auch am Wochenende, zwischen 8 und 20 Uhr geöffnet. Ein Ausweis ist hilfreich, aber nicht zwingend erforderlich. Wichtig ist, die Verkäuferselbstverpflichtung zu lesen, zu verstehen und zu akzeptieren. Dann stellen wir einen Verkäuferausweis aus und geben die ersten fünf Zeitungen gratis aus – sozusagen als Starthilfe. Von dann an sind die weiteren Zeitungen für den Betrag von 60 Cent bei den Ausgabestellen zu erwerben und können für 1,50 Euro in Berlin / Brandenburg verkauft werden. Pro verkaufte Zeitung bleiben 90 Cent für den/die Verkäufer/in. Der Treffpunkt Kaffee Bankrott ist nicht die einzige Zeitungsausgabestelle. Weitere Zeitungsausgabestellen sind ein Wohnanhänger am Bahnhof Zoo in der Jebensstraße und ein Wohnanhänger am Ostbahnhof. Er steht direkt am Herman-Stöhr-Platz in der Koppenstraße, zwischen dem Kaufhof und dem Ostbahnhof. Auflage von 21.000 Exemplaren. Insgesamt sind es gegenwärtig rund 250 Personen, die den strassenfeger allein in Berlin und Umgebung ständig verkaufen. Redaktion Die Redaktionssitzung des strassenfeger ist immer dienstags zwischen 17.00 und 19.00 Uhr in der Prenzlauer Allee 87 in 10405 Berlin. Bei den öffentlichen Sitzungen, zu Fotos: Andreas Düllick (3), cs (2) Es gibt Verkäufer, die täglich mehrere Stunden verkaufen, dann wieder andere, die es sporadisch und bei Bedarf tun. Es gibt hier keine Festlegungen und keine Mindestverkaufsmengen. Jeder Verkäufer, jede Verkäuferin kann selbst entscheiden, wo und wann er oder sie den strassenfeger anbietet. Der strassenfeger erscheint vierzehntäglich montags mit 26 Ausgaben pro Jahr und erreicht eine durchschnittliche verkaufte Die Notübernachtung ist täglich geöffnet. Einlasszeiten sind von 17 bis 23 Uhr. Bis 10 Uhr des darauffolgenden Tages muss die Notübernachtung wieder verlassen werden. Für Anmeldungen oder Beratung stehen die Mitarbeiter der Notübernachtung gerne zur Verfügung. In unserer Notübernachtung gilt eine Hausordnung, die von den Schläfern zu beachten ist. Zu den Regeln gehören: • keine Gewaltanwendung und keine Gewaltandrohung • keine sexuelle Belästigung • kein Drogen- & Alkoholkonsum oder -besitz in unseren Räumen • das Rauchen in den Betten ist strengstens verboten • ab 24 Uhr ist Nachtruhe denen jeder kommen kann, werden die Texte für die nächste Ausgabe besprochen und die Themen und Beiträge für die folgenden Ausgaben festgelegt. Aber auch außerhalb der wöchentlichen Redaktionssitzungen können Artikel und Beiträge eingereicht werden. Bei der Auswahl der Texte werden Artikel von VerkäuferInnen bevorzugt berücksichtigt. Wer keine Erfahrung im Verfassen von Texten hat, kann von der Redaktion Unterstützung und Beratung beim Schreiben erfahren. Auch hilft die Redaktion im Umgang mit Computern. Der strassenfeger nimmt entschieden Partei für Arme, Arbeitslose, Ausgegrenzte, Süchtige und Wohnungslose. Die Zeitung kann das tun, weil sie und der Verein mob e. V., der den strassenfeger herausgibt, unabhängig sind von staatlicher Förderung und Finanzierung. Der Verein trägt sich selbst aus den Einnahmen der Zeitung und der anderen Projekte, aus Sach- und Geldspenden und öffentlich geförderten Arbeitsprojekten. Treffpunkt Kaffee Bankrott In der Prenzlauer Allee 87 betreibt der Verein mob e. V. einen offenen Treffpunkt für VerkäuferInnen, Vereinsmitglieder, MitarbeiterInnen und AnwohnerInnen. Auch Hunde können mitgebracht werden. Der Treffpunkt ist barrierefrei erreichbar und bietet eine behindertengerechte Toilette. Der Treffpunkt ist ganzjährig täglich zwischen 8 und 20 Uhr geöffnet. Zu den Angeboten des Treffpunktes gehören: • Soziale Kontakte und Selbsthilfe • kostenloses Surfen im Internet • Gelegenheit zum Aufenthalt und zum Aufwärmen • Preiswertes Frühstück und Mittagsessen sowie Kaffee, Tee und weitere Getränke • Veranstaltungen und Ausstellungen • Allgemeine Sozialberatung immer dienstags zwischen 14 und 17 Uhr • Allgemeine Rechtsberatung durch eine Anwältin immer montags zwischen 11 und 15 Uhr (außer in den Schulferien und an Feiertagen) mob e. V. betreibt den Treffpunkt Kaffee Bankrott ohne staatliche Unterstützung nur durch ehrenamtliche Mitarbeit und Spenden durch die Bevölkerung. Weil wir alle Angebote unseres Treffpunkts aus eigenen Mitteln bestreiten müssen, erwarten wir für einige unserer Leistungen in der Regel eine Kostenbeteiligung in Form einer Spende. Im Rahmen unserer Möglichkeiten als Selbsthilfeprojekt verstehen wir unseren Treffpunkt Kaffee Bankrott auch als Anlaufstelle bei akuten Krisen und Problemfällen. Soweit es unsere Möglichkeiten zulassen, wollen wir Hilfe zur Selbsthilfe anbieten. Damit ist grundsätzlich unser Treffpunkt offen für alle, die zu uns kommen. Um dies zu gewährleisten, gelten folgende Regeln: • keine Gewaltandrohung und -anwendung • keine sexuelle Belästigung • kein Drogenkonsum in unseren Räumen Selbsthilfehaus Oderberger Straße 12 sen ein sehr ehrgeiziges Sanier ungs vor haben fach- und zeitgerecht abzuschließen. Auf dieser Grundlage kann nun der zweite Schritt erfolgen, sich innovativ in die bestehende Nachbarschaft einzubringen. Eine Wohnung ist nicht alles – aber ohne Wohnung ist alles nichts. Aus diesem Grund ist das Selbsthilfehaus in der Oderberger Straße 12 ein wesentlicher Bestandteil zur Bekämpfung der aktuellen Wohnungsnot in der Stadt. Da die aktuelle Wohnungsnot ursächlich auf den strukturellen Mangel an preiswertem Wohnraum zurückzuführen ist und sich die öffentliche Hand aus der Wohnungsbauförderung zurückgezogen hat, ist Selbsthilfe an dieser Stelle dringend erforderlich. Im Zeitraum 1999 bis 2003 hat mob e. V. im Rahmen des Landesprogramms Wohnungspolitische Selbsthilfe ein Wohnhaus aus der Gründerzeit (Vorderhaus und Quergebäude) unter Mitarbeit von ehemals Wohnungslosen unter fachlicher Anleitung in Eigeninitiative instandgesetzt und modernisiert. Es entstanden dort 18 Wohneinheiten und zwei Gewerbeeinheiten. Damit ist erstmalig in Berlin ein Projekt der Selbsthilfe von wohnungslosen und armen Menschen in der Lage, in eigenen Häusern dauerhaft preisgünstigen Wohnraum anzubieten. Das Beispiel Oderberger Str. 12 zeigt: Es ist möglich, zusammen mit Wohnungslo- Der Verein hat einen engen Kontakt zu allen Mieterinnen und Mietern. In den seltenen Fällen, in denen eine Wohnung frei wird, wird diese bevorzugt an Wohnungslose oder Personen in schwierigen Wohnverhältnissen oder an Menschen mit Wohnungsberechtigungsschein (WBS) vergeben. EDV – Abteilung Computer- und Internetzugang sind inzwischen zu einem unentbehrlichen Arbeitsmittel geworden. In allen Projekten sind mehrere Rechner im Einsatz. Dazu kommen die öffentlich zugänglichen Computer im Treffpunkt Kaffee Bankrott. Die Aufgabe der EDV-Abteilung besteht darin, die Arbeitsfähigkeit (Wartung und Instandsetzung) der Computertechnik zu gewährleisten (einschließlich Drucker, Server, Datensicherheit usw.). Im Rahmen ihrer Möglichkeiten bietet die EDVAbteilung auch an, gebrauchte Computer mit Zubehör an bedürftige Menschen abzugeben und bei technischen Problemen zu helfen. Fotos: Andreas Düllick (1), cs (3), David Vogel (1), Borja Bretzke (1) TrödelPoint: Gebrauchtwaren und Wohnungseinrichtungen Der TrödelPoint hilft wohnungslosen Menschen, die wieder eine Wohnung erhalten, bei der Einrichtung der Wohnung mit Möbeln, Haushalts- und Gebrausgegenständen. Dabei nehmen wir auch Kostenübernahmescheine vom Sozialamt entgegen. Der TrödelPoint unterstützt Bürgerinnen und Bürger im Raum Berlin und Brandenburg, die Möbel oder Hausrat nicht mehr brauchen, im Keller lagern und für eine sinnvolle Weiterverwendung an uns abgeben wollen. Wir holen die Angebote ab und vereinbaren dazu gerne einen Termin. Dieses Konzept entlastet die Umwelt. Gebrauchsgegenstände, für die es noch Verwendung gibt, werden von uns abgeholt, gegebenenfalls gereinigt, repariert und an Bedürftige weitergegeben. Damit ist unser Projekt umwelt- und ressourcenschonend. Das Projekt schafft Beschäftigung. Menschen, öffentlich geförderte Beschäftigungen mit Mehraufwandsentschädigungen (MAE), also sogenannte 1-Euro-Jobs oder freie Tätigkeit (Arbeit statt Strafe) leisten, können ihre Fähigkeiten und Fertigkeiten im TrödelPoint einbringen. Auch andere Möglichkeiten der Förderung ind möglich. Praktikum Mitarbeit Berufsvorbereitendes Praktikum, Schülerpraktikum Mitarbeiten bei mob e. V. kann grundsätzlich jede und jeder. Dennoch sind Vollzeitarbeitsplätze bei uns die Ausnahme. Wir bieten folgende Möglichkeiten der Mitarbeit an: • ehrenamtliche Tätigkeit • „Arbeit statt Strafe“/Freie Tätigkeit (AsS) • Mehraufwandentschädigungs-Jobs (MAE, sogenannte 1-Euro-Jobs) • weitere geförderte Arbeitsmöglichkeiten in Kooperation mit dem Arbeitslosenamt, dem JobCenter oder dem Sozialamt nach individueller Absprache. Praktika sind grundsätzlich in allen Projekten des Vereins möglich. Beispielsweise in den Bereichen • Redaktion & Layout • Notübernachtung • Treffpunkt Kaffee Bankrott • Projekt TrödelPoint • Verwaltung, Buchhaltung • EDV-Abteilung Kontakt und Adressen Unsere Telefonnummern und Adressen finden Sie auf Seite 51 (Impressum). Spenden / Unterstützung mob – obdachlose machen mobil e. V. „will allgemein auf das Problem der Wohnungslosigkeit und Wohnungsnot aufmerksam machen, in sozialer, kultureller und politischer Hinsicht aufklärend auf die Bevölkerung einwirken und eine konstruktive Zusammenarbeit zwischen Wohnungslosen und Nicht-Wohnungslosen ermöglichen, unterstützen und kritisch begleiten.“ (aus § 2 der Satzung) mob – obdachlose machen mobil e. V. „verfolgt ausschließlich und unmittelbar gemeinnützige bzw. mildtätige Zwecke im Sinne des Abschnitts ‚Steuerbegünstigte Zwecke’ der Abgabenordnung. Der Verein ist selbstlos tätig, er verfolgt nicht in erster Linie eigenwirtschaftliche Zwecke.“ (aus § 3 der Satzung) Geldspenden für die Notübernachtung („Ein Dach über dem Kopf“) oder für laufende Ausbauvorhaben. Möglich sind aber auch Benefiz-Events und andere denkbare Formen der Zusammenarbeit zum gegenseitigen Vorteil. Um die Ziele umzusetzen und die entsprechenden Projekte entwickeln und unterhalten zu können, ist der Verein auf vielfältige Unterstützung angewiesen: die ehrenamtliche Mitarbeit, Sachspenden für den TrödelPoint oder für die laufende Arbeit, Spendenbescheinigungen stellen wir auf Wunsch gerne aus. Bankverbindung: Kto.-Nr.: 328 38 00 BLZ 100 205 00 Bank für Sozialwirtschaft 46 strassen|feger Nachgefragt Ratgeberausgabe 2009 Fragen des strassenfeger an den Vorstand Grundsicherung der Bundesagentur für Arbeit, Heinrich Alt dies fast eine Million Menschen. Unser Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) weist regelmäßig Daten zur tatsächlichen Unterbeschäftigung in Deutschland aus. Darin enthalten sind neben den Personen in Maßnahmen der Arbeitsmarktpolitik auch Menschen, die sich aus den verschiedensten Gründen vom Arbeitsmarkt zurückgezogen haben. Das IAB schätzt diese Zahl auf rund eine halbe Million Menschen. Wir gehen also davon aus, dass in Deutschland aktuell etwa 5 Millionen Personen auf Arbeitssuche sind. sf: 2008 gab es in Deutschland im Schnitt 3,268 Mio. Arbeitslose, 1,6 Mio. weniger als 2005. Davon 2,257 Mio. im Bereich SGB II und 1,011 Mio. im Bereich SGB III. Warum gibt es gerade im Bereich ALG II so viele Menschen? Heinrich Alt, Mitglied des Vorstandes der Bundesagentur für Arbeit (Quelle/Foto: bundesagentur.de) Mit dem Vorstand der Bundesagentur für Arbeit sprachen Andreas Düllick und Torsten Scharmann. strassenfeger: Wie will die BA die neuen Herausforderungen bewältigen, die sich aus der Weltwirtschaftskrise und der damit verbundenen steigenden Zahl der Arbeitslosen im Bereich ALG I bzw. ALG II bewältigen? Heinrich Alt: Wir konzentrieren uns mit ganzer Kraft auf unsere Arbeit. Wir sind in der Verantwortung, unseren Kunden das Gefühl zu vermitteln, dass wir ihnen in dieser Zeit zur Seite stehen und Unterstützung geben können. Natürlich bedeutet dies für die Kolleginnen und Kollegen in den Arbeitsagenturen und den Trägern der Grundsicherung vor Ort eine hohe Arbeitsbelastung, aber ich persönlich erlebe die Kollegen sehr engagiert und motiviert. Außerdem wurden der Bundesagentur im Rahmen des Konjunkturpaketes II zusätzlich 5.000 Vermittlerstellen zur Verfügung gestellt. Wir werden die Zeit der Krise unter anderem dazu nutzen, um Arbeitsuchende zu qualifizieren. Nach der Krise sollten wir wettbewerbsfähiger sein als vor der Krise. sf: Statistiken zur Arbeitslosigkeit beruhen auf Parametern, denen Ihre Institution Folge zu leisten hat. Offiziell gelten heute nur dreieinhalb Millionen Menschen als arbeitslos. Nach konkurrierenden Untersuchungen werden zurzeit für Deutschland zwischen sieben und achteinhalb Millionen Personen angenommen, die sich selbst als arbeitslos bezeichnen. Werden von der Bundesagentur Untersuchungen in dieser Richtung erhoben? Wenn ja: Zu welchem Ergebnis gelangen sie? H. A.: Deutschland hat immer noch die ehrlichste und transparenteste Arbeitslosenstatistik in Europa, wenn nicht gar weltweit. Gemessen an den international üblichen Definitionen der EU und der ILO [Anmerkung: ILO = International Labour Organization] sind die Arbeitslosenzahlen der BA rund 10 Prozent überzeichnet. Arbeitsuchende, die sich in Qualifizierungsmaßnahmen befinden oder im zweiten Arbeitsmarkt beschäftigt sind, gelten nach der offiziellen Statistik nicht als arbeitslos, werden von uns aber gesondert ausgewiesen. Derzeit sind H. A.: Zum einen hatten wir natürlich eine Art „Starteffekt“. Mit Einführung des SGB II im Januar 2005 haben wir unsere Arbeit in der Grundsicherung mit über 2,2 Millionen Arbeitslosen begonnen. Dies waren ehemalige Arbeitslosen- bzw. Sozialhilfeempfänger. Außerdem ist durch die Verkürzung des Arbeitslosengeld-I-Bezuges der Übergang vom Rechtskreis SGB III in den Bereich des SGB II zeitlich verlagert geworden. Zum anderen müssen wir uns die Struktur der Arbeitslosen in den beiden Rechtskreisen genau ansehen. Im SGB III sind größtenteils Menschen, die erst vor kurzer Zeit ihre Arbeit verloren haben oder nach der Ausbildung nicht übernommen werden konnten. Gerade während der Kündigungsphase und in der ersten Zeit der Arbeitslosigkeit sind die Vermittlungschancen besonders gut. Im SGB II haben wir zum Beispiel Langzeitarbeitslose, Menschen mit Migrationshintergrund, Jugendliche ohne Ausbildung oder auch Menschen mit vielschichtigen Lebensumständen, die eine Vermittlung erschweren. Hier wirkt gute Vermittlungsarbeit nur dann, wenn sie ganz individuell auf den Einzelnen zugeschnitten ist, angefangen von der Beratung zur persönlichen Stabilisierung, über Qualifizierung oder auch Arbeitsgelegenheiten als Brücke in den Arbeitsmarkt. Hier ist der Weg in Arbeit mit vielen kleinen Integrationsfortschritten verbunden. Wir haben aber auch im SGB II Fachkräfte, die wir zeitnah Arbeit bringen. sf: Was ist mit Menschen, die eine Maßnahme der Jobförderung (in der Regel sechs Monate bei MAE) bekommen haben bzw. mit Menschen, die eine Weiterbildung im Rahmen des SGB II/ALG II machen müssen? Fallen die aus der Arbeitslosenstatistik raus, wenn ja warum und verfälscht diese Praxis die Statistik nicht unzulässig? H. A.: Teilnehmer an Maßnahmen der aktiven Arbeitsmarktpolitik sind nach dem Gesetz nicht arbeitslos. Dazu gehören unter anderem Weiterbildungs- oder Trainingsmaßnahmen oder eben auch die Arbeitsgelegenheiten. Unsere Statistiken weisen dies aber gesondert aus. Weiterbildungsangebote sollten immer als Chance und nicht als „Muss“ verstanden werden. sf: Warum hat die BA in 2008 Mittel in Höhe von 843 Millionen Euro – das sind 9,7 Prozent von 7,852 Milliarden insgesamt – nicht wie vorgesehen für die Leistungen der aktiven Arbeitsförderung eingesetzt? H. A.: Die von Ihnen genannten Haushaltsmittel standen 2008 nicht für die aktive Arbeitsförderung, sondern für sogenannte Pflichtleistungen zur Verfügung. Hierunter fallen zum Beispiel die Berufsausbildungsbeihilfe, der Ausbildungsbonus, Leistungen zur Förderung der Teilhabe behinderter Menschen oder die Förderung der beruflichen Selbständigkeit. strassen|feger Ratgeberausgabe 2009 Nachgefragt 47 Foto: uk sf: Gibt es Erhebungen, wie viele Personen seit Einführung des SGB II bisher Leistungen nach der Hartz-IV-Gesetzgebung in Anspruch genommen haben? Wie hoch ist also der „Durchlauf“? sf: Wenn keine Vollbeschäftigung absehbar ist: Halten Sie das Postulat von „Fördern und Fordern“ für vertretbar, sobald der zugrunde liegende Anspruch ins Leere läuft? H. A.: Für den Zeitraum 2005 bis zum Ende des Jahres 2007 haben wir eine sehr detaillierte Analyse unseres Institutes für Arbeitsmarkt und Berufsforschung (IAB) vorliegen. Demnach sind wir mit Einführung von Hartz IV mit 6,1 Millionen Menschen in der neuen Grundsicherung gestartet. Innerhalb der 3 Jahre kamen weitere 5,5 Millionen Menschen hinzu, sodass bis Dezember 2007 rund 11,6 Millionen Menschen zumindest zeitweise oder auch wiederholt Unterstützung aus der Grundsicherung erhielten. Demgegenüber stehen aber auch Menschen, die in diesem Zeitraum ihre Hilfebedürftigkeit beenden konnten, zum Beispiel durch die Aufnahme einer Arbeit. Was wir dem Bericht leider entnehmen können, ist, dass es noch nicht in ausreichendem Maße gelingt, Hilfebedürftigkeit dauerhaft zu beenden. 40 Prozent derjenigen, die Hartz IV bezogen haben, sind spätestens nach einem Jahr erneut auf staatliche Unterstützung angewiesen. Die Zahl bedeutet aber auch, dass es eben zu 60 Prozent gelang, Hilfebedürftigkeit längerfristig oder dauerhaft zu beenden. H. A.: Ich bin und bleibe ein Verfechter des Prinzips Fördern und Fordern, wenn es konsequent und mit Augenmaß angewandt wird. Die richtige Idee liegt ja darin, dass wir in Deutschland den traditionellen Ansatz der „Umverteilung“ durch die Betonung der „Aktivierung“ abgelöst haben. Es heißt nichts anderes, als dass jene, die keine Erwerbsarbeit haben, aber staatliche Unterstützung erhalten, verpflichtet sind, im Rahmen ihrer Möglichkeiten eine Gegenleistung für die gewährte Hilfe zu erbringen. Dazu gehört unter anderem die Verbesserung der Beschäftigungsfähigkeit, wie zum Beispiel durch die Teilnahme an Weiterbildungs- oder Trainingsmaßnahmen oder auch an Arbeitsgelegenheiten. Mit einer aktivierenden Arbeitsmarktpolitik möchten wir die individuelle Eigenverantwortung und Eigenkompetenz stärken. Dies kann und darf nicht falsch sein. Aktivierender Staat bedeutet letztendlich Teilhabe zu organisieren, statt Menschen außerhalb der Gesellschaft zu „versorgen“. sf: Vertreten Sie die Auffassung, dass Vollbeschäftigung in Deutschland möglich ist? Wenn ja: Welche Bedingungen der Möglichkeit sind dafür erforderlich? H. A.: Vollbeschäftigung würde ja in der Theorie bedeuten, dass Angebot und Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt ausgeglichen sind. Dies würde zunächst voraussetzen, dass alle Arbeitnehmer bedingungslos flexibel und mobil sind. Wir haben derzeit rund 300.000 offene Stellen und dies sind nur die Arbeitsplätze, die der Bundesagentur gemeldet sind. Nach unseren Hochrechnungen liegt das gesamtwirtschaftliche Stellenangebot bei 1,1 Millionen. Dies zeigt, wie schwierig es ist, sowohl einen qualitativen als auch quantitativen Ausgleich am Arbeitsmarkt zu realisieren. Wir müssen uns aber auch ehrlich die Frage stellen, wie viele Personen in Deutschland zum Beispiel durch gesundheitliche Einschränkungen, durch jahrelange Arbeitslosigkeit oder durch persönliche Lebensumstände, realistisch gesehen, nicht mehr in den ersten Arbeitsmarkt vermittelt werden können. Wenn es uns gelingt, diese Menschen zu erreichen und zum Beispiel durch organisierte öffentliche Arbeit langfristig am Erwerbsleben teilhaben zu lassen, dann könnten wir einen Schritt in Richtung Vollbeschäftigung in Deutschland gehen. Die Arbeit geht uns zumindest auch in Zukunft nicht aus ... sf: Welche Auffassung vertreten Sie selbst zum Thema „bedingungsloses Grundeinkommen“? Halten Sie in diesem Zusammenhang das Argument für bedenkenswert, dass auch in Ihrer Behörde enorme Potenziale frei werden würden, die für unsere Gesellschaft an anderer Stelle dringend vonnöten sind – zum Beispiel in Bildung, Pflege und aktivem Umweltschutz? H. A.: Die Idee des „bedingungslosen Grundeinkommens“ ist bisher nicht praxistauglich. sf: Gab es und/oder gibt es Untersuchungen Ihrer Agentur, die die Auswirkungen der Alg-I- und Alg-II-Regelungen hinsichtlich der Verarmung, aber insbesondere der Altersarmut betrachten? Zu welchen Ergebnissen sind diese Untersuchungen gekommen? Halten Sie selbst es für angemessen, dass eine lebenslang angesparte Rücklage aufgrund unverschuldeter Arbeitslosigkeit weggenommen wird und damit die Altersarmut erst erzeugt – und machen diese Enteignungen volkswirtschaftlich betrachtet überhaupt Sinn? H. A.: Als Bundesagentur für Arbeit ist es unser gesetzlicher Auftrag, bei Arbeitslosigkeit Entgeltersatzleistungen zu zahlen oder im Sinne von Hartz IV gemeinsam mit den Kommunen dafür zu sorgen, dass Menschen in unserer Gesellschaft existenzsichernd leben können. Die 48 Nachgefragt Bundesregierung gibt jährlich einen Armuts- und Reichtumsbericht heraus, der natürlich auch die Gründe dafür beleuchtet, warum Armut im Allgemeinen und Kinder- und Altersarmut im Speziellen zunehmen. Es ist aber Aufgabe der Politik zu bewerten, ob die aktuelle Gesetzgebung diesen Zustand eher begünstigt oder nicht. Die Arbeitslosengeld-II-Regelungen zur Anrechnung von Vermögen sind nicht neu. Diese wurden weitestgehend aus der alten Arbeitslosen- und Sozialhilfe übernommen. Grundlage hierfür ist das Prinzip, dass der Staat dann einspringt, wenn man sich aus eigenen Mitteln nicht selbst helfen kann. Dies bedeutet, dass Einkommen und Vermögen zunächst zu verbrauchen sind. Angesparte Rücklagen werden im Falle eingetretener Arbeitslosigkeit aber nicht willkürlich weggenommen. Es gibt Regelungen, wonach insbesondere Ersparnisse für die Altersvorsorge unangetastet bleiben. Außerdem gibt es einen Freibetrag in Höhe von 150 Euro je Lebensalter. Am Beispiel eines Ehepaares, beide 50 Jahre alt, entspricht dies einem Vermögen von 15.000 Euro. Der beste Weg, Altersarmut zu bekämpfen, ist, für stabile und lange Erwerbsbiografien zu sorgen. sf: Die Bundesregierung und die BA setzen auf das Instrument Kurzarbeit. Kurzarbeit und Arbeitslosigkeit erzeugen einen immensen Verlust an Produktivität. Wer seine regelmäßige Arbeit zehn Monate oder länger verloren hat, gilt nach verschiedenen Untersuchungen bereits als arbeitsunfähig. Ihre Partei hätte mit einem Bruchteil der heutigen großzügigen Ausgaben an das Finanzmarktkapital hier Abhilfe leisten können. – Wie denken Sie heute darüber? H. A.: Ich bin ein großer Befürworter des Instruments Kurzarbeit, denn Kurzarbeit sichert Arbeitsplätze. Kurzarbeit bedeutet für mich nicht gleichzeitig Verlust von Produktivität. Unsere derzeitigen Erfahrungen zeigen, dass Kurzarbeit lediglich zu einem durchschnittlichen Arbeitsausfall von 30 Prozent führt. Gegenüber den Unternehmen werben wir dafür, dass diese 30 Prozent für die Weiterbildung der Beschäftigten genutzt werden. Dies entlastet zum einen das Unternehmen finanziell und zum anderen erhöht dies die Beschäftigungsfähigkeit der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Nach der Krise gehen sie mit neu erworbenem Wissen an den Start und verbessern damit natürlich auch ihren eigenen Marktwert. sf: Sie bewerben Kurzarbeit in einer breit angelegten Kampagne. Im Rahmen des Konjunkturpakets II wurde die mögliche Bezugsdauer von sechs auf 18 Monate erhöht. Der entscheidende Vorteil aus dem Konjunkturpaket II wird den Arbeitnehmern aber vorenthalten. Die zugunsten der Arbeitnehmer rückwirkend vorgenommenen Änderungen des Einkommensteuertarifes werden in den Nettoentgelttabellen, die der Berechnung des Kurzarbeitergeldes zugrunde liegen, nicht berücksichtigt. Folge: Das Kurzarbeitergeld fällt geringer aus. Warum ändern Sie das nicht sofort? H. A.: Diese Frage müssen Sie der Politik stellen. Als BA wenden wir das Gesetz an. In der Rolle als Berater der Politik haben wir auf diese Situation hingewiesen. sf: Stichwort „Rente ab 67“: Haben die verschiedenen Maßnahmen Ihrer Einrichtung zu einer erkennbaren Steigerung der Beschäftigungsrate in der Altersgruppe der 60- bis 65-Jährigen geführt? Wie würden Sie selbst eine erkennbare Steigerungsrate, die die Heraufsetzung des Rentenalters sinnvoll erscheinen lässt, definieren? Oder findet hier de facto eine Rentenkürzung ihren Anfang? H. A.: Zunächst einmal ist die Erhöhung der Beschäftigung von Älteren erklärtes Ziel der europäischen Länder und in den beschäftigungspolitischen Leitlinien der EU verankert. Darin steht, dass die Gesamtbeschäftigungsquote älterer Arbeitnehmer mindestens 50 Prozent betragen soll, verbunden mit einer Verringerung der Arbeitslo- strassen|feger Ratgeberausgabe 2009 sigkeit. Damit hat Deutschland einen eindeutigen Auftrag erhalten, den wir als BA natürlich in der Umsetzung unterstützen, zusammen mit dem BMAS zum Beispiel mit dem Beschäftigungsprogramm „50plus“. Und dies tun wir recht erfolgreich. Im letzten Jahr ist die sozialversicherungspflichtige Beschäftigung Älterer über 55 Jahre gegenüber 2007 um 7,5 Prozent gestiegen. Für mich persönlich ist es vor dem Hintergrund der demografischen Entwicklung wichtig, dass alle Gruppen der Gesellschaft am Arbeitsleben teilhaben können. Dazu zählen Menschen mit Migrationshintergrund, Geringqualifizierte, Frauen und hier insbesondere Alleinerziehende, Jugendliche und eben auch Ältere. Dies stärkt letztendlich auch den gesellschaftlichen Zusammenhalt. sf: Eine eher persönliche Frage: Wenn Ihre eigenen Kinder oder Enkelkinder oder die Ihrer Freunde oder Nachbarn auf die finanzielle Unterstützung nach SGB II angewiesen wären – welche berufliche Neuorientierung würden Sie sich für diese Personen wünschen? Meinen Sie, dass die JobCenter dazu in der Lage sind, die nötigen Perspektiven zu bieten? H. A.: In den JobCentern sind alle entsprechenden Kompetenzen gebündelt, sowohl von der Arbeitsagentur als auch von den Kommunen. Von daher hier ein eindeutiges Ja. Unsere Vermittlungsfachkräfte sind Experten und können die Arbeitsmarktchancen jedes Einzelnen einschätzen. Eine berufliche Neuorientierung ist natürlich ein wichtiger Schritt, der in die richtige Richtung gehen muss. Die Kolleginnen und Kollegen in den JobCentern leisten hier sehr gute Arbeit, auch wenn ich weiß, dass wir hier noch Verbesserungspotenziale haben. sf: Könnten Sie sich vorstellen, dass Sie und Ihre Familie wenigstens sechs Monate von den gegenwärtigen Regelsätzen leben? Welche Regelsätze wären Ihrer Meinung nach zum Überleben notwendig? H. A.: Ich denke, die Politik hat einen Regelsatz ermittelt, der das Existenzminimum absichert. Natürlich muss man sich in dieser Zeit einschränken, aber der Sinn einer Grundsicherung kann ja auch nicht darin bestehen, dauerhafte Erwerbslosigkeit zu finanzieren. Als Student habe ich mehrere Jahre auf dem Niveau der heutigen Grundsicherung gelebt. sf: Wie denken Sie über den Mindestlohn? Wie hoch muss Ihrer Meinung nach das Einkommen einer vierköpfigen Familie sein, dass es ihr zu einem normalen, angemessenen und kulturvollen Leben genügt? H. A.: Mindestlöhne können einen Beitrag zur Armutsbekämpfung leisten. Das Existenzminimum ist gesetzlich definiert. sf: Der Charakter der Arbeit wird sich grundlegend wandeln – von der bisherigen lebenslangen Arbeitsplatzbindung hin zur projektbezogenen Tätigkeit. Wie stellt sich Ihre Behörde darauf ein und welche Sicherungssysteme im Falle der Erwerbslosigkeit können Sie dann bieten? H. A.: In unserer Arbeitsweise haben wir uns bereits auf den Wandel der Arbeitswelt eingestellt. Wir denken nicht mehr in klassischen Berufsbildern, sondern in Kompetenzen, sowohl in beruflicher als auch persönlicher Hinsicht. Dies ermöglicht uns, den Vermittlungsprozess viel flexibler zu gestalten. Ein Tischler zum Beispiel kann nicht nur gut mit Holz umgehen, sondern ist kreativ, hat ein gutes Vorstellungsvermögen und arbeitet projektorientiert. Diese Kompetenzen eröffnen deutlich mehr Einsatzgebiete. strassen|feger Nachgefragt Quelle: wikipedia Ratgeberausgabe 2009 49 sf: Welche Folgen hat es für Sachbearbeiter und Fallmanager, wenn sie eindeutig gegen bestehendes Recht verstoßen, z. B. rechtswidrige Bescheide erlassen oder Eingliederungsvereinbarungen per Post verschikken? Wenn dieses Verhalten Folgen hat, welche und in wie vielen Fällen war das jährlich der Fall? H. A.: Wer grob fahrlässig oder vorsätzlich handelt, wird sanktioniert. Gott sei Dank sind dies nur wenige Einzelfälle. sf: Im April 2007 ist in Speyer ein junger Mann, der an Depressionen litt, nach Sanktionen durch das JobCenter verhungert. Bekanntlich sind Menschen mit derartigen Erkrankungen z. T. oft wochenlang nicht in der Lage, auf Post o. ä. zu reagieren oder die Wohnung zu verlassen. Was hat die BA unternommen, um mit solchen Menschen angemessen umzugehen und weitere Todesfälle zu vermeiden, indem man auf Sanktionen verzichtet oder diese aussetzt? H. A.: Der Fall ist natürlich dramatisch und erschütternd. Präventiv kann man durch einen engen Kontakt im Netzwerk mit Sozialämtern, medizinischen Diensten und dem Kunden Vorsorge treffen. sf: Es gibt keine wirklich professionelle und passgenaue Bildungs- und Berufsberatung sowie Betreuung durch Fallmanager. Insbesondere gibt es keine freiwillige Zielvereinbarung, sondern eine angeordnete Eingliederungsvereinbarung (dies wird auch als „Beratung im Sanktionskontext“ bezeichnet). Wie wollen Sie das in Zukunft verändern, verbessern? H. A.: Ihren ersten Satz möchte ich vehement bestreiten. Ich lade Sie gerne mal zu einem Besuch in ein JobCenter ein. Dort werden Sie sehen, wie professionell Bildungsberatung und Fallmanagement umgesetzt werden. Die Eingliederungsvereinbarung ist der individuelle Fahrplan zurück auf den Arbeitsmarkt und Ergebnis des Prinzips Fördern und Fordern. Der Gesetzgeber hat uns aufgefordert, mit jedem erwerbsfähigen Hilfebedürftigen eine solche Vereinbarung abzuschließen. Damit weiß jeder, wo er steht und was er von der BA oder der Kommune zu erwarten hat. sf: Wir bekommen häufig Berichte über fragwürdige Weiterbildungsmaßnahmen im Bereich des ALG II/MAE: Hochschulabsolventen müssen Bewerbungstraining machen, incl. Lebenslauf schreiben etc. Was soll das den Menschen bringen? Form und Funktion: Verwaltungszentrum der BA in Nürnberg sf: Viel Kritik gibt es an den MAE-Maßnahmen. Der Bundesrechnungshof hat mehrmals festgestellt, dass die Maßnahmen häufig nicht zusätzlich und von öffentlichem Interesse sind. Was hat die BA unternommen, um diese gesetzeswidrigen Maßnahmen durch die Träger zu unterbinden? H. A.: Zusammen mit dem Deutschen Städtetag, dem Deutschen Landkreistag, dem Deutschen Städte- und Gemeindebund sowie der Freien Wohlfahrtspflege haben wir uns darüber unterhalten, wie wir öffentlich geförderte Beschäftigung im Rahmen der Grundsicherung gestalten können. Unisono haben wir uns darauf verständigt, dass Zusatzjobs keine regulären Beschäftigungsverhältnisse verdrängen dürfen. Entstanden ist eine gemeinsame Erklärung, die beschreibt, in welchen Bereichen Zusatzjobs sinnvoll sind, immer unter dem Aspekt der Zusätzlichkeit und dem öffentlichen Interesse. Außerdem gibt es in fast allen JobCentern Beiräte, die als beratendes Organ die Umsetzung der regionalen Arbeitsmarktpolitik begleiten. In den Beiräten sind alle Partner am Arbeitsmarkt vertreten. Damit ist gewährleistet, dass die Interessen aller Parteien Berücksichtigung finden. Ich denke also schon, dass wir als BA alles unternommen haben, um die Arbeitsgelegenheiten gesetzeskonform in der Praxis umzusetzen. H. A.: Weiterbildung kann nie schaden. Viele Hochschulabsolventen sind keine Bewerbungsprofis. Oder nehmen Sie einen Arbeitsuchenden, der 20 Jahre lang in seinem Ausbildungsbetrieb gearbeitet hat. Er musste sich noch nie um eine andere Arbeitsstelle bemühen. Die Bewerbung ist der erste Eindruck und somit die ganz persönliche Eintrittskarte in den Job. Umso professioneller sollte sie auch gestaltet sein und dies zu unterstützen ist richtig. sf: Die Bundesrepublik hat über Jahrzehnte „Sockelarbeitslosigkeit“ (laut DIW) aufgebaut, d. h., die Erwerbslosigkeit hat im Aufschwung nicht stärker abgenommen, als sie im darauf folgenden Abschwung wuchs. Damit einher ging wachsende Ungleichheit bei Einkommen. Was kann die BA diesbezüglich tun? H. A.: Die BA verbessert durch Aus- und Weiterbildung indirekt die Einkommensmöglichkeiten. Was wir auch tun können, ist die aktive Einbindung der Langzeitarbeitslosen in den Vermittlungsprozess. Und dies gelingt uns ganz gut. Immerhin haben wir heute 20 Prozent weniger Langzeitarbeitslose als noch vor einem Jahr. sf: Wir bedanken uns, dass Sie uns Gelegenheit gegeben haben, Ihnen Fragen zu stellen, die für viele Menschen sehr wichtig sind. 50 strassen|feger Schnittstelle Ratgeberausgabe 2009 Schnittstelle von Wolfgang Mocker Jetzt sind die Rettungsmaßnahmen der Regierung gegen die Finanzkrise endlich auch bei den Hartz-IV-Empfängern angekommen. Der Regelsatz wird ab Juli 2009 auf stolze 359 Euro erhöht. Gleichzeitig wurde Hartz IV gigantisch ausgeweitet. Bis tief in den systemisch wichtigen Finanzsektor hinein! Mittlerweile leben bereits ganze Großbanken von Staatsknete. Dadurch beschäftigt Hartz IV die Gerichte noch stärker als früher. Nicht nur, daß viele Langzeitarbeitslose gegen staatlich verordnete zwangseheähnliche Verhältnisse und Zahnbürsten-Razzien klagen, selbst Bankmanager versuchen sich auf ihren Arbeitsplatz zurückzuklagen. Oder wenigstens ordentliche Abfindungen und Ruhestandsbezüge vor Gericht rauszuholen. Schließlich haben gerade sie viele, viele Milliarden erwirtschaftet. Verluste zwar, aber dafür eigenhändig! Flankierend zu den Sozialmaßnahmen für notleidende Banken hat die Regierung zeitgleich die Geldstrafen drastisch erhöht. Steuerhinterzieher sollen nun ebenfalls stärker gefördert und gefordert werden. Immerhin können künftig saftige Geldstrafen zwischen 10,8 Millionen für einfache und 21,6 Millionen Euro für mehrere Straftatbestände verhängt werden. Dies dürfte jedoch nur echte Spitzenverdiener unter den Wirtschaftskriminellen treffen. Also eher die Ausnahmen. Die Kassiererin aus dem Supermarkt kommt bei Untreue bis 1,30 Euro auch weiterhin mit einer einfachen Kündigung davon. Müssen Reiche jetzt etwa richtig bluten? Sieht ganz so aus. Denn gerade für die Ärmsten der Reichen dürfte eine Geldstrafe von mehreren Millionen praktisch einer Enteignung gleichkommen. Manche sprechen in diesem Zusammenhang sogar von einer Todesstrafe light für Vermögende. Der erhöhte Hartz-IV-Regelsatz von 359 Euro gilt unter den Betroffenen – gerade wegen seiner Höhe – ebenfalls als eine Art Geldstrafe. Wofür? Na, für Arbeitslosigkeit natürlich. Und das mit Recht. Denn Arbeitslosigkeit ist schließlich auch ein schweres Wirtschaftsverbrechen. Sie würgt die Konjunktur ab und führt zu äußerst unbeliebten Mindereinnahmen beim Fiskus. Eine sächsische CDU-Abgeordnete forderte von Bundessozialminister Olaf Scholz nun auch noch eine Abwrackprämie für Hartzis. Nein, nicht was Sie denken – daß man für einen seit mindestens neun Jahren arbeitslosen Bürger nicht einfach einen niegelnagelneuen Hartz-IV- Empfänger bekommt, der sich von lediglich 2.500 Euro selbst finanzieren könnte, ist sogar der CDU klar. Es geht vielmehr darum, ob auch Hartzis für den Kauf eines Neuwagens die umweltzweckgebundene Prämie abzugsfrei erhalten sollen, oder ob die Mäuse ein einmaliges Sondereinkommen für Arbeitslose darstellen, das man von ihren Hartz-IV-Bezügen abziehen könnte. Mit anderen Worten: Dürfen auch Langzeitarbeitslose die Konjunktur ankurbeln? Oder müssen sie stur auf unbezahlte Arbeit in Form eines 1-Euro-Jobs warten? Der Hinweis auf die Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetz greift hierbei nicht. Oder doch nur ins Leere. Denn andernfalls müßten etliche Manager und Landesbankdirektoren ja längst Hartz-IV-Empfänger sein. Allen voran der Namenspatron aller Hartzis – Peter von und zu Hartz. Das heißt, der müßte eigentlich wegen Untreue in 44 Fällen sogar 15 Jahre lang Tüten kleben. Wenn alles mit rechten Dingen zugegangen wäre. Statt mit gelinkten Absprachen. Aber wir leben natürlich in einem freien Land. Nicht nur auf Chefetagen, auch im Kellergeschoß. Betteln zum Beispiel ist Langzeitarbeitlosen nicht verboten. Betteln ist keine Arbeit im Sinne des Sozialgesetzbuchs. Die Einnahmen aus dieser Tätigkeit gelten demnach nicht als Einkommen und dürfen nicht zur Senkung von Sozialleistungen mißbraucht werden. Das wäre glatter Sozialmißbrauch! Wie in Göttingen geschehen, wo ein staatlich bestallter Sozialamtsschimmel einen Hartz-IV-Empfänger tagelang und flächendeckend beim Betteln bespitzelt hatte. Auf die Kulanz des Göttinger Oberbürgermeisters sollten sich andere Arbeitslose aber nicht zu sehr verlassen. Sie war im Grunde nur wegen der Proteste der Öffentlichkeit gewährt worden. Ähnliche Symphatiekundgebungen aus der deutschen Bevölkerung sind bei den Seeräubern, die unsere Marine gerade im Golf von Aden geschnappt hat, nicht zu befürchten. Da die Freibeuter sich an einem deutschen Tanker vergriffen haben, gehören sie streng nach dem Gesetz eigentlich vor ein deutsches Gericht. Doch in diesem Fall will unser Rechtsstaat Milde walten und Gnade vor Recht ergehen lassen. Aus der CDU heißt es: Gnade den Seeräubern Gott! Wir werden diese Burschen nicht auch noch zum Asylverfahren einladen, sondern nach Kenia abschieben. Afrikanische Piraten sind so arm – die kann man nicht mal mit Hartz IV bestrafen. strassen|feger Impressum Ratgeberausgabe 2009 strassen|feger Mitglied im Partner im 51 ISSN 1437-1928 Herausgeber mob – obdachlose machen mobil e.V. Prenzlauer Allee 87, 10405 Berlin Tel.: 030 / 46 79 46 11 Fax: 030 / 46 79 46 13 Email: info@strassenfeger.org www.strassenfeger.org Redaktionsleitung Andreas Düllick CvD Scharmann Vorsitzende: Dr. Dan-Christian Ghattas, Lothar Markwardt, Andreas Düllick (V.i.S.d.P.) Redaktionelle Mitarbeit für die Ausgabe Lou Brass, Andreas Düllick, Dan-Christian Ghattas, Constanze von Haller, Jürgen Haunss, Simone Krauskopf, Mandy Merkel, Wolfgang Mocker, Dinah Persch, Martyn Ringk, Scharmann Titelbild Andreas Prüstel Rücktitel-Konzept „Dach über dem Kopf“ Anne Wenkel und Sebastian Quellmann Redaktion Prenzlauer Allee 87, 10405 Berlin Tel.: 030 / 41 93 45 91 eMail: redaktion@strassenfeger.org Karikaturen Andreas Prüstel, OL Satz und Layout carsten sauer Abo-Koordination & Anzeigen mob – obdachlose machen mobil e.V. 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Natürlich kostenlos und ohne Anmeldung und auch während der Ferien. Im Internet finden Sie uns unter www.arbeitsagentur.de. Die Berufsinformationszentren haben für Sie geöffnet: Agentur für Arbeit Berlin Nord Königin-Elisabeth-Str. 49 Mo, Di, Mi 14059 Berlin Do Tel. 5555 70 2199 Fr Agentur für Arbeit Berlin Mitte Friedrichstr. 39 10969 Berlin Tel. 5555 99 2626 Mo, Di und Mi, Fr Janusz-Korczak-Str. 32 Do 12627 Berlin Tel. 5555 89 2194 Agentur für Arbeit Berlin Süd Sonnenallee 282 Mo, Di, Mi 12057 Berlin Do Tel. 5555 77 2360 Fr 8.00 – 16.00 Uhr 8.00 – 18.00 Uhr 8.00 – 13.00 Uhr 8.00 – 16.00 Uhr 8.00 – 12.00 Uhr 8.00 – 18.00 Uhr 8.00 – 16.00 Uhr 8.00 – 18.00 Uhr 8.00 – 12.00 Uhr � � � � � � Foto: r.Werner Franke � � � ������ �� �� �� � � ������������������������������������������������������������������������ �������������������������������������������������������������������������������������������� ����������������������������������������������������������������������������������������������� ���������������������������������������������������������������� �������� ����������� ������������������������������������������ ���������������������������������������������������������������� ������������������������������������������������������������ ����������������������� ����������������������������������������������� ���������������������������������������������������� ����������������������� � ���������������������������������������������� � ������������������������������������������������������� � ����������������������������������������� � ������������������������������������������������ � ������������������ � ����������������������������������������������� � ������������������������������������������������������� � ����������������������������������������������� � ������������������������������������������������������� � �������������������������������������������������� � ������������������������������������������������������ � ������������������������������������ ���������������������������������������������������� ������������������������������������������������������������������� ������������� ���� ��� ������ ��������� ������� �������� ������������ ������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������ �������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������