Übergewicht bei Kindern und Jugendlichen
Transcription
Übergewicht bei Kindern und Jugendlichen
Zur Diskussion gestellt Übergewicht bei Kindern und Jugendlichen: Methodische Aspekte von Datenerhebung und -interpretation Anja Kroke, Wolfgang Sichert-Hellert, Anette Buyken und Thomas Remer, Forschungsinstitut für Kinderernährung, Dortmund Übergewicht bei Kindern und Jugendlichen stellt ein zunehmendes Problem auch in unserer Gesellschaft dar. Meinungen und Hypothesen zu dieser starken Zunahme sind zahlreich und z. T. widersprüchlich. Daher ist die Forschung gefragt, Erklärungen zu finden und Ansätze zur Prävention zu liefern. Derzeit wird verstärkt auf die körperliche Aktivität eingegangen, so dass der Eindruck entsteht, das Ernährungsverhalten spiele in diesem Kontext eine geringere Bedeutung. Eine kritische Betrachtung der vorhandenen Daten, die eine solche Sichtweise zu unterstützten scheinen, zeigt jedoch, dass die derzeitige Datenlage eine solche Einschätzung nicht eindeutig stützt. Im Folgenden wird an Hand einiger Studienbeispiele und Argumentationslinien die Interpretation von Studiendaten diskutiert und auf gängige methodische Probleme im Zusammenhang mit der Bestimmung der Energieaufnahme in ernährungsepidemiologischen Studien eingegangen. Schlussfolgernd lässt sich feststellen, dass die Rolle der Ernährung in der gegenwärtigen Diskussion zum Übergewicht bei Kindern wahrscheinlich unterschätzt wird. Einleitung Sowohl in der Fachpresse als auch in den allgemeinen Medien wird über die Besorgnis erregende Zunahme von Übergewicht und Adipositas unter Kindern und Jugendlichen und die daraus resultierenden gesundheitlichen Auswirkungen berichtet. Auch die in diesem Zusammenhang relevanten Organisationen, z. B. Ministerien, Vereine, Verbände, Krankenkassen und Firmen, vor allem aus dem Lebensmittelbereich, haben das Thema aufgegriffen, was die Bedeutung des Problems und die Breite der betroffenen gesellschaftlichen Bereiche illustriert. Allen Akteuren, Forschern wie Vertretern der genannten Gruppen, ist an der Prävention des Übergewichts sowie seiner Folgen gelegen. Die Meinungen und Hypothesen zu der Entstehung von Übergewicht und der starken Zunahme in den letzten Jahren sowie zu den Möglichkeiten erfolgreicher Prävention oder Therapie sind jedoch zahlreich und z. T. widersprüchlich. Neben wissenschaftlich Ernährungs-Umschau 52 (2005) Heft 1 basierten Argumentationen gibt es politisch, ideologisch oder durch vermarktungsorientierte Überlegungen motivierte Einschätzungen der Problematik. In der gegenwärtigen Diskussion wird häufig einseitig auf die Ursache Energieverbrauch – und damit auf körperliche Aktivität – eingegangen. Hingegen wird die Energieaufnahme und somit das Ernährungsverhalten als unwichtiger(er) Faktor angesehen. Eine wesentliche Frage ist daher zum einen, welche wissenschaftlichen Erkenntnissen vorliegen, die das Phänomen Übergewicht und seine Zunahme erklären, zum anderen, wie diese zur Lösung des Problems im Sinne einer effektiven und auf wissenschaftlicher Evidenz beruhenden Prävention eingesetzt werden können. Auf Grund der engen ethischen Grenzen experimenteller Forschung beim Menschen wird ein Großteil der Daten zur Entwicklung des Übergewichts mittels beobachtender epidemiologischer Studien gewonnen. Deren spezifische Limitationen in Bezug auf De- sign und Erhebungsmethodik führen jedoch zu Lücken in der Erkenntnis und zu sich daraus möglicherweise ergebenden Fehleinschätzungen [1, 2]. Ziel dieses Diskussionspapiers ist es zu zeigen, dass die derzeitige Datenlage bzw. die Interpretation dieser Daten eine Aussage nicht zulässt, die die Bedeutung der Ernährung als geringfügig ansieht. Daher wird der Einfluss der Ernährung in der gegenwärtigen Diskussion zum Übergewicht bei Kindern wahrscheinlich unterschätzt. Zunächst werden die Argumente genannt, mit denen ein eher geringfügigen Beitrag der Ernährung an der Entstehung von Übergewicht belegt wird. Diese werden dann dahingehend untersucht, ob sie sich aus den derzeitig verfügbaren Daten uneingeschränkt ableiten lassen. Weiter werden die methodischen Grenzen in der Erforschung von Ursachen des Übergewichts bei Kindern und potenzielle Fehlinterpretationen der Daten diskutiert. Diskussion Die gängigen Argumente Überernährung kann nicht die (Haupt-)Ursache des zunehmenden Übergewichts bei Kindern sein, weil: Argument 1: Im Laufe der letzten Jahre zahlreiche Studien zwar eine Zunahme des Übergewichts dokumentiert haben, aber keine gleichzeitige Zunahme der Energieaufnahme nachgewiesen werden konnte. Argument 2: Unterschiede in der Energieaufnahme zwischen Normal- und Übergewichtigen in vielen Studien nicht gezeigt werden konnten. Zu Argument 1 Beispielhaft für dieses Argument sind die Ergebnisse der amerikanischen nationalen Untersuchungssurveys 9 Zur Diskussion gestellt erwartete Werte von Troiano et al, 2000 beobachtete Werte alternative Hypothese Abb. 1: Graphische Darstellung der beobachteten mittleren Energieaufnahme für die verschiedenen Zeitpunkte der Querschnittsstudien NHANES I–III, die erwarteten Werte [6], sowie eine alternative Hypothese schoben hat [7], was sich nur durch eine Zunahme der Prävalenz von Leicht- und Untergewicht im gleichen Zeitraum erklären lässt, kann nicht von einer Zunahme der mittleren Energieaufnahme ausgegangen werden. Es hätte sich damit lediglich die Verteilungskurve verbreitert (Abb. 2). Naheliegender ist also wiederum eine Konstanz der mittleren Energieaufnahme. 3. Steigt die Prävalenz von Übergewicht in der Bevölkerung, nimmt auch die Zahl der Personen zu, die eine Reduktionsdiät durchführen. Das heißt, in den Studien der letzten Jahre ist die Wahrscheinlichkeit größer, gerade solche Personen zu untersuchen, die eine Reduktionsdiät machen. Dies gilt auch für Jugendliche, für die in verschiedenen Studien eine hohe Prävalenz des „Diäthaltens“ gezeigt werden konnte [8–12]. Auch das führt dazu, dass eher keine Zunahme der Energieaufnahme erwartet werden kann. Als grundsätzliche Anmerkung sei noch hinzugefügt, dass Querschnittsstudien meist nicht dazu geeignet sind, Ursache-Wirkungs-Beziehungen aufzuzeigen [13, 14]. Ein grundlegendes Postulat bei der Suche nach kausalen Beziehungen ist die korrekte zeitliche Sequenz: Die Ursache muss vor der Wirkung auftreten [15]. Da aber in Querschnittsstudien Ursache (hier Energieaufnahme) und Wirkung (hier Übergewicht) gleichzeitig erhoben werden, kann nicht abgeleitet werden, ob die unerwartet geringe berichtete Energieaufnahme Ursache oder vielmehr Folge der Zunahme des Übergewichts ist. Zu Argument 2 Zahlreiche Studien, überwiegend mit Erwachsenen, aber auch mit Kindern und Jugendlichen, konnten prospektiv BMI (NHANES I–III) [3–5]. Diese Studien finden in regelmäßigen Abständen statt und erheben gesundheits- und verhaltensrelevante Daten in jeweils bevölkerungsrepräsentativen Stichproben. Bislang liegen Daten zur Energieaufnahme und zum BMI aus den Jahren 1971–1974, 1976–1980 und 1999–2000 vor. In diesen drei Querschnittsstudien konnte keine (signifikante) Zunahme der Energieaufnahme bei Kindern und Jugendlichen festgestellt werden [6], obwohl sich in dem Untersuchungszeitraum von Anfang der 70er Jahre bis 1994 die Prävalenz von Übergewicht in etwa verdoppelt hat (von 5 auf 10 % bei 6- bis 17-Jährigen) [7]. Die Autoren folgern daraus, dass eine gesteigerte Energieaufnahme als Ursache für die Übergewichtsepidemie ausgeschlossen werden kann, da die Energieaufnahme entgegen den Erwartungen nicht zunahm. Vielmehr sei als Ursache eine zunehmende Inaktivität zu vermuten [6]. Die Interpretation der Daten scheint vordergründig plausibel. Eine differenzierte Betrachtung aber stellt diese Interpretation in Frage. Ansatzpunkt der Kritik ist die Annahme, die der Interpretation zu Grunde liegt. Demnach muss auf Grund der höheren Übergewichtsprävalenz die mittlere Energieaufnahme zugenommen haben und, umgekehrt schließt eine nicht zunehmende (mittlere) Energieaufnahme eine Steigerung der Energieaufnahme als Ursache der erhöhten Übergewichtsprävalenz aus. Wir meinen jedoch, dass diese Hypothese bzw. diese Erwartung nicht korrekt ist. Es wäre vielmehr eine Konstanz oder sogar eine Abnahme der mittleren Energieaufnahme zu erwarten gewesen, wie in Abbildung 1 dargestellt. Drei Erklärungsansätze lassen sich hierzu vorbringen: 1. Wenn, wie argumentiert wird, die körperliche Aktivität der Kinder und Jugendlichen über die Jahre deutlich abgenommen hat, dann ist auch deren Energiebedarf gesunken. Daher müsste eine reduzierte Energieaufnahme im Bevölkerungsmittel zu erwarten sein oder eine Konstanz, zumindest jedoch keine Zunahme, denn – auch dies sollte bedacht werden – die meisten Kinder und Jugendlichen sind nicht übergewichtig geworden. Unter Annahme einer generell reduzierten körperlichen Aktivität könnte sich Übergewicht also auch entwickeln, wenn die Energieaufnahme konstant bleiben und nicht den Veränderungen im Aktivitätsniveau folgend weniger Energie aufgenommen würde (vgl. Abb. 3). Damit ist die Annahme einer zunehmenden Energieaufnahme für die Gewichtung der Ernährungskomponente in der Energiebilanz nicht notwendig. 2. Auf Grund der Zunahme der Übergewichtsprävalenz kann nicht automatisch eine Zunahme der mittleren Energieaufnahme erwartet werden. Da sich der mittlere BMI kaum ver- Abb. 2: Schematische Darstellung der Verteilungskurven von Energieaufnahme und BMI aus den Querschnittsstudien NHANES I (1971–1974) und NHANES III (1999-2000) [3-5] 10 Ernährungs-Umschau 52 (2005) Heft 1 Zur Diskussion gestellt keinen Unterschied in der Energieaufnahme zwischen Normal- und Übergewichtigen finden [16–21]. Dies steht scheinbar im Widerspruch zu dem Konzept, dass eine Gewichtszunahme auf Basis einer sog. positiven Energiebilanz entsteht, also im Verhältnis zum Energieverbrauch eine zu hohe Energieaufnahme aufgetreten sein muss (vgl. Textkasten). Die meisten Personen nehmen langsam zu, in einem sich über Monate bzw. Jahre hinziehenden Prozess mit Phasen von Zunahme, teilweise auch Abnahme und Gewichtskonstanz. Daher sind die Unterschiede in der Energieaufnahme klein und möglicherweise häufig nicht nachweisbar, wie im Folgenden an Hand gängiger Ansätze der Methodenkritik erläutert wird. 1. Ein wichtiger Aspekt in diesem Zusammenhang ist die Dimension des zu erwartenden Unterschieds im Ernährungsverhalten von Normalgewichtigen und den Personen, die Übergewicht entwickeln. Auch hier soll wieder gefragt werden, was hinsichtlich der Energieaufnahme erwartet werden kann und in welchem Verhältnis dies zu den beobachteten Daten steht. Das im Textkasten genannte Rechenbeispiel verdeutlicht, warum in zahlreichen Studien keine Unterschiede in der Energieaufnahme zwischen Übergewicht entwickelnden und normalgewichtigen Personen festgestellt wurden. Wenn tatsächlich zum Erhebungszeitpunkt mehr gegessen wird, sind die Unterschiede in der Energieaufnahme wahrscheinlich relativ klein und akkumulieren erst über Monate bzw. Jahre zu der am veränderten BMI ablesbaren Gewichtszunahme. Unterschiede in dieser Dimension, die außerdem einer großen interindividuellen Variabilität unterliegen, können nur schwer erfasst werden und sind damit statistisch schwer zu sichern. Auch wenn Unterschiede in der Energieaufnahme bestehen, sind diese mit den zur Verfügung stehenden Messinstrumenten nicht ohne weiteres darstellbar. Bildlich gesehen bedeutet dies, einen Unterschied in Millimetern mit einem Maßband feststellen zu wollen, das nur über eine Zentimeterskalierung verfügt. 2. Wie bei Erwachsenen ist die Gruppe der übergewichtigen Kinder und Jugendlichen nicht homogen. Sie umfasst sowohl gewichtsstabile Personen als auch solche, die gerade ab- oder zunehmen. Bei Kindern und Jugendlichen muss zusätzlich das Wachstum Ernährungs-Umschau 52 (2005) Heft 1 beachtet werden, das mit Veränderungen der relativen Körpermasse und einem veränderten Energiebedarf einhergeht. Die „Phasen“ der Gewichtsveränderungen werden in den meisten Studien jedoch nicht berücksichtigt, sondern alle Übergewichtigen werden „in einen Topf“ geworfen. Weil außerdem das zahlenmäßige Verhältnis der oben genannten drei Gruppen zueinander nicht bekannt ist, sind Aussagen zum Erwartungswert der Energieaufnahme in der Gruppe der übergewichtigen Kinder nur schwer zu treffen. 3. Wie inzwischen an Hand zahlreicher kontrollierter Studien gezeigt wurde, neigen Übergewichtige zu stärkerem Underreporting als Normalgewichtige [22–24]. Sie geben also bewusst oder unbewusst weniger Lebensmittelverzehr an, als sie tatsächlich konsumieren. Die Untersuchungen zeigen: je mehr Übergewichtige, um so mehr Underreporting. Dies lässt auch aus methodischer Sicht keine deutliche Zunahme der mittleren Energieaufnahme in den Studiendaten erwarten. Insgesamt ist eine Zunahme der Häufigkeit des Underreporting festgestellt worden [25]. Zusätzlich wird die Leistungsfähigkeit der zur Verfügung stehenden Ernährungserhebungsinstrumente bei Kindern und Jugendlichen, und damit eine möglichst genaue Bestimmung der Energieaufnahme, eingeschränkt durch die Ungenauigkeit so genannter Proxyangaben. Angaben zum Lebensmittelverzehr von Kin- dern müssen über die Eltern gewonnen werden. Mit zunehmender Unabhängigkeit der Kinder bzw. Jugendlichen nimmt jedoch die Kenntnis der Eltern über den Verzehr ihrer Kinder ab. Andererseits fehlen Jugendlichen häufig noch lebensmittelspezifische Kenntnisse und das nötige Abstraktionsvermögen, um ihr Verzehrsverhalten überhaupt mit ausreichender Detailgenauigkeit beschreiben zu können. Genaue Wiege-Protokoll-Methoden verlangen eine sehr hohe Compliance, die in dieser Altersgruppe oft nicht zu finden ist. Entsprechende Untersuchungen stellen daher besondere Anforderungen hinsichtlich Motivation und Kontrolle der Compliance, was meist nur in kleineren Studien möglich ist. Hinzu kommen die bekannten Probleme in der Erfassung von Verzehrsmengen, wie die Ungenauigkeiten bei der Mengenbestimmung der verzehrten Lebensmittel. Häufig werden daher Standardportionsgrößen eingesetzt, so dass jegliche Unterschiede in Verzehrsmengen zwischen Normal- und Übergewichtigen verloren gehen. Weitere Informationsverluste können bei der Zuordnung der verzehrten Lebensmittel zu Angaben in Lebensmittel- und Nährstoffdatenbanken auftreten, da in aller Regel die Produktvielfalt in Erhebungen deutlich größer ist als die in den Nährstoffdatenbanken. Deshalb müssen häufig anstelle der tatsächlich verzehrten Produkte vermeintlich ähnliche Produkte aus der Datenbank eingesetzt werden. Auch hierdurch könn- Grundlegende Aspekte von Energieaufnahme und -verbrauch Übergewicht entsteht durch ein Ungleichgewicht von Energieaufnahme und Energieverbrauch (Abb. 3). Damit sind die beiden Hauptkomponenten des Energiestoffwechsels und auch die Hauptursachen von Übergewicht und Adipositas genannt. Wird in einem Zeitraum von einem Individuum mehr Energie aus der Nahrung (gemessen als kcal oder kJ) aufgenommen, als für Wachstum (bei Kindern), Stoffwechsel und körperliche Aktivität notwendig, werden Fettreserven angelegt – ein bei Mensch und Tier gleichermaßen bewährtes „Verfahren“, das Überleben in Notzeiten überhaupt erst ermöglicht. Als Faustregel für die Umwandlung überschüssiger Nahrungsenergie gilt: Etwa 10 kcal pro Tag über dem Energieverbrauch führen zu einer Körpergewichtszunahme von 1 g pro Tag. Da Übergewicht in der Regel nur langsam entsteht, könnte ein Überschuss an Nahrungsenergie von etwa 55 kcal pro Tag (Beispiele, s. u.) theoretisch zu einem Körpergewichtszuwachs von 2 kg im Verlauf von 12 Monaten führen. Diese Kalorienmenge entspricht bei 10- bis 13-Jährigen 2–2,5 % des durchschnittlichen Energiebedarfs pro Tag. 55 kcal sind beispielsweise enthalten in – 1⁄2 Becher Fruchtjoghurt, vollfett (50 g) – 1⁄2 Scheibe Vollkornbrot ohne Belag (27 g) – 1 Riegel Kinderschokolade (12 g) – 1 Hand voll Chips (10 g) – 8 Gummibärchen (16 g) 11 Zur Diskussion gestellt gen den Schluss zu ziehen, an der Erhebungsinstrunährung könne es nicht liegen, dass mente bei der Energieaufnahme Ausmaß und Häufigkeit von ÜbergeInterpretation wicht zunehmen, ist sicher falsch. Da der Daten es sich um ein Bilanzproblem handelt, berücksichtigt kommt beiden Komponenten der Biwerden muss. lanz eine gleichermaßen bedeutende Erkenntnisse in Rolle zu und Veränderungen der Bider Forschung 2. Energieungleichgewicht durch reduzierten Energieverbrauch bei lanz können auf Veränderungen einer sind das Resultat unveränderter Energieaufnahme oder beider Komponenten beruhen umfangreicher, Energieaufnahme (Abb. 3). methodisch adäWährend vergleichsweise viele Stuquater Studien dien zum Ernährungsverhalten in seund der angelektierten Studienkollektiven vorliemessenen Intergen, fehlen repräsentative Daten zur pretation der so Einschätzung des veränderten Ergewonnenen nährungs- und Bewegungsverhaltens Daten. Zur Be3. Energieungleichgewicht durch hohe Energieaufnahme bei unverändertem bei Kindern und Jugendlichen in antwortung der Energieverbrauch Deutschland. Damit bleibt spekulativ, Frage, wie ÜberEnergieaufnahme was sich stärker verändert hat, das gewicht beim Ernährungs- oder das BewegungsverMenschen enthalten. Die bisherigen Aussagen hiersteht bzw. welzu ergeben sich aus der Verallgemeiches die Gründe nerung von nicht repräsentativen Stufür die rasante dienergebnissen. Da BevölkerungsZunahme von gruppen, die besonders stark von der Übergewicht Abb. 3: Energiebilanz und Ursachen von Übergewicht [basieZunahme des Übergewichts betroffen sind, sind jedoch rend auf 33, 34] sind (z. B. Kinder aus Migranten- und Studien an bzw. sozial schwachen Familien) oft in den mit Menschen Forschungsprojekten unterrepräsentrotz ihrer methodischen Herausforten eventuell vorhandene Unterschietiert oder gar nicht vertreten sind, derungen unabdingbar. Eine valide de zwischen Normal- und Übergekönnen keine gesicherten Aussagen Beantwortung der Ursachenfrage würwichtigen in der Lebensmittelausüber das tatsächliche Ausmaß der entde die evidenzbasierte Grundlage für wahl, die sich auf die Energieaufnahsprechenden Veränderungen in unseprimäre und sekundäre Präventionsme auswirken, verwischt werden. Ein rer Bevölkerung gemacht werden. maßnahmen bilden. Aus den bislang weiteres, zunehmendes Problem bei Diesbezüglich wäre es wünschensvorliegenden Studien und AuswertunErnährungserhebungen ist der steigende Außer-Haus-Verzehr, da Art und Menge der Zutaten, insbesondere Zusammenfassung der Fettgehalt, unklar sind und damit Verzehrsmenge und Energieaufnahme Übergewicht bei Kindern und Jugendlichen: nicht genau ermittelt werden können. 1. Energiegleichgewicht Methodische Aspekte von Datenerhebung und -interpretation Fazit Die grundsätzliche Annahme, der mittlere Energieverbrauch müsse zugenommen haben, um der Ernährung bei der Entstehung der steigenden Prävalenz des Übergewichts eine bedeutende Rolle zusprechen zu können, ist aus konzeptionellen und methodischen Gründen problematisch. Die hier vorgestellten Überlegungen zeigen, dass alternative Hypothesen plausibel sind und damit auf den ersten Blick eindeutige Studienergebnisse durchaus anders interpretiert werden können. Im Weiteren zeigt die Auseinandersetzung mit den geläufigen methodischen Problemen im Rahmen von Ernährungserhebungen, dass insbesondere bei der möglichst genauen Bestimmung der Energieaufnahme die hierbei eingeschränkte Leistungsfähigkeit der verfügbaren Er- 12 A. Kroke, W. Sichert-Hellert, A. Buyken, T. Remer, Dortmund Übergewicht bei Kindern und Jugendlichen ist ein wachsendes Problem in unserer Gesellschaft. Zur Lösung dieses Problems im Sinne einer effektiven und auf wissenschaftlicher Evidenz beruhenden Prävention werden Studiendaten zu den Ursachen dieser Zunahme benötigt. Ein Großteil der Daten wird mittels beobachtender epidemiologischer Studien gewonnen. Deren spezifische Limitationen in Bezug auf Design und Erhebungsmethodik führen jedoch zu Lücken in der Erkenntnis, aber auch zu möglichen Fehleinschätzungen. So muss es als methodisch schwierig angesehen werden, die Energieaufnahme überhaupt, und von Kindern und Jugendlichen insbesondere, verlässlich zu messen. Gründe hierfür sind einerseits in der großen intra- und interindividuellen Variabilität des Ernährungsverhaltens zu finden, andererseits in der Geringfügigkeit der absoluten Unterschiede der Energieaufnahme zwischen gewichtsstabilen und an Gewicht zunehmenden Personen. Wegen dieser Schwierigkeiten, aber auch, weil für die Dateninterpretation gemachte Annahmen nicht immer schlüssig zu sein scheinen, konnte der Eindruck entstehen, dass die Ernährung im Kontext der zunehmenden Übergewichtsprävalenz eine eher untergeordnete Rolle spielt. An Hand konkreter Datenbeispiele und gängiger Methodenkritik wird aufgezeigt, warum die Rolle der Ernährung bei der Zunahme der Übergewichtsprävalenz wahrscheinlich unterschätzt wird. Ernährungs-Umschau 52 (2005), S. 9–13 Ernährungs-Umschau 52 (2005) Heft 1 Zur Diskussion gestellt wert, dem Vorbild anderer Länder folgend eine regelmäßige und alle Bevölkerungsgruppen einschließende Erhebung verhaltens- und gesundheitsrelevanter Faktoren durchzuführen, um Maßnahmen der Prävention bedarfsund zielgruppengerecht entwickeln zu können. Der derzeit laufende Kinderund Jugendsurvey (KIGGS) [26] ist ein erster Schritt in diese Richtung. Auch wenn sich einzelne Ernährungsparameter, wie die Energieaufnahme, nur annährend oder unter großem Aufwand darstellen lassen, gibt es andere und wichtige Gründe, Ernährungserhebungen deskriptiver und analytischer Art mit Kindern und Jugendlichen durchzuführen. Die Förderung von gesundheitserhaltendem und gesundheitsförderlichem Lebensund Ernährungsstil bereits in frühen Lebensabschnitten ist ein Anliegen, das für alle Kinder, also für normalund übergewichtige, von großer Bedeutung ist. Auch jenseits von Kalorien, Körperfett und körperlicher Aktivität gibt es Handlungsbedarf, um bereits gesetzte Ziele und Empfehlungen zu erreichen (z. B. 5-am-Tag-Kampagne, DGE-Ernährungsempfehlungen, FKE-Ernährungsempfehlungen). Die Daten der DONALD-Studie [27, 28] beispielsweise weisen darauf hin, dass in Deutschland selbst Kinder aus eher besser gestellten sozialen Verhältnissen und aus an Ernährungsfragen interessierten Familien einige dieser wichtigen Ernährungsempfehlungen nur selten erreichen [29–32]. Das Potenzial einer den bereits bestehenden Empfehlungen folgenden Ernährungs- und Lebensweise ist mannigfaltig und würde durch einseitige Betrachtung der körperlichen Aktivität als vorrangiges Interventionsziel sicher unterschätzt. Eine empfehlungsgemäße Ernährung ermöglicht dem Kind die Entfaltung seines geistigen und körperlichen Potenzials und ist wesentliche Grundlage der Primärprävention chronischer Erkrankungen im späteren Erwachsenenalter, einschließlich des Übergewichts. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13. 14. 15. 16. 17. 18. Literatur: 1. Ballard-Barbash, R.; Graubard, I.; KrebsSmith, S. M.; Schatzkin, A.; Thompson, F. E.: Contribution of dieting to the inverse association between energy intake and body mass index. Eur J Clin Nutr. 50: 98-106 (1996). 2. Slyper A. H.: The pediatric obesity epidemic: Causes and controversies. J Clin Endocrinol Metab 89: 2540-47 (2004). 3. National Center for Health Statistics: Plan and operation of the third National Health and Nutrition Examination Survey, United Ernährungs-Umschau 52 (2005) Heft 1 19. 20. States, 1971–1974. Vital Health Statistics I 10 (1973). National Center for Health Statistics: Plan and operation of the third National Health and Nutrition Examination Survey, United States, 1976–1980. Vital Health Statistics I 15 (1981). National Center for Health Statistics: Plan and operation of the third National Health and Nutrition Examination Survey, 1988– 1994. Vital Health Statistics I 32 (1994). Troiano, R. P.; Briefel, R. R.; Carroll, M. D.; Bialostosky, K.: Energy and fat intakes of children and adolescents in the united states: data from the national health and nutrition examination surveys. Am J Clin Nutr. 72 (5 Suppl): 1343S-1353S (2000). Troiano, R. P.; Flegal, K. M.: Overweight children and adolescents: description, epidemiology, and demographics. Pediatrics 101: 497-504 (1998). Worsley, A.; Worsley, A. J.; McConnon, S.; Solva, P.: The weight control practices of 15 year old New Zealanders. J Pediatr Child Health 26: 41-45 (1990). Brugman, E.; Meulmeester, J. F.; Spee-van der Wekke, A.; Beuker, R. J.; Zaadstra, B. M.; Radder, J. J.; Verloove-Vanhorick, P. S.: Dieting, weight and health in adolescents in The Netherlands. Int J Obes Relat Metab Disord 21: 54-60 (1997). Strauss, R. S.: Self-reported weight status and dieting in a cross-sectional sample of young adolescents: National Health and Nutrition Examination Survey III. Arch Pediatr Adolesc Med 153: 741-747 (1999). Neumark-Sztainer, D.; Rock, C. L.; Thornquist, M. D.; Cheskin, L. J.; Neuhouser, M. L.; Barnett, M. J.: Weight-control behaviors among adults and adolescents: associations with dietary intake. Prev Med 30: 381-391 (2000). Field, A. E.; Austin, S. B.; Taylor, C. B.; Malspeis, S.; Rosner, B.; Rockett, H. R.; Gillman, M. W.; Colditz, G. A.: Relation between dieting and weight change among preadolescents and adolescents. Pediatrics 112: 900-906 (2003). Hennekens, Ch.; Buring, J. E.: Descriptve Studies. In: Epidemiology in Medicine, pp111ff. Little, Brown and Company, Boston, Toronto, 1987 Grimes, D. A.; Schulz, K. F.: Bias and causal associations in observational research. Lancet 359: 248-252 (2002). Hill, A. B.: The environment and disease: association or causation? Proc R Soc Med 58: 295-300 (1965). Stefanik, P. A.; Heald, F. P. Jr; Mayer, J.: Caloric intake in relation to energy output of obese and non-obese adolescent boys. Am J Clin Nutr 7: 55-62 (1959). Kromhout, D.: Energy and macronutrient intake in lean and obese middle-aged men (the Zutphen study). Am J Clin Nutr 37: 295-299 (1983). Maffeis, C.; Talamini, G.; Tato, L.: Influence of diet, physical activity and parents’ obesity on children’s adiposity: a four-year longitudinal study. Int J Obes Relat Metab Disord 22: 758764 (1998). Mertz, W.; Tsui, J. C.; Judd, S. T.; Reiser, S.; Hallfrisch, J.; Morris, E. R.; Steele, P. D.; Lashley, E.: What are people really eating? The relation between energy intake derived from estimated diet records and intake determined to maintain body weight. Am J Clin Nutr 24: 291-295 (1991). Magarey, A. M.; Daniels, L. A.; Boulton, T. J.; Cockington, R. A.: Does fat intake predict adiposity in healthy children and adolescents 21. 22. 23. 24. 25. 26. 27. 28. 29. 30. 31. 32. 33. 34. aged 2–15y? A longitudinal analysis. Eur J Clin Nutr 56: 1046-1047 (2002). Bogaert, N.; Steinbeck, K. S.; Baur, L. A.; Brock, K.; Bermingham, M.A.: Food, activity and family – enviromental vs biochemical predictors of weight gain in children. Eur J Clin Nutr 57: 1242-1249 (2003). Prentice, A. M.; Black, A. E.; Coward, W. A.; Davies, H. L.; Goldberg, G. R.; Murgatroyd, P. R.; Ashford, J.; Sawyer, M.; Whitehead, R. G.: High levels of energy expenditure in obese women. Br Med J 292: 983-987 (1986). Trabulsi, J.; Schoeller, D. A.: Evaluation of dietary assessment instruments against doubly labeled water, a biomarker of habitual energy intake. Am J Physiol Endocrinol Metab 281: E891-899 (2001). Lissner, L.: Measuring food intake in studies of obesity. Public Health Nutrition 5: 889-892 (2002). Hirvonen, T.; Mannisto, S.; Roos, E.; Pietinen, P.: Increasing prevalence of underreporting does not necessarily distort dietary surveys. Eur J Clin Nutr 51: 297-301 (1997). Kurth, B. M.; Bergmann, K. E.; Hölling, H.; Kahl Kamtsiuris, P.; Thefeld, W.: Der bundesweite Kinder- und Jugendgesundheitssurvey – das Gesamtkonzept. Gesundheitswesen 64: S1-1 (2002). Kroke, A.; Manz, F.; Kersting, M.; Remer, T.; Sichert-Hellert, W.; Alexy, U.; Lentze, M. J.: The DONALD Study. History, current status and future perspectives. Eur J Nutr 43: 45-54 (2004). Kersting, M.; Alexy, U.; Kroke, A.; Lentze, M. J.: Nutrition of children and adolescents. Results of the DONALD Study. Bundesgesundheitsblatt Gesundheitsforschung Gesundheitsschutz. 47: 213-218 (2004). Kersting, M.; Alexy, U.; Sichert-Hellert, W.: Dietary intake and food sources of minerals in 1 to 18 year old German children and adolescents. Nutr Res 21: 607-616 (2001). Kersting, M.; Sichert-Hellert, W.; Alexy, U.; Manz, F.; Schöch, G.: Macronutrient intake of 1 to 18 year old German children and adolescents. Z Ernährungswiss 37: 252-259 (1998). Kersting, M.; Alexy, U.; Sichert-Hellert, W.: Vitamin intake of 1- to 18-year-old German children and adolescents in the light of various recommendations. Int J Vitam Nutr Res 70: 48-53 (2000). Sichert-Hellert, W.; Kersting, M.; Manz, F.: Fifteen-year trends in water intake in German children and adolescents: Results of the DONALD study. Acta Paediatr 90: 732-737 (2001). Prentice, A. M.; Jebb, S. A.: Obesity in Britain: gluttony or sloth? BMJ 311: 437-439 (2002). Heini, A. F.; Weinsier, R.L.: Divergent trends in obesity and fat intake patterns: the American paradox. Am J Med 102: 259-264 (1997). Korrespondenzanschrift: PD Dr. med. Anja Kroke, MPH Forschungsinstitut für Kinderernährung Institut an der Rheinischen FriedrichWilhelms-Universität Bonn Heinstück 11 44225 Dortmund E-Mail: Kroke@fke-do.de 13