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No.2 Juni 2014 WIG IT! Neue Weiblichkeit oder Kopftheater um nichts? Haut an Haut eine Geschichte vom stillen Verrat Botschaft Blondine HAIRmeneutik Bedeutung des Barttragens Lieber rot als tot! Haarige Angelegenheiten Claudia Schumacher im Interview t u a H n e n h e c r is a a w H Z d un Haare am Körper 20 SchmuckHaarSchmuck Franziska Paa Haarige Angelegenheit 22 Interview mit Claudia Schumacher Lena Clausen 26 Present Hair Marina Hoffmann Impressum Weft Die digitale Zeitschrift „Weft“ entsteht aus Seminararbeiten, die innerhalb der Studien- und Modulprüfungsleistungen in den Basis- und Aufbaumodulen der Vermittlung im Studienfach Mode-Textil-Design des 2-Fach-Bachelors Kulturwissenschaften der Universität Paderborn unter der Leitung von Prof. Dr. Iris Kolhoff-Kahl erbracht werden. Diese Ausgabe veröffentlicht die Artikel, die in den Seminaren „Hair Affairs - Haare zwischen Alltag, Kunst und Wissenschaft“ im Sommersemester 2013 und „Haut-Kleider“ im Wintersemester 2013/2014 entwickelt wurden. Für Inhalte und Bildrechte sind die Autoren und Autorinnen verantwortlich. Mitwirkende in dieser Ausgabe: Anna Kamneva, Franziska Paa, Helena Kampschulte, Hyejeong Jeong, Jasmina Saddedine, Jemima Wittig, Jennifer Janski, Kim Ernst, Larissa Cremer, Lea Schwarzwald, Lena Clausen, Lena Wisdorf, Lisa Merle Felgendreher, Maria Putignano, Marie Steiner, Marina Hoffmann, Mona Finke, Saskia Heyden, Sebastian Schwarz, Stefanie Schelenberg, Swenja Padur, Xenia Rohlmann Layout: Mona Finke Coverbild: © Schumacher, Claudia: Der Appetit kommt beim Essen (2003), claudiaschumacher.de ISSN 2364- 9704 31 Mächtige Männer, mächtige Bärte Lea Schwarzwald 36 HAIRmeneutik Jasmina Saddedine 40 Männer Macht und Haarpracht Swenja Padur 45 Langes Haar – kurze Gedanken? Lena Wisdorf 50 Frauenfreiheit und Frisur Saskia Heyden 55 Be a little more Beckham Helena Kampschulte 58 Lang ist gut, kurz rockt nicht Maria Putignano 62 WIG IT! Sebastian Schwarz 67 Wenn das Kopfhaar schwindet Lisa Merle Felgendreher 70 Das (Versteck-) Spiel mit der Glatze Larissa Cremer 74 Lieber rot, als tot Marie Steiner 80 Kopflast-Perücke Xenia Rohlmann 82 Botschaft Blondine Helle Köpfe im Nazi-Starkult Anna Kamneva Haut-Kleider 89 Sar(r)ed Franziska Paa 93 Bin ich wirklich mein Spiegelbild? Swenja Padur 98 Read me - Wenn deine Haut dich verrät Jemima Wittig 104 Haut an Haut Lea Schwarzwald 106 Haut-Eng Stefanie Schelenberg 108 „Stickdermitis“ Marina Hoffmann 112 Wenn Menschen vor Laternen laufen und Punkerinnen es nicht glauben können Jasmina Saddedine 116 Häute brauch' ich, Taschen mach' ich Kim Ernst 118 Defect Balm Helena Kampschulte Inhaltsverzeichnis 06 Die Haar-Essenz der Biennale Anna Kamneva 10 Axilla - fein, feminin und frisch gewaschen Mona Finke 11 Women’s body hair removal Hyejeong Jeong 15 Leidfrage: Wie intim ist es wirklich? Jennifer Janski Frisurenspielraum Frisurenspielraum Haare am Körper 06 Die Haar-Essenz der Biennale Anna Kamneva 10 Axilla - fein, feminin und frisch gewaschen Mona Finke 11 Women’s body hair removal Hyejeong Jeong 15 Leidfrage: Wie intim ist es wirklich? Jennifer Janski 20 SchmuckHaarSchmuck Franziska Paa Haarige Angelegenheit 22 Interview mit Claudia Schumacher Lena Clausen 26 Present Hair Marina Hoffmann 04 31 Mächtige Männer, mächtige Bärte Lea Schwarzwald 36 HAIRmeneutik Jasmina Saddedine 40 Männer Macht und Haarpracht Swenja Padur 45 Langes Haar – kurze Gedanken? Lena Wisdorf 50 Frauenfreiheit und Frisur Saskia Heyden 55 Be a little more Beckham Helena Kampschulte 58 Lang ist gut, kurz rockt nicht Maria Putignano 62 WIG IT! Sebastian Schwarz 67 Wenn das Kopfhaar schwindet Lisa Merle Felgendreher 70 Das (Versteck-) Spiel mit der Glatze Larissa Cremer 74 Lieber rot, als tot Marie Steiner 80 Kopflast-Perücke Xenia Rohlmann 82 Botschaft Blondine Helle Köpfe im Nazi-Starkult Anna Kamneva http://groups.uni-paderborn.de/kolhoff-kahl/ Abb. 1-3: „Wer spricht so?“, befragte Kunsthistorikerin Abigail Solomon-Godeau das Medium Dokumentarfotografie.14 J.D. ’Okai Ojeikeres Hairstyles sprechen für sich – doch können wir die Haar-Botschaften auch lesen? Mit freundlicher Genehmigung: © J.D. 'Okhai Ojeikere, Courtesy MAGNIN-A, Paris. Abb. 1 Die Haar-Essenz der Biennale So archaisch und kühn offenbarte die Kunstbiennale von Venedig ihren Weltausstellungscharakter zuvor nur selten. Nichts Geringeres als einen Tempel des Weltwissens wollte der Kurator Massimiliano Gioni für die Dauer der 55. Schau von Juni bis November 2013 errichten – ein Vorhaben, das heute nur im Kontext der Kunst ernst genommen werden kann. Wer den Enzyklopädischen Palast erobern wollte, kam nicht an J.D. ’Okai Ojeikeres Hairstyles vorbei. Der Mikrokosmos der fotografischen Sammlung nigerianischer Frauenfrisuren illustrierte die eigentümliche Weltordnung im Makrokosmos der Gesamtausstellung und modulierte Muster für ihre Rezeption. Zwischen Körper und Bild Dunkle Zöpfe, verstrickt zu scheinbar lebendigen organischen Ornamenten, metallisch glänzende Spiralkronen, die an den Haupt der gezähmten Gorgone Medusa erinnern, fragile Gerüste, die illusorisch der Schwerkraft trotzen – als führten die Haare afrikanischer Frauen ein Eigenleben. Die Dokumentation der Hairstyles, von denen eine Auswahl in Venedig zu besichtigen war, wurde zum Lebenswerk des kürzlich verstorbenen nigerianischen Künstlers J.D. ’Okai Ojeikere (1930-2014), der seit 1968 Traditionen verschiedener ethnischer Gruppen seines Heimatlandes 07 06 Fotografien afrikanischer Frisuren von J.D. ’Okai Ojeikere Abb. 3 Abb. 2 anhand des Haarmotivs in mehr als 1000 Fotografien festhielt. Ein Panorama aus 50 x 60 cm großen Gelatinsilberdrucken kreiste den Besucher direkt nach dem Betreten der Zentralausstellung im Arsenale ein. Ein Rundgang bescherte sinnliche Erkenntnisse: die Abgebildeten, deren Gesichter nur selten zu sehen sind, wurden selbst zum Ornament, dessen Erfassen an der Unmöglichkeit scheiterte, eine Wiederholung im Rapport ausfindig zu machen. Als stünden die Haare stellvertretend für die sozialen Konstrukte, die den Menschen formen, anonymisieren, aber auch Raum für Individualität und den Ausdruck eigener Kunstfertigkeit geben. Die Fotografien der Bildwerke, die direkt am Körper entstehen, verleiten nicht nur zur Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von unserem natürlichen zum sozialen Körper, der dem Kunst- und Medienwissenschaftler Hans Belting1 zufolge selbst ein Bild ist2, sondern führen uns zu den Wurzeln der bildanthropologischen Urfrage: warum machen Menschen Bilder? Eingeflochtene Geschichte Ojeikeres Fotografien spiegeln eine Kultur zwischen Wandel und Beständigkeit auf eine Weise wider, bei der Objektivität3 und Emotion4 kein Widerspruch ist. Die Hairstyles sind wichtige Zeitzeugnisse, aber auch Abb. 4 Ausdruck des persönlichen Interesses des Künstlers für die zeremonielle Bedeutung von Frisuren in Nigeria. Diese stehen für entschiedene Lebensereignisse im Leben einer Frau wie Beschneidung, Reifezeremonie, oder Hochzeit5 und reflektieren den gesellschaftlichen Status ihrer Familie.6 In die Haare sind Geschichten eigeflochten: „In the state of Cross River for example, when an Effik princess marries, the elaborateness of her hairstyle is determined by the number of servants that she has had since her birth. The hair of her servants is cut and saved in preparation for this day. The more hair they had cut, the longer the princess’ hair“7, erzählt Ojeikere. Die kunstvollen Gebilde, die der Künstler selbst als skulptures for a day8 bezeichnete, sind, wie ihre fo- Abb. 5 tografischen Abbildungen, Zeugnisse und Fetische der Vergangenheit. Die Fotografie als Medium, das in der westlichen Kultur als eine Art memento mori9 mit der Vergänglichkeit konnotiert ist10 und in der Heimat des Künstlers oft mit dem tödlichen Akt des Seelenraubes in Verbindung gebracht wird11, hält einen Moment aus einer persönlichen und kollektiven Geschichte fest und idealisiert sie auf eine melancholische Weise. Paradox scheint die Dialektik zwischen Vergänglichkeit und Speicherung nicht nur in der Fotografie: die Haare selbst, als das am längsten Beständige an unserem sterblichen Körper, werden bei Ojeikere der Flüchtigkeit der Skulpturen für einen Tag entgegengesetzt und symbolisieren das Verschwinden der Traditionen und Rituale, festgehalten in einem Moment ihres Soseins für die Ewigkeit. So schienen Ojeikeres Arbeiten die alexandrinische Utopie vollständiger Wissensversammlung, die Gioni halb ironisch, halb ernst zum Leitsatz der 55. Biennale erwählte, als übermütig zu entlarven. In der venezianischen Wunderkammer konnte kaum einer die nigerianischen Haar-Botschaften lesen: In der notorischen Abneigung gegen jede Notwendigkeit einer Konzeptergründung, staunten die Zuschauer über die Schönheit des Andersartigen in jener Faszination vor fremden Bildern, die unsere Imagination anregt. Möglicherweise wäre aber jeder Versuch einer semantischen Annäherung an Ojeikeres Werk aus westlicher Sicht auch nur Haarspalterei gewesen. Denn ist die Postkolonialismus-Debatte als unentbehrliches Prisma unserer kulturellen Brille bei der Rezeption afrikanischer Kunst für seine Arbeiten wirklich relevant? Sollen wir die Problematik der im Westen überwundenen Zuordnung der Weiblichkeit Einsturz des Weisheitspalastes der angewandten und der Männlichkeit der höheren Kunst, die bei Ojeikere traditionsbedingt13 Bestand Bei der Biennale erlebten Ojeikeres Hairstyles eine hat, kritisch hinterfragen? Vielmehr lassen die Hairdoppelte Entfremdung. Obwohl sich der Künstler um styles das Selbstverständnis abendländischer Gegenaue Informationen zur Herkunft und Bedeutung wissheiten anzweifeln. jeder Frisur bemühte12, waren diese für den Ausstellungsbesucher nicht ersichtlich. Auch die Traditionen Anna Kamneva hatten sich seit Ende der 60er Jahre im kulturellen Dynamisierungsprozess vermischt, angepasst, wurden ausgelöscht oder als Skelette der vergangenen Zeiten zum Kunstwerk erhoben. Fußnoten 1 Kunsthistoriker und Medienwissenschaftler Hans Belting veröffentlichte im Jahr 2001 seine bildtheoretische Abhandlung Bild-Anthropologie, die Gioni zu seiner Konzeption der 55. Biennale inspirierte. Vgl. Gioni, Massimiliano, Interview in: Art. Das Kunstmagazin. 28. November 2012. <http://www.artmagazin.de/szene/57033/massimiliano_gioni_interview> 2. Februar 2014. 2 Vgl. Belting, Hans: Bild-Anthropologie. Entwürfe für eine Bildwissenschaft. Fink. München 2001, S.20. 3 Vgl. Magnin, André (Hg.); Ojeikere J. D. ’Okhai: J. D. 'Okhai Ojeikere – Photographs. Scalo. Zürich 2000, S.14. 4 Vgl. Ebda, S.62. 5 Vgl. Ebda, S.52, vgl. Melis, Wim (Hg.): Africa inside. Noorderlicht. Groningen 2000, S.129. 6 Vgl. Ebda. 7 Ojeikere, J.D. ’Okhai, in: Magnin, André (Hg.); ders.: J. D. 'Okhai Ojeikere – Photographs. Scalo. Zürich 2000, S.53. 8 Vgl. Ankündigung der Ausstellung der Werke von Ojeikere bei der Documenta 2007: <http://www.documenta12.de/uebersichtsdetails. html?L=0&gk=B&level=&knr=79> 2. Februar 2014. 9 Sontag, Susan: Über Fotografie. 18. Auflage. Fischer. Frankfurt/Main 2008, S.21. 10 Vgl. u.a. Barthes, Roland: Die helle Kammer. Bemerkung zur Photographie. Suhrkamp. Frankfurt/Main 1989. 11 Vgl. Magnin, André (Hg.): J. D. 'Okhai Ojeikere – Photographs. Scalo. Zürich 2000, S.54. 12 Vgl. Ebda, S.51. 13 Die Anfertigung von Frisuren ist in Nigeria ist ein Frauenhandwerk, dessen Kenntnisse von Mutter zu Tochter weitergegeben werden. Vgl. Ebda, S.53. 14 Vgl. Solomon-Godeau, Abigail: Wer spricht so? Einige Fragen zur Dokumentarfotografie, in: Herta Wolf (Hg.): Diskurse der Fotografie. Fotokritik am Ende des fotografischen Zeitalters, Frankfurt am Main 2003, S. 53-74. Literatur Barthes, Roland: Die helle Kammer. Bemerkung zur Photographie. Suhrkamp. Frankfurt/Main 1989. Belting, Hans: Bild-Anthropologie. Entwürfe für eine Bildwissenschaft. Fink. München 2001. Bender, Wolfgang: J. D. `Okhai Ojeikere. Portraits afrikanischer Frisuren. Dritte Welt im Bild. EPD Entwicklungspolitik 9/10/2000. Ev. Publ. Frankfurt/Main 2000. Gioni, Massimiliano (Hg.): Il Palazzo Enciclopedico. The Encyclopedic Palace. 55th International Art Exhibition: La Biennale di Venezia. Vol. I. Exhibition. Marsilio. Venedig 2013. Magnin, André (Hg.); Ojeikere J. D. ’Okhai: J. D. 'Okhai Ojeikere – Photographs. Scalo. Zürich 2000. Melis, Wim (Hg.): Africa inside. Noorderlicht. Groningen 2000. Solomon-Godeau, Abigail: Wer spricht so? Einige Fragen zur Dokumentarfotografie, in: Herta Wolf (Hg.): Diskurse der Fotografie. Fotokritik am Ende des fotografischen Zeitalters, Frankfurt am Main 2003, S. 53-74. Sontag, Susan: Über Fotografie. 18. Auflage. Fischer. Frankfurt/Main 2008. Gioni, Massimiliano, Interview in: Art. Das Kunstmagazin. 28. November 2012. <http://www.art-magazin.de/szene/57033/massimiliano_gioni_interview> 2. Februar 2014. Documenta 12 Kassel, 2007: <http://www.documenta12.de/uebersichtsdetails.html?L=0&gk=B&level=&knr=79> 2. Februar 2014. 09 Abbildungen Abb.1: Ojeikere, J.D. ’Okhai – Mkpuk Eba, 1974. Mit freundlicher Genehmigung: © J.D. 'Okhai Ojeikere, Courtesy MAGNIN-A, Paris. Abb.2: Ojeikere, J.D. ’Okhai – Onile Gogoro Or Akaba, 1975. Mit freundlicher Genehmigung: © J.D. 'Okhai Ojeikere, Courtesy MAGNIN-A, Paris. Abb.3: Ojeikere, J.D. ’Okhai – Shangalti, 1971. Mit freundlicher Genehmigung: © J.D. 'Okhai Ojeikere, Courtesy MAGNIN-A, Paris. Abb.4-5: Ausstellung der Werke von © J.D. ’Okhai Ojeikere bei der 55. Biennale in Venedig, dokumentiert von Florian Wortmann und Anna Kamneva. Abb.2: Achselhaare – Fotografie von Mona Finke, 2013 Women's Body Hair Removal Literatur Anonym: Partnersuche mit Körpergeruch: Perfektes Parfüm Marke „Eigenduft“. Aus: Taz.de. http://www.taz.de/!109602/ abgerufen am 17.06.2013 Eibl-Eibesfeldt, Irenäus: Die Biologie des menschlichen Verhaltens: Grundriß der Humanethologie. Piper Verlag. München 1995 Daré, Miriam: Beispiel einer Reaktionsbildung. Aus: System ubw. Zeitschrift für klassische Psychoanalyse, Nr. 1, 2005, S. 83-85 Hirsch, Mathias: Mein Körper gehört mir… und ich kann mit ihm machen, was ich will!. Psychosozial-Verlag. Gießen 2012 “you should be women, and yet your beards forbid me to interpret that you are so” (Macbeth, Act I Scene III) “that no rude goat find his way beneath your arms, and that your legs not be rough with bristling hair.” (Roman poet Ovid) According to a recent study, 99.71% of women in the UK and 98% of women in the United States had removed or were removing the hair from their legs, underarms, pubic area and eyebrows. Although the practice of hair removal causes some difficulties, such as skin irritation and expenses, the proportion of women's body hair removal has increased even in recent years (Toerien, Wilkinson, and Choi, 2005). The most common reasons for removing hair were linked to an ideal of beauty: many women believe that the practice of making their body skin hairless made them feel attractive and more appealing to men (Basow, 1991). Then, since when and why is female hairiness concerned as a beauty norm in western society, and what are its effects? And how are hairy women depicted in media or reality? This paper will discuss that female hairiness has been socially stigmatized as unfeminine or unattractive which causes prejudices against women with body hair by culturally constructed beauty ideals in western society. Picture 1: Hair- removal Products Ad.1. 1915. Photograph. Harper’s Bazaar. Sociological Images. By Lisa Wade. 24 May 2008. Web. 14 Aug. 2013. 11 10 Abb. 1: Portrait - Heidi Poschmann /© PIXELIO BEAUTY IDEAL AND SOCIAL STIGMA Picture 2: Waxing Ad for Girls. N.d. Photograph. Unik Wax Center. Sociological Images. By Lisa Wade. 25 July 2012. Web. 14 Aug. 2013. tuation of this convention of femininity. According to her, in many movies the true female hairiness is regarded as a taboo. In the romantic comedy Bridget Jones' Diary, the audience sees Bridget shaving her legs in order to prepare for her date. The interesting point is that the legs of the main character shaving were already shaven before. There is not a single hair on them! Such scenes are commonly shown in many Hollywood films or TV shows, which as an effect molds the idealized image of female body hair and consequently, female beauty standards, since movies also have a strong influence on the audiences' taste in fashion and lifestyle. This link that roots modern tastes in traditional believes, in fact, comes from folklore and myth which connect female body hair with evil, danger, promiscuity, ugliness and insanity(Lesnik-Oberstein 66-7). In 14th century Europe, a young fictitious woman named 'Wilgefortis' who is called by various names including Kümmernis (in German) was crucified by her father who had forced her to get married to a pagan prince. To avoid the unwanted marriage, Wilgefortis prayed to be malformed, then as the result of it, she sprouted a beard on her face. Her father became furious by the broken engagement and took his own daughter's life (Toerien and Wilkinson, 2003). Picture 3: PETA Campaign. N.d. Photograph. PETA. Sociological Images. By Lisa Wade. 26 Nov. 2011. Web. 14 Aug. 2013. Historical evidence of hair as a beauty ideal Picture 4: Hair- removal Products Ad.2. 1934. Photograph. Sociological Images. By Lisa Wade. 24 May 2008. Web. 14 Aug. 2013. Such cultural associations are not restricted only to media, but, throughout history, have caused a variety of types of discrimination against real women with body hair. For instance, in 16th century France where witch-hunting was common, people believed that the witches hairiness was their link to the devil. They captured women supposed to be witches and shaved their hair to remove the witch's power and the devil's protection. Moreover, later, in the 1800’s, the belief of body hair as a cause for wantonness spread among people and then, prostitutes and other sexually liberated women were regarded as naturally hairier than other women (Toerien and Wilkinson, 2003). Then, how has women's hairiness, which was such a serious matter that it could lead to being burned at the cross in the early period, developed in modern western society? The conclusion is, that the negative connotations of hairy women, although it might be less crucial in modern times, still hold true in a sense. Hairy women are frequently stigmatized as unattractive, lazy, fanatic feminists or as lesbians and masculine. Furthermore, such social stigma, which are rather abstract, do not remain that abstract for long, but regularly lead to discrimination in the actual world as well, like in the workplace for example. There are some documented cases of women who lost 13 12 tance to the change, owing to the connotations of The beginning of hair removal goes as far back as anci- immorality of being exposed and sexually attractive ent Egypt, Greece and the Roman Empire. According – and/or active, but by the mid 1930’s leg hair reto Sherrow, the reason for leg and pubic hair removal moval became so common among women that this in ancient Egypt and Greece lies in their belief that phenomenon was called a new “social convention”in the presence of such hair was “uncivilized.” (Sherrow, an article in the magazine Hygeia(Hope, 1982) . 67). And during the Roman Empire, wealthy – midd- The women's role as consumers which had been le and upper class Roman women practiced hair re- proven with the success of women's magazines (Zumoval regularly with razors, tweezers and depilatory ckerman 3-4), generated an intimate relationship creams(335). This tradition of women’s body hair re- between magazines and commercial industries (Scmoval which often indicates social class, was ended anlon 71). To sell feminine hygene products such as after the collapse of the Roman Empire, and then, no razors efficiently (Zeitz 202), magazines like Ladies’ more commonly engaged in among European wo- Home Journal and Harper’s Bazaar established new concepts of beauty and femininity: women needed men in the Middle ages(39). to practice their hair removal in order to present a On the other hand, during the early 1800s, hair re- clean and childlike appearance which is linked to a moval became a matter relevant to the beauty ideal: pure/ puritan femininity (Hope, 1982). although leg and armpit hair was not initially mentioned, facial hair was defined as “an affliction requiring Representations of female hairiness treatment” in beauty books (Toerien and Wilkinson, 2003). Then, since the 1920’s in the United States, women started “unveiling” their body via changes in To elaborate on this topic, it is essential to discuss fashion, such as the invention of rayon and the rising how female hairiness has been represented in wespopularity of sleeveless dresses (Brumberg 98). This tern society. As Alice Macdonald points out in her new trend in fashion encouraged women even more article, that visual media, such as movies, are partito remove their body hair. In spite of women's resis- cularly responsible for the confirmation and perpe- their jobs for not removing their own body hair. A waitress was fired because of a customer's complaint about her unshaven legs and a YMCA employee also lost her job for quite similar reasons based on issue about her hair (Toerien and Wilkinson, 2003). These are examples of extreme discrimination which indicate that even in contemporary western society, which is supposed to be the most liberate place at its most advanced time, for most women it is not possible to be totally free concerning a decision only considering their own body hair. Functions of female body hair which results in an image as a childlike figure without body hair. Furthermore, the conventional practice of hair removal restricts women within their child's passage to womanhood by diminishing women's adult sexual status which reflects the hierarchical relationship – control and obedience. Because of its association with youth and being obedient to be looked at, the hairless female body functions as a norm of feminine attractiveness as well(Lesnik-Oberstein 68f). Conclusion Hitherto, this text discussed various aspects of female body hair: body hair which is culturally perceived as the distinction between masculinity and femininity, has vast historical evidence of being stigmatized in western society as far as women are concerned. Subsequently emerges the ideal that women's silky – hairless skin as the beauty norm has been institutionalized by fashion, exploitation of the media and the patriarchal system, which have been argued so far. The most significant thing to understand about body hair is that its functions or symbolical meanings have not only been constructed in society determined by biology, but by culture. Therefore, it is not something insane or disgusting when someone does not follow the tacit rule which requires women to remove their body hair. Hair on women's bodies is just as natural as it is on a men's body. Traditionally, hairstyles that men and women have chosen address the cultural construction of gender, that is masculinity and femininity. It is not very different from the three functions which the hairless female body seemingly serves: “(a) it exaggerates the differences between women and men, (b) it equates female attractiveness with youth(Basow, 1991)” “and (c) it connotates the 'to-be-looked-at-ness' of a body”(Lesnik-Oberstein 68). Since our hair is malleable, compared to other parts of our body like the shape of our physique and the sound of our voice, it has been understood as a difference between the sexes and is used to exaggerate the gap between the two. Such a social perception has reinforced the gender demarcation line in a male-dominated society. Thus women who are in the inferior position, have to distinguish themselves from Hyejeong Jeong men, and present themselves as opposite as possible, Bibliography Basow, Susan A. "The Hairless Ideal: Women and Their Body Hair." Psychology of Women Quarterly 15 (1991): 83+. Print. Brumberg, Joan Jacobs. The Body Project: An Intimate History of American Girls. New York: Random House, 1997. Print. Hansen, Kirsten. "Hair or Bare?: The History of American Women and Hair Removal, 1914-1934." <http://history.barnard.edu/sites/default/files/inline/kirstenhansenthesis.pdf>, last accessed: 08/08/2013. Hope, Christine. "Caucasian Female Body Hair and American Culture." The Journal of American Culture 5.1 (1982): 93-99. Print. Lesnik-Oberstein, Karín. The Last Taboo: Women and Body Hair. Manchester: Manchester UP, 2006. Print Rigakos, Bessi, "University Students' Attitudes Towards Body Hair And Hair Removal: An Exploration Of The Effects Of Background Characteristics, Socialization, And Societal Pressures" (2010).Wayne State University. <http://digitalcommons.wayne.edu/cgi/viewcontent.cgi?article=1111&context=oa_dissertations>, last accessed: 08/08/2013. Scanlon, Jennifer. 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Flapper: A Madcap Story of Sex, Style, Celebrity, and the Women Who Made America Modern. 1st ed. New York: Crown, 2006. Print. Appendices Picture 1: Hair- removal Products Ad.1. 1915. Photograph. Harper’s Bazaar. Sociological Images. By Lisa Wade. 24 May 2008. Web. 14 Aug. 2013. Picture 2: Waxing Ad for Girls. N.d. Photograph. Unik Wax Center. Sociological Images. By Lisa Wade. 25 July 2012. Web. 14 Aug. 2013. Picture 3: PETA Campaign. N.d. Photograph. PETA. Sociological Images. By Lisa Wade. 26 Nov. 2011. Web. 14 Aug. 2013. Picture 4: Hair- removal Products Ad.2. 1934. Photograph. Sociological Images. By Lisa Wade. 24 May 2008. Web. 14 Aug. 2013. Leidfrage: Wie intim ist es wirklich? INTIM-FRI(RA)SUR BEI FRAUEN – EIN MODEPHÄNOMEN Wie Intimrasur das weibliche Selbstbild beeinflusst Wie frisiere ich meine Haare heute? Welche Frisuren sind gerade modern? Was hilft meinem Haar geschmeidig und glänzend auszusehen? Fragen, die häufig das weibliche Selbstbild prägen. Allerdings ist immer das Kopfhaar gemeint. Dabei lassen sich diese Fragen auch auf die Intimbehaarung bzw. Intimrasur beziehen. Im öffentlichen Diskurs jedoch wird der Intimbereich meistens außer Acht gelassen, obwohl es schon über Jahrhunderte hinweg Intimfrisur- und Rasurmethoden gibt. Im Laufe der Jahrhunderte entstanden immer wieder neue ästhetische Muster, die das Körperbild einer Frau bestimmten. Diese Muster werden von den gesellschaftlichen Konventionen sowie den patriarchalen Normen bestimmt. Verbreitet werden diese Vorstellungen durch Mund zu Mund Propaganda, aber auch durch Werbung, Film und Fernsehen. Frauen orientierten sich an diesen ästhetischen Mustern, sodass selbst eine nicht rasierte Scham als „frisiert“ angesehen wird, sofern es das aktuell vorgegebene Schönheitsideal darstellt. Heutzutage besitzt man zwangsläufig eine Intimfrisur, so gilt das Motto‚ auch nicht rasiert, ist man frisiert‘. Ob man das Schamhaar nun kurz oder lang, schmal oder breit, bunt oder normal, glatt oder buschig, trägt, jeder hat sie, die Intimfrisur. Oder mit Immanuel Kant gesprochen, man kann nicht außerhalb der Mode sein. Auch unmodisch ist modisch. „[…]Haare an Frauenkörpern [führen] zu Empörung, Ekel und Ablehnung[…]“ 1 15 14 Abb. 1: Lost. Abb. 3: Abfall. Historisch intime Haarfrisuren Die Intimrasur bzw. -frisur führt uns weit in die Geschichte der Menschheit zurück. Grundlegend war die Intimfri(ras)ur kulturell immer gegenwärtig. Die Menschen rasierten sich aus hygienischen, praktischen, ästhetischen oder religiösen Gründen. So galt Körperbehaarung, spezifische Intimbehaarung, frühzeitig als unangemessen und wenig attraktiv. Ein Beweis dafür sind altägyptische Grabmalereien und antike griechische Vasen mit Abbildungen glatt rasierter Frauenkörper. Durch die Rasur des Intimbereichs wurde die erstrebenswerte Reinheit und Jugendlichkeit eines Mädchens assoziiert, da mit der Geschlechtsreife eine blutige Unreinheit über die Frau gekommen sei. Die Rasur und die damit verbundene Entledigung des Haars implizierte eine Reinigung des Körpers von Schmutz und Blut. Da insbesondere Frauen sich seit jeher den damaligen, oft schmerzhaften Rasurtorturen unterwerfen mussten und auch noch heute auf ihr Äußeres und somit auch auf die gründliche Ganzkörperrasur bedacht sind, möchte ich die Geschichte der Intimfri(ra) sur im Folgenden am Beispiel der deutschen Frau in den 1920er Jahren bis zur heutigen Zeit betrachten und näher erläutern. 2 „[…] removal of body hair is equated with being feminine, whereas male body hair is synonymous with masculinity.“ 3 Abb. 4: Ingrid W. - Vulva unshaved, 2010. 1920er: Androgyn rasiert In den 20er Jahren kam es zu einem ästhetischen und kulturellen Wandel in der Gesellschaft. Das Selbstbild der Frau veränderte sich und die althergebrachten Vorstellungen wurden gebrochen. Dieser Wandel äußerte sich vorwiegend in der Mode. Kleider wurden beispielsweise kürzer und ärmellos. Das Erscheinen erster Fotos dieser Kleider und den dazu passenden Schnittmustern zur Nachahmung in Frauenzeitschriften lösten schnell Debatten und Auseinandersetzungen über die angemessene Repräsentation des weiblichen Körpers aus. Nicht nur die Ästhetik, sondern auch die Hygiene war dabei ein zunehmend wichtiger Aspekt, der zur Ganzkörperrasur beitrug. Die Kosmetikindustrie nutzte diesen Hype aus, um ihre Enthaarungsprodukte auf dem Markt zu etablieren, denn laut Werbung waren Weiblichkeit und Hygiene unabdingbar und Körperbehaarung eine Brutstätte für Bakterien. So wurden die Frauen von dem neuen Bild der Frau beeinflusst. Der nun rasierte bzw. frisierte Schambereich wurde das neue, von der Werbung vorgelebte, ästhetische Muster und erhielt die Symbolik der selbstbewussten und emanzipierten Frau. 4 16 1930er-40er: Naturbelassenes „Mutter“-Bild Während des Nationalsozialismus änderte sich die Vorstellung über der Intimbehaarung einer Frau und somit auch das vorherrschende ästhetische Muster des Frauenkörpers. Die naturbelassene Schambehaarung ersetzte die glattrasierte Scham und wurde das „neue“ gängige Schönheitsideal. Aufgrund der vorherrschenden Armut und des Krieges in dieser Zeit, war es den Frauen nicht möglich die Körperpflege aus den 20er Jahren beizubehal- Abb. 2: Gr. 1/6 Seite - Die Woche Nr. 29. 19.7.1924 in J. Djuren: Das Behaarte und das Unbehaarte http://irrliche.org/politische_kritik/achselhaare_rasur. htm#quellen abgefragt am 09.08.2013. ten, sodass der neue Modetrend ‚Intimrasur‘ nicht länger aufrechterhalten werden konnte. 5 „Removal of leg and underarm body hair became the female norm between the World Wars and has been attributed to advertising campaigns […]” 6 1950er: Nur das, was man sieht, wird rasiert Die Intimfri(ra)sur wurde in den 50er Jahren wieder zum Thema. Die aufkommende Strand-, Urlaubs- und Freizeitkultur und die damit einhergehenden knapper werdenden Bekleidungs- und Bademoden, führten langsam zurück zum Trend der Intimfri(ra)sur. Erneut konnte die Kosmetikindustrie von diesem Trend profitieren. Werbungen jeglicher Art suggerierten den Rezipienten Körperbehaarung als unattraktiv, unangenehm und unangebracht. Frauen wurden von dieser Werbung, aber auch durch die Bekleidungsmode und ihrem persönlichen Umfeld beeinflusst. Sie folgten in Teilen den für ihren Intimbereich sowie der allgemeinen Körperpflege vorgegebenen Schönheitsidealen. Dennoch war die Intimfri(ra)sur in den 50er Jahren noch nicht weit verbreitet, so kam es meist zu gar keiner oder nur zu einer Teilrasur des Intimbereichs. Die Entfernung von Achsel- und Unterarmbehaarung dagegen galt als Norm. Beine mussten nur rasiert werden, sofern ein besonders dichtes und dunkles Haarwachstum zu erkennen war.7 Abb. 5: Xmm - natural, untrimmed, 2001. Abb. 6: Natürlich. Abb. 7: Teilrasur. Abb. 8: Vollrasur. 60er - 70er (80er): Lass mir mein Schamhaar! Abb. 9: Frisur. Der Übergang des Trends der Intimbehaarung war von den 90er Jahren bis heute fließend. Die Intimfri(ra)sur hat sich etabliert und gehört insbesondere bei Jugendlichen, im unterschiedlichen Maße, zur standardisierten Körperpflege. Gerade in der heutigen Gesellschaft stehen wir häufig unter sozialem Druck und Zugzwang. Wer nicht mit dem Trend geht, wird meist von der Gesellschaft ausgegrenzt. Auffällig ist, dass sich der Trend zur Intimfri(ra)sur über die Jahrzehnte parallel zur Bekleidungsmode verändert und entwickelt hat. Auch dort wird vor allem von Frauen, aber auch immer mehr von Männern darauf geachtet, sich dem Zeitgeist entsprechend zu kleiden, auch um sich vor der gesellschaftlichen Ausgrenzung zu schützen. So ist es auch im Bereich der Intimbehaarung. Heutzutage gilt das Motto: „[…]wer Anerkennung will, muss Fleisch zeigen.“ 11 Werbekampagnen für Dessous oder Parfüm, sowie Filme unterstützen diese Ent- Die Zeit der Hippie- und Emanzipationsbewegung ließ die Frauen sich mit ihrer natürlichen Körperbehaarung wohl fühlen, sodass üppige Bein-, Scham- und Achselbehaarung getragen wurde. Als ästhetisch wurde das angesehen, was von der Natur gegeben war. Die naturbelassene Körperbehaarung wurde zum Symbol der Befreiung und der Unabhängigkeit von den patriarchalen Normen. Auch in den Anfängen der 80er Jahre prägten die Einflüsse dieser Bewegung die zu der Zeit lebenden Frauen. Selbst Popstars, wie Nena, trugen noch in der Öffentlichkeit opulentes Achselhaar. Es gab kaum Frauen, die ihre Intimzone rasierten. 8 90er: Glatte Oberfläche – ständig verfügbar In den 90er Jahren wurde durch die Globalisierung und die Liberalisierung ein Bild von Weiblichkeit verbreitet, das die Körper- (Intim-)Rasur in Deutschland und Europa wiederholt zum Trend machte. Nicht zu unterschätzen ist dabei der Einfluss der Populärmedien auf die Frauen. Durch Abbildungen glattrasierter Frauenköper in Zeitschriften, Filmen, insbesondere in pornographischen Filmen und im Fernsehen wurde die Intimrasur und -frisur propagiert. Auch die Mode passte sich dem neuen Zeitgeist an. Bikinis und Reizwäsche wurden durch große Kampagnen beworben, sodass bekannte Bekleidungsgeschäfte große Verkaufsflächen für Reizwäsche zur Verfügung stellten. Die Erwartungshaltung der Männer und Frauen bezüglich des Frauenkörpers veränderte sich, wodurch sich folglich der Trend zur Teil- bzw. Vollrasur entwickelte. Jedoch gab es kein explizites Vorbild, an dem sich die Frauen orientieren konnten, da man in den 90er Jahren deutlich experimentierfreudiger hinsichtlich Intimfri(ra) suren und Sexualpraktiken war. Dabei spielte der Trend der Sexualpraktik ‚Oralsex‘ eine weitere entscheidende Rolle, denn durch die Rasur wurde diese Praktik als intensiver und hygienischer wahrgenommen. Da das Thema Intimfri(ra)sur in dieser Zeit sehr im Fokus der Öffentlichkeit stand, wurden einige individuelle Frisiermethoden erprobt. Der Phantasie waren keine Grenzen gesetzt, was dazu führte, dass verschiedene Muster, Farben oder die Vollrasur ausprobiert wurden. 9 Abb. 10: Farbe. Abb. 11: Schnitt. Fußnoten 1 Matthiesen, Silja; Mainka, Jasmin: Intimrasur als neue Körpernorm bei Jugendlichen. BZgA FORUM. 2011, S. 25. 2 Vgl.: Anonymus: Schönheit unter der Gürtellinie Schönheit unter... http://www. zeit.de/2009/29/Schoenheit/seite-4 abgefragt am 07.07.2013; Anonymus: Hauptsache Haare: Deutschland zwischen Wildwuchs und Intimrasur http:// www.spiegel.de/sptv/special/a-558182.html abgefragt am 08.07.2013; Borkenhagen, Ada; Brähler, Elmar: Die nackte Scham- theoretische und empirische Aspekte des aktuellem Trends zur weiblichen Teil-. Bzw. Vollintimrasur. Psychosozial-Verlag. 2008, S.7; Mayr, Daniel F.; Mayr, Klaus O.: Von der Kunst, Locken auf Glatzen zu drehen. Eine illustrierte Kulturgeschichte der menschlichen Haarpracht. Eichborn. Berlin 2003, S. 39 f. 3 Barrett, Michael; Bissell, Mary; D. Ph.: Smooth talking: The phenomenon of pubic hair removal in women. SIECCAN Newsletter. Vancouver 2010, S. 128 f. 4 Vgl.: Anonymus: Schönheit unter der Gürtellinie Schönheit unter... http://www. zeit.de/2009/29/Schoenheit/seite-4 abgefragt am 07.07.2013; Mayr, Daniel F.; Mayr, Klaus O.: Von der Kunst, Locken auf Glatzen zu drehen. Eine illustrierte Kulturgeschichte der menschlichen Haarpracht. Eichborn. Berlin 2003, S. 47-53; Borkenhagen, Ada; Brähler, Elmar: Die nackte Scham- theoretische und empirische Aspekte des aktuellem Trends zur weiblichen Teil-. Bzw. Vollintimrasur. Psychosozial Verlag. 2008, S. 7 5 Vgl.: dies.2008, S. 7 f. 6 Barrett, Michael; Bissell, Mary; D. Ph.: Smooth talking: The phenomenon of pubic hair removal in women. SIECCAN Newsletter. Vancouver 2010, S. 127. 7 Vgl. Borkenhagen, Ada; Brähler, Elmar: Die nackte Scham- theoretische und empirische Aspekte des aktuellem Trends zur weiblichen Teil-. Bzw. Vollintimrasur. Psychosozial-Verlag. 2008, S. 7 8 Vgl. Ebda. S. 8 f.; Mayr, Daniel F.; Mayr, Klaus O.: Von der Kunst, Locken auf Glatzen zu drehen. Eine illustrierte Kulturgeschichte der menschlichen Haarpracht. Eichborn. Berlin 2003, S. 53 f; Anonymus: Schönheit unter der Gürtellinie Schönheit unter... http://www.zeit.de/2009/29/Schoenheit/seite-4 abgefragt am 07.07.2013; Borkenhagen, Ada: Intimmodifikationen bei Jugendlichen. http://forum.sexualaufklaerung.de/index.php?docid=1425 abgefragt am 8.7.13 9 Vgl. Borkenhagen, Ada; Brähler, Elmar: Die nackte Scham- theoretische und empirische Aspekte des aktuellem Trends zur weiblichen Teil-. Bzw. Vollintimrasur. Psychosozial-Verlag. 2008, S. 8 f.; Anonymus: Schönheit unter der Gürtellinie Schönheit unter... http://www.zeit.de/2009/29/Schoenheit/seite-4 abgefragt am 07.07.2013; Borkenhagen, Ada: Intimmodifikationen bei Jugendlichen. http://forum.sexualaufklaerung.de/index.php?docid=1425 abgefragt am 8.7.13. 10 Borkenhagen, Ada: Intimmodifikationen bei Jugendlichen, 2011. http://forum. sexualaufklaerung.de/index.php?docid=1425 abgefragt am 08.07.2013. 11 Ebda. 12 Vgl. Borkenhagen, Ada: Intimmodifikationen bei Jugendlichen. http://forum. sexualaufklaerung.de/index.php?docid=1425 abgefragt am 08.07.2013; Anonymus: Hauptsache Haare: Deutschland zwischen Wildwuchs und Intimrasur http://www.spiegel.de/sptv/special/a-558182.html abgefragt am 08.07.2013; Anonymus: Schönheit unter der Gürtellinie Schönheit unter... http://www. zeit.de/2009/29/Schoenheit/seite-4 abgefragt am 07.07.2013, Borkenhagen, Ada; Brähler, Elmar: Die nackte Scham- theoretische und empirische Aspekte des aktuellem Trends zur weiblichen Teil-. bzw. Vollintimrasur. Psychosozial- wicklung. Junge Frauen von heute sind mit diesem Zeitgeist aufgewachsen und nichts anderes gewohnt. Aber auch heute ist der Sinn nach Hygiene und Ästhetik weiterhin Bestandteil der am häufigsten angegebenen Begründungen für eine Intimfri(ra)sur. Ähnlich wie in den 90er Jahren spielen auch Sexualpraktiken in diesem Zusammenhang eine wichtige Rolle. 12 „Und natürlich kann sich auch diese Mode, wie alle Moden, alsbald wieder ändern.“ 13 Die Intimfrisur hat sich im Laufe der Zeit häufig verändert. Sie wurde variiert und neu erfunden. Jedoch kamen Trends auch wieder zurück. So ist in Zukunft davon auszugehen, dass sich die Intimmode weiter wandeln wird. Es ist, wie bei jedem Modephänomen, nur eine Frage der Zeit. 14 Jennifer Janski Verlag. 2008, S. 9 ff., Matthiesen, Silja; Mainka, Jasmin: Intimrasur als neue Körpernorm bei Jugendlichen. BZgA FORUM 2011.S. 25-29; Barrett, Michael; Bissell, Mary; D. Ph.: Smooth talking: The phenomenon of pubic hair removal in women. SIECCAN Newsletter. Vancouver 2010, S. 127-130 13 Anonymus: Schönheit unter der Gürtellinie Schönheit unter... http://www.zeit. de/2009/29/Schoenheit/seite-4 abgefragt am 07.07.2013 14 Vgl. Borkenhagen, Ada: Intimmodifikationen bei Jugendlichen. http://forum. sexualaufklaerung.de/index.php?docid=1425 abgefragt am 08.07.2013.; Anonymus: Hauptsache Haare: Deutschland zwischen Wildwuchs und Intimrasur http://www.spiegel.de/sptv/special/a-558182.html abgefragt am 08.07.2013; Anonymus: Schönheit unter der Gürtellinie Schönheit unter... http://www. zeit.de/2009/29/Schoenheit/seite-4 abgefragt am 07.07.2013; Borkenhagen, Ada; Brähler, Elmar: Die nackte Scham. Theoretische und empirische Aspekte des aktuellem Trends zur weiblichen Teil-. bzw. Vollintimrasur. PsychosozialVerlag. 2008, S. 9 ff; Matthiesen, Silja; Mainka, Jasmin: Intimrasur als neue Körpernorm bei Jugendlichen. BZgA FORUM 2011.S. 25-29; Barrett, Michael; Bissell, Mary; D. Ph.: Smooth talking: The phenomenon of pubic hair removal in women. SIECCAN Newsletter. Vancouver 2010, S. 127-130 Literatur Barrett, Michael; Bissell, Mary; D. Ph.: Smooth talking: The phenomenon of pubic hair removal in women. SIECCAN Newsletter. Vancouver 2010 Borkenhagen, Ada; Brähler, Elmar: Die nackte Scham. Theoretische und empirische Aspekte des aktuellem Trends zur weiblichen Teil-. Bzw. Vollintimrasur. PsychosozialVerlag. Ort 2008 Kolhoff-Kahl, Iris: Ästhetische Muster-Bildungen. Kopaed Verlag. München 2009 Matthiesen, Silja; Mainka, Jasmin: Intimrasur als neue Körpernorm bei Jugendlichen. BZgA FORUM 2011 Mayr, Daniel F.; Mayr, Klaus O.: Von der Kunst, Locken auf Glatzen zu drehen. Eine illustrierte Kulturgeschichte der menschlichen Haarpracht. Eichborn. Berlin 2003 Internetquellen Anonymus: Schönheit unter der Gürtellinie Schönheit unter... http://www.zeit. de/2009/29/Schoenheit/seite-4 abgefragt am 07.07.2013. Anonymus: Hauptsache Haare: Deutschland zwischen Wildwuchs und Intimrasur http://www.spiegel.de/sptv/special/a-558182.html abgefragt am 08.07.2013. Borkenhagen, Ada: Intimmodifikationen bei Jugendlichen. http://forum.sexualaufklaerung.de/index.php?docid=1425 abgefragt am 08.07.2013. Abbildungsverzeichnis Abb. 1,3,6-11: Jennifer Janski - eigene Fotografie, 2013. Abb. 2: Gr. 1/6 Seite - Die Woche Nr. 29. 19.7.1924 in J. Djuren: Das Behaarte und das Unbehaarte http://irrliche.org/politische_kritik/achselhaare_rasur.htm#quellen abgefragt am 09.08.2013. Abb. 4: Ingrid W. - File:Pubic hair - Vulva unshaved.jpg, 2010. http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Pubic_hair_-_Vulva_unshaved.jpg abgefragt am 09.08.2013. Abb. 5: Xmm - File:Pubic Hair (natural, untrimmed) 01.jpg, 2001. http://commons. wikimedia.org/wiki/File:Pubic_Hair_%28natural,_untrimmed%29_01.jpg abgefragt am 09.08.2013. 19 18 „[…]wer Anerkennung will, muss Fleisch zeigen.“ 10 Hygiene Diktatur – oder wann wächst wieder Schamhaar? Zeit ab 1. Jahrhundert n. Chr. typischer Haarschmuck Bänder, Netze, Tücher, Kämme S ab 500 ab 1350 Haube (Kinnbinde + Stirnband) , Schapel (Reif aus Metall/ Stoff/Blumen), Schleier Bänder, Hauben, Hörnerhauben, Reife, Kränze, kleine Schleier ab ca. 1420 Bänder (teilweise mit Juwelen, Steinen und Perlen verziert), Netze, Hauben, Perlenschnüre, blütenförmige Schmuckstücke ab ca. 1620 Netze, Haarteile, Federschmuck, Perlenschnüre, Schmuckkämme, Schleifen, Bänder, Diademe, Nadeln (juwelen- und perlenbesetzt) ab 1715 ab 1789 Bänder, Häubchen, Nadeln (besetzt mit Blüten, Schmetterlingen und Edelsteinen), Figuren, Perlen, Schleifen, Federn, Blumenarrangements ab ca. 1815 Stoffblumen, Schleifen, Bänder, Perlenschnüre, farbige Federn, Tücher, Nadeln, Diademe, Juwelen, Tüll, Netze Blumen, Perlen, Bänder, Federn, Stirnbänder (mit einem Juwel in der Mitte), Steckkämme ab ca. 1840 Schleifen, Blumen, Spitzenschleier, Perlen, Einsteckkämme, Bänder, Netze 20. Jahrhundert Federn, Blüten, Tücher, Bänder SchmuckHaarSchmuck Der Käfer auf den Schopf, das Kabel um den Zopf Egal wo man hinsieht: überall die gleichen Trends, überall die gleichen Frisuren, überall der gleiche Haarschmuck. Da trägt die Frau neben einem genau die gleiche Haarspange, genau das gleiche Haarband. Kommt Ihnen das bekannt vor? Haben Sie es auch satt, wie die Nebenfrau auszusehen? Dann haben wir genau das Richtige für Sie! Wir bieten ungewöhnliche Haarschmuck-Unikate mit denen Sie garantiert aus der Masse herausstechen. Sei es mit dem spaßigen Spaghetti-Style für den Alltag oder der rockigen Rollmops-Rolle für den Abend – Sie ziehen auf jeden Fall alle Blicke auf sich. Dank unserer abwechslungsreichen Haarschmuckkreationen kommt beim Styling nie Langeweile auf. Und wir garantieren: Niemand wird so außergewöhnlich gut aussehen wie Sie. ES WERKELT 1 ES WERKELT 2 Franziska Paa ES NUDELT 1 ES NUDELT 2 ES WERKELT 3 ES FISCHT 1 ES FISCHT 2 ES FISCHT 3 ES NUDELT 3 Literaturverzeichnis Janecke, Christian (Hrsg.): Haare tragen. Eine kulturwissenschaftliche Annäherung. Böhlau Verlag. Köln 2004 Jedding-Gesterling, Maria; Brutscher, Georg (Hrsg.): Die Frisur: eine Kulturgeschichte der Haarmode von der Antike bis zur Gegenwart. Callway Verlag München. München 1988 Loschek, Ingrid: Reclams Mode- und Kostümlexikon. Reclam Verlag. Stuttgart 1999 ES KRABBELT 2 ES KRABBELT 3 Abbildungsverzeichnis: Alle Abbildungen: Franziska Paa, 2013 21 20 ES KRABBELT 1 Abb. 1: Claudia Schumacher – Der Appetit kommt beim Essen, 2003. Somit untersuchen Sie mit Ihren Arbeiten gewissermaßen ästhetische Empfindungsmomente und erforschen die gefühlsmäßige Ambivalenz der Besucher, wenn Sie mit dem Material Haar arbeiten? Ich erlebe es bei den Besuchern immer wieder, dass sie es einerseits schön finden, andererseits auch ganz irritiert sind, dass beispielsweise auf der Brust lange Haare sind. Später habe ich damit begonnen, durch die Wahl doppeldeutiger Titel die Irritation zu verstärken. Besonders stark kommt dies in der Arbeit „Der FrauenGlück“ zum Ausdruck. Was ist Frauenglück? Das lange Haar und die damit verbundene Aufmerksamkeit? Oder das Abschneiden der Haare als Akt der Befreiung? Also geht es in Ihren Arbeiten um Genderfragen und traditionelle Rollenzuweisungen? Genau, das ist immer stärker geworden. Aber ich glaube in der Arbeit „Der FrauenGlück“ ist es am stärksten. Gelten die gleichen Inhalte auch für die Arbeit „Haarfeger“? Abb. 2: Claudia Schumacher – Ohne Titel, 1997. Also im weitesten Sinne hat sie mit dem Genderaspekt zu tun. H Haarige Angelegenheiten Ein Interview mit der Aachener Künstlerin Claudia Schumacher tuch verrutscht und die Haare sind mit dem Gips verklebt. Beim Herauslösen aus der Form mussten mir die Haare abgeschnitten werden. Ich habe das Ganze dann gegossen und später waren die Haare und ein Teil meiner Wimpern und Augenbrauen in dem Positiv. Ich fand es damals ganz spannend, dass dieses lebendige Material Haar auf ein totes Material, wie den Gips, trifft. Daraufhin habe ich angefangen, zu experimentieren und mich damit zu beschäftigen, Sie verwenden in Ihren Arbeiten sowohl Faden als wie die Gesellschaft mit der Körperbehaarung umauch Haar, welches dem Faden strukturell ähnelt. geht und was dies für Auswirkungen auf den einzelWas können Sie mit dem Haar ausdrücken, was der nen Menschen hat. Ich fragte mich, was wäre, wenn Faden nicht zulässt? der Mensch irgendwann beschlossen hätte, lange Haare am Körper als ebenso schön zu empfinden wie Die Verbindung ist da weniger vom Textilen her. Die auf dem Kopf und was passieren würde, wenn man Haar-Objekte sind durch einen Zufall entstanden, da dies übertreibt. Wird es dann eigentlich wieder „äswar ich selber noch an der Universität. Bei dem Ab- thetisch“ oder empfinden die Menschen doch Ekel? druck, den ich von mir machen wollte, ist das Kopf- 22 Claudia Schumachers künstlerisches Ziel ist die Irritation. Das Haar in der Suppe darf mit Humor betrachtet werden, denn „der Appetit kommt beim Essen“ oder er entsteht bei diesem Interview zu ausgewählten Haar-Objekten der Künstlerin, die sich nicht nur als Bildhauerin sieht, sondern Zeichnungen, Objekte und Installationen in einem vielfältigen Repertoire vereint. Abb. 3: Claudia Schumacher – Der FrauenGlück, 2005. Abb. 4: Claudia Schumacher – Haarfeger, 2008. Sie haben bei dem Bild „Der Appetit kommt beim Essen“ die Nase gerümpft, als Sie sagten, dass dies kein Echthaar sei. Hat Sie in dem Moment der eigene Ekel vor dem Haar als „Fremdkörper“ gepackt? Wäre das Bild so nicht entstanden, wenn Sie Echthaar verwendet hätten? Ich glaube, das war gerade unbewusst. Ich habe mit Haaren überhaupt keine Berührungsängste. Ich empfinde es eher als befremdlich, dass Frauen und zunehmend auch Männer dazu neigen, ihren gesamten Körper zu rasieren und so androgyner und kindlicher werden. Haare sind etwas Natürliches. Gleichzeitig sind sie mit einer starken symbolischen Kraft aufgeladen. Dabei spielen Haarfarbe, Frisur oder die Länge der Haare eine Rolle. Das Abschneiden der Haare kann beispielsweise Machtverlust bedeuten oder den Statuts einer Person verändern. Ich finde den Widerspruch interessant: Auf dem Kopf wird der Haarverlust als „Schande“ empfunden; am restlichen Körper wird er bewusst herbeigeführt und wirkt sogar aufwertend. Sie sagten vorhin, dass die Haar-Objekte aus einem Zufall geboren sind. Wie finden Sie sonst Ihre Ideen? Was inspiriert Sie? Setzen Sie sich auch mit Bleistift und Papier an den Schreibtisch und grübeln, bis Ihnen eine Idee kommt? (lacht) Nein, das nicht. Das ist eher so, dass ich Dinge weiterdenke, zum Beispiel die HaarObjekte, da arbeite ich gerade an verschiedenen Haarbürsten. Zum anderen ist es so, dass ich Dinge auch einfach entdecke. Ich arbeite parallel beispielsweise an einer Fotoreihe, in der ich in der Stadt präsente Werbung festhalte. Gerade habe ich etwas entdeckt über einer Apotheke, da steht „Für immer haarfrei – 35€“. Einfach ein Banner an einem großen Balkon. Jeder der da auf den Bus wartet, sieht dieses Riesenplakat und das finde ich irgendwie seltsam. Diese Dinge sind mir einfach aufgefallen, sie sind ein Stück weit auf mich zu gekommen. Und dann denke ich die Anregungen natürlich weiter. Ihre Arbeiten wirken alle so, als könnten Sie die Form größtenteils selbst bestimmen. Es scheint, als haben Sie die „Klassische Bildhauerei“, die ja vor allem mit harten Materialien arbeitet, durch die Verwendung von Haaren und Textilien erweitert. Reihen Sie sich da in eine bestimmte Künstlertradition ein oder hatten Sie Vorbilder, die ebenfalls weiche Materialien in die Bildhauerei eingeführt haben? Aber gleichzeitig verwenden Sie die sehr langen, blonden Haare – ist damit vielleicht die hausfrauliche Perfektion gemeint? Kann die Arbeit als Anspielung auf die gesellschaftlich geprägte Erwartungshaltung an Frauen verstanden werden, immer perfekt gestylt zu sein und gleichzeitig einen tadellosen Haushalt zu führen? lange, blonde, glänzende, volle Haar und durch die Anordnung wollte ich diesen Aspekt verstärken. Verwenden Sie Echthaar in Ihren Arbeiten? Vielen Dank für das Interview. Lena Clausen Veranstaltungshinweis: Vom 22.9.2013 bis 12.1.2014 zeigt die LUDWIGGALERIE Schloss Oberhausen die Ausstellung „Hair! Das Haar in der Kunst von der Antike bis Warhol, von Tilman Riemenschneider bis Cindy Sherman“ Auch Claudia Schumacher wird mit einigen Arbeiten vertreten sein. http://www.ludwiggalerie.de/site/content/ausstellungen/vorschau/index_ger.html Homepage Claudia Schumacher: http://www.claudiaschumacher.de Homepage Ateliergemeinschaft Halle 1: http://www.halle-1.org Abbildung 1-4: Claudia Schumacher 25 24 Kaum, das bekommt man auch selten in der Länge. Deshalb sind die Haare oft künstlich. Die Kürzeren sind echt. Ich erhalte immer wieder Haare von FreunEs ist schon der Aspekt der klassischen Rollenteilung, den und Bekannten geschenkt, frage beim Friseur der daran gebunden ist. Gleichzeitig war es mir sehr nach oder kaufe Perücken. Für mich war es auch nie wichtig, dass die Arbeit etwas ganz Ästhetisches hat. so ein wichtiger Aspekt, mit der Echtheit des Haares Abgeschnittenes Haar wird allgemein als Abfall ange- zu spielen, sondern eher mit diesen ganzen Assozisehen. Sobald es vom Körper getrennt ist, wird meist ationen, die man mit dem Haar verbindet. kein Gedanke mehr daran verschwendet, was mit dem Haar geschieht. Wenn ich aber damit arbeite, gebe ich dem Abfall wieder einen Wert. Durch das Ich habe mit Stein, mit Holz und mit Ton gearbeitet, habe aber schon während des Studiums gemerkt, dass ich die aktuellen, dreidimensionalen Arbeiten, die in Richtung Rauminstallation gehen, viel spannender finde als die reine Bildhauerei. Ich habe mich schon früh für Arbeiten wie zum Beispiel von Rebecca Horn, Mona Hatoum und Rosemarie Trockel interessiert. Mich haben immer Frauen beeindruckt, die vielschichtig arbeiten. P Present Hair Schenken und Erinnern, das Haar als Present und Präsenz Das Kopfhaar gilt als das Wertvollste, was ein Mensch zu verschenken hat. Haben unsere Haare heutzutage nicht längst eine andere Bedeutungsebene erreicht? Sie beugen sich Modetrends, werden geschnitten, verlängert, gefärbt und verlieren somit an Ursprünglichkeit. Die Erinnerungskultur des Haares scheint mit jeder Blondierung mehr zu verblassen. Unsere Haare, unmittelbar mit dem Körper verbunden und biographisch aufgeladen, sind bei näherer Betrachtung ein besonders wertvolles und daher nur mit Bedacht vom Körper gelöstes und weitergegebenes Gut. Sie sind Erinnerungsträger eines menschlichen Lebens, können zu Geschenken verarbeitet und zur Liebesgabe werden. Auch wenn heute in der westlichen Kultur nur noch wenige Menschen dem Liebsten eine Locke als Zeichen der Zuneigung überreichen, versuchen Künstlerinnen und Künstler das Haar als Erinnerungsträger wieder präsent werden zu lassen. Die Hamburger Künstlerin Mariella Mosler beschreibt die Faszination von Haarobjekten so: „Haare bieten die Möglichkeit, den Körper auf eine andere Art und Weise zu thematisieren. Obwohl der Körper abwesend ist, ist er gleichzeitig präsent, verliert jedoch seine spezifische Individualität.“1 Was auch uns an diesen zuerst eher befremdlichen Haarobjekten fasziniert, und welche kulturellen und emotionalen Erinnerungen in ihnen verankert sind, verdeutlichen die Haargeschenke des 19. Jahrhunderts. „Ich schenk dir meine Locke, damit du immer an mich denkst.“ „Ein Haar fesselt stärker als eine Eisenschnur.“ 2 Haargeschenke Der kulturelle Gebrauch von Haargeschenken und Haargaben lässt sich bis in die ägyptische Kultur um 1300 v. Chr. zurückverfolgen. Dort wurden den Verstorbenen bereits Haare als Grabgaben beigelegt. In der Antike wird das Haar für Opfergaben und Geschenke an die Götter abgeschnitten und verbrannt. Aus Legenden und Märchen schließt man, dass fast dreitausend Jahre später zum ersten Mal wieder Haarobjekte als Geschenke auftauchten. Neben diesen Quellen gibt es noch zahlreiche weitere, die die Existenz von Haargeschenken und Haarobjekten im 16. und 17. Jahrhundert belegen. Jedoch wird das Verschenken und Tragen von Haarobjekten erst mit Beginn des 19. Jahrhunderts zu einem alltäglichen gesellschaftlichen Phänomen in bürgerlichen Kreisen.3 Blicken wir also 200 Jahre zurück in die Vergangenheit, werden uns die Haarobjekte als symbolisch aufgeladene Geschenke präsentiert. Das frühe 19. Jahrhundert, Zeit des Biedermeiers, ist geprägt von den Strömungen der Aufklärung und der romantischen Empfindsamkeit. Dem Vorbild des Denkenden steht die Freiheit des Fühlens gegenüber.4 Auf dieser Grundlage entwickelte sich ein überhöhter Freundschaftskult. In bürgerlichen und adeligen Kreisen wurde es modisch, Schmuck aus Haaren und stets eine Locke des oder der Liebsten bei sich zu tragen.5 Während einfache Haararbeiten vorerst nur in Heimarbeit gefertigt wurden, entwickelte sich das Handwerk in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts immer mehr hin zur Professionalisierung. Haarschmuck zu tragen war zu einem Trend geworden. Nicht immer wurde dabei das eigene Haar als Material verwendet. Um Schmuckstücke mit rein modischer Funktion herzustellen, verwendete man Tressen und Haarteile, die beim Friseur zu erwerben waren.6 Dass aus Haaren filigrane und künstlerisch hochwertige Objekte gefertigt wurden, ist für den Betrachter des 21. Jahrhunderts auf den ersten Blick irritierend, weil bürgerliche und auch adelige Frauen mit der Handarbeit derartig viel Mühe und Zeit für ein Haargeschenk investierten. Auch wenn heutzutage vereinzelnd noch immer Haarkunstobjekte hergestellt werden, haben diese in ihrer traditionell und gesellschaftlich verankerten Geschenktradition an Selbstverständlichkeit verloren und sind vermehrt aus dem Alltag gewichen. „Whose hair I wear I love(d) most.“ 7 geflochtene Band, ein traditionell in Hochzeiten verankertes Objekt, ist ein besonders intimes Geschenk, welches die Braut unter ihrem Kleid verbirgt. Es wird geschützt und kommt erst nach der Vermählung zum Vorschein. Dass Haarschmuck mit feinen Monogrammen und Inschriften verziert wurde, zeigt die gläserne Brosche aus dem 19. Jahrhundert (Abb.3), in deren Inneren eine liebevoll zur Schleife arrangierte Haarsträhne ruht. Umrahmt wird diese von einem Schriftzug, der eindeutig darauf schließen lässt, dass es sich dabei um eine Liebesgabe handelt. „Keep this as a small token of love“. Einen ganz anderen Charakter weisen die prunkvollen Ohrhänger, ebenfalls aus der Zeit des Biedermeiers, auf (Abb 2). Am Kopf getragen und in Szene gesetzt sind sie eindeutig ein Beispiel für das Modephänomen des Haarschmucks und verlieren auf den ersten Blick an repräsentativer Nähe. 27 26 Abb 1: Haarband, vermutlich Strumpfband, Mitte 19. Jahrhundert, Haar und Holz Die englische Königin Victoria (um 1840) trug stets eine Locke ihres Ehemannes Prinz Albert in Broschen oder Medaillons bei sich und verteilte ihre eigenen Haare innerhalb der Familie als Zeichen der Verbundenheit.8 Das Haarobjekt, als hübsches, handgefertigtes Geschenk und die damit einhergehenden emotionalen Verknüpfungen regen dazu an, uns selbst künstlerisch und ästhetisch mit unseren Haaren zu bschäftigen. Die einzelnen ausgefallenen, im Alltag eher als abstoßend wahrgenommenen Haare bekommen in einem neu geschaffenen künstlerischgestalterischen Zusammenhang in Form eines Objektes in unseren Augen eine neue Sinn- und Werthaftigkeit.9 Welche sinnliche Intimität den zarten Haargeschenken innewohnt, wird auch anhand des Beispiels eines Strumpfbandes aus dem 19. Jahrhundert deutlich (Abb.1). Das aus dunkelblondem Haar sorgfältig „Nur eine Locke von deinem Haar. Gib mir, mein Lieb, für die kalte Ferne!“ 10 Wie das Haar zum Objekt wird Mit den verschiedenen, teilweise durch Klosterfrauen und Aufzeichnungen aus alten Musterbüchern überlieferten Handwerkstechniken wie Klöppeln, Sticken, Weben oder Flechten, wurden Haare zu Ketten, Broschen, Ohrhängern und Armbändern verarbeitet. Die Haare wurden geflochten, als lose Locken in Medaillons verborgen oder als Ummantelung kleiner Schmuckstücke verwendet.11 Die historischen Haarobjekte bekommen ihre Wertigkeit durch ihre besonders hohe Handwerkskunst und vor allem durch die Einmaligkeit des Materials. Trotz optischen Ähnlichkeiten bleibt jedes Schmuckstück durch sein individuelles Material ein Unikat, das nicht toter Gegen- stand, sondern durch seinen Bezug zur Gegenwart als Seelenträger verstanden werden muss.12 In der aktuellen Crafting-Welle, die textile Handarbeiten wieder in Mode bringt, bieten sich auch künstlerische Materialtransformationen mit Haaren an. So zum Beispiel die von filigranen Mustern und Ornamenten durchzogenen Haararbeiten der Hamburger Künstlerin Mariella Mosler. Die geflochtenen Objekte, die immer unterschiedliche Formen aufweisen, mal ähneln sie einer Rosette, mal einer Schneeflocke oder Spirale, haben einen starken Bezug zum historischen Erinnerungs- und Trauerschmuck. Mosler entfernt sich jedoch von der biographischen Ebene, indem sie anonymisierte Handelsware für ihre Arbeiten verwendet. Die Haare, von Asiatinnen stammend, können nach ihren Wünschen industriell gebleicht und strukturell verändert werden. Das Haar wird in ihren Werken als menschliches Körperteil und kommerzielles Produkt in Form des Ornamentes zu einem Mittel, das die Kultur herausfordert, sie in Frage stellt und gleichzeitig erinnerungsspezifisch hervorbringt.13 Dass das eigene Haar bereits an unserem Kopf Träger von Erinnerungen, autobiographischen und kulturspezifischen Motiven ist, verdrängen wir heutzutage viel zu oft. Schnell wird das Haar zur toten Materie erklärt und aus dem kulturellen Rahmen herausgelöst. Kulturspezifische Bedeutungsebenen verlieren an Alltäglichkeit und die Haare werden zum Gebrauchsgegenstand und zur Funktionalität. Bereits der Verzicht darauf, das eigene Haar zu schneiden, deklariert dieses zu etwas Wertvollem und distanziert es vom „Haar-Abfall“.14 Unser abgeschnittenes Haar wird zwar im Alltag meist als Abfall abgetan, besitzt jedoch in anderen Kul- schmuck dienen, z. B. in Form von Kinderzöpfen, haben längst andere, digitale Medien ihren Platz eingenommen. Das Haar selbst wird im Alltag immer mehr zum Abfallprodukt deklariert und beugt sich Trends und Moden. Als Medium der Erinnerungskultur löst nun die Fotografie die haarigen Kunstwerke ab.15 Abb. 3: Keep this as a small token of love, Brosche um 1837 Haarige Erinnerungs-Kunst „Ist es nicht ein Erbarmen des Todes? Er zerstört alles, aber das Haar läßt er unangetastet.“16 nem weißen Tuch soll es an einen zurückliegenden Lebensabschnitt des Künstlers erinnern. Die Beischrift, übersetzt „Haare von Christian Boltanski auf einem Stück weißen Tuchs, im Oktober 1969 an 60 Personen verschickt“, macht deutlich, dass das hier ausgestellte Büschel nur exemplarisch für den von Boltanski an 60 Personen versandten haarigen Erinnerungsträger steht. Das Verschicken von abgeschnittenem und totem Die künstlerische Annäherung an das Haar als Er- Haar impliziert auf den ersten Blick eine Geste des innerungsträger haben auch Künstler des 20. Jahr- Abschieds. Boltanski, der wegen seinen künstlerihunderts nicht gescheut. Das Haargeschenk selbst schen Arbeiten als „Spurensicherer“ bezeichnet wird, weicht zwar anderen künstlerischen Interpretatio- verwendet das biographisch aufgeladene Haar, das nen, doch der Bezug zur Haarkunst bleibt erhalten. Zeuge eines vergangenen Lebens ist, jedoch als ein Der französische Künstler Christian Boltanski inter- Geschenk, das gegenwärtig erinnern soll.17 Die künstpretiert in einem seiner Werke das Haarmotiv auto- lerische und somit ästhetische Auseinandersetzung biographisch. In der Vitrine de Références (Vitrine mit dem eigenen oder gar fremden Haar ermöglicht, der Beziehungen, 1970) liegt, scheinbar beiläufig die Wahrnehmung zu erweitern. Das Haar, Teil des dort drapiert, ein dichtes, schwarzes Büschel krausen Körpers, wird vor unseren Augen zum Material und Haares neben anderen Objekten. Präsentiert auf ei- Kunstobjekt. 29 28 Abb. 2: Ohrhänger, um 1835, Haar, Draht und Jett-Perlen turkreisen noch weitereichende wirtschaftliche oder kulturelle Funktionsebenen. So verkaufen viele Asiatinnen ihr glattes, dunkles Haar, da dieses auf dem Markt stark nachgefragt wird und für die Herstellung von Perücken und Haartressen hoch im Kurs steht. Auch wenn im 21. Jahrhundert noch vereinzelt Menschenhaare als erinnernder repräsentativer Wand- Im späten 20. und 21. Jahrhundert beginnt eine Wiederentdeckung des Haarthemas auf künstlerischer und handwerklicher Ebene. Die Züricher Schmuckdesignerin Anna Kunz fertigt moderne Colliers aus Haaren an und setzt sich dabei mit traditionellen Haarflechttechniken auseinander. Ihre Arbeiten weisen sowohl alte Flechtmuster als auch neue Interpretationen des Biedermeier Haarschmucks auf. So fasst sie für ihr Haarpinsel-Collier (1997) Haare zu losen Büscheln zusammen und kombiniert diese mit filigran geflochtenen Elementen zu einer Kette.18 Haarschmuck ist für sie stets die Verkörperung von Gefühlen. Kunden müssen daher selbst Haare mitbringen, aus denen dann in traditioneller Handarbeit geflochtene und geklöppelte Colliers entstehen. Diese Rückbesinnung auf das in Vergessenheit geratene Kunsthandwerk, enthebt die toten Haare ihres Abfallstatus und macht sie in Form eines zeitgenössischen Schmuckstücks wieder zu etwas Wertvollem.19 Unsere Haare gewinnen in der modernen Gesellschaft wieder an Präsenz. Marina Hoffmann Fußnoten 1 Vgl. Schneede, Marina: Mit Haut und Haaren. Der Körper in der zeitgenössischen Kunst. DuMont. Köln 2002, S. 104. 2 Bächold-Stäubli; Hoffmann-Krayer: o.T.(1987) In: Tiedemann, Nicole: Haarkunst Böhlau. Köln 2007, S. 121 3 Vgl. Tiedemann, Nicole: Haarkunst. Zur Geschichte und Bedeutung eines menschlichen Schmuckstücks. Böhlau. Köln 2007, S.180-186 4 Vgl. Tiedemann, Nicole: Haarkunst. Zur Geschichte und Bedeutung eines menschlichen Schmuckstücks. Böhlau. Köln 2007, S. 193 5 Vgl. Schneede, Marina: Mit Haut und Haaren. Der Körper in der zeitgenössischen Kunst. DuMont. Köln 2002, S. 100 6 Jedding-Gesterlin, Maria. Brutscher, Georg: Die Frisur. Eine Kulturgeschichte der Haarmode von der Antike bis zur Gegenwart. Callwey Verlag. München 1988, S. 182 7 Smith, Clifford H.: Jewellery Aus: Tiedemann, Nicole:Haarkunst London 1908, S. 370 8 Vgl. Tiedemann, Nicole: Haarkunst. Zur Geschichte und Bedeutung eines menschlichen Schmuckstücks. Böhlau. Köln 2007, S. 260 9 Fayet, Roger: Haare-Abfall, Kompost und Kunst. Hinweise auf ein Gestaltungsphänomen. In: Meyer, Cornelia. Haare-Obsession und Kunst. Museum Bellerive. Zürich 2000, S. 29 10 Storm, Theodor: Gedicht: Nur eine Locke (1817-1888). In: Tiedemann, Nicole: Haarkunst Böhlau. Köln 2007, S. 264 11 Vgl. Tiedemann, Nicole: Haarkunst. Zur Geschichte und Bedeutung eines menschlichen Schmuckstücks. Böhlau. Köln 2007, S. 201 12 Vgl. Ebda. S. 319 13 Vgl. Spanke, Daniel: Ornament. Schönheit und Verbrechen. Kerber Verlag. Wilhelmshaven Kunsthalle 2003, S. 17-18 14 Fayet, Roger: Haare-Abfall, Kompost und Kunst. Hinweise auf ein Gestaltungsphänomen. In: Meyer, Cornelia. Haare-Obsession und Kunst. Museum Bellerive. Zürich 2000, S. 30 15 Richter, Isabel: Trauer verkörpern. Schmuck aus Haaren in der bürgerlichen Trauerkultur im 18. Und 19. Jahrhundert. In: Janecke, Christian (Hrsg.): Haar tragen. Eine kulturwissenschaftliche Annäherung Böhlau. Köln/Weimar/Wien 2004, S. 171 16 Rodenbach, George: Das tote Brügge. In: Tiedemann; Nicole: Haarkunst. Stuttgart 1966, S. 4 17 Schneede, Marina: Mit Haut und Haaren. Der Körper in der zeitgenössischen Kunst. DuMont. Köln 2002, S. 95 18 Fayet, Roger: Haare-Abfall, Kompost und Kunst. Hinweise auf ein Gestaltungsphänomen. In: Meyer, Cornelia. Haare-Obsession und Kunst. Museum Bellerive. Zürich 2000, S. 33 19 Vgl. Tiedemann, Nicole: Haarkunst. Zur Geschichte und Bedeutung eines menschlichen Schmuckstücks. Böhlau. Köln 2007, S. 295 Literaturverzeichnis Fayet, Roger: Haare-Abfall, Kompost und Kunst. Hinweise auf ein Gestaltungsphänomen. In: Meyer, Cornelia. Haare-Obsession und Kunst. Museum Bellerive. Zürich 2000 Jedding-Gesterlin, Maria. Brutscher, Georg: Die Frisur. Eine Kulturgeschichte der Haarmode von der Antike bis zur Gegenwart. Callwey Verlag. München 1988 Schneede, Marina: Mit Haut und Haaren. Der Körper in der zeitgenössischen Kunst. DuMont. Köln 2002 Spanke, Daniel: Ornament. Schönheit und Verbrechen. Kerber Verlag. Wilhelmshaven Kunsthalle 2003 Richter, Isabel: Trauer verkörpern. Schmuck aus Haaren in der bürgerlichen Trauerkultur im 18. Und 19. Jahrhundert. In: Janecke, Christian (Hrsg.: Haar tragen. Eine kulturwissenschaftliche Annäherung) Böhlau. Köln/Weimar/Wien 2004 Tiedemann, Nicole: Haarkunst. Zur Geschichte und Bedeutung eines menschlichen Schmuckstücks. Böhlau. Köln 2007 Abbildungsverzeichnis Abb. 1: Altonaer Museum in Hamburg. Haarband, vermutl. Strumpfband. Mitte 19. Jahrhundert. Material: Haar, Holz. Technik: Zopfgeflecht, Anhänger in Eichelform. L 33cm. Inv.-Nr. AM 1930/137 Abb. 2: Altonaer Museum in Hamburg. Ohrhänger. Um 1835. Material: Haar, Draht, Jett-Perlen. Technik: Posamentenarbeit. L 5,5cm. Inv.-Nr. AM 1999/227 a, b 30 Abb. 3: Peters, Hayden. Keep this as a small token of love. Brooch. 1837. www.artofmourning.com Abb. 1: Schnurrbart zum Mitnehmen – Macht zum Abreißen? Oder einfach nur hip? Mächtige Männer, mächtige Bärte Von Hitler zum Hipster Der frühe Mensch verteidigte sich mit seinen Zähnen. Bisse dienten dem Angriff von Rivalen und Feinden und der Bart der eindrücklichen Betonung der frühzeitlichen Drohgebärden, die vom Mund ausgingen. Die Behaarung des Gesichts ließ Kiefer und Kinn dominanter und kräftiger erscheinen und verstärkte das Drohen als Ausdruck von Autorität. Während sich in der Entwicklung des Menschen der körperliche Kampf und die Verteidigung veränderten, die Mundregion sich zurückbildete, blieb der Bart des Mannes. Immer noch sind Kinn und Kiefer soziale Organe: vorgeschoben und gespannt deuten sie ablesbar auf Ärger hin. 1 nären Hintergrund der Bart auch in der heutigen Zeit längst keine „emotional neutrale Männerzierde“3, sondern, beabsichtigt oder nicht, eine körperliche Erinnerung an Macht und Autorität – der Bartträger trommelt auf seiner vermeintlich behaarten Brust. Bartlos mächtig Damit mag auch die überwiegende Bartlosigkeit der politischen Machtträger seit dem frühen 20. Jahrhundert zusammenhängen. Die Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika sind seit 1913 stets glatt rasiert und keiner der deutschen Bundeskanzler nach 1945 trug Bart. Selbst wenn sie könnte, würde Angela Merkel – man denke an ihr bekräftigendes Seither ist an den Bart aber nicht nur der Ausdruck Finger-Dreieck – wohl keinen Bart tragen. von Macht und einschüchternder Autorität geknüpft. Noch zur Zeit des Deutschen Kaiserreiches muss aber Das Wachsen der Gesichtsbehaarung verlangt auch das Verständnis der politischen Macht ein anderes nach Behauptung in der männlichen Rangordnung: gewesen sein. Schließlich gab der „Es ist erreicht“Als Teil der körperlichen Veränderung in der Puber- Bart Wilhelm II. ein „energisches, kriegerisches, fast tät symbolisieren die sprießenden Barthaare das Er- martialisches Aussehen“4. Der Schnäuzer wirkte als wachsenwerden. Die kindliche Vereinfachung wird eine körperliche Gestaltung seiner kaiserlichen Herraufgehoben. Sich des Bartes zu entledigen versetzt schaft. So eine Demonstration der Macht scheint in den Mann folglich künstlich in das Stadium des un- der heutigen Politik unangebracht5: Der Bürger ist schuldigen Kindes zurück. Er entzieht sich Macht- mehr Wähler denn Untertan und der Politiker ist dakämpfen, sorgt aber ebenso dafür, dass der soziale her im eigenen Interesse kein bärtiger Patriarch. Umgang mit ihm scheinbar nicht nach ständiger Unterwerfung des Gegenübers verlangt. Wenn der Bart Eine Einsicht, die für Kaiser Wilhelm II. zu spät kam: ein männliches Machtzeichen ist, ist die Rasur, das Zuerst verlor er an Popularität, dann den Krieg und glatte Gesicht, eine soziale Erleichterung.2 Der ra- die politische Macht. Und sein hochgezwirbelter sierte Mann trägt seine Macht nicht im Gesicht, hält Schnäuzer als Folge den Einfluss auf die Bartmode.6 sie dem Anderen nicht vor und lässt damit andere Die neuen Mächtigen waren offenbar nicht länger Kommunikationsstrategien als die rein körperlichen die, die über Krieg und Frieden entschieden und die Aggressionsgebärden zu. So ist vor seinem evolutio- 33 32 Ist der Bart ein Zeichen von Männlichkeit, ein Attribut, das die Evolution dem Mann nicht genommen hat – schließlich eine Demonstration von körperlicher und sozialer Macht? Gilt: „Wer Bart hat, hat die Macht?“ Abb. 2: Hitler ohne Bärtchen? Unvorstellbar. Der Bart war ein Teil der aufwendigen Selbstinszenierung des Diktators. Der Hipster und der Damenbart sich wandelnde Gesellschaft formten, sondern die Schauspieler des jungen Hollywoodfilms: MenjouBärtchen und Clark-Gable-Bart schoben sich in den 20er und 30er Jahren des 20. Jahrhunderts zwischen Nase und Mund des Mannes.7 Irgendwo zwischen diesem vermuteten Rückgang des Bartes als demonstratives Symbol der männlichen Macht und der Erleichterung der Kommunikation, jedenfalls aber in dem grundsätzlichen Verschwinden des Bartes, mag sein Potenzial als eigenwillige Zierde des Hipsters liegen (Abb. 3). Der Gegner der gesellschaftlichen Massenerscheinung würde sich kaum ein sexistisch anmutendes Überbleibsel archaischer Drohgebäeden stehen lassen. Aber einen Bart, der schon im 20. Jahrhundert immer mal wieder zum äußeren Merkmal verschiedener Subkulturen wurde 16, den die Langweiler und Angepassten längst abgelegt haben, der steht dem Hipster gut. Schade nur, dass er ohne es zu wollen, den Bart wieder tragbar gemacht hat – zumindest als Mustache, gedruckt auf T-Shirts und natürlich Jutebeutel (Abb. 1 und 4). Was den Hipster von der Masse unterscheiden sollte, ist durch ihre Macht zum bloßen modischen Accessoire geworden. Aber ist es nicht auffällig, dass der „neue Bart“ wiederum besonders von Frauen getragen wird? Es scheint, als erhielten sie selbst in der Umkehrung der Männlichkeit das kulturell eingeschriebene Machtmuster des Bartes aufrecht.17 Diese Wende zum Ausdruck medialer Macht des Bartes wurde in den 1940er Jahren von der mythischen Inszenierung politischer Macht durch Stalin und Hitler erschüttert. Zum Erscheinungsbild beider Diktatoren gehörte der Schnurrbart – Stalins breit und buschig, Hitlers auffallend schmal und akkurat. Der Bart als Teil des Körpers 8 wurde wieder markantes Merkmal der bewusst gestalteten Selbstdarstellung, die wesentlich die Demonstration politischer Macht bedeuteten sollte 9 (Abb. 2). Wäre da nicht Charlie Chaplin gewesen, der Hitler nicht zuletzt als Anton Hynkel in „Der große Diktator“ gewissermaßen den Bart stahl, wäre es leicht zu sagen, dass Hitler den Bart als eindeutiges „Einschüchterungs- und Autoritätssymbol“ 10 seiner Figur nutzte. 11 Tatsächlich ist Hitlers Bärtchen nur Teil einer durch die kulturelle Macht der Gesellschaft geschaffenen Zeiterscheinung, also eher ein verkehrtes Machtsymbol. Männermacht – Möge der Bart mit dir sein Bart hin oder her: Macht ist ein Begriff mit vielen Zuordnungen, der aber vor allem auch in einem soziologischen Zusammenhang mit kulturell konstruierter Männlichkeit verknüpft wird. Demnach beruht Männlichkeit nicht zuletzt auf dem „Wunsch, die anderen Männer zu dominieren, und sekundär […] die Frau.“12. Allerdings scheint es, als habe sich in den letzten Jahrzehnten die Gesellschaft verändert und „die Herrschaft des Männlichen“13 müsse sich zunehmend gegenüber der emanzipierten Frau behaupten. Sie dringt in die eigentlichen Bereiche der Männlichkeit vor, was z. B. in der gestiegenen Berufstätigkeit von Frauen deutlich wird. Die männliche Macht schwindet oder weniger drastisch – wandelt sich. Und der Bart? Er wird rasiert! Abb. 4: Der „neue Bart“ ganz ohne Mann schafft es von der Oberlippe aufs T-Shirt (Felgendreher/Steinert, 2013) Spätestens seit den 1920er Jahre steigt die Anzahl der glattrasierten Männergesichter, bis der Bartträger in den 60er und 70er Jahren einsam geworden ist. 14 Hat nicht zuletzt also die „neue Frau“15 Mann und Bart längst entmachtet? Ohnehin, ist der gescheiterte Abgrenzungsversuch des Hipsters mehr als das. Denn egal, wie sich durch die Gesellschaft die Wirkung des getragenen Bartes verändert, eine gewisse Macht bleibt: Die Macht des Mannes über seinen eigenen Körper. Wie Hitler sich inszenierte und auch durch sein Äußeres zur Identifikationsfigur des kleinen Mannes wurde (vgl. Koch: 108) und wie der Hipster sich zudem durch jedes Barthaar zum Freidenker stilisiert, so beweist der bärtige Mann sich selbst seine körperliche Souveränität.18 Er lässt wachsen, trimmt, rasiert – und bildet ein Körperbild, das der Darstellung seiner Identität dient. Der Mann inszeniert sich und die vielen Aspekte seiner Macht also nicht zuletzt durch und als Bart – auch wenn er rasiert ist .19 Abb. 3: Ein Bart ein Mann: Kaiser – Hitler – Hipster. Ohne scheint es nicht zu gehen. Lea Schwarzwald Literaturverzeichnis Bieser, Sascha: Aspekte zur männlichen Identität. Tectum Verlag. Marburg 2005 Guthrie, R. Dale: Das gewisse Etwas. Kindler Verlag. München 1978 Janecke, Christian: Einleitung – Haare tragen. In: Janecke, Christian (Hrsg.): Haare tragen. Eine kulturwissenschaftliche Annäherung. Böhlau Verlag. Köln 2004 Koch, Gertrud: Hitleriana. Die Mimesis der Groteske. Eine Notiz zu Hitlers Bart. In: Diehl, Paula (Hrsg.): Körper im Nationalsozialismus. Bilder und Praxen. Wilhelm Fink. München 2006 Martin, Barbara: Der bärtige Mann. Eine Skizze um ein erotisches Attribut. Kryolan. Berlin 2000 Meuser, Michael: Männerkörper. Diskursive Aneignung und habitualisierte Praxis. In: Beres-will, Mechthild; Meuser, Michael; Scholz, Sylka (Hrsg.): Dimensionen der Kategorie Ge-schlecht: Der Fall Männlichkeit. Westfälisches Dampfboot. Münster 2007 Mosse, George L.: Das Bild des Mannes. Zur Konstruktion der modernen Männlichkeit. S. Fischer Verlag. Frankfurt am Main 1997 Posch, Waltraud: Projekt Körper. Wie der Kult um die Schöhnheit unser Leben prägt. Campus-Verlag. Frankfurt [u. a.] 2009 Robinson, Dwight E.: Fashions in Shaving and Trimming of the Beard. The Man of the Illus-trated London News. 1842-1972. In: Reilly, Andrew; Cosbey, Sarah (Hg.): Men’s Fashion Reader. Fairchild Books. New York 2008 Reilly, Andrew; Cosbey, Sarah (Hrsg.): Men’s Fashion Reader. Fairchild Books. New York 2008 Stegemann, Jana: Fashionspießer: Mustache-Trend. Was für ein Wucher. 30. Oktober 2012. Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH/ Süddeutsche Zeitung GmbH. <http://www.sueddeutsche.de/stil/fashionspiesser-mustache-trend-was-fuer-einwucher-1.1503226> 15. Mai 2013 Tratschke: Im Bart liegt Stärke. Ein haariger Streifzug durch die Geschichte. 09. Januar 1981. Zeit Online. <http://www.zeit.de/1981/03/im-bart-liegt-staerke> 15. Mai 2013 Abbildungsnachweise Abb. 1-3: Fotos Lea Schwarzwald Abb. 4: Lisa Merle Felgendreher und Marie Steinert, 2013. Mit freundlicher Genehmigung. 35 34 Und gleichzeitig, bei aller symbolisierten Männlichkeit, ist der Bart so ein Beweis für die urtümliche weibliche Macht: Nicht umsonst ließ Abraham Lincoln sich erst in den letzten Jahren seiner Präsidentschaft einen Backenbart wachsen, nachdem ein Mädchen andeutete, ein Bart würde ihn attraktiver aussehen lassen.20 Fußnoten 1 Vgl. Guthrie, R. Dale: Das gewisse Etwas. Kindler Verlag. München 1978 2 Vgl. Ebda. S. 46 3 Ebda. S. 40 4 Tratschke: Im Bart liegt Stärke. Ein haariger Streifzug durch die Geschichte. 09. Januar 1981. Zeit Online. <http://www.zeit.de/1981/03/im-bart-liegt-staerke> 15. Mai 2013 5 Vgl. Ebda. 6 Vgl. Martin, Barbara: Der bärtige Mann. Eine Skizze um ein erotisches Attribut. Kryolan. Berlin 2000, S. 145 7 Vgl. Ebda. S. 149 8 Vgl. Janecke, Christian: Einleitung – Haare tragen. In: Janecke, Christian (Hg.): Haare tragen. Eine kulturwis-senschaftliche Annäherung. Böhlau Verlag. Köln 2004, S. 17 9 Vgl. Meuser, Michael: Männerkörper. Diskursive Aneignung und habitualisierte Praxis. In: Bereswill, Mechthild; Meuser, Michael; Scholz, Sylka (Hg.): Dimensionen der Kategorie Ge-schlecht: Der Fall Männlichkeit. Westfälisches Dampfboot. Münster 2007, S. 153 10 Guthrie, R. Dale: Das gewisse Etwas. Kindler. München 1978, S. 39 11 Vgl. Koch, Gertrud: Hitleriana. Die Mimesis der Groteske. Eine Notiz zu Hitlers Bart. In: Diehl, Paula (Hg.): Körper im Nationalsozialismus. Bilder und Praxen. Wilhelm Fink. München 2006, S. 108 12 Vgl. Bourdieu 1997, in: Bieser, Sascha: Aspekte zur männlichen Identität. Tectum Verlag. Marburg 2005, S. 31 13 Bieser, Sascha: Aspekte zur männlichen Identität. Tectum Verlag. Marburg 2005, S. 35 14 Robinson, Dwight E.: Fashions in Shaving and Trimming of the Beard. The Man of the Illus-trated London News. 1842-1972. In: Reilly, Andrew; Cosbey, Sarah (Hg.): Men’s Fashion Reader. Fairchild Books. New York 2008, S. 319 15 Mosse, George L.: Das Bild des Mannes. Zur Konstruktion der modernen Männlichkeit. S. Fischer Verlag. Frankfurt am Main 1997, S. 237 16 Vgl. Martin, Barbara: Der bärtige Mann. Eine Skizze um ein erotisches Attribut. Kryolan. Berlin 2000, S. 154 17 Stegemann, Jana: Fashionspießer: Mustache-Trend. Was für ein Wucher. 30. Oktober 2012. Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH/ Süddeutsche Zeitung GmbH. <http://www.sueddeutsche.de/stil/fashionspiesser-mustachetrend-was-fuer-ein-wucher-1.1503226> 15. Mai 2013 18 Vgl. List 1993, in: Meuser, Michael: Männerkörper. Diskursive Aneignung und habitualisierte Praxis. In: Be-reswill, Mechthild; Meuser, Michael; Scholz, Sylka (Hg.): Dimensionen der Kategorie Ge-schlecht: Der Fall Männlichkeit. Westfälisches Dampfboot. Münster 2007, S. 155 19 Posch, Waltraud: Projekt Körper. Wie der Kult um die Schöhnheit unser Leben prägt. Cam-pus-Verlag. Frank-furt [u. a.] 2009, S. 123 20 Reilly, Andrew; Cosbey, Sarah (Hg.): Men’s Fashion Reader. Fairchild Books. New York 2008, S.112 HAIRmeneutik – die Bedeutung des Barttragens Ursprünglich war die Barttracht des Mannes ein Ausdrucksmittel seiner Persönlichkeit. Je nach Blickwinkel und Betrachtungsweise konnte der Bart etwa die Weltanschauung und politische Gesinnung des Trägers, jedoch auch Stärke, Macht und Potenz demonstrieren. Selbst Freiheit, Unabhängigkeit und Lebensfreude konnten durch ihn zum Ausdruck gebracht werden. Heutzutage werden mit langen Vollbärten (bei der älteren Generation) häufig immer noch Frömmigkeit, Weisheit und Würde verbunden. Dies lässt darauf schließen, dass sich so manche Bartbedeutung über die Jahrhunderte kaum verändert hat. Die Manneszier Bart war auch Zeichen für die Standeszugehörigkeit bzw. Klassenunterschiede. So durften die privilegierten Männer in der elisabethanischen Ära in England der Bartmode folgen, wohingegen die nichtprivilegierten beim Tragen ihres gewünschten Bartes eine Bartsteuer zahlen mussten.4 So ähnlich ging es um 1698 auch in Russland zu. Der damals regierende Peter der Große führte dort zwar auch eine Bartsteuer ein, diese mussten jedoch nur diejenigen zahlen, die nicht glattrasiert waren. Der Zar empfand den wilden Haarwuchs in den Männergesichtern als unmodern. Paradoxerweise oder auch um sich vom gemeinen Volk abzuheben, trug er selbst ein damals westlich modernes Schnurrbärtchen.5 Bart-Art In der westlichen Welt gibt es zurzeit keine modischen Vorschriften mehr, die besagen, wie Mann seinen Bart zu tragen hat. Die Barttracht ist vielmehr zum männlichen Modeaccessoire mutiert. Halbstarke und Männer tragen ihre ca. 250 000 Barthaare6 nach individuellem Belieben. Mal um sich von der Menge abzuheben, mal um eine Gemeinschaft zu bilden. Bartmoden wechseln wir Haar- oder Kleidermoden und sind Mittel zur Distinktion oder Anpassung. Abb. 1: Adolphe Menjou, Kathryn Carver, Paris 1928 Das heutige Barttragen im europäischen Raum ist von Modeerscheinungen beeinflusst, die über Kleinasien nach Europa gebracht wurden.1 Wo Mann sich während der Kaiserzeit und bis zum Ersten Weltkrieg noch an den Bart- und Haarvorlieben des Herrschers orientierte, wurden danach vor allem die Tragweisen der berühmten Filmschauspieler favorisiert.2 So kommt es, dass beispielsweise das Menjou-Bärtchen auf den US-amerikanischen Schauspieler Adolphe Menjou im Jahre 1920 zurückzuführen ist.3 Abb. 3: Moustache Variationen - Zeichnung Jasmina Saddedine, 2013 37 36 Das menschliche Antlitz, umrahmt von Kopfhaaren und geschmückt mit Gesichtshärchen, bildet es das Zentrum der visuellen Aufmerksamkeit. Aufmerksamkeit, die auch den Haaren und Härchen in Form von Färben, Zupfen, Rasieren und Gestalten widerfährt. Kopfhaare, Augenbrauen, Wimpern und Barthaare werden auch die Königsbehaarung der Körperbehaarungen genannt. Biologisch betrachtet sind sie Zeichen von Gesundheit, Alter und Geschlecht. Auf kultureller Ebene werden sie zu Bedeutungsträgern, Symbolen und Gestaltungsobjekten. Abb. 2: Paul Delaroche - Zar Peter der Große von Russland, 1838 So wurde beispielsweise im Jahre 2003 eine australische Spendenorganisation namens „movember“ gegründet. Der Name der Organisation setzt sich aus den englischen Wörtern „moustache“ und „november“ zusammen. Die partizipierenden Herrschaften lassen sich, wie der Name der Organisation ahnen lässt, im elften Monat des Jahres einen Oberlippenbart (jeglicher Art) wachsen. Sinn und Zweck dieser Bewegung ist primär das Sammeln von Spendengeldern, die vor allem der Prostatakrebsforschung zugutekommen. Ein wichtiger Nebeneffekt dieser Aktion stellt hierbei der Appell an alle Bärtigen dar, mehr auf ihre Gesundheit zu achten. Diese organisierte Oberlippenbartträger-Gemeinschaft hat sich inzwischen über mehrere Kontinente ausgeweitet und erlebt November für November steigende finanzielle Erfolge. Der Oberlippenbart war in den 70er Jahren sehr modern und schmückte damals viele Männergesichter. Heute sorgt er in den Gesichtern von jüngeren Männern jedoch für Amüsement und Aufsehen. Diese beiden Aspekte stellen bei der haarigen Angelegenheit von „movember“ die Hauptindikatoren dar, denen die Träger den rapiden Erfolg zu verdanken haben.7 mächtigsten Frau am Nil. Hatschepsut durchlief eine enorme Transformation von der Königin zum König und vom König zum Pharao Matkaare. Einen falschen Bart trug sie, um ihre Macht zu demonstrieren. 9 Auch die heilige Wilgefortis, die um 130 nach Chr. in Portugal lebte, war eine bärtige Märtyrerin. Der Legende nach sollte die hübsche Wilgefortis, die vom Heidentum zum Christentum konvertiert war, mit einem Heiden verheiratet werden. Dies wollte sie keinesfalls zulassen. Darum flehte sie zu Gott, ihr einen Bart wachsen zu lassen, der sie entstellen sollte. Ihr heidnischer Vater ließ sie darauf in Lumpen ans Kreuz schlagen, „damit sie ihrem himmlischen Bräutigam gleiche“10. „Die Sterbende predigte drei Tage Abb. 4: 1. Berliner Bart-Club 1996 e. V. lang vom Kreuz herab und bekehrte viele Menschen, Bartclubs stellen ein weiteres Phänomen der Zusam- darunter auch ihren Vater. Er ließ sie nun in kostbare menkunft von Bartindividuen dar. An dieser Stelle Stoffe hüllen und errichtete nach ihrem Tod eine Kirmuss gesagt werden, dass hier Bärte jeglicher Art che zur Buße.“11 Viele mythische Muttergottheiten und Form erlaubt, sogar erwünscht sind. In diesen trugen Bärte, jedoch waren ihre Absichten und ZweBartclubs treten bärtige Wesen in nationalen sowie cke unterschiedlichster Natur. 12 internationalen Wettbewerben gegeneinander an, um von einer Jury nach verschiedenen Kriterien der Auch Miss Annie Jones Elliot trug 1865 einen VollSchönheit, Kunst und Pracht ihres Bartes bewertet zu bart.13 Sie wurde durch ihren Bart, der schon im werden. „Der Bart als Geschlechtszeichen mitten im Gesicht Abb. 5: Annie Johnes Elliot, zwischen 1881 und 1895 ist obszön. Daher gefällt er den Weibern.“8 Dies sagte einst der Bartgegner und Philosoph Arthur Schopenhauer über das sekundäre und hormonell bedingte Geschlechtsmerkmal des Mannes. Warum finden viele Frauen den männlichen Gesichtspelz schön? Wohl kaum, weil er obszön ist. Vielmehr lässt sich hier die Frage stellen, ob Frauen wohl auch gern ein haariges Zeichen ihrer Persönlichkeit im Gesicht hätten. HAIRarchy – Herrenbart vs. Damenbart Nun wurde reichlich über die Testosteroner und Herrenseite berichtet. Was aber ist mit den Östrogenerinnen und den deswegen weniger voluminös ausfallenden Damenbärten? Warum werden längere, kräftigere Härchen, meist auf der Oberlippe und dem Kinn der Dame vorwiegend als unästhetisch und ekelerregend empfunden? 38 Die Pharaonenkönigin Hatschepsut war vor mehr als 3000 Jahren die erste Frau, die in Ägypten herrschte und ihre Macht mittels eines Bartes symbolisierte. Eigentlich sollte sie nur vorübergehend das Amt der Königin übernehmen, bis ihr unmündiger Sohn Thutmosis III. alt genug war, um Pharao zu werden. Doch nach 20 Jahren Herrschaft ernannte sie sich selbst zur Alter von fünf Jahren zu wachsen begann, zu einer Zirkusattraktion. Der starke Bartwuchs ist auf den Hirsutismus zurückzuführen, bei dem sich anstelle unscheinbarer Vellushaare kräftigere Langhaare in bestimmten Bereichen entwickeln.14 Damenbärte sind bis heute eher exotisch, als Außenseiterphänomen oder faszinierend wahrgenommen, weil sie immer etwas Besonderes darstellen und damit als kulturell Fremdes angesehen werden: ob als Zirkusattraktion oder Männlichkeitssymbol. der Pornodarsteller. 15 An dieser Stelle darf der Pornostar der siebziger Jahre John Curtis Estes alias John Holmes nicht fehlen. Denn er trug maßgebend zur Verbreitung des legendären Pornobalkens bei.16 Seine Karriere begann 1968, als ihm ein Mann auf einer öffentlichen Toilette das Angebot machte, in das Pornogeschäft einzusteigen. Er wurde vor allem aufgrund seines großen Genitals und seines Oberlippenbartes bekannt.17 Fußnoten 1 Vgl. Martin, Barbara: Der bärtige Mann. Eine Skizze um ein erotisches Attribut. Kryolan. Berlin: 2000, S. 16 2 Vgl. ebd. S. 63 3 Vgl. ebd. S. 145 4 Vgl. Martin, Barbara: Der bärtige Mann, S. 26f 5 Vgl. Mrozek, Bodo. In: Spiegel-online Kultur: Das bedrohte Wort: Haarsträubender „Pornobalken“. (Zugriff: 25.06.2013) http://www.spiegel.de/kultur/ gesellschaft/das-bedrohte-wort-haarstraeubender-pornobalken-a-465478. html 6 Vgl. Martin, Barbara: Der bärtige Mann, S. 15 7 Vgl. movember: (Zugriff: 26.06.2013) http://au.movember.com/?home 8 Martin: Der bärtige Mann, S. 15 9 Vgl. Saller, Walter. In: GEO Epoche. http://www.geo.de/GEO/heftreihen/ geo_epoche/hatschepsut-die-frau-die-pharao-war-183.html?p=1 (Zugriff: 26.06.2013) 10 Ökumenisches Heiligenlexikon. http://www.heiligenlexikon.de/BiographienW/Wilgefortis.html (Zugriff: 26.06.2013) 11 Ebd. 12 Vgl. Martin, Barbara: Der bärtige Mann, S. 25 13 Vgl. ebd. S.31 14 Vgl. Wikipedia. http://de.wikipedia.org/wiki/Hirsutismus (Zugriff: 26.06.2013) 15 Vgl. Mrozek, Bodo. In: Spiegel-online Kultur: Das bedrohte Wort: Haarsträubender „Pornobalken“. http://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/dasbedrohte-wort-haarstraeubender-pornobalken-a-465478.html (Zugriff: 25.06.2013) 16 IMDb http://www.imdb.com/name/nm0001360/bio (Zugriff: 25.06.2013) 17 Vgl. Wunderlich, Dieter: John Holmes. http://www.dieterwunderlich.de/ John_Holmes.htm (Zugriff: 26.06.2013) 18 Vgl. Martin, Barbara: Der bärtige Mann, S. 69 Literaturverzeichnis IMDb http://www.imdb.com/name/nm0001360/bi (Zugriff: 25.06.2013) Martin, Barbara: Der bärtige Mann. Eine Skizze um ein erotisches Attribut. Kryolan. Berlin: 2000 Mrozek, Bodo. In: Spiegel-online Kultur: Das bedrohte Wort: Haarsträubender „Pornobalken“. http://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/das-bedrohte-worthaarstraeubender-pornobalken-a-465478.html (Zugriff: 25.06.2013) movember: http://au.movember.com/?home (Zugriff: 26.06.2013) Ökumenisches Heiligenlexikonhttp://www.heiligenlexikon.de/BiographienW/ Wilgefortis.html (Zugriff: 26.06.2013) Saller, Walter. In: GEO Epoche. http://www.geo.de/GEO/heftreihen/geo_epoche/hatschepsut-die-frau-die-pharao-war-183.html?p=1 (Zugriff: 26.06.2013) Wikipedia. http://de.wikipedia.org/wiki/Hirsutismus (Zugriff: 26.06.2013) Wunderlich, Dieter: John Holmeshttp://www.dieterwunderlich.de/John_Holmes.htm. (Zugriff: 26.06.2013) Ein Vorläufer des Pornobalkens, oder zumindest der Ursprung der Bartform, könnte von den Franken stammen. Denn diese, vor allem die fränkischen KrieAbgefHAARn – Der Pornobalken ger um das 6. Jahrhundert, trugen den hängenden 18 Der „Pornobalken“ oder „Pornobart“ stellt eine spe- Oberlippenbart. Aber auch das Menjou-Bärtchen zielle Bartmode der 70er und 80er Jahre dar. Prinzipi- könnte ein Vorläufer des Pornobalkens gewesen sein. ell ist er eine Variation des Oberlippenbartes, der an Sicher ist jedoch, dass mit dem „movember“-Trend den Seiten auf Mundwinkelhöhe, etwas länger getra- eine neue Ära des Oberlippenbartes begonnen hat. Mit tatkräftiger Unterstützung einer neuen Modeergen werden kann. scheinung, die den Moustache überall dort erscheiAls „Pornobalken“ wurden ursprünglich die schwar- nen lässt, wo man(n) ihn nicht erwarten würde: auf zen Zensurbalken verstanden, die zu reizvolles Bild- tätowierten Zeigefingern, gedruckt auf Kleidungsstümaterial auf Kinoaushängen überdecken sollten. Die cke, Haushaltsgegenstände und „Spaßartikel“ schmüDarsteller dieser Filme trugen häufig einen Ober- cken derzeit Oberlippenbärte die Modelandschaft. Es lippenbart, um Männlichkeit und Stärke zu signa- kann also mit Spannung in die Zukunft des Oberliplisieren. So kam es, dass der Volksmund dem Wort penbartes und dessen Variationen geblickt werden. „Pornobalken“ eine weitere Bedeutung zuschrieb. Der „Pornobalken“ bezeichnete nun nicht mehr nur Jasmina Saddedine den Zensurbalken, sondern auch den Oberlippenbart Abbildungsnachweise Abb. 1: Adolphe Menjou, Kathryn Carver, 1928, Paris http://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/6/64/Adolphe_Menjou%2C_Kathryn_Carver%2C_1928.jpg (Zugriff: 13.08.2013) Abb. 2: Paul Delaroche - Peter I of Russia, 1838 http://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/thumb/7/72/Peter_ der-Grosse_1838.jpg/220px-Peter_der-Grosse_1838.jpg/uploads/2012 /11/movember-styles.jpg (Zugriff: 13.08.2013) Abb. 3: Saddedine, Jasmina. Moustache Variationen, Zeichnung mit Kohlestift, 2013 Abb. 4: 1. Berliner Bart-Club 1996 e. V., (von links) 3. Platz Josef Ibach Schnauzbart Ungarisch, 2. Platz Jürgen Draheim Kinn und Backenbart Musketier, 3. Platz Hayrudin Cebo Vollbart Verdi http://www.1-berliner-bart-club.de/?page_id=631 (Zugriff: 14.08.2013) Abb. 5: Annie Jones Elliot, zwischen 1881 und 1895 http://en.wikipedia.org/wiki/File:Annie_Jones.jpg (Zugriff: 14.08.2013) Attraktivität als Zeichen von Kompetenz Die Frage, ob attraktive Menschen, die dem jeweiligen Schönheitsideal entsprechen, auch beruflich erfolgreicher sind, versuchen Wissenschaftler aus Psychologie und Soziologie seit Längerem zu erforschen. In zahlreichen Studien wird dargelegt, dass schönen Menschen mehr Tüchtigkeit zugetraut wird, als ihren ebenso kompetenten, aber unattraktiveren Konkurrenten. Schon in den 1970er Jahren wurde in den USA ein sogenannter „Nimbus-Effekt“ festgestellt. „Wer schön ist, dem fallen, wie reife Früchte, auch noch eine Vielzahl anderer positiver Zuschreibungen in den Schoß.“1 Ob dies jedoch in den körperlichen Eigenschaften begründet liegt oder allenfalls ein kulturell geformtes Stereotyp ist, bleibt unerforscht. Männer-Macht & Haar-Pracht Abb. 1: Männer in Berufen des oberen Bildungs- und Verdienstbereiches weisen häufig ähnliche körperliche Erscheinungsbilder auf. Ohne viel mehr als den unteren Rückenbereich dieses Mannes zu sehen, ist es möglich, ihn einer bestimmten beruflichen Sparte zuzuordnen. © Uwe Steinbrich / PIXELIO Brünette Haare als Erfolgsgarant? se Tatsache begründet? Gibt es einen bestimmten Dresscode, den die Bewerber eines großen Unternehmens einhalten müssen? Wieso sind gerade die brünetten Kurzhaarfrisuren vorherrschend? Wird diesen Männern etwa mehr Kompetenz zugeschrieben als ihren weniger attraktiven oder hellhaarigen Konkurrenten? Mit genau diesen Fragen soll sich der folgende Artikel näher befassen. Dabei wird der westliche Kulturkreis im Bereich des oberen Dienstleistungssektors des 21. Jahrhunderts thematisiert. Da Haare eng mit ihrem Träger verbunden sind, wird häufig versucht, über den Zustand der Haare, Rückschlüsse auf die jeweilige Person zu schließen. Dabei ist zu bemerken, dass seit jeher volles Haar Stärke und dünnes Haar Schwäche signalisiert. Haare werden in diesem Fall als „Pars-pro-toto“ für Lebenskraft und Vitalität angesehen. Diese beiden Faktoren scheinen für Erfolgsabsichten unabdingbar, sodass Studien belegen, dass Bewerber mit vollem Haar tatsächlich auch bevorzugt eingestellt werden.7 Sie werden als jünger und kompetenter eingeschätzt, was nicht zuletzt an der Tatsache liegt, dass ihre Haarpracht die Fremdwahrnehmung erheblich manipulieren kann. „Die Performanz der Haare [ist] eng an die kulturellen Vorstellungen von Kompetenz geknüpft […].“8 Das Kopfhaar fungiert hierbei als Einschüchterungs- und Autoritätssymbol.9 Klischee eines erfolgreichen Geschäftsmannes Doch wie sieht überhaupt ein erfolgreicher Geschäftsmann aus? Muss er körperlich attraktiv, den aktuellen Schönheitsvorstellungen unterlegen sein und kräftige Haare besitzen? Studien der Universität Wien, die in den Jahren 2007 und 2008 durchgeführt wurden, belegen, dass in höheren beruflichen Positionen, vielfältige Erwartungen an ein gepflegtes äußeres Erscheinungsbild gestellt werden. Dieses soll Seriosität vermitteln und wird je nach Branche weniger streng gehandhabt. Der Kontakt zu Kunden setzt gewisse Erwartungen voraus, die eng mit gängiHaare im Zeichen von gen Schönheitsvorstellungen verknüpft sind. So gab Schönheitsvorstellungen beispielsweise ein Proband, der selbst im höheren Haare gehören als wesentlicher Bestandteil zu ak- Dienstleistungssektor arbeitet, an, dass ein gepflegtuellen Schönheitsvorstellungen. Sie repräsentieren ter Mann daran erkannt werden kann, „dass er glatt als Teil des Ganzen das komplette Individuum und rasiert ist oder seinen Bart pflegt, dass er zum Beiverfügen über eine nicht zu unterschätzende Macht- spiel keinen Schweißgeruch hat und dass er adäquat funktion.4 Haare werden als Ausdrucksmedium an- angezogen ist. Man sieht da ja schon einen gewissen gesehen, welches die gesellschaftliche Position ihres gesellschaftlichen Status. Wenn jemand einen guten Trägers angibt. Ebenfalls wird heutzutage häufig ver- Job hat, gut verdient und beispielsweise ein busisucht, anhand der Haarpracht Rückschlüsse auf den nessman ist, dann kauft er sich meistens teure AnzüMenschentypus zu schließen. Solche typologischen ge, trägt gebügelte Hemden mit Krawatte, ist frisch 10 Entsprechungen beabsichtigen die symbolischen rasiert.“ Botschaften, mit denen Haare konnotiert sind, zu 41 40 Große Männer mit vor Vitalität strotzenden Körpern verlassen zum Dienstschluss die Frankfurter Börse. In der Menge wirken sie beinahe wie eine gewaltige Einheit edler Anzugträger, die nicht selten brünette Kurzhaarfrisuren tragen. Dieses Klischeebild hat sich zumindest, nicht ganz unbeeinflusst von verschiedenen Spielfilmen, in den Köpfen der Menschen manifestiert. Das Beispiel verdeutlicht einmal mehr, dass Männer in Berufen des oberen Bildungs- und Verdienstbereiches häufig ähnliche körperliche Erscheinungsbilder aufweisen. Doch worin liegt die- Schönheit verkörpert diesen Theorien folgend soziale Macht und im Zuge der körperlichen Selbstinszenierung ebenfalls soziales Handeln. Das Individuum orientiert sich an sozial anerkannten Standards, auch dann, wenn es diesen ablehnend gegenübersteht. Es richtet die eigene Schönheitspraxis auf andere Menschen aus und signalisiert soziale Nähe. Gleichzeitig kann es ebenso soziale Distinktion erreichen und seine Überlegenheit und seinen sozialen oder beruflichen Rang ausdrücken.2 „Das Schönheitsspiel insgesamt stellt ein symbolisches Universum der Macht dar, wobei es bei den Einsätzen in diesem Spiel um symbolische Vorherrschaft geht.“3 Folglich kann vermutet werden, dass schöne Menschen, aufgrund ihrer sozialen Anerkennung und Macht, Unternehmen positive Resonanz einbringen können. Doch welche Körperpartien beeinflussen überhaupt besonders stark das äußere Erscheinungsbild des Menschen? spezifizieren.5 „Das Haar als Repräsentationsmerkmal spielt in diesem Kontext eine besondere Rolle. Denn als Bestandteil der Körperlichkeit verbürgt es einen der Schlüsselreize und eines der grundlegenden Symbole für Geschlecht, Alter, etc.“6 Abb. 2: Die grauen Schläfen Gerhard Schröders boten reichlich Diskussionspotenzial in den Medien. Kompetenz lässt sich demnach nicht nur am perfekten brünetten Kopfhaar ablesen, sondern ebenfalls an seiner altersbedingten Natürlichkeit. © Tim Reckmann / PIXELIO 42 Diese Aussage bestätigt die gestellte Vermutung, dass in höheren Positionen eine Art nicht nur textiler Dresscode besteht, der sich auf das komplette Individuum bezieht. Das äußere Erscheinungsbild der Angestellten wird bewusst sozialen Schönheits- und Pflegevorstellungen unterworfen, um eine möglichst breite Kompetenz zu vermitteln. Das bevorzugte Männerbild ist dabei kraftvoll, stark sowie muskulös und spiegelt die innere Gesundheit und Kompetenz des Geistes wieder. 11 Die gepflegte Frisur der Männer soll ihren zu präsentierenden Charakter unterstreichen und den Gesamteindruck eines gesunden Körpers verstärken.12 Doch wie gepflegt die Frisur aussehen darf, ist ebenfalls kulturellen Normen unterworfen. So bekam die Haarpracht des ehemaligen Bundeskanzlers, Gerhard Schröder, im Jahr 2002 große mediale Aufmerksamkeit. Sein brünettes Kopfhaar war zwar stets kraftvoll und gepflegt, jedoch erschien es einigen Medienvertretern schon zu perfekt. Eine lange Debatte, um das womöglich gefärbte Haar des Bundeskanzlers war die direkte Folge. Kommentare, dass die eventuellen grauen Schläfen Schröders, seine Überzeugungskraft und Kompetenz stärken würden, waren keine Seltenheit.13 In diesem Beispiel wurde das makellose, brünette Kopfhaar nicht zur Karrierehilfe, sondern vielmehr zur Stolperfalle. Die Relevanz angemessener Frisuren bei Männern in Führungspositionen entspricht demnach einer Denkweise mit strengen Spielregeln, die kulturellen und gesellschaftlichen Vorstellungen angepasst ist. Frisuren-Trends Zählte bis vor einigen Jahren der bekannte Kurzhaarschnitt noch zu den gängigsten Frisuren von Männern in höheren beruflichen Positionen, kann heutzutage nicht mehr von seiner Vorherrschaft gesprochen werden. In der Masse ist er zwar die am häufigsten vertretene Haarpracht der Männer, jedoch haben sich die Haar-Trends in der Berufswelt ausgeweitet. Zahlreiche Internetseiten beschäftigen sich mit der korrekten Frisur für Männer in Führungspositionen und kommen zu höchst unterschiedlichen Ergebnissen. Gibt der express an, eine Glatze sei karriereförderlich, vertritt die EMNID-Studie eine komplett gegenteilige Meinung. Der presseanzeiger präsentiert wiederum eine wesentlich offenere Ansicht, nimmt Abstand von der Frisurendiktatur und kommt der Realität am nächsten: Sofern die Frisur typgerecht umgesetzt wird, ist von der Glatze bis hin zum Pferdeschwanz alles in den Führungsetagen erfolgreicher Unternehmen vorzufinden.14 Stehen kurze Haare und bartlose Wangen für eine gewisse Kultiviertheit und vermitteln den Eindruck eines erfolgreichen, vorwärtsstrebenden Charakters, kann die Glatze ebenso als Zeichen für Manneskraft und Erfolg angesehen werden.15 Oftmals wird sogar der Dreitagebart bewusst eingesetzt, um das sonst so perfekte Äußere durch diese „legere Note abzuschwächen“16. Wichtig ist bei all diesen Studien allerdings der Aspekt der Wahrnehmung. Das Individuum wird unter anderem über seine optische Erscheinung wahrgenommen. Durch sein Benehmen nimmt es eine soziale Position in der Gesellschaft ein, die seinen Habitus prägt. Der Körper, in diesem Fall die Haare, lässt dabei Rückschlüsse auf die Persönlichkeit zu und ermöglichen es anderen Menschen, sich ein Bild über eine andere Person zu machen und diese in das soziale System einzuordnen.17 Daher sind FrisurenTrends immer abhängig von den jeweiligen Habitusvorstellungen eines erfolgreichen Businessmannes in der Gesellschaft und können je nach Zeit, Epoche und Kultur sehr unterschiedlich ausfallen. Da es in der akademischen Kultur nicht mehr nur den einen Typ Mann gibt, werden immer mehr Formen verschiedener Männlichkeit anerkannt.18 Dabei ist es jedoch interessant zu beobachten, dass diese Entwicklungen zwar im Beruf angekommen, jedoch in der Werbung nach wie vor nicht repräsentiert werden. Dort wird eine hegemoniale Männlichkeit gefestigt, die durch die Statuseigenschaften der Attraktivität, Kraft, Macht und des Erfolges gezeichnet wird. Gerade diese Tatsache trägt dazu bei, dass vorhandene Klischees vom perfekten Businessmann weiter bestehen und gefestigt werden. Die Bedeutung der Haarfarbe Wurde das Klischee einer starren Frisurendiktatur in der Realität beseitigt, bleibt die Frage nach der unterschiedlichen Bedeutungsmacht der Haarfarbe von Männern in Führungspositionen bestehen. Wie schon in der Einleitung beschrieben, überwiegt das brünette Kopfhaar bei den erfolgreichen Männern. Doch sagt es wirklich etwas über seinen Träger aus? Wird ihm mehr Attraktivität und damit verbundene Kompetenz zugeschrieben? Oder liegt die Mehrzahl an dunkelhaarigen Männern, im höheren Bildungssektor an der einfachen Tatsache, dass diese Haarfar- ben im Vergleich zu Blondtönen genetisch häufiger vorhanden sind? Studien der Universität des Saarlandes haben herausgefunden, dass Braun tatsächlich als attraktivste Haarfarbe bei Männern wahrgenommen wird.20 Doch wie bei jeder Studie unterliegen die Ergebnisse gesellschaftlichen Stereotypen, die kulturell konstruiert sind. Da das männliche, braune Haar häufig in der Gesellschaft vorkommt, ist es weniger mit Vorurteilen behaftet als andere Haarfarben. Somit kann es von verschiedenen Institutionen, wie der Werbung oder bestimmten Unternehmen, leicht genutzt werden, um Inhalte zu transportieren. Der braun- oder dunkelhaarige Mann gilt zusammen mit der blonden Frau als Paradebeispiel der Medien. Er wurde zum Sinnbild der Attraktivität, die sich wiederum auch auf seine beruflichen Erfolge ausweitet.21 „Schönheit und Attraktivität werden dabei sozial, und das Abb. 3: Ob diesem Geschäftsmann aufgrund seiner äußeren Erscheinung Kompetenz zugeschrieben wird oder ob er sich seinen Posten genauso wie seine hellhaarigen Konkurrenten hart erarbeitet hat, bleibt ein Mysterium. © Rike / PIXELIO heißt in diesem Fall kulturell produziert, sind also keine natürlichen Größen, sondern Resultate einer gewünschten und gesuchten Distinktion. Mehr als bloß ästhetische Hülle begründen und repräsentieren sie soziale Macht.“23 Dabei ist festzuhalten, dass diese westlich konstruierten Schönheitsideale nicht starr sind, sondern je nach Zeitalter und herrschenden Denkweisen variieren. farben und sozialer Rang werden offenbar miteinander assoziiert.“ Dass der männliche, brünette Bewerber allerdings kompetenter sein soll als sein blonder oder hellhaariger Konkurrent, ist ein Vorurteil, dass sich aus diesen gesellschaftlichen Stereotypen entwickelt hat. Zwar kann es vorkommen, dass er aufgrund von herrschenden Schönheitsvorstellungen bevorzugt eingestellt wird, jedoch sagt dies nichts über seine Persönlichkeit aus. Wie mit jeder Haarfarbe wird auch die Brünette mit Persönlichkeitsmerkmalen assoziiert, sodass sie Swenja Padur durch gesellschaftliche Konnotationen beim Mann für Attraktivität und beruflichen Erfolg steht. „Haar- LANGES HAAR – KURZE GEDANKEN? Darstellung der Werbefrau am Beispiel von Haarpflegeprodukten Literaturverzeichnis Bourdieu, Pierre: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Suhrkamp Verlag. Frankfurt a.M. 1982 Bründel, Heidrun; Hurrelmann, Klaus: Konkurrenz, Karriere, Kollaps. Männerforschung und der Abschied vom Mythos Mann. W. Kohlhammer Verlag. Stuttgart/Berlin/Köln 1999 Guggenberger, Bernd: Einfach schön. Rotbuch Verlag. Hamburg 1995 Guthrie, Russell Dale: Das gewisse Etwas. Signale des menschlichen Körpers. Was zieht uns an, was stößt uns ab? Kindler Verlag. München 1978 Haas, Birgit: Einleitung. Haare – ambivalenter Ausdruck kultureller Körperbilder und fiktionalisierte Affirmation bzw. Infragestellung von kulturellen Stereotypen. In: Haas, Birgit (Hrsg.): Haare zwischen Fiktion und Realität. Interdisziplinäre Untersuchungen zur Wahrnehmung der Haare. Lit Verlag. Berlin 2008 Junkerjürgen, Ralf: Haarfarben. Eine Kulturgeschichte in Europa seit der Antike. Böhlau Verlag. Köln/Weimar/Wien 2009 Kornher, Svenja: Zur Erfindung der >typgerechten< Frisur. In: Janecke, Christian (Hrsg.): Haar tragen. Eine kulturwissenschaftliche Annäherung. Böhlau Verlag. Köln/Weimar/Wien 2004 Mai, Jochen [u. a.]: So sehen die ultimativen Erfolgstypen aus. Wirtschaftswoche vom 21.04.2008. In: http://www.wiwo.de/erfolg/trends/karriere-forschung-so-sehen-die-ultimativen-erfolgstypen-aus/5373054.html, entnommen am 14.07.2013. Penz, Otto: Schönheit als Praxis. Über klassen- und geschlechtsspezifische Körperlichkeit. Campus Verlag. Frankfurt a.M. 2010 Schug, Alexander: „Immer frisch frisiert“ – das gestaltete Kopfhaar als Requisite moderner Selbstinszenierung in der Weimarer Republik. In: Janecke, Christian (Hrsg.): Haar tragen. Eine kulturwissenschaftliche Annäherung. Böhlau Verlag. Köln/Weimar/Wien 2004. Tiedemann, Nicole: Haar-Kunst. Zur Geschichte und Bedeutung eines menschlichen Schmuckstücks. Böhlau Verlag. Köln 2007 http://mobil.express.de/ratgeber/-psychologie-studie-ein-glatzkopf-ist-gutfuer-erfolg-im-job,22840064,20625606.html, entnommen am 14.07.2013 http://www.presseanzeiger.de/pa/Haarige-Trends-Diese-Frisuren-machenMaennerkoepfe-schoen-402328, entnommen am 14.07.2013 http://www.stern.de/lifestyle/leute/urteil-entscheidung-im-streit-um-schroeders-haarfarbe-217496.html, entnommen am 05.08.2013 Abbildungsverzeichnis: Abb. 1a: Uwe Steinbrich – Geschäftsmann, 2006. © PIXELIO Abb. 1b: Henning Hraban Ramm – Geschäftsleute im Foyer der Heidelberg PrintMediaAcademy, 2004. © PIXELIO Abb. 2: Tim Reckmann – Gerhard Schröder, 2013. © PIXELIO Abb. 3: Rike – Handstand für den Chef, 2012. © PIXELIO www.pixelio.de Wie viel Haarpflegemittel braucht Frau, um klug zu werden? In der Werbung treffen wir auf Frauendarstellungen in den unterschiedlichsten Rollen. Diese reichen von der Haus- und Ehefrau bis hin zur Berufstätigen und Sportlichen. Die mit Abstand meisten Werbeanzeigen mit Frauen stammen allerdings aus dem Bereich der Mode und Schönheit.1 In diese Kategorie fallen auch die Haarpflegeprodukte, die uns heute in einer unglaublichen Vielfalt von Shampoos, Spülungen, Tön- und Färbungen bis hin zu Haarspray, -lack oder -schaum angeboten werden. Werbeindustrie zu Frisiermitteln, die nun für die westdeutsche Mittelschicht erschwinglich waren. „Schönheit an sich ist faszinierend, denn sie ist rar. Das Bestreben, sein Aussehen zu verschönern, ist ein kulturelles Bedürfnis.“ 4 Dieses Bedürfnis zu befriedigen, hat sich die Werbeindustrie zum Ziel gemacht. Es geht um das Wecken von Träumen und Wünschen und bedingungslosem Konsum. Dabei werden nicht nur Produkte und Menschenbilder – die Frau als Mutter oder Hausfrau – verkauft, sondern auch Wertvorstellungen.5 Zu Beginn der 50er Jahre des 20. Jahrhunderts war Shampoo aber längst nicht geläufig. Die Haarpflege erfolgte pragmatisch und sparsam mittels Seife und Seifenpulver. Ein Drittel der Frauen nutzen diese Art des Waschens in Westdeutschland.2 Die Quantität belief sich zu dieser Zeit auf einmal monatlich – eben nur bei Verschmutzung – und bei Kindern und Männern etwa doppelt so oft. Haare waschen galt damals als Ritual innerhalb der Familie. Mit dem Aufkommen vieler, neuer Friseursalons Mitte der 50er Jahre ging die weibliche Nutzung von Seife für das Haar auf 10% zurück.3 Frauen wendeten sich von der häuslichen Haarwaschung ab und suchten dazu Friseure auf, weshalb Kosmetikprodukte zu dieser Zeit kaum verkauft wurden. Erst mit dem wirtschaftlichen Aufschwung erfolgte ebenfalls eine Hinwendung der Konsumieren statt Emanzipieren? 80% aller Produkte des täglichen Bedarfs werden von Frauen gekauft. Wer könnte sich also besser für den Verkauf von derartigen Artikeln eignen? Die stereotype Werbefrau ist schön, schlank, groß, jung, schmalhüftig, häufig sexualisiert und wird mit dem Produkt gleichgesetzt. Charakterisiert wird das Verhalten der Werbefrau durch eine leicht überdrehte Stimme mit hohem Tonfall in Kombination mit affektierter Gestik. Bei Frauen ist in Werbeanzeigen meist der gesamte Körper zu sehen, während sie häufig waagerecht liegend (Bett, Fell, Liege) gezeigt wer- 45 44 Fußnoten 1 Guggenberger, Bernd: Einfach schön. Rotbuch Verlag. Hamburg 1995, S. 73 2 Vgl. Penz, Otto: Schönheit als Praxis. Über klassen- und geschlechtsspezifische Körperlichkeit. Campus Verlag. Frankfurt a.M. 2010, S. 37, 47 3 Ebda. S. 202. 4 Vgl. Tiedemann, Nicole: Haar-Kunst. Zur Geschichte und Bedeutung eines menschlichen Schmuckstücks. Böhlau Verlag. Köln 2007, S. 40 5 Vgl. Ebda. S. 173 6 Schug, Alexander: „Immer frisch frisiert“. Das gestaltete Kopfhaar als Requisite moderner Selbstinszenierung in der Weimarer Republik. In: Janecke, Christian (Hrsg.): Haar tragen. Eine kulturwissenschaftliche Annäherung. Böhlau Verlag. Köln/Weimar/Wien 2004, S. 85 7 Vgl. Tiedemann, Nicole: Haar-Kunst, S. 173 8 Haas, Birgit: Einleitung. Haare – ambivalenter Ausdruck kultureller Körperbilder und fiktionalisierte Affirmation bzw. Infragestellung von kulturellen Stereotypen. In: Haas, Birgit (Hrsg.): Haare zwischen Fiktion und Realität. Interdisziplinäre Untersuchungen zur Wahrnehmung der Haare. Lit Verlag. Berlin 2008, S. 20 9 Vgl. Guthrie, Russell Dale: Das gewisse Etwas. Signale des menschlichen Körpers. Was zieht uns an, was stößt uns ab? Kindler Verlag. München 1978, S. 39 10 Penz, Otto: Schönheit als Praxis, S. 61 11 Vgl. Bründel, Heidrun u. Hurrelmann, Klaus: Konkurrenz, Karriere, Kollaps. Männerforschung und der Abschied vom Mythos Mann. W. Kohlhammer Verlag. Stuttgart/Berlin/Köln 1999, S. 154-155 12 Vgl. Kornher, Svenja: Zur Erfindung der >typgerechten< Frisur. In: Janecke, Christian (Hrsg.): Haar tragen. Eine kulturwissenschaftliche Annäherung. Böhlau Verlag. Köln/Weimar/Wien 2004, S. 68 13 Vgl. Stern.de vom 17.05.2002. In: http://www.stern.de/lifestyle/leute/ urteil-entscheidung-im-streit-um-schroeders-haarfarbe-217496.html, entnommen am 05.08.2013 14 Vgl.: http://mobil.express.de/ratgeber/-psychologie-studie-ein-glatzkopfist-gut-fuer-erfolg-im-job,22840064,20625606.html u. http://www. presseanzeiger.de/pa/Haarige-Trends-Diese-Frisuren-machen-Maennerkoepfe-schoen-402328, beides entnommen am 14.07.2013. 15 Vgl.: Haas, Birgit: Einleitung, S. 15 u. Schug, Alexander: „Immer frisch frisiert“, S. 91. 16 Penz, Otto: Schönheit als Praxis, S. 180. 17 Vgl.: Bourdieu, Pierre: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Suhrkamp Verlag. Frankfurt a.M. 1982, S. 171 – 190. 18 Vgl.: Bründel, Heidrun u. Hurrelmann, Klaus: Konkurrenz, Karriere, Kollaps, S. 63. 19 Vgl.: Ebda. S. 64 u. 167. 20 Vgl. Mai, Jochen [u. a.]: So sehen die ultimativen Erfolgstypen aus. Wirtschaftswoche vom 21.04.2008. In: http://www.wiwo.de/erfolg/trends/karriere-forschung-so-sehen-die-ultimativen-erfolgstypenaus/5373054.html, entnommen am 14.07.2013 21 Vgl. Junkerjürgen, Ralf: Haarfarben. Eine Kulturgeschichte in Europa seit der Antike. Böhlau Verlag. Köln/Weimar/Wien 2009, S. 111-112, 248 22 Ebda. S. 249 23 Ebda. S. 262 den. Bei den Settings handelt es sich entweder um Freizeit oder Haushalt, in denen Frau in der Rolle der attraktiven Hausfrau, Mutter oder Freundin agiert. Bei weiblichen Zielgruppen wird an Emotionalität appelliert, während bei einer männlichen Zielgruppe der Schwerpunkt auf Sachlichkeit und Technik liegt. Patricia Feise-Mahnkopp nennt dies „binäre Arbeitsteilung der Geschlechter.“6 Kosmetikwerbung und Schönheit ist bis heute hauptsächlich Frauensache, die in ihrer Anwendung einen gewissen Zeitaufwand voraussetzt. Haarpflegemittel haben dabei die Funktion, Schönheit aufrecht zu erhalten. Jedoch dringt Werbung ungefiltert auf die Mitglieder der Gesellschaft ein und bedient Vorurteile.7 Ohne uns bewusst für oder gegen den Konsum von Werbung zu entscheiden, sind wir ihr tagtäglich ausgesetzt. Werbung bestimmt somit teilweise, was als Ideal verkörpert wird. Doch ist Werbung nun der Spiegel der Gesellschaft oder hat sie Einfluss auf die Gesellschaft? Im Folgenden soll anhand von ausgewählten Beispielen aus der Haarindustrie diese Wechselwirkung näher betrachtet werden. Abschließend soll bewertet werden, inwieweit sich die Darstellung der Frau in der Haarpflegewerbung bis heute verändert hat. r e 0 6 HELM-HAARE r e 0 7 POLY-HAARE Auch in den 70er Jahren überwiegt die Frau als jugendliche Attraktive. Lediglich 4% der deutschen Fernsehwerbefrauen sind berufstätig.10 Dazu ist sie verführerisch, es wird mehr Haut gezeigt, kurze Kleidung und häufiger werden Hosen getragen. Das Hausfrauendasein hat sich weiterentwickelt. Die beworbenen Produkte sollen der Hausfrau nun Arbeit abnehmen oder sie erleichtern. Außerdem steigern sich zu dieser Zeit die Vorher-Nachher-Vergleiche. Bei „Head and Shoulders“, dem Anti-Schuppen-Shampoo, kommt 1978 die erste Färbung ohne Ammoniak auf dem Markt, Gel als Stylinghilfe wird populär, so wie Tönungsshampoos und pflanzliche Wirkstoffe in den Produkten. Abb. 1 soll anhand der semiotischen Bildanalyse nach Felix Thürlemann die Werbewirkung bewusst machen.11 Es soll später ein Blick auf eine weitere Werbeanzeige geworfen werden, um einen Vergleich zu ziehen. In Abb. 1 wird für unterschiedliche Spülungen geworben. Die Anzeige veranschaulicht außerdem, dass die Produkte nun größer und lebendiger dargestellt werden (Zitrone und Kräuter). Gleichzeitig wirkt sich das auf die schwungvoll fallenden Haare der Werbefrau aus, die Lebensgefühl und Freude r e 0 8 SCHAUM-HAARE Abb. 2: ursprünglicher Konzern: Henkel r e 0 9 Frau tritt nun rockiger, athletisch und mit toupiertem, aufgebauschtem Haar auf. Haarspray und Schaumfestiger sind unentbehrlich. Neben dieser Seite existieren aber auch viele Styles nebeneinander. Von verführerisch bis sexuell anzüglich ist alles dabei. Christiane Schmerl hat für das Jahrzehnt einige interessante Beobachtungen im Bereich der Fernsehwerbung gemacht: Tagsüber, wenn vermehrt Kinder und Frauen fernsehen, werden stärker geschlechtsstereotype Werbespots gesendet. Der Mann erscheint in autonomer, die Frau in abhängiger Rolle. Am Abend ist die Ausprägung nicht so stark, da nun Berufstätige die Zielgruppe darstellen. Am Wochenende erscheint die Frau in der Werbung häufig mit Familie oder als Sexobjekt.12 Im Allgemeinen werben Frauen dennoch kaum für außerhäusliche Produkte und werden immer noch dekorativ dargestellt. Diesen Sachverhalt bezeichnet Heller (1992) wie folgt: „Im Beruf nichts zu suchen und zu Hause nichts zu tun.“13 Karriere-Haare Die Werbefrauen der 90er Jahre sind dünner denn je und auch in Werbeanzeigen zu Haarpflegemitteln hat sich viel verändert. Es werden starke Kontraste gesetzt. Gefragt sind Haarfarbe und Lippenstift im Einheitston und blasse, makellose Haut. Die Werbefrau blickt ernster drein und steht häufig in Interaktion mit Männern. Das Haar wird in allen Farben und Formen getragen. Neben der Hausfrau orientiert sich die Werbung an der Karrierefrau (Abb. 2). Die syntaktische Ebene der Werbeanzeige zeigt einen ruhigen, hell gehaltenen Hintergrund. In Mittelblau sticht der Name der Sytling-Serie „Karriere“ heraus. Auf der nächsten Ebene finden wir drei Frauen und einen Mann, deren Kleidung hauptsächlich in grau, weiß und schwarz gehalten ist. Jeder posiert anders. Den gesamten unteren Bildrand füllen die verschiedenen Produkte der Serie und bilden somit den Vordergrund. Diese werden in grellen, glänzenden Farben präsentiert. Selbst das Schwarz glänzt. Die gelb unterlegten Informationen zu „Tips & Tricks“ sind hier ein „eye-catcher“. Über die Semantik sagt die Anzeige der Haarpflegemittel folgendes aus: Die Wichtigkeit des Produkts wird über die Auswahl verstärkt. Es werden Haarschaum, Gel und diverse andere Ausfüh- 47 46 Die Frau in der Werbung der 60er Jahren ist keine 30 Jahre alt und sehr attraktiv. Sie tritt in die Rolle der stolzen Hausfrau auf und präsentiert das Produkt, indem sie es in den Händen hält. Sie ist adrett, tüchtig und strebt wohlmöglich nach Lob für die korrekte Benutzung. Bezogen auf das Haar waren zu dieser Zeit neben glattem, langem Haar und dem Kurzhaarschnitt Haarteile und Perücken als Hutersatz modern. Außerdem hatte man die Dauerwelle abgelegt und in vielen Werbeanzeigen waren Helmfrisuren üblich.8 Werbeanzeigen dieser Zeit zeichnen sich häufig durch derartige Frisuren aus, die dank des Produktes perfekt sitzen und strahlen. Typischerweise wird auf einen Hintergrund verzichtet und ein umfangreicher Anzeigetext zugefügt. Zusätzlich erfolgen in den 60er Jahren erste Spielereien mit Haarfarbveränderungen und einem Vorher-Nachher-Vergleich mit Farbfotografie. Die Frau bleibt allerdings passiv und unbeweglich wie ihr Haar. Schwarzkopf wirbt 1966 mit dem Slogan „Zeigen sie ihr Schönstes – Ihr RendezvousHaar“. Das Produkt soll die Frau also letztlich für den Mann begehrlicher machen.9 Abb. 1: ursprünglicher Konzern: Henkel ausdrücken. Betrachtet man die syntaktische Ebene, werden zunächst die formalen Beziehungen der Werbeanzeige in Zusammenhang gebracht: Der Hintergrund ist hellblau gehalten und geht nach vorne hin ins Weiße über. Die Schrift passt sich mit diesen Farben an. Im linken Vordergrund ist eine Frau abgebildet, die sich durch das Haar fährt und lacht. Im Mittelpunkt des Bildes stehen die Produkte, die am größten abgebildet sind und mit ihren Inhaltsstoffen verziert sind. Sie sind hier der „eye-catcher“. Die Semantik dahinter zeigt, dass das Produkt der Anzeige das Wichtigste ist. Die Kleidung der Frau, die durch ihre Geste Bewegung vermittelt, ist in den Farben des Hintergrundes gehalten. Die gezeigte Frau ist die erfolgreiche Verwenderin der Haarspülungen, da ihr Haar, wie angekündigt, glänzt und seidig ist. Auf pragmatischer Ebene soll nun der Zweck dieser Anzeige analysiert werden. Es wird ein Phänomen dargestellt, dass vielen Frauen bekannt sein sollte (glanzloses Haar). Hier erfolgt also ein Rückgriff auf das Problem einer sehr breiten Zielgruppe. Die Werbefrau vermittelt ein positives Gefühl, das zum Kauf des Produktes führen soll. Es wird auf viel Text verzichtet und durch die große Aufschrift „Poly Kur“ auf jeder Flasche, erlangt das Produkt einen größeren Wiedererkennungswert. rungen abgebildet. Hier ist für jeden Typ das passende Produkt dabei. Die Werbefrauen und der Mann stehen für die verschiedenen Karrieretypen, was sich auch in ihrer Berufskleidung widerspiegelt (Anzug, Bluse etc.). Für die Analyse im Bereich der Pragmatik ist auffällig, dass erneut ein Vorverständnis vorausgesetzt wird. In diesem Beispiel wird damit gearbeitet, dass jeder nach Karriere strebt. Dieses „Problem“ soll nun mittels der Haarpflegemittel verbessert und die Karrierechancen optimiert werden. Es wird wieder ein sehr allgemeiner Sachverhalt aufgegriffen, und somit eine breite Zielgruppe angesprochen. Außerdem wird möglichst wenig Text verwendet, die Produkte in den Mittelpunkt gerückt und ein positives Gefühl zum Kaufen vermittelt. e t u he PROBLEM-HAARE? Mittlerweile hat man sich in Werbeanzeigen vermehrt dem Thema Familie und Freundschaft zugewendet. Der Schönheitsbegriff ist erweitert worden und es gibt keine Einheitsvorstellung mehr, wie Frau auszusehen hat. Abb. 3 zeigt die Darstellung von Werbefreundinnen und es wird sich ironisch mit möglichen Haarproblemen auseinander gesetzt. „Trockenes Haar? Darüber können wir nur lachen.“ (Nivea 2001). Doch auch mit Blick auf diese Werbeanzeige wird deutlich, dass sich das Muster, nach denen Werbeanzeigen gestaltet werden, kaum verändert hat. Grundlegend wird ein bestimmter Sachverhalt aufgegriffen, der für Frauen ein „Problem“ darstellt. Mit diesem Rückgriff auf allgemein verbindliche Klischees, nämlich, dass Frau außer trockenem, glanzlosem Haar keine anderen Probleme hat, soll eine möglichst breite Zielgruppe angesprochen werden. Es wird ein positives Gefühl vermittelt, das zum Kauf der Produkte anregt. Die Werbefrau bleibt dabei eher in der Rolle der Vermittlerin, anstatt zum Identifikationsobjekt zu werden. ? Braucht die Frau Haarpflege-Werbung? Nach dieser kurzen Betrachtung von Frauen in Anzeigewerbung am Beispiel von Haarpflegeprodukten lässt sich folgendes festhalten: Seit den 60er Jahren bedienen Werbeanzeigen Klischees. Die Beispiele haben deutlich gezeigt, dass Frauen trotz Berufstätigkeit und Karriere in Muster gezwängt werden. Ihnen werden Probleme auferlegt, die sich im Laufe der Zeit nicht verändert haben: Sprödes, trockenes, glanzloses, fettiges, schuppiges Haar. So werden Stereotypen konstruiert und immer am Leben erhalten. Die Werbefrau ist bis heute Mittel zum Produktverkauf geblieben. Es ist also fraglich, ob Vorurteile jemals verschwinden, wenn Werbung sie ständig neu belebt. Ob die Werbung nun ein Spiegel der Gesellschaft ist oder sie beeinflusst, ist problematisch. Der gesellschaftliche Spiegel kommt nicht von ungefähr und eine Beeinflussung ist wohl unumgänglich. Fakt ist, Werbung spiegelt gesellschaftliche Vorurteile wieder. Gleichzeitig beeinflusst sie die Gesellschaft durch deren Aufrechterhaltung und zwingt diese, in Mustern zu denken. Erst wenn die Muster gebrochen oder gleichermaßen auf den Mann, der ja seine eigenen „Probleme“ in der Werbung hat, übertragen werden, kann eine Veränderung in der Werbung hervorgebracht werden. Fußnotten 1 Vgl. Geuthner, Anne: Klementine und Kindsweib: Die Frau in der Werbefotografie. Tectum Verlag. Marburg. 2008. S. 270 2 Vgl. Grube, Norbert: Westdeutsche Haarmoden und Haarpflege der 50er und 60er Jahre im Spiegel demoskopischer Daten. Aus: Janecke, Christian (Hrsg.): Haare tragen. Eine kulturwissenschaftliche Annäherung. Böhlau Verlag. Köln 2004. S. 234 3 Ebda. S. 236 4 Schoenen, Judith: Das Image der Frau: Wege zu einem neuen Selbstbild. Budrich Verlag. Leverkusen. 2008. S. 20 5 Ebda. S. 33 6 Feise-Mahnkopp, Patricia: Die Popularisierung männlicher Schönheit in der Werbung. Aus: Geiger, Annette (Hrsg.): Der Schöne Körper: Mode und Kosmetik in Kunst und Gesellschaft. Böhlau Verlag. Köln. 2008. S. 225 7 Vgl. Reinhart, Martina: Schönheit und der Körper der Frau: Eine Analyse. Edition Va Bene Verlag. Wien-Klosterneuburg. 2011. S. 68 8 Vgl. Schmerl, Christiane (Hg.): Frauenzpp der Werbung: Aufklärung über Fabeltiere. Frauenoffensive Verlag. München. 1992. S. 82 9 Vgl. Geuthner, Anne: Klementine und Kindsweib: Die Frau in der Werbefotografie. Tectum Verlag. Marburg. 2008. S. 82 10 Vgl. Schmerl in Angerer, Marie-Luise (Hrsg.); (u.a.): 9. Gender und Medien: theoretische Ansätze, empirische Befunde und Praxis der Massenkommunikation; ein Textbuch zur Einführung. Braunmüller Verlag. Wien. 1994. S. 135 11 Vgl. Thürlemann in Kolhoff-Kahl, Iris: Ästhetische Muster-Bildungen: Ein Lehrbuch mit ästhetischen Werkstätten zum Thema Kleid – Körper - Kunst. Kopaed Verlag. München. 2009. S 138 12 Vgl. Schmerl in Angerer, Marie-Luise (Hrsg.); (u.a.): 9. Gender und Medien: theoretische Ansätze, empirische Befunde und Praxis der Massenkommunikation; ein Textbuch zur Einführung. Braunmüller Verlag. Wien. 1994. S. 135 13 Heller in ebda. S. 139 Literaturverzeichnis Angerer, Marie-Luise (Hrsg.); (u.a.): 9. Gender und Medien: theoretische Ansätze, empirische Befunde und Praxis der Massenkommunikation; ein Textbuch zur Einführung. Braunmüller Verlag. Wien. 1994 Feise-Mahnkopp, Patricia: Die Popularisierung männlicher Schönheit in der Werbung. In: Geiger, Annette (Hrsg.): Der Schöne Körper. Mode und Kosmetik in Kunst und Gesellschaft. Böhlau Verlag. Köln. 2008 Geuthner, Anne: Klementine und Kindsweib. Die Frau in der Werbefotografie. Tectum Verlag. Marburg. 2008 Götting, Waltraud: Jahrzehnte der Schönheit ... liegen im Auge ... des Betrachters : Leben & Zeit, bekannte Gesichter, Film & Medien, Mode, Haar & Hüte, Kosmetik, Formen & Dessous, Arbeit & Spiel. Decades of beauty <dt.> Ullstein Verlag. Berlin. 1999 Grube, Norbert: Westdeutsche Haarmoden und Haarpflege der 50er und 60er Jahre im Spiegel demoskopischer Daten. In: Janecke, Christian (Hrsg.): Haare tragen. Eine kulturwissenschaftliche Annäherung. Böhlau Verlag. Köln 2004 Holtz-Bacha, Christina: Stereotypen?: Frauen und Männer in der Werbung., VS Verlag für Sozialwissenschaften/ Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH. Wiesbaden. 2011 Huster, Gabriele: Wilde Frische – zarte Versuchung. Männer- und Frauenbilder auf Werbeplakaten der fünfziger bis neunziger Jahre. Jonas Verlag. Marburg. 2001 Kolhoff-Kahl, Iris: Ästhetische Muster-Bildungen. Ein Lehrbuch mit ästhetischen Werkstätten zum Thema Kleid - Körper - Kunst. Kopaed Verlag. München. 2009 Reinhart, Martina: Schönheit und der Körper der Frau. Eine Analyse. Edition Va Bene Verlag. Wien-Klosterneuburg. 2011 Schmerl, Christiane (Hg.): Frauenzpp der Werbung. Aufklärung über Fabeltiere. Frauenoffensive Verlag. München. 1992 Schoenen, Judith: Das Image der Frau: Wege zu einem neuen Selbstbild. Budrich Verlag. Leverkusen. 2008 Abbildungsverzeichnis Abb. 1: ursprünglicher Konzern: Henkel, keine Bildrechte mehr vorhanden Abb. 2: ursprünglicher Konzern: Henkel, keine Bildrechte mehr vorhanden Abb. 3: Firma Beiersdorf AG, 2001 zusätzlicher Hinweis Die Bildrechte diese Bilder konnten nicht nachverfolgt werden. Bei unbeabsichtigten Verstößen gegen das Copyright bitte melden. Lena Wisdorf 49 48 Abb. 3: Firma Beiersdorf AG, 2001 Die 1920er Jahre gelten als die Zeit der ersten großen Welle der Frauenemanzipation. Im heutigen Rückblick auf diese Emanzipationswelle stritten Frauen für das Recht auf Körperfreiheit, politische Mitbestimmung, wirtschaftliche Selbstständigkeit und für sexuelle Unabhängigkeit. Mit diesem Jahrzehnt eng verbunden ist der Bubikopf als revolutionär anmutender Kurzhaarschnitt dieser Epoche. Ebenso untrennbar ist diese Frisur mit dem Typus der Garçonne verbunden, jener Frauentyp, der männliche Accessoires und Kleidungsstücke nutzte, um sich zu emanzipieren. Oft wird eine Garçonne als schlanke, androgyn wirkende Dame mit Monokel und Zigarre, im Anzug oder Hängekleid und mit glatter, strenger Kurzhaarfrisur porträtiert. Abb. 1: Elise Kö hler (1.Reihe M itte) trägt Bubikopf, Ende der 20er Jahre. en in Hos scheid m e R 900. n aus erinne rsett. Um 1 t i e b r Ko :A Abb. 2 weise ohne l i e t und 50 „Weshalb aber lange haare weiblich und kurze männlich sein sollen – darüber mögen sich die alten weiber unter den männern den leeren kopf zerbrechen.“ 1 Adolf Loos Phänomene, wie der Bubikopf oder der Bobhaarschnitt, treten im kulturellen Kontext nicht von heute auf morgen auf. Auch wenn es aus unserer heutigen Perspektive den Anschein haben mag, als hätten sich die Frauen plötzlich im Kollektiv entschieden, kurze Haare zu tragen, war dies tatsächlich ein langer gesellschaftlicher Prozess, der schon während der Französischen Revolution in Form von Frauenbewegungen seinen Anfang nahm. 1848 forderten dann auch deutsche Frauenbewegungen erstmals wirtschaftliche Unabhängigkeit und das Stimmrecht. 3 1896 verlangten sie auf dem ersten Frauenkongress körperund arbeitsgerechte Kleidung. Die Frauen befreiten Das Auftreten einer solchen Frau muss in dieser Zeit sich mit dem Reformkleid vom Korsett. für große Verwirrung gesorgt haben, denn es war nicht unbedingt erkennbar, welches Geschlecht sich hinter Kleidung und Frisur verbarg. Der Bubikopf wurde aber nicht nur von den Garçonnen getragen: Die kurzen Haare einer Frau wurden zum Symbol der Frauenemanzipation der 20er Jahre, ebenso wie die kurzen Röcke und Kleider dieser Zeit. Warum schnitten sich so viele Frauen die langen Haare ab und warum verursachte das Abscheiden einen solchen Aufschrei? Dieser Text soll das Auftreten des Bubikopfes in den 1920er Jahren in den kulturgeschichtlichen Kontext des weiblichen Haare Tragens einbetten. Auch heute, fast hundert Jahre nach dem ersten Aufkommen des Bubikopfes, gelten die langen Haare einer Frau als Weiblichkeitsmerkmal und in der aktuellen Werbung wird mit seidig glänzendem und vor allem langem Haar geworben. Dass die kurzen Frauenhaare der 20er Jahre ein Thema von größtem gesellschaftlichem Interesse waren, das höchst kontrovers diskutiert wurde, wird an zeitgenössischen Stellungnahmen deutlich. Von jenen, die fragen, wann endlich die richtigen Frauen zurückkehren, bis zum absoluten Verständnis für die weibliche Selbstbestimmung finden sich zahlreiche Beiträge in Zeitschriften und Aufsatzsammlungen. Meist sind es Schriften von Männern, die die Frauenbewegung kritisieren. Oft wird der Aspekt thematisiert, dass die Frau sich zwar weiter entwickelt habe, der Mann jedoch nicht. Die Schriftstellerin Vicky Baum bringt den Konflikt der Geschlechter auf den Punkt: „Und da können Sie, lieber „Uhu“, die Frau modernisieren, so viel Sie wollen – der Mann bleibt altmodisch.“ 2 Abb.3: Dr. Lahmann – Reformkleid nach Dr. Lahmann, 1905. 51 Frauenfreiheit und Frisur Bubikopf und Herrenwinker Schnipp schnapp Haare ab ...ist einfach praktischer Abb.4: Verwandtschaft Elise Köhlers väterlicherseits - Frauen verschiedenen Alters ohne Korsett, 20er Jahre. Allerdings wurde das Reformkleid nur von emanzipierten, selbstbewussten Frauen getragen, die häufig aus dem künstlerischen Milieu stammten. 4 Trotzdem ebnete es den Weg für die Charlestonkleider der 20er Jahre, die wiederum eng mit der Kurzhaarfrisur verbunden waren. Passend zum weit geschnittenen Reformkleid wurden die Haare in einem lockeren Knoten getragen, der die natürliche Bewegung der Haare nicht einschränkte.5 Diese Frisur erinnert schon an die Bobfrisuren der folgenden Epoche und öffnet so richtungsweisende Türen für den Bubikopf. Dieses neu entstehende Körperbewusstsein ist vor allem durch gesundheitliche Aspekte geprägt. Es geht darum, den eigenen Körper gesund zu halten und zu pflegen. In diesem Zusammenhang ist zu verstehen, warum gerade die Arbeiterinnen sich Anfang des 20. Jahrhunderts ihrer langen Haare und damit verbundenen aufwändigen Frisuren entledigten. Die langen Haare behinderten die Angestellten und stellten Gefahrenquellen dar.6 So ist es eben durchaus möglich, dass auch 1910 schon Frauen Kurzhaarfrisuren trugen, es war aber die Seltenheit. Nichtsdestotrotz greift bereits der Stummfilm dieses Thema auf und präsentiert besonders verruchte Frauen mit kurzem Haar.7 Der Film als Medium für Wünsche und Zukunftsvisionen trägt also erheblich dazu bei, dass kurze Haare zum Vorbild für sexuelle Befreiung werden. leisten konnte. Diese Frauen unterhielten oftmals Affären zu spendablen Männern um ihren Lebensunterhalt aufzustocken.8 Die Frage stellt sich also, ob man von weiblicher Emanzipation und sexueller Befreiung sprechen kann, erscheint die veränderte gesellschaftliche Situation eher wie eine Verschiebung der patriarchalen Problematik. Dazu heißt es: „Ihre Gleichberechtigung beschränkt sich auf die Teilnahme am öffentlichen Leben und am Konsum, und auf offensivere Strategien bei der Partnersuche. Daß sie dadurch auch verfügbarer, verletzlicher und austauschbarer sind als ihre viktorianischen Schwestern ist die Kehrseite der vermeintlichen Freiheit.“ 9 So ist die Frau wieder mit der erotischen (Be-)Deutung ihrer Haare stigmatisiert. Auch wenn die Haare abgeschnitten sind, entlarven sie sie als verfügbare Frau, jedoch stehen sie doch meistens für ihren Wunsch nach Selbstverwirklichung im Beruf und der damit verbundenen unzureichenden Bezahlung. Gleichzeitig muss die junge Frau wiederum der Mode entsprechen, um überhaupt eine Anstellung zu bekommen. Auch heute entscheidet oftmals noch das äußere Erscheinungsbild einer Bewerberin über eine mögliche Anstellung, meistens schon durch eine Vorauswahl über das Bewerbungsfoto. Die Frisur übernimmt zusammen mit der sonstigen äußerlichen Erscheinung die Funktion, die subjektiven Werte äußerlich zu verdeutlichen und ist mitentscheidend für oder gegen eine Anstellung, je nach Interesse des Arbeitgebers. Fast 100 Jahre später...“und was machen wir heute Schönes?“ „Und was machen wir heute Schönes?“, ist wohl die Frage die viele Frauen schon unzählige Male gehört haben. Immer dann, wenn sie beim Friseur sind und dieser die Haare begutachtet, während er freundlich in den Spiegel lächelt. An dieser Frage hat sich in den letzten 100 Jahren wahrscheinlich nichts geändert. Was sich geändert hat ist der gegenwärtige Trend des „everything goes“. Zahlreiche Beauty Ratgeber, Stylingexperten und individuelle Typberatungen vermitteln der Frau heute, wie etwas wirkt und welche Aussage man damit gegenüber der Gesellschaft macht. Von frechen bis zu romantischen Frisuren bieten der Friseur und Der Krieg macht Frauenhaare kürzer und kreiert neue Stereotype 52 Abb.6: Elise Köhler 1. v. Links 20er Jahre weibliches Kollektiv, Ende der 20er Jahre. 53 Der Erste Weltkrieg bricht 1914 aus und fordert auch auf Seiten der Frauen erhöhten Einsatz. Die Frauen müssen nun die Arbeiten der Männer übernehmen, um die Industrie zu erhalten. Im Zuge der Übernahme der männlichen Aufgaben fordern die Frauen auch die Rechte der Männer ein. Sie bekommen vielerorts das Wahlrecht und ein neues Selbstbewusstsein entwickelt Abb. 5: Elise Köhler - das junge Mädchen in der Stadt, sich. Damit verändert sich ebenso das Körperbewusstsein. Mitte der 20er Jahre. Als sich 1915 die Tänzerin Irene Castle den Bubikopf schneiden ließ, folgte die emanzipierte Frauengesellschaft ihrem Vorbild. Dem Kriege zum Trotz interessierte sich die Frau für den modischen Ausdruck ihrer neuen Rolle. Dadurch formt sich gleichzeitig ein neues Stereotyp des Mädchens, das sein Glück in der Arbeit anstatt in der Ehe findet. Gerade in der Nachkriegszeit zieht es viele junge Frauen in die Stadt. Dort arbeiten sie als Angestellte oder als Sekretärin. Zu dem Selbstverständnis dieser Gruppe gehört neben entsprechender Kleidung der Bubikopf, häufig in Kombination mit Herrenwinkernkleine, nach außen gedrehte Löckchen. Das Gehalt dieser angestellten Frauen lag deutlich unter dem der Männer. Sie verdienten pauschal ein Viertel weniger, sodass sich kaum eine Frau die Miete für ein Zimmer die Illustrierten reichlich Vorschläge, in denen jede Frau ihre individuelle Frisur für ihr gesellschaftliches Statement wiederfindet. Nach Immanuel Kant kann der Mensch in der Gesellschaft nicht außer der Mode sein. Die Frau ist gezwungen den perfekten Selbstausdruck zu finden – auch in der Frisur! Die Frisur dient also auch heute dazu, soziale Zugehörigkeit deutlich zu machen. Subkulturen definieren sich ebenfalls weiterhin über ihre Frisuren, als Beispiele seien Skin Heads, die ihre Kopfhaare abrasieren, oder Gothics, die ihre Haare vornehmlich schwarz färben, genannt. Die unzähligen Möglichkeiten der gesellschaftlich akzeptierten Frisuren erfordern heute, mehr als vor 100 Jahren, eine intensive Auseinandersetzung mit dem eigenen Selbstverständnis. Drückte der Bubikopf in den 20er Jahren vor allem eine gesellschaftliche Idee aus, die sich vor gesundheitlichen und praktischen Hintergründen entwickelt hat, zeigt man mit seiner Frisur heute vor allem seine Persönlichkeit. Der Unterschied zu den Kurzhaarfrisuren der 20er Jahre zu heutigen Frisuren besteht also darin, dass in den 20er Jahren eine bestimmte Frisur, nämlich der Kurzhaarschnitt, modern und populär war und einheitlich von „emanzipierten“ Frauen getragen wurde, während heute keine einheitliche weibliche Frisur eine Frauengruppe charakterisiert. Selbst in Subkulturen wird der gemeinschaftliche Ausdruck, zum Beispiel das Tragen schwarzer Haare, etwa durch einen besonderen Haarschnitt subjektiviert. Die Frisur ist also nicht mehr unbedingt Träger einer gesellschaftlichen Idee, wie es die weibliche Kurzhaarfrisur der 20er Jahre war. Sie ist subjektiv ausgesucht und Träger der eigenen Ich-Wahrnehmung geworden. Die Frage, die in diesem Zusammenhang gestellt werden muss, ist, ob dieser Pool an Frisurmöglichkeiten, aus denen die Frau heute schöpfen kann bzw. muss, die Errungenschaft einer emanzipierten Frauengesellschaft ist. Die gegenwärtige Frau ist gezwungen, sich damit auseinander zu setzen, welche Aussage sie mit ihrer Frisur macht und in welchem Kontext sie steht. Ein geflochtener langer Zopf könnte beispielsweise eher konservativ und altmodisch wirken, ein hochgesteckter Dutt eher streng und dominant. Die Frau ist damit nicht von Stigmatisierung und Rollenzuschreibungen befreit, denn je subjektiver und individueller die äußere Erscheinung, desto mehr wird sie vom Außen interpretiert und umso angreifbarer und verletzlicher wird die einzelne Person. In diesem Sinne bot das weibliche Frisurenkollektiv der 20er Jahre einen gewissen Schutzraum, in dem die einzelne emanzipierte Frau einem Verbund von Gleichgesinnten beitrat. Fußnoten 1 Loos, Adolf : KURZE HAARE Beantwortung einer Rundfrage (1928). Aus: Opel, Adams (Hrsg.): Trotzdem Gesammelte Schriften 1900-1930. Georg Prachner Verlag. Wien/Erstausgabe 1931/1997, S.207 2 Baum, Vicky: Welche Frau ist am begehrtesten? In: Jatho, Gabriele; Rother, Rainer (Hrsg.): City Girls Frauenbilder im Stummfilm. Stiftung Deutsche Kinemathek und Bertz+Fischer Verlag. Berlin 2007, S.119 3 Vgl. Antoni-Komar, Irene: Kulturelle Strategien am Körper . Frisuren. Kosmetik. Kleider. Deutscher Buchverlag, Oldenburg 2006, S. 50 4 Vgl. Ebda. S. 59 ff 5 Vgl. Jedding-Gesterling, Maria; Brutscher, Georg; Hurschmann, Rolf (Hrsg.): Die Frisur: eine Kulturgeschichte der Haarmode von der Antike bis zur Gegenwart: veranschaulicht an Kunstobjekten der Sammlung Schwarzkopf und internationaler Museen. Callwey Verlag. München 1988, S. 202 6 Vgl. Ebda. S. 210 7 Vgl. Sannwald, Daniela: Überlebenskünstlerinnen. In: Jatho, Gabriele; Rother, Rainer (Hrsg.): City Girls Frauenbilder im Stummfilm. Stiftung Deutsche Kinemathek und Bertz+Fischer Verlag. Berlin 2007,S. 15f 8 Vgl. Brauerhoch, Annette: Arbeit, Liebe, Kino. In: Jatho, Gabriele; Rother, Rainer (Hrsg.): City Girls Frauenbilder im Stummfilm. Stiftung Deutsche Kinemathek und Bertz+Fischer Verlag. Berlin 2007, S. 62 9 Sannwald, Daniela: Überlebenskünstlerinnen. In: Jatho, Gabriele; Rother, Rainer (Hrsg.): City Girls Frauenbilder im Stummfilm. Stiftung Deutsche Kinemathek und Bertz+Fischer Verlag. Berlin 2007, S. 46 naler Museen. Callwey Verlag. München 1988 Loos, Adolf : KURZE HAARE Beantwortung einer Rundfrage (1928). In: Opel, Adams (Hrsg.): Trotzdem Gesammelte Schriften 1900-1930. Georg Prachner Verlag. Wien, Erstausgabe 1931, 1997 Zeitschrift: Die Zeit Geschichte, wilder denken, freier lieben, grüner wohnenJugendbewegung und Lebensreform in Deutschland um 1900-anders leben. ZEIT Geschichte, Zeitverlag Gerd Bucerius, GmbH & Co. KG Hamburg Nr.2 2013 54 Abbildungsverzeichnis Abb. 1: Elise Köhler (1.Reihe Mitte) trägt Bubikopf, Ende der 20er Jahre. Familienbild/ Privatbesitz der Familie Langschwager/ Heyden – Elise Köhler ist die Urgroßmutter von Saskia Heyden und wurde im Jahr 1910 geboren. Vermutlich zeigt die Aufnahme, Freundinnen der höheren Töchterschule. Abb. 2: Arbeiterinnen aus Remscheid in Hosen und teilweise ohne Korsett. Um 1900. Familienbild/Privatbesitz der Familie Langschwager/ Heyden. Das Foto zeigt Elise Köhlers Mutter (2. von rechts). Abb. 3: Dr. Lahmann – Reformkleid nach Dr. Lahmann, 1905. http://bildbasis. de/index.php?main_page=product_info&cPath=159_268_301&products_ id=5962/ Die Frau als Hausärztin. Ein ärztliches Nachschlagebuch ... Von Dr. med. Anna Fischer-Dückelmann. 2. verm., verb. Jubiläums-Pracht-Ausgabe. Stuttgart Süddt. Verlags-Institut, Druck von Decker & Hardt, Stuttgart/ das Bild gilt als gemeinfrei gekennzeichnet und ist zur uneingeschränkten Nutzung freigegeben. Abb. 4: Verwandtschaft Elise Köhlers väterlicherseits - Frauen verschiedenen Alters ohne Korsett, 20er Jahre. Familienbild/Privatbesitz der Familie Langschwager/ Heyden. Abb. 5: Elise Köhler - das junge Mädchen in der Stadt, Mitte der 20er Jahre. Familienbild/Privatbesitz der Familie Langschwager/ Heyden. Abb. 6: Elise Köhler 1. v. Links - 20er Jahre weibliches Kollektiv, Ende der 20er Jahre. Familienbild/ Privatbesitz der Familie Langschwager/ Heyden. Vermutlich zeigt die Aufnahme, Freundinnen der höheren Töchterschule. Ob zur Weltmeisterschaft, Europameisterschaft oder in der Bundesliga. Wenn man an Fußball denkt, sieht man auch die männlichen Fußballstars und ihre Frisuren. Wie oft schon wurden die neusten Frisurentrends der Spieler heiß diskutiert und lösten einen regelrechten Boom in der Frisurenbranche aus. Fußball ist nicht mehr nur eine Sportart, sondern auch zum Trendsetter im Bereich der Männerfrisuren geworden. Es gilt: „Zeig mir einen charakteristischen Fußballerkopf von hinten und ich sage dir anhand der Frisur, um wen es sich handelt.“ Aber wie wird ein Fußballstar durch seine Haare zum Trendsetter? keit und Bildung gesellschaftlichen Gruppe wichtig. Nach Flügel gibt es drei Hauptzwecke der Kleidung: Schmuck, Scham und Schutz. Diese Punkte aus der Modetheorie lassen sich auch auf die Haarmode übertragen.2 Unser Haar ist Ausdruck unserer Persönlichkeit. Es ist wie die Kleidung auch von weitem zu erkennen und gibt verschiedene Informationen über uns preis. Wie wir unser Haar tragen, ist Zeichen unserer Vorlieben, Zugehörigkeit, Nationalität, politischen oder religiösen Einstellung oder des Status (siehe Abschnitt zu Kleidung). Das Haar ist Ausdruck unseres Selbst. Wie Flügel es schon benannt hat, dient auch das Kopfhaar einerseits zum Schmuck und verfeinert unser AusseHAARE MACHEN LEUTE hen, ist Teil der Schönheit.3 Andererseits schützt es Anhand unserer Kleidung bilden Menschen ihre Mei- uns vor Wettereinflüssen oder Verletzungen. Ohne nung über uns. Die Kleidung eines Fremden erzählt unser Kopfhaar fühlen wir uns nackt. Wie durch ununs viel über seine Persönlichkeit, Beruf, Nationalität, sere Kleidung präsentieren wir uns auch durch das Zugehörigkeit und Status in der Gesellschaft. Ohne Haar anderen gegenüber. einen Menschen direkt zu kennen, gibt er durch sei- In der Fußballwelt ist dies zu einem gängigen Mittel ne Kleidung einen Teil von sich preis.1 Wir können geworden, um gezielt Aufmerksamkeit zu erregen uns so auch ohne einen Menschen zu kennen, eine und medienwirksam aufzufallen. Fußballspieler bebestimmte Meinung über die fremde Person bilden nutzen ihre Haarfrisuren, um sich selbst zu inszenieund entscheiden, ob wir diese näher kennenlernen ren, wie der Fußballstar David Beckham. Kaum eine möchten oder nicht. Die Kleidung spielt daher in der Frisur hat er ausgelassen, Trends gesetzt und mit Gesellschaft eine entscheidende Rolle und ist für dem Ausdruck seiner Haare ein Bild für die Öffentunser Zusammenleben, das Gefühl von Zugehörig- lichkeit geschaffen. 55 Literaturverzeichnis Antoni-Komar, Irene: kulturelle Strategien am Körper. Frisuren. Kosmetik. Kleider. Deutscher Buchverlag, Oldenburg 2006 Jatho, Gabriele; Rother, Rainer (Hrsg.): City Girls Frauenbilder im Stummfilm. Stiftung Deutsche Kinemathek und Bertz+Fischer Verlag. Berlin 2007 Jedding-Gesterling, Maria; Brutscher, Georg; Hurschmann, Rolf (Hrsg.): Die Frisur: eine Kulturgeschichte der Haarmode von der Antike bis zur Gegenwart: veranschaulicht an Kunstobjekten der Sammlung Schwarzkopf und internatio- Saskia Heyden BE A LITTLE MORE BECKHAM: FUSSBALLERFRISUREN ALS TRENDSETTER Abb. 1: Petr Kratochvil : David Beckham <a href="http://www.publicdomainpictures.net/view-image.php?image=7351&picture=david-beckham">David Beckham</a> abgefragt am 13.08.2013 Über fast keine andere Sportler-Haarpracht wurde so viel geschrieben, wie über die von David Beckham. Der Frisurenkünstler wechselt seine Frisuren teilweise monatlich und begeistert mit immer gewagten, neuen Looks. Glatze, gewellt, kurz, Buzz cut, Faux hawk, Maisreihen, Mohican, Pferdeschwanz oder lange Haare.4 Beckham machte die Frisur im Fußball salonfähig und schlug die Brücke zwischen der Glitzerwelt der Modestars und dem Rasen. Zudem setze er wieder Trends, wie es zuvor Fußballspieler in den 70 und 80er Jahren getan hatten. Fußballer und Stilikone in einem, das gelang bisher nicht vielen, aber einer davon ist David Beckham. Durch seine fußballerische Leistung erweckte David Beckham zunächst die Aufmerksamkeit der Medien, von einer Frisur konnte man zu der Zeit noch nicht sprechen. Schon mit 11 Jahren saß er bei Manchester United auf der Bank, bekam mit 16 seinen ersten Jugendprofivertrag. Mit 21 Jahren schließlich gelang ihm der Durchbruch. Währenddessen heiratete er medienwirksam Viktoria Beckham, die Sängerin der in den 90er berühmten Girlband „Spice Girls“. Ihre medienwirksame Berühmtheit eröffnete ihm neue Türen in die Werbewelt. Sportstars wie David Beckham bieten den Medien neben ihrem sportlichen Können auch Anknüpfungspunkte jenseits des Sports. Vereinswechsel, Geburten, Hochzeiten, gesetzliche Vergehen oder persönliche Krisen befördern sie in Nachrichten, Magazine, Talkshows und Werbespots. 5 Eine neue Plattform öffnete sich, um durch seine Frisuren weiterhin in den Medien publik zu werden. Mit dieser Weiterentwicklung war es ihm möglich, die Aufmerksamkeit von seinem fußballerischen Können, auf seine Haare zu lenken. Ohne die Medienfülle, wären seine Frisuren wahrscheinlich eher im Hintergrund geblieben. MOHICAN UND MAISREIHEN – MEHR ALS NUR GEMÜSE Anfang des neuen Jahrtausends fing David Beckham an, die Frisur als Markenzeichen festzusetzen. Auffällig war hier der Mohican.6 Kaum ein Haarstyle schreit so laut: „Look at me!“, wie der Mohican. Ein schmaler Haarstreifen, der das sonst glatte Haupt des Mannes schmückt. Eigentlich trugen die amerikanischen Ureinwohner den „Look“ schon vor mehr als 500 Jahren, verkörperte durch seine Frisur nicht mehr den gewandten Mann, die Haarpracht erschien eher wie eine Ghettofrisur, was nicht zu David Beckhams Image passte.10 Ob er nun gezielt von seinem biederen Auftreten weg wollte oder es einfach nur ein Fehlgriff war, bleibt unklar. Später betitelte er die Frisur mit den Worten: „Ich muss betrunken gewesen sein“11. Der Rummel um ihn als Person war durch seine Haare trotzdem geweckt. Danach folgte ein stetiger Wechsel zwischen Millimeterschnitt und langen Haaren. Der Fußball rückt in den Hintergrund und die Imageelemente, wie Beckhams ständig wechselnde Frisuren, sichern ihm die Aufmerksamkeit von Millionen Zuschauern. „Becks“ ist nicht nur Fußballer, er ist Model, Designer und Werbestar für die ganz großen Marken wie Pepsi, Gillette oder H&M.12 Mittlerweile trägt er einen mittellangen Schnitt, der sich je nach Auftritt mit Haarstylingprodukten variabel verändern lässt. Es ist zwar ruhig um David Beckhams Frisuren geworden, allerdings bleibt er wohl zeitlebens als Frisurengott in den Köpfen der Fans hängen. Beckham hat seine Haare genutzt, um die Öffentlichkeit zu bewegen. Nicht nur sein fußballerisches Können hat ihm zu einem Vorbild gemacht, sondern auch das medienwirksame Spiel mit seinen Haaren, die ihn zu einem Werbestar machten. Haare können Aufsehen erregen, berühmt machen, das Innere eines Menschen wiedergeben, Leute bewegen und eine Persönlichkeit präsentieren. Wie Kleidung sind Haare ein Mittel, um in der Öffentlichkeit wahrgenommen zu werden. David Beckham hat dies in seinem Frisurenspiel vereint und sich, indem er sein Haar als Imageelement nutzte, auch selber zu seiner Berühmtheit verholfen. 13 Als „postmoderner Popballer“ hat er sich selbst als ein Public-Relation-Gesamtkunstwerk erschaffen. Dennoch, ohne eine Verknüpfung von Sport und Medien wäre das Phänomen des Stars durch seine Haare nicht möglich. Aber durch seine Frisuren wird er immer „well known for being well known“ bleiben. Fußnoten 1 Vgl. Flügel, J.C.: Psychologie der Kleidung. In: Bovenschen, Silvia (Hrsg.): Die Listen der Mode, Suhrkamp Verlag. Frankfurt am Main 1986, S. 208. 2 Ebd. S. 209. 3 Ebd. S. 209. 4 Vgl. Simon, Violetta: http://www. sueddeutsche.de/stil/david-beckhams-frisuren-er-hatte-sie-alle1.1674649 abgerufen am 25.7.2013, 2013 , S.1. 5 Vgl. Schauerte, Thorsten; Schwiers, Jürgen: Vorbilder im Sport, Sportverlag Strauß. Köln 2007, S. 143. 6 Chambers, James: Footballers’ Haircuts. A new History. Weidenfeld & Nicolson. United Kingdom 2010. 7 Vgl. Hagen, I.: http://www.hairweb.de/fussball-david-beckham. htm, abgefragt am 31.5.2013, 2013. Main 1986 Bürklin, Jürgen- M.: Frisuren der 70er Jahre http://www.was-war-wann.de/ mode/frisuren_der_70er_jahre.html abgefragt am 07.06.2013 Chambers, James: Footballers’ Haircuts: A new History. Weidenfeld & Nicolson. United Kingdom 2010 Freddi, Chris: Footballers‘ Haircuts. The Illustrated History. Weidenfeld & Nicolson. United Kingdom 2003 Glasen, Fabian: Fußball(er)weisheiten/Sprüche/Zitate, http://www. tv-konstanz.de/TVK-Fussball/kurioses/ fussballweisheiten.html abgefragt am 07.06.2013 Hagen, I., David Beckham, http://www. hairweb.de/fussball-david-beckham. htm abgefragt am 07.06.2013 Harmer, Andy: Beckham Lookalike, http://beckhamlookalike.com/Contact. php abgefragt am 07.06.2013 Schauerte, Thorsten; Schwier, Jürgen: 8 Vgl. Simon, Violetta: http://www. sueddeutsche.de/stil/davidbeckhams-frisuren-er-hatte-sie-alle -1.1674649,abgerufen am 25.7.2013, 2013 , S. 8. 9 Ebd. S. 6 10 Ebd. S. 9 11 Ebd. S.9 12 Vgl. Hagen, I.: http://www.hair web.de/fussball-david-beckham. htm abgefragt am 31.5.2013, 2013. 13 Vgl. Schauerte, Thorsten; Schwiers, Jürgen: Vorbilder im Sport, Sportverlag Strauß. Köln 2007, S. 144 14 Ebd. S. 144. 15 Vgl. Whannel, 2001, S. 149 aus: Schauerte, Thorsten, Schwiers; Jürgen: Vorbilder im Sport, Sportverlag Strauß. Köln 2007, S. 14. Literaturverzeichnis Bovenschen, Silvia: Die Listen der Mode. Suhrkamp Verlag. Frankfurt am Helena Kampschulte Vorbilder im Sport. Sportverlag Strauß. Köln 2007 Simon, Violetta: http://www.sueddeutsche.de/stil/david-beckhamsfrisuren-er-hatte-sie-alle-1.1674649-18 abgefragt am 25.7.13 Abbildungsnchweise Abb. 1: Petr Kratochvil : David Beckham <a href="http://www. publicdomainpictures.net/view-image. php?image=7351&picture=davidbeckham">David Beckham</a> abgefragt am 13.08.2013 Abb. 2: © Sbukley | Dreamstime.com: David Beckham, http://www.dreamstime.com/royalty-free-stock-imagesdavid-beckham-image25180929# abegfragt am 13.08.2013 57 56 DAVID BECKHAM – SELBSTINSZENIERUNG EINES SPORTLERS Abb. 2: © Sbukley | Dreamstime.com: David Beckham, http://www.dreamstime.com/royalty-free-stock-images-david-beckham-image25180929# abegfragt am 13.08.2013 wenn sie in den Kampf zogen. Er symbolisierte Kraft und Widerstand gegen den Feind. Eine Einschüchterungsgeste, die über das Haar vermittelt wird. Welcher Sportler möchte im Wettkampf nicht stark, unbesiegbar und kämpferisch auftreten? Das sind kulturgeschichtlich gesehen die Attribute der „Jäger“. Beckham zeigt mit dem Haarschnitt einen angstfreien, kämpferischen Fußballer, der im Kampf mit seinen Feinden steht. Neben dem Schmücken, nach Flügel auch ein Zweck der Kleidung, zeigt er durch das Haar auf seinem Kopf seine innere Haltung und gibt damit ein Statement über seinen Charakter ab. Er wechselte seine Frisur so oft, dass er von Manchester United vertraglich dazu verpflichtet wurde, seine Frisur nur einmal im Jahr zu wechseln, da sonst die Merchandiseartikel zu oft geändert werden müssen.7 Je mehr er durch seine Frisuren ins Rampenlicht rückte, desto exklusiver wurden sie. Nach der Zeit des Mohicans stieg Beckham tiefer in das Stargeschäft ein und seine Frisuren wurden sanfter. 2003 waren die Haare dann bis auf Schulterlänge gewachsen. Als braver High-Class Star verkörperte er nun einen metrosexuellen Look.8 Dies passte gut zusammen mit seiner neuen Aufgabe als Werbestar. Es scheint, der Mann von Welt kann alles tragen und macht alte Trends, wie in den 70er Jahren, wieder salonfähig. Mit seinem Gellook und der Veränderung hin zu langen Haaren verkörperte er das Bild eines gepflegten, charismatischen reichen Mannes.9 Jede Strähne war akkurat gerichtet und der Schnitt sauber und glatt. Durch seinen neuen Haarschnitt gab Beckham ein neues Bild ab. Er stand nun mehr im Rampenlicht, wo auf ein gepflegtes Äußeres viel wert gelegt wird. Sein ausgewählter Haarschnitt symbolisierte Reichtum und Weltgewandtheit. Das mögliche Tabuthema Metrosexualität ist durch Beckhams Haarfrisur selbstverständlich geworden. Kurz danach folgten die Maisreihen: Geflochtene Haarpartien, die eng an seinem Kopf anliegen und somit „Reihen“ von Kopfhaut und Haaren zeigt. In der Medienwelt sorgte die Veränderung für Aufsehen. Beckham Lang ist gut, kurz " rockt nicht“ Metaller und ihre Haarpracht " Abb. 1: Ein headbangender Heavy Metal-Bassist. © Mareike Wagner / PIXELIO Denkt man im westlichen Kulturkreis an lange Haare, werden vielen Menschen wahrscheinlich Medienbilder von weiblichen Models mit langen blonden, brünetten oder roten Haaren vorschweben. Umfragen ergeben, dass Männer bei Frauen besonderen Wert auf lange, gepflegte Haare legen, weil man kulturhistorisch mit langen Haaren Gesundheit, Attraktivität und Weiblichkeit assoziiert.1 Jedoch werden diese nicht nur vom weiblichen Geschlecht getragen, sie sind auch bei manchen Männern äußerst beliebt. Besonders Heavy Metal-Fans und -Musiker lassen sich oft eine lange, wallende Haarpracht wachsen. Dabei gelten eigentlich gerade diese Männer als besonders stark und maskulin, was auf den ersten Blick so gar nicht zu langem Haar passt. Wie kommt es also, dass in dieser Subkultur lange Haare so verbreitet sind? haar als Geschenk der Götter, weshalb Sklaven die Haare abgeschnitten wurden. Bei Ägyptern, Assyrern, Persern und Babyloniern verkörperte langes Kopfhaar ebenfalls Stärke und Macht.3 Lange Haare bei Männern ziehen sich wie ein roter Faden durch die Jahrhunderte. Im 19. und 20. Jahrhundert trugen Männer aber vermehrt kurz geschnittenes oder geschorenes Haar. Der Fokus des kulturgeschichtlichen Hintergrundes der Bedeutung der Langhaarigkeit bei Männern soll auf der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts liegen. Nach dem Zweiten Weltkrieg trug eine Minderheit US-amerikanischer Jugendlicher ihr Haar länger, als es die Gesellschaft gewöhnt war. Ermutigt wurden sie durch Bilder von Musikern und Schauspielern wie Elvis Presley oder Tony Curtis, die durch die Medien verbreitet wurden. Die sogenannte Elvis-Tolle war inspiriert durch mexikanische Einwanderer, die sich durch ihren Haarschnitt von den Nordamerikanern abgrenzen wollten. Diese und ähnliche Frisuren symSchon im Alten Testament der Bibel wird Simson, ei- bolisierten nach dem Krieg Protest und Konfliktbener der Richter im alten Israel, als langhaariger Mann reitschaft. Jugendliche versuchten sich durch ihren beschrieben. Seine Haarpracht ist ein Zeichen seiner Stil von ihrer Elterngeneration abzugrenzen.4 Junge Gottesgläubigkeit – aus diesem Grund durfte sie nicht Menschen in den USA, Westeuropa, Australien und abgeschnitten werden. Außerdem repräsentierte das Südafrika protestierten unter anderem mit dem TraHaar seine körperliche Stärke. Mit dem Verlust seiner gen langer Haare gegen gesellschaftliche Ordnungen. Kopfhaare verließ ihn auch die Stärke, die Gott ihm Es handelt sich hier um ein politisches Symbol und gegeben hatte.2 den Ausdruck angestrebter, alternativer Lebensstile. Auch im antiken Griechenland galt langes Männer- In den 1960er Jahren waren es dann Bands wie Kulturgeschichtlicher Hintergrund 59 die Beatles, die als der Inbegriff der Langhaarigkeit galten, oder Led Zeppelin, die meist junge Männer zu alternativen Haarmoden inspirierten.5 Man kann daraus schließen, dass langes Männerhaar, im Gegensatz zu weiblicher Kopfbehaarung, kein Symbol oder Zeichen für Schönheitsideale ist, sondern häufig als eine Rebellion oder Distanz zu vorherrschenden Normen und Ordnungen getragen wird.6 Es gibt aber nicht die eine Jugendsubkultur, deren Merkmal lange Männerhaare waren. Vielmehr trugen unterschiedliche Vertreter einzelner subkultureller Strömungen lange Haare.7 Neben Prostest verkörperten lange Haare in den 1960er und 1970er Jahren aber auch Liebe, Frieden und Freiheit, wie beispielsweise bei den Hippies.8 Auch die Subkultur Heavy Metal entdeckte diese Haarmode des Mannes für sich. ten Kleidungsstil, sondern ebenfalls häufig am Tragen langer Haare zu erkennen. Ein Beispiel von vielen dafür ist das Subgenre Glam Metal. Hair Metal Wie wichtig Haare in der Metal-Szene sind, sieht man zum Beispiel daran, dass das Subgenre Glam Metal auch gern als Hair Metal bezeichnet wird – aufgrund der langen, wallenden Mähnen der Mitglieder von Bands wie Poison, Europe oder Hanoi Rocks. Diese und andere Musiker zeichnen die wilden, langhaarigen Frisuren, das für Männer ungewöhnliche Makeup und die schrillen Klamotten aus. Die Mitglieder der Band Poison wurden sogar von einigen Fans zunächst fälschlicherweise für Frauen gehalten.13 Viele Hair Metal-Musiker sind beim weiblichen Geschlecht als besonders schön verschrien. Männer, besonders männliche Metal-Fans, standen bzw. stehen ihnen Die Subkultur Heavy Metal besteht zum großen Teil hingegen eher ablehnend gegenüber.14 Durch Ausseaus der gleichnamigen Musikrichtung. Diese entwi- hen und Verhalten angedeuteter Femininität wurden ckelte sich Anfang der achtziger Jahre aus den här- Glam Metal-Musiker häufig als Poser beschimpft.15 teren Spielarten des Rocks der späten 1960er und Doch auch Musiker und Fans anderer Metal-Subgefrühen 1970er Jahre9, dessen Wurzeln im Country, nres zeichnen sich durch lange Haare aus. Von MänGospel und Blues liegen. Das Musikgenre Heavy Me- nern getragene lange Haare ziehen sich durch die getal stilistisch exakt zu definieren, ist äußerst schwie- samte Kultur des Metals. rig, wenn nicht unmöglich. Die klassische Besetzung einer Band besteht aus Gesang, zwei Gitarren, einem Auch wenn viele Musiker und Fans entspannt mit Bass und dem Schlagzeug. In verschieden Subgenres dem Thema Haare umgehen, zeigt sich dennoch die wird diese Besetzung allerdings noch durch andere Bedeutung langer Männerhaare. So wird beispielsInstrumente ergänzt. Die Melodie eines Songs wird weise Guns N`Roses-Frontman Axl Rose nachgesagt, häufig durch den Gesang und die Gitarre getragen; er habe sich unters Messer legen lassen, um seine ein rhythmischer Gitarrenriff ist häufig die Grundlage Haarpracht zu verschönern. Und auch Bret Michaeiner Komposition.10 els, Sänger der Band Poison, soll angeblich seit den 1980er Jahren Kunsthaar tragen.16 Warum diese Männer angeblich solche Mittel ergreifen, ist nicht bekannt. Es zeigt jedoch, dass langes, wallendes Haar Der Soziologe Hans-Georg Soeffner stellte in einer für sie und mit Sicherheit auch für andere Musiker Abhandlung über den Punk-Stil Mitte der 1980er und Fans von zentraler Bedeutung in der SelbstJahre fest: „Ein Stil ist Teil eines umfassenden Sys- inszenierung ist. tems von Zeichen, Symbolen und Verweisungen für soziale Orientierung. Er ist Ausdruck, Instrument und Ergebnis sozialer Orientierung.“11 Der Stil einer Person beschreibt somit die Zugehörigkeit zu einer be- Im Heavy Metal sind lange, männliche Kopfhaare stimmten Gruppe, einer (Sub)Kultur. Dieser einheitli- nicht nur als ästhetische Experimente anzusehen. Dache Stil verschafft der Gruppe zum einen das Gefühl hinter steckt ebenfalls eine tiefere Aussage. Im Heavy von Zusammengehörigkeit und man kann ihn als ein Metal, aber auch in anderen Subkulturen, verkörpert Erkennungszeichen ansehen. Das Tragen ähnlicher die Haarpracht den Ausdruck des Lebensstils, der Kleidung oder das ähnliche Frisieren der Haare kann angestrebten Freiheit und Selbstbestimmung. Lange dem Einzelnen somit Orientierung geben und der ge- Haare sind eine Repräsentation alternativer symbosamten Gruppe oder Kultur Abgrenzung zu anderen lischer Ordnungen von Subkulturen17 und können verschaffen.12 Dies trifft auch auf den Heavy Metal auch im Heavy Metal als diese angesehen werden. zu. Seine Anhänger sind nicht nur an einem bestimm- Die Musikrichtung Heavy Metal Stil Fußnoten 1 Vgl. Schäfer, Laura: Männer wollen schöne Haare statt tiefen Auschnitt. http://www.joy.de/schoenheit/haare/a-29974/maenner-wollen-schoene-haare-statttiefen-ausschnitt.html, unbekanntes Jahr 2 Vgl. Richter 13-16 3 Vgl. Unbekannter Autor: Haare. http://www.wissen.de/lexikon/haare-zoologie, unbekanntes Jahr (1) 4 Vgl. Tiedemann, Nicole: Lange Männerhaare als jugendkulturelles Zeichen nach 1945. In: Janecke, Christian (Hrsg.): Haar tragen. Eine kulturwissenschaftliche Annäherung. Böhlau Verlag. Köln 2004, S. 251ff 5 Vgl. Ebda. S. 253 6 Vgl. Synnott, Anthony: Shame and Glory: A Sociology of Hair. In: The British Journal Of Sociology. Vol. 38, Nr. 3, September 1987. New Jersey 1987 7 Vgl. Tiedemann, Nicole: Lange Männerhaare als jugendkulturelles Zeichen nach 1945. In: Janecke, Christian (Hrsg.): Haar tragen. Böhlau Verlag. Köln 2004, S. 255 8 Vgl. Ebda. S. 259 9 Vgl. Covach, John: What's That Sound? An Introduction To Rock And Its History. W. W. Norton & Company. New York 2006, S. 480 10 Vgl. Lücker, Christoph: Das Phänomen Heavy Metal: Ein Szene-Porträt. Verlag Nicole Schmenk. Oberhausen 2011,S. 14 f 11 Vgl. Ebda. S. 83 12 Vgl. Kolhoff-Kahl, Iris: Ästhetische Muster-Bildungen. Kopaed Verlag. München 2009, S. 197 f. 13 Vgl. Covach, John: What's That Sound? An Introduction to Rock and Its History. W. W. Norton & Company. New York 2006, S. 485 14 Vgl. Rönnebeck, Jenny: „Wir wollten nicht nur Image sein“. http://www.rockhard.de/megazine/heftarchiv/rh-310/special/wir-wollten-nicht-nur-image-sein. html, 2013 15 Vgl. SeifertMike: Glam/Sleaze-Rock-Special Teil 2: Die Weltherrschaft des Hairsprays – Metal mit Make Up. http://www.breakoutmagazin.de/archiv/aglam2. html, 2010 16 Vgl. Leim, Christoph,: Föhnen, bis der Satan kommt. http://www.welt.de/lifestyle/article6785290/Foehnen-bis-der-Satan-kommt.html, 2010 17 Vgl. Pinczewski, Andreas: Gesichter des Schreckens – Heavy Metal und die dunkle Seite der Schminke. In: Geiger, Annette (Hrsg.): Der schöne Körper: Mode und Kosmetik in Kunst und Gesellschaft. Böhlau Verlag. Darmstadt 2008, S. 242 18 Vgl. Leim, Christoph: Föhnen, bis der Satan kommt. http://www.welt.de/lifestyle/article6785290/Foehnen-bis-der-Satan-kommt.html, 2010 Literaturverzeichnis Covach, John: What's That Sound? An Introduction to Rock and Its History. W. W. Norton & Company. New York 2006 Gute Nachricht Bibel. Deutsche Bibelgesellschaft. Stuttgart 2000 Kolhoff-Kahl, Iris: Ästhetische Muster-Bildungen. Kopaed Verlag. München 2009 Leim, Christoph: Föhnen, bis der Satan kommt. http://www.welt.de/lifestyle/article6785290/Foehnen-bis-der-Satan-kommt.html, 2010 Lücker, Christoph: Das Phänomen Heavy Metal: Ein Szene Porträt. Verlag Nicole Schmenk. Oberhausen 2011 Pincczewski, Andreas: Gesichter des Schreckens – Heavy Metal und die dunkle Seite der Schminke. In: Geiger, Annette (Hrsg.): Der schöne Körper: Mode und Kosmetik in Kunst und Gesellschaft. Böhlau Verlag. Darmstadt 2008 Rönnebeck, Jenny: „Wir wollten nicht nur Image sein“ http://www.rockhard.de/megazine/heftarchiv/rh-310/special/wir-wollten-nicht-nur-image-sein.html, 2013. Schäfer, Laura: Männer wollen schöne Haare statt tiefen Ausschnitt. http://www.joy.de/schoenheit/haare/a-29974/maenner-wollen-schoene-haare-statt-tiefenausschnitt.html, Letzter Zugriff: 12.06.2013 Seifert, Mike: Glam/Sleaze-Rock-Special Teil 2: Die Weltherrschaft des Hairsprays – Metal mit Make Up. http://www.breakoutmagazin.de/archiv/aglam2.html, 2010 Synnott, Anthony: Shame and glory: a sociology about hair. Aus: The British Journal Of Sociology. Vol. 38, Nr. 3, September 1987. New Jersey 1987 Tiedemann Nicole: Lange Männerhaare als jugendkulturelles Zeichen nach 1945. In: JANECKE, Christian: Haare Tragen. Eine kulturwissenschaftliche Annäherung. Böhlau Verlag, Köln 2004 Unbekannter Autor: Haare (Zoologie). http://www.wissen.de/lexikon/haare-zoologie, Letzter Zugriff: 12.06.2013(1) Abbildungsnachweise Abbildung 1: Mareike Wagner – Heavy Metal, 2012. www.pixelio.de 61 60 Lange Haare im Heavy Metal wöhnlichen Bartvariationen und flächendeckenden Tattoos erkennen.18 Ähnlich wie die langen Haare bei Heutzutage mischen sich in den Heavy Metal viele männlichen Metal-Fans können auch diese als AusEinflüsse anderer Musikrichtungen. So entstanden druck der Abgrenzung nach außen und Zeichen ihrer neue Subgenres, wie zum Beispiel Nu Metal oder persönlichen, individuellen Lebensstils angesehen Metalcore. Durch die Vermischung verschiedener werden. Dennoch sind und bleiben lange Haare bei Elemente unterschiedlicher Musikrichtungen ändert Männern im Heavy Metal zentrales Symbol ihrer kolsich auch das Aussehen der Metalheads. Heute ist lektiven Individualität. die Frage der Frisur weniger strikt. Manche tragen ihr Haar kurz, manche lang. Manch einer trägt sogar Maria Putignano Glatze, wie beispielsweise Slayer-Gitarrist Kerry King. Vielmehr lässt sich heute eine Tendenz zu außerge- Und heute? Abb. 1: Bobbé, Leland. Half-Drag 1. www. lelandbobbe.com WIG IT! NEUE WEIBLICHKEIT ODER DOCH NUR VIEL KOPFTHEATER UM NICHTS? Abb. 2: Bobbé, Leland. Half-Drag 2. www.lelandbobbe.com „Perücke (frz. perruque; span. peluca, von lat. pilus ‚Haar‘), künstliche Haartracht, Haarersatz oder Modebeiwerk, aus Menschen- oder Tierhaar, Wolle, Pflanzenfasern, Seide oder Gräsern, heute auch aus Kunsthaar, meist auf eine Haube oder ein Netz aufgenäht bzw. geknüpft.“ (Ingrid Loschek) Wig it –zum Ersten: Macht Die Perücke hat eine lange Vorgeschichte. Bereits in der Antike und im alten Ägypten wurden künstliche Haarteile eingesetzt, um fehlendes Haar zu kaschieren, bestehendes Haar zu schmücken oder sogar zu vergrößern bzw. zu erweitern. Bis zur Französischen Revolution wurden Perücken nur von den höheren Gesellschaftsschichten getragen – das einfache Volk hatte entweder keine Erlaubnis, Perücken zu tragen oder war nicht vermögend genug, sehr teure und aufwendig geknüpfte Perücken zu kaufen . Perücken waren u.a. ein Ausdruck von Macht und Herrschaft. König Louis XIV. von Frankreich löste mit seinen üppigen Allongeperücken einen ganzen Modetrend an europäischen Adelshöfen aus. Nicht umsonst trugen die Bürgerlichen in der Französischen Revolution keine Perücken, sondern Mützen. Und wehe dem, der eine Rokokoperücke auf der Straße trug. Der Tod durch die Guillotine war ihm gewiss. Der Herrschaftsbegriff ist an dieser Stelle sehr eng mit Vorstellungen einer Ständegesellschaft und Monarchie verbunden. Doch ist die Perücke auch heute noch Ausdruck von Herrschaft? Gilt: „Wer das Haar hat, hat die Macht?“ Welches Potential birgt die Perücke vor dem Hintergrund unseres heutigen Genderverständnisses? Üben nicht auch Drag-Queens, durch ihr Auftreten als „gespielte“ Frauen, Macht über ein gesamtes Rollenbild aus? 63 Wig it – zum Zweiten: Herrlichkeit Typisch männlich? Klassisch weiblich? Stereotype und Rollenmuster gehören zu unserer Gesellschaft zwingend dazu. Sie sind so fest in unserem kollektiven Gedächtnis und unserer jeweiligen Kultur verwurzelt, dass sie von Generation zu Generation weitergetragen werden, sich in der breiten Masse durchsetzen und es viel Geduld und eines ständigen Aufbegehrens gegen solcher Stereotype bedarf, um ein Umdenken anzustoßen. Muster entstehen durch eine regelmäßige und für den einzelnen relevante Wiederholung. Wer einem Muster folgt, das seine Rechtfertigung in den Werten und Ansichten der breiten Masse findet, bewegt sich in der Regel auf sehr sicherem Terrain. Wer widerspricht, setzt sich dem Risiko aus, von großen Teilen der Gesellschaft nicht verstanden oder sogar ausgeschlossen zu werden. Trägt ein Mann mit ausgehendem Haar beispielsweise ein Haarteil oder eine Perücke, so wird kollektiv eine natürlich aussehende Perücke und eine „klassische“ Frisur erwartet. Lila Engelslocken Abb. 3: Bobbé, Leland. Half-Drag 3. www.lelandbobbe.com Wig it – zum Dritten: Ewigkeit würden hier eher auf Unverständnis stoßen. Neue Muster können aber nur dadurch entstehen, dass von bestehenden Mustern abgewichen wird, Stile gebrochen und Kontraste gesetzt werden. Wenn wir also von „typisch männlich“ oder „typisch weiblich“ sprechen, ist dies auch immer eng an die jeweilige Kultur und das vorherrschende Genderverständnis geknüpft. In der westlichen Kultur sind insbesondere die äußerliche Erscheinung, Kleidung und Haarstyling, mit sehr starken Mustern belegt. Der Mann hat kurzes Haar, die Frau langes. Oder nicht? Kleinere Ausbrüche wie z. B. lange Haare bei den männlichen Fans bestimmter Musikrichtungen bestätigen eher die Regel, als sie zu brechen. Die größte Verwirrung entsteht in der Regel dann, wenn bestehende Muster gestört werden. „Every Gender is a drag…“ Sobald Männer in hohen Schuhen, starkem Make-up und langem, wallenden Haar auftreten, wird ein ganzes Rollenbild ausgehebelt. Reaktionen können sowohl positiv als auch negativ ausfallen. Während die einen eher belustigt und belächelnd auf eine Drag-Queen mit bonbonfarbenen Haaren reagieren, lehnen die anderen diese Maskerade aus Unverständnis und Unsicherheit gegenüber dem, was von der Norm abweicht, rigoros ab. Dennoch schafft es eine Drag-Queen in Perfektion, eine Frau darzustellen, wie es sie in der Wirklichkeit in den seltensten Fällen gibt. Sie erfüllt in ihrem Stilbruch des Gender-Crossings sämtliche Rollenstereotype des Frauenbildes, was sich insbesondere im Styling der Haare und des Make-ups ausdrückt. Wie lässt sich dieses Bild so gut aufrecht erhalten? Die Gesellschaft hat sich ihr Genderverständnis erarbeitet und konstruiert. Wie Judith Butler in ihrer Monografie „Gender Trouble“ schreibt, sogar soweit, dass selbst das biologische Geschlecht nur konstruiert sei. Travestie als eine Art Theater, das der heteronormativ geprägten, westlichen Kultur den Spiegel vorhält und sämtliche Rollenkonstruktionen aufdeckt. Shaun Cole fasst in seinem Artikel „Hair and male (Homo) Sexuality“ Butler folgendermaßen zusammen: “Gender, therefore, is what one does rather than who one is, a performance through which one constructs a gender character while at the same time creating an illusion that such a character is somehow primary.” Auch die Mode spielt regelmäßig mit dem Bild eines klassischen Mannes oder einer Frau. Eines der prominentesten Beispiele der Modenschauen 2012 und 2013 ist das androgyne Männermodel Andrej Pejic, der (statt einer Perücke) sein natürliches blondes Haar lang und dem einer Frau ähnlich trägt und damit zu gleichen Teilen Damenund Herrenkollektionen präsentiert. Gleichzeitig erleben Männer in Röcken oder ganzen Kleidern immer wieder eine Neuauflage in den Kollektionen, der Designer. Rick Owens schickt seine Männermodels mit hohen Keilabsätzen über den Laufsteg und die Meggings (die sog. Männer-Leggings, Stereotyp: Leggings als unmännliche, klassische Damenhose) sind immer häufiger zu sehen. Parallel zur Mode vermag es die bildende Kunst immer wieder Motive, Bilder und Perspektiven für die Ewigkeit zu schaffen. Setzt sich ein Künstler intensiv mit einem Kunstwerk auseinander, vermittelt es häufig mehr als nur eine Botschaft, die auch weit über ihren Entstehungszeitpunkt hinaus interpretiert und verstanden werden kann. Eine Perücke, viele Typen Der Künstler Douglas Gordon hat in seinen Arbeiten ähnlich wie auch Andy Warhol zuvor die Perücke als Stilmittel benutzt, um je nach Perspektive einen anderen Blick zu eröffnen – trotz der immer selben Perücke. Obwohl er ein und dieselbe blonde Perücke trägt, sieht er sich selbst in den verschiedensten Rollen. Titel seiner Arbeit: „Self-portrait as Kurt Cobain, as Andy Warhol, as Myra Hindley, as Marilyn Monroe” (1996). Andy Warhol inszenierte sich selbst bereits vor Douglas Gordon mit verschiedensten Perücken und Make-up „in Drag“. Bloß eine künstlerische Ausdrucksform? Genauso wie bei Drag-Queens die Einnahme einer Rolle? Kunst kann gesellschaftliche Bilder und Eindrücke aus der Realität herausheben und legt einen speziellen Fokus auf ihre Betrachtung – Gender-Crossing ist in vielen Fällen nicht mehr bloßes „Theater“. Perücken bieten die Möglichkeit, viele Identitäten, vielleicht aber genau die angestrebte und am besten passende Identität einzunehmen. Während sich Künstler wie Gordon oder Warhol mit der Perücke als Stilmittel der Kunst auseinandersetzen, stellt die Perücke in Fällen von Transidentität und Transsexualität einen Gegenstand dar, der eine Identität erst komplettieren kann und fest zu ihr gehört. Die Perücke gehört mehr und mehr auch zum Alltag vieler Menschen, auch wenn die Perücke nach heutigen Vorstellungen mehr mit Krankheit und Alter oder eben Theater und Oper assoziiert wird, als noch zu Zeiten des Barocks. War die Perücke immer schon Ausdruck von Macht und Status, Modediktat und „Kleidungsstück“, so ist sie heute mehr und mehr eine Möglichkeit, die eigene, schwer zu fassende Identität auszudrücken, zu verdecken oder zu unterstreichen. Und das in jeder erdenklichen Form, Farbe, Struktur, Frisur. Bunt und schillernd. Natürlich und schlicht. 65 Und ist es nicht zumindest eine interessante Vorstel- lung, heute ein anderer als morgen sein zu können? Trägt eventuell jeder von uns weibliche und männliche Teile in sich? Wie sich die Wahrnehmung verschiebt, wenn wir beides vor uns haben, zeigt der Fotokünstler Leland Bobbé anschaulich in seiner Fotostrecke „Half-Drag“. Der Betrachter nimmt beide Perspektiven ein und wird vor die Frage gestellt: Was ist es denn nun? Mann oder Frau? Oder beides? Die Popkünstlerin Lady Gaga singt in ihrem Song „Hair“: I just wanna be myself, And I want you to love me for who I am I just wanna be myself, And I want you to know, I am my Hair I've had enough This is my prayer That I'll die living just as free as my hair Seien wir also so frei, wie unser Haar oder das, was wir als unseres verkaufen. In diesem Sinne – Wig it! DIE KUNST DER KRANKHEIT Fußnoten 1 Loschek, Ingrid. Perücke. In: Loschek, Ingrid. Reclams Modeund Kostümlexikon. Reclam Verlag. Stuttgart. 1999 2 Loschek, Ingrid. Perücke. In: Loschek, Ingrid. Reclams Modeund Kostümlexikon. Reclam Verlag. Stuttgart. 1999 3 Cole, Shaun. Hair and Male (Homo) Sexuality: ‘Up Top and Down Below’. In: Biddle-Perry, Geraldine; Cheang, Sarah (Hrsg.): Hair. Styling, Culture and Fashion. Berg Publishers. Oxford; New York. 2008 4 Vgl. Luckhardt, Jochen; Marth, Regine (Hrsg.): Lockenpracht und Herrschermacht. Perücken als Statussymbol und modisches Accessoire. Koehler und Amelang Verlag/Herzog Anton Ulrich-Museum. Leipzig. 2006 Literaturverzeichnis Loschek, Ingrid. Perücke. Aus: Loschek, Ingrid. Reclams Mode- und Kostümlexikon. Reclam Verlag. Stuttgart. 1999 Cole, Shaun: Hair and Male (Homo) Sexuality: ‘Up Top and Down Below’. In: Biddle-Perry, Geraldine; Cheang, Sarah (Hrsg.) Hair. Styling, Culture and Fashion. Berg Publishers. Oxford; New York. 2008 Luckhardt, Jochen; Marth, Regine (Hrsg.): Lockenpracht und Herrschermacht. Perücken als Statussymbol und modisches Accessoire. Koehler und Amelang Verlag / Herzog Anton Ulrich-Museum. Leipzig. 2006 Abbildungsverzeichnis Abb. 1 Bobbé, Leland. Half-Drag 1. Quelle: www.lelandbobbe.com Abb. 2 Bobbé, Leland. Half-Drag 2. Quelle: www.lelandbobbe.com Abb. 3 Bobbé, Leland. Half-Drag 3. Quelle: www.lelandbobbe.com Song Gaga, Lady. Hair. Aus Album: Born This Way. 2011 Abb. 1: Hannah Wilke Intra-Venus Series #6, February 19, 1992, 1992-93 Performalist Self-Portrait with Donald Goddard Courtesy Donald and Helen Goddard and Ronald Feldman Fine Arts, New York / www.feldmangallery.com Abb. 2: Hannah Wilke, Intra-Venus Series #4, July 26 and February 19, 1992, 1992-93, Performalist Self-Portrait with Donald Goddard Courtesy Donald and Helen Goddard and Ronald Feldman Fine Arts, New York / www.feldmangallery.com 67 66 Sebastian Schwarz „Haarausfall und Probleme mit der Kopfhaut sind Zeichen dafür, dass der Mensch als Ganzes nicht mehr im Gleichgewicht ist und Störungen im Organismus auf körperlicher und seelischer Ebene vorliegen.“ 1 DIE KUNST DER KRANKHEIT WENN DAS KOPFHAAR SCHWINDET tensions oder sogar Haartransplantationen sollen den Körper wieder „normal“ aussehen lassen. Der Kranke wird nicht länger zum Betrachteten, sondern fühlt sich dem Schönheitsideal entsprechend. Finanzieller und körperlicher Aufwand erscheinen im Gegensatz zu den belastenden Blicken der anderen weniger quälend. Ein extremer Schritt zurück in die Gesellschaft und weg von der Isolation. Die verschiedenen Krankheiten, ihre Ursachen und die daraus resultierenden Folgen sind ebenso vielseitig wie auch kompliziert zu analysieren. Das Einzige, was in allen Fällen bleibt, ist die schwierige Situation der Betroffenen, mit den Blicken der Anderen umzugehen, ihnen standzuhalten und ihnen zu entgegnen. Lisa Merle Felgendreher Zwischen Isolation und Kunst Haarspalterei – medizinische Sichtweise Um gegen diese soziale Folge von Krankheiten anzukämpfen, hat die Künstlerin Hannah Wilke „sich selbst zum Objekt künstlerischer Auseinandersetzung gemacht und dabei auch vor ihrem von Krankheit gezeichneten Körper nicht Halt gemacht.“3 Die Fotoserie Intra-Venus zeigt den Verfall ihres Körpers durch eine Krebserkrankung. Sie ließ sich nackt ablichten und zeigt Portraitaufnahmen, auf denen der Verlust ihres Haares deutlich sichtbar wird. Die verbliebenen Haarsträhnen hängen kraftlos von ihrem Kopf. Wilke schockiert, erregt Ekel und rüttelt den Betrachter wach. Sie stellt ihren kranken Körper zur Schau. Den Körper, der ständig den Blicken anderer ausgesetzt ist, nur wegen des „Andersseins“. Der Körper, der nicht mehr in das Muster von gesellschaftlich eingeforderter Schönheit passt. Hannah Wilke nutzt künstlerische Strategien von Inszenierung und Performanz, um unsere alltagsästhetische Wahrnehmung zu irritieren. „Oft wird Haarausfall nicht als Krankheit akzeptiert: Haarerkrankungen bleiben ein Tabuthema. Dabei trifft es jeden Zweiten, unabhängig von Alter und Geschlecht.“4 Entzündungen durch Infektionserreger, Hautkrankheiten oder ein Mangel an Hygiene können Gründe für Haarverlust und Schuppenbildung sein.5 Nicht weniger gravierend sind die möglichen Folgen ausschweifender Lebensweise, Sorgen oder einer erhöhten Belastung der Haare durch übermäßige Hitzeeinwirkung.6 Hormonstörungen, Fehlernährung oder Eisenmangel begünstigen die Veränderung der Haare und führen häufig „zur Abnahme der Wachstumsgeschwindigkeit und der Haardicke“. 7 Haar-Los Krankheiten, die das Haar schädigen oder Haarkrankheiten, führen zu Veränderungen des körperlichen Erscheinungsbildes. Das Haar als Symbolträger verändert sich und führt häufig zu negativen Assoziationen. Schuppen oder Haarflechten stoßen bei vielen Menschen auf Ekel und weiterführend zur Meidung Eine erblich bedingte Störung der Haare, die androgenetische Alopezie, tritt bei mehr als der Hälfte aller Männer auf. „Die Haarwurzel ist bei dieser Erbanlage so programmiert, dass es bei einem normalen Testosteronspiegel zu Haarausfall und Glatzenbildung kommt."8 „Die Haarwurzel wird bei jedem Haarzyklus kleiner und bildet ein dünnes, weniger pigmentiertes Flaumhaar. Schließlich fallen auch diese Haare aus und es bleibt eine kahle Stelle."9 Aber auch Frauen können von dieser Erbkrankheit betroffen sein. Etwa 20-30% aller Frauen leiden unter dieser Form des Haarausfalles, die sich durch immer dünner und lichter werdende Haare im Scheitelbereich kennzeichnet.10 Fußnoten 1 Kopf, Robert: Haarausfall behandeln mit Homöopathie und Biochemie. Vorwort. 2 Raab, Wolfgang. Haarerkrankungen in der dermatologischen Praxis. 3 Löfflel, Petra. Woman Artists. S. 554. 4 Latz, Jenny. Wirksame Hilfe bei Haarausfall. 5 http://www.textlog.de/medizin-praxis-homoeopathie/krankheiten/ haut/haarkrankheiten-schuppenbildung-haarausfall-bartflechte-entfer nen-von-haaren.html (Voorhoeve, Jacob) 6 Ebda. 7 http://www.hautarzt-haare.com/de/haarausfall/ursachen/ursachen. html (Dr. med. Danuta Sobczak) 8 Ebda. 9 Ebda. 10 Vgl. http://www.regaine.de/?gclid=CM_C4YHxi7gCFSfLtAodnDEA8A Literaturverzeichnis Grosenick, Uta: Women Artists. Künstlerinnen im 20. Und 21. Jahrhundert. Taschen Verlag. Köln 2001, S. 554-559 Kopf, Robert: Haarausfall behandeln mit Homöopathie und Biochemie. Ein homöopathischer und biochemischer Ratgeber. Bookrix GmbH. epub eBook 2013 Latz, Jenny: Wirksame Hilfe bei Haarausfall. 2. geänderte Auflage. epub eBook. Trias. August 2007 Raab, Wolfgang: Haarerkrankungen in der dermatologischen Praxis. SpringerVerlag. eBook. 2012 Internetquellen http://www.hautarzt-haare.com/de/haarausfall/ursachen/ursachen.html (Dr. med. Danuta Sobczak) http://www.regaine.de/?gclid=CM_C4YHxi7gCFSfLtAodnDEA8A (Test) http://www.textlog.de/medizin-praxis-homoeopathie/krankheiten/haut/haarkrankheiten-schuppenbildung-haarausfall-bartflechte-entfernen-von-haaren. html (Voorhoeve, Jacob) http://www.wissen.de/lexikon/haarkrankheiten Abbildungsverzeichnis Abb. 1: Hannah Wilke, Intra-Venus Series #6, February 19, 1992, 1992-93, Performalist Self-Portrait with Donald Goddard Courtesy Donald and Helen Goddard and Ronald Feldman Fine Arts, New York/ www.feldmangallery.com Abb. 2: Hannah Wilke, Intra-Venus Series #4, July 26 and February 19, 1992, 1992-93, Performalist Self-Portrait with Donald Goddard Courtesy Donald and Helen Goddard and Ronald Feldman Fine Arts, New York/ www.feldmangallery.com 69 68 Doch was passiert wenn das Kopfhaar schwindet? Mögliche Ursachen sind entweder durch den alternden Körper begründet oder oft auch Zeichen einer Krankheit. Körper und Immunsystem können derart geschädigt sein, dass der Aufbau gesunder Zellen von Haut und Haaren nicht mehr möglich ist. Vorhandenes Haar wird stumpf oder fällt aus und dabei sind die Träger nicht nur durch die Folgen der Krankheit beeinträchtigt, sondern auch durch die daraus resultierende gesellschaftliche Isolation. Die Betroffenen kapseln sich von den musternden Blicken und den löchernden Fragen der Anderen ab. Was mag die Person bloß haben, dass ihre Haare so anders als „normal“ aussehen? Ist die Veränderung krankheitsbedingt oder ein ungepflegtes Äußeres? Fragen, die der Betrachter sich selbst stellt und diese auch für sich beantwortet, und zwar im Rahmen von kulturell bedingten Schönheitsvorgaben. Je nach Beurteilung folgt die entsprechende Reaktion auf den Betroffenen: Mitleid, Ekel oder Ausgrenzung. Der Kranke passt nicht länger in die Norm der haarigen Schönheitsideale. Mitmenschen haben eventuell Angst, sich anstecken zu können, sobald es zu einer körperlichen Berührung kommt. Häufig ist ein flüchtiger Körperkontakt nicht zu vermeiden und eben das fürchten die Menschen. Vorurteile und falsche Annahmen über Ursachen, Übertragbarkeit und mögliche Folgen etwaiger Krankheiten, führen zu sozialem, oftmals unbeabsichtigtem Fehlverhalten, welches primär für den Kranken von Nachteil ist. Dabei sind „der Verlust der Haare, übermäßiges Haarwachstum und Veränderungen der Haare nicht nur ein ästhetisches Problem.“ 2 des Betroffenen. Wohingegen die Entfernung von Körperhaaren in Intimbereichen oder an Armen und Beinen oftmals gewollt und befürwortet wird, führt der plötzliche Verlust oder die Veränderung des Kopfhaares in der Gesellschaft zu Abneigung und Abwehrverhalten. Das Haar oder vielmehr das Haupt wird für jedermann ersichtlich zum Ausdruck der Krankheit, selbst wenn der Träger es zu verstecken versucht. Kopftücher werden nicht länger als Zierde getragen oder wie in anderen Kulturen zur Verhüllung der Haare, sondern um die kahlen Stellen, die einst mit gesundem Deckhaar bewachsen waren, zu verbergen. Nicht selten sehnen sich die Leidtragenden nach ihre einzige Hoffnung, in der Gesellschaft mit künstlicher Kopfbehaarung akzeptiert zu werden. Perücken, Ex- Abb. 1: ia_64 – Bald man head 1. Fotolia.com. (links) Abb. 2: ia_64 – Bald man head 2. Fotolia.com. (rechts) Hilfe von allen Seiten Glatzköpfige Männer wie Bruce Willis oder ein kahlgeschorener David Beckham strahlen uns von Werbeplakaten und der Leinwand entgegen. Die Zeit, in der Hollywood Glatzköpfe ausschließlich für negativ konnotierte Rollen standen, ist vorbei. Bruce Willis verkörpert meist den typischen Actionheld, dem die Frauen zu Füßen liegen. So zum Beispiel in der mittlerweile fünfteiligen „Stirb langsam“-Reihe oder „Sin City“ – das Gegenteil eines unattraktiven Bösewichts. Leider ist so ein chirurgischer Eingriff nicht für jeden erschwinglich und auch nicht jeder möchte sich einer derartigen Prozedur unterziehen. Wer nach Mittel und Wegen sucht, ohne ärztliche Hilfe etwas gegen die Kahlheit zu tun, wird im Internet, in der Werbung und diversen Ratgebern nur so mit Tipps und Tricks überschüttet. Die Palette von Vorschlägen reicht von harmlosen und oftmals wirkungslosen Hausmittelchen über Chemiekeulen und Hormonpräparaten bis hin zum guten alten Toupet. Doch nicht alle Männer gehen so selbstbewusst mit diesem scheinbaren „Makel“ um. Wenn noch irgendwie möglich, werden die restlichen vorhandenen Haare teils kunstvoll über Geheimratsecken und den kahler werdenden Hinterkopf gelegt, um die freie Kopfhaut zu verstecken. Auch die Haartransplantation, bei der gegen Haarausfall resistente Haarwurzeln des hinteren Haarkranzes entnommen und in die kahlen Stellen verpflanzt werden, wird populär. Die Schlagzeilen über prominente Beispiele häufen sich. So haben sich Italiens Ex-Ministerpräsident Silvio Berlusconi, der englische Fußballstar Wayne Rooney, Borussia Dortmunds Trainer Jürgen Klopp oder Modemacher Harald Glööckler einer solchen Transplantation unterzogen. DAS (VERSTECK-) SPIEL MIT DER GLATZE „Nimm 1/4 Pfund Rindsmark, 1/4 Pfund Ochsenpfotenfett, 1 Quentchen Bergamottenöl, lasse es untereinander zergehen und gieße bei stetem Umrühren noch etwas Wein und Rum dazu, dann reibe die kahlen Viele Männer fürchten sie, viele sind davon betrof- nern so groß? Es ist ja Stellen oder das Haar fen. Haarausfall ist nicht nur für ältere Männer ein nicht so, als wären sie öfter damit ein.“i leidiges Thema, auch jüngere kämpfen um ihre Haare. Wie populär das Thema ist, zeigen die vielen Haarwuchs- und Anti-Haarausfallmittel, für die in Zeitschriften und dem Fernsehen geworben wird. Und auch im Drogeriemarkt gibt es Regale voll mit diesen Mitteln. Doch warum ist die Angst vor einer Glatze bei Män- 70 Nicht nur „Otto Normal“ ist kahl allein damit, gar ein Außenseiter. 80% der Männer sind laut der F.A.Z.1 von dieser Angst betroffen. Sollte es da nicht eine gewisse Gleichgültigkeit oder zumindest Akzeptanz demgegenüber geben? Das Magazin „Men’s Health“ widmet auf ihrer Online-Plattform gleich mehrere Artikel diesem Thema, gibt aber auch Pflegetipps für die Glatze und Frisurenanleitungen für Männer mit dünner werdendem Haupthaar. Online-Plattformen, wie „Beauty-Blogs“ und Zeitungen beschäftigen sich regelmäßig mit dem lichter werdenden Haupt des Mannes. Aus dieser Vielzahl an Artikeln, Produkten und Werbeanzeigen lässt sich das große Interesse am „Problem Glatze“ fest„Sehr machen. Abbildung 3: Marcus Scholz – Grey Hair. Fotolia.com verbreitet sind Absude von Kletterwurzel und Brennessel, Meerzwiebelöl, Wasser aus den Wurzeln des Wintergrüns, Mailänder Balsam von Kreller in Nürnberg, verdünnten Weingeist, Tau, o.a.“i „Nimb Blut-Igeln brenne sie zu Pulver / siede dasselbige in Wasser bis ein drittheil eingegangen / wasche dich offt mit diesem Wasser wo du Haar haben willst / so wächst es bald heraus.“i „Benetze den Ort (wo man das Haare wachsen lassen will) mit Hundsmilch, so wirst du bald den schönsten Haarwuchs hervorbrechen sehen.“i „»Brenne Bienen zu Pulver […] vermische diese mit Honigseim und streiche ihn auf die kahlen Stellen auf.«“i "[…] wenn eine Sternschnuppe falle, müsse man dorthin gehen, wo sie niedergefallen sei, sie aufheben und sich damit das Haar streichen, dann wachse das Haar gut."i Der Aberglaube lebt in der Werbung Abbildung 4: Erica Guilane-Nachez – Julius Caesar. Fotolia.com Ein haariges Problem – aber nichts Neues Es stellt sich die Frage, wieso die Glatze überhaupt als Problem oder Makel angesehen wird, wo sie doch bei den meisten aller Männer irgendwann auftritt? „Der körperliche Verfallsprozess – im Zuge von Krankheit oder Alter – geht meist einher mit Haarausfall. Die Vorstellung, dass Haarverlust den Verlust von Lebenskraft implizierte und umgekehrt volles Haar ein Ausdruck von Kraft und Gesundheit darstelle, ist von daher plausibel.“2 Abbildung 5: Renáta Sedmáková – Vienna - julius caesar staue by parliament in the morning light. Fotolia.com Zeiten. So schlägt die „Bild“ das Spülen der Haare mit Apfelessig vor, auf „www.haarausfall-maenner.com“ wird unter anderem Sepia, die Tinte des Tintenfischs, als mögliches Mittel beschrieben und „www.beautybuddy.de“ erwägt das Einreiben der kahlen Stellen mit Knoblauch. 72 Fußnoten 1 Vgl. Schmitt, Peter-Philipp: Haarausfall ist kein Schicksal mehr. In: F.A.Z. Online am 11.05.2013. http://www.faz.net/aktuell/gesellschaft/gesundheit /medizin-haarausfall-ist-kein-schicksal-mehr-12179840.html 2 Tiedemann, Nicole: Haar-Kunst. Zur Geschichte und Bedeutung eines menschlichen Schmuckstücks. Böhlau Verlag GmbH & Cie. Köln 2007. S. 60. 3 Mayr, Daniela F. und Mayr, Klaus O.: Von der Kunst, Locken auf Glatzen zu drehen. Eine illustrierte Kulturgeschichte der menschlichen Haarpracht. Eichborn AG. Frankfurt am Main 2003. S. 121. 4 Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens. Band 3. Freen – Hexenschuß. Bächthold Stäubli, Hans (Hg) unter Mitw. von Hoffmann-Krayer, Eduard. Walter de Gruyter & Co. Berlin 1930/1931/1986. S. 1241. 5 Ebda. S. 1241. 6 Stiftung Warentest. 10/2003. Im Test: 21 Mittel gegen Haarausfall – Arzneimittel und Kosmetika. Preise: 4,65 bis 59,50 Euro. (http://www.test.de/ Mittel-gegen-Haarausfall-Nachwuchs-Fehlanzeige-1127860-0/) i Verschiede Tinkturen und Rezeptvorschläge gegen Haarausfall bzw. für erneutes Haarwachstum. Alle zitiert nach: Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens. Band 3. Freen – Hexenschuß. Bächthold Stäubli, Hans (Hg) unter Mitw. von Hoffmann-Krayer, Eduard. Walter de Gruyter & Co. Berlin 1930/1931/1986. S. 1241 ff. Aussichten zum „Haareraufen“ – Akzeptanz oder Kahlschlag Die Stiftung Warentest (10/2003) untersuchte 21 Arzneimittel und Kosmetika gegen Haarausfall und bewertete diese mit Noten von 1 (geeignet) bis 4 (wenig geeignet). Von den 21 getesteten Produkten erreichten 19 die Bewertungsstufe 4 und zwei die Stufe 3. Die Stiftung hält fest: „Erfolge bleiben […] meist aus. Nur zwei von 21 getesteten Mitteln können den Haarausfall verzögern. Neuwuchs ist auch bei ihnen nicht drin.“ Und weiter: „Langzeitfolgen sind noch nicht ausreichend erforscht.“6 Es bleibt den Männern, wenn man das nötige Kleingeld für eine Transplantation nicht aufbringen kann oder will, also im Grunde nur die Hoffnung auf einen wissenschaftlichen Durchbruch, die Akzeptanz gegenüber ihrem lichter werdenden Haupt oder der selbstständige Griff zum Rasierer, um der Natur zuvorzukommen und von nun an ihrem Schicksal Stirn zu bieten. Larissa Cremer Literaturverzeichnis Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens. Band 3. Freen – Hexenschuß. Bächthold Stäubli, Hans (Hg) unter Mitw. von Hoffmann-Krayer, Eduard. Walter de Gruyter & Co. Berlin 1930/1931/1986 Mayr, Daniela F. und Mayr, Klaus O.: Von der Kunst, Locken auf Glatzen zu drehen. Eine illustrierte Kulturgeschichte der menschlichen Haarpracht. Eichborn AG. Frankfurt am Main 2003 Schmitt, Peter-Philipp: Haarausfall ist kein Schicksal mehr. In: F.A.Z. Online am 11.05.2013. http://www.faz.net/aktuell/gesellschaft/gesundheit/medizinhaarausfall-ist-kein-schicksal-mehr-12179840.html Stiftung Warentest. 10/2003. Im Test: 21 Mittel gegen Haarausfall – Arzneimittel und Kosmetika. Preise: 4,65 bis 59,50 Euro. (http://www.test.de/Mittelgegen-Haarausfall-Nachwuchs-Fehlanzeige-1127860-0/) Tiedemann, Nicole: Haar-Kunst. Zur Geschichte und Bedeutung eines menschlichen Schmuckstücks. Böhlau Verlag GmbH & Cie. Köln 2007 Abbildungsverzeichnis Abbildung 1: ia_64 – Bald man head. Fotolia.com. Details: Abb. 4 und 5 heißen gleich: Abb. 4 in Dokumentenname mit Zusatz „1“ versehen Abbildung 2: ia_64 – Bald man head. Fotolia.com. Details: Abb. 4 und 5 heißen gleich: Abb. 4 in Dokumentenname mit Zusatz „2“ versehen Abbildung 3: Marcus Scholz – Grey Hair. Fotolia.com Abbildung 4: Erica Guilane-Nachez – Julius Caesar. Fotolia.com Abbildung 5: Renáta Sedmáková – Vienna - julius caesar staue by parliament in the morning light. Fotolia.com 73 Hans Bächthold-Stäubli und Eduard Hoffmann-Krayer Diese Verbindung von ausgehendem Haar mit kör- sammeln in ihrem „Handwörterbuch des deutschen perlichem Verfall ist kein neuzeitlicher Gedanke. Aberglaubens“ allerlei Mythen, unter anderem über „Aristoteles sah in der Glatze des Mannes noch ein das menschliche Haar, und gehen dabei auch auf die Zeichen der männlichen Potenz. Cäsar zweifelte be- Ursache des Haarausfalls und die vielen Mixturen und reits an dieser Theorie, begnügte sich jedoch mit Tipps dagegen ein. Es werden neben den mittlerweidem einfachen Lorbeerkranz, um seinen schütteren le bewiesenen Ursachen wie Krankheit, Stress und Haarwuchs zu verbergen. Das Alte Testament dage- Ernährungsfehler, auch andere Gründe vermutet, die gen warnte zwar […] davor, sich über Glatzköpfige uns heute schmunzeln lassen. In Bayern glaubte man lustig zu machen […], sah aber in der Glatzköpfigkeit etwa, „daß Personen, welche täglich mit Geldzählen beschäftigt sind, die Haare frühzeitig ausfallen“4 und ebenso eine Strafe Gottes.“3 „wer sich im Isergebirge das Haar unter freiem Him5 Da erstaunt es nicht, dass sich im deutschen Aber- mel macht, verliert viel Haar.“ glauben diverse Meinungen über die Ursache von Haarausfall und deren Bekämpfung finden lassen. Ei- Aber wie kam es überhaupt zu solch absurd klinnige der noch heute im Internet auf „Beauty-Blogs“ genden Vermutungen und Erklärungsversuchen und vorgeschlagenen Tinkturen für erneutes Haarwachs- wieso gibt es eine solche Vielzahl an Mythen über tum erinnern an Hausmittelchen aus Urgroßmutters das menschliche Haar? Das menschliche Haupthaar ist eines der ersten Dinge, die man bei einer Person wahrnimmt. Sie sind schwer dauerhaft zu verbergen, da sich das Tragen einer Mütze oder eines Hutes in bestimmten Situationen, zum Beispiel in der Kirche oder beim Essen, „nicht gehört“. Wenn sich dann genau dieser offensichtliche Teil des Körpers verändert, das Haar ausfällt, ist auch dies schwer zu verstecken. Ein Phänomen, das heute die Wissenschaft erklären kann, wurde zu früheren Zeiten versucht anderweitig zu erläutern, um ihm das Unbekannte und Mystische zu nehmen. Die Menschen konstruierten sich mit ihren Mythen also eine neue Wirklichkeit und versuchten auf diese auch durch Hausmittel und Tinkturen Einfluss zu nehmen. Die Funktion eben dieser vielen Rituale und Mixturen übernehmen heute Industrie und Werbung, die ihren ständig neu entwickelten Präparaten und Arzneien den Durchbruch gegen den lästigen Haar- schwund zuschreiben. Durch die immer noch verbreitete Angst vor Haarausfall erleben diverse Shampoos und Medikamente reißenden Absatz und werden zu oft überhöhten Preisen verkauft – wissenschaftlich bewiesene, lang anhaltende Resultate ohne starke Nebenwirkungen bringt bisher leider keines. Das „Ginger“-Gen „ “ Über die Problematik roter Haarpracht. Doch welche kulturell geprägten Bilder von Rothaarigen haben dazu beigetragen, dass sich bis heute negative Assoziationen manifestieren konnten? Um diese Frage zu beantworten, muss weit in die Menschheitsgeschichte zurückgeblickt werden. In der Bibel wurde Rot meist als Farbe des Blutes interpretiert. Zum Beispiel wurde in dem Hohen Lied aus dem Alten Testament das „purpurne Haar der Schulammit […] traditionell in Hinsicht auf Christies Blut, d.h. als Zeichen der Passion gedeutet.“11 In dem Hohen Lied finden sich auch sehnsuchtsvolle ÄußeUm rotes Haar werden seit jeher Mythen und Vorur- rungen über die menschliche Liebe und Erotik, die teile geschürt. Mit roten Haaren sind verschiedene ebenfalls in das gängige Bild der rothaarigen Frau Assoziationen verbunden: Die Farbe Rot steht auf der passen. einen Seite für Lebenskraft, Gefühl, Leidenschaft so- Bekannt ist vor allem die Geschichte von Judas, eiwie Liebe, aber auf der anderen Seite verbinden wir nem der zwölf Jünger Christies. In der Bibel heißt Rot mit Blut und Tod oder gar mit dem Feuer und der es, er verriet Jesus an die Römer, die ihn schließlich Hölle. Sie gilt als Farbe der Unchristlichen, des Teu- kreuzigten. Interessant ist die Tatsache, dass in der fels und des Verrates.7 bildenden Kunst ab Ende des 12. Jahrhunderts bis ins Zunächst ist wichtig zu klären, wie voreingenomme- 16./17. Jahrhundert Judas vermehrt mit rotem Haar ne Ansichten gegenüber rotem Haar, beziehungs- und Bart dargestellt wurde.12 weise Vorurteile generell, entstehen und sich in den Man wollte ihn in den Abbildungen mit klaren AttribuKöpfen der Menschen über einen langen Zeitraum ten kennzeichnen, deshalb malte man das Haar rot, hinweg verankern können? Hierzu müssen psycholo- einen gelben Umhang oder eine Geldbörse in seiner gische Erklärungen zu dem menschlichen Wahrneh- Hand. Offenbar wählte man das rote Haar auch hier mungsprozess und der Informationsverarbeitung he- im Kontext seiner negativ nachgesagten Eigenschafrangezogen werden. ten, um Judas, den Verräter, der im Christentum als Um die unzähligen Haareindrücke, die wir täglich auf- „Inbegriff des Bösen“ galt, klar zu charakterisieren.13 nehmen, verarbeiten zu können, werden die Informationen gefiltert, sortiert, geprüft und mit zurücklie- Im Mittelalter galt die besondere Haarfarbe als Hegenden, sowie kulturell vorgegeben Informationen, xenmerkmal. Diese Überlegung geht zurück auf die abgeglichen. Wir eignen uns ein Assimilationssche- Darstellungen aus keltischen Überlieferungen, in demata an, was bedeutet, „wir entwickeln Muster des nen Hexen meist rote Haare trugen.14 Sie waren SinnWahrnehmens, Erkennens und Deutens, mit denen Hexen und Teufelskinder 75 74 „Rotes Haar, Gott bewahr.“, „Rote Haare, Sommersprossen – sind des Teufels Artgenossen“, „Rotes Haar, nimm dich in Acht, hat noch jedem Leid gebracht“ 1 Dies sind nur einige der vielen negativ konnotierten Sprichwörter über Rothaarige. Doch woher stammen diese Vorurteile? Im Laufe der Jahrhunderte hat sich das Bild der Rothaarigen kaum verändert. Sie werden als Untertanen des Teufels oder als Hexen betitelt. Stur, frech, temperamentvoll und besonders schmerzempfindlich sollen sie sein, so heißt es in populärwissenschaftlichen Texten. Solche Vorurteile haben ihren Ursprung oft in der weit zurückliegenden Vergangenheit, wo sie sich kulturell ausgeprägt haben. Natur-Rotschöpfe sind eine Seltenheit, sie machen weniger als zwei Prozent der Weltbevölkerung aus.2 Die Ursache der Rotfärbung liegt in den menschlichen Genen. Das so genannte „Ginger-Gen“, eine Variation auf dem Chromosom 16, führt zur Veränderung des MC1R Proteins.3 Die Folge: Es befindet sich Phäomelanin, anstatt des dunklen Melanins, in Haut, Haaren und Augen.4 Die Haare werden rötlich, die Haut ist heller und deutlich empfindlicher, hinzu kommen vermehrte Sommersprossen. Das rote Haar ist um einiges dicker und manchmal fast drahtig. Dafür besitzen die Träger tendenziell weniger Haare als Brünette oder Blondinen.5 Evolutionsbedingt leben Rothaarige, aufgrund ihrer Sonnenempfindlichkeit, eher in kälteren Klimazonen. Die meisten leben nicht, wie häufig angenommen, in Irland, sondern in Schottland, nämlich bis zu vierzehn Prozent.6 Die Verbreitung des „Ginger“-Gens ist verhältnismäßig gering, begründet durch die rezessive Vererbung. Sowohl die Mutter als auch der Vater muss ein rezessives Rothaar-Gen in sich tragen und weitergeben, damit das Merkmal beim Kind auftritt. wir immerfort die Außenwelt […] [begutachten].“8 Es entsteht ein Musterkoffer, der vorgibt, welche Haarfrisur oder –farbe wir annehmen oder ablehnen. Auf der einen Seite ermöglicht uns diese Selektion Orientierung in einer komplexen Welt, verschafft Ordnung, Sicherheit und Struktur im Alltag. Aber auf der anderen Seite normieren und uniformieren wir unser Denken und Handeln. Wir sehen nur noch das, was wir kennen und sind blind für Neues und andere Möglichkeiten, wir haben einen „Tunnelblick“.9 Wenn wir Haare wahrnehmen, sind wir somit nie objektiv, wir schauen durch unsere „Muster-Brille“, welche unseren Blick verfälscht und „blinde Flecke“ (Welsch) erzeugt.10 Sind unsere Wahrnehmungsmuster streng gestrickt, entsteht Befangenheit gegenüber dem Andersartigen. Minderheiten sind prädestiniert für Vorurteile der Mehrheiten, da sie in irgendeiner Weise, hier durch ihre rote Haarfarbe, dem gängigen Bild der Gesellschaft nicht entsprechen. bild für das Außergewöhnliche und Geheimnisvolle. Zu der Zeit suchte man nach einem Sündenbock für die schlechten Verhältnisse, Missernten, Tod und Armut.15 Die Verbindung zwischen der rötlichen Haarfarbe und dem Bösen schien naheliegend: Das Feuer und die Hölle sind rot symbolisiert und somit können Rothaarige nur Untertanen des Teufels oder Hexen sein. Derartige Konnotationen halten sich bis heute hartnäckig. ode der Mütter gezeugt wurden.17 Männern mit roter Behaarung gelang es nicht, das negative Bild auf erotischer Ebene zu kompensieren. Ihnen wurde massive und sexuelle Gewalt unterstellt und so wurden sie schnell bei ungeklärten Kriminalfällen unter Verdacht gestellt.18 Dieser Aberglaube, dass rothaarige Frauen dauerhaft bluten und übel riechen, findet sich heute nicht mehr. In dem Roman Das Parfüm (1985) von Patrick Süskind wird sogar vom Gegenteil ausgegangen. Der Frauenmörder Grenouille will das perfekte Parfüm herstellen, welches in der Lage ist die Menschen in einen tranceähnlichen Zustand zu versetzen. Das Parfüm gewinnt er aus dem Eigengeruch von bestimmten Frauen, die er dafür ermordet. Dabei ist der Geruch von rothaarigen Mädchen für ihn der Anziehendste unter den Gerüchen.19 Das Anderssein und das seltene Vorkommen der roten Kopfbehaarung verunsicherten ihre Mitmenschen. Man sucht nach Erklärungen. Das Image, Rothaarigen könne man nicht trauen, entsteht aus dem Bedürfnis sich gegenüber dem Unbekannten, Unerklärbaren zu schützen. „Schon wieder ein Rotfuchs und keine Flinte!“, dieses Sprichwort beinhaltet eine alte, aber noch gängige Metapher, die den Rothaarigen mit einem Fuchs vergleicht.20 Der Fuchs als Metapher wird nicht nur wegen seiner rötlichen Fellfarbe herangezogen. Die typischen Charakterzüge des Fuchses werden auf die Rothaarigen übertragen. In traditionellen Fabeln und Märchen ist der Fuchs gekennzeichnet durch seinen Scharfsinn. Er ist zwar klug, aber eher im Sinne von listig. Er nutz sein Wissen, um es gegenüber anderen zu seinem Vorteil auszunutzen. Der Vergleich ist heutzutage immer noch gängig. Die populären Vorstellungen sind tief im kulturellen Gedächtnis verankert. Zusammenfassend werden folgende stereotype Eigenschaften den Rothaarigen zugesprochen: Falschheit, Hinterlist, Untreue Im 17. Jahrhundert verbreitete sich im französischen sowie leichte Erregbarkeit, Jähzorn und Feurigkeit. Raum der Glaube, dass rothaarige Frauen unange- Aber auch Scharfsinn und Sinnlichkeit, welche ponehm riechen. Angeblich sind die roten Haare der sitiv deutbar sind. Die verschieden Bezeichnungen, Frau ein Indiz für üblen Geruch, ausgelöst durch de- wie Hexe oder das Vergleichsbild des Fuchses, korren lang anhaltende Menstruationsblutung. respondieren mit den unterstellten Charakterzügen. „Rothaarige Frauen gelten nun als so stark riechend, Eine fast durchweg negative Betrachtung im kulturell als befänden sie sich im Zustand permanenter Mo- historischen Kontext ist festzustellen. natsblutung. […] Die Menstruation wird dabei verstanden als Zeitpunkt außergewöhnlich großen, sexuellen Verlangens, so dass rothaarige Frauen ständig sexuell bereit sein sollen.“16 Zusätzlich wird unterstellt, dass rothaarige Kinder während der Peri- Rote Inspiration Einige Künstler hegten eine besondere Beziehung zu Rothaarigen, wählten sie für ihre künstlerischen Motive, als Musen und Protagonistinnen von Romanen. Sie sahen in der Andersartigkeit der Rothaarigen das Besondere und verewigten sie in ihren Kunstwerken. Gustav Klimt, Gustave Courbet und besonders PierreAuguste Renoir malten häufig rothaarige Frauen. Klimt, einer der bekanntesten Vertreter der Jugendstil-Bewegung und Mitbegründer der Wiener Secession, faszinierte die Sinnlichkeit und Sexualität der Frau, welche er in seinen Bildern versuchte zu transportieren. In seinem bekannten Werk Danae ist eine rothaarige Frau nackt, in verschlungener Haltung, vor goldigem Hintergrund dargestellt. Sie „wird zum Sinnbild einer sich selbst genügenden Sexualität. Selbstvergessen und selbstversunken gibt sie sich in verzerrter Perspektive ihrer erotischen Weiblichkeit hin.“21 Klimt verlieh der Rothaarigen eine sinnliche und erotische Aura. Daneben finden sich auch Abbildungen, wie sein Beethovenfries, bei welchem die Konnotation einer männerverschlingenden Femme Fatale mit rotem Haar zur Personifikation von Wollust, Unkeuschheit und Völlerei wird.22 Gustave Courbets „Schlafende rothaarige Frau“ und „Die Frau in den Wellen“ sind zwei von vielen sinnliche Darstellungen von Frauen mit rötlichem Haar und heller Haut. Der Impressionist Pierre-Auguste Renoir schien eine besonders tiefe Faszination für rotes Haar zu besitzen, zumindest lassen seine unzähligen Kunstwerke, wie „Die rothaarige Badende“, „Mädchen beim Kämmen“, das Portrait von Jeanne Samary und „Liegender Akt“, um nur einige zu nennen, darauf schließen. Gegen Ende seines Lebens, als er bereits stark unter seiner Arthritiserkrankung litt, motivierte ihn das junge unbekümmerte Bauernmädchen Andrée, mit wallendem rotem Haar und milchweißer Haut, noch einmal zu neuen Kunstwerken und wurde zu seiner letzten Muse.23 Auffällig bei Renoirs Werken ist, dass er die rothaarigen Damen und Mädchen in seinen Bildern nicht nur als sinnliches oder temperamentvolles Sexualobjekt charakterisiert. Zusätzlich portraitierte er sie beim Mandoline- und Klavierspielen oder lesend, was sie intellektuell, klug und talentiert erscheinen lässt. Darunter finden sich ebenso Abbildungen von warmherzigen Müttern und unschuldigen Kindern. Die Künstler durchbrechen das Muster und sehen das Besondere und Geheimnisvolle in der seltenen Haarfarbe und erheben die weiblichen Träger der roten Haare zu unantastbaren Musen. Wahrscheinlich trug dies mit dazu bei, dass sich die rein negativen Ansichten allmählich lockerten. Abb. 2: Pierre-Auguste Renoir – Die Klavierstunde, 1889. 77 76 Abb. 1: Pierre-Auguste Renoir – Liegender Akt, 1902. Im Körper des Feindes Kinderhelden ist Pippi Langstrumpf. Sie ist die berühmteste Romanfigur der schwedischen Schriftstellerin Astrid Lindgren. Pippi Langstrumpf besitzt unverhältnismäßig starke Kräfte und kann ihr eigenes Trotz dieser Entwicklung ist die Befangenheit gegen- Pferd stemmen. Ähnlich wie die anderen Kinderfiguüber dem rötlichen Haar bis heute nicht vollständig ren ist sie rebellisch, lustig und unterwirft sich keiner gewichen. Die amerikanische Zeichentrickserien Autorität. Daneben könnte man sie als Vorbild für die Southpark, bekannt durch ihren polarisierenden, Frauenbewegung und den Feminismus benennen. gesellschaftskritischen und humoristischem Stil, be- Indem sie, entgegen des festgelegten Rollenbildes schäftigt sich in der Folge „Im Körper des Feindes“ für Mädchen, ihre gesellschaftlich vorgegebene Gemit der sozialen Ausgrenzung von Rothaarigen in der schlechterrolle bricht und die Männer sogar mit ihrer gegenwärtigen Zeit. physischen Stärke übertrifft, ist sie der Idealtypus eiIn der Folge wird die Diskriminierung der „Rot- nes emanzipierten Mädchens.26 schöpfe“ auf die Spitze getrieben. Die angeblich seelenlosen Ginger-Kinder werden ausgestoßen und Es lässt sich zusammenfassend feststellen, dass steschließen sich am Ende zu einer Ginger-Seperatisten- reotype Eigenschaften der Kinderfiguren vorhanden Gruppe zusammen, die alle nicht-rothaarigen Kinder sind und diese mit den geprägten Ansichten über ausrotten wollen, um eine rein rote Rasse zu erschaf- rotes Haar zu korrespondieren scheinen. Sie gelten fen.24 Die Macher der Serie schaffen es durch ihre meist als frech, schlau und dickköpfig. Daneben beübertriebene Darstellung der Diskriminierung Rot- sitzen sie außergewöhnliche Fähigkeiten: Das Sams haariger, dem Zuschauer seine unbewusste Vorein- kann Wünsche erfüllen, Pumuckl kann sich unsichtgenommenheit vorzuführen. bar machen und Pippi ist überdurchschnittlich stark. http://www.youtube.com/watch?v=kgdKvXmE6w0 Die Helden haben trotz ihrer Aufmüpfigkeit immer (-> Ein kurzer Auszug der Folge) eine liebenswürdige Seite an sich. Sie entsprechen http://www.southpark.de/alle-episoden/s09e11-im- dem Wunschbild der Kinder, die am liebsten genauso k%C3%B6rper-des-feindes (-> Die komplette Folge) sein wollen wie ihre Vorbilder. Dennoch scheinen die Kinder zwar die Figuren zu verehren, aber dies nicht in Bezug mit deren Haarfarbe zu setzen. Sie wollen genauso rebellisch sein, aber den Wunsch nach roter Haarfarbe scheinen sie nicht zu verspüren. Helden der Kindheit Insbesondere rothaarige Kinder haben es mit ihrer speziellen Haarfarbe manchmal nicht leicht. Schon in der Schule oder im Kindergarten werden sie zuweilen aufgrund ihrer Andersartigkeit geärgert oder von Mitschülern ausgegrenzt. Im Kindesalter ist es besonders schwer, wenn man durch sein Äußeres aus der Reihe fällt, da Kinder unüberlegt ihre Eindrücke und Gedanken direkt mitteilen. „Das rote Kind will sein wie alle und ist zum Anderssein verdammt.“25 Rothaarige Blondinen bevorzugt Die Veränderung hin zu mehr Akzeptanz der roten Haarfarbe gilt mehr für das weibliche Geschlecht. Allerdings gibt es Hoffnung für den rothaarigen Mann. Bei der diesjährigen Berliner Fashionweek schickte der Designer Marc Stone rothaarige Männermodels über den Laufsteg. Die Models, die nicht von Natur aus rot waren, wurden sogar mit roter Sprüh-Haarfarbe kurzerhand umgefärbt. Vielleicht ist dies ein Trend, der sich in Zukunft weiter durchsetzt und den männlichen Trägern dieser Haarfarbe ermöglicht, ihre bisherige Last zu einem Vorteil zu machen. Wenn jeder individuell versucht, mit einem offenen Blick dem Andersartigen eine Chance zu geben und das seltene Rot als etwas Besonderes im positiven und nicht im negativen Sinn zu sehen, dann steht einem weiteren Schritt gegen die Diskriminierung und für die Akzeptanz der rothaarigen Bevölkerung nichts mehr im Weg. Marie Steiner Fußnoten 1 Balabanova, Svetlana :…aber das Schönste an ihr war ihr Haar, es war rot wie Gold…Haare im Spiegel der Kultur und Wissenschaft. Universitäts Verlag. Ulm 1993, S. 91 2 Vgl. Heinemann, Pia: Was Rothaarige schmerzhaft einzigartig macht. In: Die Welt. Stand: 11.03.2012.URL: http://www.welt.de/wissenschaft/ article13912974/Was-Rothaarige-schmerzhaft-einzigartig-macht.html (abgerufen am 12.6.2013) 3 Vgl. Ebd. 4 Vgl. Ebd. 5 Vgl. Ebd. 6 Vgl. Ebd. 7 Vgl. Junkerjürgen, Ralf: Haarfarben. Eine Kulturgeschichte in Europa seit der Antike. Böhlau Verlag. Köln 2009, S. 117 ff 8 Kolhoff-Kahl, Iris: Ästhetische Muster-Bildungen. Ein Lehrbuch. Kopaed Verlag. München 2009, S. 31 9 Vgl. Kolhoff-Kahl, Iris: Ästhetische Muster-Bildungen. Ein Lehrbuch. Kopaed Verlag. München 2009, S. 13 10 Vgl. Kolhoff-Kahl, Iris: Ästhetische Musterbildung. Ein Lehrbuch. Kopaed Verlag. München 2009, S. 38 11 Junkerjürgen, Ralf: Haarfarben. Eine Kulturgeschichte in Europa seit der Antike. Böhlau Verlag. Köln 2009, S. 35 12 Vgl. Junkerjürgen, Ralf: Haarfarben. Eine Kulturgeschichte in Europa seit der Antike. Böhlau Verlag.Köln 2009, S.43 13 Ebd. 14 Vgl. Doß, Thorsten: Hexerei und ihr Weg in die Moderne. Norderstedt 2000, S. 3 15 Vgl. Becker, Claudia: Als Hexen mit dem Teufel wilde Orgien feierten. In: Die Welt. URL: http://www.welt.de/kultur/history/article106238565/AlsHexen-mit-dem-Teufel-wilde-Orgien-feierten.html (abgerufen am 10.06.2013). 16 Junkerjürgen, Ralf: Haarfarben. Eine Kulturgeschichte in Europa seit der Antike. Böhlau Verlag. Köln 2009, S. 120 17 Vgl. Ebd. 18 Vgl. Junkerjürgen, Ralf: Haarfarben. Eine Kulturgeschichte in Europa seit der Antike. Böhlau Verlag. Köln 2009, S. 121 19 Vgl. Junkerjürgen, Ralf: Haarfarben. Eine Kulturgeschichte in Europa seit der Antike. Böhlau Verlag. Köln 2009, S. 126 20 Vgl. Junkerjürgen, Ralf: Haarfarben. Eine Kulturgeschichte in Europa seit der Antike. Böhlau Verlag. Köln 2009, S. 118 21 Schlockermann, Eva: Der sinnliche Klimt. In: Erotische Kunst. Die Erotik in der Malerei, Grafik und Fotografie. URL: http://erotische-kunst.com/ der-sinnliche-klimt/ (abgerufen am 10.8.2013) 22 Vgl. Schlockermann, Eva: Der sinnliche Klimt. In: Erotische Kunst. Die Erotik in der Malerei, Grafik und Fotografie. URL: http://erotische-kunst. com/der-sinnliche-klimt/ (abgerufen am 10.8.2013) 23 Vgl. Albrecht, Jörg: Renoirs letzte Muse. In: Deutschlandradio. URL: http:// www.dradio.de/dlf/sendungen/corso/2002110/ (abgerufen am 10.08.2013). 24 Vgl. o.V.: Im Körper des Feindes. Zusammenfassung. In: Episodenguides. URL: http://www.episodenguides.de/serien/south-park/09x11-im-koerper-des-feindes.html#page=info (abgerufen am 08.06.2013) 25 Rauch, Renate: Rote Haare, Sommersprossen. In: Berliner Zeitung URL: http://www.berliner-zeitung.de/archiv/rote-haare--sommersprossen,10810590,9744968.html (abgerufen am 12.08.2013) 26 Vgl. Meri, Tiina: Pippi Langstrumpf: Schwedische Rebellin und Vorbild der Frauenbewegung. In: sweden.se. URL: http://www.sweden.se/de/Startseite/Lebensstil/Lesen/Pippi-Langstrumpf-Schwedische-Rebellin-undVorbild-der-Frauenbewegung-/ (abgerufen am 10.08.2013) 27 Vgl. o.V.: Rotes Haar - der Mega-Trend! In: Schwazkopf Homepage. URL: http://www.schwarzkopf.de/sk/de/home/haarfarbe/roteshaar/farbtrends/farbtrend_rotes_haar.html (abgerufen am 08.08.2013). 28 Rauch, Renate :Rote Haare, Sommersprossen. In: Berliner Zeitung URL: http://www.berliner-zeitung.de/archiv/rote-haare--sommersprossen,10810590,9744968.html (abgerufen am 12.08.2013) Abbildungsverzeichnis Abb. 1: Pierre-Auguste Renoir – La Source. Nu couché (Liegender Akt), 1902. Wikimedia Commons /PD URL: http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Pierre-Auguste_Renoir_-_La_ Source._Nu_allong%C3%A9.jpg Abb. 2: Pierre-Auguste Renoir – La leçon de piano (Die Klavierstunde), 1889. Wikipaintings /PD URL: http://www.wikipaintings.org/en/pierre-auguste-renoir/the-pianolesson-1889 PD = Abkürzung für public domain (= gemeinfrei) Layout-Bild in der Schrift: Haare - CIS/ © PIXELIO. 79 78 Rote Haare finden wir heute nicht nur bei der Feministenbewegung wieder. Insbesondere die Medien, wie auch manche Stars, bedienen sich zuweilen der speziellen Ausstrahlung roter Haare.27 Ein Image-Wechsel des Rots im 20. Jahrhundert wurde mitunter durch verschiedene Filme mit rothaariDabei sind die bekanntesten Kinderfiguren Rotschöp- gen Schauspielern, genauso wie in der Modebranche fe: Pumuckl, der Kobold mit dem roten Haar, ist eine durch die Models mit rötlichem Haar, hervorgerufen. beliebte Kinderfigur, die man aus Büchern, Hörspie- In dem Film „Das fünfte Element“ ist Mila Jovovic len und dem Fernsehen kennt. Seine wild zerzausten als Rothaarige die Retterin der Welt. Es öffnen sich roten Haare trägt er mit Stolz. „Am liebsten macht komplett neue Schubladen, in die die Träger roter er Schabernack“ heißt es in dem Pumuckl Lied, was Haare bisher nicht reinpassten. Prominente Persönbereits auf die Eigenschaften des Kobolds Aufschluss lichkeiten wie Nicole Kidman, Lindsay Lohan, Robert gibt. Er ist frech, stur und spielt anderen gerne Strei- Redford, Prinz Harry und Boris Becker sind Träger che. Ähnliche Charakterzüge zeigen das Sams oder des Rothaar-Gens, wenn auch ihre Naturhaarfarbe die Rote Zora, ebenfalls die Protagonisten zweier Kin- manchmal übergefärbt wird, posieren sie phasenderbuchklassiker. weise mit ihren roten Haarschöpfen stolz vor der KaEin Paradebeispiel für die stereotypen rothaarigen mera. „Verrucht, lasterhaft, sündig soll die rothaarige Frau sein, wer schlau ist, schlägt aus dem Klischee vom aufregenden Charakter Kapital. Die Faszination der Interessenten liegt in der Frage nach dem Geheimnis. Das Anderssein ist keine Verdammnis mehr. Die Rothaarige hat erfahren, dass sie einzigartig ist, etwas Besonderes.“ 28 Abb.1: Xenia Rohlmann, ŏnchǔn mŏri KopflastPerücke Chosŏn-Dynastie (1392-1910) in Korea: Schwiegertochter einer reichen Familie bricht sich das Genick, als sie versucht mit ihrer schweren Perücke aufzustehen, um ihren Schwiegervater in Empfang zu nehmen.1 Abb.3: Xenia Rohlmann, ŏyŏ mŏri in Kombination mit ttŏguji Die Menschen schienen besessen von dem Schönheitswahn durch Perücken, wenn sie Gefahren wie Genickbruch in Kauf nahmen. An dieser Stelle bewahrheitet sich der Spruch: „Wer schön sein will, muss leiden.“ Während sich der Kleidungsstil in der Chosŏn-Dynastie kaum veränderte, waren die Haare in dieser Zeit kontinuierlich einem Wandel unterlegen. War den Menschen im alten Korea damit das Haar als körpereigenes Produkt wichtiger als das kulturelle Ausdrucksmittel Kleidung? Die Kachẻ wirken starr und streng. Spiegeln sie die konservative Strenge des konfuzianistischen Denken und eine Starre des gesellschaftlichen Lebens wieder? Ist die Kachẻ gar eine Personifikation der Last gesellschaftlicher Normen, die womöglich auf den Schultern der Menschen gelastet hat und die seelische Last in eine physische Last umwandelt? Im Laufe der Chosŏn-Dynastie wurden die Haare der Frauen mit dem Aufkommen des Konfuzianismus in immer strengere Formen gebracht.3 nachwachsen. In einer gebändigten Form wie der Kachẻ wird die Vorstellung vom wachsenden Haar zu Nichte gemacht. Indiziert die starre Perücke eine innerliche Leere der Menschen dieser Zeit, insbesondere des koreanischen Adels? Je höher die Stellung, desto mehr Verantwortung für die Mitmenschen und desto höher waren auch die Perücken. Die große Verantwortung, die auf diesen Menschen gelastet haben muss, wird durch die Perücken in physischer Form dargestellt und für andere visuell sichtbar und greifbar gemacht. Die Perücken suggerieren, dass Macht auch seine Schattenseiten hat und zur einer Last werden kann, unter der man zusammenbrechen kann, wie der tragischer Fall der Schwiegertochter des reichen Schwiegervaters verdeutlicht. Wie ein Kartenhaus bricht der Mensch zusammen. Das Haar ist letztendlich mehr als nur ein dekorative Instanz. Es spricht Dinge aus, die wir selbst nicht aussprechen, obwohl es stumm und nicht lebendig ist. Haare machen Unsagbares sagbar. Was gefiel dem koreanischen Volk an den starren Haarstilen, die keine natürliche Bewegung von Haar zu lässt? Die Perücken erscheinen dem westlichen Betrachter mehr als ein Hut aus Haaren und nicht wie lebendig wirkendes wallendes Haar. Die tote Starre der Haarperücken unterstreicht die Tatsache, dass Haare im Grunde totes Material sind, die dennoch Für historische koreanische Serien werden solche altertümlichen Kachẻ noch hergestellt und stellen für viele Schauspieler ebenfalls eine große physische Last dar. Fußnoten 1 Vgl. Choi, Na-Young: Symbolism of Hairstyles in Korea and Japan, S. 81. 2 Vgl. Nelson, Sarah M.: Bound Hair and Confucianism in Korea, S.108. 3 Vgl. Nelson, Sarah M.: Bound Hair and Confucianism in Korea, S.106. Nelson, Sarah M.: Bound Hair and Confucianism in Korea. In: Hair. Its Power and Meaning in Asian Cultures. Hg. v. Alf Hiltebeitel u. Barbara D. Miller. Albany: State University of New York Press 1998. S.105-119. Literaturverzeichnis Choi, Na-Young: Symbolism of Hairstyles in Korea and Japan. In: Asian Folklore Studies 1 (2006). S.69-86. Xenia Rohlmann Abbildungsverzeichnis Abb.1: Xenia Rohlmann, ŏnchǔn mŏri Abb.2: Xenia Rohlmann, ŏyŏ mŏri Abb.3: Xenia Rohlmann, ŏyŏ mŏri in Kombination mit ttŏguji 81 80 Während der Chosŏn-Dynastie trugen in Korea Abb.2: hauptsächlich Adlige Perücken (Kachẻ). Das Denken Xenia Rohlmann, ŏyŏ mŏri der Menschen in dieser Zeit war vom Konfuzianismus geprägt. Sie glaubten, dass Haut und Haare Güter sind, die von den Eltern stammen. Werden diese Güter verletzt, wird gleichzeitig auch der Körper der Eltern verletzt. Aus diesem Grund lehnten sie es ab, ihre Haare zu schneiden. Es wird von einem Mann berichtet, der sich weigerte aus diesem Grunde seine Haare zu schneiden und den Selbstmord vorzog.2 Langes und volles Haar galt zudem als Schönheitsideal. Die Perücken ließen die Haare der Frauen voluminöser erscheinen und sollten damit die Schönheit des äußeren Erscheinungsbildes steigern. Die Haare wurden nie offen getragen, sondern in eine straffe Form gebracht. Im alten Korea trugen lediglich Frauen Perücken und trugen ihr Haar offen zur Schau, wohingegen Männer ihre Haare zu einem Dutt formten und Hüte trugen. Das Haar des Mannes war dadurch kontinuierlich bedeckt. Einige dieser koreanischen Frauenperücken konnten bis zu 30 cm hoch sein. Die Perücken bestanden aus menschlichem Haar. Bestimmte Teile der Perücken wurden aus Holz gefertigt. Im Jahr 1756 wurden die Perücken von König Yŏngjo verboten, jedoch setz- Frauen, älteren Damen und Kisaengs (koreanische ten sich die Menschen über das Verbot hinweg. Es Variante der Geisha) getragen wurden. Für ärmere gab spezielle Perücken, die nur von verheirateten Menschen waren die Perücken nicht erschwinglich, weil sie einen Wert von mehreren Häusern besa- ßen. Vermutlich waren sie überaus teuer, da sie aus menschlichem Haar bestanden und sich die Haare zu schneiden nicht angesehen war. Weiterhin existierten Perücken, mit denen sich lediglich weibliche Angehörige des Palastes ihr Haupt schmücken durften. Manche Perücken wurden für bestimmte zeremonielle Anlässe gefertigt. Je höher die Stellung im Palast, desto größer die Perücke. Die Perücken wurden den ganzen Tag getragen und nur beim Schlafen abgenommen. Aus den Quellen wird nicht ersichtlich, ob das eigene Haar komplett unter der Perücke verschwunden ist oder ob die eigenen Haare mit dem Haar der Perücke vermengt wurden. Da die meisten Menschen in Korea sich damals die Haare nicht geschnitten haben, waren die Haare so lang, dass man sie sicherlich nicht komplett unter einer Perücke verbergen konnte. Abb.1. Opfer des Jud Süß (1940): Kristina Söderbaum kämpfte zeitlebens mit ihrem Image als Reichswasserleiche Anna Kamneva Botschaft Blondine Helle Köpfe im Nazi-Starkult Ein medienkritischer Blick auf die Kinoleinwand der Nazizeit birgt Potential zur Entschlüsselung ästhetischer Codes. Denn die blonden Filmstars des Dritten Reichs prägten unsere heutige Sicht auf die begehrte Haarfarbe… Blonde Venus, helllichte Madonna, goldlockige Loreley – dank dieser Musen der Künste galten blonde Haare seit der Antike als das abendländische Schönheitsideal. Im 20. Jahrhundert erschufen frisch etablierte Massenmedien neue Kultfiguren und machten das Modephänomen zum Symbol geradezu gegensätzlicher Ideologien. In den 1920er und 30er Jahren gab der Film den Ton an. Vorbilder der westlichen Welt waren blond gefärbte Hollywoodstars wie Jean Harlow, Marlene Dietrich und Mae West, die Femmes fatales mit emanzipierter Haltung verkörperten. Im deutschsprachigen Raum dagegen galten naturblonde Haare als Essenz der germanischen Schönheit und sollten als Attribut der traditionellen weiblichen Tugend propagiert werden. Doch was vermittelte die Kinoleinwand der NS-Zeit tatsächlich? Weibliche Wunschbilder Nach der Machtergreifung im Jahr 1933 strebten die Nationalsozialisten eine schnelle und radikale Umstellung der Werte an. Ihr Kodex: Überlegenheit der Arier, Kult des Deutschen, Antisemitismus. Da der Leiter des Propagandaministeriums (RMVP)1 Joseph Goebbels auf subtile Massenlenkung setzte2, eignete sich das Medium der Träume und Illusionen perfekt als Manipulationsinstrument. Der Film sei durch „[...] seine Eigenschaft primär auf das Optische und Gefühlsmäßige, also Nichtintellektuelle, einzuwirken, massenpsychologisch und propagandistisch von besonders eindringlicher und nachhaltiger Wirkung“3, so der Leiter der Filmabteilung des RMVP Fritz Hippler. Weil das Nichtintellektuelle als weibliche Domäne galt und Frauen bereits vor dem Krieg den Großteil 83 des Kinopublikums bildeten4, richteten sich die meisten Filme an die weibliche Zuschauerin. Ihr vermittelten die Darstellerinnen ein Selbstbild, das die männlichen Wünsche befriedigen und korrigieren sollte.5 Revuetanz aus der Reihe Nicht jedes blonde Mädchen von nebenan war allerdings unkompliziert. Eine Ausnahme: Der Blonde Traum14 des Revuefilms Lilian Harvey (Abb.2), ehemaliger Filmstar der Weimarer Republik. Angesichts Blondinen bevorzugt? ihres vor 1933 aufgebauten Image war es schwierig, Ginge es dabei nach den dogmatischen Wunschvor- die Schauspielerin in das erwünschte Frauenkon15 stellungen der Theoretiker wie Otto Hauser6 oder zept zu integrieren. Zu schlank und androgyn war Alfred Rosenberg7, wäre jede Arierin , im Alltag wie die romantische platinblonde Schönheit für das erim Film, blond gewesen. Doch wider Erwarten er- wünschte Weiblichkeitsideal. Dazu hegte sie privat oberten die Leinwand auch brünette Diven. Zarah Le- eine gefährliche Vorliebe für Hollywood, Luxus und ander, Käthe von Nagy, Sybille Schmitz, Sex-Appeal- Emanzipation. Olga8 Tschechowa, Lil Dagover – letztere gehörten zu Hitlers Lieblingsschauspielerinnen9 – verführten den Ende der 30 Jahre wurde Harvey durch die Ungarin 16 Zuschauer mit dunkler Erotik und mondäner Eleganz. Marika Rökk abgelöst. Als leichtbekleidete TänzeObwohl ihre Rollen das Gegenteil der propagierten rin in pompösen Inszenierungen munterte Rökk das 17 Sittlichkeit vermittelten, beschränkten sich die fil- Volk während der Kriegszeit auf. Doch auch wenn mischen Muster-Bilder nicht auf die Blond-Brünett- sich die Schauspielerin mit betont weiblicher Figur, Gegenüberstellung als Metapher für Gut und Böse. rotblonden Haaren und gesunder Erscheinung als 18 Denn die Filmemacher mussten nicht zuletzt aus Botschafterin der Mutterrolle eignen würde, konnkommerziellen Gründen die Präferenzen des Publi- te sie sich aufgrund ihres Temperaments und ihrer 19 kums berücksichtigen.10 Und diese Vorlieben form- erotischen Ausstrahlung nicht endgültig als Vorbild ten sich nicht nur durch die NS-Propaganda, sondern behaupten. auch unter dem Einfluss der Filmtraditionen der Weimarer Republik, Hollywoods und im historischen Kontext der Moderne allgemein. Schwarze Schafe – helle Haare In seltenen Fällen waren auch blonde Stars auf negative Rollen festgelegt. Komikerin Fita Benkhoff trat Lancierte Leitfiguren zum Beispiel als Dame „[...] mit mondänem oder 20 Das Ideal der arischen Frauenfigur, wie es im Bu- spießbürgerlichem Anstrich [...]“ auf. Rotblonde che steht, repräsentierte Kristina Söderbaum, „[...] Elisabeth Flickenschildt spielte „[...] wahre Pracht21 die blondeste aller nach Deutschland importierten exemplare weiblicher Untugend“ : „[...] Frauen, mit Schwedinnen [...].“11 Dramatisch mimte sie stets eine denen man nicht verheiratet sein möchte [...], skurritreue, scheue und unterwürfige Stütze des Helden, le, exzentrische Weibsbilder mit böser Junge und mit 22 deren Los, als das jeder Frau nach Hitler, in „[...] ge- Haaren an den Zähnen [...].“ duldiger Hingabe, in ewig geduldigem Leiden und Ertragen“12 bestand. Wie in ihrer markantesten Rolle Doch auch wenn die Blondine ein großes Spektrum im Propagandafilm Jud Süß13, wurde die Kindfrau in vom unschuldigen Mädel bis zum durchtriebenen LuNot oft Opfer des Vertreters einer minderwertigen xusweib abdeckte, eines verkörperte sie, ebenso wie Rasse – und ging ins Wasser, wofür die Schauspiele- die Brünette, nie: eine Antiheldin. Zu unbedeutend schien das schwache Geschlecht , um antagonistisch rin den Spitznamen Reichswasserleiche bekam. dem führerähnlichen – und stets männlichen – HelIn heitereren Filmen ersetzte die leidende Heldin das den gegenüberzutreten. anständige, natürliche und unkomplizierte Mädel, das entweder als gute Kameradin des Mannes auftrat oder die ideale Mutter verkörperte. Blonde Darstellerinnen wie Renate Müller, Grete Weiser, Carola Höhn, Marianne Hoppe und Käthe Dorsch standen Abb.2: Ein Blonder Traum (1932): Ihre Popularität in der oben auf der Besetzungsliste. Weimarer Republik wurde Lilian Harvey unter Hitler zum 84 Verhängnis Abb.3,4: Ist Blond gleich blond? Effektvoll in Farbe, verhelfen erst verstärkte Ausleuchtung und Kontrast zur dunklen Kleidung Marika Rökk zu ihrer vollen Wirkung als Die Frau meiner Träume (1944). Das Grauen des Grauen Anstoß für seine Weiterentwicklung dient. Und wer hätte gedacht, dass im Fluss unserer Gedanken um den blonden Haarschopf einer Diane Kruger eine in Muster zerlegte Reichswasserleiche mitschwimmt? Fußnoten 1 Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda. 2 Vgl. Goebbels, Joseph: Rede vor der ,Reichsfilmkammer‘ 1937. Aus: Leiser, Erwin: „Deutschland, erwache!“ Propaganda im Film des Dritten Reiches. Rowohlt. Reinbek 1968, S.112. 3 Hippler, Fritz, zit. nach Cadars, Pierre; Courtade, Francis: Geschichte des Films im Dritten Reich. Carl Hanser Verlag. München 1975, S.9. 4 Vgl. Vaupel, Angela: Frauen im NS-Film. Unter besonderer Berücksichtigung des Spielfilms. Kovac. Hamburg 2005, S.1. 5 Vgl. Ebda. S.36, Vgl. Hippler, Fritz, zit. nach: Albrecht, Gerd: Nationalsozialistische Filmpolitik. Eine soziologische Untersuchung über Spielfilme des Dritten Reichs. Enke. Stuttgart 1969, S.186. 6 Hauser, Otto (1876-1944): österreichischer Schriftsteller, der in zahlreichen Abhandlungen ein komplexes Bild der nordischen Rasse entwarf. Diese definierte er vor allem über die blonden Haare. 7 Rosenberg, Alfred (1892-1946): führender Ideologe der NSDAP, der in seinem Werk Mythus des 20. Jahrhunderts (1936) die Überlegenheitstheorie der Arier vorantrieb und die nordische Rasse zum alleinigen Kulturund Zivilisationsträger erklärte. 8 Vgl. Drewniak, Buroslaw: Der deutsche Film 1938-1945. Ein Gesamtüberblick. Droste. Düsseldorf 1987, S.117. 9 Vgl. Picker, Henry: Hitlers Tischgespräche im Führerhauptquartier. Seewald. Stuttgart 1976, S.180. 10 Vgl. Zimmermann, Clemens: Medien im Nationalsozialismus. Deutschland 1933-1945, Italien 1922-1943, Spanien 1936-1951. Böhlau. Wien 2007, S.165. 11 Ebelsender, Sepp, zit. nach: Drewniak, Buroslaw: Der deutsche Film 19381945. Ein Gesamtüberblick. Droste. Düsseldorf 1987, S.137. 12 Hitler, Adolf: Reichstagung in Nürnberg 1934. Nationalsozialistische Deutsche Arbeitspartei. Berlin 1934, S.341f. 13 Jud Süß (1940) ist ein antisemitischer Propagandafilm des Regisseurs Veit Harlan. 14 Vgl. Witte, Karsten: „Lachende Erben, Toller Tag“. Filmkomödie im Dritten Reich. Vorwerk. Berlin 1995, S.16. Verweis auf den Film Ein blonder Traum, in dem Harvey 1932 die Hauptrolle spielte. 15 Vgl. Ascheid, Antje: Hitler‘s Heroines. Stardom and Womanhood in Nazi Cinema. Temple Univ. Press. Philadelphia 2003, S.103. 16 Vgl. Drewniak, Buroslaw: Der deutsche Film 1938-1945. Ein Gesamtüberblick. Droste. Düsseldorf 1987, S.139. 17 Vgl. Witte, Karsten: Geheime Schaulust: Momente des deutschen Revuefilms. Aus: Belach, Helga (Hg.): Wir tanzen um die Welt: Deutsche Revuefilme 1933-1945. Carl Hanser Verlag. München 1979, S.7. 18 Vgl. Romani, Cinzia: Die Filmdiven im Dritten Reich. Dokumentarische Darstellung des Aufbaus der Nation. Hummer. Berlin 1934, S.13. 19 Vgl. Eder, Jens: Das populäre Kino im Krieg. NS-Film und Hollywoodkino – Massenunterhaltung und Mobilmachung. Aus: Segeberg, Harro (Hg.): Mediale Mobilmachung. Mediengeschichte des Films. Das Dritte Reich und der Film. Bd.4. Wilhelm Fink Verlag. München 2004, S.408. 20 Drewniak, Buroslaw: Der deutsche Film 1938-1945. Ein Gesamtüberblick. Droste. Düsseldorf 1987, S.120. 21 Fim-Kurier 9.5.1944, zit. nach: Ebda. S.121. 22 Ebda. 23 Vgl. Winkler-Mayerhöfer, Andrea: Starkult als Propagandamittel? Studien zum Unterhaltungsfilm im Dritten Reich. Ölschläger. München 1992,S.105f 24 Vgl. Ebda. S.108. 25 Vgl. Hans, Jan: Musik und Revuefilm. Aus: Segeberg, Harro (Hg.): Mediale Mobilmachung. Das Dritte Reich und der Film. Mediengeschichte des Films. Bd.4. Wilhelm Fink Verlag. München 2004, S.227. 26 Vgl. Venohr, Dagmar: Zur Transmedialität der Mode. Aus: Mentges, Gabriele; König, Gudrun M. (Hg.): Medien der Mode. Ed. Ebersbach. Berlin 2010, S.146. Abbildungen Abb. 1: Standfotograf unbekannt, Regie Veit Harlan – Jud Süß, 1940. Quelle: Deutsche Kinemathek. Abb. 2: Standfotograf unbekannt, Regie Paul Martin – Ein blonder Traum, 1932. Quelle: Deutsche Kinemathek. Abb. 3: Standfotograf unbekannt, Regie Georg Jacoby – Die Frau meiner Träume, 1944. Quelle: Deutsche Kinemathek. Abb. 4: Standfotograf unbekannt, Regie Georg Jacoby – Die Frau meiner Träume, 1944. Quelle: Deutsche Kinemathek. Anna Kamneva Literatur Albrecht, Gerd: Nationalsozialistische Filmpolitik. Eine soziologische Untersuchung über Spielfilme des Dritten Reichs. Enke. Stuttgart 1969. Ascheid, Antje: Hitler‘s Heroines. Stardom and Womanhood in Nazi Cinema. Temple Univ. Press. Philadelphia 2003. Cadars, Pierre; Courtade, Francis: Geschichte des Films im Dritten Reich. Carl Hanser Verlag. München 1975. Drewniak, Buroslaw: Der deutsche Film 1938-1945. Ein Gesamtüberblick. Droste. Düsseldorf 1987. Eder, Jens: Das populäre Kino im Krieg. NS-Film und Hollywoodkino – Massenunterhaltung und Mobilmachung. Aus: Segeberg, Harro (Hg.): Mediale Mobilmachung. Mediengeschichte des Films. Das Dritte Reich und der Film. Bd.4. Wilhelm Fink Verlag. München 2004. Goebbels, Joseph: Rede vor der ,Reichsfilmkammer‘ 1937. Aus: Leiser, Erwin: „Deutschland, erwache!“ Propaganda im Film des Dritten Reiches. Rowohlt. Reinbek 1968. Hans, Jan: Musik und Revuefilm. Aus: Segeberg, Harro (Hg.): Mediale Mobilmachung. Das Dritte Reich und der Film. Mediengeschichte des Films. Bd.4. Wilhelm Fink Verlag. München 2004. Hitler, Adolf: Reichstagung in Nürnberg 1934. Nationalsozialistische Deutsche Arbeitspartei. Berlin 1934. Junkerjürgen, Ralf: Haarfarben. Eine Kulturgeschichte in Europa seit der Antike. Böhlau. Köln 2009. Picker, Henry: Hitlers Tischgespräche im Führerhauptquartier. Seewald. Stuttgart 1976. Romani, Cinzia: Die Filmdiven im Dritten Reich. 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Wien 2007. 87 86 se akkurat darzustellen vermochte, verlor die Durchsetzung des Idealbildes gegen den Reiz der neuen Etwas latenter als auf der Handlungsebene trans- Technik. Im Film Die Frau meiner Träume wechselte portierte der Film seine Botschaft mittels visueller Marika Rökk ihre Haarfarbe dreifach und demonstEffekte. Auf die Darstellung der blonden Haare übten rierte eine breite Farbpalette, die das neue Medium Faktoren wie Ausleuchtung, Kontraste und Farbkor- nun darstellen konnte: von Schwarz zu Platinblond rektur eine ebenso große Wirkung aus, wie ihre pri- und schließlich zu Rotblond. Der Unterhaltungsfaktor des Farbfilms lenkte in diesem Fall die Filmproduktimäre Gestaltung durch Frisuren und Färbung. In Deutschland blieb der Schwarzweißfilm, der in on in der Spanne zwischen dem Ideen diktierenden dem Produzenten und dem Kinopubder Gesamtperiode des Nationalsozialismus domi- Machtapparat, 25 likum erneut im Interesse des Zuschauers. nierte, bis 1941 die einzige farbtechnische Darstellungsmöglichkeit. Für Propagandazwecke ein ernstes Problem: Wie die Katzen bei Nacht, verloren natür- Medium mustert Mode liche Blondinen auf der Leinwand an Farbwirkung. Als blond geltende Marika Rökk, Carola Höhn oder Wenn der Spielfilm des Dritten Reichs hinsichtlich Hilde Weißner schienen plötzlich brünett. Um dem der blonden Haare eine Botschaft vermittelte, dann entgegenzuwirken, betrieb die Filmindustrie gezielte nur eine: das Blond ist ein Konstrukt, eine VorstelImagepflege mit Hilfe von Bild- und Printmedien wie lung, die sich nach verschiedenen Kriterien im KonPostkarten, Werbeplakaten, Filmzeitschriften23 und text substituiert. In der Praxis der Durchsetzung eistärkte so den Gesamteindruck des Stars über den nes propagandistischen Theoriekonzepts entstanden Film hinaus.24 dank des Mediums Film neue, heterogene Bilder, Als der Farbfilm aufkam, der das Blond vergleichswei- Muster und Zugangsweisen der Annäherung an das Phänomen der blonden Haare. Modetheoretikerin Dagmar Venohr behauptet, dass es Medien sind, die die Mode erst sinnlich wahrnehmbar und erfahrbar machen.26 Außerdem gestaltet das Medium die Botschaft im Zuge ihrer Vermittlung durch seine Eigenspezifik mit. Die Haarfarbe, die medial nicht in ihrer voller Komplexität darstellbar ist, bekommt im medialen Zusammenhang eine Form, die die Wahrnehmung des Phänomens in der Welt lenkt und als SCAR(R)ED Das Leben zeichnet uns. Nach außen und nach innen. Es hinterlässt Spuren auf unserem Körper, auf unserer Haut. Feine Linien. Tiefe Furchen. Falten. Verletzungen. Narben. Haut-Kleider 89 Sar(r)ed Franziska Paa 93 Bin ich wirklich mein Spiegelbild? Swenja Padur 98 Read me - Wenn deine Haut dich verrät Jemima Wittig 104 Haut an Haut Lea Schwarzwald 106 Haut-Eng Stefanie Schelenberg Abb. 1. Franziska Paa: Unfallnarbe 89 88 108 „Stickdermitis“ Marina Hoffmann 112 Wenn Menschen vor Laternen laufen und Punkerinnen es nicht glauben können Jasmina Saddedine 116 Häute brauch' ich, Taschen mach' ich Kim Ernst 118 Defect Balm Helena Kampschulte Abb. 2: Franziska Paa: OP-Narbe 91 Narben können unterschiedlich entstehen, sei es nun durch einen Unfall (entweder selbst- oder fremdverschuldet), durch eine Operation (vielleicht auch durch einen Unfall hervorgerufen) oder auch durch Selbstverletzung. In jedem Fall wird die Haut sichtbar verletzt, die Auswirkungen auf den Betroffenen und dessen Psyche sind jedoch nicht sichtbar. Die Hauthülle trägt die Narbe nach außen und das Ich trägt die Narbe nach innen. Veränderte Haut. Gezeichnete Haut. Verheilte Haut. Entstellte Haut. Vernarbte Haut. Die Haut, die Oberfläche. Für jeden sichtbar. Für die Augen anderer Menschen, den Betrachter. Jede Narbe erzählt eine Geschichte. Eine Geschichte die nicht nur äußerlich zu sehen ist. Sie geht tief unter die Haut, bis hin zur Seele. Das Äußere wird wahrgenommen, doch das Innere ist nur für uns selbst sichtbar. Wir entscheiden, ob wir die Geschichte erzählen oder nicht. Auch wenn nur ein kleines Stück der Haut vernarbt ist, kaum sichtbar, so kann die Geschichte doch eine umso größere sein. Die verletzte Haut ist im Laufe der Zeit verheilt, in manchen Fällen auch die Psyche – doch was, wenn dem nicht so ist? Welche Auswirkungen hat dies auf einen selbst. Angst? Furcht? Zweifel? Vielleicht sogar Freude? Verändert es in manchen Fällen das Leben zum Negativen? Oder zum Positiven? Franziska Paa Abb. 1: Lara Dengs – Gesichtslos, 2013. © PIXELIO Bin ich wirklich mein Spiegelbild? 93 92 Abb. 3: Franziska Paa: Selbstverletzungsnarbe 95 Abb. 3 (rechts): Cindy Jackson - Cindy Jacksons secrets book cover, 2000 © http://www.cindyjackson.com Doch auch die Mode unterstreicht die eigenen Körperformen und lässt genügend Freiraum für die Wirkung des eigenen Hautkleides. Kleider-Haut-Vorstellungen haben sich in der Geschichte stetig verändert und zu einem heutigen Verständnis des Kleides als zweite Haut geführt. Da der Körper sterben würde, wenn die Haut mit jeder modischen Vorliebe verändert oder gar abgezogen würde, stellt die Kleidung die Möglichkeit dar, als zweites Hautkleid zu fungieren. Dieses kann nach Belieben verändert, abgelegt und gewechselt werden. Es unterstreicht in seiner Form die Beschaffenheit der Haut und dient als ihre Erweiterung.6 Die Arbeit am Körper selbst steht im Vordergrund. Haut als formbare Plastik, als veränderbares Gestaltungsattribut dient den individuellen Vorlieben und wird als Leinwand zur Gestaltungsoberfläche.7 Neben individuellen Vorlieben, die das Subjekt von anderen unterscheiden sollen, herrschen Normalisierungen vor, die gängige Schönheitsideale auf den eigenen Körper einschreiben sollen. Der Wunsch das Idealbild der Werbung einmal selbst zu verkörpern, makellose Haut zu besitzen und soziale Anerkennung durch die eigene optische Erscheinung zu erlangen, ist Ursache zahlreicher Körper- und Hautveränderungen. Medien, die dieses Bild vermitteln sowie Studien, die belegen, dass attraktive Menschen ebenfalls als erfolgreicher und wertgeschätzter bewertet werden, verstärken den Trend, den eigenen Körper existierenden Schönheitsvorstellungen anzupassen.8 Jeder Schritt der gefühlten, eigenen Identität optisch näher kommen zu wollen, ist mit körperlichem Schmerz verbunden. Der Mensch hat die Verfügungsgewalt über seine eigene Haut, jedoch formen gesellschaftliche Bilder die individuelle Körper- und Hautwahrnehmung. Der Körper wird umoperiert, trainiert und Body-shaping der herrschenden Sichtweise unterworfen.9 Dabei dient immer die Haut, die Oberfläche menschlicher Wurden bereits in der Antike Veränderungen am ei- Existenz, der bewussten Veränderung. genen Körper vorgenommen, erleben diese seit dem In der Schönheitschirurgie gilt die Haut dann als 20. Jahrhundert im westlichen Kulturkreis einen we- ideal, wenn sie frei von Unreinheiten und Falten ist, sentlichen Aufschwung. keine Verfärbungen sowie nur kleine Porengrößen Die eigene Haut zu erschließen und zu erspüren, er- aufweist und unbehaart glänzt.10 Auch wenn dies möglicht dem Individuum ein Selbstbild von sich zu eine Vollkommenheitsvorstellung darstellt, nutzt die erschaffen. Dieses orientiert sich sowohl an gesell- Schönheitsindustrie dieses Bild, um die Kluft zwischaftlichen Normen als auch an persönlichen Vor- schen realem Aussehen und idealisiertem Körper zu stellungen.4 Körperliche Veränderungen können auf vergrößern. Das Individuum soll den Eindruck gewinverschiedene Art und Weise stattfinden. Bodymodi- nen, die Formung eines Körpers und einer Hautoberfications verändern die Haut als Grenze zwischen der fläche erreichen zu können, die nicht mehr von den Innen- und Außenwelt, sodass sie zu einer Projekti- Genen abhängig sind, sondern einzig und allein Reonsfläche des individuellen Inneren wird. Die Haut sultat des eigenen Bemühens sind. „Jeder hat den wird gepierct, tätowiert oder operiert und offenbart Körper, den er verdient! Schönheit wird zum persönso anteilig die eigene Identität.5 lichen Verdienst.“11 94 Individuelle Vorstellungen formen das eigene Hautbild genauso wie kulturelle Ansichten. Soziale Zugehörigkeiten werden ebenfalls an ihm ausgemacht. Indem die Haut geschminkt, verändert oder mit Kleidung umhüllt wird, entsteht das Bild eines HautIchs. Die Haut stellt folglich eine Übergangsfläche zwischen dem biologischen Körper und dem psychischen Bewusstsein dar.1 Sich in der eigenen Haut nicht wohl zu fühlen, ist unangenehm. Der Blick auf das eigene Spiegelbild fällt manchmal anders aus als der von anderen. Menschen entwickeln von sich selbst ein Idealbild, das sich im Spiegelbild nicht immer erkennen lässt. Das innere Selbstbild stimmt in diesem Fall nicht mit der optischen Erscheinung im Spiegel überein. Der Körper als äußere Hülle offenbart eine andere Person als die, die in der fremden Haut gefangen ist. Der wahre Kern des Individuums verbirgt sich unter der Haut und doch wünscht es sich nichts sehnlicher, als dass er auf ihr erkennbar sei.2 Die Präsenz der Haut in medialen Bildern führt zu ebenmäßigen, makellosen Haut-Vorstellungen, die dem Individuum als Orientierungshilfe dienen sollen. Weist es von Natur aus nicht dieses perfekte Hautbild auf, versprechen unzählige Cremes, Kosmetika und Medikamente eben dieses Musterbild zu erzeugen.3 Doch was passiert, wenn ihre Wunderwirkungen nicht eintreten? Muss das Selbst dann in seiner, nicht den kulturellen Normen entsprechenden Haut gefangen bleiben? Oder ist der Gang zum Schönheitschirurgen, Hautarzt oder Psychologen unvermeidbar? Was nicht passt, wird passend gemacht oder viel mehr, die Haut als zweite Haut wird zur Transformationsfläche, um die eigene Identität neu zu verorten. Kunstwerk-Hautoberfläche Kosmetisch perfekt Cindy Jackson ist der Inbegriff eines selbst erschaffenen Körpers. Schon früh bemerkte sie, dass sie sich nicht wohl in ihrer eigenen Haut fühlte. Ihre Selbstwahrnehmung unterschied sich stark von ihrem nach außen hin erscheinenden Haut- und Körperbild. Sie beobachtete, dass Menschen, die sie wegen ihrer Schönheit für überlegen hielt, häufig anerkannter waren als sie selbst und fühlte eine starke Diskrepanz zwischen ihrem »wahren Ich« und ihrer »Körper-Hülle«. Um diese vermeintliche Benachteiligung zu überwinden, unterzog sie sich zahlreichen Schönheitsoperationen, die ihre ursprüngliche optische Erscheinung in ein von ihr erträumtes Idealbild umwandelten. Neben der Umsetzung der eigenen, bislang nur innerlich gefühlten Identität, spielten im Zuge ihrer körperlichen Veränderungen soziale Wertschätzung und Anerkennung eine große Rolle. Das Bedürfnis, sich endlich wohl zu fühlen im eigenen Haut-Kleid, entwickelte sich zu einer Konservierung des idealisierten Körpers. Heutzutage liegt Cindy Jacksons Hauptaugenmerk darauf, ihre künstlich erschaffene Hülle zu erhalten – ihren Traum weiter leben zu können und damit zu beweisen: „Jeder kann sich so erschaffen, wie er es möchte“. Das innerlich empfundene Selbst kann mithilfe der Schönheitschirurgie nach außen übertragen und als Haut-Kleid anderen offenbart werden.12 Cindy Jacksons körperliche Umformung beruht auf gesellschaftlich anerkannten Schönheitsvorstellungen. Sie veränderte ihre eigene Hautoberfläche zu einem kulturell anerkannten Musterbild. Die Schmerzen einer solchen Anpassung an gängige Schönheitsnormen wurden dabei als bloße Nebenwirkung in Kauf genommen. Der Wunsch, endlich dem Ideal zu entsprechen und die damit verbundene Wertsteigerung der eigenen Selbstwahrnehmung, stellten den Grund für diese körperliche Anpassung dar. Die künstlerischen operativen Eingriffe Orlans hingegen bedienen sich der Transformation gängiger Schönheitsideale und erschaffen ein individuelles Hautverständnis. Abb. 2 (unten): Cindy Jackson – Cindy Jackson before and after, 2014 © http://www.cindyjackson.com Das Recht darauf zu haben, die eigene Hautoberfläche mithilfe chirurgischer Eingriffe zu verändern, ist wesentlicher Bestandteil der Performance-Kunst Orlans. Anders als Cindy Jackson möchte die französische Body-Art Vertreterin jedoch nicht das standardisierte, aktuell herrschende Ideal der Frau verstärken, sondern den Körper als künstlerische Hülle betrachten, den es zu formen gilt. Neben dem Ausdruck von Schmerz thematisieren ihre Umsetzungen tabuisierte Themen wie die Formung des eigenen Fleisches. Ihr 1990 begonnenes Projekt „La Réincarnation de Sainte-Orlan“ dokumentiert ihre operative Umwandlung in eine antike weibliche Schönheit. Orlan setzte ihren eigenen Körper als lebendes Kunstwerk ein und formt am eigenen Leib ein Schönheitsideal, welches sich aus berühmten Renaissance- und Barockgemälden zusammensetzt. Die operativen Eingriffe veränderten ihre Nase nach dem Vorbild der Skulptur »Diana«, die von einem unbekannten Künstler aus der Schule Fontainebleau stammt. Ihr Mund wurde nach dem Vorbild der »Europa« von Boucher verändert, die Stirn wurde Da Vincis »Mona Lisa« angepasst und das Kinn gleicht Botticellis »Venus«. Die Augen wurden schließlich Géromes »Psyche« nachempfunden. Alle diese Attribute stellen Schönheitsvorstellungen bekannter Gemälde dar, die jedoch zusammen ein völlig neues Bild ergeben. Idealisierte Schönheit ist in Orlans Transformation klassisch nicht mehr erkennbar.13 Neben der parodieähnlichen Umwandlung herrschender Schönheitsvorstellungen verfolgt Orlan ebenfalls das Ziel, mediale Inszenierung umzukehren. Werden in der Werbung schönheitsfördernde Mittel angepriesen, die Fußnoten 1 Vgl.: Anzieu, Didier: Das Haut-Ich. Suhrkamp Verlag. Frankfurt a.M. 1996, S.138-140. 2 Vgl.: Nuber, Ursula: Spieglein, Spieglein an der Wand. Der Schönheitskult und die Frauen. Heyne Verlag. München 1995, S. 71. 3 Vgl.: Reinacher, Pia: Kleider, Körper, Künstlichkeit. Wie Schönheit inszeniert wird. University Press Verlag. Berlin 2010, S. 16. 4 Vgl.: Benthien, Claudia: Haut. Literaturgeschichte, Körperbilder, Grenzdiskurse. Rowohlt Verlag. Hamburg 2001, S. 223. 5 Vgl.: Kasten, Erich: Mein Körper gehört mir. (Aus: Psychologie heute). 02/2007, S. 64-66. 6 Vgl.: Akiko, Fukai: Haut und Kleidung. Die Haut als Gegenstand der Mode. (Aus: Geissmar-Brandi, Christoph u.a. (Hg.): Gesichter der Haut). Stroemfeld Verlag. Frankfurt a.M. 2002, S. 71-75. 7 Vgl.: Menninghaus, Winfried: Das Versprechen der Schönheit. Suhrkamp Verlag. Frankfurt a.M. 2003, S. 266. 8 Vgl.: Rodin, Judith: Die Schönheitsfalle. Was Frauen daran hindert, sich und ihren Körper zu mögen. Droemersche Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf. München 1994, S. 31. 9 Vgl.: Selle, Gert: Der Körper als fremder und eigener. (Aus: Blohm, Manfred u.a. (Hg.): Die Kunst, der Körper, das Textile). Salon Verlag. Köln 2005, S. 51-53. 10 Vgl.: Brokemper, Peter: Schönheit – Ein Projektbuch. Hintergründe – Perspektiven –- Denkanstöße. Verlag an der Ruhr. Mülheim a.d.R. 2009, S. 38 11 Unterdorfer, Sylvia: Wie das Geschäft funktioniert. Retusche ist die Regel. (Aus: Unterdorfer, Sylvia u.a. (Hg.): Wahnsinnig schön. Schönheits- 12 13 14 15 ausschließlich positive Endresultate zeigen, nie aber den unangenehmen Weg dorthin, zeigt Orlan in ihrer Performance die blutige Realität des chirurgischen Eingriffs. „Orlan kombiniert die Mittel der Unterhaltungsindustrie mit der Alltagsrealität eines Operationssaal, kreiert damit Spannung und schafft ungeheure Kontraste, die gewissermaßen die Grundlage bilden, auf der sie ihre Fragen zum Status des Körpers und der Individualität in unserer technisierten und digitalisierten Gesellschaft stellt.“14 100 Prozent Ich? Das Individuum nimmt sich zwar als Schöpfer seines eigenen Körpers wahr, jedoch stellt die Haut ein Spiegelbild von eigenen und fremden Musterbildungen dar. Kulturelle Verhandlungen werden auf ihr ausgetragen und zeigen, wie sich das Verständnis von Ich und Gemeinschaft, Haut und Kultur zueinander verhält. Individualität entsteht demnach immer im Austausch mit dem eigenen Kulturkreis.15 Dabei kann der Mensch Muster wie Orlan erkennen und brechen oder wie Cindy Jackson dem gängigen Schönheitsideal nachkommen. Fremdbestimmung wird dann zur Übermacht, wenn das Individuum sich ausschließlich diesen Normierungen anpasst. Zwar muss es sich an ihnen orientieren können, jedoch entwickelt es nur eine individuelle Identität, wenn es einen kritischen Blick beherrscht. Die Haut zeigt anteilig die eigene Identität und lässt einen Blick auf innere Einstellungen des Menschen zu. Ob als Idealbild, als natürliche Hülle oder als veränderte Hautoberfläche: Spieglein, Spieglein an der Wand, du meine Haut bist mein Gewand. Swenja Padur sucht, Jugendwahn & Körperkult). Goldegg Verlag. Wien 2009, S. 225. Vgl.: Unterdorfer, Sylvia: Die lebende Barbie. (Aus: Unterdorfer, Sylvia u.a. (Hg.): Wahnsinnig schön. Schönheitssucht, Jugendwahn & Körperkult). Goldegg Verlag. Wien 2009, S. 131 – 135. Vgl.: Zell, Andrea: Valie Export. Inszenierung von Schmerz: Selbstverletzung in den frühen Aktionen. Dietrich Reimer Verlag. Berlin 2000, S. 51. Zell, Andrea: Valie Export. Inszenierung von Schmerz, S. 52. Vgl.: Antoni-Komar, Irene: Körper-Konstruktionen. Die Thematisierung des Körperlichen in Mode und Kunst. (Aus: Antoni-Komar, Irene (Hg.): Moderne Körperlichkeit. Körper als Orte ästhetischer Erfahrung). Dbv Verlag. Stuttgart 2001, S. 25 – 31. Literatur Akiko, Fukai: Haut und Kleidung. Die Haut als Gegenstand der Mode. (Aus: Geissmar-Brandi, Christoph u.a. (Hg.): Gesichter der Haut). Stroemfeld Verlag. Frankfurt a.M. 2002. Antoni-Komar, Irene: Körper-Konstruktionen. Die Thematisierung des Körperlichen in Mode und Kunst. (Aus: Antoni-Komar, Irene (Hg.): Moderne Körperlichkeit. Körper als Orte ästhetischer Erfahrung). Dbv Verlag. Stuttgart 2001. Anzieu, Didier: Das Haut-Ich. Suhrkamp Verlag. Frankfurt a.M. 1996. Benthien, Claudia: Haut. Literaturgeschichte, Körperbilder, Grenzdiskurse. Rowohlt Verlag. Hamburg 2001. Brokemper, Peter: Schönheit – Ein Projektbuch. Hintergründe – Perspektiven – Denkanstöße. Verlag an der Ruhr. Mülheim a.d.R. 2009. Kasten, Erich: Mein Körper gehört mir. (Aus: Psychologie heute). 02/2007. Menninghaus, Winfried: Das Versprechen der Schönheit. Suhrkamp Verlag. Frankfurt a.M. 2003. Nuber, Ursula: Spieglein, Spieglein an der Wand. Der Schönheitskult und die Frauen. Heyne Verlag. München 1995. Reinacher, Pia: Kleider, Körper, Künstlichkeit. Wie Schönheit inszeniert wird. University Press Verlag. Berlin 2010. Rodin, Judith: Die Schönheitsfalle. Was Frauen daran hindert, sich und ihren Körper zu mögen. Droemersche Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf. München 1994. Selle, Gert: Der Körper als fremder und eigener. (Aus: Blohm, Manfred u.a. (Hg.): Die Kunst, der Körper, das Textile). Salon Verlag. Köln 2005. Unterdorfer, Sylvia: Wie das Geschäft funktioniert. Retusche ist die Regel. (Aus: Unterdorfer, Sylvia u.a. (Hg.): Wahnsinnig schön. Schönheitssucht, Jugendwahn & Körperkult). Goldegg Verlag. Wien 2009. Unterdorfer, Sylvia: Die lebende Barbie. (Aus: Unterdorfer, Sylvia u.a. (Hg.): Wahnsinnig schön. Schönheitssucht, Jugendwahn & Körperkult). Goldegg Verlag. Wien 2009. Zell, Andrea: Valie Export. Inszenierung von Schmerz: Selbstverletzung in den frühen Aktionen. Dietrich Reimer Verlag. Berlin 2000. Abbildungsverzeichnis: Abb. 1: Lara Dengs – Gesichtslos, 2013. © PIXELIO Abb. 2: Cindy Jackson – Cindy Jackson before and after, 2014 © http://www.cindyjackson.com Abb. 3: Cindy Jackson - Cindy Jacksons secrets book cover, 2000 © http://www.cindyjackson.com READ ME – Wenn deine Haut dich verrät Hauterkrankungen wie Neurodermitis sind kaum zu verstecken, sind für jeden sichtbar. Die Haut kann ihre eigentliche Schutzfunktion nicht erfüllen und kommuniziert Krankheit, sie erscheint ungepflegt und eklig. Die Außenwelt reagiert daher meist abgestoßen auf die Ekzeme. Stress und Allergien sind wie in die Haut gebrannt und sie scheint die Welt abzuwehren. Das Haut-Ich, ein Begriff, der in den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts von Didier Anzieu eingeführt wurde, kann nicht entwickelt werden. Eher kommt es zu einer Spaltung zwischen Haut und Ich. Die Ekzeme zeichnen das Leben, schreiben einen Lebenslauf, zeigen die Gefühlslage. Das Ich wird von der Haut verraten. Haut dient dem Menschen als sensorisches Tastorgan, als Schutz, ist kommunikativ und identitätsbildend. Sie ist die Grenze seines Körpers. Die Wurzel der Begriffe Haus und Haut findet sich in dem Anlaut „sku“ was bedeckend, behütend bedeutet. Die Haut ist also metaphorisch unser Haus. Doch was ist, wenn dieses Haus Risse bekommt und uns nicht schützt, sondern verletzt? Welche Auswirkungen ergeben sich daraus für die Identitätsbildung und die Haut als Kommunikationsmedium? - Als Sieb wird die Haut Projektionsfläche der Seele und beim Erröten, durch Akne oder bei Hautkrankheiten wie Neurodermitis, zum Verräter. 98 Abb. 1: Abziehen der beschädigten Haut Das Haut Ich Neurodermitis ist eine geläufigere Bezeichnung für das atopische Ekzem. Der Begriff setzt sich aus dem griechischen „atopia“, was Ortslosigkeit bedeutet und dem „ekzema“, welches Aufgegangenes meint, zusammen. Seit den 1920ern etablierte sich der Begriff als Bezeichnung des Krankheitsbildes. Schon in der Antike sollen bei Kaiser Augustus Symptome aufgetreten sein, die für das atopische Ekzem sprechen könnten. Im 19. Jahrhundert vermutete man, dass es sich um eine Nervenentzündung handele und nannte die Krankheit daher Neurodermitis. Obwohl diese Auffassung widerlegt wurde, blieb die fälschliche Bezeichnung erhalten. In Industriestaaten tritt die Erkrankung immer häufiger auf, die Gründe dafür sind jedoch unbekannt. So sind 5-20% der Kinder und 1-3% der Erwachsenen von ihr betroffen. Mit der körperlichen Veränderung in der Pubertät vermindern sich meistens ihre Symptome, in Einzelfällen kann Neurodermitis aber auch erst später auftreten. Unter Neurodermitis versteht man heute eine chronische, nicht ansteckende Hautkrankheit, die sich durch rote, schuppende und juckende Ekzeme äußert. Es können auch Verdickungen und Vergröberungen der Haut auftreten sowie Knötchen und Pusteln. Durch die Erkrankung wird dem Betroffenen die Existenz der Haut zunehmend bewusst, denn sie wird zum Gefängnis. Wie oft habe ich selber, wenn mein Gesicht gerade stark von Ekzemen befallen war, in den Spiegel geguckt und gedacht Das bin doch nicht ich! Für eine Neurodermitiserkrankung sprechen neben der trockenen Haut verstärkte Linien in den Handinnenflächen, doppelte Lidfalten unter den Augen, dunkle Haut um die Augen herum und ausgedünnte Augenbrauen. Die Ekzeme treten schubweise als Reaktion auf Umwelteinflüsse oder psychische Fak- toren auf, die genauen Ursachen sind allerdings noch nicht geklärt und von Fall zu Fall verschieden. Sie erscheinen wie eine Rebellion gegen die Umwelt. Auf jeden Fall ist die Barrierefunktion der Haut wegen eines Gendefekts gestört und die Haut ist anfälliger und kann sich, da weniger Hautfett produziert wird, schlechter selber heilen. Durch den entstehenden Juckreiz entwickelt sich ein Teufelskreis, denn der Betroffene kratzt an den juckenden Stellen, sodass es zu weiteren Hautirritationen kommt. Es erscheint wie ein Kampf gegen sich selber, den man nicht gewinnen kann. Das Ich will die Haut abstoßen; sich schälen wie eine Banane und neu entstehen, wie die Raupe, die als Schmetterling erscheint, wenn sie ihren Kokon verlässt. Um dieses Thema, der Haut als Hülle, zu verdeutlichen, riss sich die Schweizer Performancekünstlerin Victorine Müller 1995 in ihrer Performance eine übergezogene Latexhaut vom Leib. Der britische Künstler Marc Quinn stellte 1996 mit seiner Arbeit „The Great Escape“, einer aufgeschnittenen gelben Schaumgummihülle, die von der Decke hing und einer aufgeschälten Banane ähnelte, diesen Ausbruch aus einer Hülle dar. Die Haut des Körpers lässt sich aber nicht abziehen, und wenn, dann sterben wir wegen des Verlusts dieses lebensnotwendigen Organs. Einzig durch ein Peeling (Abb. 1) lässt sich die oberste Hautschicht entfernen, das darunter liegende muss wohl durch die Psychoanalyse bearbeitet werden. Ohne ein tatsächliches Hautabziehen wird also das Darunter sichtbar. Obwohl die Symptome durch Behandlung der Hauttrockenheit und durch entzündungshemmende Mittel gelindert werden können, ist das atopische Ekzem nicht heilbar. Gestörtes Nähe-DistanzVerhältnis So kann durch zwanghaftes Kratzen eine Symptomatik entwickelt werden, wobei der Schmerz „die Selbstbestrafungstendenz des Über-Ichs befriedigt, [... und] die Symptombildung mit einem erotischen Lustgewinn verbunden“³ ist. Außerdem werden Abhängigkeitsbedürfnis und „der Drang, andere zu beherrschen“4 erfüllt, wenn man durch die Symptome Aufmerksamkeit bekommt. Durch eine „Störung des Bindungstriebes“5 ist das Ich unterentwickelt. Wenn sich das Ich nicht in der Haut geborgen fühlt und der Erkrankte seine Oberfläche spüren möchte, kann die Ekzembildung als Versuch die „Körperoberfläche des Ichs von außen zu spüren“6 gedeutet werden. Es ist ein unbewusster Angriff auf die Körperhülle. Anzieu sieht darin den Selbstzerstörungstrieb des Es bestätigt. Abb. 2: gestaltete Gipsmaske als zweite Haut Buchstäbliche Dünnhäutigkeit Zum einen erzeugen also psychische Belastungen das Auftreten der Krankheit, zum anderen haben sie aber auch selber Einfluss auf die Psyche, die entgegen der Krankheit selbst nicht sichtbar sind. So kann es wegen der Belastungen zu Schlafmangel und Konzentrationsstörungen kommen. Durch die Anspannung von gleichermaßen Psyche und Haut, können die Betroffenen schneller gereizt reagieren, es liegt nicht nur eine sprichwörtliche, sondern auch eine tatsächliche Dünnhäutigkeit vor. Außerdem können die Betroffenen unter ihrem Aussehen und da- 101 100 Das atopische Ekzem Schon Michelangelo meinte, Berührung könne Leben einhauchen. Der Psychoanalytiker Anzieu sieht einen engen Zusammenhang zwischen Hautkrankheiten, Stress, „Gefühlsäußerungen […,] narzistischen Defekten und mangelhafte Ich-Strukturierung“1. Er entwarf in den 1990er Jahren den Begriff des Haut-Ichs, worunter er das „Bild [versteht], mit dessen Hilfe das Ich des Kindes während früher Entwicklungsphasen – ausgehend von seiner Erfahrung der Körperoberfläche – eine Vorstellung von sich selbst entwickelt als Ich, das die psychischen Inhalte enthält“². Ist das Verhältnis von Haut und Ich gestört, dient die Haut mehr als Sieb denn als Tasche. Sie verliert also ihre Schutzfunktion und wird durchlässig. Zu einer solchen Störung kann es durch zu viel Nähe kommen, vor der man versucht zu entfliehen oder durch eine zu große Distanz, wenn man sich mehr Nähe wünscht. Es muss also ein ausgewogenes Verhältnis gefunden werden. durch bedingt einem verminderten Selbstwertgefühl leiden. Die Haut wird zum allgegenwärtigen Thema, ist ständig präsent, wenn man sie durch Brennen und Jucken spürt und pflegen muss. Man entspricht nicht dem gängigen Schönheitsideal, der glatten, hellen, makellosen Haut, das sich bereits im 18. Jahrhundert durchsetzte. Diese perfekte Haut steht für Vitalität und Gesundheit und deswegen ist sie es bei Neurodermitikern eben nicht. Man möchte sich verkriechen oder die betroffenen Stellen verstecken. Durch Schminke wird schon lange versucht das äußere Erscheinungsbild zu verändern. Bis ins 18. Jahrhundert hinein wurde Schminke daher als Betrug verstanden, da sie die Gefühle, das wahre Ich, wie hinter einer Maske versteckt. Wenn auch Make-up nicht hilft, wünscht man sich tatsächlich wie auch das Phantom der Oper sein entstelltes Gesicht hinter einer Maske zu versteck- te. Man möchte ein neues Hautbild, dass man sich aussuchen oder sogar selber machen kann – wie eine Gipsmaske in (Abb. 2). Theresa Berger versuchte 2012 in ihrer Diplomarbeit ihre Krankheit Neurodermitis zu erklären, da auf ihre Ekzeme oft mit Ekel und Fragen wie „Ist das ansteckend?“ reagiert wurde und um zu verdeutlichen, wie sie sich mit ihr fühlt. Aus diesem Grund hielt sie in Zeichnungen ihre Forschungen fest, um auch die künstlerische Seite der Erkrankung aufzuzeigen. In einer Installation beschäftigte sie sich zum Beispiel mit den verschiedenen Phasen ihrer erkrankten Haut von trocken und aufgerissen bis pulsierend. Wie Berger habe ich meine eigenen Ekzeme und Symptome der Neurodermitis-Erkrankung betrachtet und eine Übersicht erstellt: Trockene Haut und Heuschnupfen habe ich eigentlich schon immer. Nach einem Besuch der Landesgartenschau in Gronau 2003 kam noch Asthma hinzu. Ich musste daraufhin Desensibilisierungsspritzen ertragen und durfte im Sommer draußen nicht am Sportunterricht teilnehmen. Während der Schulzeit war meine Haut oft auch gereizt, gerade wenn es auf Tests zuging, doch erst mit der Abschlussprüfung 2009 in der Realschule zeigten sich die ersten Ekzeme. Die Versuche, meine Ekzeme zu überdecken, scheiterten und ich musste damit leben, dass es hieß, ich hätte mich geschlagen, da bei mir die Ekzeme überwiegend um die Augen herum auftreten. Inzwischen habe ich begriffen, was man schon im 18. Jahrhundert verstanden hatte, als es zu einer Trennung von Schminkkunst und -arznei kam: Makel müssen nicht überschminkt, sondern geheilt werden. Neurodermitis ist etwas, womit man eben leben muss – es gibt wahrlich Schlimmeres! „In Goethes Wilhelm Meisters Wanderjahre (1821) wird die Formel geprägt, ´der Mensch ohne Hülle ist eigentlich der Mensch`“7. Lässt sich diese Formel nicht vielleicht umschreiben in „Der Mensch mit verletzer Hülle ist eigentlich mehr Mensch“? Schließlich gibt er, wenn auch unfreiwillig, mehr von sich preis, als mit geschlossener Hauthülle. Jemima Wittig Meine Lebenstätowierungen Fußnoten 1 Anzieu, Didier: Das Haut-Ich, Frankfurt am Main, 1996, S. 51. 2 ebenda S. 60. 3 ebenda S. 51. 4 ebenda. 5 ebenda S. 52. 6 ebenda S. 142. 7 Benthien, Claudia: Haut, Literaurgeschichte-Körperbilder-Grenzdiskurse, Hamburg, 2002 (2. Auflage), S. 96. Literaturverzeichnis: Anzieu, Didier: Das Haut-Ich, Frankfurt am Main, 1996. Benthien, Claudia: Haut, Literaurgeschichte-Körperbilder-Grenzdiskurse, Hamburg, 2002 (2. Auflage). Kolhoff-Kahl, Iris: Bild-H(a)eute im Kontext von ästhetischer Bildung zwischen Kunst und Textil, In: ...textil... 4/2002, S. 18-38. Martius, Philipp: Psychosomatische Aspekte des atopischen Ekzems, S. 139-144, In: Abeck, Dietrich, Ring, Johannes (Hg.): Atopisches Ekzem im Kindesalter Neurodermitis, Darmstadt, 2002 http://www.apotheken-umschau.de/Neurodermitis, besucht am 22.02.2014. http://bergertheresa.blogspot.de/2012/06/atopie-2012.html, besucht am 23.02.2014. 103 102 Abbildungsverzeichnis Abb. 1: Jemima Wittig - Abziehen der beschädigten Haut Abb. 2: Jemima Wittig - gestaltete Gipsmaske als zweite Haut Haut an Haut. Eine Geschichte vom stillen Verrat der Haut. Hör gut zu. gesprungen. Sie trank schon lange nicht mehr, aß auch nicht mehr. Und ihre Haut war, ich konnte mich nicht erinnern wann, zu einer Hülle geworden, aus der sie jeden Moment hinaus zu schlüpfen schien. Ich nahm ihre Hand, wie um sie fest zu halten und glaubte, dass sie bleiben würde. Sie fühlte sich glatt und weich an. Während sie ihr an einigen Stellen längst zu groß geworden war, spannte sich ihre Haut an den Fingergelenken straff um die Knochen. Bevor ich sie berührte, wusch ich mir die Hände, um nicht warm und mit sanftem Druck den Tod auf ihr zu hinterlassen. Eine Erkältung, unsichtbar und erbarmungslos, würde ausreichen. Wenn ich dabei in den Spiegel schaute, der zwischen Seifenspender und dem Desinfektionsmittel hing, sah ich sie in meinem Gesicht. Nicht, weil sich neben meinen Augen die gleichen Falten von zu viel Glück aufschmissen, sondern, weil ich ihr Sterben auf meiner Stirn, meinen Wangen, in den dunklen Ringen entdeckte. Mit den Jahren waren mehr Narben – mehr Bewei- Zorn, Angst und nur wenig Schlaf hatten sich langse, dafür, dass sie wusste, was sie sagte – dazu ge- sam eingezeichnet. Ich war blass. Sie war blass und kommen. Bei ihr und bei mir. Im grellen Licht der unter der Haut, die so dünn und durchsichtig war Hallogenröhre glänzte ein feiner Strich über ihrem wie Seide, sah ich wie ihr Leben grau-blau und zöMund silbrig. Eine Tapferkeitsmedaille, sie hatte nie gerlich dahinfloss. geweint. Darunter waren ihre Lippen spröde und Sie war jedes Mal, wenn sie einen Roller oder später ein Fahrrad unsanft auf den Asphalt aufschlagen hörte, mit dem kleinen Jodfläschchen, das auf dem obersten Brett im Badezimmerschrank stand, auf den Hof oder den Bürgersteig vor dem Mietshaus hinaus gelaufen. Der Anblick des Fläschchens, der nahende Gipfel des Schmerzes auf der offenen Haut, ließ das Weinen noch lauter werden, bis es in ihren schützenden Armen verstummte. Erst viel später fiel mir auf, dass das Jod, die Haut wirklich wie die eines Indianers aussehen ließ. Rotbraun. Kriegerisch. Furchtlos. Unter dem Saum des Ausschnittes ihres weißen Nachthemdes sah ich den gleichen leuchtenden Rand, den ich stolz zur Schule getragen hatte, damit jeder sehen konnte, wie tapfer ich war. Von den Tränen sagte ich nichts. der Kasse im Supermarkt bemerkt hatte, dass sie ihr Portemonnaie vergessen hatte. In Wahrheit, hatte sie sich Wundgelegen und die Entzündung trieb das warme Blut wallend durch die feinen Gefäße. Der Tag an dem ihre Haut noch kälter war als bisher, die letzte Farbe aus ihrem Gesicht gewichen war und mir die wulstigen Einstiche auf ihrem Handrücken und die tiefen Furchen neben ihrer Nase zum ersten Mal mit aller Bedrohlichkeit auffielen – wie hatte ich sie übersehen können? – kam trotz allem Warten plötzlich. Ich stand neben dem Bett, sah sie daliegen, in sich, der äußeren Hülle zusammengefallen und spürte kalten Schweiß auf meiner Stirn. Mehr Salz rann über mein Gesicht und brannte, wo ich mich am Morgen beim Rasieren geschnitten hatte. Ich biss mir auf die Wange. Ich dachte an IndiMan sagte mir, man könne nichts mehr tun. In ihr, aner und fragte mich, ob die Zeit lang genug sein verborgen unter der ruhigen Oberfläche, hatte sie würde. Sie hatte es doch versprochen. begonnen sich aufzulösen. Noch wurde alles zusammen, der Schein aufrechtgehalten, aber in Ta- Lea Schwarzwald gen, vielleicht Wochen, würde man sehen, dass sie langsam verschwand. Als ihre Wangen vom inneren Kampf glühten, sagte ich mir, sie dachte leise an ihren ersten Kuss oder daran, wie sie einmal erst an Abb. 1: Gisela Peter 105 104 Zwischen den schweren Laken befühlte ich ihre kalte Haut. Immer noch roch sie so vertraut und wenn ich die Augen schloss und das Surren der Monitore für das Rauschen der Birken unter ihrem Balkon hielt, erinnerte ich mich daran, wie ich im Garagenhof hingefallen war. Ich hatte mir das Knie aufgeschlagen und das Blut, das aus dem dreckigen Loch sickerte, lief an meinem glatten Schienbein herunter. Die Zeit heilt alle Wunden, hat sie gesagt und weil das so pathetisch klang und mein Gesicht unter meinem atemlosen Geschrei rot anlief, schob sie schnell hinterher, dass ein Indianer keinen Schmerz kennt. Auch wenn sie Recht hatte und sich der Schorf nach ein paar Wochen löste und nur eine Narbe blieb, die kleiner wurde, als ich größer wurde und später zwischen den Haaren verschwand, wusste ich lange nicht, ob ich ihr glauben konnte. Was, wenn eine Wunde für die Zeit zu groß war? Haut-Eng Ich härte langsam aus. Verliere meine Zartheit, Meine Geschmeidigkeit. Gnadenlos. Machtlos. Ich lebe. Ich atme. Ich empfinde. Immer enger umspanne ich dich, will es nicht. Auf wem lastet die Schuld? Mein Sein umfließt deinen ganzen Körper. Sichtbar, dennoch unscheinbar. Wahrgenommen, dennoch unbeachtet. Ich schütze nicht. Ich produziere nicht. Ich empfinde nicht. Wunden dringen tief in mich ein. Kann die Pein Noch qualvoller sein? Ich nehme auf. Ich produziere. Ich schütze. Alles, was mir geschieht, bringt dich tiefer in Not. Und mein Tod? Alles, was ich vollbringe, dient dir zum Guten. Alles, was ich tue, passt sich dir an. Notwendig, dennoch bescheiden. Bin ich lebenserforderlich und tödlich? Mein Schicksal nimmt dich gefangen, doch bitte vergib mein geheimes Verlangen: Ich kommuniziere. Ich präsentiere Ich identifiziere. Erlösung Durch Lösung. Wiederspiegelung, Dennoch Verfälschung? Atme ich? Lebe ich? Ich glaube nicht. Stefanie Schelenberg Abb. 1: Altes Gewölbe - Christoph Aron / © PIXELIO. 107 106 Erst nur plötzliche Verfärbungen, Krampfartig an den Fingerspitzen. Kälte. Mein Schutz, von dem ich erzählte, setzt aus. Abb. 1: Schuppenflechte - Marina Hoffmann Abb. 2: Acne Vulgaris - Marina Hoffmann Rissig, schuppig, sich weiß schälend, vom Körper lösend, wie leise rieselnde Flöckchen. Roter Untergrund, leuchtend, schmerzend, entzündete Haut. Zieht sich vom Fußgelenk über den Knöchel hoch bis zur Wade. Geschwungen, verkrustet, aufgefächert. Eitrig, erhaben, wie ein kleiner Berg mit weiß-pudriger Spitze. Roter Kranz, gespannt und verstopft. Weiche Wangen, übersät mit roten Punkten. 109 108 „Stickdermitis“ „Stickdermitis“ Konzept zu „Stickdermitis“ Die Erkrankung der Haut als künstlerisch-ästhetischer Hautschmuck. Die Haut dient als Material und Medium der künstlerischen Transformation und Auseinandersetzung mit den Themen Haut und Hülle sowie Haut und Kleid. Das Sticken ist dabei ein Spiel mit der Identität, welche die Haut nach außen hin verkörpert und nach innen transportiert. Sie wird von der Nadel durchlöchert, durchstochen und die entstellende Krankheit wird in der Haut fixiert. Biografische Spuren, die durch die natürliche Erneuerung der Haut, Cremes und Tinkturen sonst mehr und mehr verblassen würden, erhalten als gestickte Fläche eine konservierte Wertigkeit. Die Hautkrankheit, welche die Hülle des Ichs verletzt und beeinträchtigt, wird durch den Akt des Stickens zu etwas Kostbarem; sie wird im textilen Kontext andersartig sinnlich erfahrbar. Das Gewebe ist weich, ästhetisch schön und eröffnet einen neuen Blick auf das abstoßende, nicht dem alltagsästhetischen Ideal entsprechende Krankheitsbild. Marina Hoffmann Abb. 3: Gürtelrose - Marina Hoffmann 111 110 Blumig, rankenartiges Gebilde. Juckt und brennt. Zieht sich vom linken Beckenknochen über die Unterseite des Bauches bis hin zum Schambein. Rote Quaddeln und Pusteln, ein Gürtel, blättrig wie eine Rose. Wenn Menschen vor Laternen laufen und Punkerinnen es nicht glauben können Albinismus: Wie lebt Christiane Velling mit dieser „Laune der Natur“? geborene Stoffwechselstörung Albinismus. Die Erbkrankheit beeinträchtigt die Bildung des Pigmentes Melanin, das für die Färbung von Haut, Haaren und der Augen zuständig ist. Die Erbkrankheit ist in der Keinen Führerschein machen zu dürfen stört ChrisFamilie väterlicherseits bekannt. „Die Wahrscheintiane Velling am meisten. „Mit dem Aussehen kann lichkeit, dass die auch aufeinandertreffen ist eine ich leben. Ich steh' dazu. Ich hab kein Problem damit, Laune der Natur“, sagt sie, denn sowohl die Mutter ich bin eben so und damit fertig.“ Mit einer Sehstärke als auch der Vater müssen denselben Gendefekt in von insgesamt nur zehn Prozent wird sie inzwischen sich tragen. als 100 Prozent schwerbehindert eingestuft. Die geringe Sehkraft ist sie gewohnt. Sie kennt es nicht anders. „Ich seh' normal, also scharf. Was es schwierig „... und trotzdem ist etwas Aufregung zu macht, ist das zu erklären. Weil ich die Vergleiche ja spüren.“ nicht ziehen kann. Ich versuch' es immer mit einem hochgepixelten Bild zu erklären.“ Ihr fehlt das Detail- Das Gespräch mit Christiane Velling findet an einem sehen, die Kleinigkeiten. Selbst Fahrradfahren bedeu- Tag im Dezember 2013 in Köln statt. Es ist ein schöner tet für Christiane Velling Stress, „deswegen besitzen Tag. Blauer Himmel, schneelos und kalt. Sie wartet in wir ein Tandem“, sagt sie und scheint glücklich über der Eingangshalle des Hauptbahn-hofs. die Alternative zu sein. Die Ursache dafür ist die an- „Da hieß es vom Jugendamt ...“ Sie wirkt selbstbewusst und zufrieden. Doch in ihrer Kindheit war das nicht immer so. Schon mit eineinhalb Jahren trug sie eine getönte Brille. „Kinder können ja auch grausam sein, das passiert mir jetzt nicht mehr, aber die haben mir oft hinterher gerufen: Oh guck mal, da ist der Heino.“ Den Einschulungstest hat sie aufgrund ihrer geringen Sehstärke nicht bestanden. „Da hieß es vom Jugendamt: Die geht auf 'ne Lernbehindertenschule. Da hat mein Vater damals gesagt: Die ist nicht lernbehindert, die kann nur schlecht sehen. Ich bin 1964 geboren, da hat es keinen interessiert, was Albinismus ist.“ Daraufhin kam Christiane Velling auf eine Sehbehindertenschule und danach auf ein Gymnasium. „Ich hatte einen neben mir sitzen, der musste mir immer helfen, wenn ich was nicht lesen konnte. Und ich sag' immer, ich hab meine Lehrer dressiert, nachher auf dem Gymnasium, indem ich, wenn die angeschrieben haben, immer gesagt hab', sie sollen's vorlesen während sie schreiben und dann hab ich mitgeschrieben“, erzählt sie und der Eindruck einer willensstarken Frau bestätigt sich. Ihre Eltern haben ihr beigebracht, selbstbewusst zu sein. „Ohne das Selbstbewusstsein schafft man das nicht.“ Seit Mitte letzten Jahres ist die Inklusion an Schulen im Schulgesetz verankert, „aber wenn ein Lehrer nicht dahinter steht, vor allem in der Grundschule, ist das schwierig. Da kämpft man gegen Windmühlen.“ Albinismus (lat.: albus=weiß) beschreibt eine Gruppe von Erbkrankheiten. Oculocutaner Albinismus (OCA) betrifft die Augen (oculo), das Haar und die Haut (cutan). Oculärer Albinismus (OA) betrifft hauptsächlich die Augen. Christiane Velling, 49, leidet an OCA 1 Albinismus. Der Albinismustyp kann durch eine Genanalyse festgestellt werden. Bei OCA Albinismus müssen beide Elternteile Träger der gleichen Albinismusform sein. In Deutschland leben schätzungsweise 5000 Menschen mit Albinismus. OCA 1 Albinismus zeichnet sich durch das erblich bedingte Fehlen des Stoffwechselenzyms Tyrosinase aus, wodurch in den Zellen kein Melanin gebildet werden kann. Haut, Netzhaut und Haare haben somit keine Färbung und bieten daher auch nur geringen Schutz vor äußeren Einflüssen. In westlichen Ländern besteht für Menschen mit Albinismus jedoch kein erhöhtes Hautkrebsrisiko. Vor allem in Ländern mit einer vorwiegend dunkelhäutigen Bevölkerung werden Menschen mit Albinismus häufig diskriminiert. Im Sudan oder Mali gelten Menschen mit Albinismus als Unglücksbringer, in Simbabwe wurden Frauen mit Albinismus vergewaltigt, da dies als Heilung von einer HIV-Infektion galt, in Tansa¬nia, Burundi, Kenia, Kongo und Uganda „ist seit einigen Jahren der Aberglaube verbreitet, dass Menschen mit Albinismus übernatürliche, glückbringende Kräfte besitzen.“ Ihre Gliedmaßen (Arme, Beine) werden auf dem Schwarzmarkt hoch gehandelt. Aus den Knochen wird ein Pulver gewonnen, das als Zaubermittel und „Hilfsmittel auf der Suche nach Gold“ teuer verkauft wird. 113 112 „... ich versuch' es immer mit einem hochgepixelten Bild zu erklären.“ Ihre Begrüßung und der feste Händedruck wirken souverän und trotzdem ist etwas Aufregung zu spüren. Wir beschließen, in ein nahegelegenes, ihr bekanntes Café zu gehen. Auf dem Weg er-zählt Christiane Velling, dass sie Zuhause gerade noch gebügelt hat. Sie und ihre Schwiegermutter sind mit dem Zug nach Köln gekommen. Kostenlos. Das sei der Vorteil an einem Behindertenaus-weis, sagt sie und schmunzelt. Sie läuft zielstrebig und sicher. Hier und da erzählt sie eine kurze Ge¬schichte zu Gebäuden, Plätzen und Bäumen, an denen wir vorbeikommen. Im Café ist es laut. Wir setzen uns an einen kleinen Tisch in der Ecke. Christiane Velling nippt an ihrem Latte Macchiato. „Ich habe ein Samsung Galaxy ...“ Christiane Velling ist fast 50 Jahre alt. Sie hat schneeweißes, kurzes Haar. Ihre blauen Augen wer-den von weißen Wimpern und Augenbrauen gerahmt. Sie trägt eine Brille mit dunkelroter Fassung. Ihre Haut ist hell und leicht gerötet. Sie erzählt mit fester, schneller und fast belehrender Stimme, während ihre blauen Augen konstant zittern. Das liegt am sogenannten Nystagmus, ein Augenzit¬tern, das ungefähr 90 Prozent aller Menschen mit Albinismus haben, berichtet sie. Sie öffnet ihre Handtasche und packt erläuternd den Inhalt aus. „Ich habe ein Samsung Galaxy und genieß' es“, erzählt sie, während sie ihr Handy mit integrierter Vergrößerungseinstellung herausholt. Mit dem Monokular, einem einäugigen Fernglas, kann sie Dinge nah heranholen. Schauen die Menschen Sie komischen an, wenn Sie das Monokular in der Öffentlichkeit benutzen? „Das ist ja mein Vorteil. Ich seh' das nicht, wenn die doof gucken“, sagt sie und lacht. Die Lupe mit 3,5-facher Vergrößerung war schon immer wichtig, „damit habe ich meine ganze Schullaufbahn bestritten“. In ihren Worten schwingt ein wenig Stolz mit. „Ich hatte damals einen Chef, der unbedingt Schwerbehinderte einstellen wollte ...“ Nach der Ausbildung zur Bürokauffrau arbeitete sie in der Verwaltung der Deutschen Bundeswehr. Haben Sie in Ihren Bewerbungen Ihre Behinderung angegeben? Sie nickt. „Ich hatte damals bei der Bundeswehr einen Chef, der unbedingt einen Schwerbehinderten einstellen wollte, weil er's cool fand.“ Bis zur Geburt ihres ersten Sohnes arbeitete sie dort. Seit der Erziehungszeit ihrer beiden Söhne verdient nur noch ihr Mann ein volles Gehalt. Christiane Velling bessert die Haushaltskasse mit Nebenjobs auf. „Vielleicht können wir nicht die Sprünge machen, die jemand macht, der zwei Gehälter hat und fahren nicht nach Südafrika in Urlaub“, sagt sie, und fügt dann hinzu, dass sie glücklich sind und damit leben können. „Wir haben ein Haus und fahren sechseinhalb Wochen in Urlaub insgesamt“, berichtet sie und wirkt zufrieden. Haben Sie Angst, dass sie den Gendefekt an ihre Söhne weitervererbt haben könnten? „Ist ja dann nicht mehr mein Problem“, sagt sie und lacht. „Die sind ja damit aufgewachsen und kennen es, ich würd' mir da jetzt keine Gedanken ma¬chen.“ kommen. Dazu könnt' ich ja auch was erzäh-len“, hat sich Christiane Velling damals gefragt. Ein Jahr später wird sie von einer ehemaligen Schul¬kameradin, die zur besagten Zeit in der Redaktion von Ilona Christen arbeitete, angerufen und als Gast in die Talkshow eingeladen. Dort begegnete sie Frau Gerhard, der damaligen ersten Vorsitzen¬den der Noah e.V. (Nationale Organisation für Albinismus und Hypopigmentierung) und trat dar¬aufhin im Oktober 1995 der Selbsthilfegruppe bei. „Für mich persönlich bringt's nichts mehr, oder nicht viel, bei Noah. Man kann zwar nette Leute kennenlernen, die kann man auch woanders ken¬nenlernen. Es gibt jedoch Familien mit kleinen Kindern, die können von dem, was ich erlebt hab' und andere Erwachsene erlebt haben, profitieren. Albinismus ist keine Krankheit, weil 'ne Krankheit kann ich mit Operationen oder Medikamenten heilen oder lindern. Es gibt nichts, was man machen kann, weder heilen noch lindern. Damit muss man leben. Das sag' ich auch immer den ganzen Eltern. Es ist für uns normal, wir werden so geboren, wir kennen es gar nicht anders.“ Christiane Velling war drei Jahre zweite Vorsitzende, daraufhin drei Jahre erste Vorsitzende bei Noah. Heute ist sie für die Regionalgruppe NRW zuständig. Im Januar 1994 strahlte der Privatsender RTL die Hans Meißer Talkshow mit dem Thema Albinis-mus aus. „Toll, wie sind die denn an die Kandidaten ge- Von Haare färben, Kontaktlinsen und bräunender Bodylotion hält Christiane Velling nicht viel. Sie würde sich dabei unwohl fühlen. „Ich bin schön genug, finde ich. Ich brauche diese ganze Schmin-kerei nicht“, sagt „Das sind so Sachen, die bleiben einem einfach in Erinnerung.“ Christiane Velling wünscht sich, dass die Menschen aufgeschlossener werden. Dass man sich traut zu fragen. „Ich bin mit meinem Mann mal spazieren gegangen und uns kam jemand entgegen, ist dann an uns vorbeigegangen, hat sich dann nochmal umgedreht und wollte nochmal gucken und ist dann vor den Laternenpfahl gelaufen“. Sie lacht. „Das sind so Sachen, die bleiben einem einfach in Erinnerung“, erzählt sie und man kann sich regelrecht vorstellen, dass viele Menschen einfach nur schauen, sich aber nicht trauen, zu fragen. Auch wünscht sie sich in der Schule mehr Engage-ment der Lehrer, „Die sind eben da, dann muss man sich mehr Mühe geben“, sagt sie. Und fügt dann hinzu, dass die Gesellschaft nicht nur von Inklusion sprechen, sondern diese Inklusion auch in allen Lebensbereichen durchführen sollte. „Erst jetzt wird nochmal richtig deutlich, wie wenig zehn Prozent sind ...“ Die Latte Macchiatos sind längst ausgetrunken. Wir saßen fast zwei Stunden im Café und haben uns über Albinismus, Gott und die Welt unterhalten. Beim Verlassen des Cafés läuft Christiane Velling voraus und übersieht die eine Stufe, die nach unten auf die Fußgängerzone führt. Sie stolpert und fängt sich erschrocken wieder. Normalerweise lässt sie ihren Mann voraus laufen, erinnere ich mich an eine Stelle im Gespräch. Erst jetzt wird nochmal richtig deutlich, wie wenig zehn Prozent sind und wie viel Christiane Velling in ihrem Leben zu kämpfen hat. Interview geführt von: Interviewte Person: Datum des Interviews: Ort des Interviews: Jasmina Saddedine Christiane Velling 9. Dezember 2013 Köln 115 114 „Vor 30 Jahren wurde sie von Punke„Es gibt nichts, was man machen kann rinnen angesprochen ...“ ...“ sie lachend, „ich muss nicht anders aussehen“. Als sie sich die Haare abschneiden ließ, wurde sie von der Friseuse gefragt, ob sie das Färben an einer Strähne ausprobieren dürfe. Doch die schwarze Farbe hielt nicht lange. Durch den Pigmentmangel nimmt ihr Haar die Farbe nur schlecht auf. Vor 30 Jahren wurde Christiane Velling auf einer Straße auf Sylt von Punkerinnen ge¬fragt, wie sie denn ihre Haare so weiß bekomme. Mit den Worten „Guck doch, mein Haaransatz ist nicht farbig“ musste sie die ungläubigen Punkerinnen aufklären, erzählt sie lachend. Mit Kontaktlinsen kommt sie nicht zurecht und außerdem würde sie sich ohne Brille fremd vorkommen. Sie krempelt die Ärmel ihres grauen Kapuzenpullis hoch und fährt sich über die Haut. Ihre Pigmentflecken sind rot und ihre Leberflecken ohne Farbe. Sonnencreme benutzt Christiane Velling Zuhause eher selten, „ich habe meine Haut dran gewöhnt. Ich setze mich ja nicht in die pralle Sonne, selbst mit Eincremen such' ich mir dann schon den Schatten“. Im Großen und Ganzen fühlt sie sich in ihrer Haut wohl. „Es gibt immer mal Phasen, wo das nicht so ist, aber das ist wahrscheinlich bei jedem Menschen mal so.“ sen.“ Schon bald vergaß das Kälbchen den Schmerz, schenkte seiner Mutter ein warmes Lächeln und schaute durch die spröden Stallwände in die Nacht hinaus. Als das Kälbchen eine Sternschnuppe zwischen den funkelnden Sternen sah, schloss es fest die Augen und wünschte sich, später einmal wie seine Mutter zu sein. Die Nacht war kühl und der Morgen düster, als das glückliche Leben im Stall ein jähes Ende nahm. Das kleine Kälbchen verstand die Anspannung der anderen nicht, als vor dem Stall ein lautes Geräusch zu hören war. Quietschende Reifen und ein laufender Motor durchbrachen die Stille. Dann öffneten sich die großen Stalltüren und sechs Männer kamen hinein. An ihren blanken Armen trugen sie Handschuhe, die dicke, weiße Narben verdeckten. Das Kälbchen wurde ängstlich, suchte nach den warmen Augen seiner Mutter. Die Männer näherten sich und das Kälbchen rief nach ihr, doch sie war nicht da. Das kleine Kälbchen konnte sich nicht wehren, als die groben Hände seinen weichen Körper packten und aus dem Stall trugen. Es trat um sich und seine sternenförmige Wunde am Knie riss auf. Doch diesmal weinte das Kälbchen nicht, Stille breitete sich aus, dann Dunkelheit. % HÄUTE BRAUCH' ICH, TASCHEN MACH' ICH Als die hellen Strahlen des Mondes eines Nachts ihren Weg durch die dunklen Bretterwände des Stalls fanden und die feuchte Nase des Kälbchens kitzelten, öffnete es verschlafen seine Augen. Es war hungrig und so machte sich das kleine Kälbchen auf den Weg zum Futtertrog, vorbei an den vielen anderen Kühen, die leise schliefen. Doch das Kälbchen stolperte in der Dunkelheit und schlug sich dabei das Knie auf. Blut floss aus der Wunde, das Kälbchen begann zu weinen und lief zurück zu seiner Mutter. „Kleines Kälbchen, weine nicht“, sagte sie. „Schau hin. Die Wunde sieht aus wie ein Stern und der wird nun immer auf dich aufpas- Nach einer langen Reise verließ das kleine Kälbchen den Transporter und lief in einen großen, kühlen Raum, der so weiß und rein war wie der große Vollmond, der in der letzten Nacht am Himmel stand. Dann wurde das Kälbchen erneut von dicken rauen Händen gepackt. Es erschrak und schrie, doch niemand konnte es hören, als es in eine Ecke gezerrt und auf den Boden gedrückt wurde. Es schloss fest die Augen, dachte an seine Mutter und fasste allen Mut zusammen. Für einen Moment schien es, als hätte das kleine Kälbchen die Chance, zu entkommen, doch schon bald verließ ihn die Kraft und es hörte auf, sich dem starken Druck der großen Hände zu widersetzen. Als sich scharfe Klingen in den kleinen Körper des Kälbchens bohrten, Stück für Stück, immer tiefer, spürte es einen stechenden Schmerz. Und als das rote Blut aus den Wunden floss und man ihm die Haut vom Körper riss, Zentimeter für Zentimeter, erinnerte es sich an seinen Wunsch. Es würde nie so wie seine Mutter werden, denn es war zum Sterben geboren. Doch all das wusste das junge Mädchen nicht, das eines schönen Tages in die Stadt ging, um sich mit ihren Freundinnen zu treffen. Auf dem Weg dorthin machte sie an einem Schaufenster Halt, in dem eine Tasche stand, aus echtem Kalbsleder, für wenig Geld. Das Mädchen beschloss, sich die Tasche zu kaufen. Denn sie war hübsch, von hoher Qualität und günstig. Doch eines sei gewiss: Wenn das Kälbchen nicht für seine Haut gestorben wär', dann lebte es noch heute. Kim Ernst 117 116 Es war einmal ein Kälbchen, das fühlte sich nirgendwo geborgener, als in der Nähe seiner Mutter. Die beiden tollten oft im Stall herum und das Kälbchen konnte es jeden Abend kaum erwarten, wenn es sich im knisternden Stroh an den warmen Körper seiner Mutter lehnen konnte, während sie ihm Geschichten erzählte. Geschichten von tollkühnen Kühen, kleinen Kälbchen, großen Wundern und der Freiheit. Als das Kälbchen aus seinem Schlaf erwachte, war es von Dunkelheit umgeben. Es hatte keinen Platz und konnte sich nicht bewegen. Zu viele andere Kälbchen lagen neben ihm. Nur wenige zarte Sonnenstrahlen schienen durch die feuchten Wände des Tiertransporters und das Kälbchen spürte die Einsamkeit. Große Tränen liefen ihm über das haarige Gesicht, es sehnte sich nach seiner Mutter und es fühlte sich verlassen und einsam. Defect Balm – be blemish en tt i r h c S 5 In ten k e f r e p n u zur Haut Endlich mit 20 Jahren eine Haut haben, wie eine 50-Jährige. Jugendliche, straffe und strahlende Haut – Ein Albtraum für jede Frau. Nach jahrelanger Forschung ist nun endlich der Durchbruch gelungen: Wir haben mit Experten und Schönheitschirurgen ein Produkt entwickelt, um die Anzeichen von glatter und geschmeidiger Haut zu reduzieren. Die Kombination von ausgewählten und zertifizierten Inhaltsstoffen, wie reichhaltige Fette, konzentrierter Alkohol und chemische Substanzen, gewährleisten ein grobporiges, fettiges und runzeliges Aussehen. Zweimal täglich auf Gesicht, Dekolleté oder andere Körperstellen großzügig und dick auftragen. Nach nur drei Tagen werden die ersten Veränderungen sichtbar. Eiterige Pickel zieren ihr Gesicht. Zudem bekommt Ihre Haut einen permanenten, leicht öligen Touch, welcher Ihre Makelhaftigkeit in strahlendem Glanz erscheinen lässt. Das Geheimnis um alte, reizlose Haut ist gelöst. Ohne Operation oder drastische Maßnahmen, können Sie ganz leicht einen neuen Menschen aus sich machen. Das Ergebnis ist beeindruckend fahl und verfallend. Im Vorher- Nachher-Vergleich können Sie die Verbesserung deutlich sehen! Noch nie hat sich Ihre Haut so talgig, schmierig und knitterig angefühlt. Greifen Sie gleich zu und verpassen Sie nicht die Chance auf ihr ultimatives Beautyerlebnis. Ihre Freunde werden sie darum beneiden. Abb. 2: Nachher wunderschön - Helena Kampschulte Die Innovation: 5 in 1 Defect Cream Zeig mak elloser Haut die kalte Schulter! 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