SGB XII - Bundesvereinigung Lebenshilfe

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SGB XII - Bundesvereinigung Lebenshilfe
issn 0944-5579 Postvertriebsstück: D/13263 F
Rechtsdienst
Rechtsdienst
der Lebenshilfe
der Lebenshilfe
N rNr.
. 33/08,
/ 1 0September
, S e p t 2008
e mb e r 2 0 1 0
ISSN 0944–5579
Postvertriebsstück: D 13263 F
Editorial:
Rechtsdienst
Rechtsdienst
Rechtsdienst
w w w. l e b e n s h i l f e . d e
A u s d e m I n h a lt :
der Lebenshilfe
der
derLebenshilfe
Lebenshilfe
Neufassung
Pflegebedürftigkeitsbegriffs?
Fremdnützige des
Forschung
an nichteinwilligungsfähigen Menschen wird in Deutschland staatlich
Aus
dem Inhalt: Warum eine sinnvolle
Soziotherapie:
Leistung nicht umgesetzt wird
Das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) hat im Jahr
gefördert
2007 einen Beirat berufen, der den Auftrag erhalten hat,
� Rechtsgutachten zu den Auswirkungen
einen
Pflegebedürftigkeitsbegriff
zu entwickeln.
Ziel
der Föderalismusreform
die
Am 1.neuen
September
hat die Bundesregierung
eine Kleine
Geldwerte
Leistungen an auf
WohneinrichNr.
3/08, September
Nr.
Nr.
2008
3/08,
3/08,
September
September
2008
2008
des
Auftrags
ist
es,
die
Zuordnung
zu
den
für
die
Bemessung
Nr.
3/08,
September
2008
Anfrage der Fraktion
BÜNDNIS
90/DIE
GRÜNEN
Sozialhilfe
und
das
SGB
IX
ISSN 0944–5579 ISSN
ISSN 0944–5579
0944–5579
tungen – Ungereimtheiten im Umgang
von Pflegesachleistungen
und Pflegegeldern
maßgeblichen
Postvertriebsstück:
D 13263
Postvertriebsstück:
Postvertriebsstück:
F ISSN 0944–5579
D
D 13263
13263 FF
zur Forschung an Kindern
mit sogenannter
geistiger
Postvertriebsstück:
D
13263
F
mit § 10 Abs. 4 WTG-NRW
Pfl egestufen (§ 15 SGB XI) nicht mehr vom Zeitaufwand
Behinderung beantwortet (BT-Drs. 17/2902). Der
der Pflegeperson abhängig zu machen. Stattdessen sollen
� Die Komplexleistung Frühförderung ist
Anfrage lag das Projekt
des Forschungsnetzwerkes
Neufassung
des Neufassung
Neufassung
Pflegebedürftigkeitsbegriffs?
des
Pfl
Pflegebedürftigkeitsbegriffs?
egebedürftigkeitsbegriffs?
Aus dem Inhalt:Aus
Aus dem
dem Inhalt:
Inhalt:
neue Maßstäbe entwickelt
werden,
die
sich
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Grad
der
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Neufassung
des Pflegebedürftigkeitsbegriffs?
dem Inhalt:
Grundsatzurteil
desAus
Bundesgerichtshofs
MR-Net zugrunde, das die genetischen Ursachen
von
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von
der
Hilfe
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Dritte
Das Bundesministerium
Das für
Bundesministerium
Bundesministerium
Gesundheit (BMG)
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Gesundheit
Gesundheit
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Jahr
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Das
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einen Beirat berufen,
2007
2007
einen
einen
derBundesministerium
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den
Beirat
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berufen,
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erhalten
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Rechtsgutachten
�
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zu
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den Auswirkungen
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bei der Bewältigung des
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2007
einen
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betroffene Kinder körperlich
untersucht,
fotografiert
einen neuen Pfl
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einen
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egebedürftigkeitsbegriff
zu entwickeln.
zu
zu entwickeln.
entwickeln.
Ziel
Ziel hat, der
der Föderalismusreform
der Föderalismusreform
Föderalismusreform
aufMenschen
die
auf
auf die
die
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neuen
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zu
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der Föderalismusreform
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des
des
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Zuordnung
die
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zu
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und
Blutbzw.
Gewebeproben
entnimmt.
Die
Kinder
Sozialhilfe
und
das
Sozialhilfe
Sozialhilfe
SGB
IX und
und das
das SGB
SGB IX
IX
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Universität
Bielefeld
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des
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LSG
Sachsen:
Fachkraft
als
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von
von Pfl
Pfl
und
egesachleistungen
egesachleistungen
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und
und Pfl
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maßgeblichen
maßgeblichen
Sozialhilfe
und
das
SGB
IX
geistiger
Behinderung
in
Deutschland
selbst dazu
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von
der
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betriebenen
von
Pfl
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und
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der
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(§ 15 SGB
Pfl
Pfl
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egestufen
XI)
nicht
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(§
mehr
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SGB
vomXI)
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nicht
nicht
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helferin
Regelschule bejaht
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Menschen
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Dritte
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� Gesundheitszustand
Gesundheitszustand
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2008
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die
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erforderlichen
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�
� Keine
Keine vormundschaftsgerichtliche
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fürauch
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nicht
nicht befreiter
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schneidungen
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mit
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Menschen
Menschen
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Fachkreisen
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deshalb
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Forderung
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EuGH: Diskriminierungsschutz
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U n t e r B eschiedlich
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Beteiligung von:
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Beteiligung
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Unter
Unter Beteiligung
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von:
Unter Beteiligung von:
Bundesverband evangelische
Bundesverband
Bundesverband evangelische
evangelische
Caritas Behindertenhilfe und
Caritas
Caritas Behindertenhilfe
Behindertenhilfe und
und
Psychiatrie
e. V. (CBP)
Psychiatrie
Psychiatrie
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Caritas
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und
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und
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e.V. (BeB)
(BeB)
Bundesverband
evangelische
Bundesverband
evangelische
Psychiatrie e. V. (CBP)
Behindertenhilfe e.V. (BeB) Psychiatrie e. V. (CBP)
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97 für
97
97
Rechtsdienst
der Lebenshilfe
Rechtsdienst
Rechtsdienst
3/08 der
der Lebenshilfe
Lebenshilfe
3/08
3/08
Bundesvereinigung
Bundesvereinigung
Bundesvereinigung
Verband für
Verband
Verband
für
Lebenshilfe für Menschen
Rechtsdienst
der Lebenshilfe
3/08
Bundesvereinigung
mit geistiger
Behinderung e.V.
Lebenshilfe für Menschen
mit geistiger Behinderung e.V.
9
Rechtsdienst
3/08
Bundesverband
für Körper-Bundesverband
Bundesverband für
für KörperKörperLebenshilfe
Lebenshilfe
für
für Menschen
Menschender Lebenshilfe
Bundesvereinigung
Anthroposophische Heilpädagogik
Anthroposophische
Anthroposophische
Heilpädagogik
Heilpädagogik
Verband für
97
und Mehrfachbehinderte e.und
und
V. Mehrfachbehinderte
Mehrfachbehinderte
e.
e. V.
V.
Bundesverband
für
Körpermit
mit geistiger
geistiger
Behinderung
Behinderung
e.V.
Lebenshilfe
für e.V.
Menschen
Verband
für
Sozialtherapie
und Soziale Arbeit
Sozialtherapie
Sozialtherapie
e.V. Anthroposophische
und
und
Soziale
Soziale Arbeit
Arbeit
e.V.
e.V.
Heilpädagog
und Mehrfachbehinderte
e.
V.
mit geistiger Behinderung
e.V.
Sozialtherapie
und
Soziale
Arbeit
e
Bundesverband
für KörperAnthroposophische Heilpädagogik
und Mehrfachbehinderte e. V.
Sozialtherapie und Soziale Arbeit e.V.
Inhalt
Zu den Voraussetzungen für Eingliederungshilfe-
leistungen S. 108
Hilfen zur Familienplanung als Leistung der Eingliederungshilfe S. 110
Keine Kürzung der Grundsicherung während Krankenhaus-
aufenthalts S. 111
Rechts- und Sozialpolitik
S paren zu Lasten behinderter Menschen und ihrer
Angehörigen? von Klaus Lachwitz S. 89
Vorrang von Wohngeld gegenüber Sozialhilfe-
leistungen S. 112
Initiative zur Steuerbefreiung für ehrenamtliche Betreuer
von Ulrich Hellmann S. 91
Teilhabe am Arbeitsleben
Neues Fachkonzept der BA für Eingangsverfahren und Berufsbildungsbereich von Dr. Sabine Wendt S. 112
SGB II
Mehrbedarf bei Gehbehinderung und Hygienebedarf
als Härtefall S. 93
Verfahrensrecht
SGB V
Umfassendes Einsichtsrecht in Pflegeakten S. 115
Soziotherapie: Warum eine sinnvolle Leistung nicht umgesetzt wird
von Dr. Katharina Ratzke S. 94
Heimrecht
Geldwerte Leistungen an Wohneinrichtungen – Ungereimtheiten im Umgang mit § 10 Abs. 4 WTG-NRW
von Andreas Mikysek S. 116
Keine Begrenzung der Soziotherapie auf drei Jahre S. 96
Umfassender Anspruch auf häusliche Krankenpflege auch bei Pflegebedürftigkeit S. 97
Betretensrechte der Heimbeschäftigten für Privaträume für Heimbewohner S. 119
Krankenkasse muss bei Hilfsmitteln die Wartungskosten tragen S. 98
Betreuungsrecht
SGB VI
Voraussetzungen der Unterbringung nach § 1906 BGB S. 119
Kein Anspruch auf Gleitsichtbrille gegen Renten-
versicherungsträger S. 99
Zivilrecht/Unterhaltsrecht
SGB IX
Zur unbilligen Härte der Unterhaltsleistung von Eltern behinderter Kinder S. 121
Feststellung des Grades der Behinderung einer Transsexuellen S. 100
Kindergeld
SGB XI
Grenzbetrag für Kindergeld für volljährige Kinder ist nicht verfassungswidrig S. 122
Voraussetzungen des Anspruchs auf zusätzliche Betreuungsleistungen S. 101
Steuerrecht
Mustersatzung nach § 60 AO: Bundesfinanzministerium rudert zurück S. 122
Bemessung des Zeitaufwands bei Toilettengängen
im Heim S. 102
Nachteilsausgleich
Verbesserung des individuellen Wohnumfeldes auch im betreuten Wohnen möglich S. 103
Autoradios sind von Rundfunkgebühren befreit S. 123
SGB XII
Ethik und Recht
Zum Verfahren der Festsetzung eines Kostenbeitrags für die Eingliederungshilfen S. 103
Kein Erstattungsanspruch des ambulanten Pflegedienstes nach Tod des Pflegebedürftigen S. 104
Zulässigkeit einer Schenkungsrückforderung bei Grundsicherungsbezug S. 105
Grundsatzurteil des Bundesgerichtshofs zur Präimplantationsdiagnostik S. 124
Grundsatzurteil des Bundesgerichtshofs zur Sterbehilfe S. 126
Internationales
Fachkraft als Integrationshelferin in Regelschule bejaht S. 106
Ferienfreizeiten als Leistung der Eingliederungshilfe bei ambulanter Betreuung? S. 107
Bücherschau S. 130
Zulässigkeit der Überleitung von Steuererstattungen durch den Sozialhilfeträger S. 106
Wahlrechtsausschluss als Verstoß gegen die europäische Menschenrechtskonvention S. 127
Internationale Aktivitäten zur Umsetzung der Behindertenrechtskonvention
von Klaus Lachwitz S. 129
Rechts- und Sozialpolitik
Rech t s d i e n s t 3 / 2 0 1 0
89
Rechts- und Sozialpolitik
Sparen zu Lasten behinderter Menschen und
ihrer Angehörigen?
Gemeindefinanzkommission rüttelt an der Behindertenhilfe, doch die Fachministerien
von Bund und Ländern halten dagegen!
von Klaus Lachwitz
Das Bundeskabinett hat am 24. Februar 2010 den Beschluss gefasst, eine
Gemeindefinanzkommission unter der
Leitung des Bundesministers der Finanzen einzusetzen. Sie hat den Auftrag erhalten, Vorschläge zur Neuordnung der Gemeindefinanzierung zu
erarbeiten, die Beteiligung der Kommunen an der Rechtssetzung zu erörtern und Entlastungsmöglichkeiten
für die Kommunen auf der Ausgabenseite zu prüfen.
Der Gemeindefinanzkommission
gehören neben Bundesfinanzminister
Dr. Wolfgang Schäuble der Bundesminister des Inneren, Dr. Thomas de
Maizière, der Bundesminister für Wirtschaft und Technologie, Rainer Brüderle sowie Vertreter der Kommunalen
Spitzenverbände und der Länder an.
In ihrer konstituierenden Sitzung
am 04. März 2010 hat die Kommission
insgesamt drei Arbeitsgruppen eingesetzt; darunter eine Arbeitsgruppe
„Standards“, die vom Bundesministerium der Finanzen geleitet wird. Ziel
dieser Arbeitsgruppe ist es, Sparvorschläge zur Entlastung der kreisfreien
Städte und Gemeinden vorzulegen.
Eckpunkte der Bundesregierung für
die Aufstellung des Bundeshaushalts
2011 und des Finanzplans bis 2014
Parallel zu den Aktivitäten der Gemeindefinanzkommission hat die Bundesregierung im ersten Halbjahr 2010
Vorschläge entwickelt, mit denen erreicht werden soll, das strukturelle
Staatsdefizit schrittweise abzubauen,
um ab 2013 die Defizitgrenzen des europäischen Stabilitäts- und Wachstumspakts wieder einhalten zu können.
In ihrer Haushaltsklausur am 07.
Juni 2010 hat sie ein Positionspapier
„Die Grundpfeiler unserer Zukunft
stärken“ verabschiedet, auf dessen
Grundlage bis zum Jahr 2014 etwa 80
Milliarden Euro eingespart werden
sollen.
Sie benennt in diesem Papier ins-
gesamt acht Eckpunkte „für solide Finanzen, neues Wachstum und Beschäftigung
und
Vorfahrt
für
Bildung“. Dazu zählt die „Stärkung
von Beschäftigungsanreizen und die
Neujustierung von Sozialleistungen“
(Eckpunkt 3). Einerseits bekennt sich
die Bundesregierung in diesem Abschnitt „zum System der sozialen Sicherung“. Andererseits nimmt sie insbesondere den von der Bundesagentur
für Arbeit verwalteten Bereich der Arbeitsförderung ins Visier und kündigt
die Umwandlung von Pflichtleistungen in Ermessensleistungen an. Insgesamt sollen durch arbeitsmarktpolitische Maßnahmen, die insbesondere
die Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II) und die Arbeitsförderung
(SGB III) betreffen, im Jahr 2011 4,3
Milliarden Euro, im Jahr 2012 6,3 Milliarden Euro, im Jahr 2013 8,7 Milliarden Euro, im Jahr 2014 10,2 Milliarden Euro eingespart werden.
Vorgestellt wurde ein „Zwischenbericht der AG Standards“, der am
09. Juli 2010 auf der Website des Bundesfinanzministeriums veröffentlicht
worden ist. Zwar stellt die Gemeindefinanzkommission dazu fest, dass
„eine Bewertung der gesammelten
Standards noch nicht stattgefunden
hat.“ Der Zwischenbericht leiste jedoch einen wichtigen Beitrag zur Beseitigung der Defizite im Bereich der
„kommunalen Finanzsituation“. Es sei
nunmehr Aufgabe der „fachlich zuständigen Stellen“, eine Überprüfung
vorzunehmen, ob die im Zwischenbericht aufgelisteten Vorschläge zur Absenkung von Standards im Bereich der
Sozialgesetzgebung und damit zur
kommunalen Entlastung beitragen
können.
In Eckpunkt 7 befasst sich die
Bundesregierung mit der „Verantwortung für die Kommunen“ und führt
dazu aus: „Die Finanzsituation der
Kommunen ist teilweise sehr angespannt. Die Bundesregierung bekennt
sich hier zu ihrem Teil der gesamtstaatlichen Verantwortung. Die von
der Bundesregierung eingesetzte Gemeindefinanzkommission erarbeitet
daher gegenwärtig einen Vorschlag,
die Finanzen der Kommunen auf eine
stabile Grundlage zu stellen. Sobald
diese Vorschläge vorliegen, wird die
Bundesregierung diese zügig prüfen
und zur Entscheidung bringen“.
Das umfangreiche – 38 eng bedruckte Seiten und Tabellen umfassende – Papier enthält einen wahren
„Horrorkatalog“ von Einsparvorschlägen, die geeignet sind, das über Jahrzehnte mühsam aufgebaute, insbesondere im Bereich der Eingliederungshilfe für behinderte Menschen (§§ 53
ff. SGB XII) und im Sozialgesetzbuch
IX (Rehabilitation und Teilhabe) verankerte soziale Netz zur Sicherstellung der Teilhabe von Menschen mit
Behinderungen am gesellschaftlichen
Leben zu durchlöchern.
Zweite Sitzung der Gemeindefinanzkommission
Am 08. Juli 2010, d. h. etwa einen
Monat nach der Haushaltsklausur
der Bundesregierung, sind die Mitglieder der Gemeindefinanzkommission im Bundesministerium der Finanzen zu ihrer zweiten Sitzung
zusammengetreten.
Inhalt des Zwischenberichts der
Arbeitsgruppe „Standards“ der
Gemeindefinanzkommission
Im Einzelnen finden sich im Zwischenbericht folgende Aussagen: Unter Ziff. 4.2.4 wird ausgeführt, dass
„die Eingliederungshilfe für behinderte Menschen ein wachsender Bereich
ist. Allein in den vergangenen 10 Jahren sind die Nettoausgaben für die
Träger der Sozialhilfe aufgrund einer
Ausweitung der gesetzlichen Ansprüche und einer Zunahme der leistungsberechtigten Personen in Deutschland
um 55 % von 7,2 Milliarden Euro im
90
Rechts- und Sozialpolitik
Jahr 1998 auf 11,2 Milliarden Euro im
Jahr 2008 gestiegen“. Die Eingliederungshilfe sei eine nachrangige Leistung. Ebenso wie für die Hilfe zur
Pflege gelte der Grundsatz, dass Leistungen durch die Sozialhilfeträger nur
in dem Umfang erbracht werden müssen, wie die Aufbringung der erforderlichen Mittel aus dem Einkommen
und Vermögen der Berechtigten bzw.
der Ehegatten/Lebenspartner, bei
Minderjährigen sowie Ledigen deren
Eltern, nicht zumutbar sei. Der Nachranggrundsatz sei jedoch gerade bei
der Eingliederungshilfe durch wiederholte Rechtsänderungen in verschiedenen Bereichen deutlich eingeschränkt worden. „Insbesondere liegen die Einkommens- und Vermögensgrenzen deutlich über denen, die
für die Leistungen zum Lebensunterhalt gelten“.
Ausgehend von diesen grundsätzlichen Feststellungen, die völlig ausblenden, dass der Gesetzgeber insbesondere mit der Verabschiedung des
Sozialgesetzbuchs
Neuntes
Buch
(SGB IX) einen Paradigmenwechsel in
der Behindertenhilfe vollzogen hat,
mit dem die Verpflichtung eingegangen worden ist, alle Leistungen der
Eingliederungshilfe dem Ziel der
vollen Teilhabe am Leben der Gesellschaft durch entsprechende individuelle Fördermaßnahmen, Nachteilsausgleiche und Maßnahmen der Sozialraumgestaltung unterzuordnen, schlägt
die Arbeitsgruppe „Standards“ die Prüfung folgender Sparmaßnahmen vor:
➢ Lfd. Nr. 21: Gesetzliche Einschränkung des Wunsch- und Wahlrechts hilfebedürftiger Menschen
in der Jugendhilfe, Eingliederungshilfe und Sozialhilfe mit der Begründung, dass dieses Recht „oftmals den Einsatz kostengünstigerer
und ebenso wirksamer Instrumente“ verhindere (§ 5 SGB VIII,
§ 9 SGB IX und § 13 SGB XII).
➢ Lfd. Nr. 22: Streichung bzw. Änderung des § 43 SGB IX, wonach behinderte Menschen in Werkstätten
(WfbM) neben dem Arbeitsentgelt
vom Rehaträger ein Arbeitsförderungsgeld in Höhe von monatlich
26 Euro erhalten, das nicht als Einkommen auf die Grundsicherungsleistungen angerechnet wird.
➢ Lfd. Nr. 23: Zugangsbeschränkungen zu Werkstätten für behinderte Menschen z. B. für die Personen, die eine volle Rente wegen
Erwerbsminderung in Anspruch
nehmen können.
➢ Lfd. Nr. 24: Einschränkung des
Wunsch- und Wahlrechts (§ 9
SGB XII) durch die Eröffnung der
➢
➢
➢
➢
➢
➢
Möglichkeit, Leistungen im Bereich der vollstationären Eingliederungshilfe zukünftig nach Maßgabe des Vergaberechts auszuschreiben und auf diese Weise den
Weg dafür zu ebnen, den anspruchsberechtigten Hilfebedürftigen auf das preiswerteste Angebot zu verweisen.
Lfd. Nr. 25: Deckelung der Entgelte für Einrichtungen, mit denen
eine Leistungs- und Vergütungsvereinbarung besteht, zum Zweck
der Kostenbegrenzung (wie dies
bereits im Jahr 1996 der Fall war).
Lfd. Nr. 26: Ausbau des Mehrkostenvorbehalts (§ 9 Abs. 2 SGB
XII) durch Streichung des Wortes
„unverhältnismäßig“, um auf diese
Weise zu erreichen, dass dem
Wunsch- und Wahlrecht bei
Leistungen der Eingliederungshilfe
künftig mehr als bisher Kostengesichtspunkte des Sozialhilfeträgers
entgegengesetzt werden können.
Lfd. Nr. 28: Verzicht auf Regelsatzerhöhungen als Auswirkung
des Urteils des Bundesverfassungsgerichts vom 09.02.2010 bei der
Bemessung des Regelbedarfs für
den Lebensunterhalt von Leistungsempfängern außerhalb von
Einrichtungen.
Lfd. Nr. 29: Verbesserung der Möglichkeiten für den Sozialhilfeträger, den Regelbedarf für Personen,
die in einer Bedarfsgemeinschaft
leben, abzusenken durch Einführung einer Beweislastumkehr:
Personen, die in häuslicher Gemeinschaft leben, müssen nachweisen, dass sie dadurch keine
Einsparungen erzielen.
Lfd. Nr. 33: Klarstellung im SGB
XII, dass das Mittagessen in teilund vollstationären Einrichtungen
(z. B. in einer WfbM) eine Leistung
der Grundsicherung bzw. der
Hilfe zum Lebensunterhalt ist
und nicht der Eingliederungshilfe
zugeordnet werden darf. In diesem
Zusammenhang wird eine „stärkere Kostenbeteiligung der Eltern
an den in Einrichtungen erbrachten Kosten des Lebensunterhalts“ gefordert.
Lfd. Nr. 37: Änderung des SGB XII
mit dem Ziel, dass Leistungen der
medizinischen Rehabilitation, die
nach dem SGB V nicht gewährt
werden dürfen, auch nicht als
Leistungen der Eingliederungshilfe
für einen sonstigen Zweck zur Verfügung zu stellen sind. Damit soll
die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts aufgeweicht werden,
wonach mit Leistungen der Eingliederungshilfe stets weitere Zwecke verfolgt werden als mit SGB
Rechtsdienst 3/2010
V-Leistungen.
➢ Lfd. Nr. 38: Änderungen der §§ 76
ff. SGB XII mit dem Ziel, den Trägern der Sozialhilfe einen größeren
Einfluss bei der Gestaltung von
Leistungs-, Vergütungs- und Qualitätsvereinbarungen einzuräumen.
➢ Lfd. Nr. 39: Anrechnung des Kindergeldes auf Leistungen der Eingliederungshilfe, um dem Träger
der Sozialhilfe insbesondere bei
vollstationärer Eingliederungshilfe
den vollen Zugriff auf das Kindergeld zu ermöglichen.
➢ Lfd. Nr. 42: Umstellung vom Bruttoprinzip auf das Nettoprinzip in
der Eingliederungshilfe (§ 92 SGB
XII) mit der Folge, dass der Träger
der Sozialhilfe im Bereich der Eingliederungshilfe nicht mehr im
vollen Umfang Vorleistungen erbringen muss, sondern zunächst
prüft, ob der Leistungsberechtigte
Einkommen und Vermögen einzusetzen hat bzw. über Ansprüche
gegenüber Dritten (z. B. Unterhaltsverpflichteten) verfügt.
➢ Lfd. Nr. 45: Abschaffung bzw. Absenkung der Leistungen der Hilfe
zur Pflege (§§ 61 f. SGB XII durch
„vollständige Übernahme der pflegerischen Leistungen durch die gesetzliche Pflegeversicherung“.
➢ Lfd. Nr. 46: Abschaffung der aufschiebenden Wirkung eines Widerspruchs gegen einen ablehnenden bzw. versagenden Kostenbescheid.
➢ Lfd. Nr. 47: Zuweisung aller sozialhilferechtlichen Streitigkeiten
einschließlich der Eingliederungshilfe zu den Verwaltungsgerichten
statt zu den Sozialgerichten.
➢ Lfd. Nr. 95: Abschaffung des Individualanspruchs des Leistungsberechtigten auf die Vergütung der in
einer Einrichtung erbrachten Leistung (§ 76 f. SGB XII) durch Einführung festgelegter – nicht an
Fallzahlen gekoppelter – Einrichtungsbudgets.
➢ Lfd. Nr. 97: Abschaffung der Blindenhilfe (§ 72 SGB XII).
➢ Lfd. Nr. 126: Einschränkung der
Kosten der Unterkunft durch Absenkung des Wohnstandards für
Alleinstehende von 50 auf 25 qm.
➢ Lfd. Nr. 130: Wegfall oder Einschränkung der unentgeltlichen
Beförderung von schwerbehinderten Menschen.
➢ Lfd. Nr. 132: Ausweitung der Möglichkeiten, Sozialhilfeempfänger in
Pflegeeinrichtungen in Zweibettzimmern statt in Einbettzimmern
unterzubringen.
➢ Lfd. Nr. 136: Erweiterung des Unterhaltsrückgriffs bei Leistungen
der Grundsicherung im Alter und
Rech t s d i e n s t 3 / 2 0 1 0
➢
➢
➢
➢
bei Erwerbsminderung (§§ 41 ff.
SGB XII) durch Absenkung der
Freigrenze hinsichtlich des Einkommens von Unterhaltsverpflichteten um die Hälfte von 100.000
Euro auf 50.000 Euro.
Lfd. Nr. 147: Abschaffung der Regelung in § 92 Abs. 2 Satz 2 SGB
XII, wonach Leistungen in Werkstätten für behinderte Menschen
ohne Berücksichtigung von Vermögen des Leistungsberechtigten
erbracht werden. Stattdessen Wiedereinführung einer Vermögensfreigrenze für Werkstattbesucher
wie bis zum 31.06.2001.
Lfd. Nr. 148: Rückführung der Unterhaltsverpflichtung von Eltern
vollstationär betreuter behinderter
Kinder auf das vor dem 01.01.2002
geltende Recht. Im Klartext: Wegfall
der Begrenzung des Unterhaltsbeitrags von Eltern auf 26 Euro pro
Monat (vgl. § 94 SGB XII) für
Leistungen der Eingliederungshilfe
und 20 Euro monatlich für die Kosten des Lebensunterhalts.
Lfd. Nr. 151: Absenkung des Betreuungsschlüssels in Werkstätten
für Behinderte durch Neufassung
der Werkstättenverordnung.
Lfd. Nr. 156: Einführung von Kostenbeiträgen für Jugendhilfemaßnahmen nicht nur – wie nach
geltendem Recht – für voll- und
teilstationäre Leistungen, sondern
auch für ambulante Leistungen.
Aus Standards werden Horrorszenarios
Dieser Überblick reicht aus, um zu
dem Ergebnis zu kommen, dass in der
Gemeindefinanzkommission und ihren Arbeitsgruppen an einem Horrorszenario gearbeitet wird.
Es stellt sich deshalb die Frage, wie
konkret der Gefahrenherd tatsächlich
ist, der sich aus dem Zwischenbericht
ergibt.
Rechts- und Sozialpolitik
Beschwichtigungsversuch der
Bundesregierung
Auf eine Kleine Anfrage der Fraktion Bündnis 90/DIE GRÜNEN zur
Diskussion über Standards und Kürzung von sozialen Leistungen in der
Gemeindefinanzkommission hat die
Bundesregierung geantwortet (BTDrs. 17/2623 vom 22.07.2010), die
Vorschläge der Gemeindefinanzkommission seien bisher eine reine Sammlung von Standards. Sie teilt mit, dass
die Beratung der Bund-Länder-Arbeitsgruppe „Weiterentwicklung der
Eingliederungshilfe“ unabhängig von
den Beratungen der Gemeindefinanzkommission weitergeführt würde. In
diesem Zusammenhang verweist sie
auf den Beschluss der ASMK aus dem
Jahr 2009, wonach es nicht Ziel des
Reformvorhabens sei, Teilhabemöglichkeiten und Leistungen der Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderungen und deren Angehörige
einzuschränken. Es seien auch keine
Einschränkungen des Wunsch- und
Wahlrechts in der Jugendhilfe, Eingliederungshilfe und Sozialhilfe geplant.
Diesen
Beschwichtigungsversuchen steht allerdings die Aussage entgegen, dass keine Beteiligung des
Bundes an den Kosten der Eingliederungshilfe für behinderte Menschen
oder der Hilfe zur Pflege geplant ist.
Damit bleibt völlig offen, wie die
Bundesregierung dazu beitragen will,
die für die Finanzierung der Eingliederungshilfe für behinderte Menschen
zuständigen Kommunen finanziell zu
entlasten.
Kurz vor Redaktionsschluss dieser
Ausgabe des Rechtsdienstes hatte der
Vorsitzende der Bundesvereinigung Lebenshilfe, Robert Antretter, Gelegenheit, mit dem Staatssekretär im Sozialministerium Rheinland-Pfalz, Christoph
Habermann, ein Gespräch zu führen. Er
sei darüber unterrichtet worden, dass
91
die meisten Sparvorschläge der AG
„Standards“ in einer am 19. August
2010 durchgeführten Sitzung unter Hinweis auf negative Voten des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales und
einer Reihe von Fachministerien der
Bundesländer auf Ablehnung gestoßen
seien. Auch die kommunalen Spitzenverbände hätten die von der AG „Standards“ vorgeschlagenen Änderungen im
Bereich der Eingliederungshilfe nicht
unterstützt und stattdessen ihre Forderung erneuert, der Bund möge sich an
den Kosten der Eingliederungshilfe beteiligen bzw. ein bundesfinanziertes Leistungsgesetz für behinderte Menschen
einführen, das die Hilfen neu definiere
und damit auch die Abgrenzungsprobleme zwischen der Eingliederungshilfe und der Hilfe zur Pflege beseitige.
Fazit:
Weiterhin ist Wachsamkeit geboten! Würden die Sparvorschläge, die im
Zwischenbericht der AG „Standards“
der Gemeindefinanzkommission enthalten sind, auch nur ansatzweise verwirklicht, so würde die Behindertenrechtskonvention (BRK) auf eklatante
Weise konterkariert.
Die aufgelisteten Sparvorschläge würden insbesondere die Menschen treffen, die aufgrund ihrer Behinderung
zu den sozial Schwächsten in unserem
Land zählen: So hat der größte überörtliche Träger der Sozialhilfe in
Deutschland, der Landschaftsverband
Westfalen-Lippe (LWL), in einer Presseerklärung vom 23. März 2010 mitgeteilt, dass 40 % der Familien, die ihre
behinderten Angehörigen betreuen,
nur über ein monatliches Nettoeinkommen unter 1.000 Euro verfügen,
während der Anteil der Menschen mit
einem monatlichen Nettoeinkommen,
das ebenfalls unter 1.000 Euro liegt,
im Vergleich zur Gesamtbevölkerung
im Einzugsbereich des LWL nur 13 %
beträgt.
Initiative zur Steuerbefreiung für ehrenamtliche Betreuer
Zähes Ringen geht in die nächste Runde
von Ulrich Hellmann
Das schon groteske politische
Schauspiel der sich über mehr als
zehn Jahre hinziehenden Auseinandersetzung um die Steuerpflicht der
Aufwandspauschale für ehrenamtliche
rechtliche Betreuungen1 wird um den
1 Vgl. Hellmann, Steuerpflicht für ehrenamt-
liche rechtliche Betreuer – Eine unendliche
Geschichte? In RdLh 2008, S. 65 ff.
nächsten Akt erweitert. Nach der derzeit geltenden steuerrechtlichen Konstruktion bleiben bei Inanspruchnahme des Steuerfreibetrages von 500
Euro nach § 3 Nr. 26a EStG sowie ei-
92
Rechtsdienst 3/2010
Rechtsprechung und rechtspraxis
ner Steuerfreigrenze von 256 Euro
nach § 22 Nr. 3 Satz 2 EStG die Aufwandspauschalen für zwei ehrenamtliche rechtliche Betreuungen steuerfrei. Übernimmt dagegen ein Bürger
mehrere ehrenamtliche Betreuungen,
muss er einen Teil der Aufwandspauschale versteuern oder Einzelausgaben zum Nachweis seiner Werbungskosten festhalten. Das geltende Recht
behandelt ehrenamtlich tätige Betreuerinnen und Betreuer damit schlechter
als andere ehrenamtlich tätige Personen, die nach § 3 Nr. 26 EStG den
höheren Freibetrag von bis zu 2.100
Euro im Jahr geltend machen können.
Die jahrelangen Bemühungen des
Bundesjustizministeriums, der Bundesländer sowie der im Betreuungswesen
aktiven Verbände sind bislang ungeachtet anderslautender Empfehlungen
auch von Sachverständigen stets am
Widerstand des Bundesfinanzministeriums sowie des Finanzausschusses im
Deutschen Bundestag gescheitert.
Bestrafung für ihr freiwilliges Engagement. Angesichts der steigenden Zahl
der rechtlichen Betreuungen bei gleichzeitigem Rückgang der ehrenamtlich
geführten Betreuungen seien die Länder aber auf dieses ehrenamtliche Engagement angewiesen, wenn sie die
Ausgabensteigerung im Betreuungswesen eingrenzen wollten. Die Alternative zur ehrenamtlichen Betreuung
sei die vermehrte Bestellung von Berufsbetreuern. Während die ehrenamtliche Betreuung eines mittellosen Betreuten die Staatskasse lediglich pauschal 323 Euro pro Jahr koste, lägen
die Ausgaben bei der Berufsbetreuung
im ersten Jahr bei der höchsten Vergütungsstufe zwischen 1.848 Euro und
2.970 Euro. Angesichts der weiter steigenden Ausgaben für das Betreuungswesen (Gesamtausgaben bundesweit
von 490 Mio. Euro im Jahr 2006 auf
614 Mio. Euro im Jahr 2008) komme
der Förderung des Ehrenamtes im Betreuungswesen höchste Priorität zu.
Erneuter Vorstoß des Bundesrates
Der Bundesrat schlägt vor, die Neuregelung ab dem Veranlagungszeitraum 2010 wirksam werden zu lassen.
Der Bundesrat hat mit seiner Stellungnahme zum Entwurf eines Jahressteuergesetzes 20102 zum wiederholten Mal eine Änderung des Einkommensteuergesetzes verlangt, um die
Steuerpflichtigkeit von Aufwandsentschädigungen, die ehrenamtliche rechtliche Betreuerinnen und Betreuer nach
§ 1835a BGB (Bürgerliches Gesetzbuch) erhalten, zu mildern. Er fordert
den Bundestag auf, im Jahressteuergesetz 2010 (JStG 2010) durch Neueinfügung eines § 3 Nr. 26 b EStG Aufwandsentschädigungen nach § 1835a
BGB steuerfrei zu stellen, soweit sie
zusammen mit den steuerfreien Einnahmen im Sinne der Nr. 26 den Freibetrag nach Nr. 26 Satz 1 nicht überschreiten. Dies würde im Ergebnis
bedeuten, dass Aufwandspauschalen
für ehrenamtlich geführte Betreuungen bis zu der Höhe der sogenannten
„Übungsleiterpauschale“ von 2.100
Euro steuerfrei bleiben.
Der Bundesrat weist darauf hin,
dass die Ausgestaltung der Besteuerung der Aufwandspauschale in der
Vergangenheit bereits etliche ehrenamtlich tätige Betreuungspersonen
veranlasst habe, um ihre Entlassung
nachzusuchen. Für viele ehrenamtlich
tätige Betreuerinnen und Betreuer sei
es nicht nachvollziehbar, weshalb sie
die ihnen zustehenden Aufwandsentschädigungen auch noch versteuern
oder aber zur Vermeidung steuerlicher
Nachteile erheblichen Aufwand für
den Nachweis ihrer Einzelausgaben
betreiben sollten. Sie empfänden dies
als unnötige Bürokratie oder sogar als
bürgerschaftlichen Engagements“5 lediglich die Einführung einer lohnsteuerfreien Pauschale von 500 Euro für
nebenberufliche Tätigkeiten zur Förderung gemeinnütziger, mildtätiger
und kirchlicher Zwecke geschaffen
worden. Der Deutsche Verein fordert
deshalb, ehrenamtlich geführte, rechtliche Betreuungen ausdrücklich in
den Anwendungsbereich des Übungsleiterfreibetrages von derzeit 2.100
Euro nach § 3 Nr. 26 EStG aufzunehmen.
Letzter Akt in Sicht?
Es bleibt zu hoffen, dass diese erneuten Initiativen den letzten Akt der
überlangen Aufführung von gegensätzlichen Positionen von Justiz- und
Finanzressorts einläuten. Eine einvernehmliche Beseitigung des Gerechtigkeitsgefälles bei der Besteuerung ehrenamtlicher rechtlicher Betreuung im
Vergleich zu anderen ehrenamtlichen
Tätigkeiten ist überfällig und wäre ein
wichtiges Zeichen, den politischen
Bekenntnissen zur Förderung bürgerschaftlichen Engagements im Bereich
der Betreuung auch Taten folgen zu
lassen.
Initiative des Deutschen Vereins
Bereits am 10.03.2010 hat sich
auch der Deutsche Verein für öffentliche und private Fürsorge mit einer
„Empfehlung zur Stärkung des Ehrenamtes in der rechtlichen Betreuung“3
für eine angemessene steuerrechtliche
Regelung für die Aufwandspauschale
eingesetzt. Er verweist darauf, der
Bundesgesetzgeber habe bereits mit
den Betreuungsrechtsänderungsgesetzen von 1999 und 2005 die Absicht
bekundet, den Vorrang der Ehrenamtlichkeit im Betreuungswesen zu fördern. Auch die Ergebnisse der BundLänder-Arbeitsgruppe zur Beobachtung der Kostenentwicklung im
Betreuungsrecht vom Juni 20094 hätten diese Zielsetzung bekräftigt. Der
Deutsche Verein stellt fest, dass beide
Betreuungsrechtsänderungsgesetze es
jedoch nicht vermocht hätten, einen
Anstieg der ehrenamtlich geführten
Betreuungen zu erreichen. Vielmehr
steige die Zahl beruflich geführter Betreuungen weiter an, während die
Zahl der ehrenamtlich geführten Betreuungen vielerorts rückläufig sei.
Die Empfehlung weist darauf hin, dass
sich der Bundesrat bereits mehrfach
für die Schaffung eines Steuerfreibetrages für ehrenamtlich tätige Betreuerinnen und Betreuer entsprechend § 3
Nr. 26 EStG (Übungsleiterpauschale)
ausgesprochen habe. Stattdessen sei
bisher auf Empfehlung des Finanzausschusses in § 3 Nr. 26a EStG mit dem
„Gesetz zur weiteren Stärkung des
2 BR-Drs. 318/10 vom 09.07.2010.
3 Siehe unter www.deutscher-verein.de, Rubrik
Empfehlungen/Stellungnahmen
4 Siehe dazu auch RdLh 2009, S. 146 ff.
5 Siehe dazu RdLh 2007, S. 16 ff.
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Rech t s d i e n s t 3 / 2 0 1 0
Rechtsprechung und rechtspraxis
93
SGB II
Mehrbedarf bei Gehbehinderung und Hygienebedarf
als Härtefall
BSG, Urteil vom 18.2.2010 – Az: B 4 AS 29/09 R und Urteil vom 19.08.2010 –
Az: B 14 AS 13/10 R
In RdLh 2/09, S. 58 wurde ein Beschluss des LSG Berlin-Brandenburg
veröffentlicht, wonach ein Mehrbedarf wegen Schwerbehinderung nach
§ 21 Abs. 4 SGB II nur bei gleichzeitigem Bezug von Eingliederungshilfe
bewilligt werden kann. Nach der
Rechsprechung des BVerfG zur Verfassungswidrigkeit der Regelsatzhöhe
und dem zusätzlichen Bedarf in Härtefällen (vgl. Beiträge von Wendt in
RdLh 1/10, S. 8 ff. und RdLh 2/10, 53
ff.) hat das BSG nunmehr in der nachfolgenden Entscheidung konkretisiert,
wann bei einem gehbehinderten Leistungsberechtigten nach SGB II ein
solcher zusätzlicher Bedarf im Härtefall zuerkannt werden kann.
Die 1967 geborene Klägerin begehrt höhere Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem
SGB II für die Zeit vom 01.01.2005 bis
zum 31.05.2006. Sie ist mit einem
Merkzeichen G erheblich gehbehindert, und bezieht seit dem 01.07.2007
eine Rente wegen voller Erwerbsminderung. In dem Klage- und Berufungsverfahren blieb die Klägerin mit ihrem
Begehren nach einem Zuschlag in
Höhe von 59 Euro wegen ihrer Gehbehinderung erfolglos.
Das BSG verwies das Verfahren
zur erneuten Entscheidung an das
LSG NRW zurück. Zwar habe das
LSG zutreffend auf einfachgesetzlicher Grundlage entschieden, dass
eine analoge Anwendung des § 28
Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 SGB II ausgeschlossen sei. Nach dieser Vorschrift
erhalten nur nicht erwerbsfähige Angehörige, die mit einem erwerbsfähigen Hilfebedürftigen in einer Bedarfsgemeinschaft
leben,
einen
Mehrbedarf von 17 % der maßgebenden Regelleistung, wenn sie Inhaber eines Ausweises mit dem Merkzeichen G sind. Der Senat könne
aufgrund der Feststellungen des LSG
jedoch nicht entscheiden, ob der Klägerin ein Anspruch auf höhere
Leistungen aus Art. 1 Abs. 1 i. V. m.
Art. 20 Abs.1 GG zukomme.
Fehlender Mehrbedarf keine
Gesetzeslücke
Zwar fehle es an einer planwidrigen Gesetzeslücke im SGB II, da es
dem gesetzgeberischen Anliegen entsprach, erwerbsfähigen Hilfebedürftigen allein wegen des Merkzeichens
G im Ausweis keinen Mehrbedarf zukommen zu lassen. Auch erhalte die
Klägerin keine Eingliederungshilfeleistungen für einen Mehrbedarf nach §
21 Abs. 4 SGB II.
Das BVerfG habe aber mit Urteil
vom 09.02.2010 (NJW 2010, 505) entschieden, dass u. a. § 20 Abs. 2 1.
Halbsatz und Abs. 3 Satz 1 SGB II seit
dem Inkrafttreten des SGB II am
01.01.2005 wegen Verstoßes gegen
Art. 1 Abs.1 GG i. V. m. Art 20 Abs. 1
GG verfassungswidrig seien. Die dem
Gesetzgeber aufgegebene Neuregelung
müsse bis zum 31.12.2010 einen Anspruch auf Leistungen zur Sicherstellung eines unabweisbaren, laufenden,
nicht nur einmaligen Bedarfs für die
nach § 7 SGB II Leistungsberechtigten
vorsehen, der bisher nicht von den
Leistungen nach den §§ 20 ff. SGB II
erfasst werde, jedoch zur Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums zwingend zu decken
sei. Bis zur gesetzlichen Neuregelung
sei ein solcher Anspruch direkt aus
dem Grundgesetz ableitbar. Das LSG
müsse daher prüfen, ob im Fall der
Klägerin ein zusätzlicher Anspruch
auf Leistungen wegen eines unabweisbaren, laufenden, nicht nur einmaligen und besonderen Bedarfs (sog.
Härtefall) bestehe. Es müsse eine atypische Bedarfslage vorliegen, Ermittlungen ins Blaue hinein seien nicht
erforderlich.
Härtefall bei atypischer Bedarfslage
Anhaltspunkte für eine atypische
Bedarfslage könnten bei der Klägerin
darin liegen, dass wegen der Schwerund Gehbehinderung ein besonderer
Bedarf gegeben sei. Dem stehe nicht
entgegen, dass die Beteiligten um einen Zeitraum vom 01.01.2005 bis zum
31.06.2006 streiten. In laufenden,
noch nicht abgeschlossenen Verfahren
müsse nach den Härtefall-Grundsätzen des BVerfG entschieden werden,
da das BVerfG nur eine rückwirkende
Neufestsetzung von Leistungen ausschließen wollte. Wäre der verfassungsrechtliche Anspruch erst für
Leistungszeiträume nach dem Entscheidungszeitpunkt des BVerfG vom
09.02.2010 an gegeben, stellte sich die
Frage nach einer verfassungskonformen Auslegung des § 23 SGB II
und des § 73 SGB XII.
Sollte das LSG zu dem Ergebnis
gelangen, der Klägerin stehe kein
Mehrbedarf wegen eines Härtefalls zu,
müsse es ferner beachten, dass die Ungleichbehandlung von erwerbsfähigen
und erwerbsunfähigen Hilfebedürftigen, die ersteren einen pauschalierten Mehrbedarf versage, nicht gegen Art. 3 Abs. 1 GG verstoße. Der
gesetzgeberische
Gestaltungsspielraum zur Ausfüllung dieser Verfassungsnorm werde umso enger, je mehr
es sich um ein personenbezogenes
Merkmal handele, an dem die Differenzierung ansetze. Im vorliegenden
Fall sei die Differenzierung durch die
Erwerbszentriertheit und den Grundsatz des Forderns des SGB II gerechtfertigt.
Der Hinweis der Klägerin, wegen
ihrer Gehbehinderung keinen Zusatzverdienst erwerben zu können, sei für
einen Härtefall nicht ausreichend.
Fahrtkosten als Hauptkostenfaktor
würden bei einer Nutzung des ÖPNV
nicht als Mehrkosten anfallen und
könnten bei einer erheblichen Gehbehinderung durch den Bezug einer
Wertmarke ausgeglichen werden. Es
bliebe daher nur ein schmaler Grad
aus dem privaten Bereich für die Anerkennung eines solchen Härtefalls.
Härtefall bei Hygienebedarf eines
AIDS-Kranken (BSG B 14 AS 13/10)
Von dieser Entscheidung vom
19.8.2010 liegt bei Redaktionsschluss
nur der Terminbericht vor. Danach
wurde der beigeladene Sozialhilfeträ-
94
Rechtsprechung und rechtspraxis
ger verurteilt, nach § 73 SGB XII (Hilfe in sonstigen Lebenslagen) den Bedarf für Hygieneartikel von monatlich
20,45 Euro zu tragen. Die Klage gegen
den Träger für Arbeitsuchende nach
dem SGB II hatte für diesen Härtefall
keinen Erfolg, da dem Kläger bereits
nach der Entscheidung des SG Berlin
ein Anspruch auf Leistungen nach §
73 SGB XII zustehe. Wie im Fall der
Kosten für das Umgangsrecht der Kinder nach Ehescheidung könne ausnahmsweise ein Anspruch auf Hilfe in
sonstigen Lebenslagen nach § 73 SGB
XII gegen den Sozialhilfeträger bestehen, wenn eine atypische Bedarfslage
vorliege, die nach dem SGB II nicht
gedeckt werden könne, deren Befriedigung aber aus verfassungsrechtlichen Gründen zwingend geboten sei.
Dafür müsse eine gewisse Ähnlichkeit
mit den im fünften Kapitel des SGB
XII genannten Leistungen bestehen.
Für den an AIDS erkrankten Kläger
sei das Grundrecht auf Leben und
körperliche Unversehrtheit in Verbindung mit der Menschenwürde zu beachten (Art. 2 Abs. 1 GG i. V. m. Art. 1
GG). Regelungen für einen entsprechenden Anspruch ergäben sich aus
den § 47 ff. SGB XII. Allerdings räume
§ 73 SGB XII dem Sozialhilfeträger
ein Ermessen ein. Zutreffend habe das
SG entschieden, dass dieses im vorliegenden Fall auf Null geschrumpft sei.
Zwar sei der Einsatz öffentlicher Mittel nicht gerechtfertigt, wenn es sich
um Bagatellbedarfe handele. Davon
könne aber bei einem fortlaufenden
monatlichen Bedarf von 20 Euro nicht
ausgegangen werden.
Anmerkung
Die Entscheidung des BSG macht
deutlich, dass entgegen der Ansicht
Rechtsdienst 3/2010
des für die Umsetzung des BVerfGUrteils verantwortlichen BMAS, nicht
nur der Kinderregelsatz angehoben
werden muss, sondern auch die Verweigerung
eines
Mehrbedarfszuschlags für erwerbsfähige schwerbehinderte Personen mit einem G im
Ausweis überdacht werden muss.
Zwar sei es nicht per se als Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz zu bewerten, dass erwerbsunfähigen, nicht
aber erwerbsfähigen Personen ein solcher Mehrbedarf zuerkannt werde. Im
Einzelfall könne aber sehr wohl ein
Härtefall gegeben sein (z. B. bei der
Inanspruchnahme einer Haushaltskraft von Rollstuhlfahrern, vgl. RdLh
2/10, S. 55). Soweit es um kranke oder
behinderte Menschen geht, ist auch §
73 SGB XII für Sonderbedarfe in den
Blick zu nehmen, wie die AIDS-Krankenentscheidung des BSG belegt.
(We)
SGB V
Soziotherapie: Warum eine sinnvolle Leistung nicht
umgesetzt wird
von Dr. Katharina Ratzke, Diakonisches Werk der EKD (Berlin)
Psychische Erkrankungen - eine
wachsende Herausforderung
In den letzten Jahren weisen die
gesetzlichen Krankenkassen regelmäßig darauf hin, dass psychische Erkrankungen sowie die Kosten für
deren Behandlung kontinuierlich steigen. Allein im Zeitraum von 1990 bis
2008 ist der Anteil von Fehltagen wegen seelischer Störungen an allen
Krankheitstagen von 2,75 Prozent auf
10,6 Prozent angestiegen. Während in
wirtschaftlichen Krisenzeiten der Krankenstand abnimmt, steigt der Krankenstand aufgrund psychischer Erkrankungen in diesen Phasen besonders an.
Ob psychische Erkrankungen in
den letzten Jahren allerdings tatsächlich zugenommen haben oder ob nur
mehr psychische Erkrankungen diagnostiziert und behandelt werden, ist
aufgrund der aktuellen Datenlage
nicht eindeutig zu beantworten. Was
wir jedoch wissen ist, dass etwas mehr
als zehn Prozent der Ausgaben im Gesundheitswesen für die Behandlung
von psychischen und Verhaltensstörungen als direkte Kosten aufgewendet werden. Ob diese Aufwendungen
immer sinnvoll ausgegeben werden,
fragt beispielsweise die Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN in ihrer
Kleinen Anfrage an die Bundesregierung „ Zunahme von psychischen Erkrankungen“ (BT-Drs. 17/2663 vom
27.07.2010).
Überproportionale klinische
Versorgung
Aufgrund des Finanzierungsgefälles zwischen klinischer und außerklinischer Versorgung ist eine angemessene ambulante, wenn notwendig
aufsuchende und umfassende Behandlung von Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen in Deutschland nicht ausreichend umgesetzt.
Diese Versorgungsdefizite im ambulanten Bereich können in einem engen
Zusammenhang mit der Zunahme der
Kosten in psychiatrischen Kliniken
gesehen werden.
In aktuellen Pressemitteilungen gesetzlicher Krankenkassen wird auch
2010 wieder darauf hingewiesen, dass
die Anzahl der Patientinnen und Patienten in psychiatrischen Kliniken wei-
ter angestiegen ist. Bei vielen Krankenkassen entfallen inzwischen auf
psychische und Verhaltensstörungen
die meisten Krankenhausbehandlungstage. Die besondere Bedeutung von
psychischen Störungen resultiert dabei
aus der längeren Verweildauer. Bei Diagnosen wie „depressive Episode“ oder
„Schizophrenie“ dauert die Behandlung im Krankenhaus oft über 30 Tage.
Frühzeitige und umfassende Behandlungsmöglichkeiten in der Lebenswelt der Betroffenen, die vermeidbare und belastende Krankenhausaufenthalte verhindern können, reduzieren nicht nur möglicherweise
psychisches Leiden, sondern sind
auch aus einer gesundheitsökonomischen Perspektive alternativlos. An
dieser Stelle kommt die ambulante Soziotherapie ins Spiel.
Ambulante Soziotherapie als
Leistung der gesetzlichen
Krankenversicherung
Ambulante Soziotherapie wurde
mit dem Gesundheitsreformgesetz im
Jahr 2000 als Individualanspruch im §
37a SGB V verankert. Soziotherapie
Rech t s d i e n s t 3 / 2 0 1 0
richtet sich an Menschen mit schweren
und oft lang andauernden psychischen
Erkrankungen. Da diese in bestimmten
Krankheitsphasen häufig nicht in der
Lage sind, bestehende Behandlungsund Hilfsangebote selbständig in Anspruch zu nehmen, soll Soziotherapie
durch Motivation und strukturierte
Trainingsmaßnahmen diese Inanspruchnahme ermöglichen. Darüber
hinaus umfasst Soziotherapie die im
Einzelfall erforderliche Koordinierung
der verordneten Leistungen. Der Anspruch besteht für höchstens 120
Stunden innerhalb von drei Jahren je
Krankheitsfall.
Ziel ist, stationäre Klinikaufenthalte zu vermeiden oder zu verkürzen.
Die Einzelheiten, insbesondere die
Voraussetzungen, Art und Umfang der
Versorgung mit Soziotherapie sind in
den „Richtlinien des Bundesausschusses der Ärzte und Krankenkassen über die Durchführung von Soziotherapie in der vertragsärztlichen
Versorgung“ geregelt, die am 1. Januar
2002 in Kraft traten.
Im November 2001 wurden „Gemeinsame Empfehlungen der Spitzenverbände der Krankenkassen gemäß §
132b Abs. 2 SGB V zu den Anforderungen an die Leistungserbringer für
Soziotherapie“ beschlossen. Im Rahmen des GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetzes wurde auf die einheitliche
Empfehlung der Krankenkassen zu
den Anforderungen an die Leistungserbringer für Soziotherapie ab dem
01.07.2008 wieder verzichtet.
Besondere Belange bei psychischen
Erkrankungen
Der Gesetzgeber hat mit Einführung der Soziotherapie eine seit Ende
der 80er Jahre bestehende rechtliche
Vorgabe umgesetzt: Die besonderen
Bedürfnisse von Menschen mit psychischen Erkrankungen in der medizinischen Versorgung zu berücksichtigen (vgl. § 27 Abs. 1 SGB V).
Gleichzeitig wurde den Forderungen
aus der Fachwelt und den Betroffenenverbänden Rechnung getragen,
die ambulanten und gemeindenahen
Behandlungsmöglichkeiten für Menschen mit chronisch verlaufenden psychischen Erkrankungen zu stärken
und auszubauen.
Genau hierin liegt die besondere
Bedeutung von Soziotherapie, die keine weitere isolierte Einzelleistung darstellen sollte.
Rechtsprechung und rechtspraxis
Komplexleistung als Schlüssel
Durch die konsequente Einbeziehung und Aktivierung der Patientinnen
und Patienten sowie die Koordination
unterschiedlicher ärztlich verordneter
Leistungen lassen sich diese zu einer
ambulanten Komplexleistung verbinden. Fehlende ambulante Komplexleistungen gelten als das zentrale Hindernis, um den fachlich und sozialrechtlich
gebotenen Vorrang ambulanter gegenüber stationärer und teilstationärer Behandlung umzusetzen.
Umsetzungsprobleme bei der
Implementierung von Soziotherapie
Die verzögerte und verschleppte
Umsetzung von Soziotherapie ist angesichts dieser Schlüsselfunktion für
die ambulante psychiatrische Versorgung und der seit Jahren kontinuierlich steigenden Gesundheitskosten im
klinisch-psychiatrischen Bereich ein
Skandal. Zehn Jahre nach Einführung
des Leistungsangebotes „Soziotherapie“ ist diese in der Bundesrepublik –
von Ausnahmen abgesehen – nach wie
vor nur punktuell verfügbar. Ende
2004 gab es allein in Baden-Württemberg, Bayern, Rheinland-Pfalz und
dem Saarland einen Rahmenvertrag
zur Soziotherapie auf Landesebene, so
dass dort schrittweise eine Versorgung
mit ambulanter Soziotherapie aufgebaut wurde. In allen anderen Ländern
fehlten soziotherapeutische Leistungserbringer noch vollständig oder es gab
nur Einzelverträge. Folgende Zahl
mag das Ausmaß des Scheiterns einer
flächendeckenden Umsetzung verdeutlichen: In Bezug auf die erwarteten Kostenfolgen der ambulanten
Soziotherapie betrugen die tatsächlichen Ausgaben im Jahr 2004 lediglich 1,5 Prozent der geschätzten maximalen Aufwendungen (vgl. Projektbericht zur Evaluation der Umsetzung des § 37a SGB V (Soziotherapie) der Aktion Psychisch Kranke). Bis Ende 2008 haben sich die
Gesamtausgaben der GKV für die Soziotherapie im Vergleich zu 2004
knapp verdoppelt.
Keine flächendeckende Umsetzung
Nach einer umfangreichen Evaluation der Aktion Psychisch Kranke zur
Umsetzung von Soziotherapie (2005),
einer breit angelegten Befragung des
Gemeinsamen
Bundesausschusses
(2008) sowie einem Bericht der AG
Psychiatrie der Obersten Landesgesundheitsbehörden (2010) liegen die
Gründe für die nicht erfolgte Umsetzung offen zu Tage: Ein wesentlicher
Grund sind die unrealistischen Quali-
95
fikationsanforderungen und Tätigkeitsprofile an die Mitarbeitenden in
den psychiatrischen Diensten und
Einrichtungen, die in den Gemeinsamen Empfehlungen der Spitzenverbände der Krankenkassen niedergelegt worden waren (vgl. § 132b Abs. 2
SGB V). Diese hohen Anforderungen
führten dazu, dass nur wenige Einrichtungen und Dienste einen förmlichen Antrag als Leistungserbringer
für Soziotherapie gestellt haben.
Unzureichende Vergütung und hoher
Verwaltungsaufwand
Als viel gravierenderes Hemmnis
stellt sich jedoch die nicht auskömmliche, da nicht kostendeckende Vergütung dar, die von den Krankenkassen
angeboten wird. Die Vergütung
schwankt je nach Bundesland zwischen 24 und 42 Euro (pro Behandlungseinheit à 60 Minuten) und steht
in keinem angemessenem Verhältnis
zur geforderten Qualifikation des Leistungserbringers. Von Seiten der Ärztinnen und Ärzte wird ebenfalls die
mangelnde Finanzierung sowie der
hohe bürokratische Aufwand beklagt.
Die Befragung des Gemeinsamen
Bundesausschusses (G-BA) hat darüber hinaus ergeben, dass Soziotherapie als Leistung der Gesetzlichen
Krankenversicherung innerhalb der
Ärzteschaft viel zu wenig bekannt ist.
Verbesserungsbedarf bei den
Richtlinien
Dort, wo Soziotherapie umgesetzt
wird, hat sich gezeigt, dass auch die
Richtlinien des G-BA überarbeitet
werden müssen, wenn eine ausreichende und bedarfsgerechte ambulante Versorgung und Behandlung von
Menschen mit chronisch verlaufenden, psychischen Erkrankungen
sichergestellt werden soll. So hat das
Diakonische Werk der EKD bereits
2008 darauf verwiesen, dass u. a. bei
den Indikationen weitere Diagnosen
mit aufzunehmen sind. Dabei sollten
die Indikationen selbst auf einer Gesamtbewertung
von
Diagnose,
Schweregrad der Erkrankung und
Problemen bei der Alltagsbewältigung
beruhen. Die Verordnung von Soziotherapie sollte nicht nur bei einer unmittelbar bevorstehenden Krankenhausbehandlung indiziert sein und
sowohl von Ärztinnen und Ärzten in
Psychiatrischen Institutsambulanzen
als auch in sozialpsychiatrischen
Diensten ausgestellt werden können.
Die Zukunft der Soziotherapie
In den letzten zwei bis drei Jahren
96
Rechtsprechung und rechtspraxis
haben integrierte Versorgungsverträge nach §§ 140a-d SGB V dazu geführt, dass Soziotherapie flexibler,
individueller und mit einer besseren
Vergütung angeboten werden kann.
Trotz der Chancen, die integrierte
Versorgungskonzepte für die Leistungserbringung von Soziotherapie
bereithalten, darf nicht außer acht gelassen werden, dass diese Verträge allein die Sicherstellung der Soziotherapie für alle Menschen mit chronischen, psychischen Erkrankungen
in einer Region nicht gewährleisten
können.
Im Rahmen einer Fachveranstaltung „Zukunft der ambulanten Soziotherapie für psychisch Kranke“, die
im Februar 2010 von den Verbänden
des Kontaktgespräches „Psychiatrie“
durch-geführt wurde, wurden unterschiedliche Lösungsansätze für eine
verbesserte Umsetzung vorgestellt
und diskutiert (die Dokumentation
des Fachtages kann von der Homepage der Aktion Psychisch Kranke
heruntergeladen werden).
Rechtsdienst 3/2010
Vorschläge zur Verbesserung der
Situation
Bei einem vertragslosen Zustand
sollte auf die Möglichkeit der Selbstbeschaffung von Leistungen nach § 13
Abs. 3 SGB V hingewiesen werden.
Auch im Rahmen eines trägerübergreifenden Persönlichen Budgets (§ 11
Abs. 1 Nr. 5 SGB V) besteht ein
Rechtsanspruch auf Soziotherapie.
In Bezug auf gesetzgeberische Änderungen ist primär zu fordern, die
Zugangshürde „Krankenhausvermeidung“ im § 37a SGB V ganz zu streichen (ambulante Versorgung intensivieren). In ihrer Antwort auf die Kleine
Anfrage „Zunahme von psychischen
Erkrankungen“ hat auch die Bundesregierung gefordert, den Vorrang ambulanter vor stationärer Hilfeleistung
zu stärken, um den betroffenen Menschen ein Leben möglichst außerhalb
von Institutionen zu ermöglichen (BTDrs. 17/2663, S. 13). Soziotherapie
sollte eine Regelleistung bei allen psychischen Erkrankungen mit komple-
xem Behandlungsbedarf und Teilhabeeinschränkung werden (umfassende
Hilfe für Menschen mit psychischen
Erkrankungen).
Auch muss der Zugang zur Leistung
Soziotherapie entbürokratisiert und beschleunigt werden (Aufbau einer niedrigschwelligen ambulanten Versorgungsstruktur). Ein derartiges Verständnis von
Soziotherapie eröffnet auch die Chance,
Artikel 25 der UN-Konvention über die
Rechte von Menschen mit Behinderungen in unserem Gesundheitssystem
zu verankern. Das dort beschriebene
Recht auf das erreichbare Höchstmaß
an Gesundheit ohne Diskriminierung
kann für viele Menschen mit schweren
und chronisch verlaufenden Störungen
nur durch eine Unterstützung bei der
Inanspruchnahme von ambulanten
Leistungen der Krankenversicherung
schrittweise durchgesetzt werden. Dies
umfasst auch Soziotherapie.
Zum Thema Soziotherapie siehe
auch das nachfolgend vorgestellte Urteil des BSG.
SGB V
Keine Begrenzung der Soziotherapie auf drei Jahre
BSG, Urteil vom 20.04.2010, Az: B 1/3 KR 21/08 R
Streitig ist die weitere Gewährung
von Soziotherapie nach § 37a SGB V
über den Dreijahreszeitraum hinaus.
Bei der 1945 geborenen Klägerin
besteht seit Jahrzehnten eine psychische Erkrankung. Sie musste deshalb in der Vergangenheit mehrmals
stationär behandelt werden. Im Mai
2003 stellte der behandelnde Facharzt
erstmals eine „Verordnung Soziotherapie gem. § 37a SGB V“ aus. Er begründete seine Verordnung unter anderem damit, dass der Erhalt des
Funktionsniveaus nicht ausreichend
sei. Eine Verwahrlosung müsse ausgeschlossen werden. Eine Besserung sei
ausschließlich durch eine intensive
Betreuung der Patientin zu erreichen.
Die beklagte Krankenkasse gewährte mit Bescheiden von September
2003 und Juli 2004 jeweils 30 Einheiten ambulante Soziotherapie.
Eine Fortsetzung der Soziotherapie über Mai 2006 hinaus lehnte die
Krankenkasse ab, da § 37a SGB V den
Behandlungszeitraum
drei Jahre begrenze.
auf
maximal
Der behandelnde Facharzt hat die
Notwendigkeit der Fortsetzung der
Therapie bestätigt und erneut Soziotherapie verordnet.
Anspruch auf Soziotherapie kann
lebenslang bestehen
Das SG Reutlingen hat die Klage
abgewiesen (Urteil vom 26.09.2007;
Az: S 2 KR 3235/06). Das LSG BadenWürttemberg hat das Urteil aufgehoben
und die Krankenkasse zur Gewährung
von Soziotherapie über Mai 2006 hinaus verurteilt (Urteil vom 16.09.2008;
Az: L 11 KR 1171/08). Bei einer über
drei Jahre hinausgehenden Behandlungsbedürftigkeit trete mit Beginn des
nächsten Dreijahreszeitraums ein neuer Krankheitsfall ein und damit ein
neuer Anspruch auf Soziotherapie im
Umfang von maximal 120 Stunden innerhalb von drei Jahren.
Das BSG hat die Revision als un-
begründet zurückgewiesen. Das LSG
habe zu Recht entschieden, dass die
Voraussetzungen des Anspruchs auf
Soziotherapie erfüllt seien, ohne dass
die Begrenzungsregelung des § 37a
Abs. 1 Satz 3 SGB V entgegenstehe.
Bei der Klägerin bestehe insbesondere die Indikation für Soziotherapie
entsprechend der Soziotherapie-Richtlinie. Auch sei zu erwarten, dass die Klägerin die Therapieziele erreichen könne.
Die Begrenzungsregelung des §
37a Abs. 1 Satz 3 SGB V schließe es
lediglich aus, dass innerhalb von drei
Jahren je Krankheitsfall mehr als 120
Stunden Soziotherapie geleistet werden. Dauere ein Krankheitsfall länger
als drei Jahre an, verbiete § 37a Abs. 1
Satz 3 SGB V nicht, dass in einem
weiteren Dreijahreszeitraum erneut
bis zu 120 Stunden Soziotherapie geleistet werden.
Leistung an der Nahtstelle zwischen
Krankenbehandlung und allgemeiner
Lebenshilfe
Rech t s d i e n s t 3 / 2 0 1 0
Dies ergebe sich aus der Auslegung
der Regelung nach Wortlaut, Entstehungsgeschichte, System und Zweck.
Dauer und Frequenz der soziotherapeutischen Betreuung hänge von
den individuellen medizinischen Erfordernissen ab. Nach Ablauf von drei
Jahren könne erneut die Gewährung
von Soziotherapie in Betracht kommen, auch wenn dem Therapiebedarf
unverändert dieselbe Krankheitsursache zu Grunde liege.
Anmerkung
Die
leistungserbringerrechtliche
Korrespondenznorm zum individuellen Rechtsanspruch auf Soziotherapie ist § 132b SGB V (Versorgung mit
Soziotherapie). Dort ist geregelt, dass
die Krankenkassen mit geeigneten
Personen oder Einrichtungen Verträge
über die Versorgung mit Soziotherapie
schließen können, soweit dies für eine
Rechtsprechung und rechtspraxis
bedarfsgerechte Versorgung notwendig ist.
Die Vorschrift hat bisher ein bundesweit flächendeckendes Netz von
Leistungserbringern verhindert, da sie
als sogenannte „Kann-Vorschrift“ ausgestaltet ist und eine Bedarfsprüfung
vorsieht.
Nachdem die Rechtsprechung die
„Kann-Formulierung“ bereits in eine
„Ist-Formulierung“ umgedeutet hat (i.
d. R. Ermessensreduzierung auf Null)
sollte dieser Schritt auch im Gesetz
nachvollzogen werden.
Die gesetzlich vorgesehene zusätzliche Bedarfsprüfung ist nicht notwendig. § 2 Abs. 4 SGB V schreibt bereits
vor, dass Leistungen wirtschaftlich
und nur im notwendigen Umfang erbracht werden dürfen. Einer weiteren
Bedarfsprüfung bedarf es insoweit
nicht.
97
Zusätzlich gilt im heutigen Sozialleistungsrecht der Wettbewerbsgedanke: Jeder Träger, der die im SGB V genannten Voraussetzungen erfüllt, hat
ein Recht auf Zulassung. Marktregulierung ist nicht Aufgabe der gesetzlichen Krankenkassen.
Die Situation der Leistungserbringer ist zusätzlich erschwert, seitdem
zum 01.07.2008 § 132b Abs. 2 SGB V
aufgehoben wurde. Bis dahin war in §
132b Abs. 2 SGB V geregelt, dass die
Spitzenverbände der Krankenkassen
gemeinsam und einheitlich in Empfehlungen die Anforderungen an die
Leistungserbringer für Soziotherapie
festlegen. Ohne diese Verpflichtung ist
eine Vereinbarung über bundeseinheitliche Standards in weite Ferne gerückt. (Sch)
Vgl. zum Thema Soziotherapie
auch den vorherigen Beitrag.
SGB V
Umfassender Anspruch auf häusliche Krankenpflege auch
bei Pflegebedürftigkeit
BSG, Urteil vom 17.06.2010 – Az: B 3 KR 7/09 R
Der 1956 geborene Kläger erkrankte im Oktober 2004 an einer bakteriellen Meningitis/Meningeoenzephalitis.
Seit seiner Entlassung aus der stationären Behandlung im Oktober 2005
wird er in seiner häuslichen Umgebung medizinisch und pflegerisch
versorgt.
teil von 19 Stunden). Die beigeladene
Pflegekasse steuert den monatlichen
Höchstsatz der Pflegestufe III bei. Seit
der Entlassung aus dem Krankenhaus
verbleibt dadurch ein monatlicher Rest
von ca. 320 Euro, bis März 2009 sind
auf diese Weise Restbeträge von insgesamt ca. 130.000 Euro aufgelaufen.
Der Kläger ist dauerhaft schwerstpflegebedürftig (Pflegestufe III) und
rund um die Uhr beatmungspflichtig.
Eine 24-Stunden-Betreuung durch
qualifiziertes Krankenpflege-Fachpersonal ist erforderlich.
Die Krankenkasse bewilligte Leistungen der häuslichen Krankenpflege
gem. § 37 SGB V nur für 19 Stunden
pro Tag, weil während der Maßnahmen der Grundpflege und der hauswirtschaftlichen Versorgung die Krankenbeobachtung als selbständige Leistung in den Hintergrund trete und die
Sachleistungspflicht der gesetzlichen
Krankenversicherung (GKV) im Rahmen der Behandlungssicherungspflege
(§ 37 Abs. 2 SGB V) auf jene Zeiten
beschränkt sei, in denen keine Grundpflege geleistet werde.
Die Maßnahmen der Krankenbeobachtung, der sonstigen Behandlungspflege und der Grundpflege werden
sämtlich von einem ambulanten Pflegedienst im Dreischichtenprinzip
durchgeführt. Die hauswirtschaftliche
Versorgung erfolgt durch die Ehefrau,
die als Lehrerin berufstätig ist.
Die Pflegekosten betragen pro Tag
726 Euro. Die beklagte Krankenkasse
trägt davon täglich ca. 575 Euro (An-
Das SG Ulm hat die Krankenkasse
verurteilt, die Kosten der Behandlungspflege (§ 37 SGB V) in vollem
Umfang, verringert um den jeweiligen
Sachleistungsanteil der Pflegekasse,
freizustellen (Urteil vom 28.08.2007 –
Az: S 1 KR 3988/06).
Grundpflege (SGB XI) verdrängt nicht
Behandlungspflege (SGB V)
Das LSG Baden-Württemberg hat
die Berufung der Krankenkasse zurückgewiesen (Urteil vom 15.05.2009
– Az: L 4 KR 4793/07). Die Behandlungssicherungspflege nach § 37 Abs.
2 SGB V sei von der Krankenkasse in
dem von den Ärzten verordneten Umfang von täglich 24 Stunden zu übernehmen. Dieser krankenversicherungsrechtliche Anspruch werde nicht
durch den gleichzeitig gegebenen pflegeversicherungsrechtlichen Anspruch
nach § 36 SGB XI verdrängt, sondern
nur ergänzt. Krankenbeobachtung
und Beatmungskontrolle seien rund
um die Uhr auch während der Grundpflege und der hauswirtschaftlichen
Versorgung notwendig. Sie überlappten sich zwar mit diesen der Pflegeversicherung zuzurechnenden Maßnahmen, würden von diesen aber nicht zu
98
Rechtsprechung und rechtspraxis
einer untergeordneten Nebenleistung
herabgestuft, sondern seien gleichrangig erforderlich.
zur Krankenbehandlung nach dem
SGB V grundsätzlich unbeschränkt
geleistet werden.
Mit der Revision zum BSG vertritt
die Krankenkasse die Auffassung, dass
der Anspruch auf Pflegesachleistungen
nach § 36 SGB XI im zeitlichen Umfang der Grundpflege und der hauswirtschaftlichen Versorgung den Anspruch auf Behandlungspflege nach §
37 Abs. 2 SGB V verdränge.
Keine Gewichtung der Pflegeleistungen zum Nachteil der Versicherten
Das BSG hat die vorinstanzlichen
Entscheidungen aufgehoben und den
Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung
und Entscheidung an das LSG zurückverwiesen. Das LSG habe zwar
im Grundsatz, aber nicht in der Höhe
der Leistung zutreffend entschieden.
Krankheitsspezifische Pflege ist
häusliche Krankenpflege
Die beklagte Krankenkasse habe
den Aufwand des Klägers für Behandlungssicherungspflege in größerem
Umfang zu tragen. Seit der Gesetzesänderung vom 01.01.2004 durch das
Gesundheitsmodernisierungsgesetz
(GMG) umfasse der Anspruch auf Behandlungssicherungspflege auch verrichtungsbezogene krankheitsspezifische Pflegemaßnahmen. Dies gelte
selbst dann, wenn die Pflegemaßnahmen bei der Feststellung bei Pflegebedürftigkeit nach §§ 14 f. SGB XI zu
berücksichtigen seien.
Diese Rechtslage sei durch die erneute Änderung des § 37 Abs. 2 SGB
V durch das GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz (GKV-WSG) zum 01.04.
2007 nochmals klargestellt worden.
Der Kläger habe demnach einen
umfassenden Anspruch auf häusliche
Krankenpflege, der ergänzt werde
durch einen Anspruch gegenüber der
Pflegekasse. Dieser Anspruch beinhalte aber nur die reine Grundpflege
sowie die hauswirtschaftliche Versorgung; insoweit sei die GKV nicht leistungspflichtig (vgl. § 37 Abs. 2 Satz 6
SGB V).
Die Ansprüche aus der GKV nach §
37 Abs. 2 SGB V und die aus der Pflegeversicherung nach § 36 SGB XI stünden gleichberechtigt nebeneinander.
Werden die Leistungen der Pflegekasse stärker gewichtet, entstehen insbesondere in Fällen mit hohem Behandlungsumfang erhebliche Finanzierungslücken, wie der zugrundelegende Fall belegt.
Die Entscheidung des BSG ist daher nachdrücklich zu begrüßen und
entspricht dem geltenden Recht.
Wegen der schwierigen Abgrenzung zur Grundpflege gem. SGB XI
hat der Gesetzgeber 2007 im GKVWettbewerbsstärkungsgesetz neu geregelt, dass verrichtungsbezogene krankheitsspezifische Pflegemaßnahmen zur
häuslichen Krankenpflege gehören.
Dies gilt auch dann, wenn die Pflegeleistungen bei der Feststellung der
Pflegebedürftigkeit i. S. d. SGB XI zu
berücksichtigen sind.
Mit Urteil vom 28.01.1999 (Az: B 3
KR 4/98 R) hatte das BSG entschieden, dass der Anspruch auf häusliche
Krankenpflege nach § 37 SGB V
Grundpflege und hauswirtschaftliche
Versorgung nicht bei dauernder Pflegebedürftigkeit umfasse (sog. Drachenflieger-Urteil). Die dieser Auffassung zugrunde liegende Annahme,
während der Erbringung von Leistungen der Grundpflege trete die Behandlungspflege in den Hintergrund,
Rechtsdienst 3/2010
gibt das Gericht mit dieser Entscheidung ausdrücklich auf.
Die mit dem GMG und dem GKVWSG vollzogenen Änderungen des §
37 SGB V belegten, dass die gesetzliche Krankenversicherung nach den
Vorstellungen des Gesetzgebers insbesondere bei Fällen der Rund-um-dieUhr-Betreuung an den pflegebedingten
Aufwendungen stärker beteiligt sein
solle.
Maßstäbe für eine Abgrenzung der
Leistungen
Nach Ansicht des BSG ist die Abgrenzung der Behandlungspflege gem.
§ 37 SGB V von der Pflegesachleistung gem. § 36 SGB XI wie folgt vorzunehmen:
Es ist zunächst die von der Pflegekasse geschuldete Grundpflege zeitlich zu erfassen. Dies gilt auch für die
hauswirtschaftliche Versorgung wenn
diese durch einen ambulanten Dienst
erbracht wird. Der so ermittelte Zeitwert ist nicht vollständig, sondern
nur zur Hälfte vom Anspruch auf die
ärztlich verordnete 24-stündige Behandlungspflege abzuziehen, weil
während der Durchführung der
Grundpflege weiterhin Behandlungspflege stattfindet und beide Leistungsbereiche gleichrangig nebeneinander
stehen.
Die Zurückverweisung erfolgte,
weil das LSG noch tatsächliche Feststellungen nachholen muss, die der
Senat selbst nicht durchführen kann.
SGB V
Krankenkasse muss bei Hilfsmitteln
die Wartungskosten tragen
BSG, Urteil vom 10.03.2010 – Az: B 3 KR 1/09 R
Anmerkung von Norbert Schumacher
Streitig ist die Erstattung der Kosten für die Wartung einer Oberschenkelprothese mit elektronisch gesteuertem Kniegelenkssystem (C-leg).
Rechtsstreitigkeiten zwischen Krankenkassen einerseits und Pflegekassen
andererseits um die Zuständigkeit haben den Hintergrund, dass die
Leistungen der sozialen Pflegeversicherung gedeckelt sind und Leistungen
Der 1941 geborene Kläger erlitt im
Jahre 1990 einen Unfall, der einen
Verlust des rechten Beines zur Folge
hatte. Die beklagte Krankenkasse versorgte den Kläger mit einer Oberschenkelprothese mit mechanischem
Modular-Kniegelenk. Den Antrag auf
Versorgung mit dem teureren C-leg
lehnte sie ab.
Der Kläger verzichtete auf einen
Widerspruch und zahlte die Mehrkosten des C-leg aus eigener Tasche. Im
Kaufpreis waren die Kosten für zwei
Wartungsservice-Einheiten enthalten,
die am Ende des ersten bzw. zweiten
Tragejahres ausgeführt wurden. Die
Rechtsprechung und rechtspraxis
Rech t s d i e n s t 3 / 2 0 1 0
jährlichen Wartungen haben den Vorteil, dass der Gefahr teilweise erheblicher Reparaturkosten des C-leg vorgebeugt wird.
Im August 2003 beantragte der
Kläger unter Vorlage einer vertragsärztlichen Verordnung die Reparatur
der Prothese einschließlich des dritten
C-leg-Services.
Die Krankenkasse zahlte die Reparaturkosten, lehnte aber die Übernahme der Kosten für den C-leg-Service
ab. Dieser Rechnungsposten könne
nicht übernommen werden, weil die
Krankenkasse den Kläger nicht mit
einem C-leg versorgt habe. Der Kläger
ließ den dritten und vierten C-leg-Service auf eigene Kosten durchführen.
Nachdem die Prothese funktionsuntüchtig geworden war, stattete die
Krankenkasse den Kläger 2006 mit einer neuen C-leg Prothese aus.
Die Hilfsmittelversorgung umfasst
auch regelmäßige Wartungsarbeiten
Das SG Hannover hat die Klage
abgewiesen (Urteil vom 23.03.2006 –
Az: S 44 KR 101/04). Die Krankenkasse sei lediglich verpflichtet, die Kosten
für die notwendigen Instandsetzungsarbeiten an der Oberschenkelprothese
zu übernehmen. Die Vergütung für die
Gewährleistungspauschale sei von ihr
nicht zu erstatten.
Auch das LSG Niedersachsen –
Bremen hat die Voraussetzungen eines
Kostenerstattungsanspruchs nach § 13
Abs. 3 SGB V nicht als erfüllt angesehen (Urteil vom 06.08.2008 – Az: L 4
KR 177/06). Ansprüche auf Instandsetzung eines Hilfsmittels könnten
sich nur auf die von der Krankenkasse
gewährte Versorgung beziehen. Der
Kläger könne sich auch nicht darauf
berufen, dass er möglicherweise bereits damals einen Anspruch auf die
Versorgung mit einem C-leg gehabt
habe. Die frühere Entscheidung der
Beklagten sei bindend geworden.
Erfolgreiche Nichtzulassungsbeschwerde
Gegen die vom LSG nicht zugelassene Revision hat der Kläger Nichtzulassungsbeschwerde erhoben: Reparatur- und Wartungskosten seien nicht
nur bei bewilligten Hilfsmitteln zu tragen. Es komme allein darauf an, ob die
Krankenkasse ein Hilfsmittel zum
Zeitpunkt der Selbstbeschaffung (§ 13
Abs. 3 SGB V) hätte bewilligen müssen, wenn ihr ein entsprechender
Leistungsantrag vorgelegen hätte.
Das BSG hat die Revision zugelassen, das Urteil des LSG aufgehoben
und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG
zurückverwiesen. Die beklagte Krankenkasse habe zu Unrecht angenommen, Reparatur- und Wartungskosten
seien nur bei von ihr bewilligten Hilfsmitteln zu tragen. Entscheidend sei
vielmehr, dass die Krankenkasse das
Hilfsmittel zum Zeitpunkt der Selbstbeschaffung hätte bewilligen müssen,
die Ablehnung eines entsprechenden
Leistungsantrages also rechtswidrig
gewesen wäre.
Kostenübernahme auch bei selbstbeschafften Hilfsmitteln
Die Pflicht der Krankenkasse erstrecke sich auch auf die Erstattung
der notwendigen Kosten einer Hilfsmittelwartung und nicht nur auf die
Änderung, Instandsetzung und Ersatzbeschaffung von Hilfsmitteln. Dies ergebe sich aus der Regelung des § 33
Abs. 1 Satz 4 SGB V in der seit
01.04.2007 gültigen Fassung. Damit
sei lediglich eine Klarstellung des bislang schon geltenden Rechtszustandes
erfolgt, wie den Gesetzesmaterialien
ausdrücklich zu entnehmen sei.
Anmerkung
Es spreche viel dafür, dass dem
Kläger ein Kostenerstattungsanspruch
für den dritten und vierten Wartungs-
99
service zustehe, hat das BSG dem
LSG zur Entscheidungsfindung mit
auf den Weg gegeben. Eine Leistungspflicht der Krankenkasse sei gegeben,
wenn ein C-leg-Service notwendig im
Sinne der Vorschriften sei. Mangels
ausreichender tatsächlicher Feststellungen des LSG konnte das BSG hierüber nicht abschließend – positiv
oder negativ – entscheiden.
Wartungsvertrag schließt
Einwände aus
Die Notwendigkeit der Wartungsarbeiten wäre zudem ohne weitere Ermittlungen zu bejahen, wenn die Krankenkasse einen generellen Wartungsvertrag mit dem Hersteller geschlossen
hätte. Der Einwand der Entbehrlichkeit und Unwirtschaftlichkeit der Wartungsarbeiten wäre dadurch von vornherein ausgeschlossen (§ 242 BGB).
Ergänzend hat das Gericht darauf
hingewiesen, dass dem Anspruch auf
Kostenübernahme auch des vierten
Wartungsservice nicht entgegenstehe,
dass es möglicherweise an einer vertragsärztlichen Verordnung diesbezüglich fehle. Das BSG habe wiederholt entschieden, dass der Arztvorbehalt des § 15 Abs. 1 Satz 2 SGB
V im Hilfsmittelbereich nicht gelte
und das Fehlen einer vertragsärztlichen Verordnung den Leistungsanspruch auf ein Hilfsmittel grundsätzlich
nicht ausschließe. (Sch)
SGB VI
Kein Anspruch auf Gleitsichtbrille
gegen Rentenversicherungsträger
SG Dortmund, Gerichtsbescheid vom 13.07.2010 –
Az: S 26 R 309/09
Die Beteiligten streiten über die
Kostenerstattung für eine Gleitsichtbrille als Leistung zur Teilhabe am Arbeitsleben nach § 16 SGB VI i. V. m. §
33 SGB IX.
Der arbeitslose Kläger benötigt
zum Lesen eine Brille mit der Stärke
2,5 bis 3,5 Dioptrien, für den Fernbereich 1,25 bis 1,5 Dioptrien. Er beantragte bei dem beklagten Rentenversicherungsträger die Kostenübernahme.
Durch die Sehminderung falle ihm das
Lesen von Printmedien und Beschei-
den sowie die Arbeit am Computer
schwer. Die nicht vorhandene Brille
verschlechtere seine Chancen einen
Arbeitsplatz zu bekommen. Die Brille
sei Teil der Wiederherstellung der Arbeitskraft und damit vom Rentenversicherungsträger als Teilhabeleistung
am Arbeitsleben zu erbringen.
Der Beklagte lehnte die Kostenübernahme ab. Die Brille sei nur als
Teilhabeleistung am Arbeitsleben anzusehen, wenn sie ausschließlich für
eine bestimmte Form der Berufsausü-
100
Rechtsprechung und rechtspraxis
bung benötigt werde. Der Kläger benötige eine Brille aber ersichtlich auch
für den privaten Bereich. Die Tatsache, dass derartige Hilfsmittel nicht
mehr von der gesetzlichen Krankenkasse übernommen würden, könne
nicht zu einer Leistungsverpflichtung
der Rentenversicherung führen. Im
Übrigen könnten die besonderen Anforderungen an das Sehvermögen
nicht überprüft werden, da der Kläger
in keinem unbefristeten Arbeitsverhältnis stehe.
Brille nicht ausschließlich für Beruf
benötigt
Auch das SG Dortmund wies die
Klage ab. Die Voraussetzungen der
Kostenübernahme nach § 16 SGB VI
i. V. m. § 33 Abs. 8 Satz 1 Nr. 4 SGB IX
seien nicht gegeben. Der Kläger benötige die Brille unstreitig auch für den
privaten Bereich. Die Rentenversicherung wäre aber nur zuständig, wenn
das Hilfsmittel ausschließlich für eine
bestimmte Form der Berufsausübung
oder Berufsausbildung benötigt werde. Anderenfalls sei die materielle Zuständigkeit der gesetzlichen Kranken-
versicherung gegeben.
Herstellung der
Berufsfähigkeit als Aufgabe
der Krankenkasse
In die Zuständigkeit der Krankenversicherung könnten grundsätzlich
auch Hilfsmittel fallen, die nur für die
Berufsausübung erforderlich seien.
Zwar bestehe eine Leistungspflicht
der Krankenkassen nur für solche
Hilfsmittel, die zur Ausübung eines
elementaren Grundbedürfnisses erforderlich seien. Hierzu zähle jedoch
auch die Ausübung einer sinnvollen
beruflichen Tätigkeit. Werde der Kläger mit dem von ihm begehrten Hilfsmittel erst in die Fähigkeit versetzt,
eine Arbeit zu verrichten, so handele
es sich um eine Aufgabe der Krankenversicherung.
Auch kein Anspruch gegen
Krankenkasse
Da der Rentenversicherungsträger
seine Zuständigkeit nach § 14 Abs. 1
und 2 SGB IX jedoch selbst bejaht
habe, hätte er zwar grundsätzlich auch
Rechtsdienst 3/2010
einen Anspruch des Klägers nach § 33
SGB V prüfen müssen. Jedoch sei
auch ein solcher nicht gegeben.
Nach § 33 Abs. 2 Satz 2 SGB V besteht ein Anspruch gegen die Krankenkasse, wenn mindestens die Stufe I
nach der von der Weltgesundheitsorganisation empfohlenen Klassifikation
des Schweregrades erreicht ist. Diese
Sehbeeinträchtigungsstufe erfülle der
Kläger nicht.
Anmerkung
Das SG betont die materiell-rechtliche Zuständigkeitsabgrenzung zwischen der gesetzlichen Krankenversicherung und der Rentenversicherung
im Bereich der Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben. Aufgrund der alleinigen Zuständigkeit der Rentenversicherung für Hilfsmittel, die ausschließlich für eine bestimmte Form
der Berufsausübung oder Berufsausbildung benötigt werden, könne keine
„ersatzweise“ Zuständigkeit begründet werden, für den Fall, dass die gesetzliche Krankenversicherung nicht
leisten müsse. (Lg)
SGB IX
Feststellung des Grades der Behinderung einer Transsexuellen
LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 23.07.2010 – Az: L 8 SB 3543/09
In Streit ist die Höhe des Grades
der Behinderung (GdB).
Die 1974 geborene Klägerin ist
Transsexuelle. Nach einer geschlechtsangleichenden Operation zur Frau
2002 beantragte sie beim zuständigen
Versorgungsamt 2007 die Feststellung
des GdB. Das Versorgungsamt bewertete den GdB zunächst mit 30, nach
Widerspruch der Klägerin mit Teil-Abhilfebescheid schließlich mit 40, wobei es bei der Klägerin eine seelische
Störung (Teil-GdB 30) und Migräne
(Teil-GdB 20) zuerkannte.
Transsexualität als körperliche
Behinderung
Hiergegen erhob die Klägerin Klage zum SG Karlsruhe (Az: S 1 SB
2040/08). Das Versorgungsamt habe
die Transsexualität nicht (ausreichend)
berücksichtigt. Aus der Transsexualität resultierten erhebliche körperliche
Behinderungen. Die Transsexualität
sei nach den „Anhaltspunkten für die
ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach
dem Schwerbehindertenrecht“ (AHP;
seit 01.01.2009 Versorgungsmedizinische Grundsätze (VG)) in Analogie
zu dem Verlust der Gebärmutter und
der Eierstöcke in jüngerem Lebensalter bei noch bestehendem Kinderwunsch mit einem Teil-GdB von 30 zu
bewerten. Für die Migräne sei ein weiterer Teil-GdB von 30 sowie für die
psychischen Behinderungen ein TeilGdB von 40 und ein Gesamt-GdB von
60 anzusetzen.
Das Versorgungsamt vertrat dagegen die Auffassung, die bei der Klägerin vorliegenden Funktionsstörungen
seien in vollem Umfang erfasst und
mit einem GdB von 40 angemessen
bewertet worden. Die Transsexualität
bedinge für sich allein keinen TeilGdB. Der GdB richte sich nach dem
organischen Ergebnis der geschlechtsumwandelnden Operation sowie den
damit verbundenen psychischen Auswirkungen. Hinsichtlich der Transsexualität könne kein für die Bewertung
des GdB maßgeblicher organischer
Befund festgestellt werden.
Allein psychische Folgen zu
berücksichtigen
Mit Gerichtsbescheid vom 10.07.
2009 stellte das SG bei der Klägerin
einen Gesamt-GdB von 50 fest und
wies die Klage im Übrigen ab. Die seelische Störung und die Depressionen
der Klägerin seien erhöhend mit einem
GdB von 40 zu bewerten. Die Migräne
sei zutreffend mit einem Teil-GdB von
20 festgelegt worden. Die Transsexualität sei dagegen nicht erhöhend zu berücksichtigen. Sie stelle keine eigenständige Funktionseinschränkung dar.
Mit dem Verlust beider Eierstöcke und
der Gebärmutter könne der körperliche Zustand der Klägerin ebenfalls
nicht gleichgestellt werden.
Rechtsprechung und rechtspraxis
Rech t s d i e n s t 3 / 2 0 1 0
Auch die dagegen erhobene Berufung hatte keinen Erfolg. Das LSG sah
keinen Anspruch auf Feststellung
eines GdB über 50 gegeben. Die Transsexualität nach Durchführung einer
geschlechtsanpassenden
Operation
sei für sich genommen keine eigenständige Funktionseinschränkung mit
Auswirkungen auf den GdB. Die Bewertungen der psychischen Folgen
und der Migräne seien zutreffend erfolgt. Der Gesamt-GdB sei angemessen festgestellt worden.
Keine Verletzung des Gleichbehandlungsgrundsatzes
Feststellung des Gesamt-GdB
angemessen
Selbst bei analoger Anwendung
der Verordnung und einer Bewertung
der Transsexualität mit einem TeilGdB von 20, käme eine Erhöhung des
Gesamt-GdB vorliegend nicht in Betracht. Die dann einschlägige Teil-Beeinträchtigung für den Verlust beider
Eierstöcke in Höhe von 10 habe sich
bereits in einem Teil-GdB für die psychische Beeinträchtigung von 40 niedergeschlagen, womit der Bewertungsspielraum nach Teil B Nr. 3. 7. der VG
bereits völlig ausgeschöpft sei.
Der körperliche Zustand der Klägerin sei auch nicht dem Verlust beider Eierstöcke und der Gebärmutter
gleichzustellen. Maßgeblich sei alleine, dass die medizinisch erfolgreich
und komplikationslos durchgeführte
geschlechtsangleichende
Operation
bei der Klägerin keine Gesundheitseinschränkung hinterlassen habe, die
bei der Bildung des Gesamt-GdB zu
berücksichtigen wäre. Dass die geschlechtsangleichende Operation den
körperlich anatomischen Zustand einer Frau nicht erreicht, stelle nach den
VG keine berücksichtigungsfähige Beeinträchtigung dar.
Auch der Gleichbehandlungsgrundsatz nach Art. 3 GG gebiete nicht, die
aufgrund falscher Geschlechtsidentität nach der medizinisch gebotenen
Therapiemaßnahme erfolgreich erreichte körperliche Verfassung rechtlich wie den körperlichen Behinderungszustand zu behandeln, der bei
normalbedingter Geschlechtsentwicklung eine GdB-Einstufung erlaube.
Anmerkung
Das LSG stellte in seinen Entscheidungsgründen anschaulich das richterliche Verfahren zur Feststellung des
101
Gesamt-GdB dar. Dabei geben die VG
als verbindliche Rechtsverordnung
des BMAS nach § 69 Abs. 1 Satz 5
SGB IX i. V. m. § 30 Abs. 17 Bundesversorgungsgesetz den Maßstab vor,
nach dem der GdB einzuschätzen ist
(vgl. dazu auch BSG, Urteil vom
30.09.2009 – Az: B 9 SB 4/08 R).
Nach § 69 Abs. 3 SGB IX ist bei
Vorliegen
mehrerer
Beeinträchtigungen der Teilhabe am Leben in der
Gesellschaft der GdB nach den Auswirkungen in ihrer Gesamtheit unter
Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen festzustellen.
Bildung des Gesamt-GdB
Bei mehreren Funktionsbeeinträchtigungen sind zunächst EinzelGdB zu bestimmen. Diese dürfen bei
der Bildung des Gesamt-GdB jedoch
nicht einfach addiert werden. Der Gesamt-GdB ist vielmehr unter Beachtung der VG in freier Beweiswürdigung sowie aufgrund richterlicher
Erfahrung unter Hinzuziehung von
Sachverständigengutachten zu bilden.
(Lg)
SGB XI
Voraussetzungen des Anspruchs auf zusätzliche
Betreuungsleistungen
BSG, Urteil vom 12.08.2010 – Az: B 3 P 9/09 R
Die 1957 geborene Klägerin, in
Pflegestufe II eingruppiert, beantragte
zusätzliche Betreuungsleistungen nach
§ 45b SGB XI. Sie machte geltend, dass
bei ihr einmal 14-täglich eine schwere
Unterzuckerung und einmal wöchentlich eine leichte Unterzuckerung aufträten, die die Klägerin selbst nicht bemerke und von ihrem Ehemann mit
Glukagon therapiert werden müssten.
Im Falle der Unterzuckerung gerate sie
in einen psychischen Zustand, in dem
Einsichtsfähigkeit und Steuerungsfähigkeit vollkommen aufgehoben seien.
Im MDK-Gutachten wurden bei der
Klägerin eine organische Persönlichkeitsstörung und ein Diabetes festgestellt. Aus dem Katalog des § 45a Abs.
2 SGB XI wurden sieben Merkmale bejaht, sobald eine episodische Unterzuckerung vorliege.
Persönlichkeitsstörung und
Diabeteserkrankung
Die beklagte Pflegekasse lehnte den
Antrag ab, da das MDK-Gutachten keine Einschränkung der Alltagskompetenz festgestellt habe, die auf einer demenzbedingten Fähigkeitsstörung, psychischen Erkrankung oder geistigen
Behinderung beruhten. Zwar gebe es
einen Beaufsichtigungsbedarf wegen
der Gefahr der Unterzuckerung, jedoch
sei dieser auf die bestehende Diabeteserkrankung zurückzuführen und damit
als Folge der somatischen Erkrankung
hier leistungsrechtlich nicht beachtlich.
Beeinträchtigung der Alltagskompetenz nur aufgrund des Diabetes
Klage und Berufung blieben erfolg-
los. Das LSG Rheinland-Pfalz (Urteil
vom 18.12.2008 – Az: L 5 P 12/08)
schloss sich der Auffassung des SG
Koblenz und der Pflegekasse an. Zwar
bestehe bei der Klägerin eine hirnorganische Persönlichkeitsstörung (=
psychische Erkrankung), die aber
nicht dazu führe, dass eine Fähigkeitsstörung oder dauerhafte und regelmäßige Schädigung nach § 45a Abs. 2 Nr.
1 bis 13 SGB XI vorliege. Dass die Folgen der Unterzuckerung durch die
Persönlichkeitsstörung verstärkt würden, reiche für eine Zuordnung zum
Personenkreis nach § 45a SGB XI
nicht aus. Die Persönlichkeitsstörung
alleine führe zu keinerlei Schädigungen und Fähigkeitsstörungen und
begründe mithin keine erhebliche Einschränkung der Alltagskompetenz im
Sinne von § 45a SGB XI.
102
Rechtsdienst 3/2010
Rechtsprechung und rechtspraxis
Auch die eingelegte Revision wurde abgewiesen. Das BSG führt aus, die
Bejahung maßgeblicher Items im Assessment nach § 45a Abs. 2 SGB XI sei
auf die gelegentliche Unterzuckerung
der Klägerin zurückzuführen, nicht
aber auf eine demenzbedingte Funktionsstörung, geistige Behinderung oder
psychische Erkrankung. Im Übrigen
sei die Einschränkung der Alltagskompetenz auch nicht regelmäßig,
weil die Unterzuckerung nur an einzelnen Tagen auftrete.
(erhöhter Betrag), wenn die Voraussetzungen von § 45a SGB XI vorliegen. Danach müssen bei der pflegebzw. hilfebedürftigen Person demenzbedingte Fähigkeitsstörungen, eine geistige Behinderung oder psychische
Erkrankung vorliegen, als deren Folge
eine erhebliche Einschränkung der
Alltagskompetenz eingetreten ist. Erheblich wird in § 45a Abs. 2 Satz 2
SGB XI als dauerhafte und regelmäßige Schädigung oder Funktionsstörung definiert.
Anmerkung
Nur sporadischer Betreuungsbedarf
genügt nicht
Nach § 45b SGB XI haben Versicherte Anspruch auf zusätzliche Betreuungsleistungen in Höhe von 100
Euro (Grundbetrag) bzw. 200 Euro
Mit seinem Urteil stellt das BSG
klar, dass auch bei Vorliegen einzelner
Merkmale nach § 45a Abs. 2 Satz 1
SGB XI diese kausal durch eine demenzbedingte Funktionsstörung, geistige Behinderung oder psychische
Erkrankung verursacht sein müssen.
Damit begrenzt das Gericht den leistungsberechtigten Personenkreis und
schafft Rechtssicherheit.
Nach den Richtlinien des Spitzenverbandes Bund der Pflegekassen vom
10.06.2008 bedeutet regelmäßig, dass
der Beaufsichtigungs- und Betreuungsbedarf grundsätzlich täglich anfallen muss. Abzustellen ist dabei auf
die auftretende Schädigung bzw. Fähigkeitsstörung (hier die Unterzuckerungszustände) und nicht auf die tatsächlich notwendige tägliche Kontrolle, ob ein Therapiebedarf überhaupt besteht. (Lg)
SGB XI
Bemessung des Zeitaufwands bei Toilettengängen im Heim
BSG, Urteil vom 10.03.2010 – Az: B 3 P 10/08 R
Die in einem Altenheim betreute
Klägerin begehrte die Höherstufung in
die Pflegestufe II der Pflegeversicherung nach § 43 Abs. 5 Satz 1 Nr. 2
SGB XI (seit 01.07.08: § 43 Abs. 2 Satz
2 Nr. 2 SGB XI). Das LSG hatte den
Hilfebedarf für das Gehen nur insoweit anerkannt, als die Wege zu und
von der Toilette, zu und von den
Mahlzeiten sowie beim Zubettgehen
zu berücksichtigen waren und hatte
die dabei benötigte Hilfe nicht auf eine
volle Minute pro Wegstrecke aufgerundet.
konkret erforderlich sei. Dabei hänge
die Ermittlung des maßgeblichen Zeitaufwands jedoch nicht nur vom individuellen Gehvermögen des Pflegebedürftigen ab, sondern auch von den
örtlich-räumlichen Verhältnissen. Maßgeblich seien die in einer Wohnung
üblicherweise zurückgelegten Wegstrecken. Fehle eine häusliche Umgebung bei einer dauerhaften Betreuung
in einem Heim, müsse der Pflegebedarf mangels anderer Anhaltspunkte
auf Grundlage pauschalierter Wegstrecken im Heim festgestellt werden.
Auch bei Heimpflege
zählt Pflegebedarf in
häuslicher Umgebung
Aufrundung
auf Minutenleistungen im
Tagesdurchschnitt
Das BSG wies die dagegen eingelegte Revision zurück.
Bei stationärer Pflege sei grundsätzlich der Pflegebedarf in häuslicher
Umgebung zugrunde zu legen, so dass
für die Hilfe beim Gehen die Hilfe
durch eine nicht als Pflegekraft ausgebildete, durchschnittliche Pflegeperson zu berücksichtigen sei. Entscheidend sei der individuelle, sachlich
begründete Bedarf aus Sicht des zu
Pflegenden, wobei sich das Ausmaß
der Pflegebedürftigkeit nicht pauschal
nach Krankheitsbildern oder Funktionsstörungen ausrichte, sondern danach, welcher Zeitaufwand in Bezug
auf den individuellen Pflegebedarf
Für den tatsächlichen Hilfebedarf
hatte das LSG, für das BSG als Tatbestandsfeststellung bindend, für eine
Wegstrecke von acht Metern zur Toilette eine halbe Minute angenommen,
und diesen Betrag nicht auf eine Minute aufgerundet. Zwar sei in den Begutachtungsrichtlinien der Spitzenverbände der Pflegekassen, die das BSG
als Verwaltungsbinnenrecht anerkennt, in Teil F – Orientierungswerte
zur Pflegezeitbemessung – vorgesehen,
dass „für jede Verrichtung der Grundpflege stets die vollen Minutenwerte
anzugeben“ seien. Diese Formulierung
sei aber so zu verstehen, dass für jede
der in § 14 Abs. 4 SGB XI genannten
Verrichtungen in der jeweiligen Summe und bezogen auf den Tagesdurchschnitt volle Minutenwerte anzugeben
seien. Für die Einzelvorgänge, die dieser Verrichtung zuzuordnen seien,
müssten jedoch die nicht aufgerundeten Minutenwerte erhoben werden.
Eine Rundung bereits bei jeder Einzeltätigkeit führe zu einer erheblichen
Ungenauigkeit, und wäre nicht mit der
gesetzlichen Vorgabe vereinbar, den
Pflegebedarf einzelfallbezogen so genau wie möglich festzustellen. Zwar
läge der Schätzung durch den Medizinischen Dienst immer eine gewisse
subjektive Unschärfe zugrunde, die
aber nicht durch Rundungsschritte bereits bei jeder einzelnen Hilfeleistung,
sondern erst beim Tagesdurchschnitt
erweitert werden dürfe.
Anmerkung
Die neuen Begutachtungsrichtlinien vom 08.06.2009 sind mit Hinweisen für die rechtliche Überprüfung der
Begutachtung in der 8. Neuauflage der
Schrift „Richtig begutachten - gerecht
beurteilen“ von Wendt, Stand Januar
2010, enthalten. Diese Schrift ist nicht
über den Buchhandel, sondern nur
über den Verlag der Lebenshilfe unter
www.lebenshilfe.de zu beziehen. (We)
Rech t s d i e n s t 3 / 2 0 1 0
Rechtsprechung und rechtspraxis
103
SGB XI
Verbesserung des individuellen Wohnumfeldes auch im
betreuten Wohnen möglich
LSG Schleswig-Holstein, Urteil vom 13.03.2009 – Az: L 10 P 11/08
Die Beteiligten streiten über die
Gewährung eines finanziellen Zuschusses für eine Maßnahme zur Verbesserung des individuellen Wohnumfeldes des 2007 verstorbenen Vaters
des Klägers. Der Vater erhielt
Leistungen der Pflegestufe I.
Seit Ende Mai 2007 bewohnte der
Vater des Klägers eine Wohnung in einer Altenwohnanlage, in der die Arbeiterwohlfahrt (AWO) eine ServiceEinrichtung (Servicehaus) betreibt.
Diejenigen Mieter, die eine Wohnung
in diesem Haus bezogen, waren nach
dem Mietvertrag verpflichtet, die Serviceleistungen der AWO in Anspruch
zu nehmen und mit ihr einen Betreuungsvertrag abzuschließen.
Bereits im März 2007 hatte der Vater die Gewährung eines Zuschusses
zum barrierefreien Badumbau seiner
angemieteten Wohnung im Servicehaus als Maßnahme zur Verbesserung
des individuellen Wohnumfeldes nach
§ 40 Abs. 4 Satz 1 SGB XI beantragt,
welche im Mai 2007 auch durchgeführt wurde. Die Beklagte lehnte mit
Bescheid vom 31.05.2007 die Zuschussgewährung ab. Eine Zuschussgewährung könne nach dem Gemeinsamen Rundschreiben der Spitzenverbände der Pflegekassen vom
10.10.2002 lediglich zur Verbesserung
des Wohnumfeldes in der Wohnung
oder in dem Haushalt des Pflegebedürftigen erfolgen. In Alten- und Pflegeheimen sowie in Wohnungseinrichtungen, die vom Vermieter gewerbsmäßig nur an Pflegebedürftige vermietet werden, liege eine Wohnung
bzw. ein Haushalt in oben beschriebenem Sinne nicht vor.
Die nach erfolglosem Widerspruchsverfahren erhobene Klage vor
dem SG Kiel hatte Erfolg, die von der
beklagten Pflegekasse eingelegte Berufung zum LSG blieb erfolglos.
Die Beklagte habe die Zuschussgewährung nicht allein wegen der Lage
der Wohnung in einem sog. Servicehaus der AWO und damit in einer betreuten Wohneinrichtung versagen
dürfen.
Die Frage, ob das individuelle
Wohnumfeld des Vaters des Klägers betroffen gewesen sei, unterliege nämlich
nicht dem in § 40 Abs. 4 Satz 1 SGB XI
normierten Ermessen der Beklagten.
Vielmehr handele es sich um einen unbestimmten Rechtsbegriff, der durch
das Gericht voll überprüfbar sei.
Leistungen nach § 40 SGB XI nur im
stationären Bereich ausgeschlossen
Nach der Rechtsprechung des BSG
beschränke sich die Regelung des § 40
Abs. 4 Satz 1 SGB XI nicht darauf,
dass nur der behindertengerechte Umbau von normal ausgestatteten Wohnungen bezuschusst werde, die der
Pflegebedürftige bereits bewohne.
Vielmehr werde generell die Vermeidung der Pflege in einem Pflegeheim
bezweckt. Der Begriff des „individuellen Wohnumfeldes“ sei daher nicht
auf die vorhandene Wohnung begrenzt, sondern umfasse – in Abgrenzung zum dauerhaften Aufenthalt in
einer stationären Einrichtung – jedes
Wohnen in einem privaten häuslichen
Bereich.
Zwar biete die AWO im vorliegenden Fall einen Grund- und Wahl-
service an. Jedoch mache dies die
Wohnung nicht zu einem Pflegeheim.
Bei der vom Vater des Klägers in Anspruch genommenen Wohnform des
Betreuten Wohnens handele es sich
nicht um einen dauerhaften Aufenthalt in einer stationären Einrichtung.
Das LSG bestätigte das Urteil des
SG, wonach die Pflegekasse den Antrag des Klägers unter Ausübung
pflichtgemäßen Ermessens nach § 39
Abs. 1 SGB I neu zu bescheiden habe.
Die Revision wurde nicht zugelassen.
Anmerkung
Mit diesem erfreulichen Urteil
stellt das LSG klar, dass auch in einer
betreuten Wohnform grundsätzlich
ein Anspruch auf bis zu 2.557 Euro
für Umbaumaßnahmen als Maßnahme zur Verbesserung des individuellen Wohnumfeldes besteht. Unstreitig war zwischen den Parteien, dass es
sich bei dem barrierefreien Badumbau um eine Maßnahme nach § 40
Abs. 4 Satz 1 SGB XI handelt, für die
die Pflegekasse zuständig ist (vgl. zur
Abgrenzung zu den Hilfsmitteln nach
SGB V den Beitrag in RdLh 1/10,
S. 16). (Lg)
SGB XII
Zum Verfahren der Festsetzung eines
Kostenbeitrags für die Eingliederungshilfe
BSG, Urteil vom 23.03.2010 – Az: B 8 SO 12/08 R
Die geistig behinderte Klägerin
wird seit 1994 vollstationär betreut,
seit 2004 auch in einer WfbM. Mit der
Aufnahme wurde in dem Leistungsbescheid die Heranziehung zu einem
Kostenbeitrag aus dem Werkstatteinkommen in nicht benannter Höhe an-
gekündigt. Die Klägerin erhielt im Mai
2005 eine Unterhaltsnachzahlung von
3.052 Euro und ab April 2004 einen
laufenden Unterhalt von 282 Euro.
Mit Bescheid vom 16.04.2005 forderte
der beklagte Sozialhilfeträger diese
Unterhaltszahlungen als Kostenbei-
104
Rechtsdienst 3/2010
Rechtsprechung und rechtspraxis
trag für die Eingliederungshilfe ein.
Klage und Berufung der Klägerin
blieben erfolglos. Mit der Revision
machte die Klägerin geltend, der Kostenbeitrag dürfe 26 Euro nicht übersteigen, weil der Vater aufgrund der
Regelung in § 94 Abs. 2 SGB XII keinen höheren Unterhaltsbeitrag für die
Eingliederungshilfe leisten müsse.
Neufestsetzung eines Kostenbeitrags
setzt Aufhebung des vorangegangenen Bescheids voraus
Das BSG gab der Revision statt.
Der
Heranziehungsbescheid
sei
rechtswidrig, weil die Voraussetzungen für die Rücknahme eines bestandskräftigen Bescheids (Leistungsbescheid von 2004) nicht vorlägen.
Obwohl eine Rücknahme nicht
ausdrücklich ausgesprochen sei, käme
§ 45 SGB X zur Anwendung. Der teilweise zurückzunehmende Verwaltungsakt betreffe den Leistungsbescheid von 2004, in dem lediglich aus
dem Werkstatteinkommen ein Kostenbeitrag eingezogen werden sollte. Einkünfte der Klägerin außerhalb des
Werkstattbereichs seien von diesem
Bescheid nicht erfasst. Solche Einkünfte würden erst mit dem Heranziehungsbescheid von 2005 angesprochen. Dieser Bescheid ändere also
durch eine höhere Belastung den
früheren, bestandskräftigen Bescheid
von 2004 ab. Dieser begünstigte die
Klägerin insoweit, als er das zu diesem
Zeitpunkt bereits gewährte Einkommen aus Unterhalt nicht erfasste.
Die Voraussetzungen für seine
Rücknahme nach § 45 Abs. 1 SGB X
seien nicht erfüllt. Der Beklagte habe
die Anforderungen einer Rücknahme
nicht erkannt. Unerheblich sei, ob die
Klägerin den Beklagten vorsätzlich
oder grob fahrlässig nicht über die Unterhaltspflicht des Vaters informiert
habe. Dies wäre allein dafür von Bedeutung, ob der ändernde Bescheid
mit Wirkung für die Vergangenheit
oder nur für die Zukunft hätte erlassen werden dürfen (§ 45 Abs. 1 letzter
Halbsatz, Abs. 2 Satz 3 Nr. 2, Abs. 4
Satz 1 SGB X).
Tatsächlich gezahlter Unterhalt kann
als Einkommen herangezogen werden
Auf die von der Klägerin aufgeworfene Frage, ob ein höherer Kostenbeitrag als 26 Euro überhaupt mit Art. 3
Abs. 1 GG zu vereinbaren sei, da die
Unterhaltspflicht in diesen Fällen gegenüber dem Sozialhilfeträger gesetzlich begrenzt sei, komme es ebenso
wenig an, wie darauf, ob der Beklagte
die Klägerin mit Rücksicht auf das Zuflussprinzip (BSG SozR 4-3500 § 83
Nr. 5 Rn. 14) für die Zeit vor der ersten
Zahlung des Einmalbetrags für rückständigen Unterhalt überhaupt hätte
heranziehen dürfen.
Allerdings wies der Senat darauf
hin, dass der betragsmäßig begrenzte,
von Gesetzes wegen übergegangene
Unterhaltsanspruch nach § 94 Abs. 2
SGB XII nicht mit dem tatsächlich geleisteten, höheren Unterhalt vergleichbar sei, der als Einkommen der Klägerin nach § 92 a Abs. 2 SGB XII
herangezogen werden könne.
Anmerkung
Aus dieser Entscheidung wird
deutlich, dass die Sachbearbeiter der
Sozialhilfe oft nicht die Regeln des
Verwaltungsverfahrensrechts beherrschen, wonach bei dem Erlass eines
Verwaltungsakts geprüft werden muss,
welche Verwaltungsakte in gleicher
Sache bereits zuvor ergangen sind, die
ggf. aufgehoben werden müssen. Offensichtlich haben aber auch die beiden Vorinstanzen diesen Sachverhalt
übersehen.
In diesem Fall lag der Fehler des
Beklagten bereits darin, dass versäumt
worden ist, den gesetzlichen Forderungsübergang für den Unterhalt
rechtzeitig bekannt zu geben. Dann
hätte der Sozialhilfeträger aus dem
Unterhaltsurteil zumindest den Unterhalt in Höhe von 26 Euro geltend machen können. Wegen der gesetzlichen
Begrenzung des Unterhaltsbetrags
hätte der Vater dann auf dem Zivilrechtsweg eine Abänderung des Unterhaltstitels beantragen können (vgl.
OLG Köln, RdLh 4/06, 182 ff., m. Anmerkung Wendt). (We)
SGB XII
Kein Erstattungsanspruch des ambulanten Pflegedienstes
nach Tod des Pflegebedürftigen
BSG, Urteil vom 13.07.2010 – Az: B 8 SO 13/09 R
Der Kläger betreibt einen ambulanten Pflegedienst. Die Beteiligten
streiten über die Übernahme weiterer
Kosten, die dem Kläger für die ambulante Pflege der 2006 verstorbenen
Hilfeempfängerin im Jahr 2005 entstanden sind.
Der beklagte Sozialhilfeträger hat
der Verstorbenen Hilfe zur Pflege bewilligt. Die Verstorbene legte Widerspruch ein, weil ein höherer Pflegebedarf als bewilligt bestehe. Nach dem
Tod der Hilfeempfängerin zeigte der
Kläger unter Hinweis auf § 19 Abs. 6
SGB XII seinen Eintritt in das durch
die Verstorbene eingeleitete Widerspruchsverfahren an und beantragte die
Übernahme noch ungedeckter Kosten
für bereits erbrachte Pflege der Verstorbenen in Höhe von 14.000 Euro.
Ambulanter Pflegedienst ist keine
Einrichtung
Nachdem der Beklagte mit Bescheid gegenüber dem Kläger weitere
Pflegekosten in Höhe von fast 3.000
Euro zugebilligt hatte, wies er den Widerspruch zurück, weil § 19 Abs. 6
SGB XII nur Einrichtungen, die Leistungen an Verstorbene erbracht hät-
ten, einen Anspruch unmittelbar gegen
den Sozialhilfeträger zubillige. Der Kläger betreibe indes einen ambulanten
Pflegedienst, für den § 19 Abs. 6 SGB
XII keine Anwendung finde. Klage
und Berufung blieben ohne Erfolg.
Auch die Revision des Klägers
blieb erfolglos. Das BSG schloss sich
der Auffassung der Vorinstanzen an,
dass § 19 Abs. 6 SGB XII auf ambulante Pflegedienste weder unmittelbar
noch analog Anwendung finde. Ein
ambulanter Pflegedienst falle nicht unter den Begriff der „Einrichtung“ nach
§ 19 Abs. 6 SGB XII.
Rech t s d i e n s t 3 / 2 0 1 0
Anmerkung
Rechtsprechung und rechtspraxis
105
Das BSG bestätigt damit seine
Rechtsprechung,
dass
ambulante
Dienste nicht unter den Einrichtungsbegriff fallen.
genheit gewährt werden können. Davon macht § 19 Abs. 6 SGB XII eine
Ausnahme, und überträgt den Anspruch auf den Leistungserbringer, um
dessen Kosten für die tatsächlich bereits erbrachte Pflege zu decken.
2 SGB XII komme lediglich bei der
zweiten Alternative überhaupt zur Anwendung. In jedem Fall würden ambulante Pflegedienste keine Leistungen
für Einrichtungen, sondern immer außerhalb von Einrichtungen erbringen.
Grundsätzlich gehen Ansprüche
gegen den Sozialhilfeträger mit dem
Tod der leistungsberechtigten Person
unter. Dies folgt aus dem Bedarfsdeckungsprinzip, nach dem Leistungen
der Sozialhilfe nicht für die Vergan-
Bereits das LSG stellte jedoch klar,
dass § 13 Abs. 1 SGB XII eine Differenzierung zwischen Leistungen außerhalb von Einrichtungen und
Leistungen für Einrichtungen enthält.
Der Einrichtungsbegriff des § 13 Abs.
Bei einem teil- oder vollstationären
Aufenthalt gehen dagegen nach dem
Tod des Pflegebedürftigen die Ansprüche für bereits erbrachte Pflegeleistungen gegen den Sozialhilfeträger auf
den Träger der Einrichtung über. (Lg)
SGB XII
Zulässigkeit einer Schenkungsrückforderung bei
Grundsicherungsbezug
BSG, Urteil vom 02.02.2010 – Az: B 8 SO 21/08 R
Das beklagte Sozialamt lehnte einen im Juni 2003 gestellten Antrag auf
Grundsicherung im Alter des 1927 geborenen Klägers ab, da er einen Schenkungsrückforderungsanspruch in Höhe
von 21.000 DM aus dem Jahr 1998 gegen seinen Sohn habe, dem er diesen
Betrag schenkungsweise zur Tilgung
eines Darlehens überlassen habe.
Klage und Berufung blieben ohne
Erfolg. Mit der Revision rügte der Kläger einen Verfahrensfehler, da das
LSG zu Unrecht seinem Beweisantrag
nicht stattgegeben habe, seinen Sohn
und seine Schwiegertochter dazu zu
hören, dass sein Sohn nicht ohne Gefährdung seines eigenen, standesgemäßen Unterhalts imstande gewesen
sei, den angeblich gegen ihn bestehenden
Schenkungsrückforderungsanspruch zu erfüllen.
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Dieses Vorbringen sah das BSG als
berechtigt an, und verwies den Rechtsstreit zu erneuten Verhandlung an das
LSG NRW zurück.
Ein Schenkungsrückforderungsanspruch sei entgegen der Ansicht des
LSG keine eigenständige Ausschlussnorm für den Bezug von Hilfe zum Lebensunterhalt, sondern setze die zusätzliche Überprüfung der ergänzenden und konkretisierenden Vorschriften des SGB XII zur Bedarfsprüfung
voraus. Das LSG habe daher verfahrensfehlerhaft gehandelt, als es den
Beweisantrag des Klägers auf Vernehmung seines Sohnes und seiner Frau
als unzulässigen Ausforschungsbeweis
abgelehnt habe. Der Sohn könnte
nach § 529 BGB eine Einrede erheben, nach der die Herausgabe des Ge-
schenks ausgeschlossen sei, soweit der
Beschenkte bei Berücksichtigung seiner sonstigen Verpflichtungen außerstande sei, das Geschenk herauszugeben, ohne dass sein standesgemäßer
Unterhalt oder die Erfüllung der ihm
kraft Gesetzes obliegenden Unterhaltspflichten gefährdet sei. Der Kläger habe eine Erklärung seines Sohnes
vorgelegt, wonach dieser dem Vater
Kost und Pflege in Gestalt von Naturalleistungen ohne Anerkennung einer
Verpflichtung nur unter Vorbehalt
eines Erstattungsverlangens bis zur
rückwirkenden Bewilligung von Leistungen zum Lebensunterhalt durch
den Sozialhilfeträger erbracht habe.
Daher hätte das LSG die Höhe des Bedarfs des Klägers und die Höhe der
Sachleistungen, die von dem Sohn erbracht wurden, feststellen müssen. (We)
106
Rechtsdienst 3/2010
Rechtsprechung und rechtspraxis
SGB XII
Zulässigkeit der Überleitung von Steuererstattungen durch
den Sozialhilfeträger
BSG, Urteil vom 02.02.2010 – Az: B 8 SO 17/08 R
Der Kläger und seine Ehefrau bezogen vom 15.06.2000 bis zum
31.12.2004 laufende Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem Bundessozialhilfegesetz (BSHG). Bei der Antragstellung
gaben
sie
an,
dass
Geldforderungen gegen das Finanzamt in Höhe von 1.236.707 DM in
einem Gerichtsverfahren anhängig
seien. In Höhe der geleisteten Sozialhilfe für den Kläger und seine Ehefrau
von 29.485 Euro leitete das Sozialamt
den Erstattungsanspruch gegen das Finanzamt auf sich über, und erhielt den
Betrag nach Abschluss des Rechtsstreits ausgezahlt.
Widerspruch, Klage und Berufung
des Klägers blieben erfolglos.
Mit seiner Revision rügte der Kläger eine Verletzung rechtlichen Gehörs sowie die Verletzung von § 24
SGB X und § 11 BSHG.
Das BSG sah die Revision im Sinne
einer Zurückverweisung an das LSG
BW zur erneuten Verhandlung als begründet an, da das Verfahren an einem
von Amts wegen zu berücksichtigenden Verfahrensmangel leide. Eine
notwendige Beiladung der Ehefrau
nach § 75 Abs. 2, Alt.1 SGG sei nicht
erfolgt, obwohl die Entscheidung den
Kläger und seine Ehefrau als Gesamtgläubiger gegenüber dem Finanzamt
betreffe. Von einer Nachholung der
Beiladung im Revisionsverfahren ge-
mäß § 168 Satz 2 SGG habe der Senat
abgesehen, da die Rechtmäßigkeit der
streitbefangenen Überleitungsverfügung ohne Berücksichtigung der
Rechtsposition der Ehefrau erfolgt sei,
und damit das Ermessen nach § 90
Abs.1 Satz 1 BSHG rechtsfehlerhaft
ausgeübt worden sei. In diesem Zusammenhang müsse das LSG prüfen,
ob die Überleitungsanzeige hinreichend bestimmt gewesen sei (§ 33
Abs. 1 SGB X).
Anmerkung
Die Rechtsvorschrift des § 90
BSHG entspricht heute § 93 SGB XII.
(We)
SGB XII
Fachkraft als Integrationshelferin in Regelschule bejaht
Sächsisches LSG, Beschluss vom 03.06.2010 – Az: L 7 SO 19/09 B ER
Die Antragsgegnerin ist sehbehindert und leidet an einer Muskelschwäche. Das Regionalschulamt stellte
2001 einen sonderpädagogischen Förderbedarf im Sinne der Sächsischen
Blindenschule fest. Einer integrativen
Beschulung in der bisher besuchten
Montessorischule werde zugestimmt,
solange dem erforderlichen sonderpädagogischen Bedarf Rechnung getragen werde.
2006 gab die Beratungsstelle der
Sächsischen Blindenschule die Einschätzung ab, dass ein Verbleib an der
Montessorischule nur mit einem Integrationshelfer möglich sei.
Für das Schuljahr 2006/2007 übernahm der Sozialhilfeträger Kosten für
einen Integrationshelfer für 26,5 Stunden wöchentlich bei einem Stundensatz von 29,27 Euro. Für 2007/2008
bewilligte er im Ergebnis eine Kostenübernahme für wöchentlich 30 Stunden, jedoch lediglich für eine Hilfskraft in Höhe von sieben Euro pro
Stunde für den nicht sonderpädagogischen Bedarf.
Abgrenzung des sonderpädagogischen vom Eingliederungsbedarf ?
Im ablehnenden Widerspruchsbescheid führte der Sozialhilfeträger aus,
dass die pädagogischen Maßnahmen
im Sinne des Bildungsauftrages in den
Verantwortungsbereich der Regelschule fielen und für die Eingliederungshilfe nur Assistenzdienste in Betracht
kommen
würden.
Der
Sozialhilfeträger entscheide über den
Hilfebedarf in eigener Verantwortung.
Der sonderpädagogische Bedarf sei
von dem behinderungsbedingten Eingliederungsbedarf
abzugrenzen.
Grundsätzlich sei es nicht Aufgabe der
Sozialhilfe, die sonderpädagogische
Förderung behinderter Schüler zu finanzieren. Für die Wahrnehmung des
vom Sozialhilfeträger abzudeckenden
Bedarfs sei keine sonderpädagogische
Fachkraft erforderlich. Gegen den Wi-
derspruchsbescheid erhob die Beschwerdegegnerin Klage zum SG
Dresden (Az: S 19 SO 45/08), über die
noch nicht entschieden ist.
Im Eilverfahren verpflichtete das
SG
Dresden
(Beschluss
vom
11.02.2009, Az: S 19 SO 53/08) den
Sozialhilfeträger für das Schuljahr
2008/2009 die Kosten für eine Integrationshelferin als Fachkraft im beantragten Umfang von 34,5 Stunden zu
einem Stundensatz von 28,27 Euro zu
übernehmen. Das im sächsischen
Schulrecht eröffnete Wahl- und Bestimmungsrecht für eine integrative
Beschulung wirke auf das Sozialhilferecht ein. Es könne daher nicht eingewendet werden, dass die Kosten bei
einer Beschulung durch eine Förderschule nicht angefallen wären.
In seiner dagegen erhobenen Beschwerde führte der Sozialhilfeträger
aus, das SG habe versäumt, den sonderpädagogischen Bedarf abzugren-
Rech t s d i e n s t 3 / 2 0 1 0
zen, für dessen Erfüllung die Schule
zuständig sei.
Sozialhilfeträger an Vorgaben der
Schulbehörde gebunden
Das LSG sah demgegenüber einen
Anspruch der behinderten Schülerin
dem Grunde nach, jedoch nur für 30
statt beantragter 34,5 Stunden, als gegeben an. Die Gewährung eines Integrationshelfers sei nach § 54 Abs. 1
Satz 1 Nr. 1 SGB XII i. V. m. § 12 Nr.
1 Eingliederungshilfe-Verordnung als
Hilfe zu einer angemessenen Schulbildung von der Eingliederungshilfe umfasst. Die Sozialhilfeträger seien dabei
an die Entscheidung der Schulverwaltung gebunden und könnten nicht
selbständig auf den Besuch einer Sonder- oder Förderschule verweisen.
Landesschulrechtliche Regelung
vorrangig
Die Beschulung behinderter Kinder sei nach § 2 SchlVO ff. (sächsische
Schulintegrationsverordnung) dahin
näher geregelt, dass Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf zu-
Rechtsprechung und rechtspraxis
sammen mit nichtbehinderten Schülern integrativ in einer öffentlichen
Schule unterrichtet werden können,
solange gewährleistet sei, dass sie in
dieser Schule die erforderliche Förderung erhalten. Die behinderte Schülerin habe demnach einen Anspruch auf
eine Integrationshelferin mit pädagogischer Qualifikation im Umfang von
30 Wochenstunden.
Anspruch auf Fachkraft
Auf eine Nichtfachkraft müsse sie
sich dabei nicht verweisen lassen. § 54
Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB XII liefere keinen Anhaltspunkt dafür, dass die vom
Sozialhilfeträger zu leistenden Hilfen
zu einer angemessenen Schulbildung
auf den nichtpädagogischen Bereich
begrenzt seien. Die Ansicht des Sozialhilfeträgers widerspreche auch Art.
24 Abs. 2b der UN-Behindertenrechtskonvention, wonach Menschen mit
Behinderungen gleichen Zugang zu
integrativem, hochwertigem und unentgeltlichem Unterricht haben. Auch
auf den Grundsatz des Nachranges der
Sozialhilfe nach § 2 Abs. 1 SGB XII
könne sich die Antragstellerin nicht be-
107
rufen, da die Montessorischule deutlich
gemacht habe, dass sie die erforderliche
Beschulung nicht leisten könne.
Anmerkung
Das LSG bejahte den Anspruch lediglich für 30 Stunden, da die Montessorischule in einer Stellungnahme davon ausging, dass bei einer Hilfe in
diesem Zeitumfang weiterhin eine integrative Beschulung möglich sei. Für
die Praxis ist es daher sinnvoll, hier
eine Übereinstimmung zwischen den
von der Schule empfohlenen und den
beantragten Stunden herzustellen, um
einer Teilabweisung und möglichen
Kostentragung (hier 1/5) im gerichtlichen Verfahren zu entgehen.
Auch das sächsische LSG stellte
klar: Soweit eine landesrechtliche Regelung diesbezüglich besteht, hat der
Sozialhilfeträger keinen Einfluss auf
die Wahlmöglichkeit zwischen dem
Besuch einer Regel- und einer Förderschule. Nach sächsischem Schulrecht
(§ 2 Abs. 2 SchIVO) trifft diese Entscheidung die Schulbehörde nach Anhörung der Eltern. (Lg)
SGB XII
Ferienfreizeiten als Leistung der Eingliederungshilfe bei
ambulanter Betreuung?
LSG NRW, Urteil vom 17.06.2010 – Az: L 9 SO 163/10
Die Beteiligten streiten über die
Übernahme der Kosten für eine Ferienfreizeit.
Der 1965 geborene Kläger ist geistig behindert. Ihm ist ein GdB von 80
sowie die Merkzeichen B, G, H und
RF zuerkannt. Der Kläger, der im ambulant betreuten Wohnen lebt, verfügt
über eine Rente von monatlich ca. 716
Euro. Aus seiner Tätigkeit in einer
Werkstatt für behinderte Menschen
(WfbM) bezieht er ein Gehalt in Höhe
von etwa 100 Euro monatlich.
Erstmalig Anfang 2008 stellte der
Kläger einen Antrag auf Übernahme
der Kosten einer Ferienfreizeit. Der
beklagte Sozialhilfeträger lehnte die
Kostenübernahme mit der Begründung ab, dass die Teilnahme an einer
Ferienfreizeit im Rahmen des ambulant betreuten Wohnens nicht notwendig sei. Widerspruch und Klage hatten
keinen Erfolg.
Im Januar 2009 stellte der Kläger
einen neuen Antrag auf Kostenübernahme für eine Ferienfreizeit im Sommer 2010. Auch diesen Antrag lehnte
der Sozialhilfeträger ab. Seiner Auffassung nach dienen Ferienfreizeiten
dazu, behinderten Menschen ausreichende Kontakte zu nicht behinderten
Menschen außerhalb von Einrichtungen zu ermöglichen. Der Kläger,
der ambulant betreut werde, habe ausreichend Möglichkeiten, seine Freizeit
mit nicht behinderten Menschen zu
verbringen.
Leistungen der sozialen Teilhabe bei
ambulanter Betreuung
Im erfolglosen Widerspruchsverfahren hat der Kläger vorgetragen, die
im Rahmen des ambulanten betreuten
Wohnens gewährte Hilfe sei in erster
Linie darauf gerichtet, ihm zu ermöglichen, sich in einer Wohnung allein zurecht zu finden. Die Hilfen zum ambulant betreuten Wohnen böten nicht die
Möglichkeit, in einer Gruppe für ein
paar Tage hintereinander am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben.
Die sich anschließende Klage zum
Sozialgericht hatte Erfolg:
Das SG Gelsenkirchen hat den Sozialhilfeträger zur Kostenübernahme
einer Ferienfreizeit verurteilt. Durch
die Urlaubsreise könne die Aufgabe
der Eingliederungshilfe erfüllt werden.
Mehrtägige Gruppenreisen förderten
und stärkten die Integration des behinderten Menschen in die Gesellschaft und entwickelten seine vorhandenen Fähigkeiten zielgerichtet weiter.
Der Zweck der Eingliederungshilfe,
dem Kläger Kontakt zu anderen Menschen, Geselligkeit und kulturelle Er-
108
Rechtsdienst 3/2010
Rechtsprechung und rechtspraxis
lebnisse nahe zu bringen, könne durch
die Ferienfreizeit erreicht werden.
Nicht ausreichend sei es, wenn ein
Mensch mit Behinderung ein Gemeinschaftsgefühl lediglich im Rahmen der
Arbeit in einer Behindertenwerkstatt
erlebe. Auch könne der Kläger nicht
auf die Bewilligung der Hilfe zum ambulant betreuten Wohnen verwiesen
werden. Die ambulante Betreuung
stelle die soziale Rehabilitation nicht
ausreichend sicher. Schließlich könne
der Bedarf des Klägers auch nicht
durch (Tages-) Ausflüge in die nähere
Umgebung befriedigt werden, weil diese nicht in gleicher Weise wie eine Ferienfreizeit zur Zielerreichung geeignet seien (Urteil vom 22.02.2010 – Az:
S 8 SO 52/09).
Gegen dieses Urteil hat der Sozialhilfeträger erfolgreich Berufung eingelegt:
Nach Ansicht des LSG NRW hat
der Kläger keinen Anspruch auf Kostenübernahme wegen der Teilnahme
an einer Ferienfreizeit im Sommer
2010. Die Voraussetzungen der allein
in Betracht kommenden Anspruchsgrundlage (§§ 53, 54 SGB XII i. V. m.
§§ 55 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 7, 58 Nr. 1
SGB IX) lägen nicht vor.
Ein Anspruch auf die begehrte Kostenübernahme scheitere daran, dass
die Teilnahme an der Ferienfreizeit im
Hinblick auf den Kläger nicht der Erfüllung der besonderen Aufgaben der
Eingliederungshilfe diene. Vorliegend
bestehe nicht die Aussicht, dass durch
die Teilnahme des Klägers an der Ferienfreizeit die Aufgaben der Eingliederungshilfe erfüllt würden. Hierfür wäre
erforderlich, dass die Folgen der Behinderung des Klägers mindestens ge-
mildert würden. Ferner müsste die
Freizeit dazu beitragen, den Kläger in
die Gesellschaft einzugliedern, was
insbesondere durch die Förderung der
Begegnung mit nicht behinderten
Menschen gelingen solle (vgl. § 58 Nr.
1 SGB IX).
Kontaktpflege mit nicht behinderten
Menschen entscheidend
Entscheidend spreche gegen eine
Kostenübernahme, dass über die angebotene Ferienfreizeit die Begegnung
mit nicht behinderten Menschen nicht
erkennbar gefördert werde. Eingliederungshilfe in Form der Verwirklichung
oder Erleichterung der Teilnahme am
Leben in der Gemeinschaft bedeute
eine Förderung von Kontakten auch
und gerade zu nicht behinderten
Menschen, insgesamt zu allen Personen, die aufgrund gemeinsamer
Interessen und Bedürfnisse den behinderten Menschen helfen können,
das Gefühl menschlicher Isolierung zu
überwinden.
Aus dem Vortrag des Klägers sei
nicht erkennbar, dass er überhaupt an
der Herstellung von Kontakten zu
nicht behinderten Menschen interessiert sei. Hinzu komme, dass die geplante Freizeit sehr programmlastig
sei. Das dichte und allein auf das Zusammensein der behinderten Menschen in ihrer Gemeinschaft ausgerichtete Programm lasse eine Kontaktaufnahme mit nicht behinderten
Menschen kaum möglich erscheinen.
Ziel der Ferienfreizeit sei die Förderung von Kontakten zu nicht behinderten Menschen jedenfalls nicht.
Außerdem sei festzustellen, dass
der Kläger bereits in die Gesellschaft
eingegliedert sei. Er fahre regelmäßig
Fahrrad und nehme an monatlich angebotenen Freizeitaktivitäten teil.
Überdies bekomme er in seiner Wohnung öfter Besuch von Kollegen aus
der Werkstatt oder besuche diese an
ihren Wohnorten. Laut Zeugenaussage sei er an fünf von sieben Abenden
in der Woche nicht allein.
Anmerkung
Das Gericht hat auch klargestellt,
das die Inanspruchnahme von Leistungen des ambulant betreuten Wohnens den Anspruch auf Kostenübernahme für eine Ferienfreizeit nicht
von vornherein ausschließt. Die Rechtsansicht des Sozialhilfeträgers sei insoweit unrichtig.
Keine Benachteiligung bei
ambulanter Betreuung zulässig
Diese Rechtsauffassung entspricht
dem geltenden Recht. Gem. § 13 Abs.
1 Satz 2 SGB XII haben ambulante
Leistungen grundsätzlich Vorrang vor
teilstationären oder stationären Leistungen. Diesem Vorranggrundsatz würde es eklatant widersprechen, wenn
Menschen mit Behinderung im ambulant betreuten Wohnen im Unterschied zu Bewohnern einer Wohnstätte der Behindertenhilfe von vornherein
von der Möglichkeit der Teilnahme an
Ferienfreizeiten als Leistung der Eingliederungshilfe für behinderte Menschen ausgeschlossen wären. Grundsätzlich dürfte die Gefahr sozialer
Isolation im ambulant betreuten Wohnen größer sein als beim Leben in einer Wohnstätte. Auch die in den §§
55, 58 SGB IX geregelten Leistungen
zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft differenzieren nicht zwischen
ambulant und stationär betreutem
Wohnen. (Sch)
SGB XII
Zu den Voraussetzungen für Eingliederungshilfeleistungen
SG Reutlingen, Gerichtsbescheid vom 17.02.2010 – Az: S 9 SO 2597/08
Die 1935 geborene und 1985 berentete Klägerin leidet an einer chronifizierten schizoaffektiven Psychose.
Sie wird nach mehreren Aufenthalten
in verschiedenen psychiatrischen Fachkliniken seit März 2002 in einer Einrichtung für psychisch kranke Menschen vollstationär betreut.
Der beklagte Sozialhilfeträger
übernimmt die ungedeckten Unterbringungskosten im Rahmen der Hilfe
zur Pflege. Er forderte die Klägerin
mehrfach auf, eine andere geeignete
Wohneinrichtung zu suchen. Nach
Ansicht des Sozialhilfeträgers lebe die
Klägerin weitgehend selbstständig in
der Wohnstätte und benötige keine
„Rund-um-Versorgung“, sondern Ansprache und Beratung. Die Versorgung in einem Altenpflegeheim sei
ausreichend, weshalb gebeten werde,
sich um einen geeigneten Heimplatz
zu bemühen.
Obwohl nach dem Gutachten des
MDK nur ein geringer grundpflege-
Rech t s d i e n s t 3 / 2 0 1 0
Rechtsprechung und rechtspraxis
rischer Hilfebedarf (Pflegestufe 0) bestehe, habe die Klägerin Anspruch auf
Hilfe zur Pflege gem. §§ 61 f. SGB XII,
weil sie sich aufgrund ihres Gesundheitszustandes nicht selbst versorgen,
keinen eigenen Haushalt führen und
zur Durchführung der grundpflegerischen Verrichtungen aufgefordert
werden müsse.
Das Gericht vertrete die Auffassung, dass die Klägerin aller Voraussicht nach ein Leben außerhalb des
strukturierenden Umfeldes des Wohnheimes nicht ohne die naheliegende
und konkrete Gefahr führen könne, in
ihrer Teilhabe an der Gesellschaft erheblich und nachhaltig beeinträchtigt
zu werden.
Eingliederungshilfe und Hilfe zur
Pflege sind ein aliud
Im Fall des ihr aufgedrängten Wechsels in eine andere Einrichtung des betreuten Wohnens sei konkret zu befürchten, dass der erreichte Zustand
relativer psychischer Stabilität sowie
der erreichte Grad an selbständiger
Lebensführung eine nachhaltige Dekompensation und Destabilisierung
erfahren und damit eine deutliche Verschlimmerung der Folgen der Behinderung eintreten würde.
Die Klägerin sei im Alter von 66
Jahren zunächst als Selbstzahlerin in
eine
Eingliederungshilfeeinrichtung
gezogen, deren umfassendes Hilfeangebot sie nicht benötige und in der
überwiegend Menschen mit Behinderung unter 65 Jahren untergebracht
seien. Aufgrund ihres Alters und ihres
Hilfebedarfs sei die Klägerin von Anfang an auf Leistungen der Hilfe zur
Pflege und nicht der Eingliederungshilfe angewiesen. Bei der Klägerin
habe damals wie heute im Vordergrund des Bedarfs die hauswirtschaftliche Versorgung sowie die Inanspruchnahme einer gewissen Tagesstruktur gestanden. Beides könne in
jedem Alten(pflege)heim gewährleistet
werden, eine Aufnahme in eine Eingliederungshilfeeinrichtung sei nicht
notwendig.
Das Gericht hat der Klage stattgegeben. Die Klägerin erhalte seit Leistungsbeginn Eingliederungshilfe und
bedürfe auch im streitigen Zeitraum
weiterhin der Leistungen der Eingliederungshilfe (§ 53 SGB XII i. V. m. § 55
Abs. 2 Nr. 6 u. 7 SGB IX). Dabei erfülle
die Eingliederungshilfe in ihrem Fall
die Aufgabe nach § 53 Abs. 3 Satz 1
SGB XII: Ohne Eingliederungshilfeleistungen drohe eine Verschlimmerung
der psychischen Behinderung, deren
Folgen weiterhin wesentlich gemildert
würden und damit der Klägerin eine
bessere Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft ermöglichten. Bei dem
Wohnheim habe es sich unstreitig um
eine Einrichtung der Eingliederungshilfe
i. S. d. § 13 Abs. 2 SGB XII gehandelt.
Das Alter ist nicht entscheidungserheblich
Die Zuordnung zur Hilfe zur Pflege sei der irrigen Auffassung des Sozialhilfeträgers geschuldet gewesen, der
sozialhilferechtlich relevante Bedarf
der beim Einzug in das Wohnheim bereits 66 Jahre alten Klägerin sei aufgrund ihres Alters und auch im Hinblick darauf, dass sie bis zum Tod ihrer
Mutter mit dieser in einem Altenheim
gelebt habe, der Hilfe zur Pflege zuzuordnen.
Dem Sozialhilfeträger sei zuzugestehen, dass die Klägerin mittlerweile
im Wesentlichen noch der „zustandserhaltenden Beheimatung“ in der
Einrichtung bedürfe und das eine wesentliche weitere Verbesserung ihrer
Teilhabemöglichkeiten, auch im Hinblick auf ihr zwischenzeitlich erreichtes Alter von 74 Jahren, wohl nicht
mehr zu erwarten sei.
Zustandsbesserung keine Voraussetzung für Eingliederungshilfe
§ 53 Abs 1 Satz 1 SGB XII binde
die Eingliederungshilfe daran, dass
eine Aussicht bestehe, dass die Aufgabe der Eingliederungshilfe erfüllt werden könne. Aus der Vorschrift sei
nicht zu schließen, Voraussetzung der
Eingliederungshilfe sei eine Möglichkeit oder gar die Aussicht auf eine Verbesserung des behinderungsbedingten
Status quo. Diese Ansicht würde zu
kurz greifen. § 53 SGB XII schließe
Eingliederungshilfeleistungen nicht aus,
selbst wenn es bei der Klägerin nur
noch um schlichte Bewahrung des Erreichten ohne Verbesserungsaussicht
und damit nicht um ihre weitere Eingliederung in die Gesellschaft gehe.
Gem. § 53 Abs. 3 SGB XII reiche
bereits das „Mildern“ der Behinderungsfolgen aus, um einen Anspruch
auf Leistungen der Eingliederungshilfe
zu begründen. Dementsprechend könne die weite Beschreibung der Aufgaben und Ziele der Eingliederungshilfe
dazu führen, dass sie gegebenenfalls
auch lebenslang zu gewähren sei.
Eingliederungshilfe kann lebenslang
gewährt werden
Ohne die Sicherung ihres gegenwärtig erlangten Status von relativer
109
Stabilität ginge es der Klägerin behinderungsbedingt unmittelbar schlechter. Werde einer gesundheitlichen Dekompensation und einem sozialem
Rückzug entgegengewirkt, sei die der
Klägerin gewährte Hilfe als Milderung
der Behinderungsfolgen eine Leistung
der Eingliederungshilfe. Hierfür spreche auch der in § 14 Abs. 1 SGB XII
vorgesehene Vorrang präventiver oder
rehabilitativer Leistungen. Die Klägerin könne somit bis auf weiteres die
ihr im Wohnheim geleistete Eingliederungshilfe beanspruchen.
Anmerkung von Norbert Schumacher
Das Interesse des Sozialhilfeträgers an einer Unterbringung der Klägerin in einem Alten(Pflege)Heim hat
vor allem finanzielle Gründe: Die Unterbringung in der Einrichtung der Behindertenhilfe ist mit Mehrkosten in
Höhe von ca. 1.500 Euro monatlich
verbunden.
Nicht nur wegen des verschiedenen Zwecks von Altenheimen einerseits und Wohnstätten der Behindertenhilfe andererseits ist die richtige
Zuordnung der gewährten Leistungen
zur Eingliederungshilfe oder zur Hilfe
zur Pflege von erheblicher Bedeutung,
worauf das Gericht zu Recht hingewiesen hat. Die Leistungen müssen
sich nach der Besonderheit des Einzelfalls, insbesondere nach der Art des
Bedarfs richten (§ 9 Abs. 1 SGB XII).
Eingliederungshilfe ist nicht
erfolgsbezogen
Ein besonderer Verdienst dieser
ausführlich begründeten Entscheidung ist die Feststellung, dass der Anspruch auf Leistungen der Eingliederungshilfe nicht an die Voraussetzung
gekoppelt ist, dass eine Aussicht oder
zumindest Wahrscheinlichkeit auf
Verbesserung des behinderungsbedingten Status quo besteht. Unrichtigerweise wird in einigen Kommentierungen aus der Formulierung in § 53
Abs. 1 Satz 1 SGB XII, wenn und solange Aussicht besteht, dass die Aufgabe der Eingliederungshilfe erfüllt
werden kann, eine „Erfolgsbezogenheit“ der Eingliederungshilfe abgeleitet. Das in § 53 Abs. 3 Satz 1 SGB II
normierte Ziel der Eingliederungshilfe, eine Behinderung oder deren Folgen zu mildern und die behinderten
Menschen in die Gesellschaft einzugliedern, wird bereits dann erreicht,
wenn durch Leistungen der Eingliederungshilfe eine Verschlechterung vermieden und der erreichte Stand der
Eingliederung in die Gesellschaft erhalten werden kann.
110
Rechtsprechung und rechtspraxis
In diesem Sinne hat auch das LSG
NRW entschieden:
Es genüge für einen Anspruch auf
Eingliederungshilfe, wenn noch eine
vom Berechtigten als Verbesserung
seiner Gesamtsituation anzusehende
Erleichterung seiner behinderungsbedingten Lage erreicht werde. Gehe es
dem Leistungsberechtigten ohne die
Sicherung seines Status quo behinderungsbedingt unmittelbar schlechter, dann könne eine schlichte Bewahrung des Erreichten ohne Verbesserungsaussicht für Maßnahmen der
Eingliederungshilfe leistungsauslösend
sein (Urteil vom 07.04.2008 – Az: L 20
SO 53/06).
SGB XII
Hilfen zur Familienplanung als Leistung
der Eingliederungshilfe
SG Köln, Urteil vom 31.03.2010 – Az: S 21 SO 199/09
Streitig ist die Erstattung von Kosten für ein Verhütungsmittel.
Die 1974 geborene Klägerin hat
eine geistige Behinderung. Sie ist
schwerbehindert im Sinne des SGB IX
mit einem GdB von 100. Zusätzlich
sind ihr die Merkzeichen G, H und RF
zuerkannt.
Die Klägerin ist mit einem ebenfalls geistig behinderten Mann verheiratet, bei beiden besteht eine gesetzliche Betreuung. Die Eheleute arbeiten
in einer Werkstatt für behinderte Menschen (WfbM) und beziehen vom Sozialhilfeträger Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nach dem SGB XII.
Die Klägerin hat am 29.07.2008 ein
Kind geboren. Die Pflege des Kindes
wird durch die Familie der Klägerin sichergestellt, da ihr bzw. ihrem Ehemann nicht klar bzw. bewusst sei,
wann und ob ihr Kind der Pflege und
Zuwendung bedürfe.
Im Februar 2009 beantragte die
Klägerin die Übernahme von Kosten
zwecks Empfängnisverhütung. Der
Sozialhilfeträger lehnte die Kostenübernahme mit der Begründung ab,
Leistungen der Sozialhilfe könnten
nur in dem Rahmen erbracht werden,
wie dies durch die gesetzlichen Krankenkassen erfolgen könne. Die Klägerin sei gesetzlich krankenversichert,
die Krankenkasse als vorrangiger Leistungsträger zuständig.
Im Widerspruchsverfahren hat die
Klägerin vorgetragen, sie sei nicht in
der Lage, ein Kind zu betreuen und zu
erziehen. Zur Vermeidung einer er-
neuten Schwangerschaft sei eine sichere Verhütung mittels Implanon erforderlich. Eine regelmäßige Einnahme der Antibabypille sei bei ihr nicht
gewährleistet.
Die Krankenkasse hat die Kostenübernahme für das Verhütungsmittel
mit der Begründung abgelehnt, dass
nach der gesetzlichen Vorschrift (§ 24a
SGB V) nur Versicherte bis zum vollendeten zwanzigsten Lebensjahr Anspruch auf Versorgung mit empfängnisverhütenden Mitteln zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung haben.
Das SG hat der Klage stattgegeben.
Zwar sei die Auffassung zutreffend,
dass eine Kostenübernahme nach § 49
i. V. m. § 52 SGB XII ausscheide. Die
Kosten des Verhütungsmittels seien
aber vor dem Hintergrund der wesentlichen geistigen Behinderung der Klägerin im Rahmen der Eingliederungshilfe für behinderte Menschen als
Leistung zur Teilhabe am Leben in der
Gemeinschaft vom Sozialhilfeträger
zu erbringen (§ 6 Abs.1 Nr. 7 i. V. m. §
14 Abs. 2 Satz 1 SGB IX).
Nach dem Recht der gesetzlichen
Krankenversicherung komme über die
Altersgrenze von 20 Jahren hinaus eine
Kostenübernahme für empfängnisverhütende Mittel nur in Betracht, wenn
diese nicht primär der Empfängnisverhütung dienten, sondern wegen Vorliegens einer Krankheit die Verhütung
einer Schwangerschaft angezeigt sei. Es
müsse also eine medizinische Indikation für das Verhütungsmittel bestehen.
Die Klägerin leide an einer wesentlichen geistigen Behinderung, nicht
aber an einer Krankheit, die die Ver-
Rechtsdienst 3/2010
hütung einer Schwangerschaft erfordere. Die Schwangerschaft der Klägerin, die zur Geburt des Kindes im Jahre
2008 geführt habe, sei offensichtlich
problemlos verlaufen.
Anspruchsgrundlage für das Begehren der Klägerin seien daher die
Vorschriften zur Eingliederungshilfe
für behinderte Menschen nach §§ 53
und 54 SGB XII i. V. m. § 55 Abs. 1
SGB IX. Die hier fragliche Leistung
falle unter den Oberbegriff der Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft. Der
Begriff der Teilhabe sei gem. § 1 Satz 1
SGB IX dahingehend zu verstehen,
dass Teilhabe daran zu messen sei, ob
es gelinge, die Selbstbestimmung und
gleichberechtigte Teilhabe des behinderten Menschen am Leben in der Gesellschaft zu fördern, Benachteiligungen zu vermeiden bzw. ihnen entgegenzuwirken. Die Teilhabe am Leben in
der Gemeinschaft schließe die Teilhabe am Leben in Familie und Ehe (als
Teil der Gemeinschaft/Gesellschaft) mit
ein. Leistungen zur Teilhabe umfassten die notwendigen Sozialleistungen,
um eine möglichst selbständige und
selbstbestimmte Lebensführung zu ermöglichen bzw. zu erleichtern (§ 4
Abs. 1 Nr. 4 SGB IX).
Teilhabe in diesem Sinne beinhalte
auch, dem behinderten Menschen ein
selbstbestimmtes Sexualleben zu ermöglichen bzw. zu erleichtern. Die sichere Verhütungsmethode sei Mittel
zum Zweck, nämlich der geistig behinderten Klägerin ein selbstbestimmtes
Sexualleben in ihrer Ehegemeinschaft
zu ermöglichen (vgl. § 4 Abs. 1 Nr. 4
SGB und § 53 Abs. 3 SGB XII).
Im Fall der geistig behinderten Klägerin erfordere ein selbstbestimmtes
Sexualleben eine der Behinderung angepasste Verhütungsmethode. Die Klägerin sei aufgrund ihrer wesentlichen
geistigen Behinderung nicht in der
Lage, übliche und preisgünstige, aber
regelmäßig anzuwendende Verhütungsmittel verantwortungsvoll zu nutzen.
Anspruchsgrundlage für die Übernahme dieses behinderungsspezifischen Bedarfs sei § 54 Abs. 1 SGB
XII i. V. m. § 55 SGB IX als Auffangnorm.
Anmerkung
In seiner ausführlich begründeten
Entscheidung setzt sich das Gericht
auch mit den Vorschriften der Hilfen
zur Gesundheit einschließlich der Hilfe zur Familienplanung im Sozialhilferecht auseinander (§§ 47 ff. SGB XII).
Im Unterschied zum SG Duisburg
Rech t s d i e n s t 3 / 2 0 1 0
(Urteil vom 09.09.2008 – Az: S 7 SO
10/07) und dem VG Gelsenkirchen
(Beschluss vom 16.03.2004 – Az: 2 L
575/04, vgl. RdLh 3/04, S. 127) hält
das Gericht diese Vorschriften für ein
erfolgreiches Klagebegehren nicht für
einschlägig.
Aus § 52 Abs. 1 Satz 1 SGB XII folge, dass die nach Sozialhilferecht zu
erbringende Hilfe den Leistungen
der gesetzlichen Krankenversicherung
entsprechen müssten. Die Regelung
Rechtsprechung und rechtspraxis
des § 52 Abs. 1 Satz 1 SGB XII führe
dazu, dass Kosten empfängnisverhütender Mittel für Personen nach Vollendung des zwanzigsten Lebensjahres
auch nicht nach § 49 SGB XII übernommen werden können.
Die hierin liegende Konsequenz
der Abkehr vom Bedarfsdeckungsprinzip der Sozialhilfe bei den Leistungen nach §§ 47 ff. SGB XII sei bedenklich, stehe jedoch auf einem
anderen Blatt. (Sch)
SGB XII
Keine Kürzung der Grundsicherung
während Krankenhausaufenthalts
SG Detmold, Gerichtsbescheid vom 01.06.2010 –
Az: S 2 SO 74/10
Die Beteiligten streiten über die
Kürzung der Grundsicherungsleistung
für die Dauer eines stationären Krankenhausaufenthaltes.
Die Klägerin bezieht Leistungen
zur Grundsicherung nach §§ 41, 42
SGB XII. Für die Dauer eines Krankenhaus- und sich anschließendem
Rehaaufenthaltes kürzte der beklagte
Sozialhilfeträger die Leistungen um
125,65 Euro. Im ablehnenden Widerspruchsbescheid führte er aus, während des vollstationären Aufenthaltes
erhalte die Klägerin eine vollständige
Verpflegung und erspare somit eigene
Aufwendungen für Ernährung. Der
Bedarf werde im Sinne von § 28 Abs. 1
Satz 2 SGB XII anderweitig gedeckt
und daher abweichend festgelegt.
Mit ihrer Klage machte die Klägerin geltend, dass keinerlei Einsparungen durch den Krankenhausaufenthalt verursacht wurden. Insbesondere habe die Beklagte keinerlei Feststellungen zu den konkreten Aufwendungen während dieser Zeit
getroffen.
Konkrete Bedarfsermittlung für
häusliche Ersparnis nötig
Das SG Detmold entschied zugunsten der Klägerin: Die Verpflegung sei
nicht als Einkommen der Klägerin zu
sehen, das die Gewährung von Sozialhilfe ausschließe. Auch der Tatbestand
des § 28 Abs. 1 Satz 2 SGB XII sei
nicht gegeben: Zwar könne die vollstationäre Verpflegung als anderweitige Bedarfsdeckung angesehen werden. Jedoch sei eine Gesamtbetrachtung
erforderlich: Zu berücksichtigen seien
auch die durch die besondere Situation entstehenden höheren Kosten. In
jedem Fall müssten konkrete Ausführungen vorliegen, in welcher Höhe
eine anderweitige Bedarfsdeckung gegeben und möglicherweise um Beträge
für vergebliche Aufwendungen (z. B.
verdorbene Lebensmittel zuhause) zu
kürzen sei. Die pauschale Kürzung
durch den beklagten Sozialhilfeträger
sei nicht rechtmäßig.
Anmerkung
Der Sozialhilfeträger berief sich im
Verfahren auf die Entscheidung des
BSG zum kostenlosen Mittagessen in
Werkstätten für behinderte Menschen
(Urteil vom 11.12.2007 – Az: B 8/9b
SO 21/06 R; vgl RdLh 1/2008, S. 32).
Hier hatte das BSG eine anderweitige
Bedarfsdeckung nach § 28 Abs. 1 Satz
2 SGB XII bejaht.
Das SG stellte jedoch klar, dass
sich beide Sachverhalte erheblich unterscheiden. Die Arbeit in einer WfbM
sei ein regelmäßiger Vorgang, auf den
man sich planend einstellen könne
und der keine Kompensationskosten
verursache. Demgegenüber müsse
man einen Krankenhausaufenthalt
meist kurzfristig planen, was regelmäßig mit Kosten (z. B. für Bekleidung,
111
Sportschuhe oder Fahrtkosten) verbunden sei.
Rechtsbehelf gegen einen Gerichtsbescheid
Das SG entschied ohne mündliche
Verhandlung im Wege des Gerichtsbescheids, da es den Sachverhalt als geklärt und keine besonderen Schwierigkeiten rechtlicher oder tatsächlicher
Art sah (§ 105 SGG). Der Gerichtsbescheid ist nach § 105 Abs. 2 Satz 1
SGG entweder mit dem Rechtsmittel,
das bei einem Urteil zulässig wäre, anzugreifen oder es ist nach Satz 2 ein
Antrag auf mündliche Verhandlung zu
stellen.
Da im vorliegenden Verfahren die
Berufung nicht zugelassen wurde,
kommt es zu einer verfahrensrechtlich
interessanten Situation: In Betracht
kommen sowohl eine Nichtzulassungsbeschwerde (NZB) als auch ein
Antrag auf mündliche Verhandlung.
Welcher Weg vorteilhafter ist, wird wie
immer vom Einzelfall abhängen: Die
NZB bringt das Verfahren in die nächste Instanz, ist aber form- und fristgebunden. Fehler bei der Tatsachenermittlung können mit ihr nicht geltend
gemacht werden. Bei Verwerfung oder
Zurückweisung der NZB ist kein Antrag auf mündliche Verhandlung mehr
möglich und der Gerichtsbescheid
wird rechtskräftig (§ 105 Abs. 3 i. V. m.
§ 145 Abs. 4 Satz 4 SGG). Vorliegend
entschied sich der Sozialhilfeträger für
die NZB zum LSG Nordrhein-Westfalen (Az: L 12 SO 321/10 NZB). (Lg)
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112
Rechtsdienst 3/2010
Rechtsprechung und rechtspraxis
SGB XII
Vorrang von Wohngeld gegenüber Sozialhilfeleistungen
SG Karlsruhe, Beschluss vom 28.04.2010 – Az: S 4 SO 1393/10 ER
Die Beteiligten streiten um den
Anspruch auf Grundsicherungsleistungen im Alter und bei Erwerbsminderung gem. SGB XII. Die Antragstellerin hat im Oktober 2009 beim zuständigen Sozialhilfeträger Grundsicherungsleistungen beantragt.
Mittels einer Bedarfsberechnung
auf der Grundlage von für angemessen
gehaltenen Unterkunftskosten errechnete der Antragsgegner einen nicht gedeckten Bedarf von monatlich 22,20
Euro abzüglich der Warmwasserpauschale.
Eine fiktive Wohngeldberechnung
ergab ein monatlich mögliches Wohngeld von 96,00 Euro. Der Sozialhilfeträger wies daher darauf hin, dass es
für die Antragsstellerin günstiger sei,
Wohngeld zu beantragen. Unter Berücksichtigung des höheren Wohngeldanspruchs sei beabsichtigt, den Antrag auf Grundsicherung abzulehnen.
Da die Antragstellerin an ihrem
Grundsicherungsantrag festhielt, lehnte
der Sozialhilfeträger den Antrag unter
Hinweis auf den Nachranggrundsatz
der Sozialhilfe ab. Wohngeld sei vorrangig zur Bestreitung des Lebensunterhalts einzusetzen.
decken. Dies sei vorliegend der Fall.
Keine Ausnahme vom Nachranggrundsatz der Sozialhilfe
Die zum 01.01.2009 in Kraft getretene Regelung des § 7 Abs. 1 Satz 3 Nr.
2 b WoGG (Wohngeldgesetz) sieht
vor, dass ein Ausschluss von Wohngeld nicht besteht, wenn durch das
Wohngeld die Hilfebedürftigkeit i. S. v.
§§ 42 f. SGB XII vermieden oder beseitigt werden kann. Diese Neuregelung stellt eine Reaktion des Gesetzgebers auf Fälle dar, in denen ein an sich
vorrangiger Wohngeldanspruch besteht, dieser aber wegen des aktuellen
Bezugs von Transferleistungen bislang
nicht durchgesetzt werden konnte.
Mit der Neuregelung sollte der Wechsel aus dem Transferleistungsbezug in
das Wohngeld erleichtert werden,
wenn durch Wohngeld die Hilfebedürftigkeit vermieden werden kann.
Zumindest übergangsweise soll ein
gleichzeitiger Bezug von bestimmten
Transferleistungen und Wohngeld
möglich sein, der gegebenenfalls auf
dem Erstattungswege zwischen den
Leistungsträgern ausgeglichen wird.
(Sch)
Im April 2010 hat die Antragstellerin vorläufigen Rechtsschutz beim Sozialgericht Karlsruhe beantragt. Das
Gericht hat den auf die Gewährung
von Grundsicherungsleistungen gerichteten Antrag abgelehnt. Es fehle
an einem Anordnungsanspruch. Der
Sozialhilfeträger habe das Begehren
der Antragstellerin zu Recht unter Berufung auf den nach § 2 Abs. 1 SGB
XII geltenden Nachranggrundsatz abgelehnt. Die in Folge ihrer niedrigen
Rente bedürftige Antragstellerin sei
auf vorrangige Wohngeldleistungen zu
verweisen.
Der Vorrang des Wohngeldanspruchs sei auch unmittelbar durchsetzbar. Bestehe der Wohngeldvorrang, sei weiter zu fragen, ob der
Anspruch auf Wohngeld konkret ausreiche, den sozialhilferechtlichen Ergänzungsbedarf der Antragstellerin zu
Anmerkung
Teilhabe am Arbeitsleben
Neues Fachkonzept der BA für Eingangsverfahren und
Berufsbildungsbereich
von Dr. Sabine Wendt
Die Bundesagentur für Arbeit (BA)
hat am 21.06.2010 ein neues Fachkonzept für Eingangsverfahren und Berufsbildungsbereich in Werkstätten für
behinderte Menschen (WfbM) vorgelegt (HEGA 06/10-02), das bis zum
31.05.2015 Gültigkeit hat.
Es ersetzt das Rahmenprogramm
von 2002, das mit der BAG WfbM vereinbart worden war. Unter Beteiligung
der BAG überörtlicher Träger der Sozialhilfe und BAG WfbM seien die
fachlichen Anforderung nach §§ 3 und
4 Werkstättenverordnung (WVO) aktualisiert worden.
Durch das Fachkonzept sollen „die
Möglichkeiten zur selbstbestimmten
Teilhabe behinderter Menschen am
Arbeitsleben verbessert und somit ein
Beitrag zur Umsetzung der Behindertenrechtskonvention der UN zur beruflichen Inklusion geleistet werden.“
Dies solle durch eine stärkere Berücksichtigung von Eingliederungsmöglichkeiten in den allgemeinen Arbeitsmarkt, eine personenorientierte Maßnahmegestaltung sowie durch eine
Maßnahmekonzeption und -durchführung auf der Grundlage von Kompetenzfeststellungen erreicht werden.
Damit regele das Fachkonzept die
fachlichen Anforderungen im Rahmen
des Anerkennungsverfahrens nach §
142 SGB IX, diene der Qualitätssicherung und solle eine bessere Vergleichbarkeit der Leistungsangebote ermöglichen. Die Umsetzung solle mit der
Neuaufnahme von Teilnehmern im
Herbst 2010 beginnen.
Inhalt der Neuregelungen
Folgende Neuerungen gegenüber
dem Rahmenprogramm sind vorgesehen:
Rech t s d i e n s t 3 / 2 0 1 0
1. Barrierefreier Zugang und Darstellung von Information: Die Teilnehmer müssen in „leichter Sprache“ über
die Inhalte des Fachkonzepts informiert werden (Rn. 3.1.).
2. Die Maßnahme steht ganzjährig
zur Verfügung, Eintrittstermine sind
so zu gestalten, dass maximale Wartezeiten von einem Monat entstehen
(Rn. 3.2.).
3. Bei der Erstellung des Eingliederungsplans muss eine teilnehmeradäquate Information sichergestellt
werden, und nach dem Wunsch- und
Wahlrecht des Teilnehmers Eltern
oder Betreuungspersonen eingebunden werden. Für jeden Teilnehmer ist
eine dauerhafte Bezugsperson als Bildungsbegleiter zu benennen. Die Zahl
und Dauer der Betriebspraktika und
ggf. des ausgelagerten Berufsbildungsbereichs sind festzulegen (Rn. 3.2.2.).
Betriebspraktika sind als verbindlicher Teil der Berufsbildung vorzusehen, und jährlich im Fachausschuss
mit einer Zielvereinbarung in ihrem
Umfang festzulegen. Probleme in der
Realisierung sind dort zu begründen
(Rn. 5.2). Für die Berücksichtigung
des Gender Mainstreamings muss
auch die Heranführung an eher geschlechtsuntypische Berufsfelder und
Tätigkeiten gewährleistet sein (Rn.
3.2.3). Die Entwicklung und Förderung von Schlüsselkompetenzen als
übergreifende Kompetenzen ist besondere Aufgabe der WfbM und wird ausführlicher als im Rahmenprogramm
unter Rn. 3.3.beschrieben. Neu ist
auch die Sicherstellung einer Sozialpädagogischen Begleitung unter Rn.
3.4. u. a. als Krisenintervention und
für Alltagshilfen.
4. Die WfbM ist verpflichtet, eine
maßnahmebezogene Anwesenheitsliste zu führen, in der die unterweisungsfreien Zeiten (Urlaub, 2,5 Arbeitstage
pro Teilnehmermonat und Sonderurlaub aus bestimmten Anlässen) zu
kennzeichnen sind (Rn. 3.5.1.). Zeiten
der Arbeitsunfähigkeit sind ab dem
vierten Tag durch ärztliches Attest
nachzuweisen. Alle sonstigen Abwesenheitstage sind als unentschuldigte
Fehlzeiten zu kennzeichnen.
Mit dieser Regelung kontrolliert
die BA verstärkt die Mitwirkungspflichten der Teilnehmer. Zur Einhaltung dieser Regelung müssen die Berufsbildungsverträge zwischen WfbM
und Teilnehmern angepasst werden
(siehe Muster eines Berufsbildungsvertrags, Werkstatthandbuch der Lebenshilfe, Kapitel O 4.3.).
5. Jede WfbM wird verpflichtet, der
Rechtsprechung und rechtspraxis
BA und dem Fachausschuss ein
Durchführungskonzept einschließlich
Qualitätssicherung zuzuleiten (Rn. 3.6.).
6. Anforderungen an das Eingangsverfahren: Dieses dauert grundsätzlich drei Monate, was eine Verbesserung gegenüber dem Rahmenprogramm
darstellt, das nur eine Regelung bis zu
drei Monaten unter Berücksichtigung
des Einzelfalls vorsah. Eine Ausnahme gilt, wenn eine Zuweisung nach
einer DIA-AM-Maßnahme erfolgt, in
der der diagnostische Teil schon abgeschlossen wurde. In diesem Fall dauert das Eingangsverfahren einen Monat (Rn. 4.2.2). Es kann in Kooperation
mit anderen WfbM durchgeführt werden. Unter Einbeziehung von Schulund DIA-AM-Gutachten wird eine individuelle Analyse des Leitungspotentials durch Einzeltestung vorgenommen. Es sind Feststellungen zu treffen
zu der sozial-kommunikativen Kompetenz, der Methodenkompetenz, der
personalen Kompetenz, der Aktivitäts- und Umsetzungskompetenz und
zu der Eignung und Neigungen, wozu
u. a. auch die Mobilität (Teilnahme am
ÖPNV) gehört. Dabei ist eine übergreifende Langzeitbeobachtung gefordert, um Entwicklungsschritte zu dokumentieren.
7. Der Berufsbildungsbereich muss
eine eigenständige und selbständig geführte Organisationseinheit der WfbM
sein. Dem entspricht die Tendenz bei
großen Werkstattträgern, für alle Verbundwerkstätten und ggf. auch für firmeneigene Integrationsbetriebe ein zentrales Ausbildungszentrum zu schaffen. Werden Maßnahmen auf ausgelagerten Plätzen des allgemeinen Arbeitsmarktes durchgeführt, muss dies
transparent und geplant nach dem individuellen Eingliederungsplan und
entsprechend den für den Berufsbildungsbereich geltenden Rahmenbedigungen (u. a. § 9 Abs. 3 Satz 2 WVO,
Einsatz von qualifiziertem Fachpersonal zur Begleitung) erfolgen (Rn. 5).
Damit wird ein ausgelagerter Berufsbildungsbereich oder das Arbeiten im
Verbund anerkannt, wobei der Teilnehmer jetzt einen persönlichen Bildungsbegleiter haben muss, sowie einen Eingliederungsplan mit den unter
6. genannten Inhalten.
8. In dem individuellen Eingliederungsplan müssen konkrete Ziele vereinbart werden, die berufliche Orientierung muss in mindestens zwei
Berufsfeldern durchgeführt werden.
Die Unterteilung in eine Grundkurs
und Aufbaukurs nach § 4 Abs. 4 und 5
WVO wird aufgegeben, es wird lediglich verlangt, entsprechende Inhalte in
113
etwa zeitlich gleichen Anteilen zu vermitteln. Die Ausrichtung auf Qualifizierungen, die eine Beschäftigung auf
dem allgemeinen Arbeitsmarkt vorsehen, hat Vorrang. Dabei soll auch auf
aufbauende und ergänzende externe
Bildungsangebote hingeführt werden,
die sich an den Ausbildungsregelungen nach § 66 BBiG/§ 42 HWO
orientieren. Diese vage Formulierung
lässt offen, ob es damit auch den
WfbM selbst ermöglicht werden soll,
solche regulären Ausbildungen anzubieten, damit kein Wechsel zu einem
externen Träger erfolgen muss (z. B.
Berufsbildungswerk), der mit einer
teuren Internatsunterbringung verbunden ist (Rn. 5.1.). In den Qualifizierungsbereichen der WfbM sind
Rahmenpläne zu erstellen, die eine
Binnendifferenzierung der beruflichen
Qualifizierungsstufen ermöglichen.
Keine Einbindung in den ASMKReformprozess
Das neue Fachkonzept stellt insgesamt eine gelungene Weiterentwicklung des Rahmenprogramms von 2002
dar. Es bleibt abzuwarten, ob die BA
ihrerseits den hohen Anforderungen
gerecht wird, und die entsprechenden
finanziellen und personellen Ressourcen für die Umsetzung zur Verfügung
stellt. Auffällig ist, dass zu den in der
WVO vorgesehenen Personalschlüsseln von 1:6 im Berufsbildungsbereich
(§ 9 Abs. 3 WVO) keine Aussagen gemacht werden.
Der Zeitpunkt der Veröffentlichung vor Abschluss der Beratungen
der ASMK zur Reform der Eingliederungshilfe überrascht, da diese sich
auch mit einem verbesserten Übergang
von der Schule in den Beruf befassen
soll.1 So soll unter Beteiligung der BA
zwei Jahre vor Ende der Schulzeit ein
Clearing-Verfahren stattfinden, um
mehr Optionen für eine Integration in
den allgemeinen Arbeitsmarkt für
Schüler zu schaffen. Während die BA
auf Bundesebene in den ASMK-Arbeitsgruppen bisher keine konstruktiven Vorschläge machte, unterstützt
die Regionaldirektion Baden-Württemberg seit 2005 ein wichtiges Reformprojekt. Über 1000 Schüler von
Sonderschulen konnten dort bereits
mit diesem Programm in den allgemeinen Arbeitsmarkt integriert werden2.
1 Hellmann, Weiterentwicklung der Eingliede-
rungshilfe für Menschen mit Behinderungen im Bereich Teilhabe zum Arbeitsleben, RdLh 2/09, 55 ff.
2 Ernst, Schnittstelle allgemeiner Arbeitsmarkt-
Werkstatt für behinderte Menschen, Behindertenrecht 2008, 125 ff., ders., Aktueller Stand der
Diskussion am Beginn des Jahres 2010,
Behindertenrecht 2-2010, S. 40 ff.
114
Rechtsprechung und rechtspraxis
Rechtsdienst 3/2010
Mit der Aktion 1000 plus wird das von
dem Kommunalverband für Jugend
und Soziales (KVJS) initiierte Programm modifiziert fortgesetzt. Mit den
Schulen und WfbM wird gegenwärtig
an 10 Standorten eine von der BA geförderte Maßnahme „Kooperative
Bildung und Vorbereitung auf den
allgemeinen Arbeitsmarkt“ (KoBV)
gefördert. Durch Praktika auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt, verbunden
mit zwei wöchentlichen Berufsschultagen, sollen die persönlichen Fähigkeiten und die Möglichkeit der Vermittelbarkeit auf den allgemeinen
Arbeitsmarkt getestet werden. Die persönliche Begleitung übernimmt der
Integrationsfachdienst nach § 109 ff.
SGB IX oder die WfbM, die von der
BA bezahlt wird. Nach Beendigung
der Schule kann diese Maßnahme entweder in eine Unterstützte Beschäftigung nach § 38a SGB IX münden,
oder in das Eingangsverfahren/Berufsbildungsbereich der WfbM nach
§ 40 SGB IX, wobei die 11-18 Monate
Regeldauer der KoBV auf die 27 Monate des Eingangsverfahrens/Berufsbildungsbereich angerechnet werden.
Die BA übernimmt die Sozial- und
Unfallversicherung und zahlt ein Ausbildungsgeld.
In dem Fachkonzept fehlen leider
solche Aussagen, Adressat ist ausschließlich die WfbM, weder Schulen
noch Integrationsfachdienste werden
erwähnt. Dabei wären die in den Jahren 2002-2006 um 18 % gestiegenen
Zugangszahlen von Sonderschulabgängern in WfbM3 Anlass gewesen,
die daran anschließende Förderung
durch den Berufsbildungsbereich neu
zu überdenken, um den Automatismus eines solchen Übergangs durch
ein qualifiziertes Bedarfsermittlungsverfahren zu ersetzen. Die DIA-AMMaßnahme4 reicht dafür nicht aus, da
sie nicht mit der Schule vernetzt ist,
wie das KoVB-Verfahren in BadenWürttemberg.
organ, das Empfehlungen für die Aufnahme, die Durchführung der Eingliederung und die Beendigung abgibt.5
In ihm ist die WfbM neben den zuständigen Reha-Trägern BA, Sozialhilfeträgern und Rentenversicherung
stimmberechtigt, und müsste demnach
mit sich selbst eine Zielvereinbarung
abschließen, was als Insich-Geschäft
gar nicht möglich ist. Die Reha-Träger
selbst haben immer wieder darauf hingewiesen, dass der Fachausschuss nur
vorbereitend tätig sein kann, und die
Leistungsentscheidung allein ihnen
vorbehalten bleibt.
Zielvereinbarungen sind daher nur
dann ein verbindliches Instrument,
wenn sie von einem Reha-Träger im
Zusammenhang mit der Festsetzung
der Vergütung vereinbart werden. Daher können sie nur in Vereinbarungen
der für die Finanzierung zuständigen
Regionaldirektionen mit der jeweiligen WfbM gelten. Zielvereinbarungen wurden bisher nur in NRW
von den Sozialhilfeträgern des Landschaftsverbands Rheinland und Westfalen mit WfbM als Maßnahme der
Qualitätsprüfung der Vergütungsvereinbarung nach § 41 Abs. 3 SGB IX
abgeschlossen.
Zielvereinbarung mit dem Fachausschuss über Betriebspraktika
3 Wendt, Reformschritte zur Vernetzung von Werkstätten für behinderte Menschen und allgemeinem
Nach Rn. 5.2. des Fachkonzepts
soll der Umfang der Betriebspraktika
(Anteil der Teilnehmer und der zeitliche Umfang) jährlich in einer Zielvereinbarung mit dem Fachausschuss
festgelegt werden.
Fraglich ist, ob das rechtlich zulässig ist. Zielvereinbarungen sind nur
dann mehr als reine unverbindliche
Absichtserklärungen, wenn an ihre
Nichterfüllung Folgen geknüpft werden können. Dazu hat der Fachausschuss aber keine Befugnisse. Der
Fachausschuss ist gem. § 2 Abs. 2
WVO lediglich ein Sachverständigen-
4 Diagnose der Arbeitsmarktfähigkeit besonders betroffener behinderter Menschen nach § 33 Abs. 4
Persönliches Budget nach § 17 SGB IX
bleibt unerwähnt
Bedauerlich ist, dass keine Ausführungen zur Inanspruchnahme des Persönlichen Budgets gemacht werden.
Die Handlungsempfehlung der BA,
HEGA 12/2007, die dies vorsieht, gilt
noch bis zum 31.12.2011.6 Zwar verspricht das Fachkonzept eine „personenorientierte Maßnahme“, definiert
diese aber dann doch nur wieder institutionsgebunden als Maßnahme einer
anerkannten WfbM. Es gibt aber auch
andere Anbieter, die keine WfbM sind,
wie z. B. die Hamburger Arbeitsassistenz oder Gemeinsam Leben, Ge-
meinsam Lernen in Frankfurt, die die
Maßnahme mit Hilfe des Persönlichen
Budgets mit höheren Übergangszahlen
in den allgemeinen Arbeitsmarkt anbieten, als die örtlichen WfbM.7 Wenn
das Fachkonzept „eine stärkere Berücksichtigung von Eingliederungsmöglichkeiten im allgemeinen Arbeitsmarkt“ von dem Berufsbildungsverfahren erwartet, hätte der von der
BAG Unterstütze Beschäftigung (BAG
UB) entwickelte Ansatz eines „Betrieblichen Berufsbildungsbereichs“
berücksichtigt werden müssen.8 Dieses Konzept „erst platzieren, dann
qualifizieren“ wurde bereits für den
Personenkreis mit einem Leistungsvermögen oberhalb der WfbM im Rahmen der Unterstützten Beschäftigung
nach § 38a SGB IX realisiert, kann
aber auch für Personen, die werkstattbedürftig sind, in Frage kommen.
Dann muss der Leistungsberechtigte
im Rahmen seines Wunsch- und Wahlrechts nach § 9 SGB IX ggf. auch einen anderen Anbieter, als die WfbM,
wählen können, wenn dieser eine solche Leistung für die berufliche Qualifizierung vor Ort in der notwendigen
Qualität ebenfalls anbietet. Dies sieht
auch der personenzentrierte Ansatz
der Eingliederungshilfe vor, wonach
sich die Hilfe unabhängig von Leistungsort und Leistungsform ausschließlich am individuellen Bedarf
orientieren soll.9
Schnittstelle Unterstützte
Beschäftigung
Bemerkenswert ist, dass die seit
2009 geltende Maßnahme der Unterstützten Beschäftigung nach § 38a
SGB IX nicht erwähnt wird, obwohl
diese ausdrücklich in § 40 Abs. 4
SGB IX (Anrechnungsvorschrift) erwähnt wird. Auch während der
Durchführung des Eingangsverfahrens und Berufsbildungsbereichs ist
Arbeitsmarkt, Die Rehabilitation 1-2010, 38 ff., 39 unter Bezugnahme auf die ISB-Studie des BMAS,
Entwicklung der Zugangszahlen zu Werkstätten für behinderte Menschen, Bonn 2008.
SGB IX, Weisung der Bundesagentur für Arbeit SP II 23 vom 07.02.2008, wiedergegeben in Ernst/
Adlhoch/Seel, SGB IX, Anhang 2 zu § 39.
5C
ramer, Kommentar Werkstätten für behinderte Menschen, 5. Auflage § 2 WVO Rn. 17.
6 Wiedergegeben in Ernst/Adlhoch/Seel, Anhang 2 zu § 40 SGB IX, a. a. O auch Finke/Kadoke, § 40 Rn. 39.
7 Basener, Hamburger Arbeitsassistenz, Das Original der Unterstützten Beschäftigung, Verlag 53grad nord
Hamburg, 2010; Behncke, Zur Anerkennung eines Betrieblichen Berufsbildungsbereichs auf dem
allgemeinen Arbeitsmarkt für Menschen mit Lernschwierigkeiten, Werkstatt-Handbuch der Lebenshilfe
Marburg 2007, Kapitel D 13, 2007; Blesiner, Persönliches Budget für Leistungen der WfbM, WerkstattHandbuch der Lebenshilfe Marburg 2009 Kapitel A 3.
8 BAG UB, Konzept eines betrieblichen Berufsbildungsbereichs, Integrative berufliche Eingliederungsmaß-
nahme für junge Erwachsene mit Behinderung im Übergang von der Schule in den Beruf, März 2006,
http://www.bag-ub.de/publikationen/idx_publikationen.htm, aufgerufen am 16.07.2010.
9 Empfehlungen des Deutschen Vereins zur Bedarfsermittlung und Hilfeplanung in der Eingliederungshilfe
für Menschen mit Behinderungen, NDV 2009, 253 ff.
Rech t s d i e n s t 3 / 2 0 1 0
ein Überwechseln in die Unterstützte
Beschäftigung jederzeit möglich. Daher hätte in dem Fachkonzept auch
das Verfahren des Überwechselns in
die Unterstützte Beschäftigung erläutert werden müssen. Es ist durchaus
denkbar, dass bei einer Bewährung
auf einem betrieblichen Praktikumsplatz eine Umwandlung der Maßnahme in eine Unterstützte Beschäftigung angezeigt ist, für die die BA
weiterhin der zuständige Reha-Träger
bleibt.
Finanzierung rechtlich lückenhaft
Vergleicht man das Fachkonzept
mit den wesentlich umfangreicheren
Werkstattempfehlungen der BAGüS
vom 01.01.201010, fällt auf, dass die
Frage der Finanzierung mit keinem
Wort erwähnt wird. Diese steht nach
wie vor rechtlich auf tönernen Füßen,
wie Wehrhahn an Hand eines Verfahrens vor dem BSG, das durch einen
Vergleich beendet wurde, bereits 2007
belegt hat.11 § 41 Abs. 3 SGB IX regelt
nur die Finanzierung des Arbeitsbereichs. § 23a Reha-Anordnung vom
31.07.1975, der die Vergütung des Berufsbildungsbereichs zum Inhalt hatte,
wurde durch das SGB IX abgelöst,
ohne dass eine vergleichbare Norm geschaffen wurde. Die §§ 102 Abs. 2,
109 Abs.1 SGB III betreffen nur die
individuellen Teilnahmekosten, nicht
aber den Vertragsabschluss mit einer
Rechtsprechung und rechtspraxis
WfbM. Es fehlen also gesetzliche Regelungen analog der §§ 75 ff SGB XII,
wie die Vergütung zu vereinbaren ist,
mit einem Schiedsverfahren als
Schlichtung. Als Rechtsgrundlage
bleiben lediglich die BA-internen
„Grundsätze zur Beurteilung der Angemessenheit von Kosten in Einrichtungen der beruflichen Rehabilitation“
von 1983 (!), die laufend durch Vergütungsvereinbarungen auf Landesebene
oder direkt mit WfbM und Regionalen
Einkaufszentren fortgeschrieben werden, indem man sich an den mit den
Sozialhilfeträgern ausgehandelten Vergütungen orientiert. Ein Ausschreibungsverfahren, wie in § 47 SGB III
für Integrationsfachdienste als vermittlungsunterstützende Leistungen
jetzt vorgesehen, wird für Einrichtung
der beruflichen Reha (neben WfbM
auch Berufsbildungs- und -förderungswerke) nicht praktiziert und wäre
auch nicht wünschenswert.12
Spätestens wenn die personenzentrierte Leistungsgewährung in der Sozialhilfe Wirklichkeit wird, wird sich
115
die BA nicht mehr an der „Leitwährung“ Eingliederungshilfe in WfbM
orientieren können. Es wird dann keine gesonderte „Werkstattleistung“ mehr
geben, weil die individuelle Eingliederungshilfe unabhängig von der Einrichtungsvergütung ermittelt und berechnet wird. Die Werkstattleistung
geht dann auf in den tagesstrukturierenden Maßnahmen, die auf Basis von
Fachleistungsstunden zusammengefasst werden, und wird im Rahmen des
einrichtungsbezogenen Basisbetrags gemeinsam mit dem stationären Wohnen
berücksichtigt. Modellhaft erprobt wird
dies bereits im Bereich des Landeswohlfahrtsverbands Hessen durch das
Verfahren PerSEH.13
Es wird daher Zeit, die Kritik an
den fehlenden Rechtsgrundlagen für
die Finanzierung ernst zu nehmen,
und sich an die Arbeit für eine gerichtsfeste, zukunftsweisende und bedarfsdeckende Finanzierungsregelung
für das Eingangsverfahren und den
Berufsbildungsbereich zu machen.
10 S
iehe Besprechung von Wendt in RdLh 2/10, S. 87.
11 Wehrhahn, Vergütungsvereinbarungen für das Eingangsverfahren und den Berufsbildungsbereich
einer Werkstatt für behinderte Menschen? NDV 9-2007, 364 ff.
12 Engler, Die Leistungserbringung in den SGB II, III, VIII und XII im Spannungsfeld zum
europäischen und nationalen Vergaberecht, RsDE 71, 93 ff.
13 PerSEH steht für „Personenzentrierte Steuerung der Eingliederungshilfe in Hessen und wird
gegenwärtig modellhaft in den Regionen Werra-Meißner und Fulda durchgeführt, mit einer späteren Option für eine landesweite Einführung, nähere Informationen unter www.lwv-hessen.de
Verfahrensrecht
Umfassendes Einsichtsrecht in Pflegeakten
BGH, Urteil vom 23.03.2010 – Az: VI ZR 327/08
Die Beteiligten streiten um den
Anspruch auf Herausgabe von Kopien
der Pflegedokumentation einer Heimbewohnerin.
Krankenkasse Einsichtnahme in die
Pflegedokumentation. Dies lehnte der
Heimträger und sein Haftpflichtversicherer ab.
Eine schwerst pflegebedürftige
Frau wird in einem Altenheim vollstationär betreut. Lageveränderungen im
Bett kann sie nur mit personeller Hilfe
vornehmen. Im November 2006 erfolgte eine Operation wegen eines Sakraldekubitus.
Das Amtsgericht hat der Klage
stattgegeben (AG Essen, Urteil vom
03.04.2008 – Az: 18 C 462/07), das
Landgericht Essen hat im Berufungsverfahren einen Anspruch auf Herausgabe
von Kopien der Pflegedokumentation
gegen Kostenerstattung verneint (Urteil
vom 28.10.2008 – Az: 15 S 120/08).
Die Kosten von Operation und
Krankenhausaufenthalt trug die gesetzliche Krankenkasse der Heimbewohnerin. Um zu prüfen, ob der Dekubitus möglicherweise eine Folge
mangelhafter Pflege sei, verlangte die
Einsichtsrecht ist ein vertraglicher
Nebenanspruch
Der BGH hat einen grundsätzlichen Anspruch der Krankenkasse
auf Herausgabe von Kopien der Pflegedokumentationen bejaht und das
Urteil des LG Essen aufgehoben. Das
Recht auf Herausgabe ergebe sich aus
übergegangenem Recht gem. § 116
Abs. 1 SGB X i. V. m. §§ 401 Abs. 1
analog, 412 BGB wegen eines möglichen Schadensersatzanspruches der
Heimbewohnerin aus einer Verletzung
des Heimvertrags bzw. aus § 823 Abs.
1 BGB.
Patienten hätten gegenüber Arzt
und Krankenhaus einen Anspruch auf
Einsicht in ihre Krankenunterlagen als
Nebenanspruch aus dem Behandlungsvertrag. Dieser Anspruch bestehe
auch außerhalb eines Rechtsstreits als
Ausfluss des Rechts auf Selbstbestim-
116
Rechtsdienst 3/2010
Rechtsprechung und rechtspraxis
mung und personale Würde, ohne das
dafür ein besonderes rechtliches Interesse erforderlich sei.
Gleiche Einsichtsrechte für Patienten
und Heimbewohner
Diese im Arzt-/Krankenhaus - Patientenverhältnis maßgeblichen Gesichtspunkte gelten auch für das Recht
von Heimbewohnern auf Einsichtnahme in ihre Pflegedokumentation. Auch
diese enthalte höchstpersönliche Angaben über die Bewohner und berühre
in starkem Maße deren Selbstbestimmungs- und Persönlichkeitsrechte
(Art. 1 Abs. 1 i. V. m. Art. 2 Abs. 1 GG).
Die Pflegedokumentation sei eine
unverzichtbare Informationsquelle für
alle an der Pflege Beteiligten und diene auch dem Nachweis, dass Heimbewohner die ihnen nach dem Inhalt des
Heimvertrags zustehenden Leistungen
vom Pflegeheimträger erhalten und
letzterer seinen Verpflichtungen ihnen
gegenüber nachgekommen ist. Insoweit habe die Dokumentation den
Heimbewohnern gegenüber auch eine
wichtige Schutzfunktion.
Übertragung des Einsichtsrechts auf
Dritte möglich
Anschließend stellt das Gericht
fest, dass das Einsichtsrecht der Heimbewohnerin auch auf ihre Krankenkasse übergehen könne. Einsicht in
Krankenunterlagen und Pflegedokumentationen seien kein rein höchstpersönliches Recht, das nicht ganz
oder teilweise auf andere übergehen
könnte. Vielmehr dürfe dieser vertragliche Nebenanspruch bei legitimen
wirtschaftlichen Belangen geltend gemacht werden, wie etwa der Klärung
von Schadensersatzansprüchen.
Einsichtsrechte und Herausgabeansprüche sind nicht auf nach SGB XI
zugelassene Pflegeheime beschränkt.
Sie gelten gleichermaßen für Bewohnerinnen und Bewohner von Wohnstätten der Behindertenhilfe.
Allerdings könne das Einsichtsrecht nur dann übergehen, wenn
eine Einwilligung der Heimbewohnerin vorliege oder zumindest von
einem ver-muteten Einverständnis
auszugehen sei, soweit einer ausdrücklichen Befreiung Hindernisse
entgegenstünden.
Der BGH verneint einen eigenen,
originären Anspruch einer gesetzlichen Krankenkasse auf Übermittlung
der erforderlichen Unterlagen. § 294a
SGB V (Mitteilung von Krankheitsursachen und drittverursachten Gesundheitsschäden) scheide als unmittelbare
Anspruchsgrundlage aus, weil Pflegeeinrichtungen von dieser Vorschrift
nicht erfasst seien.
Anmerkung
Der BGH bekräftigt ein uneingeschränktes und umfassendes Einsichtsrecht von Heimbewohnern in
alle sie betreffenden Unterlagen als
Ausfluss des grundgesetzlich geschützten Selbstbestimmungs- und Persönlichkeitsrechts. Das Einsichtsrecht sei
allerdings kein so höchstpersönliches
Recht, dass eine Übertragung auf Dritte nicht möglich sei.
Diese Auffassung ist interessengerecht und kommt den Bedürfnissen
der Praxis entgegen. In einer nicht geringen Zahl von Fällen bedarf es der
Einbeziehung des Sachverstandes Dritter, um eine Angelegenheit zu klären.
Einsichtsrecht muss wirksam
übertragen werden
Eine analoge Anwendung der
Norm stehe dem Grundrecht von
Heimbewohnern auf informationelle
Selbstbestimmung entgegen. Dieses
Recht beinhalte die Befugnis des Einzelnen, über die Preisgabe und Verwendung seiner persönlichen Daten
grundsätzlich selbst zu bestimmen.
Dies bedeutet zugleich, dass die
Einwilligung betroffener Heimbewohner wirksam erteilt werden muss. Dies
wäre zu verneinen, wenn die erforderliche Einsichts- und Urteilsfähigkeit
fehlt. Im Falle einer gesetzlichen Betreuung ist mithin die Einwilligung des
gesetzlichen Betreuers notwendig. (Sch)
Heimrecht
Geldwerte Leistungen an Wohneinrichtungen
Ungereimtheiten im Umgang mit § 10 Abs. 4 WTG-NRW
von Andreas Mikysek, Justiziar beim Lebenshilfe Landesverband Nordrhein-Westfalen
Am 18.11.2008 ist das Wohn- und
Betreuungsgesetz (WTG) in NRW in
Kraft getreten. Erklärtes Ziel des Gesetzgebers bei Einführung des WTG
war es, die Heimbewohner stärker zu
schützen und eine Entbürokratisierung der Heimaufsicht herbeizuführen. In § 10 WTG hat der Landesgesetzgeber eine Regelung für Leistungen
an den Betreiber einer Betreuungseinrichtung und dessen Beschäftigte aufgenommen. Nach dem ersten Absatz
der Regelung ist es dem Betreiber, der
Einrichtungsleitung, den Beschäftigten oder sonstigen in der Betreuungs-
einrichtung tätigen Personen untersagt,
sich von oder zugunsten von Bewohnern oder Bewerbern um einen Platz
in der Einrichtung Geld- oder geldwerte Leistungen über das vertraglich
vereinbarte Entgelt hinaus versprechen oder gewähren zu lassen. Inhaltlich knüpft das Leistungsverbot des
§ 10 Abs. 1 WTG an die Vorgängervorschrift des § 14 Abs. 1 HeimG an.
Auch die Landesgesetze in Bayern,
Baden-Württemberg,
Brandenburg,
Hamburg, Rheinland-Pfalz, Saarland
und Schleswig-Holstein enthalten
Vorschriften, die sich an § 14 HeimG
orientieren. Inhaltlich sind diese an §
14 HeimG angelehnten Vorschriften
teilweise so aufgebaut, dass im jeweils
ersten Absatz der Vorschrift das Verbot der Leistung von geldwerten Leistungen an den Träger bzw. dessen Beschäftigte ausgesprochen wird, während in den nachfolgenden Absätzen
eine Möglichkeit vorgesehen ist, eine
behördliche Ausnahmegenehmigung zu
beantragen.1
1 Die Möglichkeit der Beantragung einer
Ausnahmegenehmigung findet sich etwa in §
14 Abs. 6 HeimG, § 28 Abs. 5 SbStG,
Rech t s d i e n s t 3 / 2 0 1 0
Sonderweg des § 10 WTG
Einen Sonderweg geht hingegen
die nordrhein-westfälische Regelung.
Der Landesgesetzgeber hat darauf verzichtet, eine dem § 14 Abs. 6 HeimG
vergleichbare Ausnahmegenehmigungsmöglichkeit in das WTG aufzunehmen. Hingegen hat er in § 10 Abs. 4
Satz 1 WTG eine Ausnahme vom Leistungsverbot für den Fall vorgesehen,
dass der Betreiber Spenden annimmt
und nachweist, dass er in Bezug auf
die Spende einem Bewohner oder
einem Bewerber um einen Platz in der
Betreuungseinrichtung keine günstigere oder weniger günstige Behandlung zukommen lässt oder hat zukommen lassen als einer anderen Person in
einer vergleichbaren Situation zukommt, zugekommen ist oder zukommen würde. Nach § 10 Abs. 4 Satz 2
WTG wird diese fehlende Ungleichbehandlung vermutet, wenn die Spende
von einer juristischen Person erbracht
wird, die steuerbegünstigte Zwecke verfolgt und deren satzungsmäßiger Zweck
die Unterstützung von Hospizen ist.
In Brandenburg findet sich in § 14
Abs. 1 Nr. 5 BbgPBWoG eine ähnliche
Spendenvorschrift, hier allerdings mit
dem Unterschied, dass der Landesgesetzgeber zusätzlich die Möglichkeit
der Erteilung einer Ausnahmegenehmigung vorgesehen hat.
Im Folgenden sollen aktuelle Probleme und Ungereimtheiten kurz dargestellt werden, die sich aus der gesetzgeberischen Konzeption des § 10
Abs. 4 WTG-NRW ergeben.
Zeitpunkt des Nachweises bei
testamentarischen Zuwendungen
Die überwiegende Rechtsprechung
und Literatur subsumierte unter einem
Versprechen oder Gewährenlassen im
Sinne des wortlautähnlichen § 14 Abs.
1 HeimG auch eine testamentarische
Begünstigung, sofern der Heimträger
oder das Heimpersonal bis zum Tode
des Erblassers davon Kenntnis erlangt
hatte.2 Überwiegend wurde deshalb in
§ 14 Abs. 1 HeimG ein über die Vorschrift des § 134 BGB hergeleitetes Testierverbot erblickt. Die damit einhergehende Einschränkung der Testier-
Rechtsprechung und rechtspraxis
freiheit hat das Bundesverfassungsgericht für zulässig erachtet.3 Das
Gericht hat die Regelung des § 14 Abs.
1 HeimG jedoch nur deshalb als verhältnismäßig eingestuft, weil der Erblasser, der seinen letzten Willen dem
bedachten Heimträger mitteilen will,
die Wirksamkeit seiner testamentarischen Verfügung dadurch sichern
konnte, dass er vorher eine Erlaubnis
für die Zuwendung beantragte. Eine
Ausnahmegenehmigung konnte nach
überwiegender Ansicht jedoch nur bis
zur Errichtung der letztwilligen Verfügung wirksam beantragt werden.4 Zur
Begründung wurde dabei insbesondere auf den Wortlaut des § 14 Abs. 6
HeimG und den Zweck der Vorschrift,
den Heimfrieden zu schützen, abgestellt. War also ein Testament unter
Verstoß gegen § 14 Abs. 1 HeimG errichtet worden, so war eine nachträgliche Heilung des Rechtsgeschäftes
durch Einholung einer behördlichen
Ausnahmegenehmigung nicht mehr
möglich.
Da der Landesgesetzgeber NRW
darauf verzichtet hat, eine Ausnahmegenehmigungsmöglichkeit in das WTG
aufzunehmen, stellt sich zwangsläufig
die Frage, welche Auswirkungen dies
auf die Testierfreiheit hat. Wenn man
unter den Begriff der Spende keine
letztwilligen Verfügungen subsumieren will, so wäre die Konsequenz,
dass, mangels Ausnahmegenehmigungsmöglichkeit, in § 10 Abs. 1 WTG kein
Verbotsgesetz mehr erblickt werden
kann, da dem Gesetzgeber schlecht
unterstellt werden kann, verfassungswidrige Gesetze zu erlassen. Hält man
es hingegen für erforderlich, dass § 10
Abs. 1 WTG nicht nur ordnungsrechtlichen Charakter, sondern auch die
Testierfreiheit beschränkende Wirkung haben muss, so kommt man
nicht umhin, auch testamentarische
Zuwendungen als Spenden im Sinne
dieser Vorschrift aufzufassen.
Folgt man diesem Standpunkt,
stellt sich die Frage, ob durch den Ersatz des Ausnahmegenehmigungsverfahrens durch ein Nachweisverfahren
Änderungen hinsichtlich des zeitlichen Zusammenhangs zwischen dem
Behördenverfahren und der Errich-
§ 8 Abs. 5 LHeimGS, Art. 8 Abs. 6 PfleWoqG, § 9 Abs. 5 LHeimG, § 14 Abs. 1 Nr. 4 BbgPBWoG,
§ 5a Abs. 5 HmbWBG, § 11 Abs. 4 LWTG.
2 Tersteegen, ZErb 2007, 414, 415; ders. RNotZ 2009, 222, 223; Kunz/Butz, Heimgesetz, 10. Auflage,
§ 14 Rn. 24; BVerfG v. 03.07.1998, Az: 1 BvR 434/98; Plantholz in LPK-HeimG, 2. Auflage,
§ 14 Rn. 8.
3B
VerfG v. 03.07.1998, Az: 1 BvR 434/98.
4 BVerwGE 78, 357; VGH Mannheim, Urteil vom 01.07.2004, Az: 6 S 40/04 = MittBayNot 4/2005,
317 ff.; OLG Berlin, Urteil vom 28.03.1989, Az: 4 B 7.89; Kunz/Butz, Heimgesetz, 10. Auflage,
§ 14 Rn. 26; Plantholz in LPK-HeimG, 2. Auflage, § 14 Rn. 26.
117
tung der testamentarischen Verfügung
ergeben. Für Spenden, die keine letztwilligen Begünstigungen darstellen,
dürfte sich aus § 10 Abs. 4 Satz 1 WTG
eindeutig ergeben, dass das Nachweisverfahren erst mit bzw. nach der Annahme der Spende betrieben werden
muss. Zum einen heißt es in § 10 Abs.
4 Satz 1 WTG, dass der Nachweis zu
führen ist, wenn der Betreiber die
Spende „annimmt“. Der Begriff der
Annahme deutet darauf hin, dass bereits etwas empfangen wurde. Zum
anderen lässt die Verwendung der Formulierung „hat zukommen lassen“
vermuten, dass der Nachweis sich
auch auf ein Verhalten gegenüber Bewohnern oder Bewerbern in der Vergangenheit beziehen kann. Der Nachweis bezieht sich also auf ein zeitlich
vorangegangenes Verhalten, welches
im Zusammenhang mit der Zuwendung stehen kann. Ebenfalls lässt die
in § 10 Abs. 4 Satz 3 WTG enthaltene
Dokumentationspflicht vermuten, dass
das Nachweisverfahren erst später betrieben werden kann. Denn dokumentiert werden kann etwas normalerweise erst dann, wenn es zuvor tatsächlich
empfangen wurde. Schließlich ist
noch darauf hinzuweisen, dass die Regelung in § 14 Abs. 6 HeimG, wonach
eine Ausnahmegenehmigung nur dann
erteilt werden kann, wenn die Leistung noch nicht versprochen oder gewährt wurde, für das in § 10 Abs. 4
WTG geregelte Nachweisverfahren gerade nicht übernommen wurde. Hätte
der Landesgesetzgeber gewollt, dass
Zuwendungen an den Heimträger außerhalb des Anwendungsbereichs des
zweiten Absatzes nur bei vorherigem
Nachweis nach § 10 Abs. 4 WTG möglich sind, so hätte es nahegelegen, eine
entsprechende Regelung, wie sie in §
14 Abs. 6 HeimG enthalten war, auch
in das WTG aufzunehmen.
Wenn für einfache Geldspenden
also der Nachweis nachträglich geführt werden kann, so müsste dies
konsequenterweise auch für testamentarische Zuwendungen gelten, wenn
nicht besondere Gründe dagegen sprechen. Hat sich der Gesetzgeber also
mit der Regelung des Nachweisverfahrens dagegen entschieden, dass das
Behördenverfahren vor der Errichtung
des Testaments betrieben werden muss?
In Anbetracht des recht eindeutigen
Wortlauts des § 10 Abs. 4 Satz 1 WTG
wird man diese Frage nur dann verneinen können, wenn Sinn und Zweck
dieser Vorschrift es gebieten, dass bei
testamentarischen Verfügungen das
Nachweisverfahren vor Errichtung des
Testaments betrieben wird. In diesem
Sinne hatte die Rechtsprechung bereits zur Vorgängervorschrift des § 14
118
Rechtsdienst 3/2010
Rechtsprechung und rechtspraxis
Abs. 1 HeimG teilweise die Ansicht
vertreten, dass der Schutzzweck des
Leistungsverbotes es zwingend erforderlich macht, nachträgliche Genehmigungsverfahren nicht anzuerkennen.5 Das Bundesverwaltungsgericht
hat in diesem Sinne den Schutzcharakter des § 14 Abs. 1 HeimG betont
und sich im Wesentlichen auf vier
Gründe gestützt: es müsse verhindert
werden, dass der Heimträger die empfangene Zuwendung dazu nutze, einzelne Bewohner zu bevorzugen (1),
dass ein unseriöser Heimträger ein Interesse am vorzeitigen Tod des Heimbewohners habe (2), dass sich ein
Heimträger die nachteiligen Folgen
des Zeitablaufs bis zur Erteilung der
Genehmigung bewusst zunutze mache
(3) und dass durch die Anerkennung
einer nachträglichen Genehmigungsmöglichkeit das Heimklima gestört
werde (4). Was das erste Argument betrifft, so stellt der Landesgesetzgeber
durch den Nachweis der fehlenden
Ungleichbehandlung gerade sicher,
dass einzelne Bewohner nicht bevorzugt oder benachteiligt werden. Der
zweite Einwand mag inhaltlich zutreffend sein, ein Interesse am vorzeitigen
Tod des Bewohners kann aber bereits
dann bestehen, wenn der unseriöse
Heimträger Kenntnis von der Absicht
des Verfügenden erhält und das Testament noch nicht errichtet ist. Hinsichtlich des dritten Arguments muss
man sich fragen, welche nachteiligen
Folgen das Gericht hier ins Auge gefasst hat. Denn bis zur Genehmigung
bzw. Nachweiserbringung ist das Testament unwirksam, der Träger profitiert hiervon also zunächst nicht. Was
das Heimklima betrifft, so hat der
Landesgesetzgeber dieses jedenfalls
nicht als gestört angesehen, wenn der
Heimträger eine einfache Spende annimmt und sodann den Nachweis
nach § 10 Abs. 4 WTG führt; es ist
nicht ersichtlich, wieso dies bei letztwilligen Verfügungen anders sein soll.
Festgehalten werden kann damit
zumindest, dass die Diskussion hinsichtlich des Zeitpunktes des Nachweises bei testamentarischen Zuwendungen durch § 10 Abs. 4 Satz 1 WTG
wohl neu angefacht werden wird. Freilich bereitet die Vorstellung, dass ein
Testament zumindest bis zum geführten Nachweis schwebend unwirksam sein soll, im Hinblick auf die
Rechtssicherheit „Bauchschmerzen“.
Es ist deshalb bis zur gerichtlichen
Klärung der aufgeworfenen Frage der
Praxis dringend anzuraten, das Nachweisverfahren so früh wie möglich zu
führen, wenn möglich also bereits vor
Errichtung einer den Heimträger begünstigenden letztwilligen Verfügung.
Abschluss des Nachweisverfahrens
Das Genehmigungsverfahren nach
§ 14 Abs. 6 HeimG fand mit einer formalen Entscheidung der Behörde ihren Abschluss, die für alle Parteien
Rechtssicherheit geschaffen hat. Mit
Erlass der Genehmigung stand für den
Erblasser fest, inwieweit er zugunsten
des Heimträgers verfügen kann. Diese
Rechtssicherheit ist im Geltungsbereich des WTG-NRW weggefallen, da
das Nachweisverfahren nach dem Wortlaut des Gesetzes keinen förmlichen
Abschluss vorsieht.6 Im schlimmsten
Fall kann die Behörde den Nachweis
als geführt ansehen, ohne die Beteiligten darüber zu informieren. Dies
kann sich zuspitzen, wenn der begünstigte Einrichtungsträger einen Erbschein beantragt und nicht im Besitz
einer feststellenden Entscheidung der
Heimaufsicht ist.
Man wird deshalb annehmen müssen, dass im Falle einer Begünstigung
durch letztwillige Verfügung der begünstigte Heimträger einen Anspruch
darauf hat, dass die Heimaufsicht auf
Antrag das Ergebnis der Prüfung nach
§ 10 Abs. 4 Satz 1 WTG feststellt.7
Dies gebietet eine verfassungsrechtskonforme Auslegung des § 10 Abs. 4
Satz 1 WTG. Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Entscheidung
vom 03.07.1998 zur Frage der Verfassungskonformität des § 14 HeimG
festgestellt, dass heimrechtliche Einschränkungen der Testierfreiheit nur
dann den Anforderungen des Art. 14
GG genügen, wenn hierdurch die Errichtung von letztwilligen Verfügungen
nicht unzumutbar erschwert wird.8
Wenn der Erblasser aber über das Ergebnis des Nachweisverfahrens im
Unklaren gelassen wird, kann er subjektiv nicht einschätzen, inwieweit
seine Verfügung Wirksamkeit haben
wird. Dies würde eine unzumutbare
Erschwerung der Testamentserrichtung darstellen.
Problematische Sonderregelung für
Hospize
Kritik muss an Satz 2 des vierten
Absatzes geübt werden, wonach eine
gleichmäßige Verwendung der Mittel
durch den Betreiber vermutet wird,
wenn die Fördereinrichtung steuerbegünstigte Zwecke verfolgt und Hospize unterstützt. Mit anderen Worten:
solange die eine Institution gemeinwohlbezogen auftritt, ist davon auszugehen, dass die andere Institution bei
der Annahme von Spenden im Interesse aller Heimbewohner handelt.
Eine – gelinde gesagt – gewagte Schlussfolgerung. Darüber hinaus bestehen
verfassungsrechtliche Probleme im Hin-
blick auf Art. 3 I GG und den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. Zweck der
Regelung ist es, dem Umstand Rechnung zu tragen, dass Hospize nach
den Regeln des SGB V verpflichtet
sind, einen Teil ihrer Arbeit durch
Spenden zu finanzieren.9 Der Gesetzgeber wollte also durch § 10 Abs. 4
Satz 2 WTG sicherstellen, dass die Finanzierung der Hospize im Hinblick
auf § 10 Abs. 4 Satz 1 WTG nicht gefährdet wird. Dieses Ziel hätte der Gesetzgeber aber auch dann erreichen
können, wenn die Vermutungsregelung auf alle oder weitere benannte
Fördereinrichtungen mit gemeinnützigem Zweck ausgedehnt worden
wäre. Die mittelbare Benachteiligung,
die sich aus § 10 Abs. 4 Satz 2 WTG
für andere Fördereinrichtungen ergibt,
wäre so vermieden worden.
Dass die Regelung insgesamt als
missglückt zu bezeichnen ist, zeigt
auch, dass nach dem Wortlaut der Vorschrift die Vermutungsregelung auch
dann greifen würde, wenn die HospizFördereinrichtung unter Verstoß gegen ihren Satzungszweck Spenden an
eine andere Betreuungseinrichtung erbringen würde.
5 BVerwGE 78, 357 ff.; VGH Mannheim, Urteil
vom 01.07.2004, Az: 6 S 40/04, MittBayNot
4/2005, S. 317.
6 So wohl auch Spall, MittBayNot 2010, S. 9 f.,
15.
7 Vgl. aber Spall, a. a. O., der wohl keine
Möglichkeit behörderlicherseits sieht, die
Wirksamkeit einer Zuwendung festzustellen.
Allerdings wird hier nicht die Feststellung der
Wirksamkeit des Testaments gefordert,
sondern die Feststellung des Ergebnisses des
Nachweisverfahrens.
8B
VerfG v. 03.07.1998, Az: 1 BvR 434/98.
9 Vgl. LT Dr. 14/6972, S. 54.
Rech t s d i e n s t 3 / 2 0 1 0
Rechtsprechung und rechtspraxis
119
Betretensrechte der Heimbeschäftigten für Privaträume für
Heimbewohner
OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 16.10.2009 – Az: OVG 6 N 25.08
Streitig war in diesem Verfahren
die Rechtmäßigkeit der einem Heimträger von der Heimaufsichtsbehörde
erteilten Anordnung, in die mit den
Heimbewohnern zu schließenden
Heimverträge Regelungen über die Befugnis der Mitarbeiter des Heimträgers
zum Betreten der Heimräume aufzunehmen. Die Anordnung sah insoweit
vor, dass das Betreten grundsätzlich
vom Einverständnis des Bewohners
abhänge, das Betreten zu Reparaturzwecken mindestens eine Woche vorher anzukündigen sei und das Betreten ohne Anmeldung nur bei Gefahr
im Verzug für Leben und Gesundheit
der Bewohner erfolgen dürfe.
Nachdem das Verwaltungsgericht
Cottbus mit Urteil vom 14.02.2008
(Az: 5 K 1482/04) den Bescheid der
Heimaufsicht aufgehoben hatte, beantragte die Behörde beim OVG BerlinBrandenburg die Zulassung der Berufung. Das OVG hat diesen Antrag
zurückgewiesen. Zur Begründung hat
der Senat ausgeführt, das VG habe die
umstrittene Anordnung zutreffend für
rechtswidrig gehalten, weil die materiellrechtlichen Voraussetzungen zu ihrem Erlass nicht vorgelegen hätten.
Als Rechtsgrundlage der Anordnung
komme allein § 17 Abs. 1 Satz 1
HeimG in der zum Zeitpunkt des
Wirksamwerdens des Widerspruchsbescheides geltenden Fassung in Betracht. Nach dieser Vorschrift könnten
gegenüber den Trägern Anordnungen
erlassen werden, die zur Beseitigung
einer eingetretenen oder Abwendung
einer drohenden Beeinträchtigung
oder Gefährdung des Wohls der Bewohnerinnen und Bewohner, zur Sicherung der Einhaltung der dem Träger gegenüber den Bewohnerinnen
und Bewohnern obliegenden Pflichten
oder zur Vermeidung einer Unangemessenheit zwischen dem Entgelt und
der Leistung des Heims erforderlich
sind, wenn festgestellte Mängel nicht
abgestellt werden.
Das Vorliegen dieser Voraussetzungen habe das VG zutreffend verneint. Dabei habe es im Ergebnis zu
Recht angenommen, dass es bereits an
der Feststellung eines eine Aufsichtsmaßnahme erforderlich machenden
Mangels im Sinne der Vorschrift fehle.
Das Fehlen der verlangten Abrede im
Heimvertrag stelle keinen Mangel in
diesem Sinne dar. Der den Heimbewohnern ebenso wie jedem anderen
Grundrechtsträger zustehende Schutz
der Intim- und Privatsphäre bestehe
gegenüber den Heimbeschäftigten unabhängig davon, ob hierzu Abreden in
den Heimverträgen getroffen würden.
Entsprechende Klauseln in den Heimverträgen wären demnach rein deklaratorischer Natur. Das VG weise in
dem angefochtenen Urteil im Übrigen
zu recht darauf hin, dass in jedem Fall
der konkrete Vorgang des Betretens
des Zimmers zur Vornahme von erforderlichen Überwachungs-, Betreuungs- und Pflegedienstleistungen oder
zu anderen Zwecken die Würde des
Bewohners zu wahren habe. Ein fehlerfreies Verhalten werde daher – soweit nicht wichtige Gründe, etwa der
besonderen Eilbedürftigkeit entgegen
stünden – grundsätzlich Maßnahmen
einschließen, die dem Bewohner Gelegenheit geben, seine Privat- und Intimsphäre zu wahren.
Der Vortrag der beklagten Heimaufsichtsbehörde, ohne die streitigen
Vertragsbestimmungen sei zu befürchten, dass die Mitarbeiter des Heimträgers ohne jede Rücksicht die Räumlichkeiten der Heimbewohner permanent betreten, gehe am Kern der
hier aufgeworfenen Fragestellung vorbei. Sollte die Befürchtung zu Recht
bestehen, wäre gleichwohl nicht ersichtlich, weshalb es einen Mangel i.
S. d. § 17 Abs. 1 Satz 1 HeimG darstellen solle, dass solche Regelungen nicht
in den Heimverträgen enthalten seien.
Der „Mangel“ läge dann im Verhalten
der Heimbeschäftigten, aber nicht in
den vertraglichen Vereinbarungen.
Unbeschadet dessen sei diese Befürchtung auch gänzlich unsubstanziiert
und in ihrer Pauschalität nicht geeignet, Gefährdungen des Wohls der
Heimbewohner oder Pflichtverletzungen des Heimträgers zu belegen. Hierfür müsste die Behörde darlegen, dass
die geforderte Beeinträchtigung, Gefährdung oder Pflichtverletzung konkret drohe. Sollte sich in einem der
betroffenen Heime eine Praxis etablieren oder etabliert haben, die die Privat- und Intimsphäre der Heimbewohner nicht hinreichend beachte, stehe
es der Heimaufsicht im Übrigen frei,
nach Maßgabe des § 17 Abs. 1 Satz 1
HeimG eine aufsichtsrechtliche Anordnung zur Behebung dieses Zustandes zu erlassen. (He)
Betreuungsrecht
Voraussetzungen der Unterbringung nach § 1906 BGB
BGH, Beschluss vom 23.06.2010 – Az: XII ZB 118/10
Streitig war in diesem Verfahren
die Zulässigkeit der auf Antrag einer
Betreuerin durch das Amtsgericht genehmigten Unterbringung eines an
Schizophrenie leidenden Mannes für
die Zeit vom 18.02.2010 bis längstens
19.08.2010. Die dagegen gerichtete
Beschwerde des Betroffenen hatte das
Landgericht zurückgewiesen.
Die Rechtsbeschwerde gegen den
Beschluss des LG hat der BGH für
nicht begründet erklärt. Allerdings
konnten nach Ansicht des Senats die
Feststellungen des Landgerichts über
das Vorliegen der Voraussetzungen für
eine Unterbringung des Betroffenen
nach § 1906 Abs. 1 Nr. 2 BGB die Un-
120
Rechtsdienst 3/2010
Rechtsprechung und rechtspraxis
terbringungsgenehmigung nicht tragen. Nach dieser Vorschrift ist eine
Unterbringung des Betreuten durch
den Betreuer zulässig, wenn eine Heilbehandlung notwendig ist, die ohne
die Unterbringung nicht durchgeführt
werden kann und der Betreute aufgrund einer psychischen Krankheit
die Notwendigkeit der Unterbringung
nicht erkennen oder nicht nach dieser
Einsicht handeln kann.
Da eine Unterbringung nach dieser
Vorschrift gerade nicht an die engeren
Voraussetzungen des § 1906 Abs. 1
Nr. 1 BGB (Suizidgefahr bzw. erhebliche Gesundheitsschädigung) gebunden sei, komme dem Verhältnismäßigkeitsprinzip bei der Anwendung dieser
Regelung als notwendigem Korrektiv
für Eingriffe in das Freiheitsrecht besondere Bedeutung zu. Für eine die
Unterbringung rechtfertigende Heilbehandlung müsse deshalb im Einzelfall
eine medizinische Indikation bestehen und der mögliche therapeutische
Nutzen der Behandlung gegen die Gesundheitsschäden abgewogen werden,
die ohne die Behandlung entstehen
würden. Der landgerichtliche Beschluss enthalte keine Erörterungen
zur Verhältnismäßigkeit nach diesen
Maßstäben. Insbesondere seien – wie
von der Rechtsbeschwerde beanstandet – die konkret beabsichtigte Therapie und die Aussichten, die der Krankheitsverlauf mit und ohne diese Therapie nehmen würde, dort nicht ausdrücklich benannt. Zwar habe das LG
davon ausgehen dürfen, dass sich Behandlungsbedürftigkeit, Therapie und
Unterbringungsnotwendigkeit aus mehreren umfänglichen Gutachten, die im
Laufe der aufeinander folgenden Unterbringungsverfahren erstellt worden
seien, mit hinreichender Verlässlichkeit und Aktualität erschließen ließen.
Auch fänden sich bereits in den vorangegangenen Beschwerdeentscheidungen des LG hierzu nähere Hinweise,
deren stete Wiederholung grundsätzlich als unnötige „Förmelei“ erachtet
werden könnte.
Indes unterscheide sich die angefochtene Entscheidung von den vorangegangenen Beschlüssen durch die
nunmehr vorgesehene Unterbringungsdauer von einem halben Jahr nicht unerheblich; angesichts dieses Unterschiedes habe es einer Darlegung
bedurft, inwieweit auch die jetzt genehmigte längerfristige Unterbringung unter dem Gesichtspunkt der Verhältnismäßigkeit von den bisherigen Befunden
gedeckt und durch das therapeutische
Konzept gerechtfertigt werde. An einer
solchen Darlegung fehle es in dem angefochtenen Beschluss.
Gleichwohl erweise sich die angefochtene Entscheidung des LG im Ergebnis als richtig, weil das LG seine
Entscheidung auch auf § 1906 Abs. 1
Nr. 1 BGB gestützt habe. Diese Vorschrift verlange – im Gegensatz zur
öffentlich-rechtlichen Unterbringung
– keine akute, unmittelbar bevorstehende Gefahr für den Betreuten. Notwendig sei allerdings eine ernstliche
und konkrete Gefahr für dessen Leib
und Leben, wobei die Anforderungen
an die Voraussehbarkeit einer Selbsttötung oder einer erheblichen gesundheitlichen Eigenschädigung jedoch
nicht überspannt werden dürften. Die
Prognose sei im Wesentlichen Sache
des Tatrichters. Das LG sei insoweit
dem Gutachten des Sachverständigen
M. vom 09.02.2010 gefolgt, nach dem
„weiterhin die Gefahr bestehe, dass
der Betroffene sich selbst erheblichen
gesundheitlichen Schaden zufüge“. Es
habe sich außerdem auf die gutachtliche Stellungnahme des den Betroffenen behandelnden Oberarztes P. gestützt, der anlässlich seiner Anhörung
vor dem LG die Ergebnisse der Begutachtung durch M. ausdrücklich bestätigt habe. Beiden sachverständigen
Äußerungen sei zu entnehmen, dass
ohne die Fortsetzung der bisherigen
Medikation die Gefahr einer erheblichen Eigenschädigung des Betreuten
bestehe, der Betreute in der Vergangenheit die Einnahme der Medikamente stets abgesetzt habe und deshalb
die
Unterbringung
zur
kontinuierlichen Fortführung der Medikation erforderlich sei.
Weiterer Erkundungen habe es
nach Ansicht des BGH nicht bedurft.
Insbesondere habe es keiner Ermittlung besonderer tatsächlicher Vorkommnisse aus der jüngeren Vergangenheit bedurft, die sichere Rückschlüsse auf die Gefahr der Eigenschädigung ermöglichen könnten.
Ebenso sei es – angesichts der auch in
den Gutachten geschilderten Lebenssituation des Betroffenen – verzichtbar, weil fernliegend, gewesen, ausdrücklich auch der Frage nach
möglichen Alternativen zur Unterbringung nachzugehen.
Aus der von der Rechtsbeschwerde
angeführten Stellungnahme der Stationsärztin H., die diese am 26.01.2010
anlässlich einer Anhörung im vorangehenden Genehmigungsverfahren abgegeben habe, ergebe sich nichts Gegenteiliges. Die Stationsärztin hielt
zum damaligen Zeitpunkt einen Suizid „grundsätzlich für möglich“, die
Suizidgefahr sei jedoch „nicht mehr
das vordergründige Thema“. Durch
seine Verweigerungshaltung sei der
Betroffene in eine perspektivlose Situation geraten. Es sei daher „in der Tat
die schlimmste Befürchtung, das derartiges passieren könne“. Nach Auffassung des BGH war es rechtsbeschwerderechtlich nicht zu beanstanden, wenn das LG diesen Ausführungen keine Bedeutung zugemessen habe, soweit sie den zuvor
wiedergegebenen Darlegungen der
beiden anderen Sachverständigen widersprachen.
Anmerkung
Der BGH unterstreicht mit seiner
Beanstandung der unzureichenden
Prüfung der Voraussetzungen von §
1906 Abs. 1 Nr. 2 BGB die hohe Bedeutung der Beachtung des Verhältnismäßigkeitsprinzips, welches bei der
Genehmigung einer freiheitsentziehenden Unterbringung zur Ermöglichung einer Behandlung angemessen
zu berücksichtigen ist. Daneben verdeutlichen die Ausführungen zu den
Voraussetzungen des § 1906 Abs. 1
Nr. 1 BGB die Schwierigkeit, auf der
Grundlage entsprechender Prognosen
von Sachverständigen eine den Interessen der Betroffenen dienende gerichtliche Entscheidung zu treffen.
Maßgeblich sind hier stets die Umstände des Einzelfalles. Die Aussage
des BGH, die Anforderungen an die
Voraussehbarkeit einer Selbsttötung
oder einer erheblichen gesundheitlichen Eigenschädigung dürften bei der
Prüfung der Unterbringungsvoraussetzungen „nicht überspannt werden“,
sollte dabei untere Instanzen nicht
dazu verleiten, es an Sorgfalt bei der
Prüfung der Voraussetzungen für derartige Eingriffe in die Freiheitsrechte
der Betroffenen mangeln zu lassen.
(He)
Rech t s d i e n s t 3 / 2 0 1 0
Rechtsprechung und rechtspraxis
121
Zivilrecht/Unterhaltsrecht
Zur unbilligen Härte der Unterhaltsleistung von Eltern
behinderter Kinder
BGH, Urteil vom 23.06.2010 – Az: XII ZR 170/08
Die Eltern eines an paranoider
Schizophrenie erkrankten Sohnes
wenden sich gegen die Unterhaltsforderung des Sozialamtes, das für den
Heimaufenthalt ihres Sohnes in Höhe
von 3.857 Euro monatlich aufkommt.
Der BGH bestätigte ein Urteil des
OVG Zweibrücken, wonach eine Unterhaltspflicht der Eltern nach § 1601
BGB gegeben sei. In Höhe seines Unterhaltsbedarfs sei der Sohn bedürftig,
weil er wegen seiner Erkrankung außerstande sei, sich selbst zu unterhalten. Die Beklagten seien in Höhe des
zugesprochenen Unterhalts auch leistungsfähig, da sie in guten Einkommensverhältnissen lebten.
Der Unterhaltsanspruch könne
auch nicht aus Billigkeitsgründen
nach § 1611 BGB herabgesetzt werden oder entfallen. Diese Vorschrift
setze eine schwere Verfehlung gegen
den Unterhaltspflichtigen voraus. Das
Fehlen eines familiären Kontakts sei
dafür nicht ausreichend. Auch das von
den Beklagten geltend gemachte dreimalige Einbrechen in ihr Anwesen,
ohne etwas zu entwenden, sei krankheitsbedingt zu bewerten, und deshalb
keine schwere Verfehlung.
Der
Unterhaltsanspruch
des
Sohnes sei in Höhe von 46 Euro auf
die Klägerin nach § 94 Abs. 2 Satz 2
SGB XII als Pauschalabgeltung übergegangen. Diese gesetzliche Vermutung des Übergangs des Unterhaltsanspruchs sei jedoch von den Unterhaltsschuldnern widerlegbar, wenn
keine Leistungsfähigkeit vorliege oder
die anteilige Haftung nicht beachtet
worden sei.
Kindergeldbezug für
Anspruchsübergang ohne Bedeutung
Der Anspruchsübergang sei nicht
davon abhängig, ob die Eltern Kindergeld erhalten. Dies ergebe sich weder
aus dem Wortlaut noch dem Sinn der
Regelung und könne nicht daraus entnommen werden, dass der Anspruchsübergang sich in seiner Höhe an der
Entwicklung der Höhe des Kinder-
geldes orientiere. Durch die Regelung
des § 94 Abs. 2 SGB XII sollten Eltern
behinderter Kinder privilegiert werden. Die ohnehin durch die Behinderung des erwachsenen Kindes schwer
getroffenen Eltern sollten nicht auch
noch mit Pflegekosten belastet werden. Würde diese Privilegierung den
Kindergeldbezug voraussetzen, liefe
dies diesem Gesetzeszweck zuwider.
Materielle und immaterielle
Härtegründe
Auch eine unbillige Härte i. S. d. §
94 Abs. 3 SGB XII liege nicht vor.
Umstände, die bereits nach bürgerlichem Recht ganz oder teilweise
einem Unterhaltsanspruch entgegenstehen, zählten allerdings nicht dazu.
Soweit ein Unterhaltsanspruch aus
diesen Gründen nicht bestehe, könne
er auch nicht auf den Träger der Sozialhilfe übergehen.
Das Verständnis der unbilligen
Härte hänge von den sich wandelnden
Anschauungen der Gesellschaft ab.
Die Härte könne in materiellen oder
immateriellen Gründen bestehen und
entweder in der Person des Unterhaltspflichtigen oder des Unterhaltsberechtigten liegen. Bei der Auslegung
sei in erster Linie die Zielsetzung der
Hilfe zu berücksichtigen; daneben
seien aber auch die allgemeinen
Grundsätze der Sozialhilfe, die Belange der Familie und die wirtschaftlichen
und persönlichen Beziehungen sowie
die soziale Lage der Beteiligten heranzuziehen. Entscheidend sei stets, ob
durch den Anspruchsübergang soziale
Belange vernachlässigt würden.
Eine unbillige Härte liege insbesondere vor, wenn und soweit der
Grundsatz der familiengerechten Hilfe
(vgl. § 16 SGB XII), nach dem auf die
Belange und Beziehungen in der Familie Rücksicht zu nehmen sei, ein
Absehen von der Heranziehung gebiete. Dies könne gegeben sein, wenn
die laufende Heranziehung in Anbetracht der sozialen und wirtschaftlichen Lage des Unterhaltspflichtigen
mit Rücksicht auf die Höhe und Dauer
des Bedarfs zu einer nachhaltigen und
unzumutbaren Beeinträchtigung des
Unterhaltspflichtigen und der übrigen
Familienmitglieder führen würde.
Eine weitere Fallkonstellation sei die
Zuflucht in einem Frauenhaus, die
durch die Mitteilung der Hilfe an den
Unterhaltspflichtigen als gefährdet erscheine. Eine Härte könne auch dann
gegeben sein, wenn der Unterhaltspflichtige den Sozialhilfeempfänger
über das Maß einer zumutbaren Unterhaltsverpflichtung hinaus betreut
oder gepflegt habe. Diese Fallgruppen
seien nicht abschließend, weil die gebotene Billigkeitsprüfung stets eine
umfassende Abwägung aller relevanten Umstände voraussetze.
Im Fall der Beklagten liege keine
unbillige Härte vor, weil die vom Gesetz vorgegebene, äußerst geringe Inanspruchnahme die Beklagten bei ihren guten Lebensverhältnissen nicht
übermäßig belaste. Die persönliche
Entfremdung zu dem Sohn und seine
mehrmaligen Einbruchsversuche, um
Unterlagen über seine Krankheit zu
erhalten, seien krankheitsbedingt und
deshalb ebenfalls keine persönliche
Härte.
Anmerkung
Zum Teil wird von Sozialhilfeträgern vertreten, dass aufgrund der geringen Höhe des Unterhaltsbeitrags
bei Leistungsfähigkeit bereits eine
Härte ausgeschlossen sei. Dies ist
nach der Rechtsprechung des BGH
nicht zutreffend, da auch immaterielle
Härtegründe wie Pflege und Betreuung über das Maß der zumutbaren Unterhaltsverpflichtung hinaus bewertet
werden müssen. Dies kann bei Eltern
behinderter Kinder gegeben sein,
wenn sie sich noch im hohen Alter um
ein behindertes Kind in ihrem Haushalt kümmern, und damit dem Sozialhilfeträger die Kosten für eine Heimaufnahme über längere Zeit erspart
haben. (We)
122
Rechtsprechung und rechtspraxis
Rechtsdienst 3/2010
Kindergeld
Grenzbetrag für Kindergeld für volljährige Kinder ist nicht
verfassungswidrig
BVerfG, Beschluss vom 27.07.2010 – Az: 2 BvR 2122/09
Das
Bundesverfassungsgericht
(BVerfG) hat eine Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen, die gegen die im Einkommensteuergesetz (EStG) geregelte
Festlegung eines Grenzbetrages für die
Bewilligung von Kindergeld gerichtet
war. Die Regelung in § 32 Abs. 4 Satz
2 EStG sei verfassungsgemäß. Insbesondere könne keine Grundrechtsverletzung festgestellt werden.
Der durch Art. 6 Abs. 1 Grundgesetz (GG) garantierte staatliche Schutz
von Ehe und Familie verbiete nicht,
dass der Gesetzgeber die Gewährung
von Kindergeld davon abhängig mache, dass bei volljährigen Kindern das
Existenzminimum des Kindes nicht
durch dessen eigene Einkünfte und
Bezüge gedeckt sei.
Die Entscheidung des Gesetzgebers, die Grenzbetragsregelung gesetzestechnisch als Freigrenze und nicht
als Freibetragsregelung auszugestalten,
liege im Rahmen der ihm zustehenden
Typisierungs- und Pauschalierungsbefugnis und sei verfassungsrechtlich
nicht zu beanstanden.
Denn eine Freigrenze, deren Über-
schreiten automatisch zum Erlöschen
des Anspruchs auf Kindergeld führt,
vereinfache den Vollzug der Norm
durch die Finanzverwaltung erheblich.
Bei einer gleitenden Übergangsregelung durch einen Freibetrag ergäbe
sich ein erheblicher Verwaltungsmehraufwand, da bei Kindeseinkünften
über dem Grenzbetrag jeweils deren
genaue Höhe festgestellt und bei der
Berechnung des verbleibenden Kindergeldanspruchs der Eltern mit deren
individuellem Steuersatz umgerechnet
werden müsste.
Anmerkung
Im zu Grunde liegenden Fall hatten die Jahresbezüge des Sohnes den
im Jahr 2005 maßgeblichen Grenzbetrag von 7.680 Euro um ca. 4 Euro
überschritten. Dies hatte nach Ansicht
der Familienkasse und der Finanzgerichtsbarkeit zur Folge, dass der Vater
für das gesamte Jahr keinen Anspruch
auf Kindergeld für seinen Sohn hat.
Das BVerfG hat diese Rechtsfolge
nunmehr für rechtmäßig erklärt.
Im Rahmen der Entscheidung hat
das BVerfG auch festgestellt, dass der
Gesetzgeber bei der Bestimmung der
Freigrenze typisierend von dem für Erwachsene geltenden Grundfreibetrag
ausgehen könne. Mehr gebiete das Sozialstaatsprinzip nicht. Damit hat das
Bundesverfassungsgericht zugleich den
Grenzbetrag für eigene Einkünfte volljähriger Kinder im Jahr 2010 von 8.004
Euro für verfassungsgemäß erklärt.
Beim erwachsenen behinderten
Kind kann zusätzlich der individuelle
behinderungsbedingte Mehrbedarf berücksichtigt werden. Wird kein Einzelnachweis geführt, kann der Behinderten- Pauschbetrag gem. § 33 b EStG
als Anhaltspunkt dienen.
Besonderheiten gelten bei vollstationärer Unterbringung:
In den Heimkosten sind verschiedene Bestandteile enthalten, die vom
Pauschbetrag typisierend mit erfasst
werden. Insoweit entspricht der Ansatz der Heimkosten dem Einzelnachweis. Bei vollstationärer Betreuung
kann somit nur ausnahmsweise und
individuell ein zusätzlicher behinderungsbedingter Mehrbedarf berücksichtigt werden. Ein Rückgriff auf den
Pauschbetrag ist nicht möglich. (Sch)
Steuerrecht
Mustersatzung nach § 60 AO:
Bundesfinanzministerium rudert zurück
In RdLh 2010, S. 37 wurde über
die Verunsicherung, die auf Seiten
von gemeinnützigen Vereinen durch
ein Urteil des Bundesfinanzhofes vom
23.07.2009 sowie durch eine mit dem
Jahressteuergesetz 2009 neu eingeführte Mustersatzung für Vereine und
andere steuerbegünstigte Körperschaften berichtet. Gem. § 5 der neuen Mustersatzung nach § 60 Abgabenordnung (AO) muss die soge-
nannte „Heimfallklausel“ eine Regelung für den Fall der Auflösung, der
Aufhebung der Körperschaft oder bei
Wegfall steuerbegünstigter Zwecke
enthalten. Die Mustersatzung findet
Anwendung auf Körperschaften, die
nach dem 31.12.2008 gegründet
wurden, sowie auf Satzungsänderungen bestehender Körperschaften,
die nach dem 31.12.2008 wirksam
werden.
Um Risiken im Hinblick auf den
Erhalt des Gemeinnützigkeitsstatus
von Vereinen auszuschließen, wurde
den Vereinen empfohlen, bei anstehenden Satzungsänderungen den Begriff der „Aufhebung“ in der entsprechenden Satzungsbestimmung zu
ergänzen. Zugleich wurde in dem Beitrag darauf hingewiesen, dass es die
staatliche Maßnahme der „Aufhebung“ nach § 87 BGB nur für die Stif-
Rech t s d i e n s t 3 / 2 0 1 0
tung gibt, nicht jedoch für Vereine.
Deshalb bestehe der Anschein, die
Neuformulierung von § 5 der Mustersatzung nach § 60 AO sei im Hinblick
auf eingetragene Vereine verfehlt und
korrekturbedürftig.
Mit Erlass vom 07.07.2010 hat nun
das Bundesministerium der Finanzen
klargestellt, das Vereine den Begriff
„Aufhebung“ nicht in ihre Satzung
aufnehmen müssen. Der an die obersten Finanzbehörden der Länder gerichtete Erlass hat insoweit den folgenden Wortlaut:
„Dieses Urteil des Bundesfinanzhofs (BFH) vom 23.07.2009 ist nur auf
die Fälle anzuwenden, in denen die
Satzung eines Vereins keine Bestimmung darüber enthält, wie sein Vermögen im Fall der Auflösung oder bei
Rechtsprechung und rechtspraxis
Wegfall der steuerbegünstigten Zwecke verwendet werden soll. Eine Regelung für den Fall der Aufhebung des
Vereins ist dagegen nicht erforderlich.
Die entsprechende Formulierung in
§ 61 AO bezieht sich auf Körperschaften, für die nach den zivilrechtlichen
Regelungen eine Aufhebung in Frage
kommt (z. B. Stiftungen, § 87 BGB).
Dies ist bei Vereinen nicht der Fall.“
Dieses klarstellende Schreiben
steht ab sofort für eine Übergangszeit
auf der Internetseite des Bundesministeriums der Finanzen (www.bundefinanzministerium.de) unter der Rubrik
Wirtschaft und Verwaltung/Steuern/
Veröffentlichungen zu Steuerarten/
Abgabenordnung zur Ansicht und
zum Abruf bereit. Die im RdLh 2010,
S. 38 formulierten Bedenken werden
damit voll bestätigt. (He)
Nachteilsausgleich
Autoradios sind von Rundfunkgebühren befreit
BVerwG, Urteil vom 28.04.2010 – Az: 6 C 6.09
Träger von Einrichtungen der Behindertenhilfe müssen keine Rundfunkgebühren für die Radios in ihren
Kfz zahlen, wenn die Fahrzeuge ausschließlich dem Transport der behinderten Menschen dienen.
Die Klägerin betreibt mehrere Einrichtungen für behinderte Menschen.
Auf sie sind 68 Fahrzeuge zugelassen,
die ausschließlich zur Beförderung behinderter Menschen benutzt werden.
Der Beklagte hatte die Anträge der
Klägerin auf Gebührenbefreiung nach
§ 5 Abs. 7 Satz 1 Nr. 2 Rundfunkgebührenstaatsvertrag (RGebStV) abgelehnt. Seiner Ansicht nach könnten
nur Radios von der Gebührenpflicht
befreit werden, die sich nach dem
Wortlaut der Vorschrift „in der Einrichtung“ befänden, was bei den Radios in
den Autos der Behinderteneinrichtung
nicht der Fall sei. Es sei von einem
funktionalen Einrichtungsbegriff auszugehen. Der Begriff der Einrichtung
setze eine persönliche, sachliche und
räumliche Bezogenheit voraus, weshalb die Bindung an ein Gebäude oder
überhaupt an das Räumliche unerlässlich sei. Deshalb seien Kraftfahrzeuge,
die dem betreuten Personenkreis dien-
ten, nicht vom funktionalen Einrichtungsbegriff erfasst.
Es gilt ein funktionaler
Einrichtungsbegriff
Das VG Minden gab der Klage statt,
das OVG Nordrhein-Westfalen (Urteil
vom 10.06.2008, Az: 19 A 467/07) wies
den Anspruch der Klägerin dagegen
zurück. In ihrer Revision führte die
Klägerin aus, dass das Tatbestandsmerkmal „in der Einrichtung“ nach § 5
Abs. 7 Satz 1 Nr. 2 RGebStV sehr wohl
auch Radios in Fahrzeugen erfasse, die
ausschließlich der Beförderung der behinderten Bewohner einer bestimmten
Behinderteneinrichtung im Rahmen
der Betreuungszwecke dieser Einrichtung dienten. Die Transportfahrzeuge
gehörten zur Gesamtheit „Einrichtung
für behinderte Menschen“.
Dem schloss sich das Bundesverwaltungsgericht an. Der Gesetzeswortlaut lasse es zwar grundsätzlich zu,
sowohl lediglich Radios in Räumlichkeiten zu erfassen, in welchen behinderte Menschen untergebracht seien,
als auch, die fraglichen Fahrzeuge als
unselbständige Teile der Einrichtung
zu betrachten. Es sei richtig, dass von
123
einem funktionalen Einrichtungsbegriff auch bei § 5 Abs. 7 Satz 1
RGebStV auszugehen sei, der nach
der Rechtsprechung eine persönliche,
sachliche und räumliche Bezogenheit
voraussetze.
Damit sei jedoch nicht gemeint,
dass sich die organisatorische Zusammenfassung auch in räumlicher Hinsicht „unter einem Dach“ befinden
müsse. In Anlehnung an den „Einrichtungsbegriff“ des § 100 Abs. 1 BSHG
a. F. (jetzt § 97 Abs. 3 SGB XII) sei darunter vielmehr ein zusammengefasster Bestand an persönlichen und
sachlichen Mitteln zu verstehen, die
auf eine gewisse Dauer angelegt und
für einen größeren, wechselnden Personenkreis bestimmt seien. Der funktionale Einrichtungsbegriff gestatte es
daher, die fraglichen Fahrzeuge als Bestandteile der Einrichtung und die Beförderung des betreuten Personenkreises als Teil des Einrichtungsbetriebs
zu begreifen.
Ausschließliche Nutzung für
Beförderung behinderter Menschen
Unter Berücksichtigung der Begründung zu Art. 5 Nr. 5 des Achten
Rundfunkänderungsstaatsvertrages
könne dies jedoch nur dann gelten,
wenn die zu befreienden Rundfunkempfangsgeräte ausschließlich für den
betreuten Personenkreis bereitgehalten werden. Eine Mischnutzung sei
daher von der Privilegierung ausgenommen.
Mitgeteilt von Rechtsanwalt Harald
Moorkamp LL.M., Münster
Anmerkung von Ricarda Langer
Das Bundesverwaltungsgericht sorgt
mit seiner Entscheidung für Klarheit
in der praxisrelevanten Frage der GEZBefreiung von Fahrzeugen in Einrichtungen der Behindertenhilfe.
Ungewiss ist, ob dies von langer
Dauer sein wird. Zum 01.01.2013 sollen die Rechtsgrundlagen der GEZGebühr umfassend geändert werden.
Die Länder haben am 17.08.2010 einen ersten Arbeitsentwurf für einen
neuen Rundfunkstaatsvertrag vorgelegt. Künftig soll die Gebühr unabhängig von Art oder Anzahl der Empfangsgeräte berechnet werden. Danach
ist grundsätzlich jeder Wohnungsinhaber gebührenpflichtig, unabhängig davon, ob er öffentlich-rechtlichen Rundfunk nutzt oder nicht.
Auf Antrag sollen sich unter anderem Empfänger von Hilfe zum Lebens-
124
Rechtsdienst 3/2010
Ethik und recht
unterhalt, von Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung und
Empfänger von Hilfe zur Pflege vollständig von der Beitragspflicht befreien lassen können. Des Weiteren sieht
der Entwurf für blinde, hörgeschädigte
und behinderte Menschen auf Antrag
einen ermäßigten Beitragssatz von
einem Drittel vor. Eine Beitragsermäßigung für Leistungsempfänger der
Eingliederungshilfe nach dem sechsten Kapitel des SGB XII fehlt hingegen. Positiv zu beurteilen ist die (bis-
her noch) enthaltene Festschreibung
der obigen Rechtsprechung, dass im
Beitrag der Werkstätten für behinderte
Menschen der Beitrag für auf diese
Einrichtung zugelassene Kraftfahrzeuge bereits enthalten ist.
Die Neuregelung knüpft für die Befreiung allein an die finanzielle Leistungsfähigkeit der betroffenen Person
an. In einer Protokollerklärung zu
dem Arbeitsentwurf begründen die
Länder den Wegfall der generellen
Beitragsfreiheit für blinde, gehörlose
und behinderte Menschen damit, dass
die Finanzierung barrierefreier Angebote erleichtert werden soll. Die Länder erwarten, dass ARD, ZDF und
Deutschlandradio ihr diesbezügliches
Angebot ausweiten.
Abzuwarten bleibt, ob der Arbeitsentwurf in dieser Fassung von der Ministerpräsidentenkonferenz der Länder übernommen werden wird.
Ethik und Recht
Grundsatzurteil des Bundesgerichtshofs zur
Präimplantationsdiagnostik
BGH, Urteil vom 06.07.2010 – Az: 5 StR 386/09
Gegenstand des vor dem 5. Strafsenat des BGH verhandelten Revisionsverfahrens war die Frage nach der Zulässigkeit der Präimplantationsdiagnostik (PID). Ein Frauenarzt hatte
derartige diagnostische Maßnahmen
vorgenommen, weil bei den betroffenen Patientinnen die hohe Wahrscheinlichkeit einer Schwangerschaft
mit einem genetisch schwer geschädigten Embryo bestand. Das Landgericht Berlin hatte den beklagten Frauenarzt vom Vorwurf der missbräuchlichen Anwendung von Fortpflanzungstechniken nach § 1 Abs. 1
Nr. 2 ESchG und der missbräuchlichen Verwendung menschlicher Embryonen nach § 2 Abs. 1 ESchG in drei
Fällen freigesprochen.1 Der BGH bestätigte diesen Freispruch.
PID verstößt nicht gegen § 1 Abs. 1
Nr. 2 ESchG
Die Richter verneinten eine Verletzung des § 1 Abs. 1 Nr. 2 ESchG, denn
der Angeklagte habe bei den von
ihm behandelten Patientinnen eine
Schwangerschaft herbeiführen wollen.
Im Zeitpunkt der Befruchtungen sei er
jeweils entschlossen gewesen, die jeweils befruchtete Eizelle auf seine Patientinnen zu übertragen. Allerdings
habe er die Schwangerschaft nur mit
einem gesunden Embryo herbeiführen
wollen. Im Falle eines positiven Befundes habe er von der Übertragung
1 Siehe zum Urteil der Vorinstanz RdLh 3/10,
S. 40 ff.
absehen wollen. Dies stelle jedoch seinen Handlungsentschluss nicht in
Frage, denn beabsichtigt und damit
handlungsleitend sei die Herbeiführung einer Schwangerschaft gewesen.
Der Wille des Angeklagten, pluripotente Zellen auf schwerwiegende genetische Belastungen hin zu untersuchen und den einzelnen Embryo bei
positivem Befund nicht zu übertragen,
sei von keiner alternativen, zur Annahme der Strafbarkeit führenden Absicht getragen.
Verbot der PID lässt sich nicht
aus dem Gesamtzusammenhang
der PID oder dem Willen des
historischen Gesetzgebers herleiten
Ein gesetzliches Verbot einer solchen Untersuchung lasse sich nämlich mit hinreichender Bestimmtheit,
Art. 103 Abs. 2 GG, weder aus § 1
Abs. 1 Nr. 2 ESchG in seiner Einbettung in den Gesamtzusammenhang
des Embryonenschutzgesetzes noch
aus dem hinter diesem Gesetz stehenden Willen des historischen Gesetzgebers ableiten. Dieser wollte die extrakorporale Befruchtung nur zur
Ermöglichung einer Schwangerschaft
zulassen; verboten werden sollten die
verbrauchende Embryonenforschung
sowie die gespaltene Mutterschaft.
Ebenso sei die Untersuchung totipotenter Zellen deshalb unter Strafe gestellt worden, weil befürchtet wurde,
dass bei der Untersuchung für das
spätere Kind relevante Zellen geschädigt werden könnten. Die Untersuchung pluripotenter Zellen, die den
Embryo nach derzeitigem medizinisch- naturwissenschaftlichem Erkenntnisstand auch mittelbar nicht
nachhaltig gefährde, habe der historische Gesetzgeber gar nicht vor Augen gehabt. Die vom Angeklagten an
pluripotenten Zellen durchgeführte
Blastozystenbiopsie sei eine Diagnosemethode, die bei Erlass des Embryonenschutzgesetzes nicht zur Verfügung stand und deswegen weder im
Gesetzeswortlaut noch in den Materialien ausdrücklich abgelehnt oder gebilligt werden konnte.
Ein Diagnostikverbot ergebe sich
auch nicht aus dem Schutzzweck des
Embryonenschutzgesetzes, denn dieses
gewährleiste keinen umfassenden Lebensschutz des Embryos. Ausschlaggebend sei die in § 3 Satz 2 ESchG
getroffene Wertentscheidung des Gesetzgebers. Mit der dort normierten
Ausnahme vom Verbot der Geschlechtswahl durch eine Verwendung
ausgewählter Samenzellen habe der
Gesetzgeber die Konfliktlage der Eltern berücksichtigt, denen nicht zugemutet werden sollte, ein schwerkrankes Kind zu bekommen, wenn die
Möglichkeit bestehe, mittels einer
Spermienselektion ein gesundes Kind
zur Welt zu bringen. Eine gleichgelagerte Konfliktlage bestehe aber bei der
hier verfahrensgegenständlichen Situation. Mit dem Ausschluss der PID
würde sehenden Auges das hohe Risiko eingegangen, dass ein nicht lebensfähiges oder schwerkrankes Kind geboren werde. Zudem wäre zu
befürchten, dass nach einer ärztlicherseits strikt angezeigten Pränataldia-
Rech t s d i e n s t 3 / 2 0 1 0
gnostik ein Schwangerschaftsabbruch
vorgenommen werde.
Senat stellt sich gegen die Verwendung des Begriffs „Schwangerschaft
auf Probe“
Der Senat betonte aber, dass die in
§ 218 a Abs. 2 StGB normierte „medizinisch-soziale“ Indikation keine gesetzliche Legitimierung einer „Schwangerschaft auf Probe“ bedeute. Für die
Indikation maßgebend sei nicht eine
Behinderung des Kindes, sondern die
dort beschriebene schwerwiegende
Beeinträchtigung der Schwangeren.
Angesichts der in § 3 ESchG getroffenen Wertentscheidung sei aber
nicht anzunehmen, dass der Gesetzgeber die PID an pluripotenten Zellen
verboten hätte, wenn sie zum damaligen Zeitpunkt schon zur Verfügung
gestanden hätte.
Verbot der PID kann nicht aus dem
Gendiagnostikgesetz abgeleitet
werden
Ein gesetzliches Verbot der PID
könne schließlich nicht aus dem Umstand gefolgert werden, dass § 15
Abs.1 S. 1 des im Wesentlichen am
01.02.2010 in Kraft getretenen Gendiagnostikgesetzes vorgeburtliche genetische Untersuchungen (nur) während
der Schwangerschaft erlaubt, § 2 Abs.
1 GenDG. Vielmehr habe der Gesetzgeber im Gendiagnostikgesetz keine
Aussage über die Zulässigkeit der PID
machen wollen.
Sofern wie vom Angeklagten vorgenommen die PID auf die Untersuchung schwerwiegender genetischer
Schäden zur Verminderung der genannten gewichtigen Gefahren beschränkt werde, führe dies auch nicht
zu einer unbegrenzten Selektion anhand genetischer Merkmale. Die Selektion von Embryonen zum Zwecke
der Geschlechtswahl sei nach dem
Embryonenschutzgesetz ausdrücklich
verboten. Gleiches müsse aber auch
für eine gezielte Zeugung von Embryonen mit bestimmten Immunitätsmustern gelten.
Jedoch sei eine eindeutige gesetzliche Regelung wünschenswert.
PID verstößt nicht
gegen § 2 Abs. 1 ESchG
Der Senat stellte ferner fest, dass
die Zellentnahmen zum Zweck der
Untersuchung und das „Stehenlassen“
der Embryonen mit positivem Befund
nicht das Gebot des § 2 Abs. 1 ESchG
verletzten, einen extrakorporal erzeugten Embryo zu einem nicht seiner
Erhaltung dienenden Zweck zu ver-
Ethik und recht
wenden. Das Verbot des § 2 Abs. 1
ESchG sollte nach der gesetzgeberischen Intention gewährleisten, dass
menschliches Leben nicht zum Objekt
fremdnütziger Zwecke gemacht werden dürfe. Gemeint seien damit die
Embryonenforschung sowie eine Abspaltung totipotenter Zellen zum
Zweck der Diagnostik, weil eine sich
daraus ergebende Schädigung des Embryos zu befürchten sei. Auf die hier
zu beurteilende Blastozystenbiopsie
treffe dies jedoch nicht zu. Der Embryo werde durch die Diagnostik weder instrumentalisiert noch gefährdet.
Unter Einbeziehung der sich aus § 3 S.
2 ESchG ergebenden Wertentscheidung könne nicht angenommen werden, dass eine Entnahme von Trophoblastzellen, die den Embryo selbst unberührt lasse, eine missbräuchliche Verwendung darstelle. Demgegenüber stünde die Vermeidung einer Konfliktlage
für die Eltern bis hin zu einem real
drohenden Schwangerschaftsabbruch.
Absterbenlassen der
Embryonen verstößt nicht
gegen § 2 Abs.1 ESchG
Einen Verstoß gegen § 2 Abs. 1
ESchG, weil der Angeklagte die Embryonen mit positivem Befund nicht
weiter kultiviert habe, so dass sie in
der Folge abstarben, schloss der Senat
ebenfalls aus. Es sei dem Angeklagten
nämlich weder möglich noch zumutbar gewesen, die Embryonen gegen
den Willen seiner Patientinnen in deren Gebärmutter zu übertragen und
sich dadurch nach § 4 Abs. 1 Nr. 2
ESchG und nach § 223 StGB strafbar
zu machen. (Leo)
Anmerkung von Dr. Bettina Leonhard
Das Urteil des Bundesgerichtshofs
zur Zulässigkeit der Präimplantationsdiagnostik wirft eine Vielzahl ethischer
Fragen auf.
Positiv hervorzuheben ist, dass das
Urteil den oft verwendeten Begriff der
„Schwangerschaft auf Probe“ eindeutig zurückweist und klarstellt, dass die
in § 218 a StGB normierte medizinisch-soziale Indikation nicht die Behinderung des Kindes, sondern die
schwerwiegende Beeinträchtigung der
Schwangeren zum Gegenstand habe.
Nicht zwingend erscheint aber,
dass die Nichtanwendbarkeit des § 1
Abs. 1 Nr. 2 ESchG auch darauf gestützt wird, dass sich aus dem Schutzzweck des Embryonenschutzgesetzes
kein umfassender Lebensschutz des
Embryos ergebe. In § 3 S. 2 ESchG
werde nämlich das Verbot der Geschlechtswahl durchbrochen und
eine Spermienselektion erlaubt, um
125
das Kind vor schweren geschlechtsgebundenen Erbkrankheiten zu bewahren. Die daraus hergeleitete
Schlussfolgerung, bei der Vornahme
einer PID handele es sich um eine
gleichgelagerte Konfliktlage, vermag
jedoch nicht zu überzeugen. Die
PID wird an einem Embryo vorgenommen, während § 3 S. 2 des
Embryonenschutzgesetzes die Auswahl einer Samenzelle zulässt und
eben nicht das Lebensrecht eines
Embryos tangiert. Da unterschiedliche Schutzgüter betroffen sind,
bleibt auch die Schlussfolgerung des
Gerichts, angesichts der in § 3 des
Embryonenschutzgestzes getroffenen
Wertentscheidung hätte der historische Gesetzgeber auch die PID an
pluripotenten Zellen erlaubt, wenn
sie zum damaligen Zeitpunkt zur Verfügung ge-standen hätte, eine bloße
Vermutung.
Ferner betont der Bundesgerichtshof in seinem Urteil, die PID sei nur
zulässig zur Untersuchung von Zellen
auf schwerwiegende genetische Schäden. Eine positive Selektion nach bestimmten erwünschten Merkmalen ist
damit ausgeschlossen. Unklar bleibt,
welche Krankheiten oder Behinderungen so schwerwiegend sein könnten, dass ihr Befund zum Ausschluss
der Implementierung des Embryos
führen sollte. Hier bedarf es einer gesetzgeberischen Klarstellung, die allerdings eine Diskussion darüber und
eine Festlegung dessen, was unter
einem schwerwiegenden genetischen
Schaden zu verstehen ist, voraussetzt.
Eine Differenzierung zwischen Behinderungen, die dem betroffenen Kind
und seinen Eltern zugemutet werden
können und solchen, die dem Kind
und seinen Eltern nicht zugemutet
werden können, eröffnet aber eine
ethisch hochproblematische Diskussion über lebenswertes und lebensunwertes Leben. Menschen mit chronischen Krankheiten oder Behinderungen müssen sich hierdurch in ihrer
eigenen Existenz infrage gestellt und
diskriminiert fühlen. Auch kann eine
solche Diskussion verbunden mit der
Vorstellung, alle Behinderungen seien
vorgeburtlich erkennbar und ergo
auch vermeidbar, dazu führen, dass
die gesellschaftliche Solidarität mit
chronisch kranken und behinderten
Menschen gefährdet wird.
Neben den ethischen Implikationen muss auch festgestellt werden,
dass sowohl die Erfahrungen mit der
Pränataldiagnostik als auch die Entwicklung der PID im Ausland zeigen,
dass die Begrenzung einer derartigen
Diagnostik auf einen festumrissenen
Anwendungsbereich langfristig nicht
gelingt.
126
Rechtsdienst 3/2010
Ethik und recht
Grundsatzurteil des Bundesgerichtshofs zur Sterbehilfe
BGH, Urteil vom 25.06.2010 – Az: 2 StR 454/09
Der 2. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hatte über die Revision eines
auf den Bereich des Medizinrechts spezialisierten Anwaltes zu entscheiden,
der vom Landgericht Fulda zu einer
Freiheitsstrafe von neun Monaten zur
Bewährung verurteil worden war.
Er hatte seiner Mandantin, Frau
G., im Dezember 2007 geraten, den
Schlauch für die künstliche Ernährung ihrer Mutter, Frau K., durchzuschneiden. Frau K. lag nach einem
Hirnschlag seit 5 Jahren im Wachkoma und war bei einer Größe von 1,59
m auf 40 kg abgemagert war. Sie
hatte keine Patientenverfügung errichtet, jedoch im September 2002 ihrer
Tochter gegenüber mitgeteilt, sie wolle, wenn sie einmal schwerkrank
sei, keine künstliche Beatmung oder
künstliche Ernährung. Die Tochter
war gemeinsam mit ihrem Bruder zur
Betreuerin der Mutter bestellt worden.
Als sich der Zustand von Frau K. über
Jahre nicht verbesserte, versuchte
Frau G. dem Wunsch der Mutter nach
einer Einstellung der künstlichen Ernährung nachzukommen. Unterstützt
wurde sie vom behandelnden Hausarzt, aus dessen Sicht eine medizinische Indikation zur Fortsetzung der
künstlichen Ernährung nicht mehr gegeben war.
Die Leitung des Heimes, in dem
Frau K. untergebracht war, zeigte sich
zunächst einverstanden mit der Beendigung der künstlichen Ernährung,
woraufhin die Ernährung schrittweise
eingestellt wurde. Wenig später widerrief die Heimleitung jedoch ihre
Zustimmung und nahm die künstliche
Ernährung wieder auf.
Daraufhin erteilte der Angeklagte
Frau G. und ihrem Bruder telefonisch
den Rat, den Schlauch der Magensonde unmittelbar über der Bauchdecke
durchzutrennen, weil gegen die rechtswidrige Fortsetzung der Sondennahrung durch das Heim ein effektiver
Rechtsschutz nicht kurzfristig zu
erlangen sei. Frau G. folgte diesem
Rat und schnitt den Schlauch durch.
Ihr Tun wurde wenig später von zwei
Pflegekräften entdeckt und die Mutter
ins Krankenhaus gebracht, wo sie 2
Wochen später eines natürlichen
Todes starb.
Das Landgericht Fulda hatte Frau
G. freigesprochen, weil sie sich angesichts des Rechtsrats ihres Anwaltes in
einem unvermeidbaren Erlaubnisirrtum
befunden und daher ohne Schuld gehandelt habe. Der Angeklagte dagegen
wurde wegen versuchten Totschlags
zu einer Freiheitsstrafe von neun Monaten auf Bewährung verurteilt.
Der BGH hob das Urteil des Landgerichts Fulda auf und sprach den Angeklagten frei.
Divergenzen in der bisherigen höchstrichterlichen Rechtsprechung zur
Verbindlichkeit des Patientenwillens
In ihrem Urteil führen die Richter
aus, es habe zur Tatzeit hinsichtlich
der Frage, unter welchen Voraussetzungen in Fällen akuter Einwilligungsunfähigkeit von einem bindenden Patientenwillen auszugehen sei, Unklarheit geherrscht. Die Divergenzen
zwischen der straf- und der zivilrechtlichen Rechtsprechung des BGH hätten die Verbindlichkeit von sogenannten Patientenverfügungen sowie die
Frage betroffen, inwiefern eine lebenserhaltende Behandlung nur bei tödlich verlaufenden Erkrankungen abgebrochen werden dürfe oder vom
Stadium der Erkrankung unabhängig
sei. Daneben beträfen sie auch die
Frage, inwieweit die Entscheidung
eines gesetzlichen Betreuers über den
Abbruch einer lebenserhaltenden Behandlung gerichtlich genehmigt werden müsse.
Diese Unsicherheiten seien durch
das Gesetz zur Regelung von Patientenverfügungen beseitigt worden.
Wie das Landgericht zutreffend
festgestellt habe, sei die im Kompromiss mit der Heimleitung erzielte Entscheidung, die weitere künstliche Ernährung zu unterlassen, rechtmäßig
gewesen. Der Behandlungsabbruch sei
durch die im September 2002 geäußerte Einwilligung von Frau K. gerechtfertigt gewesen. Deshalb habe die in
der Folge von der Heimleitung eingeleitete Wiederaufnahme der künstlichen Ernährung gegen das Selbstbestimmungsrecht der Patientin verstoßen.
Unzutreffend sei dagegen die weitere Bewertung des Landgerichts gewesen, die Mitwirkung des Angeklagten am Durchschneiden des Schlauchs
stelle einen versuchten Totschlag dar.
Zwar liege hier eine direkt auf die Lebensbeendigung zielende Handlung
vor, die nach den allgemeinen Regeln
nicht als Unterlassen, sondern als aktives Tun anzusehen sei. Deshalb seien
bisher lebensbeendende Maßnahmen
unter dem Gesichtspunkt der „Sterbehilfe“ nicht anerkannt worden.
Senat gibt äußerliche Unterscheidung zwischen gerechtfertigter und
rechtswidriger Herbeiführung des
Todes auf
Bisher habe eine zulässige „passive
Sterbehilfe“ stets ein Unterlassen im
Rechtssinne vorausgesetzt; aktives
Handeln habe dagegen als rechtswidriges Tötungsdelikt im Sinne der §§
212, 216 StGB gegolten. An dieser äußerlichen Unterscheidung zwischen
gerechtfertigter und rechtswidriger
Herbeiführung des Todes halte der Senat, auch im Hinblick auf die zivilrechtliche Rechtslage, die sich durch
das Gesetz zur Patientenverfügung geändert habe, nicht fest. Die Regelungen des § 1901 a ff. entfalteten
auch für das Strafrecht Wirkung. Die
Grenze zwischen erlaubter Sterbehilfe
und einer strafbaren Tötung könne
nicht sinnvoll durch eine Unterscheidung zwischen aktivem und passivem
Handeln bestimmt werden. Es sei deshalb sinnvoll, unter dem Oberbegriff
des
„Behandlungsabbruchs“
alle
Handlungen zusammenzufassen, die
neben der Beendigung einer medizinischen Maßnahme auch die subjektive Zielsetzung des Handelnden umfassten, damit den Willen der betroffenen Person zu verwirklichen.
Dabei habe niemand einen Anspruch
darauf, Dritte zu selbständigen Eingriffen in das Leben zu veranlassen.
Einwilligen könne ein Patient nur in
solche Handlungen, die einen Zustand wiederherstellten, der einem bereits begonnenen Krankheitsprozess
seinen Lauf lasse, indem die Krankheit nicht mehr behandelt wird, so
dass der Patient letztlich dem Sterben
überlassen werde. Die tatbestandliche
Grenze zu § 216 StGB bliebe dadurch
unberührt.
Im Urteil wird betont, dass für die
Feststellung des behandlungsbezogenen Patientenwillens beweismäßig
strenge Maßstäbe gelten müssten, die
der hohen Bedeutung der betroffenen
Rechtsgüter Rechnung zu tragen hätten. Dies gelte insbesondere, wenn es
keine schriftliche Patientenverfügung
gäbe, sondern der in der Vergangenheit mündlich geäußerte Patientenwille festgestellt werden müsse.
Rech t s d i e n s t 3 / 2 0 1 0
Anmerkung von Dr. Bettina Leonhard
Das Grundsatzurteil des Bundesgerichtshofs zum Abbruch lebenserhaltender Maßnahmen setzt nach
dem Grundsatz der Einheit der
Rechtsordnung für den Bereich des
Strafrechts das um, was der Gesetzgeber durch das 3. Gesetz zur Änderung
des Betreuungsrechts (Gesetz zur Regelung von Patientenverfügungen)
vorgegeben hat. Der Wille des Patienten rechtfertigt den Abbruch einer
Behandlung – unabhängig davon, in
welchem Stadium der Erkrankung
sich der Betroffene befindet. Das Gesetz zur Regelung von Patientenverfügungen weist der schriftlichen Patientenverfügung absolute Bindungswirkung zu. Gleichwohl kann auch
weiterhin der vom Betreuer geprüfte
nur mündlich geäußerte Patientenwille durchgesetzt werden.
Das Urteil stärkt in vielen Fällen
das Selbstbestimmungsrecht des Patienten und schafft mehr Rechtssicher-
I n t e r n at i o n a l e s
heit für die behandelnden Mediziner.
Allerdings ist zu bezweifeln, dass
der in der Vergangenheit mündlich geäußerte Wunsch, auf bestimmte lebenserhaltende Maßnahmen verzichten zu wollen, in allen Fällen dem
tatsächlichen Patientenwillen entspricht. Im Nachhinein ist nicht mehr
festzustellen, ob die frühere Aussage
eines Patienten eher beiläufig erfolgte
oder ob sie auf der Grundlage einer intensiven Auseinandersetzung mit dem
Lebensende erfolgte und daher wirklich das widerspiegelt, was sich der
Betroffene vorstellt. Das Gesetz zur
Regelung von Patientenverfügungen
war kritisiert worden, weil es auf eine
Beratungspflicht verzichtet, die eine
qualifizierte Auseinandersetzung mit
den am Lebensende stehenden Fragen
gewährleistet hätte.1 Immerhin ist sich
derjenige, der eine schriftliche Patientenverfügung errichtet, aber bewusst
über die Verbindlichkeit seines Tuns –
was nicht der Fall ist bei bloßen mündlichen Äußerungen zu Behandlungs-
127
wünschen am Lebensende.
Auch ist man bei der nachträglichen Ermittlung des Patientenwillens angewiesen auf bloße Erinnerungen Dritter an Wünsche und
Überlegungen des Betroffenen – ein
Widerspruch dazu, dass – wie das Urteil es hervorhebt – für die Ermittlung
des behandlungsbezogenen Patientenwillens beweismäßig strenge Maßstäbe gelten müssten.
Seltsam mutet auch an, dass die
Richter das Vorgehen der anwaltlich
beratenen Frau G., die quasi in Selbstjustiz lebenserhaltende Maßnahmen
beendete, ausdrücklich gutheißen.
Das Urteil stellt dazu fest, einen gerechtfertigten
Behandlungsabbruch
könnten nicht nur Ärzte, sondern
auch Betreuer und Bevollmächtigte,
sowie Dritte als für die Behandlung
und Betreuung hinzugezogene Hilfspersonen vornehmen.
1 Vgl. hierzu RdLh 3/09, S. 99 ff.
Internationales
Wahlrechtsausschluss als Verstoß gegen die europäische
Menschenrechtskonvention
EGMR rügt die Rechtslage in Ungarn
Der Europäische Gerichtshof für
Menschenrechte (EGMR) hat in einer
Entscheidung vom 20.05.2010 (Kiss./
.Ungarn, Antrag Nr. 38832/06) den im
ungarischen Zivilrecht geregelten Wahlrechtsausschluss von Menschen, die
ganz oder teilweise unter Vormundschaft gestellt sind, für unvereinbar mit
der Europäischen Menschenrechtskonvention erklärt. Beschwerdeführer
Alajos Kiss, bei dem im Jahr 1991 eine
psychische Erkrankung diagnostiziert
wurde, war im Mai 2005 unter Teil-Vormundschaft nach ungarischem Recht
gestellt worden. In der zugrundeliegenden Gerichtsentscheidung war ausgeführt, dass er trotz seiner manischdepressiven Erkrankung seine Angelegenheiten angemessen regeln konnte,
jedoch manchmal in unverantwortlicher Weise zur Geldverschwendung
sowie gelegentlich zu aggressivem Verhalten neigte. Herr Kiss hatte die Vormundschaft akzeptiert und dagegen
keine Rechtsmittel eingelegt.
Vor den ungarischen Parlamentswahlen bemerkte der Beschwerdefüh-
rer im Februar 2006, dass er aus dem
Wahlregister gestrichen worden war.
Seine dagegen erhobene Beschwerde
wurde mit der Begründung zurückgewiesen, dass nach § 70 Abs. 5 der ungarischen Verfassung Menschen unter
Vormundschaft kein Wahlrecht haben.
In der Folge konnte Herr Kiss an den
ungarischen Parlamentswahlen im
April 2006 nicht teilnehmen.
Vor dem Europäischen Gerichtshof
für Menschenrechte rügte Herr Kiss,
der ihm auferlegte
Wahlrechtsausschluss aufgrund der wegen seiner psychischen Erkrankung angeordneten
Teil-Vormundschaft sei ein ungerechtfertigter und diskriminierender Entzug
seines Rechts, zu wählen. Aufgrund der
Verankerung in der ungarischen Verfassung sei dagegen keinerlei Rechtsmittel verfügbar. Gestützt wurde der
Antrag an den EGMR überwiegend auf
Art. 3 des 1. Zusatzprotokolls zur Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK).
Nach dieser Vorschrift verpflichten
sich „die Hohen Vertragsparteien, in
angemessenen Zeitabständen freie und
geheime Wahlen unter Bedingungen
abzuhalten, welche die freie Äußerung
der Meinung des Volkes bei der Wahl
der gesetzgebenden Körperschaften gewährleisten.“
Der EGMR erklärte den Antrag für
zulässig, denn er richte sich gegen den
mit der Vormundschaft automatisch
verknüpften, aus der Verfassung folgenden Wahlrechtsausschluss, gegen
den das ungarische Recht kein Rechtsmittel vorsehe.
In der Sache verweist der EGMR
zunächst auf die von ihm in ständiger
Rechtsprechung aufgestellten allgemeinen Grundsätze1, denen zufolge feststehe, dass Art. 3 des 1. Zusatzprotokolls
zur EMRK individuelle Rechte garantiert, einschließlich des Rechts, zu
wählen und gewählt zu werden. Das
Wahlrecht sei kein Privileg. Im 21. Jahrhundert müsse in einem demokra-
1 Im Originaltext „general principles“.
128
Rechtsdienst 3/2010
I n t e r n at i o n a l e s
tischen Staat eine Vermutung zu Gunsten der Inklusion gelten. Dennoch
seien die von Art. 3 des 1. Zusatzprotokolls eingeräumten Rechte nicht absolut. Es bestehe Raum für implizite Beschränkungen, und den Vertragsstaaten
müsse dafür ein Beurteilungsspielraum
erlaubt sein.2 Der EGMR bekräftigt,
dass in diesem Bereich der Spielraum
breit sei. Allerdings sei es Sache des
Gerichtshofes, in letzter Instanz zu bestimmen, ob den Anforderungen von
Art. 3 des 1. Zusatzprotokolls genüge
getan sei. Eingesetzte Mittel dürften
nicht unverhältnismäßig sein. Der Ausschluss jeglicher Gruppen oder Kategorien der allgemeinen Bevölkerung vom
Wahlrecht müsse demnach mit den tragenden Grundsätzen von Art. 3 des 1.
Zusatzprotokolls vereinbar sein.
Auf der Basis dieser allgemeinen
Grundsätze hatte der EGMR im vorliegenden Fall darüber zu befinden, ob
die ungarische Regelung des Wahlrechtsausschlusses ein legitimes Ziel in
einer Art und Weise verfolgt, die dem
Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entspricht. Die ungarische Regierung habe
erklärt, die angegriffene Maßnahme
verfolge das Ziel, dass nur Bürgerinnen
und Bürger, die die Konsequenzen ihrer Entscheidungen erfassen und bewusste und rechtsgültige Entscheidungen treffen können, in öffentlichen
Angelegenheiten mitwirken. Unter Hinweis darauf, dass auch der Antragssteller diese Sichtweise akzeptiert habe,
stellte der EGMR zunächst fest, dass
die beanstandete Maßnahme grundsätzlich ein legitimes Ziel verfolge.
Im Hinblick auf deren Angemessenheit bekräftigt der EGMR, dass es
der Entscheidung der Gesetzgebung
überlassen bleiben sollte, welche Verfahren zur Feststellung der Wahlfähigkeit von Menschen mit geistiger Behinderung anzuwenden sind. Der Gerichtshof könne allerdings nicht bestätigen, das ein absoluter Wahlrechtsausschluss aller Personen unter TeilVormundschaft – unabhängig von den
tatsächlichen Fähigkeiten des oder der
Betroffenen – in die zulässige Bandbreite einer solchen Regelung fällt.
Trotz der Betonung eines weiten Beurteilungsspielraums des Staates sei dieser nicht allumfassend. Insbesondere
dann, wenn eine Beschränkung von
Grundrechten eine besonders gefährdete Gruppe der Gesellschaft – wie die
Menschen mit geistiger bzw. psychischer Behinderung3 – betreffe, die in
der Vergangenheit beträchtliche Diskriminierungen erfahren habe, sei der
Beurteilungsspielraum des Staates substanziell enger und dieser müsse sehr
gewichtige Gründe für die fraglichen
Beschränkungen haben.
Der Grund für diese Betrachtungsweise, die bestimmte Klassifizierungen
per se hinterfrage, sei der, dass solche
Gruppen historisch Vorurteilen mit
dauerhaften Konsequenzen ausgesetzt
gewesen seien, die zu ihrer sozialen Exklusion führten. Solche Vorurteile könnten zu gesetzgeberischen Stereotypien
führen, die eine individualisierte Erfassung von den Fähigkeiten und Bedürfnissen dieser Menschen verhindern.
Der EGMR erachtet darüber hinaus
die Behandlung von Menschen mit geistigen oder psychischen Behinderungen als „gesonderte Gruppe“ als fragwürdige Klassifizierung; das Beschneiden der Rechte behinderter Menschen
müsse Gegenstand strikter Überprüfung sein. Dieser Ansatz spiegele sich
auch in anderen Instrumenten des Völkerrechts wieder, auf die in der Endscheidung Bezug genommen wurde.4
Im vorliegenden Fall habe der Antragssteller sein Wahlrecht verloren als
Ergebnis einer automatischen, pauschalen Beschränkung gegenüber Menschen
unter Vormundschaft. Er könne deshalb in Anspruch nehmen, ein Opfer
dieser Maßnahme zu sein. Als Ergebnis
stellt der EGMR fest, die unterschiedslose Aberkennung des Wahlrechts, die
lediglich auf eine wegen einer geistigen
bzw. psychischen Behinderung erforderliche Teil-Vormundschaft gestützt
werde, ohne dass eine rechtsförmliche
und individualisierte Beurteilung stattfinde, sei nicht mit den berechtigten
Gründen für eine Beschränkung des
Wahlrechts vereinbar. Der Wahlrechtsausschluss des Antragsstellers sei demzufolge ein Verstoß gegen Art. 3 des
1. Zusatzprotokolls zur Europäischen
Menschenrechtskonvention.
Wahlrechts rechtfertigt, wäre die pauschale Wirkweise der deutschen Regelung ebenfalls zu überdenken. Für eine
solche Sichtweise spricht u. a. die Tatsache, dass eine „Betreuung für alle
Angelegenheiten“ nach dem betreuungsrechtlichen Erforderlichkeitsgrundsatz nur angeordnet werden, wenn ein
Mensch mit Behinderung seine sämtlichen Angelegenheiten nicht besorgen
kann und darüber hinaus auch in sämtlichen Lebensbereichen Regelungsbedarf besteht. Bei Vermögenslosigkeit
oder stabiler Gesundheit besteht demnach keine Grundlage zur Übertragung
der Aufgabenbereiche Vermögenssorge
bzw. Gesundheitssorge auf einen
rechtlichen Betreuer mit der Folge,
dass unabhängig von den Fähigkeiten
des oder der Betroffenen auch kein
„Betreuer für alle Angelegenheiten“ bestellt werden dürfte. Darüber hinaus
bereitet die praktische Handhabe bzw.
Interpretation der Totalbetreuung immer wieder Probleme, wie nicht zuletzt
die im Rechtsdienst der Lebenshilfe besprochenen Entscheidungen verdeutlichen5. Die Überprüfung der Regelung
des Wahlrechtsausschlusses gehört deshalb zu den Themen, die aus dem Bereich des Betreuungsrechts Aufnahme
in den von der Bundesregierung vorbereiteten Aktionsplan zur Umsetzung
der Behindertenrechtskonvention (BRK)
finden müssen. (He)
2 Übersetzung aus dem englischen Originaltext
durch den Verfasser.
3 Der EGMR verwendet den Begriff „mental
disability“, es kann angenommen werden,
dass davon sowohl Menschen mit geistiger
als auch mit psychischer Beeinträchtigung
erfasst werden.
4 Dies waren insbesondere die Art. 1, 12 und 29
des Übereinkommens der Vereinten Nationen
über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (Behindertenrechtskonvention – BRK)
Anmerkung
sowie Grundsatz 3 (Maximaler Schutz der
Urteilsfähigkeit) der Empfehlung Nr. R (99)
Die Entscheidung des EGMR verdeutlicht das Anliegen, auch den im
deutschen Betreuungsrecht verankerten Wahlrechtsausschluss nach § 13
Nr. 2 Bundeswahlgesetz (BWG, gleichlautende Vorschriften finden sich im
Europawahlgesetz sowie in den
Landes- und Kommunalwahlgesetzen)
gegenüber allen Volljährigen, für die
durch Beschluss des Betreuungsgerichts ein „Betreuer für alle Angelegenheiten“ bestellt ist, einer Überprüfung
zu unterziehen. Sollte diese Prüfung zu
dem Ergebnis führen, dass der pauschale Anknüpfungspunkt „Betreuung
für alle Angelegenheiten“ keinen zuverlässigen Rückschluss auf die tatsächlichen Fähigkeiten eines Betroffenen zulässt, der den Entzug des
4 des Ministerkomitees des Europarates an
die Mitgliedstaaten über die Grundsätze betreffend den Rechtsschutz für nicht entscheidungsfähige Erwachsene vom 23.02.1999.
5 Vgl. zuletzt RdLh 2009, S. 132 ff.
Rech t s d i e n s t 3 / 2 0 1 0
I n t e r n at i o n a l e s
129
Internationale Aktivitäten zur Umsetzung der Behindertenrechtskonvention
von Klaus Lachwitz, Präsident Inclusion International
Art. 40 des Übereinkommens über
die Rechte von Menschen mit Behinderungen (Behindertenrechtskonvention-BRK) sieht vor, dass die Vertragsstaaten, die das Übereinkommen
ratifiziert haben, regelmäßig „in einer
Konferenz zusammentreten, um jede
Angelegenheit im Zusammenhang mit
der Durchführung dieses Übereinkommens zu behandeln.“ Die Dritte
Konferenz der Vertragsstaaten hat
vom 01.09. – 03.09.2010 in den Konferenzräumen der Vereinten Nationen
in New York stattgefunden.
Erweiterung des Fachausschusses für
die Recht von Menschen mit Behinderungen (Art. 34 BRK)
Wichtigster Tagesordnungspunkt war
die Wahl von unabhängigen Expertinnen und Experten in den in Art.
34 BRK vorgesehenen Ausschuss für
die Rechte von Menschen mit Behinderungen. Dieses bisher aus 12 Expertinnen und Experten bestehende Gremium wurde von 12 auf 18 Personen
vergrößert. Da die Amtszeit von sechs
Ausschussmitgliedern abgelaufen war,
stand die Neuwahl von insgesamt
12 Personen an. Beworben hatten sich
22 Kandidatinnen und Kandidaten,
überwiegend Menschen mit Behinderungen.
Zu den neugewählten Mitgliedern
des Ausschusses zählt Frau Prof. Dr.
jur. Theresia Degener, Professorin für
Recht und Disability Studies an der
Evangelischen Fachhochschule Bochum. Ihre Kandidatur wurde vom
deutschen Botschafter bei den Vereinten Nationen, Miguel Berger, und von
einer Regierungsdelegation, der Vertreterinnen und Vertreter des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales
und des Beauftragten der Bundesregierung für die Belange behinderter
Menschen angehörten, eindrucksvoll
und erfolgreich unterstützt.
Prof. Theresia Degener, die vom
Deutschen Behindertenrat einstimmig
als Kandidatin Deutschlands vorgeschlagen worden war, wurde mit
einem großen internationalen Stimmenanteil in den Fachausschuss der
BRK gewählt. Sie hat im Jahr 2002 zusammen mit Prof. Dr. Gerald Quinn,
Irland, im Auftrag der Vereinten Nati-
onen eine umfangreiche Hintergrundstudie angefertigt, mit der der Nachweis erbracht wurde, dass es notwendig ist, die Menschenrechte von Personen mit Behinderungen in einer eigenständigen UN-Konvention zu regeln.
Das Wahlergebnis hat deutlich gemacht, dass Theresia Degener als
Menschenrechtsexpertin hohe internationale Anerkennung genießt. Die
internationale Behindertenbewegung
wird von ihren Aktivitäten und
Vorschlägen profitieren, denn der
Fachausschuss verfügt über Befugnisse, die nicht nur auf dem Papier
stehen, sondern Einfluss auf die Umsetzung der Behindertenrechtskonvention auch auf nationaler Ebene
haben werden.
So prüfen die Ausschussmitglieder
die sogenannten Staatenberichte, die
von den Vertragsstaaten, die das Übereinkommen ratifiziert haben, abgegeben werden müssen. So ist zum Beispiel Deutschland verpflichtet, gegenüber dem Fachausschuss gem. Art. 35
BRK im März 2011 umfassend „über
die Maßnahmen zu berichten, die zur
Erfüllung der staatlichen Verpflichtungen aus dem Übereinkommen getroffen worden sind.“
Der Ausschuss hat das Recht, die
Staatenberichte kritisch zu prüfen (Art.
36 BRK) und kann jeden Bericht mit
Vorschlägen und allgemeinen Empfehlungen versehen. Dabei handelt es sich
um internationale Auslegungs- und
Anwendungshinweise, die auf nationaler Ebene einen wichtigen Beitrag
dazu leisten können, die Umsetzung
und Verwirklichung der Behindertenrechtskonvention zu forcieren.
Es zeichnet sich ab, dass der Ausschuss für die Rechte von Menschen
mit Behinderungen zu jedem Artikel
der
Behindertenrechtskonvention
eine Empfehlung (General Comment)
entwickeln wird, die geeignet ist, Auslegungs- und Anwendungsprobleme
einzelner Menschenrechte auf nationaler Ebene zu lösen und die deshalb
auch mittel- und langfristig nicht nur
die deutsche Gesetzgebung, sondern
auch die Rechtsprechung deutscher
Gerichte im Bereich der Behindertenhilfe beeinflussen werden.
Der Fachausschuss hat außerdem
das Recht, individuelle Beschwerden
von Einzelpersonen und Personengruppen zu prüfen, „die behaupten,
Opfer einer Verletzung des Übereinkommens durch den betreffenden Vertragsstaat zu sein.“ Dies ergibt sich aus
dem Fakultativprotokoll zum Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen, das von
vielen Vertragsstaaten- darunter auch
der Bundesrepublik Deutschland – ratifiziert worden ist.
Tagung des Weltdachverbandes für
Menschen mit Behinderungen (IDA)
Wie schon mehrfach berichtet, ist
die Behindertenrechtskonvention in
der Zeit zwischen 2004 und 2006
in einem von den Vereinten Nationen
eingesetzten ad-hoc-Ausschuss unter
Beteiligung von behinderten Menschen aus aller Welt erarbeitet worden. Bei diesen Expertinnen und
Experten handelte es sich um Vertreterinnen und Vertreter der weltweit
organisierten internationalen Behindertenverbände, zu denen auch Inclusion International, der internationale
Dachverband aller Menschen mit geistiger Behinderung und ihrer Angehörigen, zählt.
Die jahrelangen Verhandlungen,
die in New York stattgefunden haben,
haben bewirkt, dass die Weltbehindertenverbände eine internationale Plattform unter dem Namen International
Disability Alliance (IDA) gegründet
haben. In der Zwischenzeit ist daraus
ein Aktionsbündnis entstanden, das
sowohl bei den Vereinten Nationen in
New York als auch bei den Vereinten
Nationen in Genf ein eigenes Büro unterhält, das von Stefan Trömel, einem
international anerkannten Menschenrechtsexperten und einem kleinen,
hochqualifizierten Team von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern geleitet
wird. Finanziell wird die International
Disability Alliance vom Europäischen
Behindertenforum (EDF) Brüssel, und
internationalen Stiftungen aus den
USA, Schweden u. a. unterstützt. Entscheidungen werden nur getroffen,
wenn alle Weltbehindertenverbände,
also auch Inclusion International, die
empfohlenen Beschlüsse einstimmig
mittragen.
130
Rechtsdienst 3/2010
Bücherschau
Der Wert dieser neuen Plattform
besteht darin, dass sie dazu beiträgt,
die Interessen behinderter Menschen
nicht nur gegenüber dem Fachausschuss der Behindertenrechtskonvention, sondern gegenüber zahlreichen
anderen UN-Agenturen (Weltgesundheitsorganisation, UNESCO, Internationale Arbeitsorganisation usw.) und
Gremien zu vertreten und den Mitgliedsverbänden umfangreiche Informationen aus dem komplexen Gefüge
der Vereinten Nationen zur Verfügung
stellen und erläutern kann.
Die International Disability Alliance tagt immer dann, wenn der Fachausschuss für Menschen mit Behinderung zusammentritt bzw. eine Weltstaatenkonferenz stattfindet. Bei diesen Treffen besteht vor allem Gelegenheit, mit den Mitgliedern des Ausschusses in Kontakt zu treten und
durch eigene Veranstaltungen daran
mitzuwirken, dass die vom Fachausschuss angekündigten Auslegungs-
und Anwendungshinweise zu einzelnen Artikeln der Behindertenrechtskonvention (General Comments) rechtzeitig und auf qualitativ hohem Niveau
entwickelt werden.
Die Alliance hat unmittelbar vor
der Dritten Weltstaatenkonferenz vom
27.08. – 31.08.2010 in New York getagt
und sich vor allem mit Art. 19 (Recht
auf Unabhängige Lebensführung) auseinandergesetzt (vgl. dazu den Beitrag
im RdLh 2/10, S. 45 ff.). (La)
Bücherschau
Stephan Scherer (Hrsg.):
Münchener Anwaltshandbuch
Erbrecht
C. H. Beck Verlag, München,
3. überarbeitete Auflage 2010, 1947
Seiten, Leineneinband, 138 Euro
ISBN 978-3-406-58692-7
Dieses bewährte Handbuch stellt
die anwaltliche Tätigkeit im Bereich
der Rechts- und Vermögensnachfolge
umfassend dar. Die systematische Darstellung materiellrechtlicher und prozessueller Fragen des Erbrechts wird
durch vielfältige Checklisten, Formulierungsvorschläge, Muster und Praxistipps bereichert, so dass ein schnelles
Auffinden der konkreten Problemlage
und eine rasche, interessengerechte
Falllösung erleichtert wird. Die Neuauflage auf dem Rechtsstand September 2009 berücksichtigt insbesondere
die Reform des Erbschafts- und Schenkungssteuerrechts, das neue Erb- und
Verjährungsrecht sowie das FamFG
und ist deshalb ein nützliches Nachschlagewerk auf aktuellem Stand.
Becker/Kingreen (Hrsg.):
SGB V – Gesetzliche Krankenversicherung
C. H. Beck Verlag, München,
2. Auflage 2010, 1496 Seiten,
119 Euro
ISBN: 978-3-406-60085-2
Angesichts des Reformeifers des
Gesetzgebers beim Recht der gesetzlichen Krankenversicherung legt der
Verlag knapp zwei Jahre nach der ersten Auflage eine neu bearbeitete Auf-
lage vor. Für die Neuauflage erfolgte
eine grundlegende Überarbeitung und
Aktualisierung. Der Kommentar legt
besonderen Wert auf die systematische
Erfassung des Rechts der GKV und
auf eine solide Auswertung der Rechtsprechung.
Hierfür stehen die beiden Herausgeber und die Autoren, sämtlich als
Wissenschaftler und Rechtspraktiker
Spezialisten für die Gesetzliche Krankenversicherung. Das Werk ist eine
große Hilfe für alle, die im Arbeitsalltag mit der Gesetzlichen Krankenversicherung befasst sind. Weil der Kommentar geschickt Wichtiges von Unwichtigem trennt, ist ein schneller Zugriff auf das Wesentliche sichergestellt.
Neumann/Pahlen/Majerski-Pahlen
(Hrsg):
SGB IX Rehabilitation und Teilhabe
behinderter Menschen
C. H. Beck Verlag, München,
12. neubearbeitete Auflage 2010,
900 Seiten, 98 Euro
ISBN 978-3-406-59161-7
Das Werk enthält die Kommentierung des Schwerbehindertenrechts
einschließlich der dazu gehörenden
Verordnungen, insbesondere die Werkstätten- und Mitwirkungsverordnung.
Darüber hinaus sind alle sozialrechtlichen Bestimmungen des SGB IX sowie das Gesetz zur Gleichstellung behinderter Menschen berücksichtigt
und erläutert.
Die Neuauflage mit dem Stand
April 2010 berücksichtigt zahlreiche
Änderungen, u. a. das Gesetz zur Ausbildung und Beschäftigung schwerbehinderter Menschen sowie das Gesetz
zur Einführung unterstützter Beschäftigung. Das Werk, das sich an Arbeitgeber, Gewerkschaften, Schwerbehindertenvertretungen sowie Integrationsämter, Rehabilitationsträger und
Rechtsanwälte wendet, berücksichtigt
im Rahmen der Auswertung aktueller
Rechtsprechung auch wichtige Entscheidungen des europäischen Gerichtshofs.
Ernst/Adlhoch/Seel:
Sozialgesetzbuch IX, Rehabilitation
und Teilhabe
Kohlhammer-Verlag Stuttgart,
2 Bände, 18. Ergänzungslieferung
April 2010, 228 Seiten,
Gesamtwerk 96 Euro
ISBN 978-3-17-021598-6
Als Anhang 1 zu § 42 sind jetzt die
umfangreichen Werkstattempfehlungen der BAGüS mit Stand 01.01.2010
wiedergegeben, die eine wichtige Bedeutung für die Praxis der Leistungsgewährung für WfbM durch die Sozialhilfeträger haben, siehe Besprechung
in RdLh 2/10, S. 87. Von Dahm neu
kommentiert sind § 17, Persönliches
Budget, mit der Wiedergabe der Handlungsempfehlungen der BAR, §§ 51,
53 (Unterhaltssichernde Leistungen),
und Kuhlmann, §§ 73 ff., Beschäftigungspflicht der Arbeitgeber, und von
Schlembach § 125, Zusatzurlaub für
schwerbehinderte Menschen mit der
neuen Rechtsprechung des EuGH und
des BAG. Der von Praktikern der
Leistungsgewährung herausgegebene
Rech t s d i e n s t 3 / 2 0 1 0
Kommentar gibt daher sachkundig
den neuesten Stand der Rechtsprechung zu den genannten Vorschriften
wieder und ist damit eine wichtige Arbeitshilfe für die SGB IX-Anwender.
Hauck/Noftz (Hrsg.):
Sozialgesetzbuch SGB XII –
Sozialhilfe
Erich Schmidt Verlag, Berlin,
2 Bände, 98 Euro
ISBN: 978-3-503-06375-8
Der bewährte Kommentar erhält
mit der 20. und 21. Ergänzungslieferung den Stand Juni 2010. Die Kommentierung wurde auf den neuesten
Stand von Rechtsprechung und Literatur gebracht. Bei den Vorschriften
der Hilfe zur Pflege (§§ 61 ff.) wurden
gesetzliche Änderungen eingearbeitet.
Neukommentierungen erfolgten insbesondere bei den allgemeinen Vorschriften (§§ 1 ff.) den Grundsätzen
der Leistungen (§§ 9 ff.) und der Hilfe
zur Überwindung besonderer sozialer
Schwierigkeiten (§§ 67 und 68).
Grube/Wahrendorf (Hrsg.):
SGB XII – Sozialhilfe mit
Asylbewerberleistungsgesetz
C. H. Beck Verlag, München,
3. Auflage 2010, 884 Seiten, 79 Euro
ISBN: 978-3-406-60090-6
Das Buch kommentiert praxisnah
das Sozialhilferecht einschließlich der
Regelungen über die Grundsicherung
im Alter. Die sozialhilferechtlich relevanten Bestimmungen des SGB II
(Grundsicherung für Arbeitsuchende)
werden in der Kommentierung erläutert, soweit das SGB XII entsprechende Vorschriften enthält.
Das Werk stellt sich der Herausforderung, anhand des Sozialhilferechts
des SGB XII eine Gesamt- Kommentierung des heutigen Fürsorgerechts
vorzulegen. Mit der Konzentration auf
das Fürsorgeprinzip des SGB XII ist es
den Autoren gelungen, die Grundkonzeption existenzsichernder Leistungen
wieder deutlicher werden zu lassen.
In der Neuauflage (Stand Anfang
2010) sind zahlreiche umfangreiche
Gesetzesänderungen
berücksichtigt
ebenso wie die aktuelle Rechtsprechung, bei der insbesondere die Kommentierungen zur Eingliederungshilfe
für behinderte Menschen und zum
Bücherschau
Leistungserbringungsrecht grundlegend
überarbeitet wurden.
Marcus Kreutz:
Soziale Dienstleistungen durch
gemeinnützige Einrichtungen der
Freien Wohlfahrtspflege
Nomos Verlagsgesellschaft,
362 Seiten, 85 Euro
ISBN 978-3-8329-5418-5
Gemeinnützigen
Körperschaften
werden in Deutschland zahlreiche Privilegien gewährt, z. B. Steuervorteile
und Gebührenbefreiungen. Diese Besserstellung im Vergleich zu gewerblichen Anbietern sozialer Dienstleistungen sind tatbestandlich als
verbotene Beihilfe im Sinne von Art.
87 Abs. 1 EGV zu qualifizieren. Die
EU-Kommission hat daher in der Vergangenheit Bestrebungen gezeigt, das
sog. Gemeinnützigkeitsrecht zu beschneiden. Dabei hat die Kommission
jedoch die Besonderheiten personenbezogener sozialer Dienstleistungen,
die gemeinnützige Körperschaften erbringen, vernachlässigt und gleichzeitig die Herkunft und Qualität der gewährten Privilegien übersehen. Der
Autor weist in dieser Dissertationsschrift nach, dass die Charakteristika
personenbezogener sozialer Dienstleistungen, zu deren Gunsten die Besserstellung gewährt werden, dazu führen,
sie zur Kultur und zum kulturellen
Erbe zugehörig zu betrachten. Eine
Rechtfertigung dieser Privilegien über
Art. 87 Abs. 3d EGV ist daher nach
Auffassung des Autors möglich.
Ulla Engler:
Die Leistungserbringung in den
Sozialgesetzbüchern II, III, VIII
und XII im Spannungsverhältnis
zum europäischen und nationalen
Vergaberecht
Nomos Verlagsgesellschaft, BadenBaden, 2010, 219 Seiten, 59 Euro
ISBN: 978-3-8329-5315-7
Das Spannungsverhältnis zwischen der Leistungserbringung im
Rahmen der deutschen Sozialgesetzbücher sowie dem europäischen und
nationalen Vergaberecht beschäftigt
Praxis und Recht seit einigen Jahren in
zunehmendem Maße. Vermehrt versuchen öffentliche Träger, Leistungen
nach Maßgabe des Vergaberechts auszuschreiben.
Mit dieser als Band 22 in der Reihe
131
„Schriften zum Wirtschaftsverwaltungs- und Vergaberecht erschienen
Dissertation arbeitet die Autorin heraus, dass die Leistungserbringung im
SGB II, SGB VIII und SGB XII vom
Vergaberecht ausgeschlossen ist.
Sehr hilfreich für die Praxis ist die
ausführliche Darstellung der Grundzüge der Erbringung sozialer Dienstleistungen, hier insbesondere dass für
das SGB VIII und SGB XII typische
sozialrechtliche Dreiecksverhältnis. Anschließend werden das europäische
und nationale Vergaberecht erläutert.
Für die schnelle Lektüre kann die
Zusammenfassung der Arbeit am Ende
des Bandes in 38 Thesen empfohlen
werden. Die Autorin ist Rechtsanwältin und beim Paritätischen Gesamtverband beschäftigt, mithin seit vielen
Jahren mit dem Thema befasst.
Becker/Hockerts/Tenfelde (Hrsg.):
Sozialstaat Deutschland –
Geschichte und Gegenwart
Verlag J.H.W. Dietz Nachf., Bonn
2010, 360 Seiten, 38 Euro
ISBN: 978-3-8012-4198-8
In einer Zeit, in der der deutsche
Sozialstaat auf dem Prüfstand steht,
erscheint ein Band, der die Geschichte
des Sozialstaats Deutschland und seine Zukunftsperspektiven vom Kaiserreich bis zur Europäischen Union behandelt.
Am Sozialstaat scheiden sich die
Geister: Manche sehen in ihm eine der
größten Errungenschaften, andere rücken ihn in die Nähe spätrömischer
Dekadenz. Diese gesamte Bandbreite
kommt in dem Band zum Ausdruck.
Den Herausgebern ist eine ausgezeichnete Mischung aus historischem Rückblick und der Auseinandersetzung mit
den Herausforderungen in Gegenwart
und Zukunft gelungen. Der Band
bietet nicht nur interessante Lektüre,
sondern auch eine Menge Diskussionsstoff.
Bundesministerium für Arbeit und
Soziales (Hrsg.):
Übersicht über das Sozialrecht –
Ausgabe 2010/2011
BW Bildung und Wissen Verlag und
Software GmbH, Nürnberg,
7. Auflage 2010, 1100 Seiten +
CD-Rom, 36 Euro
ISBN: 978-3-8214-7246-1
132
Rechtsdienst 3/2010
Bücherschau
Was neu ist in der Sozialgesetzgebung und wie die Änderungen in der
täglichen Rechtspraxis umgesetzt werden, dass beschreibt die Neuauflage
dieses Bandes. Das Buch enthält überblicksartig alle relevanten Gesetze
Verordnungen und Regelungen des
‚Sozialrechts mit dem Stand 01.01.
2010. Mit der Übersicht über das Sozialrecht können sich alle Leserinnen
und Leser ein Bild davon machen,
wie das soziale Sicherungssystem in
Deutschland organisiert ist und wie es
funktioniert.
Ein ausführliches Inhaltsverzeichnis und ein umfangreiches Stichwortverzeichnis erleichtern die Informationssuche. Die Autorinnen und
Autoren stammen vor allem aus den
Bundesbehörden, die die Gesetze entwickeln und bieten damit Informationen aus erster Hand.
Firsching/Schmid:
Familienrecht 1. Halbband:
Familiensachen
C. H. Beck Verlag, München, Reihe
Handbuch der Rechtspraxis, 7. neu
bearbeitete Auflage 2010, 452 Seiten,
Leineneinband, mit CD-Rom, 69 Euro
ISBN 978-3-406-58183-0
Dieses Handbuch bietet einen
konzentrierten Gesamtüberblick über
das Familienverfahrensrecht und berücksichtigt auch die Neuregelungen
zum
Versorgungsausgleich
sowie
wichtige Änderungen im Recht des
Zugewinnausgleichs und im Güterrecht. Dargestellt sind auch das Eherecht, die Unterhaltspflicht zwischen
Verwandten, das Kindschaftsrecht sowie die Behandlung familienrechtlicher Fälle nach dem internationalen
Privatrecht. Der zweite Hauptteil ist
der Darstellung des familiengerichtlichen Verfahrens gewidmet. Auf einer
beigelegten CD befinden sich zahlreiche Textmuster und Formulierungsvorschläge für die Umsetzung der in
diesem nützlichen Werk behandelten
Rechtsfragen.
Firsching/Dodegge:
Familienrecht, 2. Halbband: Betreuungssachen und andere Gebiete der
freiwilligen Gerichtsbarkeit
C. H. Beck Verlag München,
Reihe Handbuch der Rechtspraxis,
7. neubearbeitete Auflage 2010,
385 Seiten, Leineneinband +
CD-Rom, 59 Euro
ISBN 978-3-406-58182-3
Dieses Praxishandbuch bietet einen konzentrierten Gesamtüberblick
des Betreuungsrechts unter Berücksichtigung der zum 01.09.2009 wirksam gewordenen FGG-Reform sowie
des 3. Betreuungsrechtsänderungsgesetzes (Regelung der Patientenverfügung). In präziser Form werden übergreifend und erstinstanzliche Verfahrensgrundsätze einschl. der Regelungen über verfügbare Rechtsmittel
dargestellt. Ausführlich behandelt wird
darüber hinaus das materielle Betreuungsrecht einschl. des Unterbringungsrechts. Zahlreiche Textmuster
und Formulierungsvorschläge bieten
Lösungsvorschläge für die Umsetzung
aller wichtigen Rechtsfragen im Bereich der Betreuung. Diese befinden
sich auf einer dem Handbuch beigefügten CD.
Andreas Jürgens:
Betreuungsrecht, Kommentar zum
materiellen Betreuungsrecht, zum
Verfahrensrecht und zum Vormünder- und Betreuervergütungsgesetz
C. H. Beck Verlag, München,
4. völlig überarbeitete Auflage 2010,
758 Seiten, Leineneinband, 49,50 Euro
ISBN 978-3-406-59709-1
Dieser bewährte und sehr praxisorientierte Kommentar des Betreuungsrechts berücksichtigt in seiner Neuauflage das zum 01.09.2009 in Kraft
getretene FamFG, die Einführung der
Regelungen zur Patientenverfügung
mit dem 3. Betreuungsrechtsänderungsgesetz sowie die Fülle der seit
der vor fünf Jahren herausgegebenen
Vorauflage ergangene Rechtssprechung zum Betreuungs- und Unterbringungsrecht. Damit steht für die
betreuungsrechtliche Praxis wieder
ein aktueller, umfassender und gleichzeitig kompakter Kommentar zur Verfügung, der uneingeschränkt zu empfehlen ist.
Birgit Hoffmann:
Personensorge – Erläuterungen
und Gestaltungsvorschläge für
die rechtliche Beratung
Nomos Verlagsgesellschaft 2009,
223 Seiten, 34 Euro
ISBN 978-3-8329-3072-1
Der Gesetzgeber hat mit einer Reihe von Maßnahmen auf die eklatanten
Defizite beim Schutz von Kindern und
Jugendlichen vor Vernachlässigung
und Misshandlung reagiert. Dieses
neue Handbuch stellt den aktuellen
Stand im Bereich der Personensorge
dar und berücksichtigt bereits die Änderungen im Verfahren durch das
FamFG. Die zunehmende Bedeutung
von Elternvereinbahrung und Vollmachten anstelle gerichtlicher Entscheidungen, die Neureglung bzgl. Vaterschaftsanfechtung bzw. der Klärung
der Vaterschaft, die jüngste BVerfGEntscheidung zur Umgangspflicht
oder der gerichtliche Erörterungstermin in Kindesschutzverfahren sind
nur einige aktuelle Stichworte, die in
diesem aktuellen Handbuch Berücksichtigung finden.
Mathias Schmoeckel (Hrsg.):
Demenz und Recht
Bestimmung der Geschäftsund Testierfähigkeit
Nomos Verlagsgesellschaft, Reihe
Schriften zum Notarrecht, Band 18,
1. Auflage 2010, 98 Seiten, 24 Euro
ISBN 978-3-8329-5507-6
Die weltweit steigende Zahl der
Demenzpatienten wirft zahlreiche juristische Fragestellungen auf. Dieser
Tagungsband über ein am 12.06.2009
durchgeführtes Symposion des Rheinischen Instituts für Notarecht ist der
näheren Bestimmung der Geschäftsfähigkeit der Betroffenen aus der Sicht
der Medizin, Rechtswissenschaft und
notarieller Praxis gewidmet. Dabei
wird auch der Frage nachgegangen, inwieweit für ernsthaft an Demenz leidende Patienten noch die Möglichkeit
einer vorübergehenden Geschäftsfähigkeit bestehen kann.
Eberhard Eichenhofer (Redaktion):
Sozialrecht in Europa
Erich Schmidt Verlag GmbH & Co. KG,
Berlin 2010, 170 Seiten,
28,60 Euro, www.esv.info
ISBN: 978-3-503-12495-4
Der Deutsche Sozialrechtsverband
e. V. legt in seiner Schriftenreihe
den Band „Sozialrecht in Europa“
(SDSRV 59) vor. In ihm ist die gleichnamige Sozialrechtslehrertagung 2009
dokumentiert.
Die Tagung hatte zum Ziel, den seit
den Verträgen von Maastricht, Amsterdam und Nizza merklich gewachsenen
Einfluss europäischen Rechts auf das
Sozialrecht der Mitgliedstaaten zu er-
Bücherschau
fassen. Sämtliche Referenten stellten
in ihren Beiträgen eine wachsende
Einwirkung des EU-Rechts auf das Sozialrecht fest. Deutlich wurde auch die
zunehmende Bedeutung des Wechselverhältnisses von Wirtschafts- und Sozialrecht. Das Europäische Sozialmodell wird Realität.
Sechs Professorinnen und Professoren stellen in ihren Beiträgen umfassend den Stand der Diskussion vor.
Mathias Schmoeckel (Hrsg.):
Vorsorgeverfügungen – Patientenverfügung, Vorsorgevollmacht,
Betreuungs- und Organverfügung
C. H. Beck Verlag, München,
Reihe Beck’sche Musterverträge,
Band 44, 4. Auflage 2010,
114 Seiten + CD-Rom, 16,90 Euro
ISBN 978-3-406-59667-4
Die in diesem Band dargestellten
Vertrags- und Fomulartexte sollen Hilfestellung bei der Formulierung von
Patientenverfügungen, Vorsorgevollmachten sowie Betreuungs- und Organverfügungen leisten. Die Darstellung erfolgt dabei nach einem
einheitlichen Schema, welches in Einführung, Textmuster mit Erläuterungen, vertiefende Hinweise zu Literatur und Rechtsprechung sowie
Sachregister untergliedert ist. Damit
bietet das Buch praktische Hilfestellung für einen breiten Anwenderkreis.
Burkhard Küstermann (Hrsg.):
Rechtsratgeber Ehrenamt und
bürgerschaftliches Engagement
133
AnZeiGe
Kanzlei Siebel Ihre Spezialisten für
Interne
Revision
Bundesverband Deutscher Stiftungen,
Berlin 2010, 164 Seiten, 19,80 Euro
ISBN 978-3-941368-03-3
Dieses Buch soll in allgemeinverständlicher Form als Handbuch und
Nachschlagewerk für bürgerschaftlich
engagierte Personen dienen. Zu den
behandelten Themen gehören die vertraglichen Grundlagen bürgerschaftlichen Engagements, Haftungsfragen,
sozialversicherungsrechtlicher Schutz,
sozialrechtliche Fragen, Erfassung im
Einkommen- und Umsatzsteuergesetz,
Grenzen im Bereich der Rechtsberatung und des Strafrechts sowie Besonderheiten bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen.
Damit bietet das Buch gebündelt
Informationen für dieses Tätigkeitsfeld an, die man ansonsten nur sehr
aufwendig in den jeweiligen Teilbereichen recherchieren müsste. Der
Ratgeber ist deshalb empfehlenswert
für alle, die an einer Gesamtdarstellung der Rechtsfragen ehrenamtlichen
Engagements interessiert sind.
Korrekturhinweis:
Seit über 10 Jahren
betreut die Kanzlei Siebel
erfolgreich viele Sozialunternehmen.
Unsere Leistungen im Bereich
Interne Revision umfassen:
Outsourcing der
Internen Revision
Gestaltungsberatung
zur Organisation der
Internen Revision
Qualitätsprüfung Ihrer
Revision nach den Standards
des DIIR e.V.
Informieren Sie sich
umfassend auf unserer
Website und nutzen Sie die
langjährige Erfahrung
und die Fachkompetenz des
gesamten Kanzlei-Teams:
www.Kanzlei-Siebel.de
In dem Beitrag „Verfassungsrechtlich gebotene Gesetzesänderungen im
SGB II“, RdLh 2/10, S. 55, rechte Spalte, muss es nach der Zwischenüberschrift „Anhebung der Vermögensfreigrenzen“ heißen:
Oder Sie vereinbaren
gleich ein unverbindliches
Informationsgespräch
mit Herrn Siebel.
Telefon (0201) 177 55 04-0
Bereits im Februar 2010 hat der Gesetzgeber die Vermögensfreibeträge in
§ 12 Abs. 2 SGB II von 205 auf 750 Euro monatlich für notwendige Anschaffungen für jeden in der Bedarfsgemeinschaft lebenden Hilfebedürftigen
angehoben. Ebenfalls gestiegen sind auch die altersgestaffelten Grundfreibeträge für die geldwerten Ansprüche der Altersvorsorge, soweit unwider-
Kanzlei Siebel
Steuerberater
ve re i d i g te r Bu c h p r ü fe r
ruflich eine Verwertung vor dem Eintritt des Ruhestands ausgeschlossen ist.
Diese betragen jetzt in § 12 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 SGB II 48.750 Euro, in Nr. 2
49.500 Euro und in Nr. 3 50.250 Euro.
Wir bitten, dieses Versehen zu entschuldigen!
Bredeneyer Straße 23
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E-Mail: info@beb-ev.de
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Tel: (02 11)6 40 04 - 0, E-Mail: info@bvkm.de
Die fünf Fachverbände repräsentieren mehr als 90 % der Dienste
und Einrichtungen für Menschen mit geistiger, seelischer,
körperlicher und mehrfacher Behinderung und treffen sich
regelmäßig in einem gemeinsamen Arbeitskreis Behindertenrecht
sowie in Kontaktgesprächen.
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gedruckt.